Ethische Begriffe in biblischer Perspektive 9783846358092

Wie verhalten sich ethische Argumente zu biblischen Texten und welche normativen Schlüsse lassen sich aus biblischen Mot

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German Pages 300 [302] Year 2022

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Table of contents :
Frontmatter
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Impressum
Inhalt
Einleitung
1‍ ‍Wie die Bibel verstehen? Orientierung durch Wahrnehmung
1. Joh 3,1–6
2‍ ‍Wissenschaftsethik
5. Mose 18,20–22
3‍ ‍Pluralismus
Joh 4,5–14
4‍ ‍Freiheit
4.1‍ ‍Das Geschenk der Freiheit (2. Mose 13,20–22)
4.2‍ ‍Situative Freiheit (Mt 25,14–30)
4.3‍ ‍Die Verbindlichkeit der Freiheit (Gal 5,1.13–14)
4.4‍ ‍Wechselseitige Freiheit (2. Kor 9,6–10)
5‍ ‍Das Gute
1. Mose 22,1–19
6‍ ‍Menschenwürde
Mt 25,31–46
7‍ ‍Gebote
5. Mose 30,11–14
8‍ ‍Die Goldene Regel
Mt 7,12
9‍ ‍Politische Ethik
9.1‍ ‍Politische Integration (Jer 29,4–7.10–14)
9.2‍ ‍Die Zwei-Reiche-Lehre (Jes 8,11–15)
9.3‍ ‍Religion und Politik im zwischenstaatlichen Verhältnis (Lk 19,41–48)
10‍ ‍Krieg
1. Sam 15,1–3.7–11.13–15.17–22
11‍ ‍Frieden
Jes 2,1–5
12‍ ‍Migration
1. Mose 23
13‍ ‍Anerkennung
Apg 10,44–48
14‍ ‍Gerechtigkeit
14.1‍ ‍Vergleiche führen zur Ungerechtigkeit (Mt 20,1–16)
14.2‍ ‍Großzügigkeit (Lk 15,11–32)
14.3‍ ‍Geschlechtergerechtigkeit (Gal 3,26–29)
15‍ ‍Wirtschaftsethik
Lk 16,10–13
16‍ ‍Toleranz
Mt 8,5–13
17‍ ‍Körperlichkeit
1. Kor 3,16+17
18‍ ‍Robotik/Gentechnik: Die zweite Schöpfung
Mk 4,26–29
19‍ ‍Liebe
19.1‍ ‍Nächstenliebe (Lk 10,25–37)
19.2‍ ‍Die Forderung der Liebe (Joh 12,44–50)
19.3‍ ‍Konflikte unter Liebenden (1. Sam 1,1–17)
19.4‍ ‍Ehebruch (Joh 8,3–11)
20‍ ‍Die Schwachen
Rücksicht auf die Glaubensschwachen (1. Kor 8,4–13)
20.2‍ ‍Liebe als das Recht des Anderen (1. Kor 8,1–3; 13,12)
21‍ ‍Gewissen
Mt 10,17–23
22‍ ‍Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens
Jer 1,4–10
23‍ ‍Fürsorge
23.1‍ ‍Die Fürsorge Christi (Joh 19,16–30)
23.2‍ ‍Unsere Fürsorge (Röm 12,9–16)
24‍ ‍Selbstverzicht
24.1‍ ‍Die Dialektik des Selbstverzichts (1. Kor 9,24–27)
24.2‍ ‍Teilhabe (Hebr 2,14–18)
24.3‍ ‍Selbstlosigkeit (Mk 10,35–45)
24.4‍ ‍Opfern (Mk 12,1–12)
24.5‍ ‍Selbstverschwendung (Mk 14,3–9)
25‍ ‍Ehre
Jes 55,6–11
26‍ ‍Tugend
2. Petr 1,3–8
27‍ ‍Umwelt- und Tierethik
27.1‍ ‍Eine Ethik der Wahrnehmung (Hi 12,7–12)
27.2‍ ‍Umweltethik (1. Mose 2,8–23)
27.3‍ ‍Tierethik (1. Mose 2,18–20)
28‍ ‍Vergebung
28.1‍ ‍Vergebung zur Neubewertung annehmen (2. Petr 3,8–13)
28.2‍ ‍Schulden erlassen (5. Mose 15,1–2)
29‍ ‍Sterbebegleitung
Jes 42,1–4
30‍ ‍Schlusswort: Mt 7,24–27
Backmatter
Literaturverzeichnis
Sachregister
Bibelstellenregister
Altes Testament
Neues Testament
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Ethische Begriffe in biblischer Perspektive
 9783846358092

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Lukas Ohly

Ethische Begriffe in biblischer Perspektive

utb 5809

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh – Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen – Böhlau Verlag · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag – expert verlag · Tübingen Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main

Prof. Dr. Lukas Ohly lehrt Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt. Zudem ist er Gemeindepfarrer in Nidderau (Hessen).

Lukas Ohly

Ethische Begriffe in biblischer Perspektive

Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen

Umschlagabbildung: angel with trumpet and light rays, mammuth, Stock-ID: 482783447 © iStock Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: [email protected] Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart CPI books GmbH, Leck utb-Nr. 5809 ISBN: 978-3-8252-5809-2 (Print) ISBN: 978-3-8385-5809-7 (ePDF) ISBN: 978-3-8463-5809-2 (ePub)

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Für Catharina

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I. Grundbedingungen der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

1

Wie die Bibel verstehen? Orientierung durch Wahrnehmung . . . . 21

2

Wissenschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

4

Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.1 4.2 4.3 4.4

Das Geschenk der Freiheit (2. Mose 13,20–22) . . . . . . . . . . . Situative Freiheit (Mt 25,14–30) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verbindlichkeit der Freiheit (Gal 5,1.13–14) . . . . . . . . . Wechselseitige Freiheit (2. Kor 9,6–10) . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

40 41 44 48 51

5

Das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

6

Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

7

Gebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

8

Die Goldene Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

II. Sozialethische Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Politische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85 87

9

9.1

Politische Integration (Jer 29,4–7.10–14) . . . . . . . . . . . . . . .

8

Inhalt

9.2 9.3

Die Zwei-Reiche-Lehre (Jes 8,11–15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Religion und Politik im zwischenstaatlichen Verhältnis (Lk 19,41–48) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 98

10

Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

12

Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

13

Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

14

Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

14.1 Vergleiche führen zur Ungerechtigkeit (Mt 20,1–16) . . . . . 126 14.2 Großzügigkeit (Lk 15,11–32) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 14.3 Geschlechtergerechtigkeit (Gal 3,26–29) . . . . . . . . . . . . . . . 135 15

Wirtschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

16

Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

III. Lebensbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 17

Körperlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

18

Robotik/Gentechnik: Die zweite Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

19

Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

19.1 19.2 19.3 19.4

Nächstenliebe (Lk 10,25–37) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Die Forderung der Liebe (Joh 12,44–50) . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Konflikte unter Liebenden (1. Sam 1,1–17) . . . . . . . . . . . . . . 174 Ehebruch (Joh 8,3–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

Inhalt

20

9

Die Schwachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

20.1 Rücksicht auf die Glaubensschwachen – Das moralisch-praktische Dilemma (1. Kor 8,4–13) . . . . . . . . . . 185 20.2 Liebe als das Recht des Anderen (1. Kor 8,1–3; 13,12) . . . . . 189 21

Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

22

Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . 200

23

Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

23.1 Die Fürsorge Christi (Joh 19,16–30) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 23.2 Unsere Fürsorge (Röm 12,9–16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 24

Selbstverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

24.1 24.2 24.3 24.4 24.5

Die Dialektik des Selbstverzichts (1. Kor 9,24–27) . . . . . . . . 216 Teilhabe (Hebr 2,14–18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Selbstlosigkeit (Mk 10,35–45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Opfern (Mk 12,1–12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Selbstverschwendung (Mk 14,3–9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

25

Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

26

Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

27

Umwelt- und Tierethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

27.1 Eine Ethik der Wahrnehmung (Hi 12,7–12) . . . . . . . . . . . . . 249 27.2 Umweltethik (1. Mose 2,8–23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 27.3 Tierethik (1. Mose 2,18–20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 28

Vergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

28.1 Vergebung zur Neubewertung annehmen (2. Petr 3,8–13) . 265 28.2 Schulden erlassen (5. Mose 15,1–2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 29

Sterbebegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

30

Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

10

Inhalt

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

Altes Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Einleitung In der theologischen Ethik spielt die Bibel aktuell nur noch eine unbedeu‐ tende Rolle. Die Zeit, in der die biblischen Gebote auf Themen unserer Zeit angewendet wurden, ist vorbei. Man wittert fundamentalistische Motive, wenn man Abtreibung oder Homosexualität verbieten will mit unmittel‐ barem Bezug auf biblische Texte. Es stimmt auch: Man müsste zunächst mehrere Probleme lösen, bevor man die biblischen Gebote unmittelbar für heutige Konflikte anwendet. Zum einen müsste man klären, ob göttliche Gebote deshalb ethisch gerechtfertigt sind, weil sie von Gott stammen. Und indem man das klärt, verlässt man bereits den Ansatz, Gott zum Ursprung ethischer Rechtfertigung zu erheben. Daher müsste man, um diesen Wider‐ spruch zu vermeiden, die Bibel fundamentalistisch lesen: Man darf dann nicht die Frage stellen, ob die göttlichen Gebote ethisch gerechtfertigt sind. Sie werden dann aber auch nicht für richtig gehalten, weil sie ethisch wären, sondern weil sie von Gott stammen. Eine fundamentalistische Position wehrt also die Aufgabe der Ethik ab, moralische Aussagen daraufhin zu überprüfen, ob sie sich ethisch rechtfertigen lassen. Das zweite Problem, biblische Gebote unmittelbar zu verwenden, besteht darin, unterstellen zu müssen, dass die biblischen Gebote von Gott stammen. Historische Forschung jedoch gibt keinen Hinweis darauf. Die Entstehung der biblischen Gebote ist vielschichtig. Sie stammen aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen, sind teilweise den Religionen der Umwelt Israels entnommen und nicht an einem Ort am Berg Sinai Mose übermittelt worden. Und auch die Bergpredigt Jesu (Mt 5–7), der wohl prägnanteste ethische Text des Neuen Testaments, ist nur eine Stilisierung des Matthäusevangeliums und fasst dabei gesammelte Jesus-Worte aus unterschiedlichen Gelegen‐ heiten und Quellen zusammen, von denen man nicht einmal sicher sein kann, ob sie Jesus wirklich gesprochen hat. Man vergleiche nur einmal die Bergpredigt mit der Feldrede aus dem Lukasevangelium (Lk 6), um die Unterschiede zu bemerken. Diese Differenzen lassen sich nicht einfach damit lösen, dass Jesus vielleicht zweimal eine entsprechende Rede gehalten hat. Denn dann hätte er auch verschiedene Gebote aufgestellt. Und welche sind dann gültig? Jetzt immer noch die biblischen Gebote unmittelbar anzuwenden, würde wieder in einen Widerspruch führen: Denn man würde sie nur deshalb

12

Einleitung

verwenden, weil sie in der Bibel stehen, und nicht, weil sie von Gott stammen. Vielmehr müsste man ja vorher klären, dass das, was in der Bibel steht, von Gott stammt. Und das kann man nicht allein mit biblischen Mitteln leisten. Das sind die Hauptgründe, warum eine biblische Ethik nicht unmittelbar auf die Gegenwart angewendet werden darf: Sie ist sowohl ethisch als auch theologisch unzureichend. Inzwischen hat sich die Meinung durchge‐ setzt, die Bibel fasse religiöse Erfahrungen zusammen, die es deshalb auch wert sind, als einzelne Orientierungspunkte für Menschen mit religiösen Erfahrungen heute zu dienen. Die Bibel vermittelt dann keine einlinige Ethik, sondern liefert nur einzelne Schlaglichter. Das macht sie aber theolo‐ gisch-ethisch nicht bedeutungslos. Es trifft auch nicht zu, dass man mit der Bibel nur moralische Unverbindlichkeiten äußern könne. Auch wenn die Bibel nicht von Gott stammt, thematisiert sie ihn, und zwar so, dass Christen von ihm gar nicht reden könnten, wenn es die Bibel nicht gäbe. Die Bibel thematisiert Gott dabei so, dass sie Verbindliches über ihn aussagen will, woran sich Menschen orientieren sollen. Dieses Buch macht sich zur Aufgabe, die ethischen Verbindlichkeiten in der Bibel zu entdecken, die einer ethischen Überprüfung standhalten. Dabei nehme ich Begriffe auf, die entweder selbst biblisch sind (z. B. Gerechtigkeit) oder aus unserer Zeit stammen (Menschenwürde), und reflektiere dazu je einen biblischen Text, der ihre Bedeutung entfaltet. Natürlich gibt es für alle Begriffe auch Alternativtexte. Aber das macht die Interpretation der gewählten Texte nicht unverbindlich. Vielstimmigkeit mag für ein logisches System unzufriedenstellend sein. Im faktischen Leben jedoch fragen wir nicht, wenn wir vor einer ethischen Herausforderung stehen, ob ihre Lösung alle anderen Probleme mit löst. Vielmehr ist es umgekehrt: Unser Verhalten in einzelnen Fällen gibt uns eine Grundorientierung, um uns bei anderen Herausforderungen ähnlich zu verhalten oder den gleichen Weg einzuschlagen, wie wir nach einer Lösung suchen. Im Zentrum dieses Buches werden dabei nicht biblische Gebote stehen, sondern eher biblische Beschreibungen und Interpretationen Gottes und der Menschen, die aber eine lebensorientierende Wirkung haben. Ein Beispiel: Sagt man, dass Gott die Ungerechten straft, so hat diese Aussage eine orien‐ tierende Wirkung, und zwar so oder so. Entweder werden Menschen dann versuchen, gerecht zu sein und darüber nachzudenken, worin Gerechtigkeit besteht. Oder sie werden sich gegen einen Gottesbegriff auflehnen, der Gott diese strafende Rolle zuweist. Dazu könnten sie sich über einen solchen

Einleitung

Gottesbegriff lustig machen oder auch theologische Gründe suchen, die ihm widersprechen. Man kann sich also nicht unbetroffen stellen, wenn man mit der Ansage eines strafenden Gottes konfrontiert ist. Es mag etwa auf dem ersten Blick überraschen, wenn ich zur Lösung auf die ethische Frage, was Gerechtigkeit ist, das Gleichnis vom Verlorenen Sohn behandle. Denn diese Geschichte enthält weder ein Gebot, noch beschreibt sie, worin Gerechtigkeit unter Menschen besteht. Und dennoch hat dieses Gleichnis eine orientierende Kraft auch für Gerechtigkeitsdiskurse. Kurz gesagt: Auch was nur über Gott gesagt wird, gibt doch zugleich eine ethische Orientierung für Menschen. Dieses Buch richtet sich vor allem an Theologiestudierende sowie an Christen in theologischen Berufen. Es vermittelt zentrale ethische Begriffe, die Studierende brauchen, um erfolgreich ethische Themen zu bearbeiten. Und es dient als Nachschlagewerk für Religionslehrerinnen und -lehrer, die im Unterricht oft ethische Themen behandeln und dabei einer Grundlage bedürfen, die zwar pluralismusfreundlich ist, ohne dabei jedoch beliebig zu werden. Dazu benutze ich einschlägige Begriffe, die den Unterrichtsein‐ heiten in Lehrplänen oder Schulcurricula oft vorangestellt sind. Ebenso brauchen Pfarrerinnen und Pfarrer zunehmend ethische Kompetenz. Das trifft zum einen auf die Frage zu, welche Prioritäten in der pfarramtlichen Tätigkeit angesichts von Arbeitsverdichtung zu setzen sind. Zum anderen berühren auch seelsorgerische Fragen ethische Themen. Da die Autonomie des Menschen in den letzten Jahrzehnten angewachsen ist, wächst auch der individuelle Entscheidungsdruck. Bis in Traupredigten, Beerdigungsoder Taufansprachen fließen daher ethische Themen mit ein. Dabei soll das Buch eine Hilfestellung sein, um einen dritten Weg zu gehen. Weder soll in theologischen Berufen die ethische Normativität mit göttlicher Autorität verordnet werden, noch sollen die moralischen Bewertungsmaßstäbe von außen an biblische Texte angelegt werden. Vielmehr soll die Orientierungs‐ kraft biblischer Texte selbst zur Entfaltung kommen. Dass sie dazu fähig sind, für Fragen zu sensibilisieren, die ihre Verfasser damals noch nicht im Blick haben konnten, lässt sich sogar an aktuellen Themen wie dem der Digitalisierung zeigen.1 Die vorliegende Auswahl biblischer Texte mag willkürlich anmuten. Die Gründe für die Auswahl lagen für mich daran, die dort enthaltenen moralischen Ansprüche nicht einfach hinzunehmen, sondern an ihnen 1

Kapitel 18.

13

14

Einleitung

eine Überprüfung ihrer normativen Plausibilität vorzunehmen. Eine theo‐ logische Ethik kann sich eben nicht einfach auf Bibelverse beziehen, um damit schon ihre ethische Richtigkeit festzustellen. Vielmehr vermitteln biblische Texte unterschiedliche Ahnungen ethischer Orientierungen. Wie daraus eine in sich stimmige und gerechtfertigte Leitorientierung wird, ist der ethischen Überprüfung überlassen. Insofern handelt es sich mit dem vorliegenden Arbeitsbuch nicht etwa um eine bloße Darstellung, sondern um die kritische Untersuchung, welche ethischen Horizonte biblische Texte zu Recht abstecken dürfen. Ihre kritische Überprüfung lässt sich davon leiten, dass ethisch valide Aussagen schlüssig und überzeugend sein sollen. Ich behaupte also nicht, dass ich einen einheitlichen Querschnitt einer biblischen Ethik rekonstruiert habe, den es vermutlich nicht gibt; denn dafür ist die Bibel zu vielstimmig. Vielmehr verstehe ich die Bibel als theologische Ressource, auf unterschiedliche Probleme einzugehen, die Menschen zwar zu anderen Zeiten gehabt haben, deren jeweilige Vorschläge die Bibel aber dennoch als Ideengeberin für die heutige Bearbeitung von Problemen ausweist. Bei der Interpretation biblischer Texte wird ermessen, welche Perspektive sich von ihnen aus entdecken lässt, die ethische Erkenntnisse anstößt, die vor einer ethischen Prüfung standhalten. Dann verliert die Auswahl dieser biblischen Texte ihre Willkürlichkeit. Die Auswahl folgt keinem inneren biblisch-ethischen Kanon, sondern ethischen Problemlagen, die ich mit Hilfe dieser Texte besser verstehen und lösen möchte. Also folgt die Auswahl bereits einer ethischen Deutung. Damit ist auch gesagt, dass die Leserin selbst herausgefordert ist, die Plausibilität der vorliegenden Argumentationsgänge mit eigenen ethischen Überprüfungen zu ermessen. In diesem Zusammenhang mag man gleich zu Beginn kritisch feststellen, dass auffallend viele Texte aus dem Alten Testament aufgenommen worden sind. Daran könnten sich zwei Einwände hängen: Zum einen könnte man kritisch rückfragen, ob es nicht typisch christliche Aussagen gibt, die von denen des Alten Testaments abweichen. Und zum anderen könnte man – geradezu entgegengesetzt – einwenden, hier werde die Ursprungsquelle einer anderen Religion, des Judentums, ausgebeutet. Müsste man nicht eher von einer jüdisch-biblischen Ethik sprechen? Oder steht einem christlichen Theologen überhaupt die ethische Beurteilung jüdischer Texte zu? Eine jüdische Ethik zu schreiben, würde ich tatsächlich einer jüdischen Theologin oder einem jüdischen Theologen überlassen. Allerdings ist zu be‐ achten, dass das Alte Testament die Bibel der ersten Christen war, mit der sie das Geschehen Jesu Christi gedeutet haben. Die Unterscheidung von Altem

Einleitung

und Neuem Testament macht auf eine Kontinuität und Verklammerung der Heilsgeschichte aufmerksam, von der Christen nur die Hälfte sehen könn‐ ten, wenn sie auf das Alte Testament verzichten würden. Vom christlichen Standpunkt liegen nicht etwa zwei verschiedene Testamente vor, sondern es handelt sich „um das eine Testament Gottes in der Differenz des Alten und des Neuen. “2 Wenn zudem sinntheoretisch der Kontext das Verständnis eines Textes mitbestimmt und wenn der Kontext von Christen ein anderer ist als von Juden, so gebrauchen Christen und Juden die gleichen Texte verschieden und erzielen somit unterschiedliche Verständnisse.3 Deshalb widerspricht es nicht der christlichen Selbstreflexion, wenn Christen Texte des Alten Testaments interpretieren. Und gerade dann wird dem Judentum nicht die hebräische Bibel weggenommen, weil ein jüdisches Verständnis nicht zurückgewiesen wird, wenn der Kontext ein anderer ist. Für mich ist aber ein anderer Gedanke noch entscheidender: Ich habe Texte des Alten Testaments vor allem deswegen herangezogen, weil an ihnen ethische Ansprüche reflektiert werden können, für die es im Neuen Testament oftmals keine Parallele gibt. Und wenn Christen das Alte Testa‐ ment ethisch lesen, gewinnen sie Einsichten für ihre ethische Orientierung. Biblisch-ethische Aussagen überzeugen nicht deshalb ethisch, weil sie christlich oder jüdisch sind, sondern weil sie eine ethische Perspektive eröffnen, die sich zudem in der ethischen Überprüfung bewähren. Sie gelten dann nicht nur für Christen, sondern beanspruchen, auch für Nicht-Christen und Nicht-Juden überzeugungsfähig zu sein. Texte aus dem Alten Testament sind oft von der politischen oder religiö‐ sen Oberschicht verfasst worden. Sie behandeln deshalb auch oft gesamtge‐ sellschaftliche Themen. Dagegen sind fast alle neutestamentlichen Texte von einer religiösen Randgruppe aus formuliert, die ihre gesellschaftlichen Integrationsprobleme verhandelt. Diese wechselseitige Ergänzung der Per‐ spektiven ist nützlich für einen differenzierten Blick auf ethische Themen. Daher bewährt sich gerade auch aus ethischer Perspektive, Texte der ganzen Bibel im Auge zu behalten, die für Christen aus dem Alten und Neuen Testament besteht. Damit wird gerade auch dem Klischee entgegengewirkt, das Alte Testament sei rachsüchtig und verurteilend, während das Neue Testament die Gnade und Liebe verkündige. Christlich-ethische Orientie‐

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I.U. Dalferth: Wirkendes Wort, 196, Hervorhebung im Original. A.a.O., 190f.

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Einleitung

rungen sind nicht vom Himmel gefallen, sondern entstehen in Kontinuität zum jüdischen Denken. Die Übersetzungen der zugrundeliegenden biblischen Texte gehen von einer der neueren revidierten Luther-Übersetzungen aus. Allerdings habe ich in die vorliegenden Fassungen mit eigenen Übersetzungsvarianten ein‐ gegriffen, wenn dies dem Sachgehalt der Ursprungstexte besser entsprochen hat. Dadurch mögen manche Bibeltexte noch fremder wirken, als sie es oft schon mit den bekannten Übersetzungen tun. Die bewusste Verfremdung dient jedoch der Akzentuierung des jeweiligen ethischen Anspruchs, der sich an den Texten rekonstruieren lässt. Das Buch reflektiert Begriffe und Themen der Ethik in einer mittleren An‐ zahl. Berücksichtigt sind die Themen, die in Schule und Gemeinde verstärkt behandelt werden und deshalb oft von Studierenden als Examensthemen ausgewählt werden. Ein Lehrbuch soll keine fertigen Antworten auf alle Fragen geben, sondern die Leser zum eigenständigen ethischen Denken motivieren. Wer ethisch denkt, ist nie allein. Sonst könnte er oder sie nicht ethisch denken. Denn ethische Konflikte haben Menschen immer gemein‐ sam. Dazu gehört das Verständnis dafür, wie andere Menschen gedacht haben. Die Bibel ist eine Sammlung gedeuteter Wirklichkeit. Dass Gott bei dieser Deutung zu berücksichtigen ist, zeigen ihre Texte in unterschiedlicher Weise auf. Dieses Deutungsangebot will das Lehrbuch aufgreifen und weiterführen. Die Themen habe ich in drei Teile gegliedert. Der erste Teil umfasst Grundbedingungen ethischen Urteilens, der zweite sozialethische Themen‐ stellungen, in denen nicht nur Einzelpersonen als Akteure auftreten, son‐ dern auch Gruppen, Organisationen und Institutionen. Im dritten Teil wird an den ethischen Fragen deutlich werden, inwiefern hier Bedingungen des Lebens berührt sind. Es mag bisweilen irritieren, in welchen Teil ich manche Begriffe untergebracht habe: Warum ist etwa das Gewissen keine Grundbedingung ethischen Urteils, sondern eine Lebensbedingung? Und warum sind Ehre und Tugend angeblich keine sozialethischen Begriffe? Nun bezweifle ich nicht, dass viele Begriffe auch aus anderen Perspektiven betrachtet werden können. Die Teile schließen sich insofern thematisch nicht aus. Dennoch wird an der Art meiner Textinterpretationen deutlich werden, warum die jeweiligen Kapitel ihren Ort in dem entsprechenden Teil haben. Das Buch ist so gestaltet, dass jedes Kapitel und jede Sektion unabhängig von den anderen gelesen werden kann. Jedem Thema wird zu Beginn ein

Einleitung

Block vorangestellt, der die jeweils aktuelle Debatte umreißt und eine kurze Begründung für die biblische Textauswahl gibt. Dadurch eignet es sich zur schnellen Einholung von Information. Wer sich genauer in die jeweiligen Themen vertiefen möchte, findet am Ende jeder Sektion Literaturtipps und biblische Alternativvorschläge mit kurzen Erläuterungen. Literatur zur Vertiefung: H. Deuser: Die zehn Gebote. – Das Büchlein interpretiert die Zehn Gebote über ein Muster, das jeder Interpretation zugrunde liegt. Ethischen Urteilen liegen die Prinzipien unbedingten Vertrauens, der angestrebten Realisierung und Verallge‐ meinerung ethischer Orientierungen zugrunde. Das trifft sowohl auf die Zehn Gebote zu wie auf ihre Interpretation, weshalb sie in einem kontinuierlichen Zusammenhang zueinanderstehen. J. Fischer: Die Bedeutung der Bibel für die Theologische Ethik, 262–273. – Im Artikel wird nicht nur vor einer fundamentalistischen Auslegung der Bibel für ethische Fragestellungen gewarnt, sondern auch auf die Orientierung in der affektiven Betroffenheit wert gelegt. Die Bibel bietet Anschauungsmaterial für moralische Phänomene und schult das Mitgefühl. J. Lauster: Erfahrungserhellung, 207–220. – Die Bibel erfüllt die Funktion der „Erfahrungserhellung“, die an den christlichen Erfahrungsgrund heranführt. Die Theologie geht den Dreischritt Erleben, Deuten, Erinnern. Lauster formuliert hier keine ethischen Aussagen, legt aber eine erfahrungstheologische Basis dafür.

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I. Grundbedingungen der Ethik

1 Wie die Bibel verstehen? Orientierung durch Wahrnehmung Die Diskurslage Gegenüber einer bloß vergleichenden religionsgeschichtlichen Methode haben Vertreter der sogenannten Dialektischen Theologie immer wieder betont, dass die Bibel eine echte „Sache“ hat, die sie thematisiert.1 Diese Sache, Gott, ist aber kein innerweltlicher Gegenstand, da die Welt aufgrund ihres geschlossenen Kausalzusammenhangs keinen Raum für Gott freihält. Die Bibel selbst hat vielmehr die Welt entmythologisiert.2 Die „Sache“ Gottes kann nur in kategorial anderer Weise erfasst werden, nämlich indem Gottes Wort einen Menschen „trifft“3 und in einem Hörereignis die Sache ansichtig macht.4 Gottes Wort ist ein Ereignis, das weder den weltlichen Kausalzusammenhang aufhebt noch eine übernatürliche Ursache für die weltliche Geschichte setzt,5 sondern die menschliche Wahrnehmung in kategorial anderer Weise bestimmt, also begrifflich unterscheidend, „ohne daß Gott und Welt deshalb auseinanderträten oder auseinanderfielen.“6 Indem das Moment des Getroffenseins oder des Ereignisses so das Wort Gottes charakterisiert, wird es als „Begegnung“7 gefasst, die sich nicht in der Kategorie der Kausalität bestimmen lässt. Die Hauptgedanken der Dialektischen Theologie sind zeitgleich entwi‐ ckelt worden mit den Anfängen der dialogischen Philosophie (Martin Buber, Eberhard Grisebach). Insbesondere Friedrich Gogarten hat sich ausdrücklich auf sie bezogen.8 Bultmann hat Gogartens Blick geweitet, indem nicht lediglich die Du-Begegnung das Wort Gottes in der Geschichte etabliert.9 Vielmehr wird Geschichte überhaupt durch Begegnung und Widerfahrnisse

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K. Barth: Der Römerbrief, 5. R. Bultmann: Jesus Christus und die Mythologie, 156. R. Bultmann: Der Gottesgedanke und der moderne Mensch, 120. K. Barth: Kirchliche Dogmatik II/2, 514. R. Bultmann: Zum Problem der Entmythologisierung, 131. W. Härle: Dogmatik, 216. R. Bultmann: Der Gottesgedanke und der moderne Mensch, 126. F. Gogarten: Ich glaube an den dreieinigen Gott, 36. A.a.O., 69, 71.

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1 Wie die Bibel verstehen? Orientierung durch Wahrnehmung

konstituiert.10 In beiden Fällen aber bestimmt die Begegnung die Wahr‐ nehmung auf die Wirklichkeit. Gott kann nur insofern zur „Sache“ des Menschen werden, sofern er ihm begegnet. In der Theologischen Ethik ist dieser Zusammenhang von Begegnung, Wahrnehmung und normativer Verbindlichkeit bei Johannes Fischer und Christopher Frey aufgenommen worden. Gott begegnet dem Menschen laut Frey so, dass die Begegnung seine ganze Lebensgeschichte bestimmen kann.11 Bei Fischer fungieren einzelne geschilderte Kurzgeschichten als Rechtfertigungen für eigenes Verhalten, weil sie ihren Gesprächspartnern eine Situation vor Augen führen, die es ihnen dann erlaubt, das normative Gewicht des Verhaltens selbst zu erschließen.12 Ethik hat es dann weniger mit rationalen Begründungen zu tun, sondern mit der Wahrnehmung von Situationen, die Menschen ins Engagement ziehen. Theologisch sind diese Rechtfertigungen dadurch, dass sich die verbindliche „Sache“ „nur selbst“13 zeigen kann. 1. Joh 3,1–6

Zur Textauswahl Texte erhalten ihre Bedeutung durch die Interaktion mit ihren Rezipienten. Der vorliegende Bibeltext ist danach ausgewählt worden. In Gottesdiensten wird er in der Weihnachtszeit gelesen, also in der Zeit des Kirchenjahres, in der die Menschwerdung Gottes thematisiert wird: So wie Gott Mensch wird, so nimmt der theologische Gehalt in Texten und in ihrer Rezeption Gestalt an. Deshalb halte ich den vorliegenden Text für passend in diesem vorangestellten Kapitel.

1 Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie erkannte ihn nicht.

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R. Bultmann: Geschichte und Eschatologie, 166. Chr. Frey: Wege zu einer evangelischen Ethik, 467. J. Fischer: Verstehen statt Begründen, 27. A.a.O., 43.

1. Joh 3,1–6

2 Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht sichtbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es sichtbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. 3 Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist. 4 Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht. 5 Und ihr wisst, dass er gesehen worden ist, damit er die Sünden wegnehme, und in ihm ist keine Sünde. 6 Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt.

Eigentlich spielt der Sehsinn im christlichen Glauben keine besondere Rolle, da Gott für unsichtbar gehalten wird. Hier aber kommt das Wort „sehen“ sechs Mal vor und sogar im Zusammenhang damit, Gott zu sehen. Anschei‐ nend kann man Gott sehen, wenn man Menschen sieht. Der Bibeltext spricht vom Menschen Jesus, der „gesehen worden ist“ und in dem „keine Sünde“ ist. Gott sehen heißt also, den Menschen sehen; am Menschen ablesen, was Gott ist. Und da Gott nicht einfach sichtbar ist, zeigt sich seine Unsichtbar‐ keit auch am sichtbaren Menschen: „Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nie gesehen worden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es gesehen wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“

Nicht ist gemeint, dass Menschen dasselbe wie Gott sind. Vielmehr erfährt man Gott mit, indem man sich Menschen ansieht. Und man erfährt ihn anscheinend so, dass das, was man sieht, auch das Sehen selbst auffällig macht. Man sieht das Sehen. Der Verfasser dieses Textes will beschreiben, was Christen erwarten können. Dazu räumt er ein, nur die Richtung dieser Erwartung zu ahnen, aber nicht das Ziel zu erkennen: „Es ist noch nicht gesehen worden, was wir sein werden.“ Aber sobald man uns sehen kann (unsere Verheißung, was wir sein werden), werden wir Gott gleich sein, weil wir dann nämlich ihn sehen. Indem wir in Zukunft Gott sehen werden, werden wir auch sehen, wie wir sein werden. Es klingt so, wie wenn sich im Anblick Gottes unser eigenes Wesen widerspiegelt in einem Spiegel. Denn auch in einem Spiegel sehen wir ja nicht nur, wie wir aussehen. Sondern wir sehen ja auch, wie es aussieht,

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1 Wie die Bibel verstehen? Orientierung durch Wahrnehmung

wenn wir sehen. Wir sehen unsere eigenen Augen, wie wir schauen, unseren Blick. Und ebenso wie wir meistens unseren Blick verändern, wenn wir ihn im Spiegel sehen, wird sich offenbar auch etwas an unserem Blick verändern, wenn wir Gott sehen. Anscheinend wird dieser Moment unser zukünftiges Wesen sein. Es klingt kompliziert. So kompliziert ist es aber gar nicht. Es ist höchstens etwas erstaunlich, was behauptet wird: Gott sehen macht uns mit dem Gesehenen gleich. Oder auch: Indem wir Menschen sehen, sehen wir das Sehen. Im Anblick eines Menschen reflektiert sich für uns, was wir sind, und zwar so, dass wir das werden, was sich auf uns reflektiert. In der Weihnachtsgeschichte bekommt daher eine scheinbar belanglose Notiz theologische Bedeutung: Die Hirten wollten die Geschichte „sehen“ (Lk 2,15). Was sie sahen, könnte nun auf sie zurückgespiegelt haben, auf sie „umgekehrt“ sein. „Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten“ (Lk 2,20). Kein anderer menschlicher Sinn scheint das Sichtbare so stark auf uns reflektieren zu können wie der Sehsinn. Wer Musik hört, wird nicht selbst ein Ton. Beim Geruch und bei Tastsinn ist es ebenso wenig so. Aber beim Sehen kann das manchmal schon so sein. Das liegt merkwürdigerweise daran, dass der Sehsinn eine Schwäche hat; eine Schwäche, die bei ihm besonders ausgeprägt ist. Der Sehsinn ist nämlich flüchtig. Wir können ihn nicht festhalten, wenn das, was wir gesehen haben, nicht mehr bei uns ist. Denn uns selbst können wir nicht sehen. Wir sehen uns nur durch die anderen, die wir sehen. Was jemand sieht, bleibt nicht verlässlich in Erinnerung. Die Erinnerung konfiguriert unsere Eindrücke jedes Mal neu, wenn wir sie wachrufen. Dadurch entfernen sich unsere Erinnerungen von den Gestalten, wie wir sie ursprünglich sahen. Vielleicht ist das anders bei Gerüchen oder Geräuschen, die wir oft auch nach Jahren wiedererkennen können. Sehen ist ein flüchtiger Sinn. Dahinter steckt aber seine besondere Bedeutung: Sehen ist nämlich dadurch besonders bei der Gegenwart, beim Neuen. Auch das ist bei den anderen Sinnen nicht so sehr der Fall: Hört jemand eine Melodie, so ist man meistens schon zwei Takte voraus, obwohl man sie noch gar nicht gehört hat. Riecht man einen Geruch, dann erinnert man sich zugleich an eine Geschichte von früher. Könnte das die Entdeckung des biblischen Textes aus dem Ersten Johan‐ nesbrief sein? Dass eine Person durch das Sehen auch am ehesten gleich werden mit dem, was sie sieht? Das könnte deshalb der Fall sein, weil sich ja

1. Joh 3,1–6

in der Gegenwart alles entscheidet, wie sich die Person verhält, über etwas nachdenkt und was sie erlebt. Weil ein Mensch beim Sehen besonders im Jetzt ist, prägt ihn das Gesehene auch so stark, dass es sich auf ihn reflektiert. Auch das hat eine Ambivalenz. Was jemand sieht, macht ihn mit dem Gesehenen gleich, aber eben nur in der Gegenwart. Diese Ambivalenz drückt der Schreiber aus diesem Bibeltext als Spannung zwischen Gewissheit und Zweifel aus: „Wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht sichtbar geworden, was wir sein werden.“ Jetzt orientiert uns das, was wir sehen. Aber was wir sein werden, wissen wir jetzt noch nicht. Denn das Sehen kann nicht vorausschauen. Wir können immer nur jetzt sehen. Das Gesehene wird uns immer nur jetzt mit sich selbst gleichmachen. Also kann man nur dann Gott dauerhaft gleich sein, wenn man ihn auch dauerhaft sieht. Nicht nur ein flüchtiger Blick, der jemanden einige Augenblicke erfüllt, sondern indem ein Mensch Gott dauerhaft sieht, wird es ihn endgültig mit Gott gleichmachen. Es wird dauerhafte Gegenwart sein. Vergangenheit und Zukunft werden keine Rolle mehr spielen, sondern nur das, was wir zu jedem Jetzt sehen: uns selbst, indem wir Gott sehen. Auch wenn man Gott nicht sehen kann, setze ich die ethische Betrachtung dieses Buches hier an, an der Wahrnehmung dessen, was jetzt am Mitmen‐ schen geschieht. Der christliche Glaube sieht Gott im Menschen. Und wer einen Menschen sieht und damit ganz ins Jetzt versetzt ist, lässt sich selbst von diesem Sehen prägen. Biblische Alternativen Psalm 1 beschreibt eine Person, die über die biblischen Weisungen „Tag und Nacht sinnt“. Eine solche Person wird mit einem fruchtbaren Baum verglichen. Das fortlaufende Sinnen ist also lebensförderlich. Die göttliche Weisung ist als bloßer Text anscheinend wie tot, wenn sie nicht lebendig wird durch die beständige menschliche Betrachtung, Reflexion und Deutepraxis. Eine Herausforderung für die ethische Interpretation liegt in der Ge‐ genüberstellung der „Gottlosen“: Die „Spötter“, die diese beständige Deutepraxis nicht vollziehen, werden für wenig lebensbeständig gehal‐ ten. Steckt dahinter eine Diskriminierung religiös Andersdenkender? Zumindest müsste überprüft werden, ob die Menschen, die hier als „Gottlose“ tituliert werden, keine beständige Deutepraxis leisten und

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1 Wie die Bibel verstehen? Orientierung durch Wahrnehmung

wie das möglich ist. Könnte es nicht sein, dass sich religiös Andersden‐ kende darin treffen, dass sie alle deutefähig und -bedürftig sind?

Literatur zur Vertiefung: M. Buber: Ich und Du, 13–16. – Der Religionsphilosoph beschreibt an der Begegnung mit einem Baum, wie sich dabei das erkennende Ich mit dem Du des Baums „ununterscheidbar vereinigt“. Begegnung bahnt den Weg zu Gott, nämlich zur Beziehung, die jeglicher Erkenntnis zugrunde liegt.

2 Wissenschaftsethik Die Diskurslage Wissenschaftsethische Kontroversen handeln davon, 1. ob bestimmte Forschungsmethoden zulässig sind, um die Wahrheit herauszufinden (zum Beispiel Tierversuche, sogenannte verbrauchende Embryonenforschung, Experimente an Patienten mit irreversibler Be‐ wusstlosigkeit). 2. wie sich Wissenschaft zur politischen Macht verhalten darf. Sollten etwa Virologen bei einer Pandemie entscheiden, welche Maßnahmen zur Eindämmung der Gefahr in der Bevölkerung einzuhalten sind, weil nur sie die Gefahrenlage adäquat einschätzen können? Oder sollten nach wie vor demokratisch gewählte Politiker entscheiden, die aber auch nicht-wissenschaftliche Erwägungen in ihre Entscheidungen auf‐ nehmen, die aus wissenschaftlicher Sicht fatale Auswirkungen haben können? 3. ob die Forschungsfreiheit beschnitten werden muss, um allgemeingül‐ tige Kriterien für die wissenschaftliche Wahrheitsfindung zu erheben. Zum Beispiel wird immer wieder der wissenschaftliche Charakter der Theologie in Frage gestellt. Darf die Theologie selbst ihren Wissen‐ schaftscharakter bestimmen, oder müssen allgemeine Wissenschafts‐ kriterien an alle Disziplinen angelegt werden, durch die dann die Theologie als Pseudowissenschaft überführt werden kann? Innerhalb der Theologischen Ethik werden die Diskussionen zu den ersten beiden Punkten ähnlich kontrovers geführt wie im allgemein ethischen Diskurs. Dagegen sind sich die Positionen innerhalb der Theologie beim dritten Punkt ähnlicher. Juristisch besteht die Forschungsfreiheit darin, dass nicht der Staat die Forschungsgegenstände bestimmen darf,1 sondern jeder Fachdisziplin überlässt, ihren Gegenstand selbst zu beschreiben sowie sich auf die geeigneten Methoden zu einigen, wie Hypothesen zu ihrem Gegenstand überprüft werden.2 Theoretisch ist es dann jedoch denkbar, 1 2

J.E. Christoph: Nachträgliche Lehrbeanstandung eines evangelischen Theologieprofes‐ sors, 514f. M. Heckel: 99 Thesen, 381, 384, 395.

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2 Wissenschaftsethik

dass pseudowissenschaftliches Gedankengut wie Verschwörungstheorien oder Rassismus wissenschaftliche Geltung erlangen können, weil sich ihre Protagonisten innerhalb ihrer Gruppierung für ihre abstrusen Vorstellungen auf ebenso abstruse Methoden einigen (zum Beispiel die Selbstimmunisie‐ rungstaktik, alle anderen Quellen als Fake News zu brandmarken, oder rassistische Vermessungsmethoden des menschlichen Körpers). Zwar ist keine Wissenschaft isoliert von den anderen Disziplinen. Deshalb kann ethisch gefordert werden, dass jede Wissenschaft auf das Problem- und Lösungsniveau der jeweils gegenwärtigen wissenschaftlichen Situation eingehen kann.3 Aber keine Wissenschaft darf von außen bevormundet werden, wie sie ihren Forschungsgegenstand untersucht. Innerhalb der evangelischen Theologie wird teilweise die Einrichtung biblizistischer Hochschulen kritisiert, und zwar mit dem Argument fehlen‐ der Forschungsfreiheit in den dortigen Einrichtungen.4 Die verwendeten Methoden müssen sich nämlich im interdisziplinären Diskurs so bewähren, dass man ihnen nicht aus willkürlichen oder ideologischen Gründen folgt, sondern dass sie sich im Wechselspiel des Diskurses als frei herausstellen und Anerkennung verdienen. Michael Moxter hat aus dem gesamtgesell‐ schaftlichen Diskurs die Anforderung gefolgert, dass die Theologie eine universitäre Wissenschaft sein muss, weil die Gesellschaft nur auf diese Weise Fundamentalismusgefahren der Religion abwehren kann.5 5. Mose 18,20–22

Zur Textauswahl Der vorliegende Text benutzt ein „wissenschaftliches Modell“ für die Untersuchung, welche prophetische Rede von Gott stammt. Dieses Modell betrachtet die prophetische Rede wie eine wissenschaftliche Hypothese, die in einem zweiten Schritt überprüft, also verifiziert oder falsifiziert wird. Obwohl Propheten theologische Aussagen treffen, wird die Überprüfung der Hypothese wie in einer Naturwissenschaft empirisch vorgenommen.

3 4 5

W. Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, 348. Chr. Grethlein: Theologie als Studiengang an der Fachhochschule, 221. M. Moxter: Vernunft und Religion im Zeitalter knapper Ressourcen, 431.

5. Mose 18,20–22

20 Doch wenn ein Prophet so vermessen ist, dass er redet in meinem Namen, was ich ihm nicht geboten habe, und wenn einer redet in dem Namen anderer Götter, dieser Prophet soll sterben. 21 Wenn du aber in deinem Herzen sagen würdest: Woher wissen wir das Wort, das der HERR ihm nicht gesagt hat? 22 Wenn der Prophet redet in dem Namen des HERRN, und nicht wird das Wort/Ereignis und nicht kommt das Wort/Ereignis, das Gott ihm nicht gesagt hat, dann hat der Prophet im Übermut seines Wortes geredet; fürchte dich nicht vor ihm.

Auch im Bereich der Religion gibt es ein wissenschaftliches Bedürfnis, welche Verheißungen und Weissagungen wahr sind. Aber der Religion traut man oft keine wissenschaftlichen Fähigkeiten zu. Tatsächlich hat ja auch Religion nicht dieselben Wissenschaftskriterien wie etwa die Naturwissen‐ schaften. Deshalb klingt dieses Bibelwort auch so naiv, wenn man es im naturwissenschaftlichen Sinn versteht. In Naturwissenschaften stellt man eine Hypothese auf, entwickelt eine Versuchsanordnung und führt damit ein Experiment durch. Und wenn das Experiment die Hypothese regelmäßig bestätigt, gilt sie als wahr. Aber in religiöser Hinsicht wäre es doch arg trickreich, wenn man die gleichen Regeln anwenden würde. Nehmen wir an, eine Prophetin weissagt, dass Gott in 100 Jahren Frösche schicken wird, damit sie die Weltherrschaft übernehmen. Dann hilft die Regel Moses aus diesem Bibeltext nicht, uns heute zu versichern, ob wir der Prophetin glauben sollten oder nicht. Ich schlage deshalb vor, die wissenschaftlichen Kriterien für religiöse Sachverhalte anders zu bestimmen als für die Natur. Dann scheint Moses Empfehlung eine höhere Überzeugungskraft zu gewinnen, die sogar über religiöse Bedürfnisse hinaus anwendbar ist. Wissenschaft verdankt sich nämlich einem Rahmen, der in diesem Bibeltext angedeutet ist – und auf dem sogar auch naturwissenschaftliche Versuchsreihen stehen. Derselbe hebräische Ausdruck, der hier mehrfach verwendet wird (dbr), kann „Wort“ und „Ereignis“ oder auch „Sache“ heißen. Hier wird dieser Ausdruck in den beiden ersten Verwendungen benutzt, was ich in meiner Übersetzung angedeutet habe. Anscheinend hat die hebräische Sprache keine eindeutigen Unterschiede zwischen Wort und Ereignis/Sache empfun‐ den, vielleicht, weil Worte selbst Ereignisse sind, die etwas bewirken. „Woher wissen wir das Wort, das der HERR ihm nicht gesagt hat?“ Die Antwort heißt: Gott hat es nicht gesprochen, wenn das Wort nicht „wird“ und nicht

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2 Wissenschaftsethik

„kommt“. Es muss eine Wirkung entfalten, damit es von Gott sein kann – und zwar jetzt schon. Die Weissagung, dass Frösche in 100 Jahren die Weltherrschaft antreten, muss also jetzt „werden“. Und wenn sie das könnte, dann wäre sie sogar dann von Gott, wenn in 100 Jahren nichts passiert. Denn das Wort-Ereignis muss sich jetzt einstellen, damit es von Gott ist. Das ist etwas anderes als mühsame naturwissenschaftliche Experimente. Und Kritiker könnten einwenden, dass damit auch jede Pseudowissenschaft den Rang einer Wissenschaft bekäme, solange sie nur irgendeinen Effekt hat, also bei irgendwelchen Leuten „ankommt“. Tatsächlich können Pseudo‐ wissenschaften damit beeindrucken, dass sie bloße formelle Korrelationen zwischen Ereignissen beschreiben und damit Menschen verblüffen können. Die Aussage „Eintracht Frankfurt schießt nie zwischen der 5. und 18. Spiel‐ minute ein Tor nach einem Eckball“ klingt mit ihren statistischen Belegen und ihrem verblüffenden Informationsgehalt dann wissenschaftlich belegt, sagt aber nichts über die Spielkunst der Mannschaft aus und macht es nicht einmal wissenschaftlich wahrscheinlich, dass es im nächsten Spiel auch so bleibt. Solche statistischen Spielereien sind daher nicht mit Wissenschaft zu verwechseln. Meint Mose wirklich, dass jede verblüffende Aussage, die „ankommt“, schon wissenschaftlich ist? Dagegen spricht, dass seine eigene Aussage nicht wissenschaftlich ist. „Ein Wort muss eine Wirkung entfalten, damit es von Gott sein kann.“ Diese Regel trifft nicht deshalb zu, weil Mose sie vorher wissenschaftlich untersucht hätte, sondern weil Gott sie so bestimmt hat. Man kann diese Begründung anzweifeln. Aber für die Israeliten ist eines ja nicht zweifelhaft, nämlich dass sie Mose vertrauen. Deshalb „kommt“ sein Wort auch bei ihnen an und „wird“ im selben Moment, in dem er es sagt. Wissenschaftliche Erkenntnisse können nie ganz neu sein. Schon gar nicht können sie völlig aus Weissagungen bestehen. Wenigstens das Ver‐ trauen muss das „alte“ sein. Das gilt für das Vertrauen gegenüber einer charismatischen religiösen Figur und gegenüber bereits erworbenen Grundeinsichten, aber auch für das Vertrauen gegenüber naturwissenschaftlichen Versuchsaufbauten. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse müssen also das Vertrauen wert sein. Und das können sie nur, wenn sie „währen“, wenn sie sich also einbinden lassen in die Erkenntnisse und Verlässlichkeiten, die Menschen der Wirklichkeit zugrunde legen. Deshalb müssen prophetische Weissagungen sich bestätigen lassen. Und deshalb kann keine wissenschaftliche Aussage aus Übermut getroffen wer‐

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den. Denn der Übermut sprengt den Rahmen, in dem sie als wissenschaftli‐ che Aussage überhaupt Anerkennung verdienen könnte. Es entspricht also keiner göttlichen Anordnung, dass die Menschheit in 100 Jahren von einer Frosch-Herrschaft heimgesucht wird. Denn das „Wer‐ den“ und „Kommen“ des göttlichen Wortes bindet sich an bisherige Verläss‐ lichkeiten. Gott bindet sich an die Kontinuität seiner Vertrauenswürdigkeit: Menschen können ihm nur vertrauen, wenn sein Wort wiedererkennbar bleibt. Ebenso können wissenschaftliche Erkenntnisse nur dann gesichert sein, wenn sie in den Rahmen bisheriger Erkenntnisse passen. Wissenschaftsethisch fragwürdig sind also Forschungsvorhaben, die un‐ glaubliche Versprechungen machen. Dazu gehören in der Religion apoka‐ lyptische Weissagungen, die behaupten, dass bald „alles anders“ wird, die Welt untergeht oder sich der Mensch bald in ein übermenschliches Wesen verwandelt. Denn wenn alles anders wird, gibt es keinen verlässlichen Rah‐ men mehr, an dem sich diese Behauptung bemessen lassen könnte und durch den das Vertrauen gerechtfertigt wäre. Zu den fragwürdigen Versprechun‐ gen gehören aber auch Heilungsversprechungen, die von Forschungszwei‐ gen abgegeben werden, die sich noch im Stadium der Grundlagenforschung befinden. Und schließlich gehören dazu auch pseudowissenschaftliche Aus‐ sagen, die bloße formelle Korrelationen herstellen. Denn nicht auf die formelle Korrelation kommt es an, sondern auf die Einbindung ins reale Leben. Wenn also jemand über eine Wunde ein Pendel hält und sich in den nächsten Tagen die Wunde schließt, hat man nur eine formelle Korrelation zwischen beiden Ereignissen festgestellt. Wundersame Ereignisse müssen aber eingebettet sein in die Kontinuität unseres Vertrauens, damit sie bei uns wissenschaftlich „werden“ und „kommen“. Sie müssen also mit dem Vertrauen in unsere bisherige Lebenswirklichkeit zu tun haben. Ansonsten redet man von irgendwelchen anderen abseitigen Welten. Pseudowissenschaften können nicht anders als sich vor diesem Vertrauen verschließen. Sie müssen sich davor verschließen, was „währt“. Neuartige Erkenntnisse bedürfen nämlich der Verlässlichkeit der Wirklichkeit. Bei‐ des kann Wissenschaft nicht garantieren. Sie kann nicht wissenschaftlich garantieren, dass man der Wissenschaft glaubt. Und sie kann nicht die ver‐ lässliche Wirklichkeit sicherstellen, weil sie ja gerade neue und verblüffende Erkenntnisse generiert und weil Verlässlichkeit die vorwissenschaftliche Grundlage für Wissenschaft ist.

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2 Wissenschaftsethik

Deshalb ist Moses Ahnung folgerichtig: Gott verbürgt beides, sowohl dass die Wirklichkeit beständig ist als auch dass Unerwartetes auftritt. Und nur weil er beides verbürgt, kann es Wissenschaft geben. Biblische Alternativen Kol 2,3–10 integriert Glauben und Wissen, ohne dass sie sich aufteilen lassen könnten in den wissenschaftlichen Zweischritt von Hypothese (Glaube) und Verifikation (Wissen). Die Erkenntnisse des Glaubens werden hier vielmehr als leibhaftig evident beschrieben. Angeblich würden „Philosophie“ und „Lehren von Menschen“ dieser Einheit ent‐ gegenstehen. Die wissenschaftliche Zweiteilung von Hypothese und Überprüfung steht dann im Gegensatz zur Einheit von Glauben und Vernunft in der Christusoffenbarung. In dieser Gegenüberstellung besteht eine Herausforderung für die ethische Interpretation. Denn es ist nicht mit den wissenschaftlichen Mitteln von Hypothese und Überprüfung beweisbar, dass diese Zweitei‐ lung wissenschaftlich korrekt ist. Insofern kann man wissenschaftliche Erkenntnisse nicht selbst wissenschaftlich erzwingen, sondern muss an sie „glauben“ – in dem existenziell unbezweifelbaren Sinn, wie die Textstelle Glaube und Wissen integriert. Zwischen Glauben und Wissenschaft besteht dann keine Alternative. Vielmehr bauen beide auf‐ einander auf. Die angebliche Alternative von Glauben und Wissenschaft darf dann nicht zum Ausschluss der Wissenschaft aus dem christlichen Bewusstsein führen.

Literatur zur Vertiefung: J. Fischer: Theologische Ethik, 291–312. – Wissenschaft und Ethik sind allein schon deshalb miteinander verbunden, weil Wissenschaft Werte erstrebt und auf Werten basiert. Keine Wissenschaftlerin kann sich nur isoliert mit ihrem For‐ schungsgegenstand beschäftigen, sondern ist dabei auch zur Verantwortung für andere Personen verpflichtet und auf ihre Kooperation angewiesen. Forschungs‐ ergebnisse müssen publiziert werden, um der weiteren wissenschaftlichen Aus‐ einandersetzung ausgesetzt zu werden. Allerdings müssen sich Wissenschaftler auf hypothetische Empfehlungen beschränken und dürfen für die Politik keine apodiktischen Forderungen aufstellen.

5. Mose 18,20–22

Th. S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, Kap. 6+7 (52–76). – Wissen‐ schaft basiert auf einem Paradigma, das so lange erhalten bleibt, bis Unregelmä‐ ßigkeiten nicht mehr darin integriert werden können und ein neues Paradigma erzwingen. Zwischen beiden Paradigmen besteht keine Kontinuität, sondern ein Bruch.

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3 Pluralismus Die Diskurslage Wenn Menschen verschiedene Meinungen und Lebenspraktiken entwi‐ ckeln, bedarf ihre Konfrontation gemeinsam anerkannter Regeln, damit ihre Vertreter in einer Gesellschaft friedlich zusammenleben können. In diesem Fall ist Pluralismus eine ethische Herausforderung, die in der Frage besteht, wie diese Regeln zu formulieren sind. Pluralismus kann aber auch Wertschätzung erfahren. Er stellt dann nicht das Problem für die Ethik dar, sondern ist dann selbst ein Gut, das es zu schützen gilt. Es ist also zu unterscheiden, ob man die Vielfalt von Lebensformen, Kulturen und Religionen selbst wertschätzt, obwohl man selbst nur eine Lebensform und sie nicht alle praktiziert, oder ob man das Konfliktpotenzial pluraler Lebensformen eindämmen will. Im ersten Fall gehört der Pluralismus zur eigenen Lebensform dazu: Obwohl man selbst keine Vegetarierin ist, freut man sich daran und unterstützt, dass es Vegetarier gibt, und ebenso schätzt man andere religiöse Praktiken, politische Vorstellungen, vielfältige Geschlechteridentitäten und fremde kulturelle Lebensformen. Im zweiten Fall dagegen erscheint Pluralismus als Konfliktstoff und unter Umständen als Gefahr. Doch welche ethischen Gründe hat man, eine Lebensform zu verteidigen, die man selbst nicht lebt und die der eigenen Lebensweise sogar wider‐ spricht? Der Philosoph John Rawls hat beide Zugänge zum Pluralismus kombiniert: Danach wird Vielfalt wertgeschätzt, weil sie zur eigenen Vor‐ stellung des Gerechten gehört.1 Es besteht sogar eine „Kongruenz“2 zwischen meiner eigenen Vorstellung eines guten Lebens und meiner Wertschätzung, dass alle anderen Menschen ebenso ihre persönlichen Vorstellungen davon entwickeln sollen, auch wenn sie von meiner abweichen. Der Haken an dieser Versöhnung verschiedener Lebensformen besteht jedoch darin, dass dazu bereits Vielfalt wertgeschätzt werden muss. Lebensformen, die eine eindeutige Vorstellung davon haben, wie man richtig zu leben hat, werden dabei ausgeschlossen.3 Dieser Pluralismus lässt nur ähnliche Anschauungen 1 2 3

J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 24. A.a.O., 437. S.H. Nasr: Metaphysical Roots of Tolerance and Intolerance, 53.

Joh 4,5–14

zu und hat keine Lösung für Lebensformen, die unversöhnlich nebeneinan‐ derexistieren. Der Theologe Eilert Herms sucht eine gemeinsame Basis für die Aner‐ kennung von Vielfalt und findet sie im wechselseitigen Verstehen.4 Weil jeder Mensch sich bereits selbst verstehen muss, sind sich Menschen auch wechselseitig zu verstehen gegeben.5 Das Verstehen erreicht damit eine Gemeinsamkeit in aller Verschiedenheit. Wo diese Gemeinschaft als gemein‐ same Verstehenspraxis aber nicht geteilt wird, muss die staatliche Gewalt die Ordnung garantieren. Ihre Gewaltanwendung muss zwar selbst versteh‐ bar sein,6 aber da sich Lebensformen der gemeinsamen Verstehenspraxis verweigern können, stößt der Pluralismus hier an eine Grenze, wo er nicht mehr positiv bewertet werden kann. Joh 4,5–14

Zur Textauswahl Pluralismus ist eine Tatsache. Bevor man ihn ethisch bewerten kann, muss man ihn als Tatsache hinnehmen. In der vorliegenden biblischen Szene begegnen sich zwei Menschen unterschiedlicher Religionen mit dieser Selbstverständlichkeit. Der ethische Diskurs wird erst eröffnet, als die gewöhnlichen Umgangsformen zwischen den Religionen herausgefordert werden.

5 Da kam Jesus in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar, nahe bei dem Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gab. 6 Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich am Brunnen nieder; es war um die sechste Stunde. 7 Da kommt eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken! 8 Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Essen zu kaufen.

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E. Herms: Systematische Theologie Bd. 2, 1297. E. Herms: Systematische Theologie Bd. 1, 40, 116. E. Herms: Systematische Theologie Bd. 2, 2281.

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3 Pluralismus

9 Da spricht die samaritische Frau zu ihm: Wie, du bittest mich um etwas zu trinken, der du ein Jude bist und ich eine samaritische Frau? Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern. 10 Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn, und der gäbe dir lebendiges Wasser. 11 Spricht zu ihm die Frau: Herr, du hast doch nichts, womit du schöpfen könntest, und der Brunnen ist tief; woher hast du dann lebendiges Wasser? 12 Bist du mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken und seine Kinder und sein Vieh. 13 Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten; 14 wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.

Hat jetzt Jesus Durst oder nicht? Wenn er Durst hat und die Hilfe dieser Frau braucht, dann klingt es wie eine trotzige Angeberei, wenn er sie darauf anspielt, wer er ist: „Wenn du wüsstest…“ Wenn er dagegen keinen Durst hat, dann hat er von Anfang beabsichtigt, die Frau zu provozieren. Jesus war religiös gebildet. Er wusste, an welchem Brunnen er sich befindet. Sowohl die Juden als auch die Samariter sehen beide Jakob als ihren Erzvater an, wollen aber miteinander keine Gemeinschaft haben. Also könnte es bei diesem Gespräch eigentlich um die Frage gehen, wem der Erzvater Jakob „gehört“, den Juden oder den Samaritern. Wollte Jesus eigentlich auf dieses Thema hinaus? Also hatte er eigentlich keinen Durst? Dagegen spricht, dass hier aus‐ drücklich erzählt wird, dass Mittag war. Jesus war vermutlich wirklich müde und durstig. Und er hatte schlecht vorgesorgt. Seine Jünger waren unterwegs; vermutlich hätten sie etwas zum Schöpfen dabeigehabt. Er offenbar nicht. Also ist er auf die Frau angewiesen und muss sie fragen. Die Samariterin aber bemerkt, dass hier ein Tabu gebrochen wird: Ein Jude spricht mit ihr. Sie wird sich vielleicht weniger daran gestört haben als er es ihrer Meinung nach tun musste. Immerhin, so drückt sie das aus, haben damals die Juden von den Samaritern nichts gehalten. Das schließt die Möglichkeit ein, dass man umgekehrt aufgeschlossener war. Die Frau wird sich somit eher darüber gewundert haben, dass Jesus sich nicht daran stört, sie anzusprechen.

Joh 4,5–14

Jesus hat also Durst, aber die Frau entwickelt daraus umgehend ein Gespräch über religiöse Identität und bestimmt die wahre religiöse Identität über den Ort, an dem Jakobs Brunnen steht: Die wahren Nachkommen von Jakob wohnen dort, wo dieser Brunnen steht, den Jakob vererbt hat. Jesus lässt sich auf die Frage der religiösen Identität ein, obwohl er eigentlich ja nur Durst hat. Ihm bleibt auch kaum etwas anderes übrig, wenn er doch von der Frau Wasser haben will. Also redet er darüber, worüber sie reden will. Seine Position ist aber zwiespältig. Einerseits besteht er darauf, worauf jeder Jude bestehen würde, und hält den Brunnen für irrelevant für die religiöse Identität. Andererseits bietet er ihr aber auch Gemeinschaft an – zwar in einem zänkischen Ton, aber immerhin: „Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn, und der gäbe dir lebendiges Wasser.“ Jesus wäre also bereit, der Frau lebendiges Wasser zu geben, und zwar unabhängig von der unterschiedlichen religiösen Identität. Obwohl Jesus Gemeinschaft anbietet, gibt er seinen jüdischen Standpunkt nicht auf. Die Frau würde dennoch von ihm lebendiges Wasser bekommen, wenn sie es will. Über die religiöse Identität setzt Jesus die Freiheit, die Befreiung von den alltäglichen Bindungen, welche die menschliche Identität prägen. „Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.“

Das Symbol dieses lebendigen Wassers ist die Taufe. Auch sie führt in eine religiöse Identität, die aber die Prioritäten umkehrt. Sie lässt sich nicht von Traditionen oder Kulturen bestimmen, sondern umgekehrt bestimmt die Befreiung des lebendigen Wassers die religiöse Identität. Jesu Angebot ist eine religiöse Identität der Freiheit, bei der eine Person sich nicht deshalb zu Gott zählt, weil der Brunnen Jakobs im eigenen Dorf steht, sondern weil sie Gott selbst erkennt. Am Ende der Geschichte holt die Frau ihre Nachbarn herbei, weil sie so beeindruckt von Jesus ist. Die Nachbarn wiederum laden ihn ein, ein paar Tage bei ihnen zu bleiben, und er bleibt. Und nachdem er sie verlässt, sagen die Nachbarn zu der Frau: „Von nun an glauben wir nicht mehr um deiner Rede willen; denn wir haben selber gehört und erkannt: Dieser ist wahrlich der Welt Heiland“ (Joh 4,42).

Die religiöse Identität vollendet sich in der religiösen Eigenständigkeit.

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3 Pluralismus

Der Geist Christi ist offenbar etwas anderes als das, was Jesus sagt. Was Jesus sagt, ist zänkisch. Er ist angriffslustig und er beharrt auf seinem Standpunkt. Was er mit seinen Worten erreicht, ist aber Gemeinschaft. Der Geist Christi, der über das hinaus geht, was Jesus sagt, überbrückt alte Tren‐ nungen zwischen Juden und Samaritern und führt in eine Gemeinschaft. Dieser Geist muss auch etwas anderes sein als nur das, was Jesus sagt: Denn der Geist Christi ist ja das, was jeder in sich selbst haben soll, der das lebendige Wasser in sich hat. „Das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden.“ Religiöse Eigenständigkeit durch den Geist Christi – das ist etwas, was Menschen verbinden kann, und zwar obwohl sie alle ihren eigenen Standpunkt haben. In dieser Situation, wo Menschen ihren eigenen Standpunkt einnehmen und trotzdem eine Gemeinschaft bilden, entstehen auch schillernde Symbole dieser Geistgemeinschaft. Würde man bei den Standpunkten bleiben – bei dem, was die reine Lehre sagt oder die Tradition ausdrückt –, wäre aus dieser zänkischen Unterhal‐ tung keine Gemeinschaft entstanden. Aber der Geist Christi geht über feste Standpunkte hinaus. Er baut Brücken zwischen dem, was auseinander steht, und ist mehr als das, was Worte sagen können. Nicht der Konsens führt zu Gemeinschaften, sondern der Geist, der sie verbindet, auch wenn sie im Dissens liegen. Der Geist Christi ist pluralismus‐ freundlich. Menschen können diesen Geist nicht erzeugen. Die Geschichte zweier trotziger Gesprächspartner macht aber deutlich, dass dennoch Bin‐ dungen entstehen. Respekt vor einer pluralistischen Gemeinschaft zeigt sich im Respekt vor dem Geist, der sich in ihr bildet. Dieser Respekt zeigt sich bei der Frau, die ihre Nachbarn herbeiholt, bei den Samaritanern, die Jesus einladen, und bei Jesus, der bei ihnen verweilt. Warum sie sich so verhalten haben, erklärt sich nicht von ihren Standpunkten, sondern vom Geist, den sie achten, auch wenn die Kontroverse um den Brunnen Jakobs bestehen bleibt. Biblische Alternativen „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“ (Mk 9,40). So kommentiert Jesus die Taten eines Wunderheilers, der sich der Jesusbewegung nicht ange‐ schlossen hatte. Unterschiede werden dadurch stark eingeebnet. Wie sehr sich Gruppierungen inhaltlich unterscheiden, spielt keine Rolle, solange sie sich nicht ausdrücklich bekämpfen. Inhaltliche Konturen von

Joh 4,5–14

Bewegungen, Kulturen oder Religionen treten hinter diese pragmatische Entscheidung zurück. Eine ethische Herausforderung liegt darin, dass diese pragmatische Entscheidung jederzeit wieder geändert werden kann, wenn die prag‐ matischen Kontexte sich verändern. Wenn etwa die Jesusbewegung mehr Macht besitzt, kann sie fremde Bewegungen unterdrücken, auch wenn diese nicht ausdrücklich gegen Jesus sind. Pragmatik bietet also keine ethisch verlässlichen Kriterien, wie man sich im Pluralismus orientieren soll. Wie kann die Parole „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“ ethisch verlässlich gelesen werden, so dass sich alle verträglichen Gruppierungen darauf verlassen können, dass man ihnen nicht in den Rücken fällt? Was bedeutet also „nicht gegen uns“ ausgedrückt in ethischen Begriffen?

Literatur zur Vertiefung: I.U. Dalferth: Kombinatorische Theologie, 65–72. – Zwischen verschiedenen An‐ schauungen und Moralkonzeptionen liegt kein allgemeiner Konsens, auf den sich alle Menschen berufen könnten. Vielmehr prägen Menschen eine segmentäre Rationalität aus: Sie konstruieren je nach Gesprächspartnerin andere Argumen‐ tationsbrücken. Auf diese Weise können sie sich einigen und zugleich Pluralismus zulassen. H. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, 321–362. – Die moralische Orientie‐ rung wird atmosphärisch erschlossen, was Schmitz mit dem Heiligen Geist in Verbindung bringt. Aber da Subjekte von unterschiedlichen Atmosphären betroffen werden können, ist ein moralischer Relativismus unausweichlich. Er bedroht aber nicht den unbedingten Ernst ethischer Normen, sondern ist die Voraussetzung dafür, dass sie aus moralischen Gründen anerkannt werden und nicht nur aus Zwang.

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4 Freiheit Die Diskurslage Man kann anzweifeln, dass der Mensch einen freien Willen hat, weil das Ge‐ hirn Entscheidungen schon getroffen hat, bevor sich das Ich bewusst macht, was es will.1 Daraus folgern einige Wissenschaftler, dass die moralische Zu‐ rechnungsfähigkeit des Menschen dann nur eine soziale Konstruktion (oder Fiktion) ist.2 Allerdings kann zwischen der Willens- und Handlungsfreiheit unterschieden werden: Auch wenn der Mensch nicht für seinen Willen verantwortlich ist, kann er für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden.3 Die Fiktion, der Mensch hätte einen freien Willen, täuscht darüber hinweg, dass Freiheit von anfänglichen Bindungen abhängig ist, denen Menschen nie entkommen. Sie entkommen daher auch nicht ihrer Freiheit,4 und zwar auch dann nicht, wenn sie an ihr scheitern. Genau dieses Risiko des Scheiterns durch Freiheit soll gegenwärtig durch Künstliche Intelligenz eingedämmt werden. Autonome künstliche Systeme sollen anstelle des Menschen Entscheidungen treffen – in Lebenslagen, in denen es um Leben und Tod geht (autonom fahrendes Auto, Pflegeroboter), um Recht und Unrecht (künstliche Assistenzrichter) oder Gewinn und Ver‐ lust (Computerbörsenhandel). Diese Transformation von Entscheidungen belegt, wie riskant es ist, dass Menschen frei sind, und zugleich, wie sehr sie die Kontrolle verlieren, wenn sie nicht mehr frei sein wollen.5 Vom Standpunkt der Theologischen Ethik ist Freiheit daher ambivalent. Sie wird aus einem Grund hergeleitet, der ihr entzogen ist: Sie entsteht aus Widerfahrnissen, die Menschen nicht herstellen können, an die sie aber gebunden sind6 und zu deren Bindung sie sich auch bewusst entscheiden können (positive Freiheit im Gegensatz zur Unverbindlichkeit der negativen

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B. Libet: Do We Have Free Will?, 47–57. R. Merkel: Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 135; W. Prinz: Kritik des freien Willens, 205. J. Fischer: Verstehen statt Begründen, 112f. J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, 764. C. Misselhorn: Grundfragen der Maschinenethik, 80, 168 f, 199. J. Hübner: Ethik der Freiheit, 5, 109.

4.1 Das Geschenk der Freiheit (2. Mose 13,20–22)

Freiheit7). Weil Menschen an der Freiheit scheitern können, bleiben sie abhängig vom Grund ihrer Freiheit, der sie ihnen bleibend gewährt. Diese „schlechthinnige Abhängigkeit“ ist das theologische Moment der Freiheit.8 Wie zentral die menschliche Freiheit in ihrer Ambivalenz für eine christ‐ liche Ethik ist, belegen die vielen biblischen Texte, die sie aus unterschied‐ lichen Perspektiven beschreiben und dabei jeweils andere Schwerpunkte setzen. Dem soll dieses Kapitel gerecht werden, indem es unterschiedliche Facetten des Freiheitsbegriffs beschreibt.

Zur Textauswahl Die ausgewählten Texte dieses Kapitels entdecken einen Trend biblischer Freiheitsemphase, die sie mit der Bindung an Gott verbinden. Freiheit ist sowohl in ihrer Konstitution als auch in den Folgen ihres Gebrauchs auf Bedingungen angewiesen, von denen sie sich wiederum nicht befreien kann. Die Angewiesenheit auf Gott markiert hier eine grundsätzliche existenzielle Abhängigkeit, dass Freiheit primär eine gewährte ist.

4.1 Das Geschenk der Freiheit (2. Mose 13,20–22) 20 So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. 21 Und der HERR zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. 22 Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.

Wann haben die Israeliten eigentlich geschlafen? Folgt man dem Text, dann anscheinend nie! Denn sie wanderten Tag und Nacht. Aber weil man nun einmal schlafen muss, kann die Geschichte wohl nicht wortwörtlich so passiert sein, wie sie hier erzählt wird. Unvermeidlich wird allerdings gewesen sein, dass die Israeliten sich bewegen mussten – mehr, als ihnen lieb war, und mehr, als sie eigentlich an Erholung brauchten.

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A.a.O., 270. F. Schleiermacher: Der christliche Glaube Bd. 1, 28.

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4 Freiheit

Zugleich ist merkwürdig an dieser Geschichte, dass sich das Volk Israel am Rande der Wüste „lagerte“, sich also ausruhte und folglich stehengeblieben sein musste. Denn im nächsten Moment „zog der HERR vor ihnen her, um sie den rechten Weg zu führen.“ Gott könnte also das sich lagernde Volk aufgescheucht haben, dass es weiterziehen musste. Vom Volk Israel erzählt die Bibel, dass es immer wieder die Sehnsucht hatte, nach Ägypten zurückzukehren, so wie es gewohnt war zu leben, in dem Land, in dem die meisten von ihnen geboren, unterdrückt und von der ägyptischen Mehrheitsgesellschaft versklavt wurden (2. Mose 16,3). Vom Standort der Wüste aus hätten sie sich in der Sklaverei wohler gefühlt, als in die Freiheit herausgeführt zu werden. Aber Gott führt sie in die Freiheit. Das spürt man, wenn sich die Flüchtenden in der Wüste lagern, aber Gott sie aufscheucht, damit sie frei werden. Irgendwie gehen sie doch freiwillig mit. Sonst müsste Gott sie vor sich hertreiben und folglich hinter ihnen stehen. Aber Gott geht „vor ihnen her“. Und wer vorgeht, dem folgt man freiwillig. Das Volk folgt der Wolke nach. Somit werden sie doch freiwillig den Weg in die Freiheit gegangen sein. Diese knappe Erzählung ist eine Geschichte der Freiheit, die darauf auf‐ merksam macht, dass der Mensch nicht von Natur aus frei ist. Er muss dazu vielmehr angestiftet werden, frei zu werden. Aber dann gehen Menschen diesen Weg auch freiwillig mit. Ist Freiheit überhaupt eine typische menschliche Sehnsucht? Mindestens ebenso sehr sehnen sich Menschen nach festen Bindungen, nach vorgegebe‐ nen Traditionen und manchmal auch danach, dass andere stellvertretend für sie schwerwiegende Entscheidungen treffen. Und sind Menschen eigentlich frei, die immer alles so machen wollen, wie sie es gewohnt sind? Fördert es die Freiheit, alte Gewohnheiten zu wiederholen? Wie würde diese biblische Geschichte darauf antworten? In ihr Gott begegnet den Menschen auf zwei Weisen, zum einen verläss‐ lich „Tag und Nacht“, also in alter Gewohnheit. Aber zum zweiten begegnet Gott so, dass alte Gewohnheiten verunsichert werden, so dass der Mensch gezwungen ist, etwas zu ändern. Oder anders: Der Mensch wird gezwungen, sich frei zu verhalten. Denn frei verhalten wir uns nur dann, wenn wir auf etwas Unvorhergesehenes reagieren müssen. Die Geschichte verbindet beides miteinander: Gott führt also „Tag und Nacht“ in die Freiheit, also verlässlich dahin, dass Menschen auf Unvorher‐ gesehenes frei reagieren. Deshalb ist die Sehnsucht unrealistisch von allen, die lieber wieder zurück wollen zu den Fleischtöpfen Ägyptens oder zur

4.1 Das Geschenk der Freiheit (2. Mose 13,20–22)

guten alten Zeit, wo die Obrigkeit festgesetzt hat, was zu tun ist. Gott bringt Menschen verlässlich in Situationen, in denen sie nicht einfach auf Traditionen zurückgreifen können, sondern selbst entscheiden müssen, was sie nun tun werden. Menschen könnten nicht flexibel reagieren, wenn nichts Unvorhersehba‐ res passieren würde. Unsere Freiheit verdanken wir also Situationen, wo wir aufgescheucht werden, während wir uns eigentlich gemütlich lagern wollten. Gott mutet uns zu, freie Menschen zu sein, und zwar Tag und Nacht. Vielleicht gefällt uns das nicht, und wir wünschen uns dann lieber einen Gott, der uns verlässlich in Ruhe lässt. Aber es geschehen eben unvorher‐ gesehene Ereignisse. Und darauf kann man nur realistisch reagieren, wenn man frei ist. Offenbar will Gott, dass wir frei sind – während wir vielleicht feste Gewohnheiten lieber haben. Aber wenn wir dann befreit sind, dann folgen wir unserer Freiheit auch freiwillig, so wie das Volk Israel freiwillig der Wolkensäule gefolgt ist. Es ist nicht zu erwarten, dass man stets atemlos von einer Unvorherseh‐ barkeit zur nächsten stolpert. Man muss eben zwischendurch auch schlafen und sich lagern. Gott begegnet eben nicht nur, wenn etwas Neues passiert, sondern auch auf verlässliche Weise, eben „Tag und Nacht“. Aber auch wer sich lagert, wird immer wieder überraschend von irgendetwas heimgesucht. Auch darauf können wir uns verlassen. Und wir können uns dann darauf verlassen, dass uns die Freiheit bleibt, darauf zu reagieren. Entscheidungsfähigkeit ist keine menschliche Angelegenheit. Wenn wir selbst entscheiden müssten, ob wir frei sein wollen oder ab wann wir eine freie Entscheidung treffen wollen, um etwas Neues zu tun, dann müsste uns bereits irgendetwas gezwungen haben, frei zu sein. Wer umgekehrt sich lagert, entscheidet sich nicht, sondern ruht sich aus. Und wer im Stillstand lebt, kann schnell der Meinung sein, dass Freiheit etwas Überflüssiges ist. Freiheit muss uns vielmehr geschenkt werden. Und sie wird uns geschenkt, weil Gott uns aufscheucht und uns auf den Weg bringt. Das beunruhigt nur diejenigen, die sich lagern. Aber wer befreit wird, will das auch freiwillig sein. Und die Zwänge, die uns unfrei machen, können das Unvorhergese‐ hene nicht verhindern, das uns in die Freiheit setzt. Literatur zur Vertiefung: F. Schleiermacher: Ethik, 154–165. – Schleiermachers Ethik umfasst zwei Prinzipien, die sich in ihrer Gegenläufigkeit ergänzen: Das erste Prinzip gewährleistet die ge‐

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schichtliche Einheit des sozialen Lebens, das zweite die individuelle Vielfalt. Beide Prinzipien bilden sich in der menschlichen Freiheit ab: Die individuelle Entfaltung der Freiheit bedarf universeller Voraussetzungen, ebenso wie umgekehrt eine universelle Durchdringung der Natur mit Vernunft der individuellen Färbung bedarf. Verlässlichkeit und Spontaneität bauen wechselseitig aufeinander auf.

4.2 Situative Freiheit (Mt 25,14–30) 14 Denn es ist wie mit einem Menschen, der außer Landes ging: er rief seine Knechte und vertraute ihnen sein Vermögen an; 15 dem einen gab er fünf Zentner Silber, dem andern zwei, dem dritten einen, jedem nach seiner Stärke, und zog fort. 16 Sogleich ging der hin, der fünf Zentner empfangen hatte, und handelte mit ihnen und gewann weitere fünf dazu. 17 Ebenso gewann der, der zwei Zentner empfangen hatte, zwei weitere dazu. 18 Der aber einen empfangen hatte, ging hin, grub ein Loch in die Erde und verbarg das Geld seines Herrn. 19 Nach langer Zeit kam der Herr dieser Knechte und forderte Rechenschaft von ihnen. 20 Da trat herzu, der fünf Zentner empfangen hatte, und legte weitere fünf Zentner dazu und sprach: Herr, du hast mir fünf Zentner anvertraut; siehe da, ich habe damit weitere fünf Zentner gewonnen. 21 Da sprach sein Herr zu ihm: Recht so, guter und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude! 22 Da trat auch herzu, der zwei Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, du hast mir zwei Zentner anvertraut; siehe da, ich habe damit zwei weitere gewonnen. 23 Sein Herr sprach zu ihm: Recht so, guter und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude! 24 Da trat auch herzu, der einen Zentner empfangen hatte, und sprach: Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist: du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast; 25 und ich fürchtete mich, ging hin und verbarg deinen Zentner in der Erde. Siehe, da hast du das Deine.

4.2 Situative Freiheit (Mt 25,14–30)

26 Sein Herr aber antwortete und sprach zu ihm: Du böser und fauler Knecht! Wusstest du, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe? 27 Dann hättest du mein Geld zu den Wechslern bringen müssen, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine wiederbekommen mit Zinsen. 28 Darum nehmt ihm den Zentner ab und gebt ihn dem, der zehn Zentner hat. 29 Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. 30 Und den unnützen Knecht werft in die Finsternis hinaus; da wird sein Heulen und Zähneklappern.

Dieses Gleichnis vergleicht nichts mit dem Himmelreich. Es geht nicht um Sünder und um Gläubige und nicht um einen strafenden Gott. Denn zwar beginnt Jesu Erzählung mit den Worten: „Es ist wie…“. Aber was „es“ ist, sagt er nicht. Orientieren wir uns daher an der Erzählung selbst, anstatt sie umgekehrt damit zu interpretieren, worauf sie sich vergleichend bezieht. Denn sonst verwechseln wir den Vergleich mit dem, was er vergleichen will. Es gehört aber zum Kontext des Gleichnisses, dass es Jesus zugeschrieben wird und im Neuen Testament zu finden ist. Man darf daher wohl erwarten, dass es in dieser Geschichte auch nicht nur ums Geld geht. Es trifft zwar durchaus auf das Wirtschaftsleben zu, dass nur diejenigen, die Chancen er‐ greifen, sie auch nutzen können. Aber dahinter muss eine Lebenseinstellung stehen, die sich nicht nur auf das Wirtschaftsleben erstreckt. Man muss bereit sein, die Chancen auch zu ergreifen, die einem angeboten werden. Könnte Jesus also darüber reden, über die richtige Lebenseinstellung, wie man im Leben „gewinnt“? Das Gleichnis wird jedenfalls so erzählt, dass derjenige Knecht verliert, der das Risiko scheut. Nun kann man auch verlieren, wenn man zu hohe Risiken eingeht. Insofern ist es schwer haltbar, die Geschichte als einen Aufruf zum Risiko zu verstehen. Sie ist vielmehr grundsätzlicher und auch bescheidener ein Aufruf, die Chancen zu nutzen, die einem angeboten werden. Dabei kann man so oder so verlieren, indem man entweder die Chance ausschlägt oder mit ihr auf etwas wettet, was sie gar nicht anbietet. Und Letzteres wäre der Fall, wenn man zu hohe Risiken eingeht. Aber hat der dritte Knecht nicht Recht? Wie soll man sich schützen vor einem Herrn, der ein harter Mann ist, der erntet, wo er nicht gesät hat, und einsammelt, wo er nicht ausgestreut hat? Das ist ein ernstes Argument. Aber der dritte Knecht verwendet dieses Argument nur zur Verschleierung

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der Tatsachen. Es lässt sich nämlich sofort durchschauen, dass nicht ein harter Herr der Grund war, warum der dritte Knecht das Geld vergraben hat. Denn wenn man weiß, wie hart der Herr ist, schützt den Knecht gerade nicht, wenn er das Geld vergräbt. Es überzeugt also nicht, den dritten Knecht als sozialrevolutionären Widerstandskämpfer gegen den Großkapitalisten zu stilisieren und die Schuld auf den Herrn der Geschichte abzuwälzen. Selbst wenn er es wäre, wäre es trotzdem zu bequem gewesen, das Geld zu vergraben. Dafür wird der dritte Knecht getadelt, dass er die Chancen ausschlägt, die ihm angeboten werden, dass er nicht die Lebenseinstellung annimmt, Chancen zu nutzen, die ihm in bestimmten Situationen angeboten werden. Muss man diese Lebenseinstellung haben? Muss man sie haben, um ein guter Christ zu sein? Oder haben nicht Menschen auch die Freiheit, einen Auftrag zu verweigern? An dieser Stelle wird die Geschichte unklar. Man mag zwar vielleicht Mitleid mit dem Knecht haben, aber richtig sympathisch ist er nicht, weil er mit großen Ausreden seine eigentliche Faulheit verschleiert. Der Schluss der Geschichte ist daher folgerichtig. Ethisch unklar wird die Geschichte aber an der Stelle, wo anscheinend die richtige Lebenseinstellung darin bestehen soll, die menschliche Freiheit zu opfern. Gelobt werden die Knechte, die die Forderungen ihres Herrn ohne Frage ausführen, fleißig zwar, aber auch ohne eigenen Willen. Getadelt wird der Knecht, der sich die Freiheit nimmt, ein Angebot zurückzuweisen. Gelobt wird die Unfreiheit, getadelt die Freiheit. Die Geschichte jedenfalls lässt sich so verstehen, dass Situationen uns aufzwingen, wie wir handeln sollen. Wenn wir es dann doch anders machen, geht es schlecht aus. Ein Hoch auf die Unfreiheit! Diese Pointe ist jedenfalls dann moralisch zweifelhaft, wenn man unter Freiheit versteht, dass sich Menschen ihre eigenen Chancen selbst aussu‐ chen. Tatsächlich können wir das aber nicht. Wir können nicht aus allen möglichen Chancen auswählen. Denn wir haben nicht immer alle möglichen Chancen zur Verfügung. Chancen müssen sich eröffnen, widerfahren. Erst dann kann man handeln. Erst indem Chancen widerfahren, ist man frei. Jesus vermittelt also ein anderes Verständnis von Freiheit, bei dem man nicht über seine Chancen verfügt. Vielmehr wird der Mensch dadurch frei, dass er sich auf die jeweilige Situation einlässt und die Chancen nutzt, die in ihr liegen. Wer dagegen diese Chance ausschlägt, muss nicht nur die eigene Freiheit leugnen, sondern die ganze Situation, als wäre sie nicht da. Und das ist ein unaufrichtiger Umgang mit Situationen, so wie wenn man angeblich

4.2 Situative Freiheit (Mt 25,14–30)

wusste, dass jemand ein harter Mann ist, aber sich dann doch so verhält, als ob dieser Mann nachgiebig wäre. Der dritte Knecht hat die Chancen der Situation ausgeschlagen und vergraben, um seinen bequemen Lebensstil zu sichern. Bequem mag das sein, aber nicht frei. Gerade indem der dritte Knecht die Chance ausge‐ schlagen hat, hat er sich unfrei gemacht. Und um seinen Lebensstil zu retten, argumentiert er nun unaufrichtig vor seinem Herrn. Aber wenn sich Situationen eröffnen, hilft einem kein scheinbar kluges Argument, das man sich aus anderen Zeiten zurechtgelegt hat. Wenn der Herr kommt, hilft kein angelesener Widerstand gegen den Großkapitalisten. So gut das Argument sein mag, hilft es hier nicht. Denn hier wird die Situation in den Blick genommen. Und es geht darum, ob man sich in ihr bewegen kann. Ansonsten verfehlt man sie eben. Die Freiheit, von der Jesus spricht, erwächst aus der Situation. Der dritte Knecht meint, er sei frei, weil er das Geld vergraben hat und sich damit seiner Aufgabe entledigt hat. Aber sobald sein Herr zurückkommt, wird klar, wie unfrei der Knecht gehandelt hat und wie unfrei er jetzt ist. In der Begegnung mit seinem Herrn zerfällt jede gute Begründung für das, wie man sich bisher verhalten hat. Situationen halten Gericht über unser bisheriges Verhalten und halten uns den Spiegel vor. Situationen räumen uns aber auch Chancen ein. Und dann sollten wir uns für die Chancen entscheiden. Wie wäre es eigentlich gewesen, wenn der dritte Knecht vor der Abreise seines Herrn dasselbe gesagt hätte: „Du bist ein harter Mann: du erntest, wo du nicht gesät hast usw. Und deshalb nehme ich deinen Auftrag nicht an“? Das wäre zwar ärgerlich gewesen für den Herrn, aber eine aufrichtige und zeitlich passende Aussage seines Knechts. Er hätte situationsgemäß gehandelt und damit frei. Der Knecht hätte auf die Situation angemessen reagiert – nur nicht eben so, wie es sein Herr gewollt hätte. Und doch hätte ihn sein Herr nicht mit denselben Argumenten verurteilen können, wie er es jetzt tut. Der Knecht hätte nämlich ebenso wie die beiden anderen aus der Situation die Freiheit geschöpft, wie er darin handelt. In der Geschichte dagegen hat er sich nur scheinbar auf die Situation eingelassen: Er hat das Geld angenommen und dann vergraben. Und damit ist er der Situation aus dem Weg gegangen, was zu seiner Unfreiheit führt. Warum Jesus diese Geschichte wohl erzählt hat und hier an die Freiheit erinnert? Vielleicht deshalb, weil Freiheit eben nicht angeboren ist. Wir können uns auf unsere Freiheit nicht verlassen oder darauf, dass unsere Vorstellungen, die wir irgendwann einmal vom Leben entwickelt haben, in

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jeder Situation greifen. Wir „haben“ nicht einfach Freiheit zur Verfügung. Das Geschenk der Freiheit besteht aber auch nicht in fünf Talenten oder zwei oder einem. Der Herr, der sein Geld an seine Knechte verteilt hat, hat keine Freiheit geschenkt. Sondern auch er hat dabei darauf vertraut, dass Freiheit von allein aus der Situation anbricht. Wer deshalb meint, in diesem Gleichnis sei es nicht um Gott gegangen, sollte darauf achten, was in Situationen widerfährt. Dann wird man das Geschenk der Freiheit entdecken und die Ahnung bekommen dafür, dass sie Menschen zwar unverfügbar ist, aber doch von ihnen entschlossen angenommen werden kann. Literatur zur Vertiefung: J. Fischer: Verstehen statt Begründen, 25–71. – Nach Fischer werden ethische Ent‐ scheidungen durch emotionale Betroffenheit in bestimmten Situationen getrof‐ fen. Sie lassen sich anderen narrativ vor Augen führen anstatt durch allgemeine und rationale Begründung. J. Fletcher: Situation Ethics. deutsch: Moral ohne Normen. – Menschen folgen keinen Regeln, wenn sie in Situationen agieren. Das gilt für den Alltag ebenso wie für Ausnahmesituationen. Allerdings fügt Fletcher seinem situationsorientierten Ansatz ein ethisches Prinzip hinzu, nämlich die Liebe. Liebe wird wiederum durch die Situation bestimmt.

4.3 Die Verbindlichkeit der Freiheit (Gal 5,1.13–14) 1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und werdet nicht wieder vom Joch der Knechtschaft festgehalten! 13 Ihr aber, Brüder und Schwestern, wurdet zur Freiheit berufen. Allein nicht damit ihr der Freiheit zum Anlass für das Fleisch dient, sondern damit ihr einander durch die Liebe dient. 14 Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort vollendet (3. Mose 19,18): „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“

Wenn eine Person frei ist, kann sie machen, was sie will. Wenn sie aber zur Freiheit befreit ist, dann soll das, was sie machen will, auch die Freiheit bewahren. Und damit kann sie nicht mehr einfach nur machen, was sie will. Vielmehr muss sie dann auch aufpassen, dass sie frei bleibt in allem, was sie tut. Deshalb hat uns Christus für Paulus nicht einfach befreit, sondern

4.3 Die Verbindlichkeit der Freiheit (Gal 5,1.13–14)

er hat uns zur Freiheit befreit: Wir sollen nicht nur frei sein, sondern auch frei bleiben. Aber was genau müssen Menschen machen, damit sie auch frei bleiben? Was genau sollten sie dazu wollen? Soziologisch wird die gegenwärtige gesellschaftliche Situation mit dem Wort „Individualisierung“ verbunden. Menschen lösen traditionelle Bindungen wie kulturelle Gewohnheiten oder Institutionen auf, damit sich jeder einzelne selbst entfalten kann. Ist das die Freiheit, die Paulus im Sinn hatte? Zunächst einmal scheint es so zu sein, dass die Individualisierung die Freiheit als Selbstzweck gewährt, eine Freiheit, um frei zu sein. Aber reicht es schon, frei zu sein, um auch frei zu bleiben? Sören Kierkegaard hat diesen Kreislauf der Freiheit (Ich bin frei, um frei zu sein) genau umgekehrt beschrieben als Paulus. Eine solche unverbindliche Freiheit, die sich nur durch sich selbst vergewissern kann, dass sie stabil ist, erzeugt nach Kierkegaard Angst. Mit jeder freien Entscheidung riskiere ich, etwas falsch zu machen, was meine Freiheit zerstört. Soll ich diese Frau heiraten? Es wäre eine freie Entscheidung. Niemand zwingt mich dazu außer ich mich selbst. Aber schon dass ich mich dazu zwingen muss, zerstört meine Freiheit. Das merkt man immer dann, wenn einem auffällt, dass es noch andere liebenswerte Menschen gibt, mit denen es auch schön wäre, zusammen zu sein. Es ist ein Zwang, frei zu sein. Und schon dadurch kann ich mich meiner Freiheit nicht mehr selbst versichern. Die Freiheit kippt in Angst. Wer frei ist, um frei zu sein, verliert gerade die eigene Freiheit, weil die Angst kommt, sie zu verlieren. Menschen leben im Zeitalter der Individualisierung so ungebunden und frei, dass es ihnen unheimlich werden kann. Ihre Ungebundenheit befreit sich von allem, was festen Halt gibt, und wird damit haltlos. Offenbar reicht es nicht, sich mit der eigenen Freiheit selbst zu beruhigen, um frei zu bleiben. Paulus geht darüber noch einen Schritt weiter und formuliert positiv, dass Menschen ihre Freiheit Gott verdanken. Sie finden zur Freiheit nicht, indem sie sie auf die Freiheit selbst stützen lassen, sondern indem sie sich auf eine Macht berufen, die ihnen entzogen ist. Damit ist Freiheit nicht mehr unverbindlich und ungebunden, sondern bindet Menschen an Gott und gibt ihrem Freiheitsgebrauch eine Orientierung. Sie sind nicht allein gelassen mit ihrer unheimlichen Freiheit. Sondern weil sie frei sind, sind sie an Gott gebunden. Für Paulus ist der Sinn der Freiheit die Liebe zum Nächsten. Wieder wird Bindung benannt, jetzt die Bindung zum Nächsten. Menschen können nur frei bleiben, wenn sie verbindliche Beziehungen zu ihren Mitmenschen

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4 Freiheit

haben. Paulus bringt mit der Freiheit sogar ein Gebot in Verbindung, aber auch nur dieses eine Gebot, den Nächsten zu lieben. Jesus hatte im Zusammenhang mit diesem Gebot noch ein anderes genannt, das für ihn das höchste Gebot war: Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen (Mk 12,30)! Paulus erwähnt es nicht zusammen mit dem Gebot der Nächstenliebe, aber es ist in seiner Argumentation doch implizit enthalten. Denn Freiheit erfüllt sich, weil sie ein Geschenk Gottes ist. Die Bindung zu Gott begründet also die Freiheit und erfüllt sich in unserer Bindung zum Nächsten. Als Martin Luther Widerstand leistete gegen die damalige kirchliche Lehre, hat er sich in seinen 95 Thesen auf die Nächstenliebe berufen: Die Gläubigen sollten nicht beschwert werden durch angedrohte Höllenstrafen (These 82). Vielmehr sollte ein gnädiger Gott angerufen werden (Th. 26). Luther hat von seiner Freiheit Gebrauch gemacht, was ihn sehr belastet hatte und beinahe dazu geführt hätte, dass er ermordet worden wäre. Aber in einem System der Unfreiheit kann auch ein Mitläufer in jedem Moment zum Opfer werden. Im Nachhinein wird Luther als tapferer Held verklärt, wie er auf dem Reichstag zu Worms dem Kaiser widerstanden hat. Es stand aber ein ängst‐ licher Mönch vor dem Kaiser. Seine Situation ähnelt den Demonstranten in totalitären Staaten, die für ihre Freiheit eintreten und mit Sprechchören ihre Angst übertönen. Wie können sich ängstliche Menschen von ihrer Angst nicht behindern lassen? Anscheinend konnte bisher in solchen Situationen der Glaube, dass das Geschenk der Freiheit größer ist, diese Angst zumindest zeitweise beruhigen. Wir sind eben nicht einfach frei, um frei zu sein. Sondern wir werden von Gott befreit, damit er uns auch weiter befreit. Auch Christen werden in ihrem Leben immer wieder Angst haben: „Werdet nicht wieder vom Joch der Knechtschaft festgehalten!“ Angst kann größer sein als der Glaube. Und nur weil Gott uns Freiheit schenkt, ist uns noch nicht der Erfolg garantiert, wenn wir für sie kämpfen. Erfolg war gerade bei Luther nicht zu erwarten. Und dass er der staatlichen und kirchlichen Drohung nicht erlegen ist, lag nicht an ihm selbst oder seinem Mut. Aber das Geschenk der Freiheit hat sich unabhängig von diesem Glücksfall verwirklicht. Christen sind auch in Misserfolgen für ihre Nächsten eingetreten, weil sie zur Freiheit bestimmt gewesen sind. Gottes Geschenk besteht nicht darin, dass er unsere Sehnsucht nach Freiheit befriedigt, sondern dass unsere Freiheit eine Realität ist, die sich im Zusammenleben auswirkt. Und das heißt für uns, dass wir nicht deshalb frei sind, weil wir uns gut oder frei dabei fühlen. Sondern wir sind frei, weil

4.4 Wechselseitige Freiheit (2. Kor 9,6–10)

wir gebunden sind – an unsere Nächsten in Not und an Gott, der uns dazu befreit. Literatur zur Vertiefung: S. Kierkegaard: Der Begriff Angst, § 5. – In diesem Paragraphen beschreibt Kierke‐ gaard, wie Freiheit in Angst kippt, weil sie als „Möglichkeit für die Möglichkeit“ immer auch Möglichkeiten ausschließt. M. Luther: Disputation zur Klärung der Kraft der Ablässe, 1–15. – Das ist der Text der 95 Thesen, mit denen Luther die Reformation ausgelöst hat. Freiheit besteht nicht darin, sich mit Ablassbriefen freikaufen zu können, sondern Verantwortung zu übernehmen. Luther bindet christliche Verantwortung an Reue und Nächsten‐ liebe.

4.4 Wechselseitige Freiheit (2. Kor 9,6–10) 6 Wer sparsam sät, der wird auch wenig ernten; und wer sät im Segen, der wird auch ernten im Segen. 7 Ein jeder, wie er's sich im Herzen vorgenommen hat, nicht mit Unwillen oder aus Zwang; denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb. 8 Gott aber kann machen, dass alle Gnade unter euch hinauswächst, damit ihr in allen Dingen allezeit genug habt und noch über euch hinauswachst zu jedem guten Werk; 9 wie geschrieben steht: „Er hat ausgestreut und den Armen gegeben; seine Gerechtigkeit bleibt in Ewigkeit.“ 10 Der aber Samen gibt dem Sämann und Brot zur Speise, der wird auch euch Samen geben und ihn vermehren und den Ertrag eurer Gerechtigkeit noch steigern.

Diese These ist zweifellos richtig: „Wer sparsam sät, der wird auch wenig ernten.“ Aber stimmt auch das Gegenteil? Wird man automatisch reichlich ernten, wenn man reichlich sät? Erfahrungsgemäß besteht keine Symmetrie, die eine Umkehrung dieses Satzes rechtfertigt. Es kann viel dazwischenkom‐ men, was den Ertrag mindert, auch wenn man viel gesät hat. Aber könnte es andere Beispiele außerhalb der Landwirtschaft geben, bei denen diese Symmetrie stimmt? Sogar im vorliegenden Bibeltext spielt die Landwirtschaft nur auf der Oberfläche die Hauptrolle. Dahinter geht es grundlegender um Hilfsbereitschaft. Paulus hat die Christen aus Korinth

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motivieren wollen, dass sie für die Christen in Jerusalem eine beträchtliche Kollekte sammeln, damit sie dort überleben. Dann könnte sich also sein Vergleich auf Hilfsbereitschaft beziehen: Wer wenig hilft, wird auch wenig Hilfe bekommen, wenn er sie eines Tages braucht. Aber wer viel hilft, wird eines Tages viel Hilfe bekommen. Und trifft das zu? Auch da fallen mir Gegenbeispiele ein. Zum Beispiel bekomme ich als Seelsorger manchmal von älteren Menschen erzählt, wie wenig Unterstützung sie von ihren Kindern bekommen, die sie einst aufgezogen haben und denen sie geholfen haben, erwachsene Menschen zu werden. Ich kenne aber auch umgekehrte Erzählungen: Junge Erwachsene pflegen ihre kranken Eltern, obwohl sie von ihnen früher lieblos behandelt worden sind oder sogar geschlagen wurden. Da ist wenig gesät, aber offenbar doch viel geerntet worden. Dass man hier keine eindeutigen Zusammenhänge herstellen kann, liegt daran, dass wir Menschen frei sind, uns dazu zu verhalten, was wir erlebt haben. Ich muss nicht aus Zwang Böses mit Bösem vergelten, sondern kann mich auch darüber hinwegsetzen und Menschen großzügig behandeln, die zu mir streng und abfällig gewesen sind. Im Hinblick auf die Freiheit wiederum ist die Symmetrie gültig. Wer wenig Freiheit einsetzt, wird auch wenig Spontanes und Überraschendes erleben. Und wer frei ist und viele freie Handlungen leisten kann, der wird auch von freien Menschen umgeben sein. Paulus spricht über Freiheit, als er die Korinther zur Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde ermutigt: „Ein jeder, wie er's sich im Herzen vorge‐ nommen hat, nicht mit Unwillen oder aus Zwang.“ Aus Freiheit gibt man und ist großzügig. Und aus Freiheit sät man ein. Und wenn man frei gibt, dann gibt man nicht einfach nur etwas (Same zum Beispiel oder Geld). Sondern man gibt vor allem seine Freiheit. Aus Freiheit sät man Freiheit ein. Und deshalb wird man zuallererst auch Freiheit ernten. Freie Menschen werden also immer noch freier. Dieses Wunder der Selbstvermehrung von Freiheit beschreibt Paulus mit den Worten: „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.“ Auch dieser Satz soll nicht unter Druck setzen, so dass man auch noch fröhlich darüber sein muss, etwas abzugeben. Vielmehr geht es um die spontane Fröhlichkeit freier Menschen, die aus Freiheit für andere da sind. Warum funktioniert bei der Freiheit die Symmetrie, die sich im Hinblick auf landwirtschaftliche Arbeit oder fürsorgliches Handeln nicht immer einstellt? Immerhin lassen sich auch bei der Freiheit Gegenbeispiele finden,

4.4 Wechselseitige Freiheit (2. Kor 9,6–10)

wenn Völker gegen die Diktatur in ihrem Land kämpfen und einen Frei‐ heitskampf führen – und ihn oft verlieren. Aber immerhin hat sich in diesen Ländern die Freiheit eingepflanzt. Die Machthaber werden die Freiheit ihrer Bürger nicht mehr los. Die Atmosphäre der Freude freier Menschen beherrscht diese Länder auch, wenn sie den Freiheitskampf unterdrücken, und setzt Mobilisierung frei. Man bekommt dieses Kraut nicht mehr weg, wenn es einmal Wurzeln geschlagen hat. Völker erfinden Freiheit neu: Sie finden Nischen in ihrem Alltag – wo Frauen sich von den strengen Kleiderordnungen lösen, Mädchen eine Schulausbildung anstreben, junge Menschen im Ausland studieren und ihre Freiheitsideen auf unvermuteten Gebieten unterschwellig umsetzen. Zwar misslingt vieles, was sich diese Völker erhoffen. Aber die Freiheit hat trotzdem Wurzeln geschlagen. Es gibt eine wunderbare Selbstvermehrung von Freiheit. Paulus hat vor allem im Sinn, wie sich Freiheit wundersam vermehrt, wenn man großzügig ist. Wer etwas von sich abgibt, hängt nicht zwanghaft an seinen Gütern, sondern kann frei damit umgehen. Man wird zwar nicht selbst immer Güter zurückgeschenkt bekommen, wenn man großzügig verschenkt. Aber wer frei abgibt, hängt ja auch nicht an Gütern oder daran, dass man ihm etwas zurückgibt. Vielmehr bekommen großzügige Menschen freie Mitmenschen zurück, wenn sie sich selbst frei von ihren Gütern lösen kann, um damit anderen Menschen zu helfen. Die Jerusalemer Gemeinde hatte schwere Existenznöte. Mit der Kollekte aus Korinth konnte die Gemeinde gerettet werden – übrigens bis auf den heutigen Tag. In Jerusalem hat es immer eine christliche Gemeinde gegeben. Die Christen damals sind befreit worden von ihren Existenznöten – weil ihnen aus Freiheit etwas gegeben wurde. Man könnte sagen: Die Kollekte aus Korinth hat die Jerusalemer Gemeinde gerettet, obwohl sie das nicht voraussehen konnte, dass sie auch 2000 Jahre später, heute noch existiert. „Gott aber kann machen, dass alle Gnade unter euch hinauswächst.“ Christen glauben an einen Gott, der die Menschen befreit hat: Er hat sein Volk Israel aus der Sklaverei befreit und die Menschen von Tod und Sünde. Genauso wie Gott der Schöpfer und Neuschöpfer der Welt ist, so ist die Freiheit schöpferisch: Sie wächst von allein und wächst über sich hinaus. Befreit werden dabei Menschen. Es mag auch anderes geben, das sich garantiert vermehrt, wenn man es sät. Auch Böses kann sich selbstvermehren. Wer Gewalt schürt, wird Gewalt ernten. Und wer andere unfrei macht, wird selbst Unfreiheit ernten. Man

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erkennt also nicht am Ertrag den Segen Gottes. Aber man erkennt den Segen Gottes an der Freiheit, nämlich daran, dass wir Menschen befreit sind und dass es uns gelingt, Menschen zu befreien, weil wir selbst frei geben. Literatur zur Vertiefung: J. Hübner: Ethik der Freiheit, 355–364. – Hübners Buch entfaltet die These, dass Freiheit nach evangelischem Verständnis aus Freude hervorgeht. Man wird zur Freiheit angestiftet und kann auch andere dadurch anstiften. Diese These wendet Hübner an vielen ethischen Themen an. Die vorgeschlagene Textstelle beschreibt die Rolle von Nicht-Regierungs-Organisationen für die Weiterentwicklung der freiheitlichen Gesellschaft.

Biblische Alternativen Zentrale biblische Freiheitstexte sind Erzählungen der Befreiung aus realer Unterdrückung. Gott stellt sich seinem Volk regelmäßig als der vor, „der dich aus Ägypten geführt hat, aus der Knechtschaft“ (z. B. 5. Mose 5,6). Das Selbstverständnis Israels, der Sklaverei entkommen zu sein, zieht sich wie ein roter Faden durch das Alte Testament. An dieses Motiv knüpft die Befreiung aus der „babylonischen Gefangenschaft“ an. Wie bereits an der Textstelle in Sektion 4.3 gezeigt, ist darüber hinaus für Paulus die Freiheit vom Gesetz eine zentrale Aussage seiner christ‐ lichen Botschaft. Für alle diese Texte ist charakteristisch, dass Freiheit nicht im „philosophischen“ Sinn auf ihre Konstitutionsbedingungen hin untersucht, sondern als konkrete praktische Befreiung dargestellt wird. Während jedoch das Befreiungsmotiv im Alten Testament konkrete Situationen eines Volkes in Blick nimmt, verallgemeinert Paulus das konkrete Ereignis der Auferstehung Christi zu einer Befreiung aller Menschen. Die ethische Herausforderung dieser Alternativen besteht darin, eine gerechtfertigte Übertragung aus konkreten Ereignissen für ein gegen‐ wärtiges Freiheitsverständnis zu leisten. Dabei zeigen sich durchaus innerbiblische Hemmnisse: Die Freiheit aus der babylonischen Gefan‐ genschaft hat nicht dazu geführt, dass die Generationen der verschlepp‐ ten Jerusalemer Bevölkerung nach ihrer Befreiung wieder geschlossen nach Jerusalem zurückgekehrt sind. Vielmehr haben viele Juden ihre Freiheit dazu gebraucht, außerhalb des verheißenen Landes Israel zu leben. Prophetische Motive des Auszugs (Jes 40–55), der Völkerwallfahrt

4.4 Wechselseitige Freiheit (2. Kor 9,6–10)

zu Zion oder die Berichte aus Nehemia und Esra vermitteln jedoch eine innerbiblische Kritik an dieser Trennung des Volks. Anscheinend wird auch hier die Befreiung als eine gebundene verstanden, nämlich als eine Bindung an die Geschichte Israels und seine Verheißungen: Die Freiheit Israels ist nicht für beliebige Zwecke gegeben, sondern um ins Land der Väter zurückzukehren. Soll und kann diese Tendenz biblischer Befreiungserzählungen verallgemeinert werden? Paulus nimmt demgegenüber eine Traditionskritik vor, die zur Freiheit als Emanzipation von der Geschichte führt. Dennoch führt bei ihm die Freiheit auch nicht zur Beliebigkeit. Vielmehr beschreibt er eine neue Spannung aus Freiheit und Bindung, die er anthropologisch verallge‐ meinert.

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5 Das Gute Die Diskurslage Mit dem Begriff Guten trifft die Ethik so stark auf philosophische Probleme wie nirgendwo sonst. Etliche Probleme hierzu sind nach wie vor nicht zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst. Das trifft schon auf die Bedeutung des Ausdrucks „gut“ zu. George Edward Moore fand in einer großen Studie keine Bedeutung dafür und folgerte daraus, dass „gut“ ein undefinierbar einfacher Ausdruck sei.1 Denn jegliche Beschreibung würde „gut“ zu einer natürlichen Eigenschaft machen, wäh‐ rend doch gerade umgekehrt die zusätzlich beschriebenen (natürlichen) Eigenschaften zusätzlich als gut beschrieben werden. Allerdings, auch wenn „gut“ nicht mit Eigenschaften definiert werden kann, muss der Ausdruck nicht uneindeutig sein. Es könnte sich bei ihm auch um ein sogenanntes Index-Wort handeln, das die Sprecher-Perspektive einbezieht: Demnach ist etwas gut, weil sich mit diesem Ausdruck eine Sprecherin in einer Situation lokalisiert. Es erschließt sich dann jeweils hier und jetzt eindeutig, was gut ist, ohne dass dazu ein definierter Begriff nötig ist.2 Aufgrund seiner Undefinierbarkeit können sich theistische Konzeptionen leidenschaftlich um das Problem des sogenannten Euthyphron-Dilemmas streiten, benannt nach dem Platon-Dialog Euthyphron: Will Gott das Gute, weil es gut ist (dann müsste er sich dem Guten unterordnen und wäre nicht allmächtig)? Oder ist alles, was Gott will, gut (dann könnte auch Grausames „gut“ sein; warum will Gott dann nicht Grausames?)? Die sogenannte „Divine Command Ethics“ will Gottes Souveränität retten, ohne ihn zu einem möglichen moralischen Tyrannen erklären zu müssen. Die ganze Diskussion beruht aber auf der Undefinierbarkeit von „gut“. Denn wäre „gut“ definiert, so wäre auch klar, ob Gottes moralische Urteile von weiteren Eigenschaften oder Kontexten abhängig sind und ob Gott von ihnen abhängig ist. Hält man „gut“ dagegen für ein Index-Wort, entfällt sogar die Alternative. Dann ist gut, was Gott hier und jetzt will, weil er es hier und jetzt will, und er will es, weil es hier und jetzt gut ist.

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G.E. Moore: Principia Ethica, 36, 40. L. Ohly: Ethik als Grundlagenforschung, 95.

1. Mose 22,1–19

Dietrich Bonhoeffer hat grundsätzlich angemahnt, dass sich eine Theolo‐ gische Ethik nicht am Begriff des Guten orientieren sollte. Denn sonst werde der Referenzrahmen verwechselt, der ein Urteil über das Gute überhaupt erst theologisch sachgemäß mache, nämlich die Wirklichkeit Gottes.3 Eine ähnliche Schlussfolgerung kann man sogar aus Eilert Herms’ Ethik ziehen, obwohl sie sich am Höchsten Gut ausrichtet: Denn das Höchste Gut schafft überhaupt erst den Maßstab, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können.4 1. Mose 22,1–19

Zur Textauswahl Die Erzählung von Isaaks Opferung ist philosophiegeschichtlich prominent geworden durch Sören Kierkegaards Auslegung. Dadurch hat diese Erzäh‐ lung kanonische Bedeutung erlangt für die Diskussion um die Konstitution des Guten.

1 Und es geschah nach diesen Geschichten, dass Gott Abraham prüfte und er sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. 2 Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde. 3 Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte. 4 Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne 5 und sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. 6 Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und es gingen die beiden miteinander. 3 4

D. Bonhoeffer: Ethik, 32. E. Herms: Systematische Theologie Bd. 2, 1221.

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5 Das Gute

7 Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? 8 Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und es gingen die beiden miteinander. 9 Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und richtete das Holz zu und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz 10 und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. 11 Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. 12 Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deinen einzigen Sohn nicht zurückgehalten vor mir. 13 Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder im Dickicht verfangen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer statt seines Sohnes. 14 Und Abraham nannte die Stätte „Der HERR lässt sich sehen“ (oder „sieht“) so dass man heute sagt: Auf dem Berge lässt sich der HERR sehen. 15 Und der Engel des HERRN rief Abraham abermals vom Himmel her 16 und sprach: Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht der HERR: Weil du diese Sache getan hast und hast deinen einzigen Sohn nicht zurückgehalten, 17 werde ich dein Geschlecht segnen und mehren wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres, und deine Nachkommen sollen die Tore ihrer Feinde besitzen; 18 und durch dein Geschlecht sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, weil du meiner Stimme gehorcht hast. 19 So kehrte Abraham zurück zu seinen Knechten. Und sie machten sich auf und zogen miteinander nach Beerscheba und Abraham blieb daselbst.

Seit über 2000 Jahren diskutieren Theologen und Philosophen darüber, ob solche Befehle gut sind, weil sie von Gott kommen, oder ob Gott hier eine moralische Grenze überschritten hat. Der Philosoph Sokrates kam zum Schluss, dass nichts moralisch gut ist, außer wenn es die Götter lieben. Wenn das stimmt, dann dürfte Gott zum Mord aufrufen, weil er Gott ist. Dagegen könnte man einwenden, dass Gott gar nicht vor hatte, Isaak von seinem Vater ermorden zu lassen. Er wollte Abraham nur prüfen.

1. Mose 22,1–19

Aber darf Gott etwa einen Menschen so hart prüfen? Wir würden es wohl für unmoralisch halten, wenn wir jemanden zu einer unmoralischen Tat anstacheln wollen, nur um ihn zu testen. Was soll sich bei diesem Test moralisch herausstellen? Etwa dass jemand von uns so abhängig ist, dass er sogar etwas Schlimmes für uns tun würde? Unter uns Menschen halten wir einen solchen Test für unmoralisch. Aber wenn Gott die Maßstäbe für Gut und Böse setzt, dann dürfte er das wohl tun, oder? Daraus folgern Theologen oft, dass Gott dann auch Grausames befehlen dürfte, und das wäre in moralischer Hinsicht kein wünschenswertes Ergebnis. Aber denken wir dieses Gedankenspiel zu Ende. Wenn Gott also die Maßstäbe setzt, was gut und böse ist, und das Grausame für gut halten würde, dann wäre eben das Grausame nichts Böses und das Liebevolle nichts Gutes. Vielleicht wird die Geschichte von Abraham deshalb so emotionslos erzählt. Denn wenn wir Menschen nur von Gott wissen, was gut und böse ist, und uns nicht auf unser eigenes Urteil verlassen können, dann können wir auch nichts dabei fühlen, wenn Gott uns zum Mord aufruft. In der biblischen Erzählung jedenfalls wird kein einziges Gefühl näher beschrieben. Nichts wird erzählt, dass Abraham verzweifelt war, als er seinen Sohn zum Opferaltar brachte. Isaak hat einmal für einen kurzen Moment Zweifel, wo sich eigentlich das Opfertier befindet, aber auch da spürt man keine Beunruhigung oder Angst. Zweimal wird fast romantisie‐ rend erzählt: „Und es gingen die beiden miteinander.“ Nicht einmal als der rettende Engel kam, freut sich irgendwer. Und der Widder, den Abraham stattdessen zum Opfer schlachtete, wird nicht etwa zum Dankopfer eines überglücklichen Vaters erbracht. Der Grund für dieses Brandopfer wird verschwiegen. Anscheinend können sich Menschen nicht auf ihre Gefühle verlassen, wenn sie sich nur so moralisch verhalten können, wie Gott es ihnen befiehlt. Sie haben nicht einmal moralische Gefühle dabei, weil Gott ihnen alles sagen muss, was zu tun ist. Allerdings spielt ein Gefühl dann doch die entscheidende Rolle dieser Geschichte, auch wenn es missverständlich ausgedrückt wird. Es wird trotzdem zweimal vom Engel bewundert: „Nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deinen einzigen Sohn nicht zurückgehalten vor mir.“ Zwar wird nirgendwo in der Geschichte erzählt, dass Abraham Gott „fürchtete“. Es ist also wohl nicht gemeint, dass Abraham aus Angst vor Gott diesen Mord an seinem Sohn plante. Denn dann hätte Abraham doch aus eigenen Maßstäben wissen müssen, dass Angst etwas Schlechtes ist. Und dann hätten seine Mordpläne nichts mit seiner Beziehung zu Gott zu tun gehabt, sondern

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5 Das Gute

nur mit seiner Angst. Was die Bibel hier „Gottesfurcht“ nennt, meint wohl eher Abrahams Vertrauen in Gott. Darin liegt nach meinem Eindruck die Pointe dieser Geschichte: Gott kann zwar über Gut und Böse entscheiden, und er kann Menschen befehlen, was er will. Aber er kann nicht erzwingen, dass sie ihm vertrauen. Dazu braucht er vielmehr Menschen. Und diese Pointe ist die biblische Antwort auf die alte philosophische Frage, ob denn Gott auch das Grausame zum Guten definieren könnte. Gott mag ja befehlen, was gut und böse ist. Aber er braucht Menschen, die ihm dabei vertrauen. Und menschliches Vertrauen erschafft das Gute mindestens ebenso wie Gottes Befehle. Wenn niemand den Geboten Gottes folgt, kann Gott auch nicht wirksam festlegen, was gut und böse ist. Gott könnte nicht einmal wirksam befehlen, dass die Menschen ihm zu vertrauen haben. Wenn sie es nicht tun, bleibt das Gottvertrauen unwirksam in der Welt. Und damit bleibt in der Welt offen, ob Vertrauen gut oder böse ist. Die Geschichte handelt eigentlich davon, dass Gott einen Partner findet, der ihm vertraut. Er findet nicht einfach eine Person, die seine Gebote aus‐ führt, als wäre sie ein Automat. Sondern bevor Abraham das Gebot erfüllt, muss er dabei Gott vertrauen. Den Mord hat Abraham nicht begangen. Das Gebot ist also nicht umgesetzt worden. Aber das Vertrauen hat Abraham durchgängig in der Geschichte behalten. Vielleicht hat er es sogar ernst gemeint, als er sagte: „Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer.“ Es war sogar ein größeres Tier als ein Schaf. Und es war zum Glück nicht der eigene Sohn. Wenn es kein Gutes und Böses an sich gibt, sondern wenn Gott die Maßstäbe setzt, indem er gebietet, dann kann er zumindest nicht gebieten, dass wir Menschen seinen Geboten zu folgen haben. Er muss vielmehr voraussetzen, dass uns seine Gebote einleuchten. Denn wenn er zusätzlich zu seinen Geboten noch gebieten müsste: „Haltet meine Gebote!“, dann müssten wir zumindest dieses Gebot nicht nur deshalb halten, weil es ein Gebot ist. Denn sonst bräuchten wir noch ein drittes Gebot, dass wir das Gebot Gottes halten sollen, alle seine Gebote zu halten – und so weiter bis ins Unendliche. Die Wahrheit ist aber, dass Menschen Gottes Gebote nur halten, weil sie ihm vertrauen. Deshalb kann Gott nicht alleine bestimmen, was gut und böse ist. Er ist dabei vielmehr auf menschliches Vertrauen angewiesen. Aber dann muss Gott auch das menschliche Vertrauen wert sein. Ob er es wert ist, stellt er nicht dadurch her, dass er befiehlt, ihn vertrauenswürdig zu halten. Seine Vertrauenswürdigkeit muss er vielmehr dem Urteil von

1. Mose 22,1–19

Menschen überlassen. Wenn Gott allerdings unser Vertrauen gewinnen will, muss er sich uns so zuwenden, dass er nicht unser Vertrauen missbraucht. Hätte also Abraham seinen Sohn ermordet, dann hätte er etwas Böses getan – auch wenn er dabei Gottes Befehl gefolgt wäre. Er hätte zwar Vertrauen in Gott gehabt – was gut gewesen wäre, denn ohne dieses Vertrauen könnte Gott nichts Gutes in der Welt wirksam unterbringen. Aber Gott hätte dieses Vertrauen zugleich missbraucht und Abraham einen bösen Befehl gegeben. Deshalb muss der Engel die Prüfung abbrechen. Am Ende ist es so, dass Gott sogar das Urteil auf sich nimmt, eine böse Prüfung durchgeführt zu haben. Indem er den Mord verhindert, bricht er seine Prüfung ab und legt damit fest, dass sein Befehl böse war. Das Gute in dieser Geschichte kommt von Abraham, indem er Gott vertraut. Menschen legen Gott mit Vertrauen darauf fest, dass er ihr Vertrauen wert sein muss. Er darf es nicht missbrauchen. Und damit legen nicht alleine Gottes Gebote fest, was gut und böse ist, sondern auch Menschen, wenn sie das Vertrauen darin haben, dass Gott es gut mit ihnen meint. Gott muss sich an diesen Maßstab menschlichen Vertrauens binden, wenn er ein guter Gott sein will. Was gut und böse ist, entsteht zwischen den Lebewesen. Niemand kann die Moral für sich alleine reservieren, nicht einmal Gott. Sie entsteht immer nur gemeinsam. Moral ist die Bindung, die uns aneinanderhält. Bestimmt können Menschen auch aus Vertrauen etwas falsch machen. Abraham hätte auch beinahe aus Vertrauen etwas Böses getan. Aber das spricht nicht gegen das Vertrauen, sondern nur gegen diejenigen, die es missbrauchen wollen. Die Macht des Vertrauens richtet über die, die es ausnutzen. In der biblischen Geschichte schwört Gott, dass er den Nachkommen Abrahams dienen und ihr Vertrauen nicht noch einmal missbrauchen wird. Er schwört bei sich selbst, denn offenbar gibt es keinen höheren Maßstab, an dem er sich bei seinem Schwur orientieren könnte. Gott hat einen Raum erschaffen, in dem Gut und Böse unterschieden werden soll. Um diesen Raum zu erschaffen, brauchte er Menschen, die ihm seitdem vertrauen. An diesen Maßstab des menschlichen Vertrauens hat er sich nun selbst gebunden mit seinem Schwur.

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5 Das Gute

Biblische Alternativen Die Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies (1. Mose 3) thematisiert zwar nicht die Konstitution des Guten, wohl aber der menschlichen Erkenntnis des Guten. Obwohl Eva nicht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse essen und somit diese Erkenntnis nicht entwickeln soll, entwickelt sie sich bei ihr von selbst: Sie erkennt, dass von dem Baum „gut“ zu essen wäre, noch bevor sie davon isst. Die Un‐ terscheidung von Gut und Böse ergibt sich in konkreten Begegnungen – wie hier in der Konfrontation mit dem Baum. Dass es nicht gut ist, dass Eva ein Gebot übertritt, hätte sie hingegen nicht erkennen können, solange sie die Erkenntnis von Gut und Böse nicht hatte. Die Erzählung beschreibt somit Grenzen der ethischen Urteilsbildung: Nicht alles, was Menschen als gut und böse erkennen, ist darum schon in ethisch gerechtfertigter Weise gut oder böse. Die ethische Herausforderung der Interpretation dieser Erzählung besteht dann in der Frage, ob die situative Erkenntnis ethisch überhaupt etwas austrägt. Jesus antwortet einem Gesprächspartner, der ihn „guter Meister“ nennt: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als der eine Gott“ (Mk 10,18). Das hebt hervor, dass der Mensch den Maßstab des Guten für ethische Urteile nicht selbst bildet. Allerdings stellt die Fortsetzung der Geschichte heraus, dass der Mensch in der Lage ist, dem Guten zu folgen und es zu erkennen. Offen bleibt, ob diese menschliche Fähigkeit, sich am Guten zu orientieren, deshalb gegeben ist, weil der Maßstab des Guten ethisch oder göttlich ist. Hat der Mensch also eigene Gründe, sich am Guten zu orientieren, oder folgt er dem alleinigen Grund, der Gott ist? Und wenn es das Letztere ist: Ist dieser Grund, der Gott als einzig Guter an sich ist, auch ein Grund für den Menschen?

Literatur zur Vertiefung: Platon: Euthyphron, 277–299. – Der Philosoph Sokrates diskutiert mit einem Bekannten darüber, ob das Fromme deshalb das Fromme ist, weil es die Götter lieben, oder ob es eine Eigenschaft besitzt, weswegen die Götter es lieben. Das Problem dieses berühmten Dialogs wird in der Ethik „Euthyphron-Dilemma“ genannt. Es besteht darin, dass im ersten Fall auch das Grausame fromm heißen könnte und im zweiten Fall Gott nicht allmächtig wäre, wenn er hinnehmen müsste, was gut ist.

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S. Kierkegaard: Furcht und Zittern, 49–75. – Kierkegaard legt die vorliegende bibli‐ sche Textstelle aus und behauptet, dass Abraham nicht aus ethischen Gründen handelt, sondern aus religiösen. Ethik und Religion sind Gegensätze. R.M. Adams: A Modified Divine Command Theory of Ethical Wrongness, 462–476. – Adams ist ein Vertreter der sogenannten „Divine Command Ethics“, bei der über die Frage diskutiert wird, ob Gott das Gute will, weil es gut ist, oder ob das Gute nur deshalb gut ist, weil Gott es so will. Adams vertritt die zweite Option, zeigt aber, dass Gott trotzdem nicht das Grausame als gut definieren kann, weil sein Wesen die Liebe ist.

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6 Menschenwürde Die Diskurslage Menschenrechte, die jemand allein deshalb verdient, weil er oder sie Mensch ist, sind relativ junge soziale Konstrukte. Anscheinend gehen sie von Erfahrungen des grauenhaften Umgangs mit einzelnen Menschengruppen aus, vor allem im Rassismus und Kolonialismus bis zum Völkermord und Holocaust.1 Daraus wird vereinzelt gefolgert, dass die Menschenwürde aus ihrer Negation hervorgeht, also rückwirkend als die verletzte, die nicht verletzt werden darf.2 Emanuel Levinas findet dementsprechend das Positive des Menschen in seiner Blöße und Nacktheit.3 Diese Ansätze verlassen den Begründungstyp der Aufklärung, die die Menschenwürde aus einem positiven Menschenbild entwickelt hat, nämlich aus der Fähigkeit zum moralischen Urteilen.4 Der neue Begründungstyp vertraut nicht in dieses positive Menschenbild, weil die Aufklärung nicht in der Lage gewesen ist, menschliche Grausamkeiten zu verhindern. Andererseits handelt sich die Begründungsfigur, die Menschenwürde aus ihrer Verletzung her zu bestim‐ men, das Problem ein, nur partikulare und kontextuelle Ausdrucksformen ihrer Achtung begründen zu können. Dieses Problem zeigt sich einerseits darin, dass Nationalstaaten mit ver‐ schiedenen Rechtskulturen die Menschenwürde unterschiedlich bestimmen und schützen, so dass international keine Einigkeit darin besteht, wie die Menschenwürde zu achten ist. Gleichwohl haben die meisten Staaten gemeinsam die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen akzeptiert. Das führt andererseits zur beunruhigenden Situation, dass die Partikularität souveräner Staaten die Universalität der Menschen‐ würde schützt, was sie jedoch nicht können, weil sie partikular sind.5 Denn in Staaten kann der Schutz der Menschenwürde nur begrenzt gelten, weil er von den begrenzten Mitteln eines Staates abhängig ist. Könnte das Konzept

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H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 390, 707. M. Horkheimer/Th.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, 126. J. Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit, 104, 238. E. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, 101f. I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 435. H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 604f.

Mt 25,31–46

der Menschenwürde deshalb gerade ein unmenschliches Konzept sein, weil die politischen Machthaber bestimmen, wer sie verdient und wem man sie verweigern kann?6 Die Frage bleibt daher bislang offen, wie sich partikulare Erfahrungen und begrenzte Schutzgarantien verlässlich einer universalen Zurechnung der Menschenwürde zuordnen lassen. Mt 25,31–46

Zur Textauswahl Die Dynamik, sich bei der Achtung der Menschenwürde an der menschli‐ chen Verletzlichkeit, Schwäche und Gefährdung zu orientieren, bildet das Kriterium des Weltgerichts in der folgenden Textstelle. Darin stimmen also die Bestimmung von Menschenwürde in den modernen Menschenrechten und das biblische Kriterium der Achtung der Geringsten überein.

31 Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, 32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie vonein‐ ander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, 33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. 34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! 35 Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben?

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J. Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit, 83.

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6 Menschenwürde

38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? 39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. 41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! 42 Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. 43 Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich nicht besucht. 44 Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? 45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. 46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.

Diese Bibelstelle vom Weltgericht ist ein Urbild christlicher Drohung und Angst. Ich halte sie dagegen für die vielleicht größte moralische Entdeckung in der Humangeschichte. Hier wird vielleicht zum ersten Mal überhaupt die Menschenwürde in ihrer Unbedingtheit verteidigt. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Der König und Richter des Weltgerichts identifiziert sich mit den geringsten Menschen. Damit bekommen die Geringsten ein königliches Gesicht und eine königliche Würde. Bis heute hat sich diese Idee der Menschenwürde nicht weiterentwickelt. Sie ist inzwischen in vielen Staatsgesetzen niedergeschrieben worden. Aber unser gegenwärtiges Verständnis von Menschenwürde unterscheidet sich nicht von dem, was Jesus hier beschreibt. Unter Menschenwürde versteht man nämlich, dass niemand von anderen so behandelt werden darf, dass er dabei unter eine bestimmte Grenze fällt. Ir‐ gendwann ist die Grenze des Unwürdigen erreicht. Und sobald diese Grenze erreicht ist, müssen andere dafür sorgen, dass der gedemütigte Mensch

Mt 25,31–46

wieder aufgerichtet wird. Menschenwürde verlangt nicht, dass wir alles tun müssen, damit es einem Menschen besonders gut geht. Menschenwürde verlangt nur, dass wir darauf achten, dass es keinem besonders schlecht geht. Und so ist es in diesem Bibelwort auch: Der König dieser Geschichte hat nicht verlangt, dass die Hungernden mit einem Festessen gespeist werden, die Gefangenen befreit werden oder die Kranken die beste medizinische Versorgung bekommen. Er hat nur verlangt, dass es ihnen ein wenig besser geht: Der Hungernde soll überhaupt etwas zu essen bekommen. Gefangene und Kranke sollen besucht werden. – Das sind bescheidene Ziele. Sie führen nicht dazu, dass die Geringsten nun ein glückliches Leben führen. Die Geringsten dürfen vielmehr nicht unter die Grenze des Unwürdigen fallen. Wer dagegen den Hilferuf der Geringsten missachtet, verletzt die Menschenwürde. „Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.“ Warum dringt in der Wirkungsgeschichte dieses Bibeltextes so sehr die Angst vor der Hölle in den Vordergrund, obwohl er eine große humanisti‐ sche Idee entwickelt hat? Heute haben es die Menschen leichter, sich von der Vorstellung einer Hölle abzugrenzen, als zu Zeiten, in denen kirchliche Autoritäten ihr Denken bestimmten. Aber auch mit der Strategie, eine Hölle zu verabschieden, wird stärker der Strafaspekt der Geschichte betont als die großartige Entdeckung der Menschenwürde. Oder könnte es sein, dass die modernen Reflexe auf einen ewig strafenden Gott ebenso die Menschenwürde entdecken lassen wie der Besuch der Kranken und Gefangenen? Könnte die Drohung ewiger Höllenqualen, gerade weil sie nicht ins Gottesbild passen, die Menschenwürde erkennbar machen? Und könnte nicht umgekehrt die Schwere menschlicher Verstöße gegen die Menschlichkeit verdeckt werden, wenn man die Drohung am liebsten überhören will, lieber andere Bibelstellen aussucht, die beruhigen: „Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte“? Unmittelbar aber entkommt man nicht der Erzählung vom Weltgericht, wenn man sie mit beschwichtigenden Alternativtexten übertünchen will. Jesu Geschichte ergreift wohl unmittelbar. Sie verunsichert oder fordert auch unsere Reaktionen heraus, bis wir uns gegen die Aussicht eines Weltge‐ richts mit ewigen Strafen empören. Menschliche Strategien, solche Vorstel‐ lengen abzuwehren, zeigen nämlich, dass es für Menschen unerträglich ist, der Aussicht auf ewige Qualen ausgesetzt zu sein. Indem sich die Rezipienten dagegen wehren, dass ihr Verhalten im Leben mit einer ewigen Strafe gesühnt wird, entsprechen sie genau der Absicht des gesamten Szenarios des

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6 Menschenwürde

Gleichnisses: Menschen wollen nämlich ihre Menschenwürde behaupten – auch vor ewigen Qualen und auch gegenüber einem strafenden Gott. Die abwehrenden Reaktionen auf diesen Text führen gerade vor Augen, dass Menschen eine Würde haben. Und wer eine Würde hat, darf nicht unendlich gepeinigt werden. Und genau das will Jesus ja auch sagen: Wer hungert, darf nicht grenzenlos hungern. Wer gefangen ist, hat trotzdem Rechte. Und wer krank ist, darf uns nicht gleichgültig sein. Die Menschenwürde spüren wir am eigenen Leib, sobald uns Jesus die ewige Hölle androht – genauso wie der Hungernde Angst hat und der Gefangene an seiner Behandlung durch die Wärter zerbricht und genauso die kranke Person fürchtet, einsam zu sterben. Die Geschichte vom Weltgericht muss so drastisch sein und bedrohlich auf uns wirken. Denn von der Menschenwürde kann man nicht von einem neutralen Standpunkt aus reden. Man muss den unendlichen Wert des Menschen herausstellen. Und das kann man nur, indem man zeigt, wie unendlich viel es kostet, die Menschenwürde zu bedrohen und zu verletzen: bei den Hungernden, Kranken und Gefangenen, aber auch bei uns, wenn wir von einer unendlichen Strafe bedroht werden. Hätte Jesus keine Drohkulisse aufgebaut, dann hätten wir seine Ansichten zur Menschenwürde kühl zur Kenntnis nehmen können. So aber sind wir vor die Entscheidung gestellt: Wollen wir die Menschenwürde der anderen achten? Oder weisen wir sie zurück und sagen ignorant, dass wir nicht an die Hölle glauben, und wollen uns mit dieser Strategie aus der Verantwortung stehlen? Die Geschichte vom Weltgericht stellt uns vor die Entscheidung, ob wir der Menschenwürde dienen wollen. Und deswegen soll diese Geschichte ergreifen. Sie zeigt uns auf, dass wir selber unendlich verletzbar sind. Wir spüren den unendlichen Wert der Menschenwürde an uns selbst, sobald wir mit einer ewigen Strafe bedroht werden. Das hält unsere Sensibilität wach für die Menschenwürde anderer. Der Text ist eine große moralische Entdeckung. Für die Achtung der unendlichen Menschenwürde wird nicht verlangt, dass wir alles tun müssen, damit es einem Menschen besonders gut geht. Aber wenn wir einem Menschen diese Achtung verweigern, verletzen wir unsere eigene unendli‐ che Menschenwürde wie bei einer ewigen Strafe. Und weil wir das nicht ertragen, können wir nicht anders als der Menschenwürde dienen.

Mt 25,31–46

Biblische Alternativen Eine ähnliche Anerkennungsdynamik, Menschen in ihrer Gefährdung und Verletzlichkeit zu beachten, zeigt sich im Gebot der Nächstenliebe. Allerdings geht das Gebot der Nächstenliebe über diese Anerkennungs‐ dynamik hinaus. Zum einen ist umstritten, wie sich Verantwortung für den Nächsten zur universalen Gleichheit aller Menschen verhält, die für die Menschenwürde unterstellt wird. Zum anderen zeigt zumindest Jesu Erzählung vom barmherzigen Samariter, dass Nächstenliebe nicht an ein konkretes Handeln gebunden sein muss (s. Sektion 19.1), während die Achtung der Menschenwürde daran hängt, wie Menschen behandelt werden. Eine deutlichere Nähe zum vorliegenden Bibeltext zeigt das propheti‐ sche Wort: „Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig wohnt, dessen Name heilig ist: Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf dass ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen“ (Jes 57,15). Auch hier wird ein direkter Zusammenhang zwischen der Höhe Gottes und den entwürdigten Menschen gebildet, so dass sie nicht dazu bestimmt sind, entwürdigt zu werden.

Literatur zur Vertiefung: R. Spaemann: Über den Begriff der Menschenwürde, 295–313. – Der Begriff der „Minimalwürde“ wird hier verwendet in Abgrenzung zu allen menschlichen Optimierungszielen. Dass alle Menschen Menschenwürde verdienen, nennt Spae‐ mann eine unbestreitbare Tautologie. Denn würde man ihre Würde als Menschen bestreiten, würde man auch ihr Menschsein bestreiten. L. Ohly: Sterbehilfe: Menschenwürde zwischen Himmel und Erde, 206–208. – In dieser knappen Passage skizziere ich einen Zusammenhang von Menschenwürde und Ehre. Zwar haben beide unterschiedliche Geltungen, weil die Menschen‐ würde jedem Menschen ohne Ansehen der Person gilt, während Ehre die indivi‐ duelle Besonderheit eines Menschen anerkennt. Allerdings bilden Ehrmotive die Vorerfahrungen für die Achtung der Menschenwürde.

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7 Gebote Die Diskurslage Mit der „Divine Command Ethics“1 lässt sich argumentieren, dass ein vollkommenes Wesen wie Gott die einzige Quelle moralischer Urteile ist, weil alle unvollkommenen Wesen allenfalls fehlbare Urteile treffen können. Deshalb besteht für Menschen der einzige Weg, wahren moralischen Urtei‐ len zu folgen, darin, Gottes Geboten zu folgen.2 Dieser Standpunkt setzt aber bereits voraus, dass Menschen eine unfehlbare Einschätzung darüber treffen können, was moralische Urteile sind und dass es moralisch richtig ist, Gottes Geboten zu folgen.3 Deshalb ist selbst eine Gebotsethik nicht unabhängig von der menschlichen Fähigkeit, überhaupt wahre moralische Urteile zu treffen. Folgt man aber diesem Argument, dass die göttlichen Gebote die für Menschen einzige zugängliche Quelle moralischer Richtigkeit sind, fragt sich, wie zugänglich diese Quelle wirklich für Menschen ist. Hat Gott wirklich auf dem Berg Sinai zu Mose gesprochen? Hat Mose alle diktierten Gebote restlos verstanden, da er als Mensch doch fehlbar ist? Verstehen wir seine Gebote? Und wie können Menschen über Sachverhalte moralisch urteilen, für die keine ausdrücklichen Gebote vorliegen?4 Um dieses Problem zu umgehen, wird gelegentlich auf die Form des Gebotes verwiesen, die als solche unmissverständlich ist. Friedrich Gogarten findet sie in der Begegnung eines Anderen, der allein dadurch, dass er mir begegnet, meine Selbstverständlichkeit durchbricht und mir zur Forderung wird.5 Deshalb ist für ihn auch die Eröffnung der Zehn Gebote das Gebot aller Gebote, nämlich die Selbstvorstellung Gottes als Begegnung: „Ich bin der HERR dein Gott.“6 Ähnlich nennt Karl Barth das Gesetz die Form der mensch‐ lichen Inanspruchnahme durch Gott.7 Auch in der neuen Theologischen Ethik knüpft Hermann Deuser an die ethische Verbindlichkeit durch die 1 2 3 4 5 6 7

Kapitel 5. R.M. Adams: Finite and Infinite Goods, 46. D. Korsch: Dogmatik im Grundriß, 60. W. Sinnott-Armstrong: Morality Without God, 102. F. Gogarten: Politische Ethik, 8. F. Gogarten: Ist Volksgesetz Gottesgesetz? 30. K. Barth: KD II/2, 567.

5. Mose 30,11–14

Form des Gebotes an: Das erste der Zehn Gebote markiert die Unbedingtheit des Vertrauens für jegliche Ethik. Vertrauen lässt sich nicht befehlen, aber indem geboten wird, Gott ausnahmslos zu vertrauen, wird die existenzielle Unhintergehbarkeit des Vertrauens für die Ethik offengelegt.8 5. Mose 30,11–14

Zur Textauswahl Die Gesetzeskritik der Evangelien verweist auf die angebliche Lebensferne der biblischen Gebote. Dagegen betont der vorliegende Text ihre Lebens‐ nähe und entspricht damit Jesu Kriterium bei der Beachtung der Gebote. Zudem ist die Textstelle auch begriffliche Grundlage für Paulus geworden (Röm 10,6–8). Sie hat daher eine zentrale theologiegeschichtliche Bedeu‐ tung.

11 Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. 12 Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? 13 Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir's hören und tun? 14 Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.

Gerade in Monaten der Corona-Krise, in denen ich dieses Buch verfasse, wird der Bevölkerung bewusst, wie wichtig staatliche Ordnungen sind. Die Bundes- und die Landesregierungen haben für ihre drastischen Maßnahmen anhaltend eine hohe Zustimmung in Umfragen gehabt, weil diese Maßnah‐ men das Leben regulieren. Zweifellos brauchen Menschen verlässliche Ordnungen für ihr Leben und haben in schweren Zeiten sogar das Bedürfnis danach. Streiten können wir darüber, wie diese Ordnungen entstehen sollten. Und indem wir darüber streiten, wirken wir an ihrer Entstehung mit. Die

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H. Deuser: Die zehn Gebote, 38, 41.

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7 Gebote

Ordnungen sind also nicht gottgegeben, sie werden auch nicht autoritär von einem willkürlichen Herrscher aufgestellt, sondern sie werden ausgehandelt durch selbstbestimmte Menschen. Beides also ist richtig: Wir handeln unsere Ordnungen aus. Aber wir können nicht wählen, dass wir überhaupt Ordnungen brauchen. Ordnungen basieren auf beidem, auf der freien Selbstbestimmung der Staatsbürger und auf einem heiligen Ernst, dass es um das Leben geht. Beides findet sich interessanterweise auch in diesem Bibelwort aus dem Alten Testament. Mose formuliert nämlich so, dass die Gesetze Israels von den Israeliten selbst formuliert sind. Das Gebot ist „in deinem Munde“, nicht in den Ohren, sondern auf deiner Zunge. Israel hat es also selbst formuliert. Und es befindet sich in seinem Herzen, entspricht also seiner Lebensweise. Wie interessant, dass ausgerechnet Mose das so sagt! Denn er war ja gerade derjenige, der „für uns in den Himmel fuhr und es uns holte, dass wir's hören und tun.“ Er stieg allein auf den Berg Gottes, um die Gesetze dort diktiert zu bekommen (2. Mose 19,23–25; 34,4–5). Aber hier gibt er zu erkennen, dass sein Volk einen Gebieter oder Gebotsvermittler wie ihn nicht nötig hat. Im Grunde steckt darin eine Kritik an Königen und Fürsten, als ob sie entscheiden könnten, was dem Leben dient. Was dem Leben dient, weiß vielmehr jeder Mensch selbst. Wir alle können selbst bestimmen, welche Ordnungen für das Leben gut sind. Nun kann man fragen, warum die Bibel dann beschreibt, dass Gott überhaupt Gesetze aufgestellt hat. Vielleicht soll es ausdrücken, dass wir nicht wählen können, überhaupt Ordnungen zu haben. Damit unser Leben gelingt, müssen wir uns an verlässlichen Ordnungen orientieren, was wir aber nicht selber entscheiden können. Die Ordnungen haben also einen heiligen Ernst. Das würde also heißen, dass Gott nicht etwa Gebote aufstellt, die Men‐ schen dann gehorsam erfüllen sollen. Vielmehr gibt Gott unseren Ordnun‐ gen einen heiligen Ernst. Unsere Gebote sollen dem Leben dienen. Das, was wir selbstbestimmt entscheiden, soll eine Tiefe bekommen, die auch vor Gott gültig ist. Es überrascht und beeindruckt, dass sogar die Bibel an dieser Stelle sagt, dass die Gebote nicht gottgegeben sind. Und ich finde diesen Text erstaunlich modern, dass die Gesetze unseres Zusammenlebens von uns Menschen selbstbestimmt verfasst werden. Der heilige Ernst daran besteht aber darin, dass unsere Ordnungen dem Leben dienen müssen. Dafür stellt Gott sie in seinem Gesetz fest.

5. Mose 30,11–14

Ich möchte kurz beschreiben, inwiefern die Gesetze des Alten Testaments dem Leben dienen. Erstens: Weil Gesetze dem Leben dienen sollen, müssen sie darauf eingehen, dass Leben verletzbar ist, und zwar unser aller Leben. Wir sind gleichermaßen davon bedroht, unser Leben zu verlieren, unsere Versorgung und das, was uns lieb ist. Deshalb hat das Alte Testament umfassende Sozialgesetze ausformuliert: Arme sollen versorgt werden; Witwen und Waisen sollen eine neue Familie finden. Die Gesetze sollen dafür sorgen, dass Menschen in ihrer Gleichheit geachtet werden, nämlich dass sie gleichermaßen verletzbar sind und deshalb Schutz brauchen. Zweitens: Die Gesetze erkennen an, dass Menschen Fehler machen, manchmal sogar mutwillig Grenzen überschreiten und etwas Böses tun. Wie soll eine Gesellschaft damit umgehen? Das Alte Testament organisiert, wie man Schäden wiedergutmacht. Und es zielt auf Vergebung. Dafür hat das alttestamentliche Gesetz eine ausführliche Ordnung aufgeschrieben, wie sich die Menschen im Gottesdienst zu verhalten haben. Der Gottesdienst hat vor allem die Aufgabe, Vergebung zu ermöglichen. Wenn Menschen vergeben wird, können sie sich wieder als Gleiche begegnen. Auch hier dient nicht das Gesetz Gott. Sondern Gott dient dem Gesetz, indem er Vergebung organisiert mit seiner umfassenden Kultordnung, welche Opfer für welche Sünden erbracht werden müssen und welche Gebete die Priester für die Schuldigen zu beten haben. Und drittens: Das Alte Testament organisiert, wie sich Israel zu anderen Völkern verhalten soll. Es gibt umfassende Regelungen, wie man mit Ausländern umgehen soll, mit Reisenden oder mit Flüchtlingen, auch mit anderen Staaten. Diese Fremdlinge, wie das Alte Testament von ihnen spricht, werden zwar rechtlich nicht den Israeliten gleichgestellt. Sie sind keine Staatsbürger, genauso wenig wie die Israeliten in deren Ländern. Trotzdem versucht das Alte Testament einen fairen Umgang auch zu den Fremdlingen zu ermöglichen. Vieles von alledem haben wir heute in anderen Gesetzen formuliert. Paulus hat sogar betont, dass das Gesetz des Alten Testaments durch Christus erfüllt wurde (Röm 10,4) und deshalb für Christen keine Gültigkeit hat (Gal 2,18). Aber was sich nicht geändert hat, waren die Probleme, die auch heutige Gesetze zu lösen haben und die auch im Christentum nach wie vor eine Rolle spielen: die Gleichheit aller verletzbaren Menschen, die Bereitschaft, sich zu verzeihen und der friedliche Umgang mit Menschen, die nicht dieselben Ordnungen haben, aber trotzdem genauso verletzbar sind. Oder anders gesagt: Die Ordnungen stellen die Würde aller Menschen fest.

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7 Gebote

Ein selbstbestimmtes Leben führen, heißt also zugleich, ein verantwortli‐ ches Leben für andere Menschen zu führen, die ebenso selbstbestimmt leben wollen. Das gilt heute genauso wie damals. Und das hat heute denselben heiligen Ernst wie damals. Christus hat zwar das Gesetz Israels erfüllt, so dass es für Christen keine Gültigkeit mehr hat. Aber er hat nicht den heiligen Ernst abgeschafft, dass wir füreinander verantwortlich sind. Er hat Christen an das alttestamentli‐ che Gebot der Nächstenliebe erinnert, weil sie nötig ist, damit Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Weil wir das wollen, sind wir auch verantwortlich dafür, Gleichheit unter uns Menschen zu bewahren, einander zu verzeihen und konstruktiv auf Menschen anderer Kulturen und Religionen einzugehen. Nur formulieren wir das heute anders als damals. Das Neue TestamentTestaments hat deshalb betont, dass wir nicht am Buchstaben des Gesetzes hängen, sondern uns am Lebenssinn unserer Ordnungen orientieren (2. Kor 3,4–6). Für selbstbestimmte freie Menschen ist das die natürliche Konsequenz. Deshalb dürfen demokratische Gesell‐ schaften ihre Gesetze an die Zeit anpassen, wenn sie dadurch dem Leben besser dienen. Und daher folgt aus den Worten Moses in dieser Bibelstelle, dass alle Staaten letztendlich einen demokratischen Sinn haben und aus freien Bürgern bestehen. Ein Gottesstaat würde verkennen, dass unser Gebot in unserem Mund liegt. Deshalb widerspricht es dem Lebenssinn, einen Gottesstaat aufbauen zu wollen. Vielmehr besteht der heilige Ernst der Gesetze darin, dass das Leben der Menschen geschützt und gedeihen kann. Das stellt Mose im Gesetz des Alten Testaments fest. Und dafür hat Christus das Gesetz erfüllt. Biblische Alternativen Natürlich hat die Bergpredigt Jesu eine Schlüsselstellung innerhalb der christlichen Gebotsethik, weil Jesus zum einen sich in Kontinuität zur Thora stellt (Mt 5,19) und zum anderen Gebote verkündet, die die alttestamentlichen Gebote in Wortlaut und Sinn übertreffen. Ebenso ist Jesu Antwort auf die Frage nach dem höchsten Gebot (Mk 12,28–31) eine Auseinandersetzung um Prioritäten moralischer Verbindlichkeiten. In diesen Aussagen Jesu zeigt sich, dass das bloße Vorhandensein von Geboten noch keine moralische Orientierung erzielt. Vielmehr bedarf es umgekehrt einer moralischen Grundorientierung, um die Gebote verbindlich sein zu lassen. Nicht das höchste Gebot selbst sagt aus, dass

5. Mose 30,11–14

es das höchste ist. Und ein Gebot schließt nicht aus sich selbst heraus aus, präzisiert, verschärft oder umgekehrt befristet und schließlich auch revidiert zu werden. Zirkuläre Selbstverweise von Geboten („Dieses Gebot lautet, dass es unbedingt einzuhalten ist.“) setzen dagegen die Geltung schon voraus, die sie überhaupt erst erzwingen wollen. Die ethische Interpretation der genannten neutestamentlichen Gebots‐ texte hat zu untersuchen, wie die Geltung der Gebote aufgewiesen werden kann, ohne dabei diesem Zirkel zu erliegen. Auch ein Gebieter kann nur geltendes Recht ausrufen, wenn seine Geltung einleuchtet, und das leistet ein Gebieter nicht schon dadurch, dass er sich zum Gebieter erklärt. Die Geltung von Geboten ist nicht unabhängig von ihren Rezipienten fundiert. Diese Aussage ist nicht nur faktisch zutreffend, sondern auch normativ. Insofern kann man rückfragen, ob Jesus in den genannten neutestamentlichen Stellen überhaupt als Gebieter auftritt oder vielmehr als Rezipient, der den Geboten in der Auseinandersetzung mit ihnen Verbindlichkeit verleiht.

Literatur zur Vertiefung: I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 387–463. – In dem vorgeschlagenen Textstück entfaltet Kant, dass Freiheit darin besteht, allein der Vernunft zu folgen, nämlich sich so zu verhalten, wie es alle vernünftigen Wesen tun würden, wenn sie allein der Vernunft folgen. Freiheit bedeutet also, gesetzesmäßig zu handeln, und zwar nach einem selbstbestimmt formulierten und allgemein zustimmungs‐ fähigen Gesetz. W. Herrmann: Ethik, § 11 (44–52). – Der Theologe Herrmann folgt Kants Spur, dass die Selbstständigkeit der individuellen Person auf eine geistige Gemeinschaft mit allen Menschen angewiesen ist und umgekehrt. Der theologische Charakter der moralischen Selbstbestimmung besteht in der unbedingten Verbindlichkeit, dass das moralische Gesetz zu bestimmen und zu befolgen ist: „Gott herrscht so in uns, daß wir uns in freier Tat das auferlegen, was sein Wille ist.“

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8 Die Goldene Regel Die Diskurslage „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andren zu“ (Tob 4,15a). Ist die Goldene Regel, in ihrer negativen oder positiven Formulierung, eine notwendige oder hinreichende Bedingung ethischen Handelns, ein Test, ein bloßes Beispiel oder verweist sie auf eine tieferliegende moralische Orientierung? Tatsächlich ließe sich die Ethik auf diese eine Regel reduzie‐ ren, wenn sie immer richtig wäre. Sie lässt aber außer Acht, dass ich mich darüber täuschen kann, dass andere Dasselbe wollen wie ich.1 Sie macht dabei mein Wollen zum Maßstab richtigen Handelns und nicht das Wollen eines Anderen.2 Deshalb haben Moralphilosophen versucht, die Goldene Regel in ihrem tieferliegenden Sinn zu erschließen und durch andere Regeln ersetzen, etwa Kant mit seinem kategorischen Imperativ,3 Adam Smith mit dem Konstrukt eines unparteiischen Zuschauers4 oder John Rawls mit dem „Schleier des Nichtwissens“, der über eine moralische Überlegung gelegt wird und damit die tatsächliche soziale Rolle der beurteilenden Person bewusst ignoriert.5 Diese unterschiedlichen Konzepte verweisen darauf, dass offen ist, ob die intuitive Plausibilität der Goldenen Regel in der Reziprozität liegt oder in der Verallgemeinerungsfähigkeit. Verpflichtet also die Goldene Regel eigentlich darauf, Lösungen von Interessekonflikten im wechselseitigen Einvernehmen aller Betroffenen zu vereinbaren?6 Oder verpflichtet mich eine ursprüngliche Einfühlungsfähigkeit in alle anderen Subjekte, ihre Perspektive in meine moralischen Entscheidungen einzubeziehen, auch ohne dass dabei andere zur Wechselseitigkeit verpflichtet sein müssen?7

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P. Dabrock: Befähigungsgerechtigkeit, 79. A.a.O., 118. I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 430. A. Smith: Theorie der ethischen Gefühle, 33f. J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 29. R. Forst: Toleranz im Konflikt, 560. H. Deuser: Die zehn Gebote, 34.

Mt 7,12

Mt 7,12

Zur Textauswahl Die Goldene Regel findet sich zweimal im Neuen Testament, nämlich in der Bergpredigt des Matthäus- und in der Parallele, der Feldrede des Lukasevangeliums. Ich habe mich für die Variante in der Bergpredigt entschieden aufgrund ihrer erläuternden Erweiterung.

Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, so sollt ihr auch ihnen tun! Dies ist das Gesetz und die Propheten.

Es mag sein, dass die meisten Menschen diese „Goldene Regel“ überzeu‐ gend finden. Ich will zum Beispiel keine Angst haben müssen, abends rauszugehen. Also mache ich auch meinen Mitmenschen keine Angst. Das versteht wohl fast jeder, dass die Goldene Regel ein Minimum des gerechten Zusammenlebens sicherstellt. Überlegt man sich die Sachlage genauer, funktioniert die Goldene Regel nicht mehr so gut. Nehmen wir an, Sie wollen einen Hund haben, aber ihr Lebenspartner hasst Hunde. Dann müsste Folgendes passieren: Sie schenken Ihrem Lebenspartner einen Hund. Denn „alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, so sollt ihr auch ihnen tun!“ Und da Sie unbedingt einen Hund haben wollen, sollen Sie Ihrem Lebenspartner einen Hund schenken. Das ist natürlich gemein. Und weil Sie selbst nicht gemein behandelt werden wollen, sollen Sie auch Ihren Lebenspartner nicht gemein behan‐ deln. Also schenken Sie ihm den Hund dann doch nicht. Es hängt also anscheinend davon ab, wie wir das Thema formulieren, und es kann völlig Unterschiedliches herauskommen, obwohl Sie in beiden Fällen dieselbe Regel anwenden. Beide Male haben Sie die Goldene Regel angewendet, aber im einen Fall bekommt Ihr Lebenspartner einen Hund, im anderen nicht. Das Problem verschärft sich aber nochmals dadurch, dass alle Personen die Goldene Regel anwenden sollen, Ihr Lebenspartner also auch. Was wird er tun? Er findet es vielleicht gemein, dass Sie auf Ihren Hund verzichten müssen, nur weil er Hunde hasst. Und weil er selbst nicht gemein behandelt werden will, darf er auch Sie nicht gemein behandeln. Also muss er Ihnen einen Hund schenken. Jetzt haben wir die absurde Situation, dass Sie wegen

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8 Die Goldene Regel

Ihres Lebenspartners auf einen Hund verzichten, Ihr Lebenspartner aber für Sie einen Hund ins Haus bringt. Jetzt müssten Sie das arme Tier eigentlich ins Tierheim bringen, weil Sie ja Ihren Lebenspartner nicht gemein behandeln wollen, und er bringt es wieder von dort nach Hause. Und so geht es immer weiter… Oder lässt sich die Goldene Regel besser einhalten, wenn man nur darauf achtet, was man vermeiden muss, um die Mitmenschen gerecht zu behandeln. Das Buch Tobit betont die Vermeidung: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Dieser Vorschlag scheint auch nicht weiterzuhelfen. Denn wir haben schon gesehen, dass es dann allein an der Formulierung hängt, ob man etwas tun darf oder nicht. Formulieren Sie so: „Ich will nicht gemein behandelt werden“, dann dürfen Sie den Hund nicht ins Haus lassen, obwohl Sie einen haben wollen. Formuliert aber Ihr Lebenspartner ebenso, dann darf er Sie nicht zwingen, ohne Hund zu leben. Es ist also keine Lösung, auf die verneinende Regel auszuweichen. Das eigentliche Problem besteht darin, dass der Goldenen Regel ein Gesichtspunkt fehlt, der aber für unser Zusammenleben entscheidend ist, nämlich Mitgefühl und Empathie. Was eigentlich mein Lebenspartner will, fragt die Goldene Regel nicht. Sie fragt nur, was ich will und was demzufolge mein Lebenspartner zu wollen hat. Aber wenn wir alle die Goldene Regel anwenden, dann müssen wir uns auch in unsere Mitmenschen einfühlen. Sonst treten diese absurden Situationen ein, die ich beschrieben habe. Die Goldene Regel muss deshalb präzisiert werden: Es geht nicht einfach um inhaltliche Fragen, ob wir uns einen Hund anschaffen oder nicht. Es muss vielmehr darum gehen, die Wünsche der anderen mitzuberücksichtigen, weil auch ich in meinen Wünschen berücksichtigt werden will. Wir müssen also die Wechselseitigkeit beachten: Weil ich berücksichtigt werden will, muss ich darauf achten, dass alle berücksichtigt werden. Die Goldene Regel legt somit nicht von vornherein fest, ob wir einen Hund bekommen, sondern wie wir diese Frage entscheiden, nämlich indem alle dabei gleichermaßen berücksichtigt werden. Die Goldene Regel verlangt folglich, dass wir gemeinsam die beste Lösung aushandeln. Die beste Lösung impliziert, dass wir alle gleichermaßen be‐ rücksichtigt sind. Was wird dann herauskommen bei der Frage, ob wir einen Hund bekommen oder nicht? Eben das müssen wir den Verhandlungen überlassen. Es kann sich herausstellen, dass Sie dann merken, dass Ihnen ein Hund nicht so wichtig ist, wenn Ihr Lebenspartner Hunde hasst. Es kann auch das Umgekehrte herauskommen. Vielleicht gibt es eine Hunderasse,

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auf die Sie beide sich einigen können. Oder Ihr Lebenspartner möchte erst noch herausfinden, warum er eigentlich Hunde hasst, und kann dann sein Problem abstellen. In einem Gespräch berücksichtigen Sie sich wechselsei‐ tig. Jedenfalls verlangt die Goldene Regel, dass wir so unsere Gespräche führen und am Ende eine Vereinbarung treffen, bei der alle beteiligt gewesen sind. Anscheinend hat Jesus das gewusst, dass die Goldene Regel diese Erwei‐ terung braucht. Denn er fügt hinzu: „Dies ist das Gesetz und die Propheten.“ Das ist eine spannende Ergänzung. Denn damit stellt Jesus erstens fest, dass Gottes Wort – im Gesetz des Alten Testaments und in den Propheten‐ worten – nur diesen einen Zweck hat, nämlich dafür zu sorgen, dass alle Menschen sich wechselseitig berücksichtigen. Gottes Worte sind nur für die Menschen da. Gott selbst hat nichts davon, dass wir seine Gebote halten. Sondern sie sollen ausschließlich dafür sorgen, dass alle Menschen in ihren Entscheidungen beteiligt werden. Jesus stellt damit aber zweitens noch fest, dass das Gesetz und die Pro‐ pheten selbst das Ergebnis der Goldenen Regel sind. Sie ergeben sich daraus, dass sich Menschen wechselseitig berücksichtigen. Folglich sind Gottes Gebote nicht vom Himmel gefallen oder durch eine göttliche Offenbarung diktiert worden. Gott hat nicht vor Ewigkeiten festgelegt, was unter uns Menschen gelten soll, so dass wir seine Gebote nur noch halten müssten. Sondern wir Menschen sind von Anfang an daran beteiligt, was unter uns zu gelten hat, und zwar deshalb, weil es von Anfang an gerecht unter uns zugehen soll. Deshalb müssen wir Menschen von Anfang an beteiligt werden. Wir müssen gefragt werden, was wir wollen. Und wir müssen genauso unsere Mitmenschen fragen, was sie wollen. Und daraus ergeben sich unsere gemeinsamen Regeln. Es ist daher keine Überraschung, dass Historiker die geschichtlichen Wurzeln der biblischen Gebote aus unterschiedlichen Zeiten rekonstruieren können. Die Bibel enthält eine Sammlung von Gesetzen, die zu unterschied‐ lichen Zeiten festgelegt worden sind, als verschiedene Gruppen sich jeweils einigen mussten, was unter ihnen gelten sollte. Manche Gesetze stammen aus einer Zeit, als es den Staat Israel noch nicht gab und größere Sippen darauf achten mussten, wie sie miteinander umgingen, wenn sie sich begegneten. Man weiß, dass etliche dieser Gebote zur Zeit, als Israel Könige hatte, nicht mehr beachtet wurden. Umgekehrt sind einige Gesetze erst zur Königszeit entstanden, die aber ihrerseits Jahrhunderte später nicht mehr angewendet wurden. „Dies ist das Gesetz und die Propheten“, sagt Jesus.

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8 Die Goldene Regel

Offenbar meint er nicht jedes einzelne Gebot, sondern nur die Art, wie es zustande kommen soll: Alle sollen daran nach der Goldenen Regel beteiligt werden. Als die Christen festlegten, dass der Wortlaut des alttestamentlichen Gesetzes nicht mehr für sie gültig ist, haben sie trotzdem nicht mit der Goldenen Regel gebrochen. Denn für alle Zeiten müssen wir unsere Regeln neu vereinbaren, weil wir uns nur so alle berücksichtigen können. Deshalb gilt zwar für uns nicht mehr der alte Wortlaut, aber immer noch das Recht. Gott bindet uns nicht an einzelne Formulierungen, aber was wir gerecht vereinbaren, gewinnt durch ihn Bindungskraft. „Dies ist das Gesetz und die Propheten.“ Jesus betont den theologischen Charakter zwischenmenschlicher Vereinbarungen. Das gemeinsam verhan‐ delte Recht erzeugt eine Bindungskraft, die über das hinausgeht, was Men‐ schen verhandeln können. Was wir Menschen vereinbaren, das bekommt ein heiliges Gewicht wie die Worte Gottes. Biblische Alternativen In der Parallelstelle Lk 6,31 fehlt der erläuternde Bezug zum Gesetz und zu den Propheten. Stattdessen klärt der Kontext auf, dass die Goldene Regel den Umgang mit Hilfsbedürftigen organisieren soll. Sie soll also in Notsituationen angewendet werden. Dagegen scheint das Lukasevan‐ gelium die Anwendung der Regel nicht für den alltäglichen Umgang gleichberechtigter Interaktionsteilnehmer zu empfehlen. Deshalb fehlt hier auch der Aspekt der Wechselseitigkeit. In einseitigen Hilfssitua‐ tionen können die Aporien vermieden werden, die ich beschrieben habe, wenn die Goldene Regel wechselseitig angewendet wird und sich die Interaktionsteilnehmenden nicht auf ein gemeinsames Verhalten einigen. Allerdings steckt in einseitigen Rollenverhältnissen das Risiko, eine hilfesuchende Person zu bevormunden: Nach der Goldenen Regel fragt man eine Hilfesuchende dann nicht danach, was sie will, sondern behandelt sie so, wie man selbst behandelt werden will, wenn man in ihrer Lage wäre.

Mt 7,12

Literatur zur Vertiefung: E. Otto: Die Bedeutung der altorientalischen Rechtsgeschichte für das Verständnis des Alten Testaments, 139–168. – Hier werden unterschiedliche historische Ursprünge alttestamentlicher Gebote rekonstruiert. P. Ricœur: The Golden Rule, 392–397. – Jesu Gebot der Feindesliebe erzeugt mit seinem direkten Zusammenhang mit der Goldenen Regel eine kommunikative Spannung. Die Goldene Regel hat einen kommunikativen Sinn: Sie dient der ethischen Transfiguration und sorgt dafür, dass der überethische Sinn der Feindesliebe einen ethischen Rahmen bekommt. In der Spannung zum Gebot der Feindesliebe setzt sie nicht Reziprozität voraus, sondern schafft sie erst kommunikativ.

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II. Sozialethische Begriffe

9 Politische Ethik Die Diskurslage Wenn ein Staat Flüchtlinge im Meer ertrinken lässt, anstatt sie aufzunehmen, müssten dann nicht Christen einschreiten und Widerstand gegen diese po‐ litische Haltung leisten? Notfalls auch mit Gewalt, um Leben zu retten? Wie verhält sich also die Verbindlichkeit christlich-ethischer Orientierungen zu den staatlichen Ordnungen? Die Zwei-Reiche-Lehre Luthers versuchte diese Spannung aufzulösen, indem sie Gott die Erschaffung zweier Regimente zugeschrieben hat, die des Staates und der Kirche.1 Beide dürfen sich nicht in die Befugnisse des jeweils anderen einmischen. Deshalb sind Christen auch dann an die staatliche Ordnung gebunden, wenn diese mit unchristlicher Härte gegen Menschen vorgeht.2 Spätestens jedoch mit den Prozessen gegen Nazi-Funktionäre, die ihre Mitwirkung am Holocaust mit unbedingtem Befehlsgehorsam rechtfer‐ tigten, lässt sich das lutherische Argument nicht mehr aufrechterhalten.3 Andererseits ist beim Widerstand gegen die Staatsgewalt die Berufung auf Gott statt aufs Recht gefährlich. Sie gefährdet den politischen Frieden, so als ob ein Gottesstaat die bessere politische Option wäre. Eilert Herms hat in seiner Neuformulierung der Zwei-Reiche-Lehre die Verstehbarkeit zur Bedingung der politischen Ordnung gemacht: Eine Staats‐ ordnung muss verständlich sein und von der Obrigkeit verständlich gemacht werden, weil sie ansonsten instabil ist und damit ihre Funktion als Ordnung verfehlt.4 Verstehbarkeit ist aber eine politische Aufgabe. Wird sie nicht erfüllt, weil sich die politische Führung willkürlich und ungesetzlich verhält,5 so trägt die Staatsgewalt die Verantwortung für den legitimen Widerstand.6 Denn mit ihm überschreitet das christliche Ethos nicht etwa den Bereich seines Regiments, sondern reagiert politisch auf ein politisches Versagen des Staates.

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M. Luther: Von weltlicher Obrigkeit, 245–280. A.a.O., 277. H. Arendt: Eichmann in Jerusalem, 247. E. Herms: Systematische Theologie Bd. 2, 2281. H. Arendt: Eichmann in Jerusalem, 246. E. Herms: Systematische Theologie Bd. 2, 2313.

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9 Politische Ethik

Der Philosoph John Rawls hat einen nicht-theologischen Grund dafür angeführt, warum Religionen von sich heraus einer politischen Ordnung zustimmen müssen, obwohl sie sich ansonsten in ihren Vorstellungen eines guten Lebens widersprechen. Der Grund liegt darin: Weil beispielsweise eine evangelische Christin gut findet, in politisch gerechten Verhältnissen zu leben, wünscht sie aus evangelischen Gründen auch, dass andere Menschen auf dieselbe Weise glücklich werden, dass sie nach politischer Gerechtigkeit streben. Dazu muss die Christin nicht wünschen, dass alle anderen auch evangelisch werden. Sie muss nur wünschen, dass alle anderen aus ihrer jeweiligen Vorstellung des Guten politisch gerecht sein wollen.7 Jede Reli‐ gion unterstützt also um ihrer selbst willen vernünftigerweise eine gerechte politische Ordnung.8 Die evangelische Staatslehre bleibt bis auf weiteres zögerlich, die Demo‐ kratie grundsätzlich als christliche Staatsform zu rechtfertigen.9 Der Grund dürfte weiter in der prinzipiellen Parallelisierung von Staat und Kirche in der Zwei-Reiche-Lehre liegen: Demokratie zur christlichen Staatsform zu stilisieren, würde eine religiöse Überschreitung auf das politische Regi‐ ment bedeuten, weil die christliche Anerkennung der politischen Ordnung von einem religiösen Urteil abhängig wäre. Rawls’ Idee eröffnet jedoch Denkmöglichkeiten, die Trennung von Staat und Kirche zu akzeptieren und zugleich aus innertheologischen Gründen die Demokratie für eine christliche Staatsform zu halten.

Zur Textauswahl Dieses Kapitel soll mit drei behandelten biblischen Texten einen Horizont politisch-ethischen Denkens abstecken. Sie gehen auf religiöse, kulturelle oder politische Konflikte innerhalb eines Regierungsbereichs ein. Ich behaupte nicht, dass die lutherische politische Ethik selbst biblisch ist. Allerdings zeigen die zugrunde gelegten biblischen Texte die politischen Problemlagen auf, die mit der Zwei-Reiche-Lehre befriedet werden sollen.

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J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 24. J. Rawls: Die Idee des politischen Liberalismus, 310. Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, 12.

9.1 Politische Integration (Jer 29,4–7.10–14)

9.1 Politische Integration (Jer 29,4–7.10–14) 4 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: 5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; 6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. 7 Suchet der Stadt Frieden, in die ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn in ihrem Frieden wird euch Frieden sein. 10 Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch suchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort (Jerusalem) bringe. 11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe ein Ende und Hoffnung. 12 Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten und ich will euch erhören. 13 Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, 14 so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

Interessant, wie flexibel Gott im Alten Testament mit seinen Geboten umge‐ gangen ist. In Israel herrschte ein sogenanntes Mischehenverbot: Israeliten sollten keine Familie mit ihren Nachbarvölkern gründen, und wenn sie es doch taten, waren ihre Kinder aus der Gemeinde ausgeschlossen (5. Mose 23,2–9). Aber als nach dem verlorenen Krieg gegen Babylon viele Israeliten dorthin deportiert wurden, wurde dieses Verbot mit dem vorliegenden Text aus dem Propheten Jeremia ausdrücklich aufgehoben. Jetzt sollten sich die Juden sogar mit dem babylonischen Volk mischen. Ein anderes Beispiel: In Israel gab es nur einen Ort, an dem man den jüdischen Kult leisten durfte, nämlich den Tempel von Jerusalem. Ansonsten war es verboten, Gott ein Opfer zu bringen (5. Mose 12). Aber im Exil sollten die Deportierten auch in Babylon ihre Gottesdienste abhalten.

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Echte Integration scheint nicht gewünscht zu sein. Die Gebote Gottes sind nur zeitweise außer Kraft gesetzt worden. Die Israeliten sollten nur 70 Jahre lang fremde Frauen und Männer heiraten und danach wieder nur Juden. Bei einer echten Integration passt man sich dauerhaft an die Gesellschaft an. Deshalb könnte es sich beim Wort des Propheten auch um ein Kalkül gehandelt haben, ohne dass die deportierten Israeliten wirklich dauerhaften Frieden suchen, sondern nur eine Strategie nutzen sollten, um zeitweise in einem fremden Land zurecht zu kommen. Wie integriert man eine Gesellschaft? Zu einer Demokratie gehören immer Gegensätze und politischer Streit. Trotzdem verbindet der Geist der Demokratie die Bevölkerung. Oder könnten auch in einer Demokratie zu viele Menschen aus dieser Gesellschaft ausgeschlossen werden, und sie müssten überhaupt erst wieder erleben, dass auch sie Frieden haben, wenn die Gesellschaft Frieden hat? Wer Integration nur deshalb als Strategie einsetzt, um persönliche Vorteile daraus zu ziehen, hat sich in Wirklichkeit nicht integriert, sondern wartet nur auf einen günstigen Zeitpunkt, um sie wieder zurückzunehmen. Und dazu scheint der Prophet zu raten: Die göttlichen Gebote werden zwar an die babylonische Gesellschaft flexibel angepasst und verändert, jedoch nur 70 Jahre lang. Danach soll alles wieder anders werden, wenn die Nachkommen der deportierten Israeliten wieder nach Hause zurückkehren dürfen. Dann sollen die Mischehen wieder verboten werden und Gottesdienst nur im Jerusalemer Tempel erlaubt sein. Aber ist das ein realistisches Szenario? 70 Jahre sollen Juden Nichtjuden heiraten und dann auf einen Schlag nicht mehr. Integration auf Zeit, danach wieder Trennung! Was wird im 71. Jahr passieren? Wir wissen, was passiert ist. Babylon wurde von der Großmacht Persien in einem Krieg besiegt, und der persische König hatte den Israeliten erlaubt, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Aber eine breite Mehrheit der integrierten Juden wollten in Babylon bleiben. Denn nach 70 Jahren waren fast alle, die wieder „nach Hause“ durften, in Babylon geboren worden. Sie hatten eine jüdische Mutter, aber einen babylonischen Vater – oder umgekehrt. Israel war nicht mehr ihr Zuhause. Auch wenn sich eine Volksgruppe nur zeitweise in eine fremde Gesellschaft integrieren lassen soll, ist diese Gesellschaft irgendwann dauerhaft zur eigenen geworden. Integration entfaltet einen Geist des dauerhaften Zusammenlebens. Und wer einmal von diesem Geist erfasst ist, kann sich einen leichten Weg zurück nicht mehr vorstellen. Mag sein, dass der Prophet wirklich hoffte,

9.1 Politische Integration (Jer 29,4–7.10–14)

irgendwann würden die Israeliten wieder heimkehren, nachdem sie sich 70 Jahre lang in eine fremde Gesellschaft integriert haben. Aber realistisch ist es nicht: Wer sich nur integrieren lassen will, um eigene Vorteile daraus zu ziehen, wird entweder nie wirklich integriert, oder findet in der Fremde Frieden und wird dann seine eigenen Vorteile zurückstellen zugunsten dieses friedlichen Geistes des Zusammenlebens. Die parlamentarische Demokratie, in der wir leben, ist auch eine solche geistliche Verwandlung von Einzelinteressen. Im Wahlkampf bekämpfen sich Parteien und zeigen ihre Gegensätze auf. Doch nach der Wahl muss man zusammenarbeiten. Während der Regierungsverhandlungen sprechen die beteiligten Parteien von einer Koalition auf Zeit, die keine Liebesheirat bedeutet. Aber wer wirklich der Stadt Frieden sucht, wird sich integrieren und seine Programme daran anpassen. In der parlamentarischen Demokratie vollzieht sich eine geistliche Ver‐ wandlung von Einzelinteressen. Menschen mögen es anders wollen und nur persönliche Vorteile aus der politischen Ordnung ziehen wollen. Aber der Geist der Demokratie verwandelt Positionen. Er führt politische Gegner zusammen und integriert dauerhaft. Es wäre besser, wenn in unseren Parlamenten nur Parteien sitzen, die diese freie Gesellschaft nicht zerstören wollen. Der Geist der parlamentari‐ schen Demokratie fordert ein, beachtet zu werden und Parteien zu wählen, denen die Bevölkerung zutraut, dass sie an der Integration unserer Gesell‐ schaft mitwirken. Wenn aber der demokratische Geist an Integration bindet, dann darf man nicht diejenigen aufgeben, die die Demokratie missbrauchen, um ihre eigenen Vorteile daraus zu ziehen. Vielmehr könnte sich der Geist der Integration als noch stärker erweisen und auch sie verwandeln, ebenso wie er Parteien verwandelt. Literatur zur Vertiefung: Chr. Polke: Über kulturelle und nationale Identität, 244–247. – Der Verfasser bemüht sich in seinen Beiträgen um eine Basis gesellschaftlicher Integration, die weder ethnische noch kulturelle oder gar religiöse Homogenität verlangt. Seine Andeutungen zeigen, wie schwer eine Lösung zu finden ist. Am ehesten findet er sie in Gesellschaft als Diskursraum für das, was gelten soll. B. Waldenfels: Sozialität und Alterität, 181–195. – Waldenfels sensibilisiert für den gewaltträchtigen Gebrauch des Personalpronomens „Wir“. Wenn das Wir dem Ich keinen Raum lässt, macht es unfrei, ebenso wie umgekehrt ein Ich ohne Wir-Bezug einen Herrschaftswillen markiert. Zwischen Ich und Wir besteht eine

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Spannung. Das Recht koordiniert in dieser Spannung, die sich dabei auch im Recht wiederholt, da demokratische Selbstgesetzgebung immer auch Unterwerfung unter das Gesetz bedeutet. Politische Lösungen in einer Gesellschaft freier Bürger können stets nur provisorisch sein.

9.2 Die Zwei-Reiche-Lehre (Jes 8,11–15) 11 Denn so sprach der HERR zu mir, als seine Hand über mich kam und er mich warnte, ich sollte nicht wandeln auf dem Wege dieses Volks: 12 Ihr sollt nicht alles Verschwörung nennen, was dies Volk Verschwörung nennt, und vor dem, was sie fürchten, fürchtet euch nicht und lasst euch nicht grauen, 13 sondern den HERRN Zebaoth, den sollt ihr heiligen; und er ist eure Furcht und euer Schrecken. 14 Er wird zum Heiligtum und zum Stein des Anstoßes und zum Fels des Ärgernisses für die beiden Häuser Israel, zum Fallstrick und zur Schlinge für die Bürger Jerusalems, 15 dass viele von ihnen sich daran stoßen, fallen, zerschmettern, verstrickt und gefangen werden.

Wer sich gegen einen Verschwörer rüstet, bekommt Gott zum Feind und wird von Gott zerschmettert. Gott wendet sich gegen den, der sich politisch gegen das Böse rüstet, und lässt den straucheln, der den Kampf Gottes selber führen will. Das ist keine Antwort auf die Frage, warum Gott politischen Terror zulässt, aber die Klarstellung, dass sich Menschen überheben, die den Kampf Gottes selbst kämpfen wollen. Gott wird sie straucheln lassen. Politische Auseinandersetzungen sind keine heiligen Konflikte. Und man führt keinen göttlichen Kampf, wenn man für politische Gerechtigkeit eintritt. Vielmehr begrenzt Gott seinen eigenen Machtbereich. Gerade wer Gott dient, folgt dieser göttlichen Selbstbegrenzung. Auf dem ersten Blick scheint der Prophet zwar zum Gegenteil zu raten: „Den HERRN Zebaoth, den sollt ihr heiligen; und er ist eure Furcht und euer Schrecken.“ Aber wenn Gott seinen Machtbereich begrenzt, fürchtet man ihn angemessen, wenn man diese Begrenzung mitvollzieht. „Ihr sollt nicht alles Verschwörung nennen, was dies Volk Verschwörung nennt.“ Politische Gegner sollen nicht zu Feinden stilisiert werden, gegen die man sich im Namen des Guten zur Wehr zu setzen hätte. Der politische Bereich soll vielmehr ein Bereich der positionellen Differenzen bleiben.

9.2 Die Zwei-Reiche-Lehre (Jes 8,11–15)

Denn entweder haben wir es mit dem Teufel zu tun. Dann können wir ihn auch nicht bezwingen. Vielmehr wird er dann uns bezwingen und zu Teufeln machen. Oder wir haben es nicht mit dem Teufel zu tun. Dann sind die politischen Mittel ausreichend, um dem Schlechten zu widerstehen. Und dann bedarf es keiner höheren Macht und keiner höheren Gerechtigkeit, um politische Missstände zu beseitigen. Zunehmend fürchten sich Menschen jedoch vor religiöser Gewalt. Derzeit sind fast alle militärischen Konflikte begleitet von religiöser Propaganda. Und auch innenpolitische Konflikte haben zunehmend wieder mit Religion zu tun. Man mag darüber streiten, ob die neue Angst vor den Religionen berechtigt ist oder ob interreligiöse Konflikte vor allem kulturelle Ausein‐ andersetzungen darstellen. Allerdings soll in dieser Sektion dem Aspekt aus dem Prophetenwort Aufmerksamkeit geschenkt werden, wie Religionen den Frieden gefährden können. Eine Gefährdung des politischen Friedens zeigt sich nämlich, wenn Religionen im Namen einer „höheren Gerechtigkeit“ sprechen. „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29). Dieses Bibelwort, das sich nicht nur in einer christlichen Quelle findet, scheint zu rechtfertigen, dass Religionen im Namen einer höheren Gerechtigkeit politische Regeln verletzen. Im Umkehrschluss heißt das aber, dass Religionen dann friedlich sind, wenn sie anerkennen, dass Frieden nur politisch hergestellt werden kann. Die Regeln des zwischenmenschlichen Friedens müssen politische Regeln sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Jahrhunderte währende Konsens der evangelischen Staatslehre in Frage gestellt, ob die lutherische Zwei-Rei‐ che-Lehre moralisch richtig ist oder falsch. Luther hatte behauptet, dass es kein christliches Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt gibt. Die Fürsten verwalten nämlich einen eigenständigen Bereich, den Gott ihnen frei hält und den Christen zu respektieren haben. Unter dem Eindruck der gleichge‐ schalteten Kirche im NS-Regime entwickelte sich nun eine neue Position, dass Christen ein Widerstandsrecht gegen Unrechtsregime haben sollten. Und die evangelische Sozialethik hat sich einem Widerstandsrecht gegen tyrannische Regierungen geöffnet, notfalls auch mit physischer Gewalt. So wichtig es ist, dass die Kirche ein kritisches Gegenüber zum Staat bleibt, so gefährlich ist es, wenn sich Religionen ein gewaltsames Widerstandsrecht zugestehen. Denn zugleich würden es Christen nicht akzeptieren, wenn Muslime im Namen der Scharia Gewalt gegen den deutschen Staat ausüben würden. Dann ist es aber ebenso inakzeptabel, wenn Christen im Namen

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einer höheren Gerechtigkeit in den USA Ärzte bedrohen oder ermorden, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Denn mit Gewalt lösen sie den politischen Bereich auf und halten nur noch ihren eigenen religiösen Bereich für legitim. Die Stärke der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre besteht darin, dass sie der Politik eine Autonomie eingeräumt und dafür im christlichen Glauben selbst Gründe gefunden hat. Frieden ist eine politische Aufgabe und soll nicht durch religiöse Eliten erzwungen werden. Die lutherische Zwei-Rei‐ che-Lehre ist für unsere Rechtsentwicklung bis zum heutigen Tag bahnbre‐ chend gewesen. Das Christentum hat hier aufgrund seines Glaubens darauf verzichtet, Gewalt auszuüben. Wer im Namen einer höheren Gerechtigkeit Gewalt ausübt, kann niemals Frieden herstellen. Frieden kann es nur politisch geben oder gar nicht. Das gilt vor allem im demokratischen Zeitalter: Die Religionen haben sich den politischen Regeln demokratischer Prozesse unterzuordnen. Und die religiösen Fanatiker, die das nicht wollen, müssen mit politischen Mitteln zur Regeleinhaltung gezwungen werden. Friedensdienst leistet dagegen die christliche Gemeinschaft. Es ist ein Glück, dass Menschen ihren Glauben mit anderen Menschen teilen. Denn die Gewalt der Religionen geht heute von einzelnen Fanatikern aus. Die Kirchen in Deutschland hingegen haben inzwischen eine Kultur des Friedens entwickelt. Frieden kann nur in Ge‐ meinschaften kultiviert werden. Gewalt geht dagegen heute weitgehend von Menschen aus, die religiös isoliert sind. Literatur zur Vertiefung: M. Luther: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, 245–281. – In dieser Schrift entfaltet Luther seine Lehre von den zwei Regimenten Staat und Kirche. Beide dürfen in die Sphäre des jeweils anderen Regiments nicht eingreifen. Weder hält die Kirche die öffentliche Ordnung aufrecht, noch kann der Staat den Glauben verordnen. D. Bonhoeffer: Konspiration und Haft 1940–1945, 550–562. – Der Theologe und Widerstandskämpfer skizziert hier vorsichtig die Aufgabe der Kirche, den Staat zur rechten Weltlichkeit zu bringen, notfalls auch, indem sie „dem Rad selbst in die Speichen“ greift. Damit ist gewaltsamer Widerstand gegen einen Unrechtsstaat angedeutet. Zugleich wahrt Bonhoeffer den Anspruch der Zwei-Reiche-Lehre, weil kein christlicher Staat angestrebt wird, sondern lediglich ein Staat, der die weltliche Ordnung gewährleistet.

9.3 Religion und Politik im zwischenstaatlichen Verhältnis (Lk 19,41–48)

M. Hofheinz: „Mein Freund ist Dr. Bonhoeffer gewesen“, 103–128. – Der Artikel zeichnet die historische Entwicklung des evangelischen Widerstandsrechts seit der Nazi-Tyrannei nach. Dabei räumt sich die Kirche zunehmend mehr Befugnisse ein, um die staatliche Ordnung notfalls auch vor der faktischen Regierungsaus‐ übung zu schützen.

9.3 Religion und Politik im zwischenstaatlichen Verhältnis (Lk 19,41–48) 41 Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt (Jerusalem) und weinte über sie 42 und sprach: Wenn auch du erkennen würdest an diesem Tag, was zum Frieden ist! Aber nun ist's von deinen Augen verborgen. 43 Denn es werden Tage über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, 44 und werden dich zu Boden strecken und deine Kinder in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil keine Erkenntnis ist von der Zeit deiner Heimsuchung. Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben, 46 und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben: »Mein Haus soll ein Bethaus sein«; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht. 47 Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten versuchten, ihn zu vernichten, und die Vordersten des Volkes, 48 und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze Volk hing ihm an und hörte ihn.

Dieses Bibelwort ist über Jahrhunderte Anlass gewesen, Juden zu verfolgen und zu töten. Dabei haben Antisemiten dieses Bibelwort falsch ausgelegt. Es ist zunächst nur eine zweideutige Bibelstelle über die damalige soziale Situation einer Stadt. Aber aus dieser Zweideutigkeit haben Christen im Lauf der Geschichte eine eindeutige Vernichtungsrede gegen das Judentum konstruiert. Ich möchte zeigen, wie verachtend man diesen Text bisher verstanden hat, aber auch welche Interpretationsfehler auftauchen, wenn man es tut. Daraus ergibt sich, dass man diesen Text stattdessen als eine tröstliche Botschaft über die Zweideutigkeit menschlicher Erfahrungen von Gott verstehen kann.

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Zunächst also die traditionelle verachtende Interpretation: Jesus weint über Jerusalem, weil die Stadt nicht merkt, wer sie besuchen kommt, nämlich der Messias, der Friede selbst. Wie unfriedlich diese Stadt angeblich ist, soll die Geschichte von den Händlern im Tempel zeigen und dann die angeblichen Mordpläne des oberen Judentums. Und weil Jesus so traurig darüber ist, sagt er der Stadt voraus, dass sie in Schutt und Asche gelegt wird. So kann man nur interpretieren, wenn man vieles im Text übersieht oder nicht wahrhaben will. Zum Beispiel ist es falsch übersetzt, wenn man hier den oberen Juden Mordpläne gegen Jesus andichtet. Im Griechischen heißt es: Sie wollten Jesus „vernichten“, was nicht ausschließt, ihn im theologischen Streit zu überwinden. Dann würden sie ihn mit Argumenten überwinden wollen, kamen nur nicht an ihn heran, weil zu viele Menschen um ihn herumstanden. Ein Kapitel später werden dann auch tatsächlich ihre Streitgespräche mit Jesus berichtet. Mordpläne zeigen sich hier nicht, sondern ein theologischer Streit sollte Jesus zur Strecke bringen. Der Hauptfehler aber einer verachtenden Interpretation gegen die Juden besteht darin: Hätte Jesus dieser Stadt Jerusalem wirklich die Zerstörung gewünscht, wäre er nicht im Frieden gekommen. Er käme als der Todesfluch für Jerusalem. Das ist ein offensichtlicher Widerspruch zum Text. Denn Jesus liebt diese Stadt: Er weint über sie, weil er ihr Ende voraussieht und darunter leidet. In der Stadt selbst orientiert er sich auch daran, was dem Frieden dient: Der Rauswurf der Händler im Tempel hat genau den Sinn, den religiösen Frieden wiederherzustellen und die Begrenzung der religiösen und der ökonomischen Sphäre zu achten. Es wird zwar nicht erzählt, ergibt sich aber aus der Fortsetzung des Evangeliums, dass Jesus offenbar damit auch Erfolg gehabt hat. Fortan lehrt Jesus im Tempel und findet viele Anhänger aus dieser Stadt. So handelt nur jemand, der sich nicht damit abfinden will, dass diese Stadt dem Erdboden gleichgemacht wird, sondern Verantwortung für ihre Einwohner übernimmt, weil er im Frieden zu ihnen kommt. Deshalb scheint mir eine andere Interpretation naheliegend zu sein: Jesus weint über Jerusalem, weil er die ungefähre Ahnung hat, dass die Stadt zerstört werden wird – wie es dann auch durch das Römische Reich im Jahr 70 n. Chr. geschah. Dagegen können sich ihre Bewohner nicht wehren, weil sie diese Katastrophe nicht voraussehen können. Es ist „keine Erkenntnis von der Zeit deiner Heimsuchung“. Das ist kein Vorwurf so wie in der ersten Interpretation, sondern eine traurige Feststellung über die Grenzen

9.3 Religion und Politik im zwischenstaatlichen Verhältnis (Lk 19,41–48)

menschlicher Erkenntnis: „Wenn auch du erkennen würdest an diesem Tag, was zum Frieden ist!“ Menschliche Erfahrungen sind zweideutig. Man kann sich leicht täu‐ schen, wem man vertrauen sollte. Und man kann unaufmerksam sein, wenn sich Chancen für den Frieden bieten. Jesus sieht voraus, dass diese menschliche Schwäche zu einer Katastrophe führen wird. Jerusalem wird nicht rechtzeitig merken, wie es den Frieden retten kann. Die Zerstörung Jerusalems einige Jahrzehnte nach Jesu Tod ist keine Strafe Gottes für den Tod Jesu, sondern eine schicksalhafte Heimsuchung, gegen die sich niemand wehren konnte – einfach weil man den Zeitpunkt für solche Heimsuchungen eben nicht vorher erkennt. Es ist ein grundsätzliches Problem, dass man politische Verhängnisse oder Kriegsgefahren nicht rechtzeitig bemerkt. Aber es verstärkt noch die Gefahr vor politischen Verhängnissen, wenn man Politik und religiöses Selbstverständnis eng aneinanderbindet. Vielleicht wiegte es die Jerusale‐ mer Einwohner in eine fatale Sicherheit, dass sie Gottes erwähltes Volk sind. Die Vermischung aus Religion und Politik kann zur Naivität führen, so dass man Krisen nicht rechtzeitig politisch löst. Die Kirchen betonen inzwischen, und das zu Recht, dass Israel auch nach der Gründung der christlichen Gemeinde Gottes erwähltes Volk bleibt. Aber zugleich haben sie damit religiöse und politische Themen enger aneinandergebunden. Darin liegt eine Zweideutigkeit menschlicher Gottes‐ erfahrungen. Aber wenn Menschen sich nicht darauf verlassen können, den genauen Zeitpunkt von schicksalhaften Heimsuchungen vorauszuahnen, sollten sie es auch nicht versuchen. Es liegt nicht in der menschlichen Verantwortung, religiöse Schicksalsschläge vorher ermessen zu können und daraus politische Maßnahmen abzuleiten oder politische Ansprüche zu setzen. Politische Entscheidungen sollten vielmehr von religiösen Visionen getrennt werden. Im Glauben mögen wir auf wunderbare Heimsuchungen hoffen. Aber solche Hoffnungen können kein politischer Auftrag sein, weil niemand mit religiösen Heimsuchungen politisch planen kann. Was dem Frieden dient, ist menschliche Bescheidenheit: Politische Ent‐ scheidungen treffen, ohne dabei Gottes Schicksal vollstrecken zu wollen. Jesus tut in Jerusalem das, was im guten Sinn politisch ist: Er trennt Religion vom wirtschaftlichen Handeln und treibt die Händler aus dem Tempel. Er argumentiert und überzeugt mit Worten, indem er täglich im Tempel lehrt. Zwar handelt er dabei aus seinem religiösen Bewusstsein, unterscheidet aber

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zugleich zwischen dem, was in menschlicher Verantwortung liegt und was man Gott vorbehalten muss. Die Chancen zum Frieden liegen bereits in den politischen Möglichkeiten, in den ganz und gar menschlichen Angelegenheiten, die wir verantworten können. Menschen müssen nicht auf Frieden warten im Sinne einer religiö‐ sen Heimsuchung. Sie können ihn selbst verantworten. Und dabei hilft, wenn sie ihr religiöses Selbstbewusstsein und ihre politischen Möglichkei‐ ten auseinanderhalten. Unter politischen Bedingungen ist das bescheidenere Ziel das größere: der Friede unter den Völkern. Literatur zur Vertiefung: J. Locke: A Letter Concerning Toleration. – Seelen zu retten, ist nicht Aufgabe der Politik, und sie kann die Völker auch nicht zum wahren religiösen Verständnis zwingen. Vor allem aber kann sie nicht die Erlösung garantieren, indem sie die Menschen zu einer bestimmten religiösen Auffassung zwingt.

Biblische Alternativen „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mk 12,17). Die Verlässlichkeit der Wirklichkeit ist nicht vom Kaiser gesetzt, und nicht er kann dafür bürgen, dass die politische Ordnung ist, was sie ist. Er kann zwar Gesetze verfassen, aber er kann ihre Gül‐ tigkeit nicht garantieren. Vielmehr setzt jedes Gesetz seine Gültigkeit voraus; andernfalls würde es nicht verfasst werden. Die Gültigkeit ist dabei durch eine politisch transzendente Instanz verbürgt. Die Zwei-Reiche-Lehre trägt dieser Differenz Rechnung: Christen erkennen das göttliche Regiment frei an, halten sich aber zugleich ans politische Gesetz. Allerdings schließt daran ethisch die Frage an, ob damit allein die Politik die Akteurin in der verlässlichen Wirklichkeit ist, während Gott nur für ihre Verlässlichkeit bürgt. Gibt es also kein politisches Handeln aus religiösen Gründen? Sind alle religiösen Motive, sich politisch zu engagieren, unpolitisch? Und stellt Gott keine politischen Ansprüche? Andere biblische Texte entwerfen ein konfrontativeres Bild zum Ver‐ hältnis zwischen Religion und Politik. Hierzu gehören etwa Formeln, dass man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen (Apg 5,29) oder, falls man das Wort politisch interpretiert, dass niemand zwei Herren dienen könne (Lk 16,13). Hier wird zwar nicht aus der Position eines Machthabers argumentiert („gehorchen“, „dienen“), allerdings

9.3 Religion und Politik im zwischenstaatlichen Verhältnis (Lk 19,41–48)

fordern diese Worte eine grundsätzliche Entscheidung zum Widerstand gegen staatliche Herrschaft, sobald sie in Konkurrenz tritt zu göttlichen Geboten. Es hängt dann an den göttlichen Geboten, inwieweit sie eine staatliche Ordnung neben sich zulassen. Die Zwei-Reiche-Lehre hält eine Verbindung in diesem spannungsvollen Verhältnis aus Religion und Politik, indem sie beide Regimente als von Gott konstituiert beschreibt. Daraus ergibt sich jedoch eine gegensätzliche ethische Herausforderung gegenüber der obigen Textstelle, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist: Denn nun stellt sich die Frage, ob Gott so starke politische Ansprüche stellt, dass der politische Bereich verschwindet und in den religiösen Bereich aufgelöst wird.

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10 Krieg Die Diskurslage Die Doktrin vom „gerechten Krieg“, insbesondere mit dem Verbot zum Angriffskrieg und den weiteren notwendigen Voraussetzungen der Alterna‐ tivlosigkeit und Verhältnismäßigkeit,1 ist bereits zu Beginn der Neuzeit von Niccolò Machiavelli in Frage gestellt worden, weil das Machtbewusstsein staatlicher Führungen sich nicht ethisch einschränken lassen werde.2 Zudem folgen Massenvernichtungswaffen einer anderen Doktrin, nämlich dem Prinzip der Abschreckung, das im äußersten Fall den Preis der Vernichtung der Menschheit zu zahlen bereit ist. Hier können die klassischen Kriterien eines gerechten Krieges nicht mehr erfüllt werden. Aber schon in begriffli‐ cher Hinsicht ist ein gerechter Krieg ein Widerspruch in sich: Immanuel Kant sah das Verhältnis zwischen Staaten als rechtslos an, weil das Recht nur innerstaatlich etabliert werde.3 Deshalb könne es keinen rechtlichen Zustand im Krieg geben.4 Wenn ein Staat einem anderen den Krieg erklärt, so manifestiert er damit einen rechtslosen Zustand. Daraus folgerte Kant, dass Krieg so geführt werden müsse, dass die beteiligten Staaten in einen rechtlichen Zustand treten.5 Das ist zwischen souveränen Staaten nur möglich in einem freiwilligen Völkerbund.6 Die Vereinten Nationen haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein Völkerrecht geschaffen, das sie sogar mit Waffengewalt (Blauhelmtruppen) berechtigt, kriegerische Konflikte zu unterdrücken. Sie dürfen aber nur zum Einsatz kommen, wenn alle Konfliktparteien dazu aufrufen, wobei die beteiligten Staaten im Krieg dazu auch völkerrechtlich verpflichtet sind. Das Hauptproblem kriegerischer Gewalt besteht derzeit jedoch darin, dass sie fast immer in Bürgerkriegen verübt wird, deren Konfliktparteien nicht ans Völkerrecht gebunden sind.7 Hier kann die Regierung allenfalls einseitig den Blauhelmeinsatz anrufen, was zugleich von den nicht-staatli‐ 1 2 3 4 5 6 7

W. Härle: Ethik, 411ff. N. Machiavelli: Buch vom Fürsten, 60. I. Kant: Die Metaphysik der Sitten, 344. A.a.O., 347. Ebd. I. Kant: Die Metaphysik der Sitten, 344. J.-D. Strub: Der gerechte Friede, 118.

1. Sam 15,1–3.7–11.13–15.17–22

chen Konfliktparteien als Einmischung ausländischer Besatzungstruppen gewertet werden kann, was die Konflikte verschärfen kann. Ist durch das Völkerrecht abgedeckt, Krieg gegen Terror-Gruppen zu führen? Oder führt Waffengewalt der internationalen Staatengemeinschaft gegen Milizen und Terrorismus zu einer ungebändigten Ausweitung des Krieges?

Zur Textauswahl Krieg missachtet umfassend die politische Ordnung eines fremden Herr‐ schaftsgebietes. Er impliziert dabei massenweise die Tötung aus Befehl. Ein solcher Schritt hat eine totalisierende Dimension: Das eigene Volk wird ausnahmslos zu Mobilisierung, Entbehrungen, Tötung und Getötetwerden gezwungen, und ebenso ausnahmslos gelten die Mitglieder feindlicher Völker als Feinde. Töten ist immer totalisierend, weil es absolute Vernich‐ tung bedeutet. Durch diesen totalisierenden Hang lässt sich die christliche Religion für den Krieg instrumentalisieren, denn Gott hat jeden Anspruch auf die Menschen, und auch sein Versöhnungsgeschehen richtet sich auf sie alle. Die Wortverbindung „Heiliger Krieg“ verbindet die totalisierenden Implikationen des Krieges mit den totalen Ansprüchen Gottes. Die vorlie‐ gende Textstelle thematisiert diese Verbindung.

1. Sam 15,1–3.7–11.13–15.17–22 1 Samuel sprach zu Saul: Der HERR hat mich gesandt, dass ich dich zum König salben sollte über sein Volk Israel; so höre nun auf die Worte des HERRN! 2 So spricht der HERR Zebaoth: Ich habe hingesehen, was Amalek Israel angetan und es ihm in den Weg stellte, als Israel aus Ägypten zog. 3 So zieh nun hin und schlag Amalek und weihe es der Vernichtung und alles, was zu ihm gehört; nicht sollst du Mitleid haben mit ihm, sondern töte es vom Mann zur Frau, vom Kind zum Säugling, vom Rind zum Schaf, vom Kamel zum Esel. 7 Da schlug Saul die Amalekiter von Hawila bis nach Schur, das vor Ägypten liegt, 8 und nahm Agag, den König von Amalek, lebendig gefangen, und das ganze Volk weihte er der Vernichtung mit der Spitze des Schwerts.

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9 Aber Saul und das Volk hatten Mitleid mit Agag und dem Besten der Schafe und Rinder und des Mastviehs und der Lämmer und allem Guten, und sie wollten es nicht der Vernichtung weihen; aber alles Mühselige und alles Verächtliche weihten sie der Vernichtung. 10 Da geschah des HERRN Wort zu Samuel: 11 Ich bereue, dass ich Saul zum König gesalbt habe; denn er hat sich von mir abgewandt und meine Worte nicht umgesetzt. Und Samuel entbrannte und schrie zu dem HERRN die ganze Nacht. 13 Als nun Samuel zu Saul kam, sprach Saul zu ihm: Gesegnet seist du vom HERRN! Ich habe des HERRN Wort erfüllt. 14 Samuel antwortete: Und was ist diese Stimme von Kleinvieh in meinen Ohren, und die Stimme von Rind, das ich höre? 15 Saul sprach: Von den Amalekitern haben sie sie gebracht; denn das Volk hatte Mitleid mit dem Besten von Schaf und Rind, weswegen es (vielmehr) dem HERRN geopfert werden soll, deinem Gott; das andere haben wir der Vernichtung geweiht. 17 Samuel sprach: Ist's nicht so: Obwohl du vor dir selbst gering warst, bist du doch der Kopf der Stämme Israels; denn der HERR hat dich zum König über Israel gesalbt. 18 Und der HERR sandte dich auf den Weg und sprach: Zieh hin und weihe die Sünder, die Amalekiter, der Vernichtung und kämpfe mit ihnen, bis du sie vertilgt hast! 19 Warum hast du der Stimme des HERRN nicht gehorcht, sondern bist losge‐ stürzt über die Beute und hast Böses in den Augen des HERRN getan? 20 Saul antwortete Samuel: Ich habe doch der Stimme des HERRN gehorcht und bin den Weg gezogen, den mich der HERR sandte, und habe Agag, den König von Amalek, hergebracht und die Amalekiter der Vernichtung geweiht. 21 Und das Volk hat von der Beute genommen Schaf und Rind, das Beste vom Gebannten, um es dem HERRN, deinem Gott, zu opfern in Gilgal. 22 Samuel aber sprach: Meinst du, dass der HERR Gefallen habe am Brandopfer und Schlachtopfer ebenso wie am Gehorsam gegen die Stimme des HERRN? Siehe, Gehorsam ist besser als Opfer und aufmerksam Hören besser als Fett von Widdern.

Gott befiehlt den Völkermord und die totale Vernichtung der feindlichen Amalekiter. Aber Saul und sein Volk haben „Mitleid“. Und für dieses Mitleid entzieht Gott Saul das Vertrauen. Es ist eine schreckliche Szene des Heiligen Krieges, der die totale Vernichtung eine „Weihe“ nennt und die Feinde –

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mit der sprachlichen Wurzel semitischer Sprachen – „haram“: das, was unbedingt verboten ist und deshalb nur in Gottes Verfügungsbereich zu stehen hat. Nun hat Saul ein merkwürdiges Mitleid, wenn er vorhatte, die besten Tiere der Amalekiter in einem Heiligtum Gottes zu opfern. Denn sie wären ja auch dann getötet worden. Aber anscheinend besitzen Opfertiere eine besondere Würde, die sie nicht haben, wenn sie haram und unbedingt verboten sind. Der Prophet Samuel bezweifelt nicht, dass Saul wirklich vorhatte, diese Tiere Gott zu opfern. Es sieht nicht so aus, dass Saul und sein Volk sich heimlich mit den erbeuteten Gütern der Amalekiter bereichern wollten. Sein Mitleid schien sich allein darauf zu beziehen, dass diese gut gewachsenen Nutztiere haram sein sollten. Ihr Wert wäre vielmehr höher anzusetzen, wenn sie Gott zum Geschenk geopfert werden würden. Es ist diese eigenwillige Entscheidung Sauls, gegen die Gott und Samuel protestieren. Die Textstelle unterscheidet zwischen Opfern, in denen wert‐ volles menschliches Eigentum Gott zum Geschenk gemacht wird, und haram, das bereits Gottes Eigentum ist und ihm daher nicht erst noch als Opfer geschenkt werden kann. Dann drückt diese Textstelle aus: Wenn Gott einen Krieg gegen ein Volk befiehlt, das haram ist, darf der Mensch keine eigenwilligen Ausnahmen machen, und sei es auch aus Mitleid. Aber kann Gott denn wirklich Krieg befehlen? Fordert Jesus nicht, die Feinde zu lieben? Die Textstelle hat etwas Verstörendes, vor allem dann, wenn man sie als Aufforderung liest, so ausnahmslos und total vernichtend mit Feinden umzugehen. Aber ist denn diese Erzählung eine Aufforderung zur Nachahmung? So scheint es zu sein, wenn am Ende ein Lehrsatz steht: „Gehorsam ist besser als Opfer und aufmerksam Hören besser als Fett von Widdern.“ Aber könnte nicht auch der Schwerpunkt der Geschichte darin liegen, wie grauenvoll Krieg ist? Zumindest wirkt es doch recht künstlich, wenn Sauls Ausnahme so scharf attackiert wird, da Krieg doch seinem Wesen nach ein Ausnahmezustand ist. Die als „totaler Krieg“ gesteigerte Gewalt ist eine Vernichtung ohne Ausnahme, aber zugleich selbst die totale Ausnahmesituation. Und kann Krieg geführt werden, ohne zumindest zeitweise ausnahmslos entfesselt zu sein? Jegliche Versuche, dem Krieg eine Ordnung aufzuerlegen oder gar ein ius belli, ein Recht des Kriegs zu formulieren, wirken als Verharmlosung des Kriegs. Ebenso klingt die Sprache verharmlosend, die bei kriegerischen Auseinandersetzungen im Einklang mit dem gegenwärtigen Völkerrecht lediglich von „bewaffneten Konflikten“, „militärischen Operationen“, „Aus‐

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landseinsätzen“ oder gar „Friedensmissionen“ spricht. Auch wenn gegen‐ wärtig bewaffnete UN-Truppen Krieg verhindern sollen, so unterstreichen sie damit gerade den Ausnahmezustand des Krieges, der ja darin besteht, Feinden und Zivilisten Hinterhalte zu legen und Zivilisationen zu zerstören. Werden UN-Truppen angegriffen, so antworten sie darauf ebenso gewalt‐ sam, und dieser Ausnahmefall ist gerade keine Ausnahme dessen, was Krieg seinem Wesen nach ist. Wie können sich Menschen in Ausnahmesituationen verhalten? Nur ausnahmsweise! Sie können dem Zwang gar nicht entkommen, im Krieg Ausnahmen zu machen. Denn Krieg zu führen, ist die Ausnahme, die keine Regeln kennt. Nach dem Ersten Weltkrieg hat sich das ius belli als Völker‐ recht weiterentwickelt: Neben der traditionellen Pflicht zu verhältnismäßi‐ gen Maßnahmen haben Kriegsgefangene seit der Genfer Konvention von 1929 Anspruch auf medizinische Versorgung und dürfen nicht beliebig zur Zwangsarbeit herangezogen werden. Und auch die Zivilbevölkerung ist weitgehend zu schonen. Aber solche Maßnahmen sind nur dann konse‐ quent, wenn sie den Krieg rechtlich überwinden sollen. Wenn er lediglich gezähmt werden soll, wird so getan, als wäre er kein Ausnahmezustand. Für Kriegsgefangene ist es zwar eine humanitäre Errungenschaft, wenn sie geschont werden. Die Genfer Konvention kann somit zur Eindämmung willkürlicher Gewalt beitragen. Aber dazu müssten die Kriegsparteien einsehen, dass sich Krieg dem Recht zu fügen hat. Solange jedoch Krieg herrscht, herrscht der Ausnahmezustand, der vom Recht nichts wissen will. Die rechtliche Ausgestaltung im Krieg ist nur dann konsequent, wenn sie ihn letztlich ersetzen will. Denn Kriege widersprechen dem Völkerrecht: Kriegsparteien haben die Vereinten Nationen anzurufen und müssen inter‐ nationale Truppen anfordern, die die feindlichen Parteien trennen. Werden Gesetze lediglich geschaffen, um Ausnahmen vom Ausnahmezustand zu schaffen, so wird das Böse nicht besser. Rechtliche Regelungen zum Krieg müssen vielmehr konsequenter sein und ihn abschaffen wollen. Krieg ist böse. Er ist nicht einfach moralisch schlecht, sondern entzieht sich der moralischen Handhabung. Wenn er böse ist, ist er haram. Menschen sind im Krieg keine Akteure, sondern ihm völlig ausgeliefert. Und als haram gehört er einer anderen Sphäre, die ihn besitzt, weil er unbedingt verboten ist und mit menschlichen Mitteln nicht beherrscht werden kann. Man macht ihn dann nicht besser, wenn man wie Saul Ausnahmen erfindet oder wenn man Rechte in den Krieg einschreibt. Vom Bösen kann der Mensch nur

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erlöst werden. Er kann sich nicht selbst davon befreien, ohne selbst böse zu werden. Die genannten rechtlichen Maßnahmen haben aber einen anderen Sinn: Sie beugen sich nicht dem Krieg. Sie werden rechtlich ausgehandelt, als ob im Krieg Frieden wäre, als ob also der Entzugsbereich des Bösen nicht da wäre. Das Völkerrecht entwickelt Aussichten, in denen Menschen gegen den Entzugsbereich des Bösen wieder handlungsfähig werden. Kirchen weisen immer wieder darauf hin, dass Frieden eine Gottesgabe ist. Shalom wird für einen endzeitlichen Zustand gehalten. Das mag deshalb sein, weil der Mensch nicht aus eigener Kraft dem Bösen entkommen kann. Aber der Frieden ist insofern eine menschliche Verantwortung, als der Mensch etwas in diesem Entzugsbereich tun kann. Er kann so handeln, als ob Frieden wäre. Auch wenn Christen nicht daran glauben, dass Gott Kriege befiehlt, können Menschen doch in Situationen schlittern, die unbedingt verboten sind und aus denen sie erlöst werden müssen. Aber was unbedingt verboten ist, verdient auch keine Anerkennung. Im Krieg helfen keine Ausnahmen von der Ausnahme. Aber dem Krieg ist auch nicht zu helfen! In der menschlichen Verantwortung liegt es, rechtlich Frieden zu setzen, als ob kein Krieg wäre. Und sollte Gott doch einmal Krieg befehlen, so würde auch dann die menschliche Verantwortung darin liegen, mit ihm um Frieden zu verhandeln (vgl. 1. Mose 18,22–32). Biblische Alternativen Hat das Gleichnis aus Lk 14,31f auch eine ethische Funktion zur Be‐ urteilung des Krieges? Als Gleichnis der Kriegsplanung wird es der Entscheidung zur Jüngerschaft Jesu zur Seite gestellt. Doch handelt es sich bei dem Vergleich lediglich um eine pragmatische oder eine ethische Erwägung? Das Gleichnis scheint eher eine pragmatische Lö‐ sung anzuvisieren, die Entscheidung zur Jüngerschaft Jesu jedoch eine ethische oder religiös zwingende. Wäre umgekehrt die Entscheidung ethisch zwingend, aus Gründen unzureichender Mittel von einem Krieg abzusehen, so wäre der Vergleich nur angemessen, wenn es auch ethisch zwingend wäre, sich gegen die Jüngerschaft Jesu zu entscheiden aus dem Grund, dass die Folgen nicht verkraftbar wären. Die Spannung im Vergleich will sich so oder so nicht recht lösen lassen. Das könnte

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darauf hindeuten, dass Krieg verhältnislos ist und nur scheinbar einer rationalen Erwägung entstammt. Natürlich wird vielen Lesern und Leserinnen das Gebot der Feindesliebe als biblischer Alternativtext einfallen (Mt 5,44–48). Dabei müsste näher untersucht werden, ob das Ziel der Feindesliebe darin besteht, die Gewaltspirale zu unterbrechen oder die Macht eines Gewalthabers nicht anzuerkennen (H. Arendt8). Zudem muss beachtet werden, dass in dem Textabschnitt aus der Bergpredigt Konflikte unter Einzelpersonen thematisiert werden, nicht jedoch unter politischen Verbänden. (Wie) Kann im Kriegsfall das Gebot der Feindesliebe umgesetzt werden? Und an wen wäre dann dieses Gebot adressiert: an eine einzelne Soldatin, eine Truppe, ein Volk oder an eine Regierung?

Literatur zur Vertiefung: H. v. Schubert: Die Vision des Gerechten Friedens in Europa und der Welt, 191–197. – Der Artikel fasst die völkerrechtlichen Bestimmungen zur Kriegseindämmung zusammen. Der Krieg ist von den Nationen der Welt geächtet worden. An seine Stelle tritt der Gerechte Frieden und das völkerrechtliche Mandat der Sanktions‐ gewalt durch die Vereinten Nationen, vergleichbar mit dem Gewaltmonopol eines Staates. J.-D. Strub: Der gerechte Friede, 158–171. – Auf diesen Seiten fasst diese Doktorarbeit ihr Plädoyer zusammen, einen engen Friedensbegriff als Abwesenheit von Krieg zu verwenden, weil mit der dauerhaften und verlässlichen Abwesenheit von Krieg auch umfassendere Kriterien des Friedens verknüpft sind, nämlich die Rechtsverbindlichkeit und Gerechtigkeit.

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H. Arendt: Vita activa, 252ff.

11 Frieden Die Diskurslage Es gibt eine engere und weitere Friedensdiskussion. Beide jedoch über‐ schneiden sich darin, die Ideologiegefahr des Friedensbegriffs hervorzuhe‐ ben. Die engere Friedensethik untersucht Ursachen internationaler und transnationaler Konfliktpotenziale sowie die Möglichkeiten, sie „friedlich“ auszutragen. Es handelt sich hierbei größtenteils um eine rechtsethische Diskussion, die völkerrechtlich bindende Maßnahmen behandelt, um Frie‐ denszustände zwischen Staaten zu gewährleisten.1 Die Ideologiegefahr des engen Friedensbegriffs besteht darin, bereits Zustände für friedlich zu halten, in denen Staaten sich nicht gegen die Bedrohung anderer Staaten gewaltsam zur Wehr setzen, weil sie von ihnen wirtschaftlich abhängig oder militärisch unterlegen sind. Ebenso lässt sich bezweifeln, dass es einen prinzipiellen oder begrifflich signifikanten Unterschied zwischen Waffengewalt und sogenannten friedlichen Mitteln gibt, auf andere Staaten Druck auszuüben. Insbesondere durch virtuelle Druckmittel verwischen in der Praxis die Unterschiede: Wenn es angeblich ein friedliches Druckmittel sein soll, gegen Staatsführer Sanktionen zu verhängen und ihre Konten zu sperren, die zu ihrem Privatvermögen gehören, ist dann das Ausspähen von Regierungs-Handys durch eingeschmuggelte Spionagesoftware oder ein Hackerangriff auf das Intranet eines Parlaments auch als friedliche Druck‐ maßnahme zu betrachten? Und wie steht es dann mit Hackerangriffen, die die Waffen eines Landes kapern und sie gegen eigene Ziele richten?2 Die erweiterte Friedensdiskussion behandelt individualethische und so‐ zialethische Aspekte der Konfliktaustragung, auch im nahen persönlichen Umfeld. Hierzu gehört der soziale Frieden in einer Gesellschaft, Frieden mit der Natur oder mit Tieren. Im Hinblick auf letztere hat Elizabeth Anderson die Ideologiegefahr des Friedensbegriffs spitz pointiert, die darin besteht, dass Frieden mit den Tieren sich dann realisieren lässt, wenn man sie in Gefangenschaft treibt.3 Nach Judith Butler sind Friedenszustände nur dann gewaltlos, wenn egalitär entschieden ist, wie der Gewaltbegriff 1 2 3

S. Kapitel 10. L. Ohly: Der europäische Raum und die Kriegsgefahren des virtuellen Raums, 289f. E. Anderson: Tierrechte und die verschiedenen Werte nichtmenschlichen Lebens, 309.

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überhaupt definiert wird.4 Denn ansonsten schreiben herrschende soziale Gruppen ihre Gewalt in diese Zustände ein, indem sie sie als Gewaltlosigkeit verschleiern.5 Wo dagegen Kreaturen in angeblich friedliche Rechtszustände gesetzt werden, ohne dass sie zur Wechselseitigkeit rechtlicher Achtung in der Lage sind, kaschiert man nach Anderson den Kriegszustand mit ihnen.6

Zur Textauswahl Die kirchlich mitorganisierte Friedensbewegung der DDR hatte sich mit dem Motiv „Schwerter zu Pflugscharen“ aus der vorliegenden Textstelle ihren Namen gegeben. Durch sie ist der Ausdruck politisch populär gewor‐ den.

Jes 2,1–5 1 Dies ist’s, was Jesaja, der Sohn des Amoz, geschaut hat über Juda und Jerusalem: 2 Es wird am Ende der Tage der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel sich erheben, und alle Heiden werden herzulaufen, 3 und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. 4 Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. 5 Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des HERRN!

Wenn am Ende der Tage der ewige Frieden kommt, reibt sich etwas. Denn am Ende kann niemand Frieden erleben, wenn die Weltgeschichte beendet ist. Verlangt der Frieden nicht gerade, dass sich die Weltgeschichte fortsetzt? Offenbar sieht der Prophet das Ende der Weltgeschichte zukommen. Aber er muss zugleich auch sehen, dass es danach doch weitergeht, und zwar 4 5 6

J. Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit, 76. A.a.O., 17. E. Anderson: Tierrechte und die verschiedenen Werte nichtmenschlichen Lebens, 306.

Jes 2,1–5

im ewigen Frieden. Oder anders ausgedrückt: Den ewigen Frieden gibt es nicht in unserer Weltgeschichte. Sondern die Zeit muss noch einmal neu entstehen. Erst wenn Gott die Welt zum zweiten Mal erschafft, wird ewiger Frieden sein. Der ewige Frieden ist einerseits eine schöne Vision. Andererseits ist es aber enttäuschend, dass er erst in einer neuen Schöpfung Gottes Platz hat. Kann er nicht schon früher beginnen? Vielleicht hat er aber auch schon begonnen, und wir haben es nur nicht gemerkt. Vielleicht begegnen wir doch auf Schritt und Tritt den Spuren des Friedens. Der Prophet scheint das jedenfalls so zu sehen. Menschen begegnen sich, sie begegnen fremden Völkern, und dadurch wird Frieden. Begegnungen haben eine friedensstiftende Macht. Auch wer Menschen begegnet, die er eigentlich nicht mag, spürt darin diese Macht des Friedens. Für den jüdischen Religionsphilosophen Emanuel Levinas beginnt der ewige Frieden nicht am Ende der Weltgeschichte, sondern wir begegnen immer schon dem ewigen Frieden. Selbst wo wir gegeneinander mit Gewalt vorgehen, spüren wir, dass wir eigentlich zueinander gehören und dass Gewalt falsch ist. Nach Levinas spüren wir nämlich, dass der andere Mensch unendlich wertvoll ist. Nur durch diese Begegnung mit dem unendlich wertvollen Anderen wissen wir, was Unendlichkeit bedeutet – und damit auch erst, was Ewigkeit bedeutet. Nehmen wir an, ein Mensch wäre allein auf der Welt. Ein solcher einsamer Mensch würde ziemlich hoffnungslos leben. Vor allem aber würde er nie von sich aus auf die Idee kommen, dass es mehr gibt als was er kennt. Die Hoffnung auf ein anderes Leben, der Glaube an Gott oder an ein besseres Leben könnte in einem solchen Menschen nicht entstehen. Denn ein solcher einsamer Mensch hat keine Möglichkeit, über das hinaus zu denken, als er selbst denkt. Ihm fehlt die Fähigkeit, zu denken, was andere denken. Er kann seinen eigenen Denkzuständen nie entkommen. Das ändert sich sofort, sobald wir einem anderen Menschen begegnen. Sobald ich einem anderen Menschen begegne, erkenne ich, dass das, was ich kenne, auch anders erlebt werden kann. Diese Horizonterweiterung ist eine absolute Neuentdeckung, nicht nur einfach eine Verdopplung möglicher Gedanken, sondern die völlige Neuheit, das Denken selbst zu denken. Und zwar nicht mein eigenes Denken, sondern das Denken überhaupt – eben in seiner unendlichen Erweiterung dessen, was nur ich denken kann, wenn ich einsam bin. Die Begegnung mit anderen Menschen bildet den Anfang unserer Hoffnungen und des Glaubens. Der andere Mensch, dem ich

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begegne, erweckt in mir die Ahnung, dass es unendlich viel mehr gibt, als ich kenne. Mit dem anderen Menschen entsteht die Ahnung von Ewigkeit, von Unendlichkeit und von Gott. Und nur mit dem anderen Menschen kann auch die Ahnung vom ewigen Frieden entstehen. Deshalb also geht die unendliche Würde des anderen Menschen uns immer schon voraus. Der ewige Frieden begegnet uns im anderen Menschen. Und weil das so ist, merken wir auch sofort, dass Gewalt gegen andere der falsche Weg ist. Denn Gewalt zerstört unseren Blick auf das Unendliche. Wenn sich Kinder streiten, und sich ein Kind dann verletzt, erschreckt sich das andere und äußert sofort, dass es das nicht wollte. Und wie ernst ist es Erwachsenen wirklich, wenn sie sich streiten, den Anderen zu verletzen? Was passiert meistens, wenn man sich über eine Person geärgert hat, und sie nun direkt begegnet? Vielleicht ist der Ärger noch vorhanden, aber es entsteht noch unendlich mehr. Oft fehlt jetzt der Mut, diese Person in einen Streit zu verwickeln. Oder allein die Begegnung ist beunruhigend. Vielleicht kommt es auch zur Aussprache, die aber das Verstehen der anderen Person erleichtert. Auch der eigene Gesichtsausdruck verändert sich, ohne dass man das bewusst steuert. Die andere Person lässt das alles entstehen, wie man sich jetzt fühlt und unmittelbar verhält. Der andere Mensch kommt uns zuvor, allein dadurch, dass er uns begeg‐ net. Diese Begegnung gewährt uns unendlich viele Eindrücke und leitet unser unmittelbares Verhalten. Mit dem anderen Menschen beginnt die Ahnung von Unendlichkeit. Das hat auch politische Konsequenzen: Man kann dem Menschenrecht nur widerstehen, wenn man vorher eingesehen hat, dass der andere Mensch Menschenrechte hat. Noch bevor Gewalt ausbrechen kann, fordert die Begegnung mit dem anderen Menschen das Gegenteil. Man kann den Frieden brechen, aber nur, weil die Begegnung vorher den ewigen Frieden offenbart hat. Aber gibt es nicht Menschen, die kein Gefühl für andere haben? Die meisten Menschen werden böse, weil sie niemandem mehr begegnen. Das gilt gerade auch für Diktatoren, dass sie sich isolieren. Würden Gewalthaber und Attentäter nicht einsam, isoliert oder in einer scharf abgegrenzten Clique leben, dann würden sie anderen Menschen begegnen. Wie aber könnte ein Mensch andere verdammen, denen er begegnet, wenn er von ihnen den unendlichen Horizont des Denkens empfängt? Gott teilt seinen ewigen Frieden mit durch die Begegnung mit anderen Menschen. Und wer mit Gewalt gegen andere vorgeht, spürt eigentlich, dass er etwas Falsches

Jes 2,1–5

tut. Die eigentliche Gefahr geht von den Menschen aus, die niemandem mehr begegnen. Gott aber wartet nicht, bis er ewigen Frieden aufrichtet. Sondern das Ende der Tage hat immer schon begonnen, noch bevor die Weltgeschichte begonnen hat. Gott hat in dieser Welt uns schon genug Weisung gegeben, damit wir im ewigen Frieden leben können. Gewalt ist eine Lüge, welche die unendliche Würde des anderen Menschen verachtet. Gott hat uns den ewigen Frieden geschenkt. Ihn zu bewahren, liegt jetzt in unserer Verantwortung, nachdem man ihn entdeckt hat. Biblische Alternativen Texte aus dem Alten Testament, die den Frieden („Shalom“) preisen, beschreiben ihn als eine göttliche Gabe. Hierzu gehören etwa der aaronitische Segen (4. Mose 6,26) oder auch Psalm- (z. B. Ps 4,9; 29,11; 85,9) und prophetische Texte (z. B. Jes 26,12; 60,17). Solche Texte gehen über einen politischen Gebrauch des Friedensbegriffes hinaus und beschreiben einen Zustand allgemeinen Wohlergehens. Die ethische Herausforderung eines solchen theologischen Friedensverständnisses besteht darin zu klären, welche menschliche Haltung ihm entspricht: Hat der Mensch keine Verantwortung, dem Frieden zu dienen, wenn dieser eine Gottesgabe ist? Oder wie hat der Mensch diesen Frieden zu empfangen und zu pflegen? Daneben wird der Friedensbegriff auch als politischer Gegenbegriff zum Krieg verwendet und setzt Verhandlungen mit einem Partner voraus (z. B. 5. Mose 20,10; Jos 9,15; Ri 4,17). Ein solcher Friedensbegriff schließt nicht aus, dass eine Seite von einem Gewaltherrscher unterdrückt wird (2. Sam 10,19). Der Friedensstatus als rechtlich bindendes Ergebnis faktischer Verhandlungen muss daher seinerseits noch ethisch beurteilt werden. Ist schon in ethischer Hinsicht Frieden, wenn er juristisch bindend ist, selbst wenn einer der Vertragspartner dazu gezwungen worden ist?

Literatur zur Vertiefung: D. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 26–35. – Der menschliche Geist muss durch die Begegnung mit einem Anderen an seine Grenze herangeführt werden, um die Bedeutung des Absoluten zu ermessen. Solange das Ich mit sich allein ist, denkt es

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zwar grenzenlos, ihm fehlt aber die Bedeutung des Absoluten. Die Schranke, die das Du in der Begegnung setzt, ist nämlich absolut unüberwindbar. Bonhoeffer verbindet sie deshalb mit Gott. E. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, 26–30. – In diesem kurzen Abschnitt stellt Levinas dar, dass ein Subjekt die Idee der Unendlichkeit nur vom Anderen empfangen und nicht aus sich selbst heraus entwickeln kann.

12 Migration Die Diskurslage Am Umgang mit Migranten zeigt sich, wie eine Gesellschaft Gleichheit und Ungleichheit vermittelt. Etliche evangelische Ethiker halten es im Anschluss an Luthers Zwei-Reiche-Lehre1 für erforderlich, dass ein Staat die Grenzen seiner Aufnahmekapazität von Flüchtlingen und Migranten festsetze. Denn er könne nur dann die universalen Menschenrechte in seinem Herrschaftsgebiet schützen, wenn er noch handlungsfähig sei und nicht über seine Belastbarkeit hinaus beansprucht werde. Die Universalität des Menschenrechts wird so an die Partikularität staatlichen Herrschafts‐ bereichs gebunden.2 Andere Theologen ziehen interne Unterscheidungen ein, etwa zwischen Flucht und Migration,3 um auf diese Weise Gleichheit und Ungleichheit zu vermitteln: Jeder Mensch hat dann zwar das Recht, in Notlagen als Flüchtling anerkannt zu werden, aber nicht alle haben auch ein Migrationsrecht. Der Unterschied zeigt sich in der Praxis daran, dass Flüchtlinge im Aufnahmeland in der Regel kein Recht auf Freizügigkeit haben. Oftmals müssen sie in Aufnahmezentren oder Flüchtlingslagern verharren, bis über die Dauer ihres Bleibestatus entschieden worden ist. Eine andere interne Unterscheidung besteht darin, die Grenze der staat‐ lichen Belastbarkeit nicht einfach als gegeben zu unterstellen, sondern vom politischen Diskurs abhängig zu machen, der wiederum prinzipiell unab‐ geschlossen ist.4 Dadurch ergeben sich Verflüssigungen fester Strukturen, um Benachteiligungen von Flüchtlingen und Migranten aufzuheben. Denn solange man den Status von Flüchtlingen, Migranten und Staatsbürgern unterscheidet, können Ressentiments gefördert werden, die Migranten von Zugängen zu sozialen Ressourcen ausschließen, auf die sie eigentlich ein Recht haben (Wohnungen, Arbeitsplätze).5 Fiktionen eines angeblich homogenen Volks stigmatisieren Migranten und ihre Nachkommen als 1 2 3 4 5

Kapitel 9. R. Anselm: Ethik ohne Grenzen? 164. W. Huber: Moralischer Impuls und rechtliche Differenzierung, 249. U.H.J. Körtner: Gesinnungs- und Verantwortungsethik in der Flüchtlingspolitik, 283. K. Huizing: Scham und Ehre, 431. Th. Moos: Moralisches Unbehagen, 258f. St. Silber: Postkoloniale Theologien, 29.

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fremd und gefährlich.6 Starke Gegenbilder wie die des Weltbürgertums (Kosmopolitismus7) halten dann die Status-Debatte offen.

Zur Textauswahl Zum ersten Mal wird hier in der Bibel berichtet, dass ein Erzvater Israels Land erworben hat, und zwar auf demselben Boden, den Gott seinem Volk geben wird, im Lande Kanaan. Der neue Eigentümer ist aber der heimatlose Abraham. Mit der Erzählung wird der Besitzanspruch eines Fremdlings in Kanaan markiert.

1. Mose 23 1 Sara wurde hundertsiebenundzwanzig Jahre alt 2 und starb in Kirjat-Arba – das ist Hebron – im Lande Kanaan. Da kam Abraham, dass er sie beklagte und beweinte. 3 Danach stand er auf von seiner Toten und redete mit den Hetitern und sprach: 4 Ich bin ein Fremdling und Beisasse bei euch; gebt mir ein Erbbegräbnis bei euch, dass ich meine Tote hinaustrage und begrabe. 5 Da antworteten die Hetiter Abraham und sprachen zu ihm: 6 Höre uns, Herr! Du bist ein Fürst Gottes unter uns. Begrabe deine Tote in einem unserer vornehmsten Gräber; kein Mensch unter uns wird dir wehren, dass du in seinem Grabe deine Tote begräbst. 7 Da stand Abraham auf und verneigte sich vor dem Volk des Landes, vor den Hetitern. 8 Und er redete mit ihnen und sprach: Gefällt es euch, dass ich meine Tote hinaustrage und begrabe, so höret mich und bittet für mich Efron, den Sohn Zohars, 9 dass er mir gebe seine Höhle in Machpela, die am Ende seines Ackers liegt; er gebe sie mir gegen Geld, soviel sie wert ist, zum Besitz des Grabes unter euch. 10 Efron aber saß unter den Hetitern. Da antwortete Efron, der Hetiter, dem Abraham vor den Ohren der Hetiter, vor allen, die beim Tor seiner Stadt versammelt waren, und sprach: 6 7

T. Ogette: exit Racism, 55. I. Kant: Über den Gemeinspruch, 21.

1. Mose 23

11 Nein, mein Herr, sondern höre mir zu! Ich schenke dir den Acker und die Höhle darin und übergebe dir's vor den Augen der Söhne meines Volks, um deine Tote dort zu begraben. 12 Da verneigte sich Abraham vor dem Volk des Landes 13 und redete mit Efron, sodass das Volk des Landes es hörte, und sprach: Willst du ihn mir lassen, so höre mich, ich werde Geld geben für den Acker, nimm es, und ich will ich meine Tote dort begraben. 14 Efron antwortete Abraham und sprach zu ihm: 15 Mein Herr, höre mich doch! Das Feld ist vierhundert Lot Silber wert; was ist das aber zwischen mir und dir? Begrabe deine Tote! 16 Abraham hörte zu Efron und wog ihm die Summe dar, die er genannt hatte vor den Ohren der Hetiter, vierhundert Lot Silber, (ein Preis, der) beim Handel umherging. 17 So wurde Efrons Acker in Machpela östlich von Mamre Abraham zum Eigentum bestätigt, mit der Höhle darin und mit allen Bäumen auf dem Acker umher, 18 vor den Augen der Hetiter und aller, die beim Tor seiner Stadt versammelt waren. 19 Danach begrub Abraham Sara, seine Frau, in der Höhle des Ackers in Machpela östlich von Mamre, das ist Hebron, im Lande Kanaan. 20 So wurden Abraham der Acker und die Höhle darin zum zum Besitz des Grabes bestätigt von den Hetitern.

Diese Bibelstelle ist deshalb für Israel von besonderer Bedeutung gewesen, weil der Flüchtling Abraham Landbesitz erwirbt – und ihn damit auch an seine Nachkommen vererbt. Öfter wird im Alten Testament erwähnt, dass das Volk Israel Fremdling gewesen sei. Mit der Grabeshöhle für Sara erwirbt Abraham aber nun immerhin ein Landstück. Und diese Textstelle betont den offiziellen Charakter dieses Erwerbs: „So wurden Abraham der Acker und die Höhle darin zum zum Besitz des Grabes bestätigt von den Hetitern.“ Was wäre gewesen, wenn Abraham nicht so viel Ansehen bei den Hetitern gehabt hätte und nicht als „Fürst Gottes unter uns“ verehrt worden wäre? Hätte er dann trotzdem noch seinen Flüchtlingsstatus aufheben und Besitz erwerben können? Immerhin besitzt Abraham Geld und ist wohlhabend. Und er besteht darauf, für den Acker auch zu bezahlen, den ihm Efron zuerst unentgeltlich überlassen hätte. Wer nicht verehrt wird, könnte immerhin gegen Geld im fremden Land Besitz erwerben. Und indem Abraham auf

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Bezahlung besteht, sichert er sich seinen Statuswechsel, nicht nur aus Gnaden eines gastfreundlichen Volkes dort wohnen zu dürfen. Vor allem aber wird dieser Handel vor dem Stadttor vollzogen, wo „das Volk des Landes es hörte“ und wo nach damaligem Brauch gerichtliche Ver‐ handlungen abgehalten wurden. Der Besitzerwerb wird rechtlich offiziell bestätigt. Der Frankfurter Philosoph Axel Honneth hat drei Formen zwischen‐ menschlicher Anerkennung ausfindig gemacht, die Menschen brauchen, um sich als vollwertige Mitglieder in einer Gemeinschaft zu verstehen. Und alle drei Formen zeigen sich auch hier: Menschen müssen in ihrer individuellen Besonderheit wertgeschätzt und somit geehrt werden („Fürst Gottes unter uns“). Sie erfahren in ihrem sozialen Nahraum Liebe (Abraham war mit Sara verheiratet und hatte mit ihr Kinder) und werden vor dem Recht als gleich anerkannt (der Kaufvertrag am Stadttor). Es kann sein, dass ein Mensch zwar nicht geliebt und geehrt wird, aber rechtlich gleichbehandelt wird. Das dürfte wohl auch auf die meisten Flüchtlinge zutreffen, deren Kultur oft befremdet, die ohne Besitz ins Land kommen und in vielen Fällen nicht einmal für ihre beruflichen Abschlüsse Wertschätzung erfahren. Dennoch verdienen sie, als Menschen wie alle Menschen behandelt zu werden. Wenn Abraham also kein Geld gehabt hätte und wenn er nicht als „Fürst Gottes“ verehrt worden wäre, hätte er wenigstens noch das Recht gehabt, menschlich behandelt zu werden. Und darauf beharrt Abraham: Er will einen rechtlich bindenden Kaufvertrag abschließen. Er will mit dem Acker das Wohn- und Bleiberecht erwerben. Und dazu steht er mit Efron an der Gerichtsstätte am Tor, damit „das Volk des Landes es hörte“ und er somit allgemeine rechtliche Anerkennung verdient, wie alle anderen behandelt zu werden. Die Politologin Hannah Arendt nannte diese Anerkennungsform das „Recht, Rechte zu haben.“8 Auch ungeliebte Flüchtlinge, die man nicht für den Arbeitsmarkt braucht oder nicht willkommen heißt, weil man nicht auf sie gewartet hat, sollen selbst mit ihren leeren Händen das Recht auf Rechte haben. Hannah Arendt hat gezeigt, dass in Unrechtsregimen das Recht nur oberflächlich besteht: Wer ungerecht behandelt wird, kann dort zwar durchaus vor einem Gericht klagen. Aber im Unrechtregime werden Gerichtsverhandlungen einfach immer weiter hinausgezögert.9 Und 8 9

H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 614. A.a.O., 527.

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allein weil man klagt, macht man sich verdächtig, bis man irgendwann im Morgengrauen von der Geheimpolizei abgeholt wird. Arendts Beschreibung weckt Assoziationen an gegenwärtige Flüchtlingsregeln der Europäischen Union, in der sich Staaten für nicht zuständig erklären, wenn ein Flüchtling sein Recht einfordert. Die Nichtzuständigkeit, weil der Flüchtling angeblich seinen Fuß zuerst auf einen anderen europäischen Staat gesetzt hat, erzeugt rechtslose Zustände, in denen das Gesetz nur oberflächlich gilt, man aber im Dunklen bereits die Abschiebung plant. Deshalb betont Arendt das „Recht, Rechte zu haben.“ Der Mensch hat das Recht, allein weil er Mensch ist, dass der Staat auch ihn berücksichtigt, ohne einen Unterschied zu machen. Dieses Recht ist die Bedingung für die Ver‐ lässlichkeit aller anderen Anerkennungsformen. Und es ist die Bedingung für einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen. Dagegen könnte sich die Bevölkerung eines Aufnahmelandes überfor‐ dern, wenn sie aus Gründen der Liebe und Ehre Flüchtlinge willkommen heißen soll. Es mag sich zwar herausstellen, dass eine geflüchtete Person ein „Fürst Gottes“ ist oder dass man mit ihr gute Geschäfte machen kann. Aber eine pauschale „Willkommenskultur“ suggeriert, man müsse sich über den Zuzug von Flüchtlingen freuen. Abraham will sich darauf nicht verlassen. Nicht weil er verehrt wird, sondern weil er Rechte hat, will er aufgenommen werden. Der Verkäufer Efron hat es vielleicht sogar noch deutlicher gesehen als Abraham selbst: Denn hätte Abraham eben kein Geld besessen, so hätte er dennoch das Recht haben sollen, eine Grabstätte für Sara in Besitz zu nehmen. Nun garantiert das Recht noch keinen menschengerechten Umgang. Hannah Arendt hat herausgestellt, wie sehr sich das Recht beugen lässt. Und es ist eine Grundlage christlicher Lehre, vor allem von Paulus, dass die Sünde durch das Gesetz noch mächtiger wird (Röm 5,20). Wenn der sündige Mensch auf das Recht trifft, verliert das Recht. Insofern kann es nicht garantieren, dass Flüchtlinge gerecht behandelt werden. Das Flüchtlingsrecht ist zudem ein Ausnahmerecht. Denn Flüchtlinge sind im Aufnahmeland keine Staatsbürger. Gesetze machen sie nicht einfach gleich, sondern halten sie auch ungleich. Das „Recht, Rechte zu haben“, ist nicht der Zielpunkt einer menschengerechten Gesellschaft, aber der not‐ wendige Startpunkt, und zwar deshalb, weil sich rechtlich flexibel die beiden anderen Anerkennungsformen organisieren lassen. Empfängt ein Flüchtling Liebe und heiratet im Aufnahmeland, kann er ein Bleiberecht erwirken. Die wechselseitige Liebe ermöglicht einen Statuswechsel. Und wenn eine

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12 Migration

geflüchtete Person verehrt wird oder eine verlässliche Geschäftspartnerin ist, kann ihr das Recht einen Bleibestatus zugestehen, um ebenso die Ge‐ schäfte verlässlich zu sichern. Das Recht, das wechselseitige Anerkennung unter Gleichen organisiert, ermöglicht damit auch, dass Flüchtlinge nicht Flüchtlinge bleiben müssen. Ihr Status kann wechseln, wenn sie durch andere wechselseitige Anerkennungsformen eingebunden werden. Das heißt also nicht, dass alle Flüchtlinge immer gleiche Rechte besitzen, dauerhaft bleiben zu dürfen. Das Recht schützt vielmehr die Möglichkeit, dass sich die Anerkennung zwischen Staatsbürgern und Flüchtlingen wech‐ selseitig weiterentwickeln kann. Das Recht, Rechte zu haben, legt auf die Entwicklung wechselseitiger Anerkennung wert. Deshalb liegt der Schwerpunkt des Flüchtlingsrechts nicht in der Frage, ob jemand bleiben oder zur Ausreise gezwungen werden darf, sondern darin, ob er das Recht hat, seinen Status in der weiteren Entwicklung zu ändern: vom Flüchtling zum Eigentümer, Ehemann und Vater, Unternehmer und Geschäftsmann und zum Vertreter politischer Mitbestimmung. Biblische Alternativen Das Alte Testament betont, dass zur Identität des Volkes Israels gehört, einst Fremdling gewesen zu sein (z. B. 2. Mose 22,20; 5. Mose 23,8). Der Urenkel Abrahams, Josef, wird als Sklave nach Ägypten verkauft und avanciert dort zum zweithöchsten Mann des Staates (1. Mose 37-50). Fremdling zu sein und nicht die Rechte eines Bürgers des Landes zu haben, schließt in diesen Texten die Chance ein, dass jemand seinem niedrigen Status mit Gottes Hilfe entkommen kann. Zudem genießen die Fremdlinge zumindest Schutzstatus. Als Migrantin in Israel wird Rut unter den Segen Gottes gestellt und als eine Vorfahrin des Königs David beschrieben (Rut 4,17). Israels Selbstverständnis, eingewandert zu sein und dabei einen Statuswechsel errungen zu haben, unterscheidet sich vom Selbstverständnis der Nachbarvölker, die ihr Land als ewigen Besitz verstanden haben (Autochthonie). Ethisch zu klären ist bei diesen Texten, wie sich der Status von Migran‐ ten verbessern kann, ohne dass sie entweder Gewalt ausüben und andere Völker unterdrücken oder umgekehrt ihre Unterwerfung unter ihnen fremde Kulturen erdulden. Die Landnahmeerzählungen Israels sind von kriegerischer Gewalt und Völkermorden geprägt. Umgekehrt scheint sich Rut damit abzufinden, ihre Kultur und sogar Religion opfern zu

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müssen (Rut 1,16), um im fremden Land unter anerkannten Schutzstatus gestellt zu werden (3,11f). Und auch Josef entkommt der Gefangenschaft nur durch einen individuellen göttlichen Eingriff. Welche allgemeinen ethischen Haltungen lassen sich aus diesen Texten zum Umgang mit Migranten entwickeln? Oder beschreiben sie etwa unübertragbare Ein‐ zelfälle ohne ethische Qualität?

Literatur zur Vertiefung: A. Honneth: Kampf um Anerkennung, 149–211. – Hier entfaltet Honneth seine Theorie der drei Ebenen sozialer Anerkennung, wie sie für die persönliche Identitätsbildung notwendig sind. J. Habermas: Faktizität und Geltung, 155–165. – Habermas begründet fünf Grund‐ rechte des Menschen, die zu einer flexiblen demokratischen Rechtsentwicklung führen und zu einem offenen Staatsbürgerrecht. Unter der Bedingung der wech‐ selseitigen Anerkennung ihrer Interessen können Migranten als vollwertige Mitglieder in die Rechtsgemeinschaft aufgenommen werden. A. v. Scheliha: Migration in ethisch-religiöser Reflexion, 78–98. – Von Scheliha unterscheidet zwischen der staatlichen Pflicht, Flüchtlinge „quotenfrei“ aufzu‐ nehmen, und Migration. Gesellschaftliche Integration ist nicht mit dem Flücht‐ lingsstatus gegeben. Allerdings verlangt die Menschheitsgeschichte, die immer auch eine Geschichte der Migration ist, dass der Staat sich dafür offen halten muss, einwanderungswilligen Menschen ein dauerhaftes Bleiberecht zu geben.

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13 Anerkennung Die Diskurslage Axel Honneth1 hat ethische Konflikte als Kämpfe um Anerkennung be‐ schrieben. Menschen sind davon abhängig, dass andere sie in ihrer persön‐ lichen Identitätsbildung unterstützen, so dass sie sich erstens als Autoren ihres eigenen Lebens vertrauen können, zweitens als Gleiche unter Gleichen und drittens als Individuen mit besonderen Fähigkeiten, die der Wertschät‐ zung würdig sind. Dementsprechend können Menschen in ihrer Identität verletzt werden, wenn ihnen auf einer der drei Ebenen die Anerkennung ver‐ weigert wird oder wenn sie sogar vorsätzlich auf den Anerkennungsebenen Missachtung erfahren. In manchen Situationen konkurrieren aber die drei Ebenen miteinander, so dass die Anerkennung auf der einen Ebene zu Lasten der Anerkennung auf einer anderen Ebene erfolgen kann.2 Anscheinend hat Honneth nicht im Sinn, den fallbezogenen Konflikt um den Vorrang der Ebenen selbst über Anerkennung zu lösen, obwohl der Diskurs, den er hierzu als Lösungsprozedur vorschlägt,3 seinerseits von der Ebene der Gleichheit abhängt. In Weiterführung hat Honneths Schüler Rainer Forst auf Grundlage der Gleichheit aller Menschen ein Gerechtigkeitsverständnis entwickelt,4 das Differenzen der Bedarfe von Anerkennung mit einbezieht.5 In diesen Konzepten bleibt offen, wie Menschen dazu motiviert werden, einander auf diesen Ebenen anzuerkennen. Anerkennung wird auf Aner‐ kennungspflicht und auf die Reichweite dieser Pflicht fokussiert. Um die Motivationsfrage zu beantworten, findet der Theologe Johannes Fischer in der Anerkennung eine Kreativität, die dasjenige erschafft, was sie aner‐ kennt.6 Sie wird weder beliebig vergeben noch durch Gründe erzwungen, sondern ereignet sich in der jeweiligen konkreten Wahrnehmung,7 wie sie durch soziale Kontexte sensibilisiert ist.8 Theologisch könnte man auch 1 2 3 4 5 6 7 8

Kapitel 12. A. Honneth: Das Andere der Gerechtigkeit, 189. A.a.O., 190. R. Forst: Toleranz im Konflikt, 500. A.a.O., 684ff. J. Fischer: Verstehen statt Begründen, 83. A.a.O., 101. A.a.O., 96.

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von einer unmittelbaren Anerkennung dessen sprechen, was Menschen in bestimmten Situationen aneinander bindet und zugleich über diese Situationen hinausweist. Diese Bindungskraft lässt sich der christlichen Rede vom Heiligen Geist zuordnen.9 Apg 10,44–48

Zur Textauswahl Ein zentrales Motiv biblischer Erwählungserzählungen besteht darin, dass nicht menschliche Leistungen oder traditionelle Vorrechte darüber entscheiden, ob jemand vor Gott und dann auch vor Menschen anerkannt wird. In der vorliegenden Sequenz entscheidet aber auch nicht göttliche Willkür über zwischenmenschliche Anerkennung. Vielmehr wird ein viel‐ schichtiger Prozess beschrieben, der aus einer günstigen kommunikativen Gemengelage Anerkennung befördert.

44 Während Petrus noch diese Worte redete, fiel der Heilige Geist auf alle, die dem Wort zuhörten. 45 Und die gläubig gewordenen Juden, die mit Petrus gekommen waren, gerieten außer sich, weil auch auf die Heiden die Gabe des Heiligen Geistes ausgegossen wurde; 46 denn sie hörten, dass sie in Zungen redeten und Gott hoch priesen. Da antwortete Petrus: 47 Kann auch jemand denen das Wasser zur Taufe verwehren, die den Heiligen Geist empfangen haben ebenso wie wir? 48 Und er befahl, sie zu taufen in dem Namen Jesu Christi. Da baten sie ihn, noch einige Tage dazubleiben.

Zweifellos können Menschen ergriffen sein und stehen dann neben sich. Sie können in Ekstase geraten und merken dann vieles nicht mehr, was in ihnen vorgeht. Menschen in Ekstase spüren sogar keine Schmerzen mehr, die sie gerade haben müssten.

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L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, 93.

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13 Anerkennung

In allen Religionen wird diese Ergriffenheit deshalb auch mit einer Gottesbegegnung in Beziehung gebracht. Wer sich nicht mehr selber spürt, sondern in ganz andere Sphären entrückt wird, scheint dabei dem Göttlichen besonders nahe zu kommen. Jedenfalls hatten auch Christen in solchen ekstatischen Momenten das Gefühl, dass Gott ihnen etwas Neues sagt, was er bisher noch nie offenbart hatte. Ob das wirklich so ist, soll nun an dieser Bibelstelle überprüft werden: Sind also solche Momente der Ergriffenheit ein Grund dafür, eine neue göttliche Weisung anzuerkennen? Und was folgt daraus für die Anerkennung der Mitmenschen als moralischen Subjekten oder für ihren gleichen sozialen Status? Für die ersten Christen, die Juden waren, war es bereits eine Neuheit anzu‐ erkennen, dass auch Heiden Christen sind und getauft werden dürfen. Dieser kurze Text aus der Apostelgeschichte wimmelt von Anerkennungsakten: Die jüdischen Christen erkennen die Heiden als Christen an. Sie erkennen auch die Gründe an, weshalb die Heiden Christen sind, nämlich weil sie in Zungen reden können (also in einer Phantasiesprache, die man durch pure Begeisterung spricht) und Gott loben. Auch dass Heiden überhaupt Gott loben, setzt voraus, dass sie ihn anerkennen. Durchgehend wiederholt sich in der Geschichte das Motiv der Anerkennung: Schließlich erkennt auch Petrus an, wovon er eben überzeugt wurde, nämlich dass die gläubigen Heiden getauft werden müssen. Worauf kommt es hier an? Etwa darauf, dass Menschen in Ekstase gerieten und dabei Gottes Ratschluss direkt empfunden haben, oder, dass Menschen einander als Christen anerkannt haben? Ekstase ist unter vielen Christen ein umstrittenes Phänomen. Erregt der Heilige Geist wirklich Menschen auf diese Weise? Müssen Christen etwa sogar so stark ergriffen sein, damit sie wissen, dass Gottes Geist über sie gekommen ist? Ich glaube nicht, dass sie das müssen. Der Heilige Geist ist kein Gesetz, das wir befolgen müssten, und macht sich auch nicht selbst einem solchen, das er befolgen müsste, etwas so, dass er Menschen zur Zungenrede erregen müsste, damit seine Bindungskraft Anerkennung verdient. Dennoch bleibt die Frage, wie sich Ekstase und Anerkennung zueinander verhalten. Soll die primäre Wirkung des Heiligen Geistes darin bestehen, dass Christen so sehr ergriffen sein müssen, dass sie neben sich stehen? Oder soll seine primäre Wirkung darin bestehen, dass Menschen Gott anerkennen und auch die anderen Christen anerkennen? Im Kleinen Katechismus betont Luther die Bekenntnisaussage, dass der Heilige Geist den Glauben bewirke (2. Kor

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4,13).10 Aber heißt das, dass er Ekstase bewirkt? Oder bewirkt er Glauben als Anerkennung? Anscheinend hat die Anerkennung eindeutig Vorrang vor der Ekstase. Dafür kommt Anerkennung schon in diesem Text viel zu häufig vor. Ekstase kommt auch vor, aber längst nicht so eindeutig wie die Anerkennung. Es ist bereits nicht klar, wer hier eigentlich so ekstatisch ergriffen ist. „Während Petrus noch diese Worte redete, fiel der Heilige Geist auf alle, die dem Wort zuhörten.“ Was da genau passiert ist, erfährt man zunächst nicht. Es wird nicht gesagt, dass alle Zuhörer ergriffen waren. Vielleicht sind sie von der Predigt des Petrus auch einfach überzeugt worden. Vielleicht waren sie auch einfach „begeistert“, ohne gleich außer sich zu geraten und neben sich zu stehen. Ein vernünftiger Glaube kann von Menschen persönlich verantwortet werden. Wenn sie dagegen neben sich stehen, haben sie ihre Mitte so sehr verloren, dass sie nicht einmal mehr ihre Schmerzen spüren. Es kann daher nicht einmal wünschenswert sein, wenn Christen nur dann an Gott glauben, wenn sie in Ekstase geraten. Petrus übrigens scheint einen kühlen Kopf behalten zu haben und trifft jetzt eine verantwortliche Entscheidung: Er hat auch die anderen als Christen anzuerkennen. Es ist aber auch nicht schlimm, wenn man ab und zu in Ekstase gerät – solange man dabei nicht sich selbst oder andere in Gefahr bringt. Ekstase kann in manchen Fällen sogar helfen, Menschen anzuerkennen, denen man bisher die Anerkennung versagt hat. Hier werden interessanterweise die jüdischen Christen genannt, dass sie in Ekstase geraten, also diejenigen, die schon gläubig waren, so dass sie auch die heidnischen Gläubigen als Christen anerkennen können. Wir erfahren dagegen nicht, dass die Heiden wirklich in Zungen redeten. Vielmehr erfahren wir, dass die jüdischen Christen dass so hörten: „Denn sie hörten, dass (die Heiden) in Zungen redeten und Gott hoch priesen.“ Doch was die jüdischen Christen hörten, könnte auch eine Verwechslung gewesen sein, nämlich dass in Wirklichkeit sie selbst verzückt in Zungen redeten. Denn wenn man in Ekstase gerät, kann man eben nicht mehr scharf unterscheiden zwischen sich selbst und den anderen. Die Grenzen verschwimmen. Das deutsche Wort „außer sich geraten“ trifft es genau: Ich stecke in Ekstase nicht mehr in mir selbst, sondern bin mit meiner Umgebung eins geworden. Ich fühle nicht mehr meine Schmerzen, sondern 10

BSLK, 512.

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bin von allem betroffen, was um mich herum geschieht. Ich bin ergriffen von allem – und gerate selbst dabei in den Hintergrund. Es kann also sein, dass die jüdischen Christen sich selbst mit den Heiden verwechselt haben. Und in Wirklichkeit hätten gar nicht die Heiden in Zungen geredet, sondern es wären die Juden gewesen. Aber weil sie in Ekstase alles betroffen macht, sind die Grenzen gefallen zwischen Juden und Heiden. Beide vormals getrennten Gruppen bilden eine Einheit, weil sich alles miteinander vermischt. Und indem diese Einheit entsteht, erkennen sich Menschen als Gleiche an. Das ist die klare Pointe dieser biblischen Geschichte. Ekstase kann dabei helfen, weil bei ihr die Grenzen zu den Mitmenschen fallen. Aber andere Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass sie auch dann noch anerkannt sind, wenn wir nicht in Ekstase sind. Die christliche Gemeinschaft muss auch beständig bleiben, wenn es ruhig und vernünftig zugeht. Man kann übrigens durchaus auch daran zweifeln, dass Ekstase immer eine göttliche Offenbarung ist und immer zur Anerkennung Gleicher führt. Soldaten können im Blutrausch viele Menschen bestialisch töten, ohne dass das kriegsstrategisch sinnvoll wäre. In charismatischen Heilungsgot‐ tesdiensten kann es passieren, dass mehr Gläubige durch die Massenhysterie totgetrampelt werden, als dort Menschen geheilt werden. Nicht immer, wenn wir neben uns stehen, hat uns der Heilige Geist ergriffen. Selbst die Bibel spottet über Propheten anderer Götter, die mit ihrer Ekstase überhaupt nichts Sinnvolles erreicht haben (z. B. 1. Kön 18,28f). Ob eine Ekstase durch Gott erregt wird, muss sich daher an einem Kriterium ablesen lassen, das man nicht selbst durch Ekstase empfängt, sondern nüchtern begreifen kann. Aus dieser Geschichte lässt sich das folgende Kriterium festlegen: Wenn sich Menschen friedlich verbinden, dann hilft dabei die Ekstase, da in ihr die Grenzen zwischen hier und dort, zwischen uns und den anderen fallen. Wo dagegen Ekstase zum Gesetz gemacht wird, um andere auszuschließen, widerspricht das dem Wirken des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist führt dazu, dass sich Menschen ihre vollen Rechte anerkennen. Aber sobald sich Menschen die Rechte der anderen aberkennen und sie ausgrenzen, widerspricht das sowohl der göttlichen Ekstase als auch dem Wirken des Heiligen Geistes. Was manche Menschen in Ekstase erleben, ist dann aber auch vernünftig klarzustellen: Der Heilige Geist will die Öffnung zu den anderen Menschen. Er schließt andere ein und führt dazu, dass sie sich anerkennen. Es ist ein tiefes und beeindruckendes Erlebnis, ergriffen zu sein. Und wenn der Heilige

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Geist Menschen so stark ergreift, mag man sie vielleicht sogar beneiden. Aber wichtiger als das ist die nachhaltige Wirkung des Geistes, an der alle teil haben, ob wir ergriffen sind oder nüchtern. Biblische Alternativen Die Erwählungsgeschichten vor allem des Alten Testaments beto‐ nen Gottes Freiheit gegenüber konventionellen Anerkennungsformen: Nicht dem ältesten Sohn, sondern dem, dem Gott ins Herz schaut (1. Sam 16,7), schulden Menschen besondere Wertschätzung. Dies trifft beispielsweise auf Isaak, Jakob, Josef, Mose und David zu, ebenso bei etlichen Berufungserzählungen auf die Propheten. Warum Abraham von Gott auserwählt wird, wird nicht durch eine Eigenschaft des Erzvaters begründet. Vielmehr folgt Abrahams Treue seiner Erwählung nach. Ähnlich dazu wird die Erwählung des Volkes Israel allein mit Gottes Liebe gerechtfertigt (5. Mose 7,8). Gottes Erwählungsfreiheit setzt sich bei Jesus fort, der seine Jünger nicht nach deren Begabungen beruft, sondern ihnen umgekehrt durch ihre Beauftragung zu dem befähigt, wozu sie beauftragt werden (Lk 5,10; Joh 1,48–51). Die anerkennungsethische Herausforderung solcher Texte besteht darin, die Treue Gottes mit seiner Erwählungsfreiheit zu verbinden, damit Gottes Anerkennung nicht als Willkürakt missverstanden wird. Ebenso ist im Blick zu behalten, dass mit Gottes besonderen Erwäh‐ lungen keine Abwertung anderer Personen oder Personengruppen verbunden ist. So wird beispielsweise ausdrücklich beschrieben, dass Gott die älteren Brüder, die im Vergleich zu ihren konventionellen Ansprüchen zurückgesetzt worden sind, mit Fürsorge (Ismael), Reich‐ tum (Esau) und Segen (Josefs Brüder) ebenso besonders anerkennt. Das biblische Motiv der Völkerwallfahrt zu Zion verbindet zudem ein differenziertes Verhältnis zwischen der besonderen Bedeutung Israels und einem theologischen Internationalismus. Eine anerkennungstheoretisch beachtenswerte Begegnung ist die zwi‐ schen Lydia und Paulus (Apg 16, 14–15). Nachdem Lydia von ihm getauft worden ist, „nötigte“ sie ihn, mit ihm zu essen. Damit erzwingt sie die Anerkennung wechselseitiger Bindung zwischen Christen, die offenbar

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nicht von Sympathie geprägt sein muss.11 Hier ist herauszuarbeiten, welche atmosphärischen Bindungskräfte eine verlässliche Wechselsei‐ tigkeit verbürgen können, wenn herzliche Geschwisterlichkeit nicht vorliegt.

Literatur zur Vertiefung: L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, 84–95. – In diesem Buch rekonstruiere ich den Zusammenhang zwischen dem Wirken des Heiligen Geistes und der zwischenmenschlichen Anerkennung, die darin besteht, dass wir anerkennen, dass und welche anderen Menschen geistlich mit uns verbunden sind. Geistliche Verbundenheit ist dabei nicht abhängig von unserem Willen. Die Anerkennung anderer folgt vielmehr ihrer Anwesenheit nach. In der vorgeschlagenen Textpas‐ sage wende ich diese Einsicht auf die Frage an, ob Christen bessere Menschen sind als Nicht-Christen.

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L. Ohly: Dogmatik in biblischer Perspektive, 215.

14 Gerechtigkeit Die Diskurslage Seit dem aristotelischen Grundsatz scheint Gerechtigkeit mit einem Aus‐ gleich zu tun zu haben, nämlich Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.1 Allerdings lässt dieser Grundsatz völlig unklar, worin der Aus‐ gleich bestehen soll, beziehungsweise setzt voraus, was er begründen will, nämlich dass sich eine Gleichbehandlung überhaupt rechnerisch darstellen lässt.2 Sollen gleiche Leistungen gleich entlohnt,3 gleiche Bedürfnisse gleich befriedigt werden,4 oder sollen alle Menschen trotz ihrer Unterschiede eine gleichberechtigte Stimme im politischen Diskurs haben?5 Einen anderen Ansatz, der Gerechtigkeit unabhängig von Gleichheit bestimmt, verfolgen Martha Nussbaum und Amartya Sen mit ihrem Modell der Befähigungsgerechtigkeit.6 Danach ist es gerecht, miteinander so zu kooperieren, dass Menschen ihre Chancen und Befähigungen für ihre Lebensführung nutzen können, wie sie sich das wünschen. Weder erfordert dieser Ansatz, dass die Chancen auch wirklich genutzt werden, noch, dass alle Menschen gleiche Chancen haben.7 Allerdings liegt auch diesem Ansatz der Gleichheitsgrundsatz zugrunde, nämlich dass alle Menschen gleich zählen, um in ihrer Unterschiedlichkeit alle gerecht berücksichtigt zu werden. Um einen Ausgleich herzustellen, muss also in all diesen Modellen ein Vergleichssystem geschaffen werden. Die Sektionen dieses Kapitels machen dagegen auf andere biblische Schwerpunkte des Gerechtigkeitsbegriffs aufmerksam, indem ihre bibli‐ schen Textgrundlagen Unvergleichliches aufeinander beziehen. Am An‐ wendungsfall der Geschlechtergerechtigkeit soll aufgezeigt werden, dass Gleichheit oder Ausgleich nicht als Kriterium für Gerechtigkeit überzeugt.

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Aristoteles: Nikomachische Ethik, V, 1131a. L. Ohly: Gerechtigkeit und gerechtes Wirtschaften, 93ff. A. Smith: Theorie der ethischen Gefühle, 131. K. Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, 21. E.S. Anderson: Warum eigentlich Gleichheit?, 120. M. Nussbaum: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, 190 ff. A. Sen: Die Idee der Gerech‐ tigkeit, 259ff. A. Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, 260.

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14 Gerechtigkeit

Zur Textauswahl Die vorliegenden Texte lassen Gerechtigkeit mit Gleichheit in ein Konflikt‐ verhältnis münden. Es wird damit angezeigt, dass Gerechtigkeit eine kom‐ plexere Herausforderung an Menschen stellt, als nur Gleichheit zwischen ihnen herzustellen. Zum Schluss des Kapitels nehme ich umgekehrt einen Text auf, der die Gleichheit von offensichtlich ungleichen Personengruppen betont. Auch hier reiben sich Gerechtigkeit und Gleichheit.

14.1 Vergleiche führen zur Ungerechtigkeit (Mt 20,1–16) 1 Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. 2 Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. 3 Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen 4 und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was gerecht ist. 5 Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. 6 Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? 7 Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. 8 Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. 9 Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. 10 Als aber die ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen. 11 Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn 12 und sprachen: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.

14.1 Vergleiche führen zur Ungerechtigkeit (Mt 20,1–16)

13 Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? 14 Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem letzten dasselbe geben wie dir. 15 Oder ist es mir nicht erlaubt, das zu tun, was ich will mit dem, was mein ist? Oder schaut dein Auge schlecht, weil ich gut bin? 16 So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.

Nehmen wir einmal an, die Geschichte hätte erst später angefangen: Der Weinbergbesitzer schickt zur elften Stunde die Arbeiter für eine Stunde zur Arbeit und gibt ihnen einen Denar – anscheinend sogar ein überdurch‐ schnittlicher Lohn. Hätte die Geschichte so angefangen und wäre sie auch so schon zu Ende gegangen, dann hätten wir den Weinbergbesitzer für einen großzügigen Arbeitgeber gehalten. Die meisten von uns halten es vermutlich für eine gute Handlung, Arbeiter ausreichend zu vergüten, auch wenn sie wenig gearbeitet haben. Darf es sein, dass wir eine gute Handlung auf einmal schlecht finden, weil wir sie mit anderen Handlungen vergleichen? Variieren wir Jesu Geschichte erneut und nehmen nun an, der Weinbergbesitzer hätte den letzten Arbeitern den einen Denar gegeben, den ersten dafür gar nichts. Das wäre dann ungerecht gewesen. Ungerecht wäre es aber nicht, dass die letzten einen Denar bekommen haben, sondern die ersten keinen. Die gute Handlung wird also nicht schlecht, wenn man eine andere Handlung damit vergleicht. Das wäre nur anders, wenn die ersten Arbeiter deshalb kein Geld bekommen, weil der Weinbergbesitzer nichts mehr hat, nachdem er die letzten so großzügig ausgezahlt hat. Dann wäre es schlecht, großzügig zu sein, weil die Arbeitnehmerrechte der ersten Arbeiter verletzt worden sind. Aber das ist in der Geschichte von Jesus ja nicht der Fall: Die ersten Arbeiter bekommen den vereinbarten Lohn. Mir scheint offen zu sein, ob Jesus mit diesem Gleichnis schon beant‐ worten will, was gerecht ist, oder ob er nur ein falsches Verständnis von Gerechtigkeit kritisiert. Eine falsche Gerechtigkeit wäre eine, die Menschen verbietet, großzügig zu sein, weil im Vergleich dazu andere schlechter ge‐ stellt werden. Denn durch Vergleiche kann alles ungerecht erscheinen, was eigentlich gut ist. Durch Vergleichen kommt nicht Gerechtigkeit zustande, sondern der Eindruck von Ungerechtigkeit. Wir können nämlich zu jedem Fall, wo jemand eine gute Tat tut, einen Vergleich heranziehen, der die gute Tat in ein schlechtes Licht stellt,

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genauso wie die großzügige Entlohnung des Weinbergbesitzers auf einmal in Frage steht, sobald man sie mit der anderen Entlohnung vergleicht. Wenn Gerechtigkeit im Vergleich besteht, dann finden wir immer Gründe, eine gute Tat für böse zu halten. Nehmen wir an, meine Tochter hätte immer einen Fallschirm dabei, weil sie vor dem Fliegen Angst hat. Wenn dann das Flugzeug wirklich eines Tages abstürzt, dann fänden wir es doch gut, dass sie den Fallschirm auch benutzt. Wir fänden es völlig absurd, wenn sie ihn in ihrer Tasche lassen würde. Aber eine gute Handlung klingt sofort schlecht, wenn wir einen Vergleich heranziehen. Nehmen wir nun nämlich an, in ihrem Flugzeug sitzt ein Kind, das keinen Fallschirm hat. Ist es jetzt gut, dass meine Tochter ihren Fallschirm für sich benutzt? Oder muss sie ihn dem Kind abgeben? Die Handlung ist genau die gleiche wie im Vergleichsfall, wenn meine Tochter den Fallschirm für sich selbst benutzt. Aber plötzlich schleicht sich ein Unbehagen ein, ob sie sich ungerecht verhält. Natürlich könnten wir es großherzig finden, wenn meine Tochter den Fallschirm dem Kind schenkt. Aber was tut sie uns damit an, ihren Eltern. Sie hat uns jetzt ungerecht behandelt. Angenommen, dass das Kind ein Waisenkind ist und keine Eltern hat. Dann würden keine Eltern ungerecht behandelt, wenn es stirbt. – Zu Recht könnten Sie mir empört vorhalten, dass ich einen solchen Vergleich heranziehe. Tatsächlich treibe ich gerade Ver‐ gleiche auf die Spitze, nur um zu zeigen, wie absurd und menschenfeindlich solche Überlegungen werden können, sobald man vergleicht. Jesus definiert nicht mit diesem Gleichnis, was gerecht ist. Vielmehr stellt seine Erzählung ein bestimmtes Verständnis von Gerechtigkeit in Frage, nämlich eins, bei dem großzügige Handlungen für ungerecht erklärt werden. Das tun wir, wenn wir vergleichen. Was gerecht ist, lässt sich nicht berechnen. Das bedeutet wiederum, dass wir uns kein gutes Gewissen machen können, indem wir zwischen verschiedenen Handlungen vergleichen. Es ist normal, dass wir jemandem etwas Gutes tun und jemandem anderen nicht. Unseren Kindern gegenüber sind wir großzügig, aber andere Kinder überlassen wir ihrem Schicksal. Das kann uns ein schlechtes Gewissen machen. Aber nehmen wir an, wir wollen ein gutes Gewissen haben und würden jedem Kind, das wir kennen, einen Kinogutschein schenken immer dann, wenn wir auch unserem Kind einen Kinogutschein schenken – vielleicht hätten wir dann auch ein schlechtes Gewissen: Wir könnten denken, dass wir unserem eigenen Kind das Beson‐ dere vorenthalten, das es für uns bedeutet.

14.1 Vergleiche führen zur Ungerechtigkeit (Mt 20,1–16)

Wahrscheinlich gibt es keine Lösungen, die konfliktfrei sind. Und ver‐ mutlich könnte jede noch so gute Handlung uns ein schlechtes Gewissen machen. Der Begriff der Gerechtigkeit ist höchst anfällig für die Versuchung, Gutes böse zu reden. Wer allgemeine Regeln befolgt, kann nur auf dem ersten Blick sein Gewissen beruhigen, aber es ist so leicht, jede gute Tat schlecht zu reden, wenn man nur andere Vergleiche heranzieht. Und ehe man sich versieht, hat man dann aufgegeben, großzügig zu sein. Wir können zwar Gutes tun, aber ob es auch gerecht ist, stellen wir nicht fest, indem wir vergleichen. Das Gleichnis zumindest legt nahe, sich von der Strategie des permanenten Vergleichens nicht einschüchtern zu lassen. Man darf trotzdem großzügig sein. Eine Definition für Gerechtigkeit lässt sich aus dem Gleichnis nicht ableiten. Anscheinend ist Gerechtigkeit ein unpräzises und situatives Verhältnis unter Menschen, das man nicht für alle Fälle allgemein definieren kann. Ist das aber nicht willkürlich, gut handeln zu wollen ohne Definitionen dafür, was gut und gerecht ist? Muss man nicht alle Interessen gerecht ab‐ wägen? Wird sonst nicht alles höchst unzuverlässig, wie wir uns verhalten, je nach Augenblick und Person anders? In den meisten Fällen findet das tatsächlich niemand bedenklich, wenn wir heute anders als morgen handeln und bei dir so und bei einem anderen anders. Es ist überhaupt nicht gesagt, dass eine gewisse Willkür jemandem etwas vorenthält oder Beziehungen zerstört. In Liebesbeziehungen zum Beispiel ist uns völlig klar, dass wir großzügig sind, ohne dass jemand dabei eine „allgemeine“ Gerechtigkeit von uns fordert. Wir beschenken heute unseren Ehepartner und sonst keinen. Und übermorgen gehen wir mit unserem Kind ins Kino und sonst mit keinem. Wir haben alle in der Familie lieb. Aber wir vergleichen nicht unsere Liebe. Liebe tendiert zu sogenannten „supererogatorischen“ Handlungen, die über das hinausgehen, wozu Menschen verpflichtet sind, und die deswegen auch nicht damit kritisiert werden können, dass sie Pflichten verletzen. In unseren Familien wenden wir uns so zu, dass es den Beziehungen gut tut. Großzügig zu sein heißt für uns nicht, dass wir jeden Tag großzügig sind. Und es ist nicht ungerecht, wenn wir unseren Freunden heute etwas Gutes tun und morgen nicht. Vielleicht also ist die Frage, was gerecht ist, gar nicht die Frage, die uns interessiert, wenn wir wissen wollen, wie wir handeln sollen. Es könnte wichtiger sein, ein Herz zu haben. Und alles andere ergibt sich dann schon.

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Jedenfalls deutet das Gleichnis an, dass es bei Gott so ist: Gott vergleicht uns nicht nach abstrakten Regeln, sondern hat stattdessen ein großes Herz. Literatur zur Vertiefung: J. Fischer: Verstehen statt Begründen, 73–101. – Fischer diskutiert ein berühmtes Beispiel von Isaiah Berlin, dass es ohne Zusatzinformationen zu den Mitgliedern einer Festgesellschaft ungerecht wäre, wenn ein Kuchen nicht unter ihnen gleich aufgeteilt werden würde. Fischer gibt eine Zusatzinformation und zeigt daran, dass Gleichheit kein Wert an sich ist, von dem die Ethik auszugehen hätte. L. Ohly: Gerechtigkeit und gerechtes Wirtschaften, 23 ff. – In diesem Buch zeige ich, wie durch beliebige Vergleiche jede Handlung in Verdacht geraten kann, ungerecht zu werden. Gerechtigkeit lässt sich dann weder durch Vergleiche noch durch Gleich-Machen herstellen. Dennoch verlangen gerechte Verhältnisse, dass alle Subjekte berücksichtigt werden.

14.2 Großzügigkeit (Lk 15,11–32) Und er sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie. 13 Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen. 14 Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben 15 und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. 16 Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm. 17 Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! 18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. 19 Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner! 20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.

14.2 Großzügigkeit (Lk 15,11–32)

21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. 22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße 23 und bringt das gemästete Kalb und schlachtet’s; lasst uns essen und fröhlich sein! 24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein. 25 Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen 26 und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre. 27 Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat. 28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. 29 Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. 30 Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. 31 Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. 32 Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.

Im Religionsunterricht veranstalte ich in meinen Schulklassen öfter eine Gerichtsverhandlung zum Gleichnis vom verlorenen Sohn: Dabei klagt der ältere Sohn den Vater an, ungerecht mit seinem Erbe umzugehen. Der jüngere Sohn hat bereits alles bekommen, was ihm zusteht. Das muss sehr viel gewesen sein bei lediglich zwei Söhnen. Der Rest des Vermögens ist folglich das Erbe des älteren Sohns. Aber jetzt, wo der jüngere zurückkommt, profitiert er ja von dem Erbe, das eigentlich dem älteren gehört. Also verklagt der ältere Sohn seinen Vater. Das räumt in der Geschichte der Vater auch ein: „Alles, was mein ist, das ist dein.“ Wir erfahren nicht, ob der ältere Sohn von der Antwort des Vaters überzeugt war. Das Gegenteil liegt näher. Das Gleichnis will aber nur zeigen,

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14 Gerechtigkeit

was Jesus für Gerechtigkeit hält – aber nicht, ob alle davon überzeugt sind, was Jesus gerecht findet. Die berufenen Geschworenen in den Schulklassen meines Religionsun‐ terrichts sprechen meistens den Vater frei. Haben sie recht damit? Es geht nicht nur um zwischenmenschliche Gerechtigkeit. Es geht um die Gerechtigkeit Gottes. Deswegen werden die wichtigen Sätze gleich zweimal in der Geschichte erzählt. Der jüngere Bruder, als er bereut, dass er alles verprasst hat, entwirft einen theologischen Horizont seines Verhaltens: „Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.“ Noch ein anderer Satz wird wiederholt, nämlich als der Vater sich darüber freut, dass sein Sohn zu ihm zurückgekehrt ist, und dann ruft: „Er war tot und ist wieder lebendig geworden.“ Der Vater spricht von der Auferstehung. Hier freut sich nicht nur ein Vater über seinen Sohn. Hier freut sich auch Gott über sein Kind. Noch an einer anderen Beobachtung wird deutlich, dass Jesus von der Gerechtigkeit Gottes spricht. Als der jüngere Sohn in eine Hungersnot gerät, bekennt er, dass es nur einen Ort auf der Welt gibt, an dem er anständig behandelt wird, nämlich das Haus seines Vaters. Bei seinem Vater will er ab jetzt als Tagelöhner arbeiten und seinen Unterhalt selber verdienen, weil sein Erbteil bereits ausgezahlt worden ist. Ebenso wie er jetzt bei jemandem angestellt ist, der ihm aber nicht genug für den Lebensunterhalt zu geben scheint, sucht er bei seinem gerechten Vater eine angemessene Entlohnung. Der Sohn hätte sich auch einen anderen Arbeitgeber suchen können und eine andere Arbeit. Aber er ist sich jetzt schon sicher, dass es nur einen Ort auf der Welt gibt, an dem Arbeiter richtig behandelt werden: bei seinem Vater. Hier hofft also der Sohn nicht einfach nur auf einen gerechten Vater, sondern auf die Gerechtigkeit schlechthin, wie sie in der Welt einmalig ist. Das ist die Gerechtigkeit Gottes. Gottes einmalige Gerechtigkeit besteht in ihrer Großzügigkeit. Der jün‐ gere Sohn, der alles verspielt hat, was ihm vererbt wurde, wird vom Vater wieder als vollwertiges Familienmitglied aufgenommen. Das ist eine Großzügigkeit, mit der niemand rechnen konnte – weder der jüngere noch der ältere Sohn. Und deshalb kommt die Frage ja auf: Verhält dich der Vater gerecht? Darf er so großzügig sein? Oder schadet er dabei seinem älteren Sohn, der immer treu zu ihm stand? Wenn es auf der ganzen Welt nur einen Ort gibt, an dem Gerechtigkeit herrscht, nämlich hier bei diesem Vater, dann ist sein großzügiges Verhalten gerecht, und dann kann kein anderes Verständnis von Gerechtigkeit den Maßstab ändern.

14.2 Großzügigkeit (Lk 15,11–32)

So lautet auch die Antwort des Vaters an den wütenden älteren Sohn. Zuerst gibt er zwar dem älteren Sohn recht: „Alles, was mein ist, das ist dein.“ Auf der rechtlichen Ebene wird dem älteren Sohn tatsächlich etwas weggenommen. Der Vater ist großzügig zu dem jüngeren Sohn, aber damit schmälert sich das Vermögen für den älteren. Jetzt leben nicht mehr nur zwei aus der Familie vom Restvermögen, sondern drei. Der Vater ist großzügig zum jüngeren Sohn, aber ungerecht zum älteren Sohn. Was zählt jetzt? Großzügigkeit oder was dem älteren Sohn rechtlich zusteht? Hier setzt der Vater seinen Gedankengang fort: „Du solltest aber fröhlich sein: Dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden.“ Der Vater, diese einzige Instanz der weltweiten Gerechtigkeit, definiert hier, was Gerechtigkeit heißt: Gerechtigkeit ist Großzügigkeit und die Freude über die Umkehr des verlorenen Sohnes. Wie wird die Geschichte wohl weitergehen? Da können wir phantasieren. Wie wird es sein, wenn sich die beiden Brüder begegnen? Vermutlich wird der ältere Sohn den jüngeren beschimpfen oder schneiden. Aber vielleicht geht die Geschichte auch so weiter, dass der ältere Sohn jetzt begriffen hat, dass es nur eine Gerechtigkeit gibt, nämlich als Großzügigkeit. Er könnte sogar diese Tatsache für sich auszunutzen versuchen und sein Erbteil auszahlen lassen, ebenso verprassen und dann ebenso wieder zurückkehren und sich zur Rückkehr feiern lassen. Natürlich wäre das ungerecht vom älteren Sohn. Aber es ist ja sowieso alles ungerecht, was nicht vom Vater selbst kommt. Denn nach dieser Geschichte gibt es nur einen Ort, wo es gerecht zugeht, eben bei diesem Vater. Also könnte sich der ältere Sohn damit rechtfertigen, dass er sowieso nicht gerecht sein kann. Außerdem gilt der Vater ja als großzügig. Und für den Vater gibt es nur eine Gerechtigkeit, nämlich die Großzügigkeit. Also müsste sich der Vater doch wohl ausnutzen lassen, wenn er gerecht bleiben will. So könnte also der ältere Sohn sich rechtfertigen, auch seinen Teil zu verprassen. Spielen wir diese Fortsetzung durch. Nehmen wir also an: Der ältere Sohn will auch jetzt schon sein Erbteil bekommen. Was wird er dann bekommen? Alles! Denn es heißt ja: „Alles, was mein ist, das ist dein.“ Also müsste der Vater dem älteren Sohn alles geben, was er hat. Von jetzt an könnte der Vater nicht mehr großzügig sein, weil er dann nichts mehr hätte. Und der ältere Sohn könnte nicht mehr zu ihm zurückkehren. Die Großzügigkeit des Vaters hat also da ihre Grenze, wo der Vater seine Freiheit verliert, um noch großzügig zu bleiben. Nur wer frei ist, kann

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14 Gerechtigkeit

großzügig sein. Und nur wer großzügig ist, ist gerecht. Also gehört Freiheit unbedingt zur Großzügigkeit dazu. Es ist übertrieben, dass der Vater dem jüngeren Sohn sein Erbteil gibt. Er schenkt ihm die Freiheit, mit seinem eigenen Vermögen etwas anzufangen. Natürlich hätte er gerne gehabt, dass der jüngere Sohn damit gerecht umgeht. Und vielleicht war er das sogar. Vielleicht war er großzügig und hat sein Geld bedürftigen Freunden verschenkt. Aber er ist dadurch unfrei geworden und konnte dann nicht mehr großzügig sein. Die Großzügigkeit hat also an dem Punkt ihre Grenze, wo man seine Freiheit verliert, um noch großzügig zu bleiben. Jesus erzählt eine Geschichte von Gott und seiner Gerechtigkeit. Aus dieser Erzählung kann man schließen, dass nur Gott gerecht ist und Menschen seine Großzügigkeit missbrauchen. Das ändert aber nichts an seiner Großzügigkeit. Und im Gegensatz zum Vater der Geschichte werden Menschen nicht an die Grenze seiner Großzügigkeit kommen. Sonst bliebe für ihn nichts mehr übrig, um großzügig zu sein, und wir würden in einer schlechthin ungerechten Welt leben, wo nicht einmal Gott noch gerecht sein könnte. Die Erzählung hält offen, ob das daran liegt, dass Gottes Großzügig‐ keit unendlich ist oder ihre Plausibilität verständigen Menschen einsichtig wird, so dass sie nicht alle ihr Erbteil vorzeitig ausgezahlt bekommen wollen. Literatur zur Vertiefung: W. Harnisch: Die Gleichniserzählungen Jesu, 200–230. – Obwohl Harnisch die Aus‐ legungsmethode der Allegorese ablehnt, bei der der Bildhälfte eine theologische Sachhälfte entspricht, räumt er diesem Gleichnis doch eine gewisse Berechtigung dieser Auslegung ein: Der Vater ist Repräsentant Gottes. Er ist es, indem er eine irreale Szenerie setzt, die man sonst selten erlebt. Gleichwohl ist das Gleichnis als offener Schluss stilisiert: So werden die Rezipienten zur Reaktion aufgefordert, ob Recht oder Großzügigkeit der Maßstab moralischen Handelns sein sollte. W. Härle: Ethik, 381–383. – In diesem kurzen Abschnitt verhandelt Härle das Problem, dass Gerechtigkeit in Einzelfällen verfehlt werden kann, auch wenn alle Regeln eingehalten worden sind. In diesen Fällen soll die sogenannte Epikie (Billigkeit) korrigieren, die den Entscheidungsträgern einen Ermessensspielraum einräumt. Das Risiko zur Fehlentscheidung muss dann ertragen werden.

14.3 Geschlechtergerechtigkeit (Gal 3,26–29)

14.3 Geschlechtergerechtigkeit (Gal 3,26–29) 26 Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. 27 Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. 28 Es gibt nicht Jude noch Grieche, es gibt nicht Sklave noch frei, es gibt nicht männlich noch weiblich; denn ihr seid alle einer in Christus Jesus. 29 Wenn ihr aber Christi seid, so seid ihr Abrahams Kinder, nach der Verheißung Erben.

Man kann von den Geschlechtern im biologischen Sinn sprechen (Sex) und im kulturellen (Gender). Paulus meint hier die kulturelle oder soziale Dimension der Geschlechtlichkeit, wenn er das Männliche oder Weibliche im selben Atemzug mit den Kulturen des Jüdischen oder Griechischen nennt oder mit dem sozialen Status, frei oder Sklave zu sein. Und alle kulturellen Vorgaben hebt er gleichzeitig auf. In Christus soll niemand mehr bevorzugt oder benachteiligt werden aufgrund des Geschlechts oder des kulturellen Status. Er argumentiert noch radikaler: In Christus verlieren wir alle unsere Individualität. „Ihr seid alle einer in Christus Jesus.“ Nur zusammen seid ihr dieses eine Wesen. Wenn dabei zugleich individuelle Unterschiede keine Rolle spielen, kann auch die Individualität keine Rolle spielen. Dann ist jede Person selbst nichts, sondern nur zusammen mit den anderen etwas. Das klingt nicht attraktiv für uns Individuen. Und somit werden wir uns unter Geschlechtergerechtigkeit auch etwas anderes vorstellen als Paulus. Allerdings ist bedenkenswert an seiner Betrachtung, dass wir tatsächlich schnell Menschen ausschließen, wenn wir unsere eigene Geschlechtlichkeit so stark betonen. Und vor allem können wir die Bedeutung unseres Körpers und unseres Geschlechts nur dann selbst bestimmen, wenn wir uns über‐ haupt individuell bestimmen. Individuelle Selbstbestimmung erzeugt Unterschiede. Und wo Unter‐ schiede wachsen, kann auch Ungleichheit und schließlich auch Ungerech‐ tigkeit sprießen. Für Paulus scheint es daher folgerichtig zu sein: Wenn individuelle Unterschiede in Christus keine Rolle spielen, dann auch nicht unsere Individualität. Dann können wir nur alle zusammen eine Person sein, nämlich Christus: Wir haben Christus „angezogen“, wir sind „alle einer in Christus“, also sind wir zusammen Christus, aber auch nur zusammen. Und Christus hat selbst keine Nationalität, keinen sozialen Status – und auch kein Geschlecht. Denn Christus sind alle, die getauft sind – und bei allen spielen Nationalität, Status und Geschlecht keine Rolle.

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14 Gerechtigkeit

Nun müssen wir aber trotzdem miteinander umgehen – auch in der Gemeinschaft der Getauften. Und da treten individuelle Unterschiede na‐ türlich wieder auf. Deshalb stellt sich ethisch die Frage, wie wir miteinander umzugehen haben, wenn Kultur, Status und Geschlecht keine Rolle spielen sollen. Es gibt eine Institution, in der tatsächlich individuelle Unterschiede ausgeklammert bleiben, nämlich das Recht in demokratischen Vereinigun‐ gen. Demokratien bilden dadurch eine Einheit, dass alle Einzelnen vor dem Gesetz gleichbehandelt werden. Könnte also das Gesetz die Lösung sein, wie alle Einzelnen zusammen die eine Person Christus bilden? Im Galaterbrief hat Paulus eine scharfe Kritik an der Beachtung des Gesetzes vorgenommen: Christen sind Nachkommen Abrahams und gerade nicht Nachkommen des Gesetzes. Sie werden Christen durch die Taufe und nicht durch die Beschneidung nach jüdischem Gesetz. Deswegen findet Paulus die Lösung darin, dass alle eine Person werden und nicht alle gleich. Allerdings scheint mir, dass Paulus das Gesetz an dem Punkt zurückweist, wo es individuelle Unterschiede verschärft. Das göttliche Gesetz ist das Gesetz der Juden. Mit ihm kann keine Einheit zu den anderen Völkern entstehen. Es beharrt auf die kulturelle und religiöse Differenz. Zugleich schreibt Paulus im selben Brief vom „Gesetz Christi“, nämlich in einem Umgang, der die Lasten der anderen mitträgt (Gal 6,2). An dieser Stelle gebraucht er das Wort „Gesetz“ positiv. Seine Kritik gilt also nicht wirklich dem Gesetz, sondern wie Menschen es gebrauchen. Inhaltlich findet er viele Anhaltspunkte im göttlichen Gesetz, wie Menschen eine Einheit bilden. Aber man soll es gerade dann nicht so gebrauchen, als ob individuelle Unterschiede verschärft werden. Menschen setzen sich mit ihrer Geschlechtlichkeit auseinander. Ihnen wird zugeschrieben, männlich oder weiblich zu sein. Und meistens treffen diese Zuschreibungen auch mit ihrer eigenen Auffassung überein. In man‐ chen Fällen aber sehen sich Menschen nicht in dem Geschlecht, wie es für andere von außen betrachtet zu sein scheint. Manche nehmen sich so wahr, dass sie keinem Geschlecht eindeutig zugeordnet werden können, und manche, dass sie keins haben. Manche dieser Dissonanzen sind auch angeboren und lassen sich nicht ändern, weil eben jede Person individuell wahrnimmt. Allerdings sollten diese individuellen Unterschiede nicht die Einheit antasten, die alle bilden. Und das heißt auch, dass diese Unterschiede die Gleichheit nicht antasten dürfen, die vor dem Recht jeder Person gilt. Auch wenn also in den meisten Fällen die Selbstwahrnehmung und die Fremdzuschreibung übereinstimmen und wir uns selbst in demselben

14.3 Geschlechtergerechtigkeit (Gal 3,26–29)

Geschlecht wahrnehmen, wie uns andere sehen, darf das nicht dazu führen, dass diese Unterschiede in unserer Gemeinschaft stärker betont werden als unsere Gleichheit. Sie werden aber stärker betont, wo es einen sogenannten „gender pay gap“ gibt, bei dem Frauen in gleichen beruflichen Positionen schlechter bezahlt werden als Männer. Und sie werden auch stärker betont, wo mit der geschlechtlichen Selbstbestimmung soziale Privilegien erstritten werden sollen. Es ist richtig, wenn Frauen auf Geschlechterdiskriminierung hinweisen. Ihre Forderung kann dann nur darin bestehen, gleichberechtigt zu werden, aber nicht, Privilegien zu erlangen. Und es ist richtig, dass Menschen mit uneindeutigem oder keinem Geschlecht auf den Missstand aufmerksam machen, ausgeschlossen, pathologisiert oder stigmatisiert zu werden. Dann folgt gerade nicht, dass sie Vorrechte erstreiten. In konkreten Situationen können zwar Geschlechter bevorzugt werden, um rechtliche Gleichheit herzustellen (zum Beispiel mit Geschlechterquoten). Aber diese Bevorzugung darf gerade nicht rechtlich sein (Quoten müssen dann für alle Geschlechter gleich gelten). Es ist kein Wunder, dass in nicht-demokratischen Systemen kein Ver‐ ständnis für Personen mit einem Geschlecht außerhalb oder jenseits der Zweigeschlechtlichkeit herrscht und dass dort die Geschlechtergerechtig‐ keit am wenigsten hergestellt wird. Denn in solchen Systemen gewährleistet das Recht ohnehin keine Gleichheit. Dementsprechend ist es auch kein Wunder, dass in der katholischen Kirche nur Männer zu Priestern geweiht werden können. Aber wenn alle eine Person in Christus, wenn alle Christus sind, dürfen die Geschlechterunterschiede nicht höher stehen als das Recht. Es gibt dagegen ein Verfahren in demokratischen Vereinigungen, das die Einheit einübt, hinter der die Individualität zurücktreten soll, nämlich das Konsensverfahren. Bei manchen Themen und in manchen Vereinigungen legen sich alle Mitglieder darauf fest, einstimmige Entscheidungen herbei‐ zuführen. Indem sich die Mitglieder darauf selbst festlegen, entspricht dieses Verfahren dem Gleichheitsgrundsatz. Das Konsensverfahren ist dennoch zweischneidig: Es kann den Druck auf ein individuelles Mitglied erhöhen, auch gegen seinen Willen einem Beschluss zuzustimmen. In gewisser Weise soll es das sogar: Jede Person soll sich überprüfen, ob sie wirklich die Gemeinschaft im Blick hat oder nur ihre eigenen Interessen. Konsens kann sich damit aber auch zum Kampfmittel entwickeln. Und wer nicht zustimmt, gilt als Querulantin. Wo passiert das in der Debatte um Geschlechtergerechtigkeit? Wer macht das Geschlecht individuell wichtiger als die Gleichheit? Und wer betont

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die Geschlechtsunterschiede mehr als die Einheit in Christus? Anscheinend ist das keine Frage der Position. Denn wer auf die Selbstbestimmung der Geschlechteridentität dringt und von der Gemeinschaft Respekt für die eigene Entscheidung verlangt, muss dabei die Geschlechtlichkeit im gesellschaftlichen Kontext nicht stärker betonen als diejenigen, die von der eindeutigen Binarität der Geschlechter ausgehen. Nicht die Position zur Wahlmöglichkeit der Geschlechtlichkeit entscheidet über ihre soziale Bedeutung, sondern die Frage, ob damit gesellschaftliche Vorteile erstritten werden sollen. Das Geschlecht wird dann zum Kampfmittel, wenn es wichtiger ist als die gleichen Rechte aller. Das Konsensverfahren kann hier feststellen, wo das Geschlecht zum Kampfmittel wird und wo nur verlangt wird, dass es rechtlich keine Aus‐ grenzung mehr fördert. Die Gemeinschaft der Getauften fordert Gleichheit unter ihren Mitgliedern. Dann dürfen geschlechtliche Unterschiede keine Kampfmittel mehr sein. Literatur zur Vertiefung: I. Karle: Liebe in der Moderne, 122–139. – An den biblischen Schöpfungserzählungen lässt sich zwar die Komplementarität der Geschlechter herausstellen, nicht aber eine Dominanz eines Geschlechts gegenüber anderen. Weil alle Menschen die Gottebenbildlichkeit empfangen, gilt sie auch für Menschen, die sich nicht dem Raster der Geschlechterdichotomie zwischen männlich und weiblich fügen. G. Schreiber (Hg.): Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften. – Dieser Aufsatzband stellt interdisziplinär das Phänomen der Transsexualität aus natur‐ wissenschaftlicher, juristischer und theologischer Perspektive dar. Er ist eine Fundgrube für alle, die die Komplexität geschlechtlicher Selbstwahrnehmung verstehen wollen.

Biblische Alternativen Eine Perspektivenerweiterung würde das Thema erzielen, wenn noch mehr Texte berücksichtigt werden würden, die von Gottes Gerechtigkeit sprechen oder Gerechtigkeit zu einer göttlichen Eigenschaft erklären. Angedeutet ist das zwar bereits in den beiden letzten Texten dieses Ka‐ pitels. Doch könnten auch Bibelstellen aus der paulinischen Rechtferti‐ gungslehre näher in Blick genommen werden (Röm 3). Diese Texte beto‐ nen die Gleichheit aller Menschen, nämlich die gleiche Angewiesenheit auf Gottes Gnade, ohne Ansehen der Person (Röm 2,11). Allerdings wäre

14.3 Geschlechtergerechtigkeit (Gal 3,26–29)

zu untersuchen, ob nicht die gleiche Bedürftigkeit eine differenzierte Berücksichtigung von Personen und Gruppen einschließt. Das zeigt sich in der paradoxen paulinischen Formulierung: „die Juden zuerst und die Griechen“ (Röm 1,16). Gottes Gerechtigkeit, alle Menschen gleich zu berücksichtigen, scheint so im zwischenmenschlichen Umgang eine gleiche Berücksichtigung ihrer Ungleichheit zu implizieren.

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15 Wirtschaftsethik Die Diskurslage Die gegenwärtigen wirtschaftsethischen Probleme lassen sich auf ihre klassischen Grundfragen zurückführen, vor allem auf die Frage nach dem Recht auf Eigentum und eine gerechte Verteilung der Wirtschaftsgüter. Karl Marx’ Protest gegen die wesensmäßige Ausbeutung der Arbeiter im Kapitalismus1 hat im Zeitalter der Globalisierung ihre Aktualität behalten ebenso wie die Empörung gegen die Vermögenskonzentration auf wenige superreiche Familien.2 Thomas Piketty hat empirisch belegt, dass in allen Gesellschaften das reichste Zehntel der Bevölkerung mehr als die Hälfte des Nationalvermögens besitzt,3 während die ärmste Hälfte gerade einmal über zehn Prozent des Nationalvermögens verfügt.4 Auch die scheinbar neuen Probleme der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen im Kapitalismus5 lassen sich auf die Probleme der Eigentumsbegründung und Verteilungsgerechtigkeit zurückführen, wenn man auch künftige Genera‐ tionen in die Gerechtigkeitserwägungen mit einbezieht.6 Piketty fordert angesichts der extremen Ungleichverteilung des gesell‐ schaftlichen Reichtums eine Vermögenssteuer.7 Denn Ungleichheit schade dem demokratischen Gedanken, dass alle Menschen eine gleichwertige Stimme haben.8 Matthias Binswanger erkennt bei kapitalistischen Systeme einen Wachstumszwang, weil nur so Wohlstand gerecht verteilt werden könne.9 Um das Problem kapitalistischer Verschwendung und globaler Umweltzerstörung einzudämmen, schlägt er eine Terminierung für Anteile am Aktienmarkt10 sowie ein moderates Wachstum vor.11 Liberalistische

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K. Marx: Das Kapital Bd. 1, 232. A.a.O., 653. Th. Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert, 322. A.a.O., 338. H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, 260. A.a.O., 89. Th. Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert, 630. A.a.O., 346. M. Binswanger: Der Wachstumszwang, 125. A.a.O., 261. A.a.O., 257.

Lk 16,10–13

Konzepte, die starke Vermögensungleichheiten mit Verweis auf persönliche Freiheit rechtfertigen,12 sind seit der globalen Finanzkrise von 2008 in die Defensive geraten, weil die Staaten die Fehler der Unternehmensleitungen auffangen mussten, um das Wirtschaftssystem zu erhalten. Im Jahr 2021 haben sich die wirtschaftsstärksten Nationen auf eine globale Unterneh‐ menssteuer verständigt, um der Steuerflucht transnationaler Großkonzerne zu begegnen. Lk 16,10–13

Zur Textauswahl „Woran Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich dein Gott“, schreibt Luther im Großen Katechismus.13 Ausdrücklich hat Luther seinen Gedanken wirtschaftsethisch verstanden und „einen Gott, der heißet Mammon, das ist Geld und Gut“14 als Abgötterei interpretiert. Da‐ durch ist der für dieses Kapitel vorgeschlagene Bibeltext wirtschaftsethisch prominent geworden.

10 Wer im Geringsten treu ist, der ist auch in Vielem treu; und wer im Geringsten ungerecht ist, der ist auch in Vielem ungerecht. 11 Wenn ihr nun im ungerechten (wirtschaftlichen) Vermögen nicht treu seid, wer wird euch im Hinblick auf das Wahre treu werden? 12 Und wenn ihr im Fremden nicht treu seid, wer wird euch das Eurige geben? 13 Kein Sklave kann zwei Herren dienen; entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem (wirtschaftlichen) Vermögen.

Wie geht beides? Wie kann man dem Vermögen treu sein, ohne ihm zu dienen? Der letzte Vers dieser Rede Jesu klingt so, dass man sich zwischen Gott und Vermögen entscheiden muss. Also dürften Christen kein Vermögen haben. Aber wie könnten sie ihm dann treu sein, wenn sie es nicht einmal besitzen dürften? 12 13 14

M. Friedman: Kapitalismus und Freiheit, 194, 205. Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Schriften, 560. A.a.O., 561.

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15 Wirtschaftsethik

Nach meinem Eindruck kann man dem Vermögen nur dann treu sein, wenn es mit zum „Geringsten“ gehört, dem man treu ist. Dann soll man also zwar wirtschaftlich vernünftig handeln, aber dem Vermögen nicht „die‐ nen“. Ein Sklave ordnet sich ganz seinem Eigentümer unter. Anscheinend kann man aber in einer Angelegenheit treu sein, ohne sich ihr ganz zu unterwerfen. Dann würde Jesus hier dazu raten, in wirtschaftlicher Hinsicht vernünftig zu handeln, aber wirtschaftliches Vermögen nur als „Geringstes“ zu achten. Es scheint daraus übrigens auch zu folgen, dass wirtschaftliches Vermö‐ gen selbst nur gering sein sollte. Denn wie könnte es sonst nur das Geringste unserer Treue wert sein? Und damit stellt sich die Frage, wie viel ein Mensch besitzen darf. Wie viel Vermögen ist ethisch angemessen? Es ist interessant, dass Jesus hier als einziges Kriterium für wirtschaft‐ liches Handeln die Treue anführt. Nicht etwa die Gerechtigkeit! Wenn Menschen ein hohes Vermögen haben, ist das für Jesus nicht etwa ungerecht, solange andere zu wenig besitzen. Umgekehrt scheint Jesus ein hohes Vermögen sogar dann für inakzeptabel zu halten, wenn alle Menschen ein hohes Vermögen haben und die Zustände unter ihnen gerecht verteilt sind. Daraus folgt wohl, dass eine Person gerade einmal so viel Vermögen besitzen darf, dass sie noch Gott dienen kann. Das Vermögen darf nicht so groß sein, dass eine Person sich ihm unterwirft. Nicht ausdrücklich sagt Jesus, dass ein wirtschaftliches Vermögen wirk‐ lich das „Geringste“ ist. Zwischen dem Geringsten und dem Vielen, dem man treu sein kann, gibt es viele Zwischenschritte. Und vielleicht gehört wirt‐ schaftliches Vermögen an irgendeinen Platz zwischen beidem. Deshalb ist nicht schon entschieden, dass alle Menschen lediglich ein Minimalvermögen besitzen dürfen. Das Kriterium lautet vielmehr, dass es nur so groß sein kann, dass es höhere Treueverhältnisse nicht behindert. Große Vermögen aber führen in der Regel dazu, dass man sich ihnen stärker widmet als anderen Prioritäten. Auf einige Beispiele möchte ich hinweisen, nämlich erstens auf das Ziel des wirtschaftlichen Wachstums. Beim Wirtschaftswachstum ist es gleichgültig, welche Produkte erzeugt und konsumiert werden und ob es gut oder schädlich ist, wenn Menschen diese Produkte besitzen. Es kommt vielmehr allein auf die Menge an, nur auf die Quantität statt auf die Qualität. Hier kommt die Treue gegenüber dem „Geringsten“ an ihre Grenze und mutiert zur völligen Unterordnung unter dieses Wohlstandsziel. Wenn sich

Lk 16,10–13

Wohlstand an der Steigerung von Mengen bemisst, kann Wirtschaften nicht mehr das „Geringste“ sein. Zweitens gibt es seit einigen Jahren eine Methode, Geld zu verdienen, indem Computer in Millisekunden Kursbewegungen an den Börsen analy‐ sieren und in Hochgeschwindigkeit Aktien kaufen oder verkaufen. Dieser sogenannte Computer-Hochfrequenzhandel interpretiert Börsenkurse nicht nach den Inhalten ihrer Produkte, sondern allein an der bloßen zählbaren Veränderung. Für Menschen wird es undurchschaubar, wie Computer eine Kaufentscheidung treffen, weil die Prozesse einfach zu schnell ablaufen. Hier wird Wirtschaften zu einem rein automatischen Geschehen, auf das der Mensch keine Eingriffsmöglichkeit mehr hat (außer die Apparate ganz abzuschalten). Das bedeutet, dass der Mensch sich zum „Sklaven“ seiner Profitziele macht und sich ganz den autonomen Prozessen von Computern unterwirft. In beiden Fällen kann man Wirtschaften nicht mehr einfach nur „treu“ sein, sondern ordnet sich ihnen unter. Sie werden zum Selbstzweck und entwickeln eine unkontrollierte Eigendynamik. Denn in beiden Fällen ist das Vermögen nicht mehr wichtig, sondern der quantitative Zuwachs des Vermögens, nicht der materielle Besitz, sondern die rein formal berechen‐ bare Steigerung des Besitzes. Kein Wunder, dass Geld gar nicht mehr aus materiellen Werten sowie nur in geringen Mengen aus Geldstücken oder -scheinen besteht, während es fast ausschließlich als bloße Zahlen in Bilanzen notiert ist. Jesu Worte geben eine wirtschaftsethische Haltung vor, nach der ein wirtschaftlicher Wohlstand nicht Selbstzweck werden darf, sondern Mittel bleiben muss für „Vieles“. Das Vermögen muss also materiell sein, und zwar so, dass sich mit ihm höhere Ziele erreichen lassen. Deshalb soll es nur so groß sein, dass es keine Eigendynamik entfaltet, bei der die Ziele entweder noch geringer sind als das Vermögen selbst oder sich überhaupt nicht mehr benennen lassen. Das reichste Zehntel der Gesamtgesellschaft besitzt nach Berechnungen des Ökonomen Thomas Piketty etwa die Hälfte des Nationalvermögens.15 Es ist schwer vorstellbar, wie eine reiche Person begründet, was sie mit ihrem jährlichen Zuwachs an Vermögen anfangen kann, außer es wieder nur anzulegen, weil „es selbst bei denkbar geschmackvoller und eleganter Lebensführung nicht ganz leicht ist, 500 Millionen pro Jahr zur Finanzierung 15

Th. Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert, 346.

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15 Wirtschaftsethik

laufenden Konsums aufzuwenden.“16 Dahinter liegt kein höherer Zweck. Das bedeutet aber auch für Personen der sogenannten Mittelschicht und auch für Großinstitutionen (wie die Kirche), dass ihre Vermögen gerechtfertigt werden müssen. Sie müssen einem realen Zweck dienen und nicht nur einem phantasierten Zweck, dass es ja einmal sein könnte, dass ein Krieg ausbricht und man dann Geld braucht oder, etwas weniger dramatisch, dass in einer Woche nicht nur die Waschmaschine kaputt gehen könnte, sondern auch das Auto und das Dach. Zur wirtschaftlichen Vernunft gehört zwar auch, dass man Vorsorge für einen natürlichen Verschleiß seines Besitzes leistet. Aber es muss noch in einem materiell vernünftigen Verhältnis liegen, was Menschen besitzen und wofür sie ihr Geld sparen. Und dabei sollte auch eine Rolle spielen, welche materiellen Bedürfnisse es auch wert sind, nicht nur die geringste Rolle zu spielen. „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem (wirtschaftlichen) Vermögen.“ Damit hat Jesus einen Maßstab gesetzt, der den Sinn des wirtschaftlichen Vermögens begrenzt. Vermögen wuchert leicht. Damit es nicht unermesslich wuchert, braucht es eine sinnvolle Begrenzung. Jesus gibt als die Grenze den Höchsten an, Gott selbst. Ihm gegenüber spielt sogar die Gerechtigkeit anscheinend eine geringere Rolle, weil Jesus sie hier nicht erwähnt. (Offen‐ bar können auch Gerechtigkeit und andere Orientierungen „wuchern“ und bedürfen einer sinnvollen Begrenzung.17) Damit lässt Jesus in wirtschaftsethischer Hinsicht weite Freiräume zu. Er fordert, dass sich Wirtschaften an höheren Zwecken orientiert. Welche das sind, überlässt er offenbar der jeweiligen Situation. Nur in dem Sinne setzt er einen allgemeinen Maßstab, dass Gott der Höchste ist und sich alles, dem man treu sein kann, dieser Treue unterzuordnen hat. Nur so lässt sich verhindern, dass es wuchert und sich zum Selbstzweck verwandelt. Biblische Alternativen Eine naheliegende Alternative wäre die prophetische Sozialkritik, die Partei für die Armen ergreift, die aus dem Wirtschaftskreislauf ausge‐ schlossen sind oder durch das Gewinnstreben erfolgreicher Geschäfts‐ leute vom Wirtschaftsleben abgehalten werden (z. B. Jes 3,14f; Jer 5,26– 28; Am 8,4–6). Die prophetische Kritik erweckt den Anschein, dass nicht

16 17

A.a.O., 712. Sektion 14.1 .

Lk 16,10–13

etwa erst Wirtschaftsbetrug Armut erzeugt, sondern der wirtschaftliche Handel überhaupt. Zunächst müssten diese Texte auf ihren historischen Kontext hin untersucht werden, um zu erkennen, inwieweit es sich hierbei um polemische Überspitzungen handelt. Ethisch ist die Frage zu klären: Wie lässt sich kooperatives Wirtschaften erreichen, ohne Unge‐ rechtigkeit zu erzeugen und ohne anfällig für betrügerische Aktivitäten zu werden?

Literatur zur Vertiefung: Th. Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert. – Das Buch enthält umfangreiches Datenmaterial und viele Tabellen als Belege für die ungleiche Verteilung der Privatvermögen. Reiche Vermögen wachsen schneller als mittlere und kleine, und Kapitalvermögen schneller als erarbeiteter Reichtum. Piketty fordert eine Vermögenssteuer zur Sicherung demokratischer Gleichheit aller Bürger. E. Herms: Systematische Theologie Bd. 2, § 81, 2154–2213. – Wirtschaftliches Handeln ist an soziale Kooperation und Institutionen gebunden, die mehr umfas‐ sen als Güterproduktion und -versorgung. Zudem ist theologisch zu unterschei‐ den zwischen natürlichen Bedingungen des menschlichen Lebens und seinen Heilsverheißungen, die für Christen das menschliche Miteinander umfassender prägen. Wirtschaftliches Handeln ist an die gleiche Menschenwürde gebunden.

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16 Toleranz Die Diskurslage Toleranz beschreibt eine Haltung, Positionen und Praktiken zuzulassen, die man ablehnt. Wer Toleranz übt, muss also keine Pluralistin sein, die kulturelle und moralische Vielfalt als solche wertschätzt. Doch welche Gründe könnte eine Person haben, Positionen und Praktiken zuzulassen, die ihr verdächtig erscheinen und die sie sogar für gefährlich hält? Kann Toleranz aus moralischen Gründen geübt werden? Politische Gesellschaften tolerieren Minderheiten oft aus dem Grund, dass sie sie dadurch disziplinieren können (Erlaubnistoleranz1). Oft liegen also nur strategische, aber keine moralischen Gründe vor, Toleranz zu üben. Die tolerierte Partei kann dann nie sicher sein, in einer anderen politischen Situation nicht plötzlich ausgeschlossen oder verfolgt zu werden, weil sich bei strategischen Gründen die Einstellungen nicht ändern müssen, weshalb man episodisch Toleranz übt oder intolerant wird.2 Dies trifft auch dann zu, wenn zwei Parteien sich wechselseitig tolerieren, weil sie politisch etwa gleich stark sind.3 Solche strategischen Gründe sind nicht ethischer Art. Michael Walzer findet den moralischen Grund für Toleranz in der de‐ mokratischen Stabilität einer Gesellschaft. Weil es für eine demokratische Gesellschaft besser sei, andere Kulturen nicht zu bekämpfen, sondern ihre Verträglichkeit zu befördern, könnten auch soziale Gruppen toleriert werden, die selbst intolerant seien. Es sei zwar wichtig, solche Gruppen von der politischen Macht fernzuhalten, was aber nicht rechtfertige, sie nicht zu tolerieren.4 In diesem Argument ist aber auch ein disziplinierendes Element enthalten, das die tolerierte Partei unter den Anpassungsdruck der Demokratisierung setzt. Herbert Marcuses Vorwurf, Toleranz sei eine Tyrannei der Mehrheit,5 kann nur dann moralisch zurückgewiesen werden, wenn sich die Mehrheit auf andere Argumente beziehen kann als darauf,

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R. Forst: Toleranz im Konflikt, 676. J. Jordan: Concerning Moral Tolerance, 214. R. Forst: Toleranz im Konflikt, 44. M. Walzer: On Toleration, 81. H. Marcuse: Repressive Toleranz, 115f.

Mt 8,5–13

dass sie die Mehrheit ist. Vielmehr müssen diese Argumente auch für die Minderheit moralisch akzeptabel sein. Diesen Weg einer demokratietheoretischen Begründung von Toleranz schlägt Rainer Forst ein: Danach ist eine Partei moralisch zu tolerieren, wenn ihre umstrittene Position allgemein und reziprok nicht zurückweisbar ist.6 Dieser Vorschlag setzt jedoch voraus, dass ein Konsens über die demo‐ kratischen Grundlagen besteht.7 Forst lässt dabei offen, wie mit Positionen umzugehen ist, auf die sein Kriterium nicht zutrifft. Walzer hingegen kann in diesen Fällen eine umfassendere Toleranzbereitschaft einräumen, weil er den demokratischen Konsens nicht voraussetzen muss, sondern mit Toleranz überhaupt erst auf ihn zielt. Könnte es also sein, dass Toleranz sich erst im Rückblick moralisch begründen lässt, sobald sie sich bewährt hat? Dann wäre sie anfänglich immer risikobehaftet und sogar moralisch heikel, wenn man sich zur Toleranz einer Praxis entscheidet, die man ja eigentlich ablehnt.8 Mt 8,5–13

Zur Textauswahl Der ausgewählte Text eignet sich gut für eine ethische Einschätzung der Toleranz, weil er interreligiöse und -kulturelle Abstände deutlich kommuniziert. Er verhandelt die Frage, wie soziale Kooperation zwischen Menschen möglich ist, deren Kulturen und Religionen unverträglich sind.

5 Als aber Jesus nach Kapernaum hineinging, trat ein Hauptmann zu ihm; der bat ihn 6 und sprach: Herr, mein Kind liegt zu Hause und ist gelähmt und leidet große Qualen. 7 Jesus sprach zu ihm: Ich werde kommen und es gesund machen. 8 Der Hauptmann antwortete und sprach: Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund.

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R. Forst: Toleranz im Konflikt, 561. A.a.O., 671. L. Ohly: Gestörter Frieden zwischen den Religionen, 82.

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9 Denn auch ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan, und habe Soldaten unter mir; und wenn ich zu einem sage: Geh hin!, so geht er; und zu einem andern: Komm her!, so kommt er; und zu meinem Knecht: Tu das!, so tut er's. 10 Als das Jesus hörte, wunderte er sich und sprach zu denen, die ihm nachfolgten: Wahrlich, ich sage euch: Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden! 11 Aber ich sage euch: Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; 12 aber die Kinder des Reichs werden hinausgestoßen in die Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern. 13 Und Jesus sprach zu dem Hauptmann: Geh hin; dir geschehe, wie du geglaubt hast. Und sein Kind wurde gesund zu derselben Stunde.

Vier Szenen enthält diese Geschichte: Die Endzeitvision Jesu vom himmli‐ schen Festmahl, die Ausgestoßenen aus dem Reich Gottes, weil sie nicht genug geglaubt haben, das Kind im Krankenbett, bevor es geheilt wird, und das Gespräch zwischen Jesus und dem Hauptmann. Relativ zurückhaltend bleibt dabei Jesus. Er reagiert nur darauf, was der Hauptmann sagt. Und eine theologische Deutung der Situation gibt nur dieser römische Hauptmann ab. Es ist zwar Jesus, der die Bilder erweckt vom himmlischen Festmahl und von der ewigen Finsternis für die Ausgestoßenen. Aber warum Jesus das Kind des Hauptmanns wird retten können, begründet nicht er, sondern der Hauptmann, nämlich weil sich die Heilung in der Befehlskette zwischen einer Obrigkeit und der Welt vollzieht: „Denn auch ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan, und habe Soldaten unter mir.“ Könnte sich dieser römische Hauptmann hier schämen, dass er Jesus um Hilfe bittet? Zwar versucht man alles Mögliche, wenn das eigene Kind krank ist, springt dabei auch über seinen Schatten und bittet dann sogar einen jüdischen Wanderprediger um Hilfe. Aber die Formen müssen doch gewahrt bleiben: Der Jude Jesus soll nicht das Haus eines Heiden betreten. Der Hauptmann weiß, dass das für Juden anstößig gewesen wäre. Aber offenbar wäre es auch für die römische Kultur des Hauptmanns unpassend gewesen, wenn Jesus in sein Haus gegangen wäre. So jedenfalls könnte seine Reaktion auch gemeint sein: „Denn auch ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan.“ Es muss noch eine andere Lösung geben. Mich überrascht dann allerdings, dass dieser römische Zenturio von Jesus diese starke Wertschätzung erfährt. Denn die Distanz soll gewahrt bleiben, und der römische Hauptmann hat nicht vor, die kulturellen und religiösen Differenzen zwischen ihm und Jesus aufzuheben. Ausgerechnet er wird von

Mt 8,5–13

Jesus hier zum Vorbild des Glaubens erklärt. Und ausgerechnet für ihn sollen die Kinder Gottes ausgestoßen werden, damit ein römischer Nichtchrist beim himmlischen Festmahl einen Platz bekommt. In dieser Geschichte wird niemand bekehrt. Der Zenturio wird am Ende kein Christ. Jesus sagt am Ende der Geschichte nur: „Dir geschehe, wie du geglaubt hast“ – wie du sogar als Nichtchrist geglaubt hast! Aber Jesus macht den Hauptmann nicht erst zum Christen; er tauft ihn nicht, fordert ihn nicht auf, ihm nachzufolgen. Das ist keine Bekehrungsgeschichte. Jesus lässt den Hauptmann in seiner Welt leben, in der er lebt. In dieser Geschichte hilft nicht der christliche Glaube, sondern der Glaube eines Nichtchristen. Und Jesus hilft dem Glauben eines Nichtchristen zu Lasten seiner eigenen Gemeinde. Denn sogar wer ihm aus dem Kreis Israels nachfolgt, hat angeb‐ lich weniger Glauben als dieser römische Heide. Was wäre die Konsequenz, wenn alle die Hilfe Jesu Christi in Anspruch nehmen wollten, aber niemand bereit wäre, für die Gemeinde Christi Verantwortung zu übernehmen? Das wäre eine Welt ohne christlichen Glauben, eine Welt der Wertschätzung für Jesus zwar, aber ohne den Glauben an Jesus. Umgekehrt würde Jesus die ganze Welt wertschätzen wie diesen Hauptmann, ohne umgekehrt mit konsequenter Wertschätzung rechnen zu dürfen. Menschen würden sich aufeinander beziehen, die ihre jeweilige Lebensweise ablehnen, aber voneinander wechselseitig profitieren. Aber hätten Menschen ihre wechselseitige Wertschätzung verdient, wenn sie ihre Lebensweise zugleich ablehnen? Das würde dann heißen, dass der Heide, der es nicht verdient hat, unver‐ dientermaßen Anteil an der himmlischen Herrlichkeit Gottes bekommt. Daraus kann man aber keine moralische Regel ableiten. Es wäre eine widersprüchliche Regel, dass alle, die von Jesus irgendwie Gebrauch ma‐ chen, aber die Gemeinschaft mit Jesus Christus ablehnen, am himmlischen Festmahl partizipieren und alle, die Jesus treu bleiben, in die Finsternis hinausgestoßen werden. Aus dieser Regel würde ein absurder Zustand entstehen. Aber in dieser besonderen Begegnung hier und jetzt könnte etwas angemessen sein, wofür sich keine moralische Regel entwerfen lässt. Die christliche „Gerechtigkeit allein aus dem Glauben“ (Röm 3,26) ist immer eine Ausnahme-Gerechtigkeit. Sie kann nicht zur moralischen Regel werden. Denn sonst wäre es eine moralische Regel, dass wir dem zustimmen, was wir für moralisch falsch halten. Wir müssten also das moralisch falsche Verhalten wegen einer moralisch richtigen Regel tolerieren. Damit würde unser moralisches Verhalten in Widerspruch treten zu unseren moralischen

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Regeln. Die Begründung moralischer Toleranz kann deshalb nur ausnahms‐ weise gelten und muss sich auf die jeweilige Situation beziehen. Aber Jesus macht es immerhin zur Regel, dass immer nur die einzelne Begegnung mit ihm entscheidet. Bei ihm entscheiden keine Regeln, sondern allein der gnädige Wille Gottes hier und jetzt. Niemand kann einfordern, dass er einen Platz in der himmlischen Gemeinschaft verdient hat. Sondern alle, die dort sitzen, müssen einräumen, dass sie alle nur unverdientermaßen dort sitzen. Oder sie wissen nicht, warum sie es verdient haben. Es entscheidet allein die einzelne Begegnung, aber keine Regel. Die Kirche entspricht dieser Ausnahme-Gerechtigkeit, indem sie ihre Kraft nicht nur für Gemeindeglieder einsetzt, sondern für alle, die sie um Hilfe bitten. Sie fragt nicht bei der Drogen- oder bei der Schwanger‐ schaftsberatung, ob jemand evangelisch ist. Es ist bemerkenswert, dass viele Menschen eine Pfarrerin um seelsorgerischen Rat bitten, die aber sonst nicht in die Kirche kommen. Umgekehrt dagegen kämen viele Kirchgänger nicht auf die Idee, die Pfarrerin als Seelsorgerin aufzusuchen. Seelsorge vollzieht sich nämlich in der einzelnen Begegnung, im Hier und Jetzt. Der sonntägliche Gottesdienst dagegen bildet treue Beziehungen aus: Hier bildet sich eine Gemeinde und die Institution des Glaubens. Natürlich kann auch in der Gemeinde Seelsorge nötig werden, aber oft thematisieren die Menschen auf anderen Kanälen in der Gemeinschaft des Glaubens ihre Lebensthemen. Hier und jetzt kann dagegen etwas wertvoll werden, wofür sonst im Leben vielleicht Regeln entgegenstehen. Hier und jetzt ist Jesus für den Hauptmann eine Hilfe geworden. Aber sonst hat der Hauptmann den Glauben an Jesus für irrelevant oder störend gehalten. Er wollte vermutlich weiter Beamter eines heidnischen Staates bleiben. Sogar der heidnische Hauptmann bekommt geholfen, der danach an etwas anderes glauben will. Jesus lässt sich auf solche Einzelbegegnungen ein. Und trotzdem soll es nicht bei ihnen bleiben. Jesus hat weiterhin Menschen um sich, die ihm nachfolgen. Und was er tut, soll bewirken, dass schließlich Menschen miteinander im Reich Gottes eine Gemeinschaft bilden. Es wäre wünschenswert, wenn auch diejenigen, die nur hier und jetzt Jesus vertrauen, sich eingewöhnen können, zu dieser Gemeinschaft dazuzugehören. Dennoch wendet sich Jesus auch Einzelschicksalen zu, ohne zu fragen, ob jemand seiner Gemeinschaft beitritt. Um sich so großzügig Einzelschicksalen zuwenden zu können, braucht Christus seine Gemeinschaft und die Menschen, die ihn begleiten. Aber

Mt 8,5–13

umgekehrt braucht seine Gemeinschaft der Gläubigen auch seine Gnade, dass sie unverdientermaßen bei ihm willkommen sind. Wenn es eine Regel ist, dass die Gläubigen in die Finsternis hinausgestoßen werden, dann ist das unverdient. Aber wenn sich Jesus den Einzelschicksalen zuwendet, ohne dass sie einen regelgeleiteten Anspruch darauf verdienen, wird seine Gnade zur Regel – auch für die, die in der Finsternis stehen. Biblische Alternativen Eine kluge Alternativerzählung ist die zwischen Jesus und einer Sy‐ rophönizierin (Mk 7,24–30) beziehungsweise Kanaanäerin (Mt 15,21– 28). Jesus lehnt ab, ihrer kranken Tochter zu helfen, weil sie keine Israelitin ist. In ihrem Widerspruch gegen seine Ablehnung erreicht sie schließlich, dass die Tochter geheilt wird. Sie erreicht es, weil ihr Glaube groß ist (Mt 15,28) oder wegen ihres Wortes (Mk 7,29). Die Frau stiftet eine Beziehung, der sich Jesus nicht entziehen kann, obwohl er die religiöse und kulturelle Differenz zu ihr betont. Von wechselseitiger Kooperation kann hier gesprochen werden, weil Jesus helfen könnte, aber den kulturellen Gegensatz nicht überbrücken kann, während es bei der Frau umgekehrt ist. Zu fragen wäre hier, ob diese Beziehung nun stark genug ist, dass die kulturellen Differenzen fallen, oder ob sie diese Differenzen stehen lässt und tragbar macht, so dass dennoch eine soziale Kooperation möglich ist. Der fremde Wundertäter, der im Namen Jesu Wunder tut, ohne sich dem Jüngerkreis anzuschließen, wird von Jesus nicht abgelehnt: „Denn wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“ (Mk 9,40). Der Differenz der Gruppierungen wird durch dieses Schlusswort keine Beachtung geschenkt. Heißt das schon, dass Toleranz in Akzeptanz übergeht und eine heimliche Zusammengehörigkeit des fremden Wundertäters mit dem Jüngerkreis besteht? Muss also die Ablehnung der Gemeinschaft heruntergespielt oder bewusst übersehen werden, damit man für das‐ selbe Ziel miteinander kooperieren kann?

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16 Toleranz

Literatur zur Vertiefung: R. Forst: Toleranz im Konflikt, §§ 1–3 (30–52). – Forst dürfte als der bedeutendste Ethiker zum Thema der Toleranz gelten. In den ersten Paragraphen seines Buches stellt er die Grundlagen seiner Toleranztheorie dar: Wer ein Verhalten toleriert, muss es nicht schon respektieren oder gar wertschätzen. Menschen haben einen moralischen Anspruch, toleriert zu werden, wenn ihre Position oder ihr Verhalten allgemein und reziprok nicht zurückweisbar ist, auch wenn damit noch nicht bewiesen ist, dass sie recht haben. Chr. Schliesser: Vergebung der Sünden – Befreiung zum Leben, 455–478. – Verge‐ bung lässt sich nicht einfordern und stellt kein normales Verhalten dar. Sie sollte eine Ausnahme bleiben. Die evangelische Lehre, dass der Sünder aus Gnade gerecht wird, beschreibt damit eine Ausnahme-Gerechtigkeit.

III. Lebensbedingungen

17 Körperlichkeit Die Diskurslage Spuren von Leibfeindlichkeit zeigen sich vor allem in solchen religiösen Moralvorstellungen, die auf ein Leben nach dem Tod hoffen, das den aktu‐ ellen Körper abstreift. Deshalb werden Begierden, die ihre körperliche Do‐ minanz gegenüber der menschlichen Vernunft anzeigen, durch moralische Disziplinierungsmaßnahmen gezähmt und auch gelegentlich als Hindernis zur ewigen Seligkeit begriffen. Andererseits lässt sich nicht bezweifeln, dass Leiden immer eine körperliche Komponente hat. Würde die Ethik darauf keine Rücksicht nehmen, so müsste sie auch moralische Verletzungen relativieren. Darüber hinaus hat sich in der Anthropologie ein „corporal turn“ vollzogen: Danach ist menschliches Bewusstsein selbst verkörpert.1 In der Künstlichen Intelligenzforschung werden deshalb Computer bisweilen mit einem Körper ausgestattet, um sie lernfähig zu machen.2 Konkret wird die Körperlichkeit in der Sexual- und Sportethik zum Anwendungsfall. Daneben ist vor einigen Jahren auch die „Neuroethik“ entstanden, die sich mit der Frage beschäftigt, welche Maßnahmen zur Manipulation des Gehirns für die Wahrnehmungs- und Leistungssteigerung ethisch gerechtfertigt werden können. In all diesen Disziplinen überwiegen die Bedenken und Bestimmungen von Grenzen: Sexueller Umgang soll auf Liebesbeziehungen beschränkt,3 Doping aus Gründen der Fairness ver‐ boten sein4 und die Steigerung der Gehirnpotenziale (Neuroenhancement) neben der Fairness auch an die Achtung des eigenen Ich rückgebunden werden.5 Aber auch wenn man liberalistischen Ansätzen folgt,6 zeigt sich an diesen Diskursen, dass der Körper weiterhin als Kampffeld von Diszi‐ plinierungen und Optimierungen bereitet wird. Man könnte hier auch zu anderen Einschätzungen gelangen, wenn doch der menschliche Körper eine Selbstzwecklichkeit besitzt.7 Aber anscheinend sind auch nach dem corporal 1 2 3 4 5 6 7

K. Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie, 59. A. Foerst: Von Robotern, Mensch und Gott, 101f. P. Dabrock/R. Augstein/C. Helfferich u.a.: Unverschämt – schön, 116. F.M. Brunn: Sportethik, 293ff. J. Clausen/O. Müller/S. Schwenzfeuer: Neuroethik, 294. E. Grözinger: Liebe: mehr als ein Trieb, 328. S. Žižek: Körperlose Organe, 174f. D. Bonhoeffer: Ethik, 179 f. I. Karle: Liebe in der Moderne, 59.

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turn noch Körper und Geist in einem asymmetrischen Verhältnis aneinander gebunden: Der Geist bestimmt den Körper auch dann noch zu seinem Mittel, wenn er selbst verkörpert ist. 1. Kor 3,16+17

Zur Textauswahl Ist die Vorstellung gültig, dass der Körper nur eine äußerliche Behausung des Menschen ist, während sein eigentliches Wesen körperlos ist? Und welche ethischen Konsequenzen ergeben sich daraus für den menschlichen Umgang mit dem Körper? Der Leib-Seele-Dualismus, der seinen philoso‐ phischen Ursprung bei Platon hat und auch in der christlichen Tradition unterstützt worden ist, findet durch ein oberflächliches Verständnis bi‐ blischer Texte wie dem hier vorliegenden Nahrung. Daher verdient er besonderer Aufmerksamkeit.

16 Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? 17 Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben, denn der Tempel Gottes ist heilig; der seid ihr.

Offenbar will Gott einen schlecht gebauten Tempel dadurch erhalten, dass er ihn abreißt. Und offenbar will Gott einen schlecht trainierten und schwachen menschlichen Körper dadurch heilen, dass er ihn noch weiter schwächt. Gott führt konsequent zu Ende, was Christen schwach angefangen haben. Denn sie sind Gottes Tempel. Und wenn sie etwas mit diesem Tempel anrichten, dann richtet Gott das mit an, der ja in ihnen wohnt. Was in diesem Tempel passiert, passiert durch Gott darin. Was misslungen ist im eigenen Leben, vernichtet Gott konsequent. Seine Vernichtung zielt darauf, dass Menschen ihrer Bestimmung wieder gerecht werden können. Denn wenn wir Gottes Tempel sind, will sich Gott eigent‐ lich in einem gelungenen Leben ausdrücken. Das bedeutet aber umgekehrt: Wenn etwas misslingt, dann muss es konsequent misslingen, so konsequent, dass man merkt, so nicht mehr leben zu wollen. Ein schlecht gebauter

1. Kor 3,16+17

Tempel soll auch wirklich abgerissen werden, damit der gute Bauplan noch einmal realisiert werden kann. Man mag es weit hergeholt finden, das eigene Leben mit einem Bauwerk zu vergleichen oder den Bau eines Tempels mit körperlichem Training zu vergleichen. Allerdings hat sich Sport in unserer Gesellschaft tatsächlich zum Ausdruck seelischer Gesundheit entwickelt. Wellness-Oasen gehen über die körperliche Sensitivität zur seelischen Erholung. Und wer Sport treibt, setzt sich mit seiner Bestimmung auseinander. Oder anders: Wer Sport macht, setzt sich damit auseinander, dass er ein Tempel Gottes ist. Viele Menschen fangen nämlich erst dann an Sport zu treiben, wenn sie krank geworden sind. Bei Blutdruckproblemen oder Rückenbeschwerden nehmen sie Trainingsprogramme auf sich. Wer Sport macht, setzt sich daher meistens auch damit auseinander, dass man etwas ändern muss im eigenen Leben. Man reagiert auf ärztlichen Rat oder auf die Erfahrung, dass der eigene Körper nicht einfach so robust ist, wie man es gerne hätte. Denn unser eigener Körper ist auch etwas Fremdes für uns selbst. Man muss ihm gerecht werden und ihm in gewisser Weise dienen. Wir setzen uns sportlich mit unserer Endlichkeit auseinander. Unser Körper ist der gegenwärtige Ausdruck unserer Vergangenheit. Er ist der gegenwärtige Ausdruck auch dafür, was in unserem Leben bisher grund‐ sätzlich fehlgeleitet oder korrekturbedürftig gewesen ist. Unser Körper bedroht sogar unsere ewige Bestimmung, weil er mit Krankheiten droht und auch mit dem Tod. Wer seinen Körper bisher missachtet hat, bekommt das kompromisslos zu spüren, und zwar deshalb, damit er sein Leben ändert. „Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben.“ Es wird konsequent zu Ende gebracht, damit wir neu anfangen können. Das ist der Sinn von der merkwürdigen Rede des Paulus: „Ihr seid der Tempel Gottes“. Auch ein kranker Körper zeigt uns, was eigentlich unsere Bestimmung ist. Und gerade der kranke Körper fordert, dass wir seiner Bestimmung im Leben entsprechen und konsequent unser Leben verändern. Was schädlich war, sollen wir konsequent begraben. Darin besteht nicht nur eine zufällige Ähnlichkeit zwischen Sport und Religion. Beide treffen sich darin, dass sie uns Menschen orientieren, indem sie sie in Bewegung bringen. Unser Körper ist einerseits der gegenwärtige Ausdruck unserer Vergan‐ genheit. Er ist der Ort, an dem wir ablesen können, wie viel wir verkraften können und wann wir überfordert sind. Heilige Räume wiederum sind Orte, die die Bedeutsamkeit von Orten hervorheben. Wer Sport treibt, setzt sich

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17 Körperlichkeit

mit sich selbst und seiner Lebensgeschichte auseinander, auch mit dem, was bisher misslungen ist und einer Korrektur bedarf. Und wer sich dann bewegt, verstärkt die eigene Selbstwahrnehmung und das Körpergefühl. Der Körper ist der Ort, an dem ich Wesentliches über mich erfahre, was meine Bestimmung ist und was ich unbedingt verändern sollte. Am Körper kann ich das ablesen, wenn ich mich bewege. Da zeigt sich unser Körper als Tempel Gottes. Heilige Räume bringen ebenso in Bewegung. Das Wichtigste sind nicht die Kirchenbänke zum Sitzen, sondern die Wege, um beim Gehen zu sich selbst zu finden. Auf den Kreuzgängen in Klöstern soll man durch Bewegung sich selbst finden. Kirchen laden ein, sich zu bewegen, und sei es auch nur, die Augen spielen zu lassen zwischen der Höhe und Tiefe des Raums. Ebenso wie der Körper ein Reflex der eigenen seelischen Bedeutsamkeit ist, brauchen Menschen bedeutsame Orte, um sich zu vergewissern, wozu sie da sind und was sie im Leben bestimmt. Gott zeigt sich uns in allerers‐ ter Linie in uns selbst, in unserem Körper. Wir sind der Tempel Gottes. Heilige Räume sind entstanden, damit wir vertieft in unserem Körper Leben spüren, das Gott uns geschenkt hat. Sport unterstützt bei dieser geistlichen Orientierung. Aber er nimmt der Religion ihre Aufgabe nicht ab. Denn sie bringt auch noch diejenigen Menschen in Bewegung, deren körperliche Lebenskraft ans Ende gekommen ist – an Orten, die eine historische Aura haben und die Ewigkeit versprechen. Biblische Alternativen Eine naheliegende Alternative ist die neutestamentliche Auseinander‐ setzung mit der Existenzweise der Menschen am Tage ihrer Auferwe‐ ckung von den Toten. Denn allein mit der Vorstellung der Auferweckung von den Toten wird nahegelegt, das Eigentliche eines Menschen lasse sich vom Körper ablösen. Die Evangelien beschreiben die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus zwar leiblich, aber so, dass er sich verwandelt hat: Er geht durch verschlossene Türen, erscheint und verschwindet unmittelbar. In Apg 9,3 wiederum begegnet Paulus dem Auferstandenen in einer Lichtgestalt vom Himmel. Paulus selbst benutzt einen originellen Begriff, der den Dualismus aus Leib und Seele überwindet: Er spricht von einem „geistlichen Leib“ (1. Kor 15,44). Insbesondere seine Argumentation zur Auferstehung in diesem Kapitel eignet sich als Alternativtext, weil Paulus zwischen

1. Kor 3,16+17

natürlichem und geistlichem Leib durch eine Instanz vermittelt, nämlich durch das „Ich“ bzw. das „Wir“ (V. 49). Zwischen beiden Leibern besteht eine Ich-Kontinuität (vgl. Phil 1,23). Ist das Ich eine dritte Instanz jenseits von Körper und Geist oder eine Synthese aus beidem, die auf unterschiedliche Weise seine Identität bewahren kann? Im letzteren Falle wäre das Ich zwar auf einen Körper angewiesen, könnte ihn jedoch relativ variabel umgestalten, ohne sich dabei zu verlieren.

Literatur zur Vertiefung: F.M. Brunn: Die Virtualisierung des Körpers im Sport, 55–74. – Sport versteht Brunn als leibliches Spielen. Der eigene Körper wird damit nicht einfach zum Objekt gemacht, weil das psychische Selbsterleben im Vordergrund steht. Im Sport interagiert der menschliche Körper kulturell mit seiner Natur, durch Inszenierung seines Körpers mit anderen. Deshalb entspricht die „Natürlichkeitsfiktion“ im Sport dem Körper nicht, die Annahme also, der Mensch dürfe seine körperliche Leistungsfähigkeit nur mit natürlichen Mitteln steigern. I. Karle: Tiefe Adressierung, 179–189. – Der eigene Körper wird verdrängt, wenn er der permanenten Optimierungssehnsucht ausgesetzt wird. Zugleich will sich das Subjekt seiner Gegenwart am Körper vergewissern, indem es sich Tattoos und Piercings einpflegen lässt. Die Autorin betont die Selbstzwecklichkeit der Leiblichkeit, um vor einer Körperverdrängung zu schützen. L. Ohly: Trinität und Kirchenraum, 52–61. – Der Kirchenraum bildet die menschliche Auseinandersetzung zwischen Leiblichkeit und umliegender Atmosphäre ab. Kirchen werden nicht willkürlich gestaltet, sondern folgen dabei der atmosphä‐ rischen Autorität, die den menschlichen Leib ergreift.

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18 Robotik/Gentechnik: Die zweite Schöpfung Die Diskurslage Die Frage, wie Leben und Bewusstsein aus chemischen Prozessen hervor‐ gehen können, hat sich seit einigen Jahrzehnten umgekehrt: Könnte Leben selbst nichts anderes sein als ein chemischer oder informationstheoreti‐ scher Prozess, der wie ein Computer formale Informationen überträgt? Seit einigen Jahrzehnten wird an Synthetischer Biologie erforscht, um im Labor künstliche Zellen herzustellen, die zur Zellteilung fähig sind.1 Ebenso übernehmen Maschinen mit Künstlicher Intelligenz existenzielle Entschei‐ dungen, weil sie gegenüber dem Menschen als zuverlässiger, schneller und unparteiischer – eben intelligenter2 – erscheinen. Dabei muss nicht behaup‐ tet werden, dass Menschen ebenso denken wie Maschinen intelligente Ope‐ rationen ausführen. Es reicht anzunehmen, dass Intelligenz verschiedene Arten umfasst, von denen die leistungsfähigste jedoch eine computergene‐ rierte Intelligenz sein könnte. Der Intelligenzbegriff selbst unterliegt dann Schwankungen, die durch technische Entwicklungen ausgelöst werden.3 Transhumanistische Vorstellungen erwarten, dass die Menschheit in eine Gattung technischer Wesen übergeht: Mit Hilfe gentechnologischer Züchtung einzelner Organe könnten erkrankte Körperteile ausgewechselt werden, so dass der Tod aufgehalten oder sogar überwunden werden könnte: Denn mit einem „Mind-Uploading“ könnten künftig alle Informationen des Gehirns auf eine Festplatte übertragen werden, so dass das Subjekt nach seinem natürlichen Tod technisch erhalten bleiben würde. Da nämlich Intelligenz digitalisierbar ist, was Künstliche Intelligenz belegt, ist auch vor‐ stellbar, dass menschliches Bewusstsein auf technische Geräte gespeichert werden kann. Ethisch werden solche Szenarien auf verschiedenen Ebenen diskutiert: 1. Die Folgen solcher technologischen Entwicklungen werden auf der Anwendungsebene beurteilt. Ist es beispielsweise wünschenswert, dass sich Autos ohne menschliche Einflussnahme selbst steuern? Dürfen mit 1 2 3

P. Dabrock/J. Ried: Weder Schöpfer noch Plagiator, 179–191. Y.N. Harari: Homo Deus, 361f. F. Dittmann: Mensch und Roboter – ein ungleiches Paar, 37.

Mk 4,26–29

Hilfe der „Genschere“ (Crisp/Cas) gezielte Eingriffe in das menschliche Genom vorgenommen werden, um schon vor der Geburt Krankheiten zu heilen? 2. Die Ideologieanfälligkeit solcher Szenarien wird untersucht bezie‐ hungsweise ihre wissenschaftliche Seriosität ermessen. Welche politi‐ schen Interessen stehen hinter dem Transhumanismus? Oder können seine Prophezeiungen wissenschaftstheoretisch legitimiert werden?4 3. Zuletzt werden die ethischen Skrupel reflektiert, die durch die „narziss‐ tische Kränkung“ entstehen, das Leben sei kein Wunder und der Mensch nicht die Krone der Schöpfung, weil sich seine chemischen Grundlagen technisch reproduzieren lassen. Darf sein, was der Fall ist? Oder spielt der Mensch Gott, wenn er das Geheimnis des Lebens biochemisch lüftet und dabei an seinen eigenen Grundlagen forscht? Mk 4,26–29

Zur Textauswahl In keiner Bibelstelle wird erzählt, dass eine andere Macht neben Gott die Fähigkeit besitzt, Leben zu erschaffen. Der Mensch kann mit Leben zwar produktiv umgehen, ohne es dabei selbst produzieren zu können. Der vorliegende Textausschnitt ist im Hinblick auf diese These repräsentativ.

26 Und Jesus sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft 27 und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht, wie. 28 Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. 29 Wenn sie aber die Frucht (hervor-)gebracht hat, so schickt er sofort die Sichel hin; denn die Ernte ist da.

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R.M. Geraci: Apocalyptic AI. L. v. Hasseln: Technologischer Wandel als Transformation des Menschen.

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18 Robotik/Gentechnik: Die zweite Schöpfung

Das griechische Wort für die Übersetzung, dass die Erde „von selbst“ Frucht bringt, lautet: „automaté“, automatisch. Und was automatisch passiert, passiert ohne menschliches Wissen. Zwar wissen wir heute, wie aus Same Frucht entsteht, aber wir können trotz dieses Wissens nicht machen, dass sie entsteht. Wir können zwar in biologische Prozesse eingreifen – durch Düngemittel oder sogar durch gentechnische Eingriffe in die Pflanzenzel‐ len. Aber damit machen wir nicht, dass etwas wächst. Wir können nur beeinflussen, dass das, was bereits automatisch wächst, noch ein bisschen besser gedeiht. Aber Wachstum können wir nur beeinflussen, weil die Frucht eigentlich automatisch wächst. Diesem automatischen Naturgeschehen können wir nicht entkommen. Dieser Tatsache entspricht eine Haltung der Offenheit. Wir können näm‐ lich wissen, dass wir mit Wissen nicht herbeiführen können, was wir uns wünschen. Der Same „weiß nicht wie“ er wächst. Und auch die Erde macht alles „automatisch“, also ohne ihr Wissen. Der einzige in der Geschichte, der fähig ist zu denken und etwas zu wissen, ist der Mensch, der Same aufs Land wirft. Aber er verzichtet auf sein Wissen: Von ihm wird erzählt, dass er „schläft und aufsteht, Nacht und Tag“. Auf das, was automatisch wächst, haben Menschen keinen Einfluss – jedenfalls nicht grundsätzlich, sondern höchstens graduell. Und dabei setzen sie den Automatismus des Wachstums voraus. Vielleicht kein Wunder, dass das Neue Testament immer wieder davon gesprochen hat, dass Christen im Glauben „wachsen“. Denn auch religiöses Wissen kann nichts aus dem Nichts erschaffen. Wachsen geht nur von selbst. Nun leben wir in einer Gesellschaft, in der die Landwirtschaft selbst automatisiert wird: Inzwischen gibt es Mähdrescher, die vollautomatisch Felder bestellen, ohne dass ein menschlicher Fahrer sie steuern muss. Auch die Gentechnik hinterlässt den Eindruck, wir wüssten die Gesetze des Wachstums und könnten das Wunder des Lebens automatisieren. Automa‐ tisch wäre das Wachstum aber nur, wenn sein Ertrag aufs Gramm genau vorhersehbar wäre. Nur dann hätten wir wirklich im Griff, was wir wachsen lassen. Tatsächlich aber scheint es eher umgekehrt zu sein. Die regelmäßigen Windstürme im Spätsommer in den USA und auf den karibischen Inseln machen eher darauf aufmerksam, dass der Mensch mit seinem Wissen das Wachstum der Natur behindert. Mit dem Klimawandel wird das ex‐ treme Wetter zunehmen, die Anzahl und Schwere von Stürmen und Tro‐ ckenperioden. Menschliches Wissen über den Einsatz von Düngemitteln,

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Schädlingsbekämpfung und Antibiotika in der Landwirtschaft könnte die Lebensgrundlagen zerstören, wie der Insektenschwund und das Aussterben der Bienen, der größten Helfer in der Landwirtschaft belegt. Vielleicht wäre es an der Zeit zu schlafen und aufzustehen, Nacht und Tag – mit der religiösen Begabung der Offenheit. Wir können Automaten bauen, aber wir können den Automatismus nicht machen, sondern müssen darauf vertrauen, dass in Automaten ein Auto‐ matismus schlummert. Wir können neue Pflanzen züchten, die wachsen, aber wir können nicht das Wachsen erfinden. Das gibt es schon, und zwar automatisch. Der Automatismus des Lebens liegt nicht in unserer Hand, auch nicht der Automatismus des Glaubens. Bei der Weltausstellung zum 500. Geburtstag der Reformation hat in der Luther-Stadt Wittenberg ein Roboter gestanden, der segnen konnte. Man konnte mit dem Finger auf einen Bildschirm drücken, welche Art von Segen man sich wünscht, und dann konnte der Roboter BlessU2 seine Arme heben und einen Segensspruch sprechen. Angeblich sollen mehrere tausend Menschen sich auf diese Weise haben segnen lassen. Fraglich ist nur, ob sie dann auch gesegnet sind. Wenn sie gesegnet sind, dann nicht deshalb, weil ein Roboter für sie automatisch die Hände gehoben hat. Die Wirkkraft des Segens kann man nicht bauen. Wenn sich hier etwas automatisch ereignet hat, dann muss es sehr viel mehr sein als das, was dieser Roboter kann. Ich glaube, dass die Bauer dieses Roboters etwas verwechselt haben, nämlich dass sie zwar Automaten erfinden können, aber nicht den Automatismus, durch den etwas von selbst entsteht. Könnte man den Automatismus bauen, dann wäre er kein Automatismus mehr. Er würde nichts hervorbringen, was „von selbst“ entsteht, sondern was die Erbauer programmiert haben. Ich sage damit nicht, dass wir einfach nur naiv glauben und der Wissen‐ schaft nicht trauen sollten. Die existenzielle Haltung der Offenheit ist ja ein höchst bewusster Lebensstil. Genauso liegt das Heil nicht in weniger Wissenschaft beim Anbau unserer Lebensmittel. Wenn wir im Gegenteil mehr Wissenschaft zulassen, wird man klimaschonende Zusammenhänge erkennen und darauf Rücksicht nehmen. Aber eben ein Teil unseres mensch‐ lichen Wissens besteht auch darin, zu wissen, wo man auf etwas vertrauen muss, was ohne Wissen passiert – automatisch. Die lebendige Kraft des Wachstums kommt von woandersher. Christen deuten diese Kraft theologisch. Denn die Erde kann nichts dafür, dass sie Frucht bringt. Und der Same wächst einfach, er weiß nicht

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18 Robotik/Gentechnik: Die zweite Schöpfung

wie. Nichts in der Welt könnte hervorgebracht werden, wenn nicht diese selbstschöpferische Kraft in die Schöpfung gelegt wäre. Biblische Alternativen Mit einem raffinierten Zuchtverfahren manipuliert Jakob die Felle der Ziegen und Schafe seines Onkels Laban, um sie so nach einer Verein‐ barung in sein Eigentum zu überführen (1. Mose 30,25–43). Dadurch wird der menschliche Einfluss betont, Lebewesen nach eigenen Zielen umzugestalten und zu züchten. Zweifellos bleiben aber die gezüchteten Tiere noch Ziegen und Schafe und werden keine neuen Lebewesen. Und selbst wenn sich heutzutage Hybridbildungen erreichen lassen, bleiben die dabei manipulierten Tiere doch Lebewesen. Es wird keine neue Art von Leben geschaffen, wenn neue Lebewesen erfunden werden. Paulus unterscheidet in 1. Kor 15,45 zwischen einem Lebewesen und einem Leben erschaffenden Geist. Interessanterweise ordnet er diese kategoriale Differenz den beiden Menschen Adam und Christus zu. Zwischen dem Leben Adams und Christi besteht also keine qualitative Differenz, so dass man zwischen verschiedenen Arten von Leben ent‐ scheiden könnte, die sich dann je nach Erfindungskunst jeweils neu erschaffen lassen könnten. Vielmehr ist der Leben erschaffende Geist Christus die Bedingung dafür, dass es Leben überhaupt gibt. Alles Leben hat also den gleichen Ursprung und ist deshalb qualitativ derselben Art zuzurechnen. Ethisch zu klären ist an diesen Texten, wie viel menschliche Freiheit dem Menschen eingeräumt wird, Lebewesen zu manipulieren oder durch künstliche Wesen zu ersetzen. Durch den unüberwindlichen Unterschied zwischen Lebewesen und dem Wesen des Lebens scheint dem Menschen theologisch eine prinzipielle Grenze gesetzt, die ihm zugleich viel Spielraum zur Manipulation diesseits der Grenze gewährt.

Mk 4,26–29

Literatur zur Vertiefung: C. Misselhorn: Grundfragen der Maschinenethik, 70–135. – Wenn Maschinen moralische Entscheidungen treffen sollen, entstehen viele Probleme: Nicht jedes moralische System lässt sich in Computerprogramme übersetzen. Es entstehen Verantwortungslücken zwischen Programmierern, Nutzern und dem Gesetzge‐ ber. Die Gefahr entsteht, dass sich die menschliche Moral an die Programmier‐ barkeit anpasst. L. Ohly: Schöpfungstheologie und Schöpfungsethik im biotechnologischen Zeital‐ ter, 176–194. – Die Synthetische Biologie entwickelt Mikro-Organismen aus synthetisch hergestellten Molekülen, also Leben, ohne dass es von einem Lebe‐ wesen abstammt. Ich zeige, dass die Synthetische Biologie aber nicht Leben neu erschafft, sondern darauf angewiesen ist, dass Leben widerfährt. Damit bleiben auch diese „künstlichen“ Lebewesen in Gottes Schöpfungswirken eingebunden. L. Ohly: Ethik der Robotik und der Künstlichen Intelligenz, 73–92. – Roboter und künstlich intelligente Maschinen können dem Menschen nur in gegenständlicher Weise ähnlich sein. Sie widerfahren aber in Begegnungen verschieden und stoßen unterschiedliche Anerkennungsprozesse an. Deshalb kann der Status des Menschen nicht von Maschinen übernommen werden.

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19 Liebe Die Diskurslage Wer Liebe für die Lösung aller moralischen Probleme hält, übersieht, welche erheblichen Konflikte mit der Liebe in die Welt kommen. Liebe ist parteiisch, moralische Beurteilungen dagegen sollten unparteiisch sein. Aus Liebe gehen Menschen fragwürdige Risiken ein, werden ungerecht oder sogar kriminell. Eine Ethik der Liebe wäre daher besser beraten, die Liebe für eine moralische Anforderung zu halten und nicht schon für die Lösung auf moralische Konflikte. Derzeit steht daher die Ethik der Liebe im Zeichen der ernüchternden Bestandsaufnahme. So wird die Tradition zurechtgerückt: Die Formel von der Liebe eines Menschen „um seiner selbst willen“ nimmt eine Formulie‐ rung von Aristoteles auf, die er jedoch anders verwendet hat1 und die zu einer grundlosen Evidenz der Liebe führt.2 Zur Relativierung gehört auch die Naturalisierung (Liebe lässt sich biochemisch gezielt herbeiführen3) und ihre soziologischen Voraussetzungen (Liebe folgt einer zeit- und sozialge‐ bundenen „Ökologie der Wahl“4). Gegen solche Beschreibungen wirken romantisierende Feststellungen (Liebe und Sexualität als „Komplettberück‐ sichtigung des Anderen“5) sowohl überzogen als auch ethisch unbestimmt: Wo bleibt Raum für mich, wenn ich den Anderen „komplett“ berücksichtige? Oder welche Verantwortung genau trage ich für den Anderen bei der Komplettberücksichtigung? Führen solche Formeln nicht zu einer Überfor‐ derung der Liebenden, indem Liebe zur Perfektionsprojektion stilisiert wird? Feministische Autorinnen zeigen einer solchen Sicht deutliche Grenzen auf, indem sie die Männerdominanz von Liebesbeziehungen kritisch herausstel‐ len und sogar bisweilen vor der Liebe warnen.6 Nun könnte man immerhin die Nächstenliebe für etwas Gutes halten, weswegen sie von Jesus ja auch im Doppelgebot der Liebe zum höchsten 1 2 3 4 5 6

Aristoteles: Nikomachische Ethik, VIII, 4, 1156b 9; VIII, 7, 1157b 31–32. L. Ohly: „Um seiner selbst willen“, 329, 342. A. Bartels: Die Liebe im Kopf, 406, 420. E. Illouz: Warum Liebe weh tut, 41. I. Karle: Sexualität in der Moderne, 270. L. McMoncheck: Feminism and Promisquity, 9–18. C.W. Meline: The Dialectic of Love and Freedom, 349–358.

19.1 Nächstenliebe (Lk 10,25–37)

Gebotenen erklärt worden ist. Dennoch ist auch hier klärungsbedürftig, worin das Gute der Nächstenliebe besteht. Immerhin ist mit ihr die Gefahr der paternalistischen Bevormundung und Dominanz über sozial abhängige Personen verbunden. Kann es wünschenswert sein, dass Menschen in Situationen geraten, in denen sie von der Nächstenliebe anderer abhängig werden? Oder bedarf das Konzept der Nächstenliebe eines Korrektivs durch das Recht7 oder durch die wechselseitige Anerkennung als Gleiche?8 Das vorliegende Kapitel wird unterschiedliche Nuancen der biblisch-ethi‐ schen Rede von der Liebe zum Ausdruck bringen. Zunächst werden zwei Textstellen herangezogen, die aus asymmetrischen sozialen Rollen eine reziproke Beziehung durch Liebe schaffen. Die beiden anschließenden Sektionen beschäftigen sich dann mit Konflikten in intimen Beziehungen.

Zur Textauswahl Die Auswahl der biblischen Texte folgt der thematischen Auswahl. Nach‐ dem der Begriff der Nächstenliebe an seiner paradigmatischen Erzählung vom barmherzigen Samariter bestimmt worden ist, wird die Frage verhan‐ delt, wie Liebe ethische Verpflichtungen nach sich zieht, obwohl sie selbst nicht erzwingbar ist. Anschließend werden Probleme der intimen Liebe diskutiert, nämlich die Frage der Exklusivität intimer Liebesbeziehungen.

19.1 Nächstenliebe (Lk 10,25–37) 25 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte (Jesus) und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. 29 Er aber wollte sich rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 7 8

T. Rendtorff: Menschenrechte als Bürgerrechte, 114. J. Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit, 232.

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19 Liebe

30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. 31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden von dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Eine einfache Frage – denkt man: „Wer ist mein Nächster?“ Ist sie aber nicht. Denn sie führt zu völligen Überraschungen. In der Geschichte ist ist nämlich mein Nächster, den ich lieben soll, der barmherzige Samariter. Also ich bin offenbar der, der von Räubern überfallen worden ist und nichts mehr tun kann. Das stimmt aber eben nicht ganz, denn eins kann ich noch tun: Ich kann meinen Nächsten lieben, nämlich den Samariter. Das ist die erste Überraschung und hat nichts mit dem zu tun, was wir uns sonst unter Nächstenliebe vorstellen, nämlich hilfsbereit sein. Denn nun bin ich ja überfallen worden und kann nicht einmal mir selbst mehr helfen. Ich kann mir nur noch gefallen lassen, dass mir dieser Samariter hilft. Ich kann es mir „gefallen“ lassen, also lieben: daran Gefallen haben, dass mir geholfen wird. Ich habe in meiner Kirchengemeinde immer wieder Menschen kennen gelernt, die sich das nicht gefallen lassen können, die etwa ihren Kindern später im Alter nicht zur Last fallen oder von ihrer Fürsorge und Pflege abhängig werden wollen. Tatsächlich ist es schwer, sich helfen zu lassen, wenn es einmal soweit ist. In solchen Gesprächen merke ich, welche Zumutung das Gebot der Nächstenliebe ist. Ob der Patient, der unter die Räuber gefallen ist, das Gebot wirklich erfüllt hat und den Samariter liebt, erzählt Jesus nicht. Allerdings hat er eine

19.1 Nächstenliebe (Lk 10,25–37)

überraschende Erfahrung gemacht, dass ausgerechnet dieser Samariter hilft, der aus einer für Juden damals unbeliebten Volksgruppe stammte. Er hilft, einfach weil ein Mensch Hilfe braucht, reist aber ab, noch bevor sein Patient wieder gesund wird. Der Patient kann ihm nie etwas zurückerstatten von seiner großzügigen Hilfsbereitschaft. Wenn eines Tages die Wunden geheilt sind, wird er vielmehr zu seiner Familie zurückkehren oder eine Familie gründen, sich verlieben und seine Liebe auf jemanden anderen richten. Dafür hat der Samariter gesorgt, dass die Geschichte der Liebe weitergeht. Aber er hat selbst nichts zurückbekommen für seine Hilfsbereitschaft. Irgendwie erzählt Jesus auch eine tragische Geschichte, eine Erzählung ohne Dankbarkeit, bei der sich der Geheilte und der Samariter nie später noch einmal treffen. Es ist aber eben auch eine Geschichte voller Über‐ raschungen. Liebe geht überraschende Wege. Das mögen wir bedauern. Aber wir werden es nie schaffen, Liebe gerecht aufzuteilen. Wir können uns aber gefallen lassen, wenn die überraschende Liebe uns auch einmal streift. Und wer sich das gefallen lässt, liebt seinen Nächsten. Es wäre zwar schön, wenn der Heimkehrer, nachdem er in der Herberge geheilt wurde, den Samariter jetzt auch noch lieben würde. Aber nachdem er zu seiner Familie heimgekehrt ist, werden andere ihm näher sein und ihm zum Nächsten geworden sein, während der Samariter schon wieder weit weg sein wird. Nächstenliebe bleibt somit ungleich verteilt, bewahrt Menschen aber auch vor Überforderung. Und trotzdem überschreitet sie Grenzen aus dem sozialen Nahbereich. Um zu verstehen, dass das Gebot der Nächstenliebe nicht bedeutet, sich allen Menschen zu jeder Zeit gleichermaßen zuzuwenden, ist das Ausgangsgespräch zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten zu beachten. Der Schriftgelehrte fragt: „Wer ist mein Nächster?“ Mit dieser Frage – heißt es hier – will er „sich selbst rechtfertigen“. Er stellt also nicht einfach eine Informationsfrage, sondern bedenkt ein praktisches Problem, dessen Lösung einer Rechtfertigung bedarf. Das praktische Problem besteht in der praktischen Überforderung, wenn ich alle Menschen lieben soll wie mich selbst. Dann muss für mich ein hungernder Mensch irgendwo auf der Welt genauso wichtig sein wie mein eigenes Kind. Auf theoretischer Ebene würde der Schriftgelehrte vermutlich auch einräumen, dass alle Menschen die gleiche Würde haben. Aber im praktischen Umgang ziehen wir unsere Kinder den Hungernden irgendwo auf der Welt vor. Der Philosoph Dieter Birnbacher hat das einmal

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19 Liebe

treffend auf den Punkt gebracht:9 Wir könnten 100 Euro für ein gutes Essen ausgeben mit unseren Kindern. Wir könnten dasselbe Geld aber auch für eine Hilfsorganisation spenden. Birnbacher zufolge nehmen wir in Kauf, dass bestimmte Menschen noch länger hungern müssen, sobald wir uns für ein gutes Essen mit den Kindern entscheiden. Wenn wir aber die 100 Euro spenden – was bekommen dann unsere Kinder? Dürfen sie gerade nur ebenso viel bekommen wie alle Hungernden bekommen – und nicht mehr? Muss erst der Hunger der Welt besiegt sein, und erst dann dürfen wir unseren Liebsten Rosen schenken? Oder würden wir nicht gerade Eltern für lieblos und unverantwortlich halten, die ihre eigenen Kinder gerade einmal so notdürftig versorgen wie eine Hilfsorganisation die Hungernden eines Flüchtlingscamps? Um die praktische Überforderung zu vermeiden, will der Schriftgelehrte ein moralisches Rechtfertigungskriterium für die Nächstenliebe, indem er fragt, wer denn sein Nächster ist. Könnte man die Verantwortung für andere nicht auf eine Gruppe einschränken? Jesus wiederum gibt sich nicht damit zufrieden, dass man die Menschheit aufteilt in solche, die der Nächstenliebe wert sind, und in solche, für die man keine Verantwortung trägt. Deshalb ist der Held in seiner Geschichte der Samariter, der außerhalb der eigenen Gemeinschaft steht. Ihn soll der Verletzte lieben wie sich selbst. Jesus findet einen Standpunkt, von dem aus man Nächstenliebe nicht nur für seine eigene Familie oder nur für seine eigenen Landsleute reservieren muss, um einer praktischen Überforderung zu entgehen. Dieser Standpunkt ist der des Verletzten, der so wunderbar geholfen bekommt und selbst nichts mehr tun kann – außer das, was er tun soll, nämlich sich die Hilfe gefallen lassen und den Samariter lieben. Und weil er das kann, muss er die Liebe auch nicht auf seine Lieblingsgruppe begrenzen. Nächstenliebe entgrenzt Liebe prinzipiell – unabhängig davon, ob wir handlungsfähig sind oder nicht. Wir können nicht für alle Menschen gleich‐ zeitig Verantwortung tragen. Aber wir können trotzdem alle Menschen lieben, selbst wenn wir handlungsunfähig sind. Auch wenn wir selbst nur für manche Menschen Verantwortung tragen können, sind doch alle Menschen gleich liebenswert. Ist die Kirche vielleicht in der Rolle des Samariters, die den Glauben weitergibt, aber irgendwie doch in der Gesellschaft ungeliebt ist und oft verspottet wird? Und gerade aus ihr erwachsen Christen, Menschen mit 9

D. Birnbacher: Tun und Unterlassen, 151.

19.1 Nächstenliebe (Lk 10,25–37)

Hoffnung und Glauben. Die Liebe der Kirche richtet sich gegen niemanden genau, sondern irgendwie auf alle, die unter die Räuber fallen und Hilfe brauchen. Sie hilft, aber ihre Liebe ist wohl nicht die Nächstenliebe, von der Jesus spricht. Eher ist sie geleitet von dem anderen Gebot, das Jesus nennt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen.“ Im Leben der Menschen wiederum scheint die Kirche nicht immer einen Platz zu haben. Ihr Engagement wird oft nicht honoriert. Sie verliert auch an Anerkennung und sogar die Menschen, die von ihr lieben gelernt haben. Die Mitglieder der Kirche wiederum besetzen wohl eher die Rolle derer, die von der Kirche und ihrem Dienst profitieren. Auch wenn sie ehrenamt‐ lich in der Kirche engagiert sind, sind sie nur deshalb dazu motiviert, weil die Kirche Glauben vermittelt und Hoffnung gibt. Die Liebe zu Gott in der Kirche war zuerst da. Ihre Mitglieder antworten darauf mit Nächstenliebe. Aber dabei werden sie eben ihre Nächsten lieben und eher nicht die Kirche. Wenn wir es uns gefallen lassen, dass die Liebe überraschende Wege geht, dann werden wir aber immerhin dankbar sein für Gottes verschwenderische Liebe, der nichts für sich zurückfordert. Es reicht dann, dass wir unseren Nächsten lieben. Aber es ist gut, dass wir uns daran erinnern, wie die Geschichte der Liebe begonnen hat, nämlich beim großzügigen Samariter, bei der hilfsbereiten Kirche, im Geist des Glaubens und der Hoffnung. Und sollte es eines Tages so sein, dass die Kirche unter die Räuber fällt, dann ist zu hoffen, dass sie dann auch jemanden findet, den sie lieben kann, nämlich die Menschen, die ihr dann aufhelfen. Literatur zur Vertiefung: K. Barth: Kirchliche Dogmatik II/2, 460–462. – Karl Barth hat diese Pointe heraus‐ gestellt, dass der Nächste vom Opfer der Geschichte aus zu suchen ist. Dadurch verliert der Nächste das Stigma, „der arme“ zu sein. Nächstenliebe ist vielmehr die angemessene Antwort auf geleistete Barmherzigkeit. M. Zeindler: „Wer ist mein Nächster?“, 561–585. – Dieser Artikel vergleicht Karl Barths Verständnis von Nächstenliebe mit dem von Emanuel Levinas. Beide stimmen nach Zeindler darin überein, dass nicht der Nächste als Bedürftiger auftaucht, sondern umgekehrt ich von ihm abhänge.

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19 Liebe

19.2 Die Forderung der Liebe (Joh 12,44–50) 44 Jesus aber rief: Wer an mich glaubt, der glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat. 45 Und wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat. 46 Ich bin in die Welt gekommen als ein Licht, damit, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe. 47 Und wer meine Worte hört und bewahrt sie nicht, den werde ich nicht richten; denn ich bin nicht gekommen, dass ich die Welt richte, sondern dass ich die Welt rette. 48 Wer mich verachtet und nimmt meine Worte nicht an, der hat schon seinen Richter: Das Wort, das ich geredet habe, das wird ihn richten am Jüngsten Tage. 49 Denn ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, der hat mir ein Gebot gegeben, was ich tun und reden soll. 50 Und ich weiß: sein Gebot ist das ewige Leben. Darum: was ich rede, das rede ich so, wie es mir der Vater gesagt hat.

Macht sich Jesus mit diesen Worten eigentlich klein oder gerade besonders groß? Meint er, dass es nicht so sehr auf ihn ankommt, sondern auf Gott, der ihn geschickt hat? Oder meint er, dass man Gott nicht ohne ihn erkennt? – Er will niemanden verurteilen. Er will unbedeutend bleiben. Aber andererseits wird doch der Sünder durch ihn und durch das Wort verurteilt. Jesus verurteilt zwar nicht, ist aber das Kriterium, an dem sich Gnade oder Gericht entscheidet. So macht Jesus eigentlich beides aus sich: Er macht sich besonders klein und besonders groß. Oder anders gesagt: Jesus macht sich gerade besonders groß, indem er sich besonders klein macht. Gerade an dem Menschen, der sich klein macht, erfahren wir, wer Gott ist. Und das macht diesen Menschen dann wieder sofort besonders bedeutsam und besonders groß. Es ist problematisch, sich so darzustellen. Und gar nicht mal so selten, dass sich Menschen gerade dadurch groß machen, dass sie sich klein reden. Indem sie „doch nur helfen“ wollen und sich scheinbar zurücknehmen, können sie die Abhängigkeit steigern, die andere zu ihnen entwickeln. Solche Herrschaftsfiguren sind typisch in Lebensbereichen, in denen Menschen auf Fürsorge angewiesen sind (im Krankenpflegebereich), aber auch dort, wo Macht mit Fürsorge verschleiert wird (in politischen Wahlkämpfen: Politiker

19.2 Die Forderung der Liebe (Joh 12,44–50)

wollen nur dienen, aber gerade dadurch herrschen sie über uns.)10 Und genauso treten sie in Beziehungen auf, die von Liebe geprägt sind, weil sich Menschen hier besonders verletzbar machen. Es kann dann passieren, dass ein Familienmitglied sich für die anderen aufgibt und gerade so in der Beziehung alles steuert. Wir können also zurecht misstrauisch sein gegen diese Herrschaftsfigur. Darf Jesus sich auf diese Weise so groß machen, indem er sich so klein macht? Jesus antwortet, dass er niemanden richten will: „Das Wort, das ich geredet habe, das wird ihn richten am Jüngsten Tage.“ Schaut man genauer hin, was dieses Wort ist, so wird das klarer: Es ist das Liebesgebot: „Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe“ (Joh 15,12). Das Johannesevangelium identifiziert Jesus mit diesem Gebot: Er ist selbst das Liebesgebot. Denn Jesus selbst ist „das Wort“ (Joh 1,14). Und weil er das Wort der Liebe selber ist, passt es doch, dass er sich groß macht, indem er sich klein macht. Denn die Liebe ist ja genau dieses Phänomen, das groß wird, weil man sich selbst ganz dem Anderen widmet und von sich selbst dabei absieht. Deshalb kann Jesus niemanden selbst richten, sondern das Wort, das er redet, wird die Lieblosen richten. Die Liebe kann niemanden richten, weil sie ganz beim Anderen ist. Aber wer sich freiwillig dem Anspruch der Liebe entzieht, richtet sich selbst, weil er sich der Liebe entzieht und sich nicht lieben lässt. Das Liebesgebot heißt dann nicht in erster Linie: „Liebt einander!“, son‐ dern: „Lasst euch lieben!“ Anders könntet ihr auch gar nicht das Liebesgebot erfüllen. Denn ihr könntet niemals lieben, wenn ihr euch selbst nicht gefallen lasst, dass Gott euch liebt. Dietrich Bonhoeffer hat diese Vorordnung des Geliebtwerdens vor der aktiven Liebeshandlung so hervorgehoben: „Was Liebe ist, weiß nur wer Gott kennt. … Was Liebe ist, erkennen wir allein in Jesus Christus, und zwar in seinem Tode für uns.“11 „Das bedeutet, daß unsere Liebe zu Gott ausschließlich auf dem Geliebtwerden durch Gott beruht.“12 „Vielmehr gilt auch für alles über die menschliche Liebe Sagende, daß Gott die Liebe ist.“13 Deshalb ist Gott in Jesus klein geworden. Bonhoeffer sagt: „Seine Liebe

10 11 12 13

Sektion 24.3. D. Bonhoeffer: Ethik, 337. A.a.O., 339. A.a.O., 340, Hervorhebung im Original

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19 Liebe

musste völlig werden“14 – durch seinen Tod.15 – Und gerade dadurch wird seine Liebe aber groß, etwas, woran wir nicht achtlos vorbeigehen können, ohne uns dabei etwas zu nehmen. Es lassen sich aber nicht alle Menschen gefallen, dass sie von Jesus Chris‐ tus geliebt sind. Durch Jesus sind die Religionen getrennt. Und auch wer gar keiner Religion angehört, lässt sich die Liebe Christi nicht gefallen. Die Liebe Christi hat dann keine Relevanz im Leben. Liebe gefällt uns nämlich nur dann, wenn wir den Anspruch an uns achten, der mit der Liebe verbunden ist. Ich lasse mich nur gerne lieben, wenn ich dem Anspruch der Person, die mich liebt, gewachsen bin. Das ist jedoch nicht selbstverständlich. Wer mich liebt, will auch von mir geliebt werden und erwartet Vertrauen. Sogar wer mich selbstlos liebt, könnte sich dadurch einen heimlichen Vorteil verschaffen wollen. Diese Vorteile der Liebenden einzuräumen, bin ich vielleicht nicht bereit. Es ist dann schwer einzusehen, dass Jesus uns liebt, ohne Ansprüche zu stellen. Das macht es schwer, uns Gottes Liebe an uns gefallen zu lassen. Aber dann richtet uns die Liebe und nicht Jesus. Die Liebe Christi, diese einmalige und doch ewige Liebe gilt uns über die Zeiten hinweg. Unser Konflikt, seine Liebe uns gefallen zu lassen, geht aber auch über die Zeiten hinweg. Das heißt jedoch nicht, dass wir diesen Konflikt noch weiter aufschieben sollten. Wir sollten sehr bald zulassen, dass Gott uns liebt, und unser Leben danach ausrichten. Bonhoeffer hat dazu geschrieben: „Nichts ist unbarmherziger als den Menschen vorzuspiegeln, dass sie noch Zeit hätten zur Umkehr. Nichts ist barmherziger, nichts ist frohere Botschaft als dies, dass die Sache eilt, dass das Reich sehr nahe ist.“16 19.3 Konflikte unter Liebenden (1. Sam 1,1–17) 1 Es war ein Mann von Ramatajim-Zofim, vom Gebirge Ephraim, der hieß Elkana, ein Sohn Jerohams, des Sohnes Elihus, des Sohnes Tohus, des Sohnes Zufs, ein Ephraimiter. 2 Und er hatte zwei Frauen; die eine hieß Hanna, die andere Peninna. Peninna aber hatte Kinder, und Hanna hatte keine Kinder.

14 15 16

D. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 94. Sektion 23.1. D. Bonhoeffer: Nachfolge, 202.

19.3 Konflikte unter Liebenden (1. Sam 1,1–17)

3 Dieser Mann ging jährlich hinauf von seiner Stadt, um anzubeten und dem HERRN Zebaoth zu opfern in Silo. Dort aber waren Hofni und Pinhas, die beiden Söhne Elis, Priester des HERRN. 4 Wenn nun der Tag kam, dass Elkana opferte, gab er seiner Frau Peninna und allen ihren Söhnen und Töchtern Stücke vom Opferfleisch. 5 Aber Hanna gab er ein Stück traurig; denn er hatte Hanna lieb, obgleich der HERR ihren Leib verschlossen hatte. 6 Und ihre Widersacherin kränkte und reizte sie sehr, weil der HERR ihren Leib verschlossen hatte. 7 So ging es alle Jahre; wenn sie hinaufzog zum Haus des HERRN, kränkte jene sie. Dann weinte Hanna und aß nichts. 8 Elkana aber, ihr Mann, sprach zu ihr: Hanna, warum weinst du, und warum isst du nichts? Und warum ist dein Herz so traurig? Bin ich dir nicht mehr wert als zehn Söhne? 9 Da stand Hanna auf, nachdem sie in Silo gegessen und getrunken hatten. Eli aber, der Priester, saß auf einem Stuhl am Türpfosten des Tempels des HERRN. 10 Und sie war von Herzen betrübt und betete zum HERRN und weinte sehr 11 und gelobte ein Gelübde und sprach: HERR Zebaoth, wirst du das Elend deiner Magd ansehen und an mich gedenken und deiner Magd nicht vergessen und wirst du deiner Magd einen Sohn geben, so will ich ihn dem HERRN geben sein Leben lang, und es soll kein Schermesser auf sein Haupt kommen. 12 Und als sie lange betete vor dem HERRN, achtete Eli auf ihren Mund; 13 denn Hanna redete in ihrem Herzen, nur ihre Lippen bewegten sich, ihre Stimme aber hörte man nicht. Da meinte Eli, sie wäre betrunken, 14 und sprach zu ihr: Wie lange willst du betrunken sein? Gib den Wein von dir, den du getrunken hast! 15 Hanna aber antwortete und sprach: Nein, mein Herr! Ich bin ein betrübtes Weib; Wein und starkes Getränk hab ich nicht getrunken, sondern mein Herz vor dem HERRN ausgeschüttet. 16 Du wollest deine Magd nicht für ein zuchtloses Weib halten, denn ich hab aus meinem großen Kummer und Herzeleid so lange geredet. 17 Eli antwortete und sprach: Geh hin mit Frieden; der Gott Israels wird dir die Bitte erfüllen, die du an ihn gerichtet hast.

Die Liebe ist uns Menschen zu groß. Unzählig viel schweres Leid haben Menschen schon empfunden, weil ihnen die Liebe zu groß gewesen ist. Die rührende Geschichte von Hanna und ihrem Mann Elkana erzählt davon, wie tragisch die Liebe sein kann.

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19 Liebe

Denn in dieser Geschichte macht es keiner richtig. Elkanas zweite Frau Peninna verspottete Hanna, weil Hanna kein Kind hatte. Wie unsicher muss Peninna gewesen sein über die Gunst ihres Mannes, dass sie diese Demütigung nötig hatte. Das könnte auf die Tragik hinweisen, dass Peninna mit Elkana zwar Kinder hatte, aber Elkana Hanna lieber hatte. Zumindest könnte Peninna das so befürchtet haben. Ihre Eifersucht kann man verste‐ hen, obwohl sie die überlegene ist. Aber diese Eifersucht zeigt zugleich, dass ihr die Liebe zu groß ist. Elkana macht auch einiges falsch, so sehr er sich um Hanna bemüht. Er greift nicht in die Eifersuchtsszene zwischen Hanna und Peninna ein oder nötigt Peninna zum Schweigen – vielleicht gerade aus schlechtem Gewissen, weil er eben Hanna lieber hat. Stattdessen bringt er Hannas Konflikt auf eine andere Ebene: „Warum ist dein Herz so traurig? Bin ich dir nicht mehr wert als zehn Söhne?“ Was soll man da antworten? Natürlich ist Elkana seiner Frau so viel wert. Aber das heißt nicht, dass er sich jetzt heraushalten dürfte, wenn seine zweite Frau Hanna demütigt. Und sogar die arme Hanna selbst macht einiges falsch. Sie will unbedingt ein Kind, um den gemeinen Attacken ihrer Widersacherin gewappnet zu sein. Ein Kind muss her, nicht weil Hanna dieses Kind lieben würde, sondern weil sie dann nicht mehr verletzbar wäre. Das Kind wäre sie sogar bereit abzugeben, es kommt nur darauf an, dass sie eins bekommt: „HERR Zebaoth, wirst du das Elend deiner Magd ansehen und an mich gedenken und deiner Magd nicht vergessen und wirst du deiner Magd einen Sohn geben, so will ich ihn dem HERRN geben sein Leben lang.“

An der Stelle ist Elkana sogar überzeugender. Denn nur bei ihm ist die Liebe um ihrer selbst willen da: „Bin ich dir nicht mehr wert als zehn Söhne?“ So muss das eigentlich sein in der Liebe. Aber sogar für die arme Hanna ist die Liebe zu groß. Wenn den Menschen das Geschenk der Liebe zu groß ist, scheint Gott selbst die Liebe an die menschlichen Bedürfnisse anzupassen, damit sie „passt“. In der Fortsetzung der Erzählung schenkt Gott Hanna schließlich das lang ersehnte Kind. Damit beendet er die Attacken Peninnas, aber den Anlass für ihre Eifersucht dürfte er damit eher verstärkt haben. Zwar beruhigt er den Konflikt zwischen Elkana und Hanna, aber eine Liebe um ihrer selbst willen wird Elkana trotzdem nicht bekommen. Gott hat Hanna endlich die ersehnte Waffe gegeben, sich selbst zu schützen. Aber ob sie

19.3 Konflikte unter Liebenden (1. Sam 1,1–17)

ihren Sohn dadurch schon um seiner selbst willen lieb hat? Und ob sie Elkana dadurch endlich so lieben kann, wie er ist? Eigentlich ist genau das das Tragische an der Geschichte, dass Gott die Liebe an menschliche Bedürfnisse anpasst. Eigentlich geht diese Erzählung nicht einfach gut aus. Gott macht die Liebe kleiner, als sie von sich aus ist. Gut ausgegangen wäre die Geschichte, wenn Elkana seinen beiden Frauen die Sicherheit gegeben hätte, sie so zu lieben, wie sie sind. Gut ausgegangen wäre die Geschichte, wenn Peninna gelernt hätte, mit ihrer Eifersucht umzugehen, und Hanna mit ihrem unerfüllten Kinderwunsch. Vielleicht wäre die Geschichte noch besser gewesen, wenn Elkana nicht gleich zwei Frauen gehabt hätte, die sich ihren Mann hätten teilen müssen. Aber selbst wenn nur eine ihn bekommen hätte, kann die andere ja noch eifersüchtig sein. Die Liebe ist uns Menschen einfach zu groß. Aber vielleicht ist das genau das Barmherzige an der Tat Gottes. Er macht sie eben kleiner, als sie ist. Er passt sie an die menschlichen Bedürfnisse an, bis es passt. Alles passt zwar dadurch nicht. Denn die Liebe ist eben eigentlich größer. Aber ihre Größe besteht eben auch darin, dass sie eine Eigendynamik entwickelt, die es Menschen möglich macht, damit umzuge‐ hen. Und vielleicht ist genau das die Botschaft an dieser Geschichte: Vertraut der Liebe, die sich sogar für euch klein macht, wenn sie euch zu groß ist. Vertraut nicht nur euren geliebten Partnern, die ebenso Fehler machen wie ihr, sondern vertraut auch der Liebe, die euch verbindet und die keiner von euch in seiner Gewalt hat. Christen nennen Gott selbst die Liebe (1. Joh 4,16). Sie tun das, gerade weil Gott sich erniedrigt hat, ein verletzbarer Mensch geworden ist, der geblutet hat und gestorben ist. So verletzlich hat sich Gott gemacht und so verletzlich die Liebe. Aber Christen reden auch von der Auferstehung. Die Liebe hat eine Eigendynamik, die Menschen nicht anhalten können.

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Literatur zur Vertiefung: L. Ohly: Warum Konflikte unter Liebespartnern so schwierig zu lösen sind, 130–146. – Liebe ist als Bindung zu beschreiben, die zwischen Menschen besteht und bleibt, auch wenn ihre Gefühle zueinander abkühlen. Diese Bindung ist nicht gewählt und kann auch nicht abgewählt werden. Darin besteht ihr theologischer Charakter. Konflikte und Trennungen unter Liebespartnern sind ethisch so vorzunehmen, dass dabei die bleibende Bindung respektiert wird. L. Ohly: Ethik der Liebe, 27–53. – Ethisch vorteilhafter ist es, wenn Liebe nicht idealisiert wird. Sie hat zwar einen theologischen Charakter, der aber nicht nur guttut, sondern auch Menschen belasten und ihnen zu groß werden kann. Ein achtsamer Umgang mit der Liebe und, wo sie hinfällt, kann zu einer Entlastung führen.

19.4 Ehebruch (Joh 8,3–11) 3 Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5 Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du nun? 6 Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. 10 Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verurteilt? 11 Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: Auch ich verurteile dich nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Niemand von uns würde mit dem Finger in den Sand schreiben, wenn vor uns eine Frau stehen würde, die gleich gesteinigt werden soll. Niemand von uns würde das tun, es sei denn, es wäre uns gleichgültig, was mit ihr passiert. Vielleicht ist es Jesus auch zuerst gleichgültig gewesen. Immerhin hat diese

19.4 Ehebruch (Joh 8,3–11)

Frau das Gesetz Moses gebrochen – also das Gesetz, von dem Jesus einmal gesagt hat, er sei dazu gekommen, um es zu erfüllen (Mt 5,17). Dann könnte man es verstehen, dass ihm diese Frau egal ist. Vielleicht will er aber auch nur diesen Anschein erwecken. Es ist auch ungewöhnlich, dass man diese Frau ausgerechnet zu ihm gebracht hat. Jesus war kein Richter und hatte kein Amt, hier ein Urteil zu sprechen. Vielmehr hatte man vor, ihn mit diesem Fall in Versuchung zu bringen. Anscheinend hatten seine Gesprächspartner schon geahnt, dass Jesus auf der Seite dieser Frau steht. Vielleicht hat er gerade deshalb den Eindruck erwecken wollen, als sei sie ihm egal. Dann geht es in dieser Szene niemandem um diese Frau, sondern allein darum, wie Jesus zu Mose und seinem Gesetz steht – also zu der höchsten Autorität seiner Religion, zu der er selbst gehörte, zum Judentum. Man wollte ihn überprüfen, ob er ein gesetzestreuer Jude ist. Und dazu hatte man wohl vermutet, dass ein gesetzestreuer Jude nichts dagegen hätte, dass diese Frau für ihr Vergehen gesteinigt wird. Und ebenso wird man dann vermutet haben, dass Jesus wiederum diese Frau retten wollen würde. Schließlich ist ihm das auch gelungen. Aber bis es soweit kommt, schreibt er mit den Fingern in den Sand. Die Pointe dieser Geschichte besteht am Ende darin, dass Jesus sowohl zu Moses Gesetz stehen kann als auch zu dieser Frau. Dass nämlich am Ende diese Ehebrecherin gerettet wird, liegt auch an Moses Gesetz: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Denn wenn sich jemand gemeldet hätte, dass er ohne Sünde sei, hätte er bereits Moses Gesetz gebrochen. In einem Psalm heißt es: „Wenn du, HERR, Sünden anrechnen willst – Herr, wer wird bestehen?“ (Ps 130,3). Eben niemand! Moses Gesetz ist gerade darum gekommen, weil die Menschen Sünder sind. Es sollte die Konflikte entschärfen, die mit der Sünde entstehen. Das Gesetz sollte aber nicht die Sünde leugnen. Wer jetzt behauptet, er sei kein Sünder, ist folglich ein überheblicher Lügner, der Moses Gesetz und dem Lügenverbot aus den zehn Geboten widerspricht. Wer also behauptet, ohne Sünde zu sein, ist ein Sünder. Deshalb wirft niemand den ersten Stein. Denn wer jetzt den ersten Stein wirft, macht sich zum Sünder. Er stellt sich vor allen bloß und zeigt, dass er Moses Gesetz missachtet. Deshalb darf niemand den ersten Stein werfen. Jesus wirft auch keinen Stein. Aber bei ihm hat das andere Gründe: Er will die Frau retten. Und auch da zeigt er, dass er zugleich auf der Seite Moses und der Frau steht. Denn Moses Gesetz war eben dazu da, Konflikte

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zu entschärfen. Das Gesetz sollte dem Leben dienen und es nicht vernichten. Deshalb soll die Frau am Leben bleiben. Jesus hat übrigens keinen Zweifel daran, dass diese Ehebrecherin eine Sünderin ist. „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“ So redet nur jemand, der das bisherige Verhalten der Frau ablehnt. Aber Jesus macht eine wichtige Unterscheidung: Er stellt zwar die Sünde bei dieser Frau fest, bestraft sie aber nicht. Die Schuld beim Namen zu nennen, muss noch nicht bedeuten, einen Menschen zu bestrafen. Jesus rettet nicht deshalb diese Frau, weil er viel gnädiger wäre als wir, sondern weil er ein Gesetz achtet, das die Konflikte entschärfen will, die mit der Sünde entstehen. Dieses Gesetz dient dem Leben und will nicht den Tod des Sünders. Darin liegt die Kunst, die Schuld beim Namen zu nennen, ohne jemanden zu bestrafen. Ich möchte deshalb kurz ausmalen, wie wir leben würden, wenn wir das von Jesus lernen würden. Wie würden wir leben, wenn wir niemals den ersten Stein erheben würden? Normalerweise stellen wir Menschen vor Gericht, wenn sie das Gesetz gebrochen haben. Bei Ehebruch vielleicht nicht mehr. Aber auch da mache ich als Seelsorger die Erfahrung, dass wir erbarmungslos bei Männern und Frauen sind, die eine Affäre haben und neben ihren Ehepartnern noch einen Geliebten haben. Wir tun das, obwohl die meisten von uns sagen würden, dass man das Recht hat, sich scheiden zu lassen, und das Recht auf den eigenen Körper. Warum soll man dann nicht auch das Recht haben, mit den Menschen intim zu sein, mit denen man will? Eigentlich denken fast alle so. Aber wir verurteilen dann doch die Menschen, die das tun. Und damit machen wir zweimal genau das Gegenteil von dem, was Jesus tut. Jesus verurteilt erstens nicht, nennt aber zweitens trotzdem die Sünde beim Namen. Er hält Ehebruch für eine Sünde. Aber wer diese Sünde tut, soll trotzdem nicht bestraft werden. Stellen wir uns vor, wir würden so leben. Was würde sich bei uns ändern? In der Geschichte wird nicht gesagt, dass Jesus der Frau ihre Sünde vergibt. Vielleicht hat er ihr nicht vergeben. Er hat sie nur nicht bestraft. Aber ihre Sünde hat er benannt. Und gerade so macht er sie verantwortlich für ihr Handeln und ermöglicht ihr, als zurechnungsfähige Person ihr Leben zu ändern. In einer Gesellschaft, wo Ehebruch nicht bestraft wird, ist er nicht schon erlaubt. Was Menschen zerstört, soll nicht sein. Aber auch Strafe zerstört Menschen. In einer Gesellschaft, wo niemand den ersten Stein

19.4 Ehebruch (Joh 8,3–11)

wirft, wird trotzdem trennscharf zwischen Gut und Böse unterschieden. In einer Gesellschaft dagegen, in der bestraft wird, wird nicht trennscharf unterschieden, wenn sich Menschen einerseits Ehebruch und Ehescheidung leisten und andererseits zugleich verurteilen, wenn sie dieses Verhalten abstrakt behandeln. In einer Gesellschaft, wo wir verurteilen und bestrafen, tun wir etwas, was wir eigentlich verabscheuen. Und das ist so, wie den ersten Stein zu werfen, weil wir uns für sündlos halten. Literatur zur Vertiefung: P. Gehring: Biopolitik als Paarpolitik, 249–263. – Der Aufsatz behandelt weniger das Problem des Ehebruchs als seine politischen Voraussetzungen: Sexualität ist ein Austragungsort politischer Festlegungen. Partnerschaft erhöht auch in Zeiten der Liberalisierung die sexuellen Verpflichtungen aneinander. Die moderne Paarpolitik, die in der Reproduktionsmedizin gipfelt, stärkt das Paar zu Lasten von Kindern und Frauen. L. Ohly: Ethik der Liebe, 227–262. – Um das Thema des Ehebruchs ist es in der evangelischen Ethik still geworden. Daher schlage ich meinen Beitrag zur Vertiefung vor, der zwar offenlässt, worin die Verletzung bei der hintergangenen Partnerin liegt, aber der Ehe ältere Rechte vor der Affäre einräumt. Mit älteren Rechten sind jedoch nicht zwingend auch mehr Rechte verbunden.

Biblische Alternativen Man hätte in diesem Kapitel auch das Phänomen und die ethischen Probleme der Sexualität verhandeln können, die hier nur gestreift worden sind. Die evangelische Ethik hat sich seit den 1970er Jahren lange Zeit weitgehend aus dieser Debatte zurückgehalten und sich fast ausschließlich auf die Diskussion um homosexuelle Partnerschaften konzentriert. Biblisch wäre hierzu die Verurteilung der homosexuellen Praktiken in Röm 1,26f zu nennen oder der alttestamentliche Gesetzes‐ text, der homosexuellen Geschlechtsverkehr verbietet (3. Mose 18,22). In beiden Texten wird Homosexualität mit einer Missachtung der Ehre Gottes verbunden. In ihrer Kürze lassen diese Texte aber so viel an der Begründung offen, dass eine bibelorientierte Ethik der Sexualität sich kaum allein darauf stützen kann. Ethische Folgefragen müssten hierzu beantwortet werden, etwa welchen argumentationsstrategischen Sinn die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Sexualität bei Paulus in Röm 1 hat, welche Reichweite und Geltungskraft die alttestamentlichen

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Gebote überhaupt haben (vgl. Kap. 7) und woran sich die angebliche Missachtung der Ehre Gottes durch homosexuelle Partnerschaften zeigt, insbesondere wenn die Partner Christen sind. Für eine verantwortete Beschäftigung mit diesem Thema müssen zudem weitere biblisch-ethi‐ sche Grundlagen herangezogen werden, um eine differenzierte Sicht freizulegen. Hierzu gehören die Erzählung vom barmherzigen Samariter mit ihrer originellen Pointe (Sektion 19.1), aber auch Texte zur Pluralität von Lebensformen (Kap. 3), zur Freiheit (Sektion 4.3), zu den Geboten und zur Toleranz (Kap. 16). Die Bibel verhandelt die ethische Bedeutung der Sexualität über das Spezialthema der gleichgeschlechtlichen Liebe hinaus in einer aufrich‐ tigen Weite. Das Hohelied Salomos ist eine Sammlung erotischer Lie‐ beslieder, aus der entnommen werden kann, wie wertschätzend sexuelle Partnerschaft in Liebesbeziehungen beurteilt wird. Zur aufrichtigen Thematisierung gehört aber auch die Benennung sexueller Gewalt und Täuschung (Ri 19, 2. Sam 13,11–17, 1. Mose 19,30–38). Diese Zeugnisse belegen, dass Intimität nicht die unmittelbare Lösung auf moralische Probleme darstellt, sondern selbst konfliktreich und gewaltaffin ist. Werden solche Texte ethisch untersucht, so muss gefragt werden, ob wirklich Keuschheit und körperliche Zucht die Lösung sein soll (Mt 5,27–30), also die Distanz zu den eigenen körperlichen Bedürfnissen, oder ob nicht eher die Anerkennung der menschlichen Verletzlichkeit und also Nähe zur Körperlichkeit vor sexuellen Übergriffen bewahrt.

20 Die Schwachen1 Die Diskurslage Bei der Diskussion um den Status der Schwachen geht es letztlich immer um die Deutungshoheit: 1. Sollten die Schwachen entscheiden dürfen, welche Äußerungen ver‐ letzend sind und welche Praktiken menschenunwürdig? Behinderten‐ verbände protestieren etwa gegen Maßnahmen der Präimplantations‐ diagnostik, weil sie im drohenden Schwangerschaftsabbruch eine Diskriminierung Behinderter erkennen.2 Ebenso weisen People of Colour darauf hin, wie stark die Sprachpraxis von rassistischen Vorstellungen durchsetzt ist, die eine verletzende Wirkung haben.3 2. Oder sollten umgekehrt die Starken stellvertretend und advokatorisch für die Schwachen eintreten? Der Bundestag hat im Jahr 2019 die Pro‐ testbewegung BDS gegen die israelische Besatzungs- und Siedlungspo‐ litik als antisemitisch eingestuft. Hier hat das Parlament nicht selbst die Perspektive der Schwachen für sich reklamiert, sondern sich advokato‐ risch vor das jüdische Volk gestellt. Solche Entwicklungen ziehen jedoch selbst boykottierende Maßnahmen nach sich: Wer sich beispielsweise BDS-Aufrufen angeschlossen hat, kann aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden (Cancel Culture). 3. Oder gibt es schließlich einen Rahmen, in dem alle unabhängig von ihrer sozialen Position gemeinsam und in reziprok gewährter Gleichheit darüber befinden, wie Personen unterschiedlicher sozialer Positionen menschenwürdig zusammenleben? Das Problem an den ersten beiden Positionen besteht darin, dass Gruppie‐ rungen entweder für sich reklamieren zu wissen, wer die Schwachen sind, oder selbst die Schwachen zu sein beanspruchen und damit sich autoritativ berechtigen, die Deutungshoheit zu besitzen. Als Reaktion darauf können die zurückgewiesenen Parteien sich selbst als die wahren Schwachen benen‐ nen: Werdende Eltern könnten die Präimplantationsdiagnostik einfordern, 1 2 3

L. Ohly: Rücksicht auf die Glaubensschwachen, 296–299. A. Buchanan: Genetic Intervention and the Morality of Inclusion, 270. T. Ogette: exit Racism, 64.

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20 Die Schwachen

weil sie sonst gegenüber anderen Familien benachteiligt werden, indem sie nicht das Beste für ihr Kind wollen dürfen.4 Und wer Wörter benutzt, die rassistisch empfunden werden, kann sich mit dem Rassismusvorwurf stig‐ matisiert und in der Zurückweisung seiner Wortwahl unterdrückt fühlen.5 Wer hat dann das Recht, die Position des Schwachen wirklich einzunehmen? Wie aporetisch die jeweilige Reklamation der Schwachen-Rolle ist, zeigt sich beim Fall des Kameruner Kolonialismusforschers Achille Mbembe, der im Jahr 2020 Antisemitismus-Vorwürfen ausgesetzt gewesen ist aufgrund seiner Kritik an der Politik Israels, oder auch an der „advokatorischen“ Diskussion um den Historiker A. Dirk Moses, der den Holocaust nicht als singuläres historisches Verbrechen betrachtet, sondern ihn in Zusammen‐ hang mit dem Kolonialismus bringt. Wer hat hier die Deutungshoheit, darüber zu entscheiden, wer in solchen Debatten zu den Schwachen gehört und damit höhere Rechte hat? Diese Aporie belegt, dass die Frage, wer die Schwachen sind, weder von den (ggf. advokatorisch) Starken noch von den Schwachen beantwortet werden kann. Hinter der Titulierung von Starken und Schwachen muss ein Konsens unter Gleichen angestrebt werden, um über eventuelle Deutungs‐ hoheiten grundsätzlich zu entscheiden.

Zur Textauswahl Der vorliegende Text wird in kirchenpolitischen Kontexten oft dazu in‐ strumentalisiert, innerkirchliche Konflikte abzuschneiden und den tradi‐ tionellen Bestand kirchlicher Konventionen zu bewahren. Daher bedarf er einer näheren ethischen Einschätzung. Zudem gehört er zu den wenigen biblischen Texten, die auf die machttheoretische Bedeutung der Rollenzu‐ weisungen in der Rede von den Schwachen und Starken aufmerksam machen.

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A. Buchanan/D. Wikler: Eugenics and its Shadows, 53. T. Ogette: exit Racism, 22.

20.1 Rücksicht auf die Glaubensschwachen (1. Kor 8,4–13)

20.1 Rücksicht auf die Glaubensschwachen – Das moralisch-praktische Dilemma (1. Kor 8,4–13) 4 Was nun das Essen von Götzenopferfleisch angeht, so wissen wir, dass es keinen Götzen gibt in der Welt und keinen Gott als den einen. 5 Und obwohl es solche gibt, die Götter genannt werden, es sei im Himmel oder auf Erden, wie es ja viele Götter und viele Herren gibt, 6 so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm; und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn. 7 Aber nicht jeder hat die Erkenntnis. Denn einige, weil sie bisher an die Götzen gewöhnt waren, essen es als Götzenopfer; dadurch wird ihr Gewissen, weil es schwach ist, befleckt. 8 Aber Speise wird uns nicht vor Gottes Gericht bringen. Essen wir nicht, so werden wir darum nicht weniger gelten; essen wir, so werden wir darum nicht besser sein. 9 Seht aber zu, dass diese eure Freiheit für die Schwachen nicht zum Anstoß wird! 10 Denn wenn jemand dich, der du die Erkenntnis hast, im Götzentempel zu Tisch sitzen sieht, wird dann nicht sein Gewissen, da er doch schwach ist, verleitet, das Götzenopfer zu essen? 11 Und so wird durch deine Erkenntnis der Schwache zugrunde gehen, der Bruder, für den doch Christus gestorben ist. 12 Wenn ihr aber so sündigt an den Brüdern und verletzt ihr schwaches Gewissen, so sündigt ihr an Christus. 13 Darum, wenn Speise meinen Bruder zu Fall bringt, will ich nie mehr Fleisch essen, damit ich meinen Bruder nicht zu Fall bringe.

Bei der Frage, wie die gesellschaftlich Schwachen zu berücksichtigen sind, ist bereits die Perspektive maßgeblich, wie über sie geredet wird: Denn schon bei dieser Entscheidung werden soziale Gruppierungen in ein Muster einsortiert, ohne dass sie sich selbst dort einsortiert haben und dem sie kaum entkommen können, weil eine dominante soziale Gruppe über ihren Status befindet. Das trifft auch zu, wenn diese dominante Gruppe sich eigentlich mit „den Schwachen“ solidarisiert. Die diskursive Perspektivierung, Men‐ schen als Schwache zu definieren, nehme ich in diesem Kapitel in den Blick. Menschen können zu Schwachen werden, weil sie als Schwache tituliert werden. Die Rede von den Schwachen ist also instrumentalisierend, um Macht aufzubauen und sich selbst zu den Starken zu zählen. Umgekehrt gibt

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es in bestimmten Milieus aber auch eine instrumentalisierende Strategie, die eigene Macht auszubauen, gerade indem man sich selbst zum Schwachen tituliert. Denn weil in diesen Milieus die Schwachen Vorrechte beanspru‐ chen können, kann man mit Sonderrechten für sich Vorteile erzwingen, indem man die andere Seite davon überzeugt, dass man zu den Schwachen gehört. Wenn also Schwachsein eine kommunikative Funktion hat, so liegt es innerhalb des christlichen Milieus nicht fern, in der Kommunikation des Glaubens soziale Rollen der Stärke und Schwäche zu etablieren. Die Rede von den „Glaubensschwachen“ (Röm 14,1) kann also gut über die kommunikativen Machtmechanismen aufklären, die diese sozialen Rollen diskursiv festlegen. Darauf werde ich mich in diesem Kapitel konzentrieren. Es gilt als eine christliche Glaubenstugend, auf seine eigenen Ansprüche zu verzichten zugunsten der Schwachen. Diese Tugend6 steigert sich noch einmal, wenn man sogar auf seine eigenen Prinzipien oder Anschauungen verzichtet, um auf die „Glaubensschwachen“ Rücksicht zu nehmen. Vor allem Kirchenleitungen halten diese Tugend hoch und reklamieren sie in verschiedenen Konfliktfeldern: Bei innerkirchlichen Diskussionen klagen Kirchenleitungen öfter das Ziel der Einheit der Kirche ein. Dahinter steckt implizit die Forderung nach Rücksicht auf die Glaubensschwachen, wie sie mit Paulus begründet wird anhand seiner Diskussion mit den Korinthern über den Verzehr von Götzenopferfleisch (1. Kor 8–10). In seiner raffinierten Argumentation gesteht Paulus dabei seinen Kontrahenten zwar zu, dass ihre Position theologisch richtig ist, erklärt aber dabei ihre theologische Erkenntnis für irrelevant bei gewissen innerkirchlichen Auseinandersetzun‐ gen. Vielmehr sei es angemessen, bei der praktischen Anwendung dieser Erkenntnis in Liebe Rücksicht auf andere zu nehmen. Diese Argumentation aus dem 1. Korintherbrief wird bisweilen als kirchliches Prinzip „Rücksicht auf die Glaubensschwachen“ gedeutet. Das Argument hat aber in seiner prinzipiellen Deutung einen Haken: Es führt zu einem moralisch-praktischen Dilemma. Das ist deswegen so, weil es auf der Handlungsebene schlichtweg nicht anwendbar ist. Mag die Argumentation aus dem 1. Korintherbrief auch beeindrucken und für eine christliche Ethik bedeutsam sein, so liegt ihre Bedeutung nicht darin, dass sie ein Prinzip begründet. Denn wäre die Rücksicht auf die Glaubensschwachen ein Prinzip, würde sie in die Handlungsunfähigkeit treiben.

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Kapitel 26.

20.1 Rücksicht auf die Glaubensschwachen (1. Kor 8,4–13)

Wer bestimmte Erkenntnisse erworben hat, kann sich von gewissen Sitten und Traditionen befreien. In Erkenntnis steckt daher eine emanzipatorische Dynamik. Diese Dynamik kann allerdings zu Lasten anderer Menschen gehen, die diese Erkenntnis nicht haben und die veränderte Lebenspraxis missdeuten können. Daher gipfelt das paulinische Argument in der Mah‐ nung an die, die Erkenntnisse erworben haben und damit frei werden: „Seht aber zu, dass diese eure Freiheit für die Schwachen nicht zum Anstoß wird!“ Das Beeindruckende an diesem Argument ist, dass Erkenntnis damit zu einer kommunikativen Funktion erklärt wird: Aus Erkenntnissen folgen kommunikative Verbindlichkeiten. Wer für sich Erkenntnisse erworben hat, muss die eigenen Erkenntnisse im Diskurs verantworten. Daraus kann aber kein Prinzip „Rücksicht auf die Glaubensschwachen“ abgeleitet werden: Gerade wenn gilt, dass aus bestimmten Inhalten hand‐ lungsrelevante Verbindlichkeiten für diejenigen erwachsen, die die Erkennt‐ nis besitzen, dann muss die interpersonale Perspektive mitberücksichtigt werden, von der aus ein Prinzip „Rücksicht auf die Glaubensschwachen“ vertretbar ist. Und eine solche Perspektive kann niemand ernsthaft einneh‐ men. Um „Rücksicht auf die Glaubensschwachen“ als Prinzip zu begründen, muss es auf der kommunikativen Ebene plausibel sein, also ohne Berück‐ sichtigung der Inhalte, die jemand vertritt. Ansonsten wären bestimmte richtige Inhalte von vornherein als unchristlich diskriminiert. Das würde nämlich bedeuten, dass Christen nur teilweise Zugang zur Wahrheit haben dürften, und das von vornherein. Es würde sich an den Inhalten selbst entscheiden, dass Christen sie nicht vertreten dürfen, und zwar obwohl sie wahr sind. Daher muss sich die Geltung eines angeblichen Prinzips „Rücksicht auf die Glaubensschwachen“ auf der kommunikativen Ebene entscheiden lassen. Untersuchen wir dafür folgende Fälle: 1. Nehmen wir an, das Prinzip „Rücksicht auf die Glaubensschwachen“ sei aus der Perspektive der Glaubensschwachen selber formuliert. Sobald sie es vertreten, sind sie keine Glaubensschwachen mehr. Denn sobald jemand einen moralischen Anspruch setzt, dass andere auf ihn in seiner Lebenspraxis Rücksicht zu nehmen haben, nimmt er eine erkenntnisgeleitete Perspektive ein. Es wäre ein Widerspruch, wenn ein Glaubensschwacher für seine Position Respekt einfordern würde, wenn er sie selbst für schwach hält. Ein Glaubensschwacher vertritt daher nicht

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einmal eine Position, weder eine christliche noch eine nicht-christliche. Paulus stilisiert daher folgerichtig die Glaubensschwachen in schwei‐ gender Gefolgschaft bestimmter Traditionen (V. 7.10.). Gerade in ihrer leichten Manipulierbarkeit liegt ja ihre Verletzlichkeit. 2. Wenn dagegen eine „glaubensstarke“ Person dieses Prinzip vertritt, kann sie damit nicht andere verpflichten, sondern nur sich selbst. Damit zieht sie prinzipiell ihre eigene Perspektive und die damit ver‐ bundenen Ansprüche zurück. Auf prinzipieller Ebene ist das aber nicht möglich. Die „glaubensstarke“ Person ist nicht prinzipiell verpflichtet, ihre Position zurückzunehmen. Es können nur Gründe gegen die Auf‐ rechterhaltung ihrer Position stehen, die sich im faktischen Diskurs erst herausstellen. Das setzt aber voraus, dass der Diskurs erst einmal geführt wird und mit ihm alle Ansprüche offen vertreten werden dürfen. Wenn sich aber im Lauf des Diskurses herausstellt, dass die eigenen Ansprüche relativiert werden müssen, so liegt das nicht daran, dass die andere Seite damit nicht leben könnte. Denn die andere Seite besteht entweder aus „Glaubensschwachen“, auf die man zwar Rücksicht neh‐ men muss, die aber selber gar keine Position haben. Oder aber die Gegenseite hat auch eine Position, wird aber dann auch von „Glaubens‐ starken“ vertreten. Das bare Vorliegen eines Dissenses fordert also noch nicht, dass man aus Rücksicht auf die Gegenseite die eigene Position zurückzieht. Denn das müssten dann beide „glaubensstarke“ Positionen tun, was absurd wäre. Das haben wir im Kapitel über die Goldene Regel schon gesehen.7 Aus einem erkenntnisgeleiteten Dissens würde dann eine erkenntnisblinde Entscheidungsunfähigkeit folgen. Die Absurdität einer prinzipiellen Verpflichtung für alle, die eine Position haben, sie zugleich zurückzuziehen, lässt sich nur dann abmildern, wenn einige Diskursteilnehmer schweigen. Aber auch diese Variante ist absurd. Denn schweigende Enthaltung bedeutet ja noch nicht, dass der Schweigende „glaubensschwach“ und im Sinne von Paulus gefährdet ist zugrunde zu gehen. Somit kann auch aus der Perspektive der Glaubensstarken kein prinzipieller Grund für eine „Rücksicht auf die Glaubensschwachen“ formuliert werden. 3. Das Prinzip kann nur aus einer dritten Perspektive formuliert werden, nämlich aus der Perspektive eines „Richters“ in einem Streitfall. Richter aber können dieses Prinzip nicht angeben, weil sie es sonst genauso 7

Kapitel 8.

20.2 Liebe als das Recht des Anderen (1. Kor 8,1–3; 13,12)

wenig befolgen könnten wie eine glaubensstarke Person. Folglich kann jemand in der Rolle eines unbetroffenen Richters nur in Einzelfällen die Rücksicht auf die Glaubensschwachen anraten. Mehr als anraten kann er dabei diese Rücksicht nicht. Denn sobald er sein Urteil ka‐ tegorisch spricht, erhebt er sich in eine Perspektive, die weder der Glaubensschwache noch die Glaubensstarke einnehmen können, und zwar aus prinzipiellen Gründen nicht: Denn in einem rechtskräftigen Urteil „Rücksicht auf den Glaubensschwachen“ würde sich der Richter selbst gegen seinen eigenen Urteilsspruch stellen. Literatur zur Vertiefung: A. Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft, 243–276. – Mbembe rekonstruiert die Stigmatisierung der „Neger“ aus der Perspektive der Opfer, ohne dass sie dabei die Opfer bleiben sollen. Damit wird gerade nicht aus der Position der Schwachen argumentiert, die sich zugleich als sakrosankt immunisiert. Vielmehr führt die Opferperspektive zu einer Transformation, die ihr Negatives überwindet. Mbembe bezieht sich hier ausdrücklich auf Kreuz und Auferstehung Christi. Eine menschengerechte Gesellschaft soll Universalität und individuelle Differenz miteinander versöhnen.

20.2 Liebe als das Recht des Anderen (1. Kor 8,1–3; 13,12) 1 Was aber das Götzenopfer angeht, so wissen wir, dass wir alle die Erkenntnis haben. Die Erkenntnis bläht auf; aber die Liebe baut auf. 2 Wenn jemand meint, er habe etwas erkannt, der hat noch nicht erkannt, wie man erkennen soll. 3 Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt. 12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.

Welche Schlüsse können wir aus der paulinischen Argumentation zur Rück‐ sicht auf die Glaubensschwachen ziehen, ohne in ein moralisch-praktisches Dilemma zu fallen? Immerhin besetzt Paulus selbst die Perspektive eines Glaubensstarken. Er erhebt dabei die Rücksicht auf die Glaubensschwachen nicht zum Prinzip, trifft aber doch eine generelle Entscheidung: „Darum,

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20 Die Schwachen

wenn Speise meinen Bruder zu Fall bringt, will ich nie mehr Fleisch essen, damit ich meinen Bruder nicht zu Fall bringe“ (1. Kor 8,13). Das ist ein konsequenter Ausweg aus dem Problem, zwar auf Glaubens‐ schwache Rücksicht zu nehmen, ohne aber ein entsprechendes Prinzip zu erheben. Denn Paulus verpflichtet nur sich selbst und rät sein Verhalten anderen gegenüber nur als vorbildlich an (1. Kor 11,1). Diese Selbstverpflich‐ tung und das Anraten freier Selbstzurücknahme ergibt sich dabei aus einem anderen Prinzip, nämlich der Liebe. Das Liebesprinzip entfaltet er mit dem vorliegenden Text, den er der Debatte um die Glaubensschwachen voran‐ stellt. Liebe kann hier als Prinzip interpretiert werden, weil sie nach dem 1. Korintherbrief als handlungsleitendes Erkenntnisprinzip eingeführt wird. Sie ist der Zugang zur wahren Erkenntnis. Auch das berühmte Hohelied der Liebe (1. Kor 13) profiliert den Liebesbegriff erkenntnistheoretisch, aber dabei auch in Abgrenzung zu gewöhnlicher Erkenntnis. Das soll der folgende Gedankengang entfalten. Gewöhnliche Erkenntnis besteht in der bewussten Aneignung von Inhal‐ ten oder Informationen. Dagegen bedarf Liebe als Erkenntnis notwendig einer Perspektive, die man sich nicht aneignen kann: Das ist die Perspektive des geliebten Anderen. Obwohl die Aneignung gewöhnlicher Inhalte die Menge der eigenen Erkenntnisse erhöht, die ich erkannt habe, kann ich darin noch nicht mich selbst erkennen. Meine Selbsterkenntnis ist von der Aneignung gewöhnlicher Erkenntnisse verschieden, weil sie selbst gerade keine Aneignung sein kann. Denn was ich bin, kann ich mir nicht noch aneignen. Was ich von mir erkannt habe, erkenne ich dann nicht wirklich von mir selbst, sondern von einem konstruierten Ich, von einem Abbild. Deshalb hat der Philosoph Jean-Paul Sartre gesagt, dass jedes Ich nur unaufrichtig von sich sprechen kann.8 Mich selbst kann ich nur erkennen über das, was andere Menschen von mir an Erkenntnis angeeignet haben und was ich mir nie selbst aneignen kann. „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel auf ein Rätsel, dann aber Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“

Stückweise Erkenntnis im Rahmen der Aneignung gewöhnlicher Erkennt‐ nisinhalte verbirgt zugleich die Erkenntnis über mich selbst, wohingegen die Selbsterkenntnis wesentlich nur über den Anderen geht. 8

J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, 115f.

20.2 Liebe als das Recht des Anderen (1. Kor 8,1–3; 13,12)

Dieselbe Theorie über die Selbsterkenntnis deutet sich am Anfang der Argumentation über die Rücksicht auf die Glaubensschwachen an: „Wenn jemand meint, er habe etwas erkannt, der hat noch nicht erkannt, wie man erkennen soll. Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt“ (V. 2f). Es ist gerade die liebende Zuwendung zum Anderen (hier: zu Gott), welche die eigene Selbsterkenntnis erweitert, die nämlich nicht über den Weg der Aneignung von Inhalten läuft. Zwei Fragen sind an dieser Stelle zu bedenken. 1. Kann die Außenperspektive auf mich nicht auch eine Verzerrung sein? Wie kann sie dann den wesentlichen Zugang zur Selbsterkenntnis beanspruchen? 2. Warum hat ausgerechnet Liebe diesen erkenntniserweiternden Charak‐ ter? Beide Fragen gehören zusammen: Auch wenn die Außenperspektive ver‐ zerren kann und vielleicht sogar in der Regel mich missversteht, öffnet sich ein Liebender spontan für die Auffassungen der Geliebten, anstatt sich vor ihren Blicken zu schützen oder vor ihren Urteilen zu verbergen. Selbstbehauptung vor einer Geliebten als Geliebten kann erst der Reflex sein auf Erwartungen, die durch das Verhalten der Geliebten enttäuscht worden sind. Sie setzt zum einen bestimmte Erwartungen voraus, die auf „stückweiser Erkenntnis“ beruhen im Sinne von Aneignung gewöhnlicher Inhalte (Menschenkenntnis als Erkenntnis von Wahrnehmungsobjekten). Zum anderen setzt sie Enttäuschungen voraus, die ebenfalls auf „stückwei‐ ser Erkenntnis“ im Sinne der Aneignung von Inhalten (Menschenkenntnis als Erkenntnis von Wahrnehmungsobjekten) beruhen. Will ich mich gegen die Blicke und Erkenntnisse der Anderen behaupten, so sehe ich mich genötigt, mich gegen die Auffassungen der Anderen zu rechtfertigen. Dann kommt es nicht mehr zur wahren Erkenntnis, weil die Bereitschaft fehlt, sich mit den Augen der Anderen zu sehen. Wer ich dann bin, bleibt dann erkenntnismäßig auf der Schwebe. Dagegen öffnet mich die Liebe, mich über den Anderen erkennen zu lassen. Und solange sich Liebe gegen Enttäuschungen der Anderen durchhält, kann ich nicht nur erkennen, wie ich erkannt bin, sondern mir auch zur Selbsterkenntnis werden. Paulus stellt daher ein Modell zur christlichen Konfliktkultur vor, das letztlich alle Dilemmata von Glaubensstarken und Glaubensschwachen hinter sich lässt. Auch die glaubensstarke Person ist in ihrem Erkenntnisweg wesentlich auf den Anderen angewiesen. Erst die Liebe zum Anderen öffnet

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20 Die Schwachen

sich für die eigene Selbsterkenntnis, die der glaubensstarken Person ohne Rücksicht auf den Anderen verborgen bleibt, auch wenn sie mehr Informa‐ tionen gesammelt hat als der glaubensschwache Mensch. Die Rücksicht auf den Glaubensschwachen rechtfertigt sich daher nicht etwa mit dem Ziel, Wahrheitsansprüche um des Friedens willen zu verschweigen, sondern mit dem Ziel der Einheit der Erkenntnis. Wenn meine gewöhnliche Erkenntnis an der Selbsterkenntnis zerbricht und ich nicht bereit bin, mich mit den Augen des Anderen zu sehen, verfehle ich die Einheit der Erkenntnis zwischen den gesammelten objektiven Informationen und meiner Selbsterkenntnis, die mir der Andere vermittelt. Und ohne Einheit der Erkenntnis fehlt meine persönliche Integrität. Eine „Rücksicht auf den Glaubensschwachen“ kann nicht meinen, auf die Glaubensschwäche des Anderen Rücksicht zu nehmen. Vielmehr zielt sie auf die Einsicht, dass auch der Glaubensschwache der Andere ist, der meine Selbsterkenntnis erweitert, während meine ange‐ eignete Selbsterkenntnis nur eine selbstwidersprüchliche Aneignung des Unverfügbaren wäre, wenn ich zugleich den Anderen von der Möglichkeit ausschlösse, mich mir erkennbar zu machen. Wie verträgt sich nun diese Interpretation zur christlichen Konfliktkultur mit den konkreten Verzichtvorschlägen aus der paulinischen Argumenta‐ tion? Muss nicht wenigstens die glaubensstarke Person dann auf Durchset‐ zung ihrer Ansprüche verzichten, wenn ansonsten der Glaubensschwache ganz vom Glauben abfällt? Das Liebesprinzip fordert allgemein solche Handlungen, welche die Möglichkeit nahelegen, dass der Andere mir zum Spiegel meiner Selbsterkenntnis wird und ich für ihn. Solche Handlungen sind mit dem Liebesprinzip auszuschließen, durch die ich mich vom Anderen soweit entfremde, dass es unmöglich wird, dass ich mich von ihm erkennen lassen will – und umgekehrt. Liebe ist aber nicht eindeutig auf bestimmte Handlungen festgelegt, son‐ dern schließt nur bestimmte Handlungen eindeutig aus, nämlich solche, bei denen der Andere meiner Liebe nicht oder ich seiner Liebe nicht vertrauten könnte. Konfrontative Diskursstrategien und Kulturzumutungen sind aber nicht an sich schon riskantere Ausdrucksmittel der Liebe als das Ausweichen vor dem Konflikt. Wer ihm ausweicht, könnte das Interesse am Anderen verlieren und damit ebenso das Liebesprinzip verfehlen. Wenn allerdings die glaubensstarke Person eine innerkirchliche Innovation anstrebt, von der zu erwarten ist, dass der Glaubensschwache auch dann seinen Glauben verliert, wenn sie ihre Innovation mit liebender Zuwendung zum Glaubensschwa‐ chen flankiert, dann hat sie die Innovation einstweilen zurückzustellen

20.2 Liebe als das Recht des Anderen (1. Kor 8,1–3; 13,12)

– jedoch nicht prinzipiell, sondern einstweilen und in Rücksicht auf die aktuelle Diskurssituation. Literatur zur Vertiefung: D. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 106–128. – Die Nächstenliebe hat keine eigenen Ansprüche, sondern orientiert sich an den Ansprüchen des Du. Stellver‐ tretung für andere ist wechselseitig: Ich empfange Stellvertretung von anderen, die ich für andere leiste. Deshalb ist Liebe keine eigene Möglichkeit, sondern verdankt sich der Möglichkeit der anderen.

Biblische Alternativen „Ihr habt allezeit Arme bei euch“ (Sektion 24.5). Auch eine solche Rede über die Armen bedarf der Überprüfung: Wie wird die Rolle der armen Person argumentativ eingesetzt? Erlaubt das Bibelwort, dass auch Arme selbst zu Wort kommen, um ihre soziale Rolle autonom zu bestimmen? Gehören Arme zu „den Schwachen“? Paulus wiederum prahlt regelrecht mit seiner Schwachheit (2. Kor 11,21–33). Er setzt seine Schwächen argumentativ ein, um Autorität zu erzwingen (V. 30; 2. Kor 12,9). Zugleich hält er seine Angeberei für unklug (2. Kor 12,11), aber indem er seine Rede als unklug überführt, verstärkt er seine Autorität, weil seine unverständige Prahlerei die Schwachheit demonstriert, in die er angeblich von seinen Adressaten hineingedrängt wird. Welche ethische Funktion kann aus dieser Argu‐ mentationsstrategie abgeleitet werden? Ist die Fremdbestimmung in der Rollenzuweisung der Schwachen das ethische Problem? Oder sollte die Rede von den Starken und Schwachen überhaupt überwunden werden? Im letzteren Fall hätte Paulus die ideologische Funktion der Rede von den Schwachen am Selbstbeispiel raffiniert demonstriert.

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21 Gewissen Die Diskurslage Gegenwärtig hat sich in der Philosophie die Meinung durchgesetzt, dass das Gewissen keine Stimme moralischer Ideen oder gar eine von Gott berufene Instanz ist. Edmund Husserl gibt ihm lediglich eine biologische Nützlichkeitsfunktion, die geschichtlich gewachsene Instinkte aufbewahrt.1 Hannah Arendt betont sogar, dass das Gewissen keine Fähigkeit zum Urteilen oder Erkennen habe. Stattdessen sei es ein Bewusstsein von sich selbst.2 Es hat mehr eine anthropologische als eine ethische Dimension. Ein schlechtes Gewissen meldet sich, wenn sich das eigene Denken, Wollen und Handeln widersprechen.3 Sein zwingender Charakter, sich mit ihm auseinandersetzen zu müssen, ist unabhängig von seinen Inhalten gegeben. Ethisch muss daher jede Person selbst noch einmal beurteilen, ob sie dem Ruf des Gewissens folgt oder von ihm abweicht. Diese Entscheidung wird ihr durch das Gewissen nicht bereits abgenommen.4 Allerdings ist die Frage von ethischer Bedeutung, ob das Gewissen staatliche Anerkennung verdient, obwohl es selbst wohl kaum ein ethisches Phänomen ist. Würde eine Person ihr Gewissensurteil ignorieren, so würde sie gegen ihre eigenen Überzeugungen handeln und damit ihre persönliche Integrität antasten.5 Darum folgt nach Arnulf von Scheliha die Anerkennung der Gewissensfreiheit als politische Pflicht, weil das Gewissen der Ort persönlicher Freiheit sei.6 Mehr noch: Im Gewissen vollziehe sich die Anerkennung des normativen Gehaltes der Menschenwürde als für das Gewissen unbedingt geltend.7 Hier wird ein reflexiver Prozess beschrieben, der die unbedingte Geltung der Gewissensfreiheit sowohl inhaltlich als auch im aktuellen Gefühl des Gewissens verortet. So wird das anthropologische Phänomen Gewissen wieder ethisch, nämlich durch die Identität des Inhalts der Freiheit mit seinem Vollzug. 1 2 3 4 5 6 7

E. Husserl: Vorlesung über Ethik und Wertelehre, 15f. H. Arendt: Über das Böse, 49. A. v. Scheliha: Protestantische Ethik des Politischen, 235. H. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, 348. W. Härle: Ethik, 116. A. v. Scheliha: Protestantische Ethik des Politischen, 224. A.a.O., 226.

Mt 10,17–23

Mt 10,17–23

Zur Textauswahl Meine Textauswahl folgte der Vorstellung vom Gewissen als einer inneren Stimme, die eine Verbindlichkeit ausstrahlt oder sogar Gebotscharakter hat. Im vorliegenden Text spricht nicht der Mensch selbst, sondern Gott in ihm. Zugleich bricht der Text mit dieser Vorstellung und führt damit in die Problematik des Gewissensbegriffs ein – sogar obwohl der Begriff hier fehlt.

17 Achtet aber auf die Menschen; denn sie werden euch den Gerichten überant‐ worten und werden euch geißeln in ihren Zusammenkünften. 18 Und ihr werdet vor Statthalter und Könige geführt um meinetwillen, ihnen und den Heiden zum Zeugnis. 19 Wenn aber jemand euch überantworten wird, so sorgt nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es wird euch zu der Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. 20 Denn nicht ihr seid es, die da reden, sondern eures Vaters Geist ist es, der in euch redet. 21 Es wird aber ein Bruder den Bruder in den Tod überantworten und ein Vater das Kind, und Kinder werden sich aufstellen gegen Eltern und werden sie töten. 22 Und ihr werdet gehasst werden von jedermann um meines Namens willen. Wer aber bis an das Ende bleibt, wird gerettet werden. 23 Wenn jemand euch aber in dieser Stadt verfolgt, so flieht in die andere. Wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis der Menschensohn kommt.

In solchen grauenhaften bürgerkriegsähnlichen Zuständen wechselseitiger Verdächtigungen und Verfolgungen empfiehlt sogar Jesus, sich lieber zu verstecken und das eigene Leben zu retten, als mutig Widerstand zu leisten. Lieber in die andere Stadt fliehen, als aus Gewissensgründen stark zu sein. Und sogar wenn es dann passiert und man doch unter Druck steht und verhört wird, soll man nicht dem eigenen Gewissen folgen, sondern Gottes Geist. Und Gottes Geist ist nicht unser Gewissen. Denn das Gewissen zwingt uns ja dazu, uns darum zu sorgen, was es von uns fordert. Wir sollen aber sorglos und völlig unvorbereitet in ein Verhör gehen oder wenn uns jemand

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wegen unseres Glaubens belästigt. Völlig sorglos sollen wir in ein Gespräch gehen, wenn uns Andersdenkende wegen unseres Glaubens unter Druck setzen wollen oder verspotten. Im übertragenen Sinne gilt das auch von jeglichem Handlungsdruck, bei dem wir unser Gewissen befragen, welche Handlung wir ausführen sollen. Das Gewissen bringt uns in Sorge. Jesus empfiehlt dagegen in solchen Situationen die Sorglosigkeit. Was passiert, wenn man völlig unvorbereitet in solche Drucksituationen gerät? Man folgt dann der Situation – aber nicht dem eigenen Gewissen. Man wird irgendetwas sagen; vielleicht wird man auch schweigen oder stammeln oder nichts Kluges von sich geben. Und wenn Jesus das empfiehlt, dann misstraut er offenbar dem menschlichen Gewissen, weil es in solche Situa‐ tionen nicht besser helfen kann als die spontane und freie Improvisation. Aber woher wissen wir denn, dass wirklich Gottes Geist redet, wenn wir völlig sorglos und unvorbereitet verhört werden? Es ist auffällig, dass Jesus vom Geist des Vaters spricht, der dann reden wird. Er nennt ihn nicht den Geist Jesu Christi, der nach anderen Aussagen des Neuen Testaments die Christen belehren wird (Joh 14,26). Jesus jedoch ist hier der Anlass für all den Druck und die Gewalt, die seine Nachfolger erdulden müssen, und dadurch kann weder er noch sein Geist hier die Lösung auf den Druck sein. Die Lösung kommt vielmehr vom Geist des Vaters – also des Schöpfers von Himmel und Erde, der das Leben geschaffen hat und will, dass es erhalten bleibt, oder der in seiner Vorsehung dafür sorgt, dass für das beeinträchtigte oder sogar getötete Leben ein Ziel gegeben ist, das Gott der Vater setzt. Wenn wir in Drucksituationen stammeln, aber unser gewissenhaftes Sorgen vor einem Gewalthaber nicht hilft, dann kann nur der Geist dessen helfen, der uns erschaffen hat und ein Ziel mit uns setzt, der Geist der Erschaffung und Vorsehung Gottes. Jesus behauptet übrigens nicht, dass der Geist des Vaters überzeugende Worte spricht. Wir sollen ihn zwar reden lassen, aber ob er wundersame Worte ausspricht, die uns retten, behauptet Jesus nicht. Menschen geben unter Gewaltandrohung Geheimnisse preis; sie sagen unter Druck, was sie später bereuen. Vielleicht redet der Geist des Vaters ziellos in uns, und dann sagen wir auch merkwürdige und ungeplante Äußerungen, die aus Menschensicht beschämen oder die man später bereut. Vielleicht hat der Geist dann nur das Ziel, die Situation irgendwie zu überstehen. Jedenfalls geht es Menschen unter Druck nicht besser, wenn sie ihrem Gewissen folgen. Man könnte zwar einwenden, wenn ich auf alle Verhör‐ methoden vorbereitet bin und wenn ich mir auf alle Fragen die passenden

Mt 10,17–23

Antworten zurechtgelegt habe und sie nur noch abspulen muss, dann werde ich keine Geheimnisse verraten. Dann weiß ich ja, was ich sagen werde. Und dann werde ich hinterher auch nichts bereuen und ein gutes Gewissen behalten. Das mag man so annehmen. Aber sobald man unter Druck steht und Gewalt ausgesetzt ist, macht man sich genau deshalb verdächtig, dass man immer die passende und auswendig gelernte Antwort gibt. Der Druck wird dadurch gerade noch stärker. Das gilt auch im übertragenen Sinn bei jedem Handlungsdruck, dem wir dadurch entkommen wollen, dass wir immer eine Lösung schon parat haben. Was macht Menschen dagegen so sicher, dass es besser wäre, dem eigenen Gewissen zu folgen als unvorbereitet dem Heiligen Geist die Situation zu überlassen? Was macht sie so sicher, die Ziele ihres Gewissens wären besser als die Ziele des göttlichen Geistes? Das eigene Gewissen setzt uns zusätzlich noch unter Druck: Es fordert von uns, so zu handeln, wie wir es gelernt haben. Vorbereitet sein heißt unter Druck stehen. Im Gewissen setzen wir uns selbst einer Verfolgungssituation aus. Es verhört uns ständig, ob wir an uns Verrat üben oder ihm gewachsen sind. Aber das Gewissen ist eine ungerechte Stimme: Denn es setzt uns ja nicht wegen bestimmter Inhalte unter Druck. Alle Menschen haben ein Gewissen, aber völlig verschiedene Moralvorstellungen. Und sie werden alle von ihrem Gewissen gejagt, ob‐ wohl ihre inneren Stimmen jeweils anderes sagen. Das Gewissen hat keine allgemeingültige Moral, sondern es bemächtigt sich jeglicher Moral, um Menschen unter Druck zu setzen. Jedenfalls ist das Gewissen keine göttliche Stimme in uns. Denn der Geist, den wir reden lassen sollen, wenn wir unter Druck stehen, entlastet uns in dem Moment gerade von allem Druck. Jesus verlangt damit, dass wir unseren eigenen Zielen untreu werden, wenn wir uns nicht sorgen sollen, wie oder was wir unter Druck reden oder tun. Wir sollen nicht mehr selbst einem Ziel nachjagen. Und sobald der Druck fehlt, können wir deshalb alles falsch machen, ohne dass Gott der Vater sein gutes Ziel mit uns aufgibt. Christen, vor allem evangelische Christen, haben das Gewissen oft als Gottes Stimme in uns interpretiert. Sie haben Martin Luther deshalb gefeiert, dass er auf dem Reichstag zu Worms vor dem Kaiser standhaft geblieben ist und nicht seinen evangelischen Thesen abgeschworen hat. Vielleicht aber ist Luther dabei gar nicht seinem Gewissen gefolgt. Vielleicht ist er völlig unvorbereitet nach Worms gekommen. Er wird zwar den Druck gespürt haben und die Angst, die die Staatsgewalt ihm eingejagt hat. Aber das heißt nicht, dass sein Gewissen diesem Druck auch Widerstand geleistet

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hat. Vielleicht hat Luther nur deshalb sagen können, was er sagte, weil er stammelte, unvorbereitet irgendwas von sich gegeben hat, sorglos die Situation für sich hat sprechen lassen. Christen haben jedenfalls noch mehr zu feiern, wenn Luther nicht unter Druck eines schlechten Gewissens geredet, sondern wenn die befreiende Stimme Gottes in ihm gesprochen hatte. Und vielleicht ist es typisch für den Geist Gottes, dass er im Menschen stammelt. Paulus hat das einmal so angedeutet, dass der Heilige Geist die Gläubigen „mit unaussprechlichem Seufzen“ vertritt (Röm 8,26). Wenn Gottes Geist spricht, verfolgt er seine eigenen Ziele und nicht die Ziele der Menschen und auch nicht die Ziele ihres Gewissens. Und deshalb kann es für Menschen so erscheinen, dass Stammeln oder Seufzen unter Druck nichts Sinnvolles zu sagen wäre. Doch wenn aus Menschensicht nichts Sinnvolles zu sagen ist, dann werden Menschen ja gerade von ihrem Druck entlastet, etwas Sinnvolles sagen zu müssen. Es klingt verwirrend, wenn wir unsere Ziele aufgeben sollen, was unter Druck zu tun ist. Man meint dann, dass irgendwas doch schon das Richtige sein muss und dass wir uns doch daran halten sollten. So redet das Gewissen. Es findet immer einen Weg, um Druck aufzubauen. Es gibt aber Situationen unter Druck oder Gewaltandrohung, wo unser Gewissen gerade nicht hilft, weil es die Belastung dabei nur noch verstärkt. Druckentlastung ist dann genau das Richtige. Wohlgemerkt: Jesus behauptet nicht, dass wir unter Druck getrost Ge‐ heimnisse verraten sollen. Denn dann hätten wir uns vorher gesorgt und darauf vorbereitet, zu Verrätern zu werden. Wir sollen vielmehr noch mehr loslassen als unsere Geheimnisse, nämlich unseren Sinn dafür, was unter Druck das Richtige zu tun ist und welche Ziele sich damit erreichen lassen. Denn unter Druck entscheidet nie das Richtige, sondern das, was in der Situation passiert. Und Gewalttätige beeinflussen massiv mit, was in einer Situation passiert. Sie beeinflussen sogar, welches Gewissen wir haben, wenn wir mit ihnen reden müssen. Aber eins können sie nicht verhindern, nämlich dass wir stammeln. Sie können die Druckentlastung des Heiligen Geistes nicht ausgleichen. Biblische Alternativen „Gewissen“ ist kein biblischer Begriff. Das Phänomen der gebietenden oder beurteilenden inneren Stimme wird in der hebräischen Bibel mit

Mt 10,17–23

„Herz“ beschrieben und im Neuen Testament mit „Bewusstsein“. Man kann seine Taten mit „gutem Bewusstsein“ betrachten (z. B. 1. Tim 1,5). Dagegen fehlt der Ausdruck des schlechten Gewissens. Vielmehr kann das „Bewusstsein“ durch soziale Interaktion getrübt werden (1. Kor 8,12). Paulus warnt an zwei Stellen sogar, das eigene Handeln vom Bewusstsein befragen zu lassen (1. Kor 10,25.27), weil der soziale Umgang Priorität hat und das Bewusstsein bestimmen soll (V. 28). Die Vorstellung fehlt, dass sich das Bewusstsein vom Gewissen leiten lassen soll – ganz zu schweigen vom Fehlen einer Art „Über-Ich“ im psychologischen Sinn. Das „Herz“ ist die menschliche Neigung; das „Bewusstsein“ der „Zeuge“ von dieser Neigung (Röm 2,15). Das Werk des göttlichen Gesetzes ist den Heiden nach Paulus nicht etwa ihrem „Bewusstsein“ eingeschrieben, sondern ihrem Herzen. Zugleich unterstreicht Paulus in seiner Argumentation, dass das Herz mit sich selbst uneinig und somit als Beurteilungsinstanz unzuverlässig ist (Röm 1,24). Eine verlässliche Quelle für die göttliche Stimme fehlt daher im Menschen. Paulus misstraut solchen inneren Beurteilungsinstanzen von Fall zu Fall, sowohl dem Herzen als auch seiner Überprüfung im Bewusstsein.

Literatur zur Vertiefung: M. Heidegger: Sein und Zeit, 267–280 (§§ 54–57). – Auch Heideggers Sicht auf das Gewissen ist nicht ethischer Art. Vielmehr interessiert er sich dafür, wie im Gewissen das Dasein des Menschen zum Ausdruck kommt. Deshalb rekon‐ struiert er auch keine moralischen Inhalte des Gewissens. Der Mensch wird vom Gewissen getroffen, weil er seinem Wesen nach offen für dessen Rufe ist. Das Gewissen bezeugt dem Menschen seine Möglichkeit, er selbst sein zu können. In seiner Offenheit, vom Gewissen gerufen zu werden, zeigt sich sein „Gewissen-haben-wollen“, nicht indem er sich dazu entschieden hat, sondern indem er dieses Wollen und Hören auf den Ruf ist.

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22 Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens Die Diskurslage Nach der deutschen Einheit wurde das Abtreibungsrecht liberalisiert und sieht nun unter bestimmten Bedingungen (Fristen, Beratungspflicht) vor, dass der Schwangerschaftsabbruch straffrei bleibt. Zugleich ist der deutsche Embryonenschutz so hoch wie in keinem anderen westlichen Land der Erde. So dürfen Embryonen im Reagenzglas (in vitro) ausschließlich zur Reproduktion gezeugt werden, nicht aber zur genetischen Grundlagen- oder medizinischen Forschung (§ 2 EschG). Um jedoch den Forschungsstandort Deutschland nicht zu gefährden, hat der Bundestag mehrfach einen Stichtag gesetzt, bis zu dem sogenannte „überzählige“ Embryonen, die nach einer Künstlichen Befruchtung nicht in den Mutterleib eingepflanzt worden sind, für die Grundlagenforschung freigegeben und dabei vernichtet werden dürfen. Das ist nur ein Beispiel für den deutschen Widerspruch in der Achtung menschlicher Embryonen. Ein weiterer besteht darin, dass für in vitro gezeugte Embryonen ein höheres Schutzrecht gilt als für natürlich gezeugte. Für die „Pro Life“-Bewegung, die sich vor allem aus katholischen und evangelikalen Gruppen zusammensetzt, ist der Schutz des Embryos unan‐ tastbar.1 Dagegen hat Jürgen Habermas angeführt, dass sich die Achtung werdenden Lebens mit seiner Entwicklung schrittweise verändere und daher eine eindeutige Zurechnung der Menschenwürde auf Embryonen ab einem bestimmten Stadium willkürlich sei.2 Flankiert wird die Debatte von der Untersuchung der Stichhaltigkeit sogenannter „SKIP“-Argumente, die behaupten, dass ein Embryo ein Mensch sei, weil er zur Spezies Mensch gehöre (S), sich kontinuierlich zu einem Menschen entwickle (K), mit einem Menschen identisch sei (I) oder potenziell ein Mensch sei (P). Die Stichhaltigkeit aller dieser Argumente ist jedoch mehr als fraglich.3 Mit einer Kombination aus Argumenten der Referenztheorie und des technologischen Wandels lässt sich sogar folgern, dass aus einem Embryo mehrere Menschen entstehen können, deren Leben sich wechselseitig ausschließen und damit 1 2 3

Enzyklika Evangelium vitae, § 57. L. Lester/J. Hefley: Human Cloning, 81. J. Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur, 60. G. Damschen/D. Schönecker: In dubio pro embryone, 187–267.

Jer 1,4–10

den Menschenwürdegrundsatz verletzen.4 Damit lässt sich die Aporie bele‐ gen, die entsteht, wenn Embryonen Menschenwürde zugeschrieben wird. Doch angenommen, Embryonen verdienen keine Menschenwürde. Ist dann wirklich schon jeglicher Umgang mit ihnen gerechtfertigt? Jer 1,4–10

Zur Textauswahl Dieser Text wird oft von christlichen Abtreibungsgegnern herangezogen, um zu belegen, dass ein Schwangerschaftsabbruch sowohl die göttliche Vorsehung durchkreuzt als auch die Präexistenz eines Menschen missach‐ tet. Abtreibung ist dann Sünde, weil sie Gott daran hindert, seinen Plan umzusetzen. Dieses Argument ist an der Textstelle zu überprüfen.

4 Und des HERRN Wort geschah zu mir: 5 Ehe ich dich bildete und ehe man dich kannte und ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, habe ich dich geheiligt. Ich habe dich gegeben als Prophet für die Völker. 6 Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, siehe, ich weiß nicht zu reden; denn ich bin ein Junge. 7 Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin ein Junge«, denn du wirst gehen, wohin ich dich sende, und reden alles, was ich dir gebiete. 8 Fürchte dich nicht vor ihren Gesichtern; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. 9 Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. 10 Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.

Wenn unter Christen die Diskussion darüber aufkommt, ob es erlaubt ist, ungeborenes Leben zu töten, wird oft auf diese Bibelstelle hingewiesen. Denn wenn Gott doch schon so früh einen Plan für uns Menschen gehabt hat, bevor wir überhaupt gezeugt worden sind, würden potenzielle Eltern seinen Plan ja durchkreuzen, wenn sie einen Schwangerschaftsabbruch

4

L. Ohly: Konkrete Embryonen und konkrete Menschen, 277–290.

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22 Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens

vornehmen. Also müsste es uneingeschränkt verboten sein, eine Abtreibung vorzunehmen. Nun könnten sich vielleicht alle Menschen darauf einigen, dass Abtrei‐ bung nichts Gutes ist, und auch diejenigen könnten hier zustimmen, die in Ausnahmefällen nichts Besseres vorzuschlagen haben als einen Schwan‐ gerschaftsabbruch. Aber dass er uneingeschränkt zu verbieten wäre, gibt dieser Bibeltext nicht her. Denn er behauptet nicht, dass Gott mit allen Menschen einen Plan hat, bevor sie gezeugt werden. Es scheint vielmehr sogar eine Besonderheit zu sein, die Gott hier ausdrücklich betonen muss, dass er bei Jeremia einen solchen Plan hatte. Der Verfasser des 139. Psalms spricht zwar auch davon, dass Gott ihn schon als Embryo kannte. Aber von einem Plan wird auch dort nicht geredet. Gott wusste zwar schon zu diesem Zeitpunkt, wie lange dieser Mensch leben wird. Aber damit ist nicht ausdrücklich ein Plan verbunden gewesen. Vor allem aber befinden sich die prophetischen Anlagen von Jeremia noch nicht in seinem Mutterleib. Obwohl also Gott bei ihm einen Plan hatte, sind ihm keine prophetischen Anlagen in den Mutterleib gelegt worden. Jeremia hält sich selbst für zu unreif („Ich bin ein Junge“), und Gott muss erst noch seinen Mund berühren, damit er wirklich auch Gottes Plan erfüllen kann. Das menschliche Leben ist also noch nicht im Mutterleib festgelegt worden. Das bedeutet, dass wir immer erst im Rückblick davon sprechen können, dass Gott uns im Mutterleib auf einen bestimmten Lebensweg setzen konnte. Was aus einem Menschen wird, entscheidet nicht schon sein embryonales Stadium. Vielmehr muss Gott zuerst in unser Leben passen, nachdem wir geboren worden sind, damit wir rückwirkend sagen können, dass er auch schon vorher auf uns aufgepasst hat. Deshalb können wir von diesem Bibelwort nicht darauf schließen, dass Gott bereits für alle Embryonen dieser Welt einen Plan ausgedacht hat. Es ist eher so herum: Auch wenn ein Embryo stirbt und nicht geboren werden kann, kann er doch rückwirkend uns treffen, ergreifen und beein‐ flussen. Viele Paare müssen den Schmerz eines vorgeburtlichen Todes ihres Wunschkindes tragen. Dieses Ereignis lässt sie oft nicht mehr los, auch wenn sie mit der Zeit lernen können, mit dem Verlust umzugehen. Ich habe eine Frau im Auge, die nach einer Vergewaltigung schwanger wurde und in dem Zwiespalt war, dass sie einerseits kein Leben vernichten wollte, andererseits viel zu belastet war, um den Embryo austragen zu können. Die Natur hat ihr diesen Schritt abgenommen: Das Kind starb noch während der

Jer 1,4–10

Schwangerschaft. Umso mehr hatte es mich nun überrascht, dass sie keine Erleichterung spürte. Sie litt an diesem Tod, obwohl sie sich auch nicht hatte vorstellen können, mit dem Kind zu leben. Anscheinend ist Gottes Vorsehung nicht daran gebunden, ob Embryonen geboren werden oder nicht. Wir können in beiden Fällen allenfalls rückwir‐ kend davon sprechen, dass Gott etwas mit dem entsprechenden Ereignis vorhatte. Und auch ein Fötus, der noch während der Schwangerschaft stirbt, übt rückwirkend Einfluss auf das Leben aus. Das trifft auch dann zu, wenn ein Embryo durch einen Schwangerschaftsabbruch stirbt. Ich nenne diesen Einfluss seine Anwesenheit. Das vorgeburtliche Leben bleibt präsent und fordert seinen Platz ein. Vor seiner Anwesenheit ent‐ kommen Menschen nicht genauso, wie sie vor seinem Körper entkommen können. Von Körpern kann man sich trennen. Aber es kann überall auffallen, dass sie weg sind. Und dieses Überall ist ihre bleibende Anwesenheit. Was rückwirkend einen höheren Plan realisiert, auch wenn wir es nicht wollen, etabliert Macht. Die bleibende Anwesenheit erzeugt Macht. Gegen diese Macht kann man sich verzweifelt stemmen; man kann versuchen, sie zu verdrängen oder zu ignorieren. Aber man beseitigt sie eben nicht auf diese Weise, dass man sich körperlich von ihren Körpern trennt oder in eine andere Stadt zieht. Was die Anwesenheit vielmehr fordert, ist Anerkennung. Wir müssen ihre Anwesenheit anerkennen. Auch gestorbene Embryonen wirken auf unser Leben. Rückwirkend fällt auf, dass sie mit zu Gottes Vorsehung gehören. Es ist deshalb ein Irrtum zu denken, ein Schwangerschaftsabbruch sei die freie Entscheidung einer Frau. Zwar haben Frauen das Recht, über ihren Körper zu bestimmen, denn sonst wären sie gegenüber Männern benachteiligt. Aber sie können von der Anwesenheit des Embryos eingeholt werden. Und deshalb sind Abtreibungen auch so fürchterlich tragische Fälle. Die Entscheidung zur Abtreibung durchkreuzt nicht etwa Gottes Vorsehung, sondern wird unfrei daran. Es wird nicht besser, wenn Gesellschaften den Schwangerschaftsabbruch uneingeschränkt verbieten. Denn die Macht der rückwirkenden Vorherbe‐ stimmung zeigt sich nicht darin, ob ein unerwünschtes Kind da ist oder weg, sondern an seiner Anwesenheit, auch wenn es weg ist. Man folgt also nicht Gottes Vorbestimmung, wenn man in allen Fällen schwangere Frauen darauf behaftet, ihr Kind auszutragen. Im Gegenteil sogar: Man verwechselt dann den staatlichen Zwang mit Gottes Vorbestimmung. Der Staat setzt die

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Pflichten im Vorhinein fest; Gottes Vorsehung dagegen ereignet sich erst im Rückblick. Das ungeborene menschliche Leben schützt sich vielmehr selbst, nämlich durch seine Anwesenheit. Es verliert seine Macht nicht, wenn Frauen auf ihre Rechte dringen. Beides besteht vielmehr zusammen, Frauenrechte und die Macht der Anwesenheit des getöteten ungeborenen Lebens. Das ungebo‐ rene Leben gewinnt aber auch nicht erst dadurch seine Macht, dass staatliche Abtreibungsverbote angewendet werden. Abtreibungsgegner verwechseln vielmehr ihre eigene Macht mit der Anwesenheit des Embryos. Gerade so können sie Gottes Vorsehung missachten, von der man erst rückwirkend sprechen kann, nachdem man Anwesenheit erfahren hat. Es mag sein, dass die vielen Schwangerschaftsabbrüche mit einer sexuel‐ len Freizügigkeit zu tun haben und mit den medizinischen Möglichkeiten, eine Schwangerschaft fast risikofrei zu beenden. Aber dieser Zuwachs an Freiheiten bedeutet keine Freiheit gegenüber der Anwesenheit des ungebo‐ renen Lebens. Deshalb ist es eine kluge Entscheidung, dass in Deutschland kein „Recht“ auf Abtreibung besteht, sie aber trotzdem unter bestimmten Umständen straffrei bleibt. Gäbe es ein Recht darauf, dann würde die Anwesenheit des getöteten Embryos ignoriert. Umgekehrt kann auch Strafe seine Anwesenheit nicht abtragen. Es kommt vielmehr darauf an, mit der Anwesenheit ungewünschter und getöteter Embryonen leben zu können. Die Straffreiheit betont dabei das, was Christen im Umgang mit dem Recht wichtig ist, nämlich die Vergebung. Sie hat ihren Ort im Recht, seit der gekreuzigte Christus das Gesetz erfüllt hat (Mt 5,17). Biblische Alternativen Einige biblische Darstellungen belegen, dass die Grenze zwischen vorgeburtlichem und geborenem Leben kommunikativ fließend ist: Ungeborene Zwillinge kommunizieren miteinander und mit den bereits erwachsenen Menschen (1. Mose 38,27–30, Lk 1,41–44). Die Zeichen, die von diesen ungeborenen Lebewesen ausgehen, haben für die Erwachse‐ nen verbindliche Autorität. Diese Motive lassen sich phänomenologisch und seelsorgerisch untermauern. Aber sind sie auch verallgemeinerbar? Lässt sich also daraus eine allgemeingültige ethische Haltung gegenüber einer Autorität des Fötus ableiten? Und impliziert eine solche Haltung auch die Pflicht, das ungeborene Leben unbedingt zu schützen? Oder

Jer 1,4–10

muss unterschieden werden zwischen dem Offenbarungscharakter ei‐ ner heiligen Autorität, die vorgeburtliches Leben zum Ausdruck bringen kann, und seiner Menschenwürde? Die Anerkennung der besonderen Autorität der Kommunikation vorgeburtlichen Lebens hat zumindest eine andere Dynamik als die Achtung der Menschenwürde (Kap. 6). Eine allgemeine Einstellung zur vorgeburtlichen Existenz in der eigenen Vergangenheit lässt sich aus Ps 139,13–16 ableiten. Denn obwohl der Psalm aus der Selbstperspektive spricht, sind die dort getroffenen Aus‐ sagen theologisch repräsentativ. Ebenso wie in dem für dieses Kapitel ausgewählten Text enthält Ps 139 das Motiv der Vorsehung Gottes bei einem präexistenten Menschen (V. 16). Allerdings setzt dieser Text ja voraus, dass aus der Perspektive eines geborenen Menschen gesprochen wird, der sich reflexiv auf seine vorgeburtliche Vergangenheit bezieht. Erst im Rückblick wird hier also die vorgeburtliche Existenz theologisch bedeutsam. Lässt sich daraus in umgekehrter Zeitrichtung der allge‐ meine Schutzstatus gegenwärtigen ungeborenen Lebens ableiten?

Literatur zur Vertiefung: A. Bauer: Ist das medizinisch Machbare auch psychologisch vertretbar?, 277–286. – Der Artikel beschreibt, welches Gewicht Kinder in Partnerschaften behalten, wenn die Zeugung misslingt und sie nie geboren werden. J. Fischer: Leben aus dem Geist, 210–212. Ders.: Fremdnützige Forschung und Sterbehilfe bei nichteinwilligungsfähigen Personen. Zur ethischen Fragwürdig‐ keit zweier Tabus; ZEE 43/1999, 98–122, 110–112. – Verantwortung gegenüber künftigen Generationen lässt sich nicht argumentativ begründen. Vielmehr stellt sie sich in konkreter Familienplanung ein: Das Kind wird von seinen potenziellen Eltern bereits als anwesende Person erfahren, zu der sie in einer Beziehung stehen. Stirbt der Embryo aber ab, so kann die Beziehung zu ihm erhalten bleiben. Der Respekt ihm gegenüber kann sich sogar darin ausdrücken, dass der Embryo für medizinische Forschungszwecke zur Verfügung gestellt wird.

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23 Fürsorge Die Diskurslage Da Menschen an hilfsbedürftigen Kreaturen Fürsorge leisten, steht sie auch in Gefahr der Bevormundung dieser Kreaturen. Um dieses Risiko abzuwehren und Patienten vor paternalistischen Eingriffen zu schützen, ist in der Medizinethik die Patientinnenautonomie gegenüber der ärztlichen Fürsorge gestärkt worden. Umgekehrt argumentieren Ethikerinnen, dass Autonomie- oder Gerechtigkeitskonzepte bei stummen Kreaturen versagen und in solchen Fällen aus Fürsorge gehandelt werden muss.1 Es zeichnet sich inzwischen eine kategoriale Unterscheidung von Fürsorge und anderen ethischen Orientierungen (Autonomie, Gerechtigkeit) ab. Danach agiert Fürsorge aus Nähe und Bindung heraus,2 während andere Orientierungen Distanz zu den Wesen wahren, für die sie Verantwortung übernehmen. Bei solchen kategorialen Unterschieden lässt sich nicht durch Vergleich festlegen, welcher Option der Vorzug zu geben ist. Vielmehr können beide in derselben Situation eine berechtigte Rolle spielen. Doch lässt sich bindungsbezogene Fürsorge auch automatisieren? Pflege‐ roboter können feinsensorisch und ohne Unterbrechung für Hilfsbedürftige sorgen. Werden die Patienten dadurch bevormundet, oder könnten sich Fürsorge und Patientinnenautonomie dadurch besser vermitteln lassen, weil die Hilfsbedürftigen über das ethische Pflegeprogramm entscheiden könn‐ ten, also beispielsweise für einen christlichen Pflegeroboter im Gegensatz zu einem utilitaristischen? Zumindest stellt Sherry Turkle fest, dass die Sprache der Fürsorge sich ändert, sobald künstliche Akteure der Fürsorge im Spiel sind.3 Führt diese Transformation zum Verlust der Fürsorge oder zu einer Vermittlung mit anderen ethischen Orientierungen? Das vorliegende Kapitel hat zwei biblische Texte ausgewählt, um die Frage nach dem Verhältnis von gerechter Wechselseitigkeit und einseitiger Fürsorge von der theologischen Voraussetzung her zu beantworten, dass Gottes Fürsorge nicht von Wechselseitigkeit abhängt.

1 2 3

C. Diamond: Ungerechtigkeit und Tiere, 373. E. Illouz: Warum Liebe weh tut, 171. Sh. Turkle: Alone Together, 106f.

23.1 Die Fürsorge Christi (Joh 19,16–30)

Zur Textauswahl Ein zentrales Motiv christlicher Versöhnungstheologie besteht in der Aus‐ sage, dass Christus für uns gestorben ist und stellvertretend die Sünde auf sich genommen hat. Das Für-uns interpretiert das christliche Verständnis von Für-sorge und bildet eine Grundlage christlicher Gemeinschaftsbil‐ dung. Daher setze ich an der Kreuzigungsszene nach dem Johannesevan‐ gelium an, in der Jesus anders als in den anderen Evangelien als Akteur des Geschehens auftritt. Darauf folgt eine Gemeindebeschreibung nach Paulus, die sich am Fürsorgegedanken orientiert.

23.1 Die Fürsorge Christi (Joh 19,16–30) 16 Da übergab Pilatus ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber 17 und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. 18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte. 19 Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden. 20 Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. 21 Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. 22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. 23 Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. 24 Da sprachen sie untereinander: Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten. 25 Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala.

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23 Fürsorge

26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! 27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. 28 Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. 29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. 30 Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht!, und neigte das Haupt und übergab seinen Geist.

Die Erzählung vom Tod Jesu aus dem Johannesevangelium ist ganz geprägt von seiner Fürsorge. Das unterscheidet diese Erzählung von allen anderen Evangelien: Jesus nimmt sich sogar hier noch seiner Mitmenschen an. Hier stirbt jemand keinen verzweifelten Tod, sondern stirbt aus lauter Fürsorge. Wie entschlossen Jesus in seinen Tod geht, zeigt schon der Anfang dieser Erzählung: Während in anderen Evangelien Simon von Kyrene sein Kreuz tragen musste, trägt Jesus hier das Kreuz selbst. Zwar „übergab“ Pilatus Jesus zur Kreuzigung, und die Soldaten „nahmen“ ihn. Aber Jesus übernimmt die Initiative und trägt die Last selbst. Alles, was er in dieser Sterbesituation noch leistet, tut er aus Fürsorge. Die rührende Geschichte von seiner Mutter, die ihrem Sohn beim Sterben beisteht. Er regelt jetzt noch, dass sie nach seinem Tod versorgt ist. Könnte es nicht sein, dass auch alle anderen Passions-Szenen im Johan‐ nesevangelium erzählen wollen, wie fürsorglich Jesus stirbt? Hier stirbt der König der Juden. Das lasen viele Juden, und das hat einen polemischen Zug. Pilatus wollte offensichtlich die Juden beleidigen, als er ihren König am Kreuz ausstellte. Aber den größten Schmerz trägt dabei Jesus. Auch hier trägt Jesus stellvertretend den Schmerz seines jüdischen Volkes. Er, der das Kreuz selbst auf sich geladen hat, bewahrt sein Volk davor, dass Pilatus den Juden nicht noch Schlimmeres antut. Auch die Szene, wie die Soldaten seine Kleider unter sich aufteilen, könnte man so lesen, dass Jesus sich aus lauter Fürsorge hingibt. Im Johannesevan‐ gelium wird die Kreuzigung nicht als großes Spektakel dargestellt. Jesus hat nicht viele Zuschauer wie in den anderen Evangelien. Es kommen zwar Menschen vorbei, vermutlich weil sie in der Stadt etwas zu tun haben. Aber niemand bleibt stehen. Es wird auch nicht erzählt, dass viele Soldaten zugegen gewesen wären. Wenn sie vier Teile aus seinen Kleidern machten,

23.1 Die Fürsorge Christi (Joh 19,16–30)

für „jeden“ Soldaten einen Teil, waren nur vier Soldaten anwesend. Vier Soldaten und drei Männer, die hingerichtet werden. Der Tod Jesu ereignet sich im kleinen Kreis. Das Johannesevangelium will nicht erzählen, wie gemein die Menschen mit Jesus umgehen, sondern wie großherzig Jesus ist: Er gibt alles, was er hat, für die Menschen – sogar seine Kleider und sogar für seine Feinde. Es wird übrigens nicht erzählt, dass die Kleider der beiden anderen Männer, die gekreuzigt wurden, ebenfalls aufgeteilt wurden. Dem Evangelium ist wichtig, nur auf Jesu Hingabe aufmerksam zu machen. Indem er starb, gab er alles für andere. Die größte Hingabe aber ereignet sich mit dem Moment seines Todes. Wortwörtlich kann man diesen Moment so übersetzen: „Jesus übergab seinen Geist.“ Diese Formulierung möchte mehr sagen, als dass Jesus in diesem Moment gestorben ist. Es soll vielmehr ausgedrückt werden, dass Jesus seinen Geist nun gibt – und zwar den Menschen, die an ihn glauben. Das Johannesevangelium hat genau diesen Moment mehrfach angekündigt, dass der Heilige Geist kommen wird, sobald Jesus fortgehen wird (z. B. Joh 16,7). Der Tod Jesu bedeutet also mehr als dass Jesus jetzt nicht mehr da ist. Er bedeutet vielmehr, dass die Menschen nicht mehr von Jesus los kommen, obwohl er weg ist. Der Geist Jesu bleibt bei den Menschen, auch wenn Jesus selbst nicht mehr bei ihnen ist. Darin vollendet sich die Hingabe Jesu. Es wird immer wieder gefragt, warum Jesus überhaupt so sterben musste. Hätte Gott ihm nicht das ersparen können und auf andere Weise seine Liebe offenbaren können? Aber wichtig ist, was genau hier offenbart wird: Der Geist Jesu bleibt bei den Menschen, auch wenn Jesus nicht mehr da ist. Menschen bleiben an ihn gebunden, obwohl er tot ist. Jesus behält seine Kraft bei den Menschen. Und vielleicht wird seine Kraft sogar noch stärker, seitdem er tot ist.4 Solange er lebte, hat er alles getan, was er konnte: Er hat jetzt noch für seine Mutter gesorgt, die Soldaten mit Kleidern versorgt und die Aggression von Pilatus gegen das jüdische Volk auf sich genommen. Im Leben war das schon viel. Aber seitdem er tot ist und nichts mehr tun kann, kommen die Menschen trotzdem nicht mehr von ihm los. Diese Kraft kann man nur erleben, wenn jemand gestorben ist. Diese Bindungskraft, die von einem Toten ausgeht, kann nur jetzt auffallen. Erst wenn jemand nicht mehr da ist, können wir merken, wie sehr er fehlt. Und erst wenn jemand nicht mehr da ist, können wir merken, welche Kraft er gerade dadurch auf uns ausübt, dass er nicht mehr da ist. 4

Sektion 24.4.

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23 Fürsorge

Im Leben hat Jesus alles getan, was er konnte. Im Tod hat er sogar noch mehr getan als alles. Er hat sogar in seiner Ohnmacht Kraft entfaltet. Das ist mehr als alles, was Menschen tun können. Deshalb vollendet sich im Tod Jesu seine Bestimmung: Jesus, der tote Mensch, wird mehr als nur ein Mensch. Sein Geist entfaltet eine übermenschliche Kraft und überträgt sich auf uns. Auch nach anderen Todesfällen machen wir diese Erfahrung, dass wir von einem Verstorbenen nicht loskommen, obwohl er nicht mehr da ist. Solche Geisterfahrungen sind oft mühsam und machen uns das Weiterleben schwer. Trauern beruht genau auf dieser scheinbar widersprüchlichen Erfahrung, dass wir nicht loskommen von jemandem, der von uns gegangen ist. Man kann dann fragen, ob es uns nicht lieber wäre, der Geist wäre auch nicht mehr da; er wäre mit einem Verstorbenen weggegangen und würde uns jetzt nicht mehr beunruhigen. Vielleicht werden so auch die Jünger gedacht haben, was daran besser sein soll, mit dem Geist Jesu verbunden zu sein statt mit dem lebendigen Jesus. Nun ist der Geist Jesu nicht einfach nur die Bindung an irgendeinen verstorbenen Menschen, sondern die Bindung an den, der seine ganze Fürsorge uns Menschen gewidmet hat. Noch Minuten vor seinem Tod hat Jesus sich mehrfach fürsorglich gezeigt. Wenn dieser Geist nun bei uns bleibt, dann bleibt der Geist der Fürsorge bei uns. Wir sind an jemanden gebunden, der in seiner Fürsorge bei uns bleibt. Das erleben wir bei manchen anderen Todesfällen auch so, aber hier eben vollkommen. Es ist also nicht besser, mit dem Geist Jesu verbunden zu sein als mit dem lebendigen Jesus. Denn auch der lebendige Jesus strahlt ja seinen fürsorglichen Geist aus. Aber seitdem er tot ist und sein Geist trotzdem bei uns bleibt, kann uns erst klar werden, wer der lebendige Jesus gewesen ist. Das Leben Jesu ist sein Geist, von dem wir nicht loskommen. Und das heißt nichts anderes als, dass das Leben Jesu das ewige Leben ist. Das kann uns nur auffallen, wenn jemand stirbt. Solange wir leben, sind wir sterblich. Aber wenn jemand bei uns bleibt, obwohl er stirbt, ist er ewig.

23.2 Unsere Fürsorge (Röm 12,9–16)

Literatur zur Vertiefung: D. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 90–100. – Die Liebe Jesu kann sich erst mit seinem Tod vollenden, weil er, solange er lebt, sich noch nicht ganz hingegeben hat. Deshalb vollendet sich Jesu Liebe mit der Gabe seines Geistes an Pfingsten, also mit der Gründung der Kirche. Die christliche Gemeinde ist eine Liebesge‐ meinschaft im Geiste Jesu. Sie leistet Stellvertretung für die einzelnen.

23.2 Unsere Fürsorge (Röm 12,9–16) 9 Die Liebe ist ungeheuchelt. Wir verabscheuen das Schlechte und schließen uns dem Guten an. 10 Wir lieben einander in geschwisterlicher Liebe, der Ehre kommen wir einander zuvor, 11 am Eifer seien wir nicht faul, am Geist brennen wir, dem Herrn dienen wir, 12 der Hoffnung freuen wir uns, der Betrübnis halten wir stand, wir halten fest am Gebet, 13 an den Bedürfnissen der Heiligen haben wir Anteil, die Gastfreundschaft pflegen wir. 14 Segnet, die euch verfolgen; segnet und verflucht nicht. 15 Sich freuen mit den Fröhlichen; Weinen mit den Weinenden. 16 Seid bedacht auf Dasselbe untereinander. Seid nicht bedacht auf Stolz, sondern lasst euch wegführen mit dem Niedrigen. Haltet euch nicht selbst für klug.

Verantwortungsbewusst können Menschen nach Paulus nur sein, wenn sie von sich selbst absehen und darauf achten, was andere brauchen. Doch wie viel Selbstlosigkeit vertragen Menschen, solange sie verantwortlich handeln sollen? Sind es nicht gerade die selbstbewussten und ich-starken Personen, die Verantwortung übernehmen können? Pfarrer jedenfalls bekommen oft von ihren Vorgesetzten geraten, auch für sich selber zu sorgen, damit sie für andere sorgen können. Vielleicht ist es aber so, dass wir gerade dadurch auf uns selber achten, dass wir in bestimmter Weise auf andere achten. Das würde heißen, dass wir vom anderen Menschen her leben und dass das eigene Leben nur Sinn macht, weil das Leben der Anderen Sinn macht. Zumindest scheint mir die Alternative nicht selbstverständlich zu sein, wie sie auf dem ersten Blick erscheint, ob ich für mich sorge oder für andere. Denn wie sorge ich eigentlich für mich? Was tue ich für mich, damit es

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23 Fürsorge

mir gut geht? Mir geht es dann am besten, wenn ich mit anderen in gutem Kontakt stehe und mit ihnen in Frieden lebe, mich auf jemanden freue oder einen Freund wiedersehen kann. Mein Wohlergehen hängt also dann an jemandem anderen. Ich brauche andere, damit es mir gut geht. Nun kann ich andere aber auch missbrauchen, damit es mir gut geht. Gerade weil ich andere für mein Leben brauche, muss ich noch nicht wollen, dass es ihnen auch gut geht. Ich hänge dann zwar an anderen, aber orientiere mich nicht an ihnen. Ich kann auf andere zugreifen, aber ich muss nicht dabei auf andere Rücksicht nehmen. Offenbar ist zu unterscheiden, von Anderen her zu leben und von sich selbst abzusehen. Wenn ich nicht von mir selbst absehen kann, kann ich auch an mir verzweifeln. Das passiert, wenn mir Andere nicht das geben, wonach ich suche, und wenn sie mein Begehren nicht stillen können, weil sie mir unendlich wichtig sind, aber selber an Grenzen stoßen. Man kann sich gerade auch an andere Menschen verlieren, weil man sich zu wichtig ist, wenn man zu sehr einen anderen Menschen begehrt. Um wen geht es dann eigentlich in diesem existenziellen Konflikt, wenn ich ohne einen bestimmten anderen Menschen nicht leben kann? Geht es um den Anderen oder um mich? Wen begehre ich dann eigentlich, den Anderen oder mich selbst, weil ich begehre, unendlich viel vom Anderen zu bekommen, damit es mir gut geht? Es ist also gar nicht so einfach, für sich selbst zu sorgen. Und es ist keine einfache Aufgabe zu klären, wie man für sich selber sorgt. Aber in jedem Fall hat es damit zu tun, wie man zu anderen steht und für sie sorgt. „Wir lieben uns einander in geschwisterlicher Liebe, der Ehre kommen wir einander zuvor. An den Bedürfnissen der Heiligen haben wir Anteil, die Gast‐ freundschaft pflegen wir.“

Es ist also kein Widerspruch, für andere da zu sein oder für sich selbst. Nach dem Psychoanalytiker Donald Winnicott werden Kinder gerade dadurch selbstbewusst, dass sie im ersten Lebensjahr eine enge Bindung zu einer einzigen Person aufbauen. Im Kleinkindalter wird die Bindung zur Mutter dann ergänzt. Kinder bauen dabei nicht nur zu weiteren Menschen eine enge Bindung auf, sondern auch zu sogenannten „Übergangsobjekten“, zu einem Lieblingsspielzeug oder Kuscheltieren. Das Kind braucht noch mehr anderes, um zu sich selbst zu finden, die Mutter, das Lieblingsspielzeug, später werden es Geschwister, Familie, Freunde sein. Wer andere braucht, um zu sich zu finden, sollte dabei darauf achten, dass es den anderen gut geht.

23.2 Unsere Fürsorge (Röm 12,9–16)

Kinder haben in den ersten Lebensjahren zwar kein Verantwortungsgefühl. Sie können sich nicht schuldig oder verpflichtet fühlen. Aber sie haben von Anfang an ein Gefühl dafür, wenn es der Mutter schlecht geht. Schon Babys können ihre Mutter trösten in der Weise, wie sie die Mutter ansehen, still werden oder auch sie ablenken. Die Wechselseitigkeit von Selbstsorge und Fürsorge scheint ein Grund‐ prinzip der menschlichen Selbstwerdung zu sein. Und trotzdem muss noch etwas dazukommen, damit dieses Prinzip auch gelingt. Ich muss auch die Erfahrung machen, dass andere für mich sorgen. Oder präziser ausgedrückt: Ich muss spüren, dass für mich gesorgt ist, wenn ich für andere sorge. Das, worauf ich achte, muss auch gnädig sein mit mir. Wir sollen nach Paulus zwar auch segnen, die uns verfolgen. Aber das können wir überhaupt nur, weil wir nicht nur verfolgt werden. Wir können uns auch den Konflikten in anderen Menschen stellen, weil wir in anderen Menschen Gnade finden. Deshalb stellt Paulus die geschwisterliche Liebe unter den Christen an den Anfang. Weil wir von anderen Zuwendung erfahren, können wir uns auch denen zuwenden, die etwas gegen uns haben. Christen haben die Erfahrung gemacht, dass ein Anderer uns Menschen gnädig annimmt, und zwar so wie wir sind. Die Gnade Jesu Christi bringt uns zu uns selbst, weil er der Andere ist, der für uns sorgt. Ich möchte es so ausdrücken, dass das Wechselspiel aus Selbstsorge und Fürsorge deutlich wird: Jesus Christus ist der Andere, der sich in uns wiederfindet, der Andere, der sich mit uns identifiziert, der Mensch gewordene Gott. Dieses Wechselspiel, füreinander zu sorgen und für sich selbst, ist nötig für unser Leben, funktioniert aber nicht immer reibungslos. Manchmal überfordern wir unsere Mitmenschen oder uns selbst, und manchmal beide. Jesus Christus dagegen wendet sich uns gnädig zu, damit wir zu uns selbst kommen. Er sorgt für uns, damit wir auch wirklich zu uns selbst finden, wenn wir füreinander sorgen. Literatur zur Vertiefung: D.W. Winnicott: Übergangsobjekte und Übergangsphänomene, 666–682. – Der Psychologe stellt seine Theorie zum Übergangsobjekt dar. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, 157–167. – Honneth stellt die Theorie des Übergangsobjekts von Donald Winnicott dar und entwickelt sie zu einer ethischen Theorie der Anerkennung von Menschen, die auf liebevolle Fürsorge angewiesen sind.

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23 Fürsorge

R. Klein: Diesseits der Nächstenliebe, 23–36. – Fürsorgende Personen sind nicht einseitige Helfer, die auf hilflose Subjekte treffen. Vielmehr sind auch Fürsorge‐ beziehungen reziprok: Die Fürsorge antwortet auf einen Anspruch, der im Raum steht.

Biblische Alternativen Zumal vom Standpunkt des Feminismus, der die ambivalente Gewalt‐ struktur von Fürsorgebeziehungen reflektiert, bieten sich biblische Erzählungen an, die die Fürsorge von Frauen hervorheben. Hierzu gehört etwa die Totenbeschwörerin, die König Saul nach seinem Zu‐ sammenbruch mit einem festlichen Mahl stärkte (2. Sam 28,21–25), Martha (Lk 10,38–42) oder die Frauen, die Jesus beim Sterben von ferne begleiteten und ihm auch in seinem Leben „gedient“ hatten (Mk 15,40–42). Martha wird von Jesus für ihren Dienst kritisiert (Lk 10,42), und die Praxis der Totenbeschwörung war aus religiösen Gründen heikel (2. Sam 28,3). Für ihren Dienst erhält die Wahrsagerin keinen Dank, und für ihre Totenbeschwörung wird ihr nur die Verantwortung abgenommen (V. 10), nicht aber Wertschätzung entgegengebracht. Die erwähnten Frauen am Kreuz werden an Ostern zu den Zeuginnen des leeren Grabs; aber Paulus erwähnt sie gar nicht erst in seiner Aufzählung der Auferstehungszeugen. In allen Fällen leisten die Frauen Fürsorge auf eigene Kosten. Ethisch ist zu fragen, wer für die Menschen sorgt, die Fürsorge leisten. Die Erzählungen zeigen an, dass Fürsorge einseitig geleistet wird. Das schließt jedoch nicht Reziprozität aus, wenn man den gesellschaftlichen Kontext weiter bestimmt: Wie muss also eine Gesellschaft aufgebaut sein, in der die Rollen in Fürsorgebeziehungen umkehren können oder diejenigen, die Fürsorge leisten, selbst Unter‐ stützung oder Wertschätzung erfahren?

24 Selbstverzicht Die Diskurslage Das folgende Kapitel erzeugt einen Widerspruch in Zeiten der Appelle zu Selbstachtsamkeit und Selbstoptimierung. Selbstlos zu sein und sich für andere aufzuopfern, wird dann verurteilt, weil der Selbstverzicht insbeson‐ dere Frauen und sozial Schwachen aufgedrückt wird.1 Gerade die christliche Rhetorik hat hier ihren Beitrag zur Zementierung von Ausbeutung geleistet, wenn beispielsweise Pfarrer im 19. Jahrhundert die unerhörten Arbeitsbe‐ dingungen des Proletariats als heilige Entbehrungen priesen.2 Gleichzeitig unterstehen auch die neuen Appelle zur Selbstachtsamkeit dem Zwang zum Selbstverzicht. Adipöse Menschen werden wegen ihrer angeblichen Maßlosigkeit sozial stigmatisiert. Und Gesundheits-Apps kon‐ trollieren das Alltagsverhalten ihrer Nutzer mit dem technologischen Impe‐ rativ, sich einer Norm des Wohlergehens zu unterwerfen. Selbstverzicht ist also ein ambivalentes Phänomen und kommt auch dort vor, wo Menschen anscheinend ausdrücklich auf sich achten und ihren Lebenswandel optimie‐ ren wollen. Damit ist auch gesagt, dass Begriffe wie Selbstverzicht oder Selbstlosigkeit verschleiern, dass es sich hierbei um keine freien Haltungen handelt. Ist also Selbstverzicht ein Symbol struktureller Gewalt, weil nur be‐ stimmte Menschengruppen dazu gezwungen werden (Viktimisierung3)? Oder könnte Selbstverzicht auf eine grundsätzliche zwischenmenschliche Angewiesenheit verweisen, die sich auch egalitär organisieren ließe?4 Oder kann Selbstverzicht sogar als Befreiung aus sozialen Zwängen verstanden werden? Letzteres hat Ingolf Dalferth im Anschluss an Sören Kierkegaard vertreten, weil das „Selbst“, um das es beim Selbstverzicht gehen könnte, nicht einfach da ist, sondern nur in sozialen Prozessen wird. In der Liebe geht man so auf den Anderen ein, dass alle Beteiligten durch ihre Wechsel‐

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D. Sölle: Leiden, 18, 26. St. Silber: Postkoloniale Theologien, 52. K. Marx: Das Kapital Bd. 1, 280. M. Welker: Was geht vor beim Abendmahl? 122. J. Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit, 30.

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24 Selbstverzicht

seitigkeit von sich selbst absehen können und zugleich das Geliebtwerden das eigene Selbst hervorbringt.5 Die folgenden Sektionen beschreiben unterschiedliche Facetten der Selbstlosigkeit, die teilweise in Situationen wechselseitiger Anerkennung entstehen, teilweise auch durch einseitige Beziehungsstiftungen, teilweise spontan, teilweise geplant, teilweise unfrei und teilweise sich selbst befrei‐ end.

Zur Textauswahl Das vorliegende Kapitel will das Phänomen der Selbstlosigkeit, das christ‐ lich durch die Person Jesus Christus von zentraler theologischer Bedeutung ist, in seiner Weite und Vielschichtigkeit darstellen. Jesus wird im Neuen Testament so beschrieben, dass er von seiner Geburt bis zum Tod eine auffällige Unscheinbarkeit zum Ausdruck brachte. Seine Selbstlosigkeit hat demonstrativen Charakter. Die ausgewählten Texte stammen alle aus dem Neuen Testament und beschreiben die Resonanz, die Jesu Selbstlosigkeit auf die Menschen bewirkt hat, die mit ihm in Gemeinschaft gestanden haben.

24.1 Die Dialektik des Selbstverzichts (1. Kor 9,24–27) 24 Wisst ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt. 25 Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen. 26 Ich aber laufe, als ob (der Sieg) nicht ungewiss wäre; ich kämpfe mit der Faust, als ob ich nicht in die Luft schlage, 27 sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde.

Sportler verzichten nicht nur auf einiges, um zu gewinnen. Sie verzichten vor allem auf sich selbst. Sportler trainieren bis zur Selbstverleugnung, essen nicht, was sie gerne essen würden und schlafen nicht so, wie sie wollen,

5

I.U. Dalferth: Selbstlose Leidenschaften, 188–194.

24.1 Die Dialektik des Selbstverzichts (1. Kor 9,24–27)

sondern wie ihre Trainer es von ihnen fordern. Sie gehen bisweilen sogar Gesundheitsrisiken ein, mit denen sie sterben könnten. Das ist das Eigenartige: Sportler geben sich selbst auf für ihren eigenen Erfolg. Sie tun es für sich selbst. Darin besteht ein eigenartiger Widerspruch. Es gibt Menschen, die geben sich selber auf, damit sie auf einer höheren Ebene wieder zu sich selbst kommen. Ebenso wie es bei Sportlern ist, so ist das nach Paulus auch bei Christen. Christen verleugnen sich selbst, um sich auf einer höheren Ebene zu gewinnen. Sie verzichten auf vieles, um ein ewiges Leben und echte Seligkeit zu gewinnen. Sie geben ihre Identität preis, um rücksichtsvoll für andere einzustehen. Das kann man unvernünftig finden, so wie unsportliche Leute 22 Fuß‐ baller auslachen, dass sie alle nur einem Ball hinterherlaufen, oder wie unsportliche Leute mit Unverständnis reagieren, dass man durch den Wald rennt oder ins Fitness-Studio geht. Genauso kann man daran zweifeln, ob es vernünftig ist, wenn Christen sich selbst zurücknehmen, um sich auf einer höheren Ebene selbst zu finden. Anscheinend kann auch Paulus das Außenstehenden nicht verständlich machen: „Ich aber laufe, als ob (der Sieg) nicht ungewiss wäre“ – denn eigentlich, so wie Paulus formuliert, scheint der Sieg ungewiss zu sein. „Ich kämpfe mit der Faust, als ob ich nicht in die Luft schlage“, denn eigentlich schlage ich in die Luft, zumindest vom Standpunkt derer, die einen Christen nicht verstehen. Denn wenn man sich selbst zurücknimmt, wofür will man noch kämpfen? Dann schlägt man doch in die Luft, weil man für sich selbst eben nicht mehr kämpft. Es gibt also eigentlich keinen allgemein vernünftigen Grund, warum Christen zurückhaltend mit sich selbst sind. Das muss auch Paulus einräu‐ men. Es gibt zumindest keinen vernünftigen Grund dafür, der für Nicht‐ christen plausibel wäre. Das einzige, was Paulus zeigen kann, ist, dass es auch in anderen Kontexten Menschen gibt, die so leben, auch wenn es keinen allgemein vernünftigen Grund für diese Lebensweise geben mag. Bei Sportlern ist es offensichtlich, dass sie sich selbst aufgeben, um sich auf einer höheren Ebene selbst zu gewinnen. Auch wenn es keinen allgemein vernünftigen Grund geben mag, kennt man trotzdem Menschen, die so mit sich umgehen müssen und oft sogar im Allgemeinen verehrt werden. Paulus empfiehlt Christen eine solche Lebensweise, die man vielleicht nicht für alle überzeugend begründen kann. Und trotzdem ist es völlig einleuchtend, dass Christen so leben, auch für Nichtchristen. Man erwartet es fast sogar von ihnen und ist enttäuscht, wenn sie hinter ihren eigenen Erwartungen zurückbleiben.

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24 Selbstverzicht

Worin genau besteht die christliche Lebensweise, die allen völlig einleuch‐ tend ist, auch wenn man sie nicht nach allgemeiner Vernunft begründen kann, und die darin besteht, dass sich Christen zurücknehmen, um sich auf einer höheren Ebene wiederzufinden? Als Theologe habe ich über alle großen Themen des christlichen Glau‐ bens nachgedacht und mir dazu eine eigene Meinung gebildet. Ich könnte erklären, warum Gott die Welt gut erschaffen hat und trotzdem hier Böses geschieht. Ich könnte erklären, wie Gott gütig sein kann und trotzdem so unsägliches Leid in der Welt geschieht. Aber dann werde ich angerufen und soll Trauernde nach einem plötzlichen Todesfall begleiten. Und wenn ich ankomme, fragen sie mich fast noch an der Haustür: „Wie kann Gott das zulassen?“ Ich schweige in solchen Momenten. Das liegt nicht daran, dass ich auf einmal keine Antwort mehr hätte oder mich meine bisherigen Einsichten nicht mehr überzeugen. Sondern es ist jetzt etwas anderes zu tun als theologische Erklärungen zu geben, und zwar selbst, wenn Trauernde mir eine solche Frage stellen. Trauernde zu begleiten ist etwas anderes als ihnen ihr Schicksal zu erklären. Trösten ist etwas anderes als den Traurigen fertige Antworten für ihre Situation zu präsentieren, die sie jetzt durchmachen. Wenn überhaupt, dann tröstet eher, Menschen so zu begleiten, dass sie selber anfangen zu verstehen, was ihre Situation bedeutet. Und was sie verstehen, kann ganz anders sein als das, was ich als Theologe dazu denke. Ich nehme mich dann zurück, meine eigene Meinung und die Positionen, die ich für richtig halte. In solchen Situationen will ich auf die anderen eingehen und nehme in Kauf, dabei meine eigenen Ansprüche loszulassen. Ich spüre gelegentlich, dass Trauernde davon irritiert sind. Sie erwarten doch, dass der Pfarrer ein paar fromme Worte macht. Und dann habe ich den Eindruck, ich verleugne mich noch mehr. Ich werde nicht wiedererkannt, weil ich in dieser Situation gar nicht bei mir selbst sein will, sondern ganz bei den Trauernden. Vielleicht werden manche Leser mich auch jetzt nicht verstehen und sogar vermuten, dass ich doch nichts zu sagen hätte und vielleicht sogar nicht tief genug glaube. Oder sie mögen vermuten, dass ich doch nicht bei den Trauernden bin, wenn ich ihre Frage nicht beantworte, die sie mir doch gestellt haben. Es kommt jedoch darauf an, ob man Antworten gibt, indem man eigene Wahrheitsansprüche erhebt oder indem man gemeinsam mit den Verzweifelten auf der Suche danach harrt.

24.1 Die Dialektik des Selbstverzichts (1. Kor 9,24–27)

Paulus jedenfalls hat den Verzicht auf sich selbst zur Grundlage seines christlichen Lebens gemacht. Nur ein paar Sätze vorher schreibt er: „Ich habe mich selbst jedermann zum Knecht gemacht“ (V. 19). Und dann: „Ich bin allen alles geworden“ (V. 22) – und daraus folgt, dass er sich selbst nichts geworden ist. Wer in bestimmten Situationen andere begleiten will, muss dabei auch von sich loslassen, weil er selbst jetzt nicht wichtig ist. Die meisten Menschen bedrängen niemanden mit Ihren Einsichten, der selbst schon bedrängt ist. Wir verzichten darauf, obwohl wir unsere Ein‐ sichten trotzdem für richtig halten. Denn wir spüren, dass wir in diesem Verzicht auf uns selbst uns doch wiedergewinnen auf einer höheren Ebene. Wir gewinnen uns selbst wieder, weil wir uns ganz dem anderen zugewendet haben. Als eine Gotteserfahrung wird im Neuen Testament beschrieben, dass man sich selbst gewinnen wird, wenn man sich selbst verliert. Obwohl ich mich aufgebe und ganz beim Anderen bin, empfange ich mich selbst auf einer anderen Ebene wieder. Ich entdecke mich selbst gerade da, wo ich von mir losgelassen habe. Ich empfange mich, weil ich in diesem Moment auf mich verzichte, aber trotzdem da bin. Und wie wichtig ist es in solchen Momenten, dass ich jetzt da bin! Wichtig vielleicht nicht für mich selbst, aber sehr wohl für die Menschen, die ich begleite. Und sehr wohl für Gott, aus dem ich mich auf einer höheren Ebene empfange. Das ist die Erfahrung des christlichen Lebens – und zwar die Erfahrung des ewigen Lebens, von dem „unvergänglichen Siegerkranz“. Denn wenn wir auf uns selbst verzichten, um ganz bei anderen zu sein, dann spielen unsere sterblichen Ansprüche, eigene Ansichten und Eitelkeiten keine Rolle. Und wenn wir uns dann doch wiederfinden, dann von woandersher, nämlich aus der unerschöpflichen Kraft des ewigen Gottes. Literatur zur Vertiefung: I.U. Dalferth: Selbstlose Leidenschaften, 1–22. – Christliches Leben verdankt sich seinem spezifischen Umgang mit Leidenschaften. Diese sind passive Ereignisse. Christen sollen ihre Leidenschaften nicht aktiv unterdrücken, sondern ihre passive Fundierung achten, indem sie sie auf Gott richten. Man muss „in der richtigen Weise von sich absehen können.“ B. Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, 262–269. – Moralische Ach‐ tung verdankt sich einem Übergang aus der vor-moralischen Achtsamkeit. Begegnungen machen Menschen achtsam, ohne dass sie sich dazu entscheiden

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müssen. Sie können allenfalls Achtsamkeit aktiv ignorieren, was aber erst der zweite Schritt sein kann.

24.2 Teilhabe (Hebr 2,14–18) 14 Weil nun die (Menschen-)Kinder Anteil haben an Fleisch und Blut, hat auch er in gleicher Weise an ihnen Anteil, damit er durch seinen Tod den vernichte, der die Macht über den Tod hatte, nämlich den Teufel, 15 und die erlöste, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten. 16 Denn er nimmt sich nicht der Engel an, sondern der Kinder Abrahams nimmt er sich an. 17 Daher musste er in allem seinen Brüdern gleich werden, damit er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes. 18 Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.

Ein Gott im Himmel könnte das nicht, was ein Mensch kann, nämlich sterbliche Menschen von ihrer Todesangst erlösen. Allerdings muss er ein besonderer Mensch sein, dem man anmerkt, dass er es frei gewählt hat, ein Mensch zu sein. Wir haben es nämlich nicht gewählt, Menschen zu sein. Wir sind es einfach. Christus aber ist der Mensch, der sich dazu frei entschieden hat und damit auch dazu, sterblich zu werden wie wir. Dieser Schritt soll die menschliche Angst vor dem Tod wegnehmen. Diese Position deutet der Hebräerbrief hier an. Dadurch dass Gott sich mit den Menschen verbrüdert und ihr Sterbeschicksal teilt, können sie ihre Angst vor dem Tod verlieren. Das könnte so klingen, als ob Gott uns das Sterben vormacht, damit es dann für uns nicht mehr so schwer ist. In dieser gedanklichen Weiterführung nun scheint es nicht mehr so überzeugend für Menschen zu sein, die Angst vor dem Tod haben. Man könnte dann gerade einwenden, dass es für Christus auch leichter ist zu sterben als für uns. Denn er ist ja immerhin Gott und kann somit auch mehr tragen als wir. Der biblische Gedanke kann sich also nicht darin erschöpfen, dass Chris‐ tus uns das Sterben vormacht, und dann hätten wir keine Angst mehr davor. Vielmehr müsste sich an seinem Sterben erkennen lassen, was er dabei überwindet. Nun war das Ende Jesu Christi kein leichtes Sterben. Daran kann es also nicht liegen, was uns beruhigen könnte. Im Gegenteil:

24.2 Teilhabe (Hebr 2,14–18)

Das Ende Jesu Christi war ein Sterben in höchster Verlassenheit, verlassen von seinen Jüngern, alleingelassen von seinen Freunden, und schließlich sogar gottverlassen am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mk 15,34). Es ist diese Verlassenheit, die das Sterben Christi uns vormacht. Nicht alle von uns sterben zwar so verlassen wie Jesus. Oft sitzen die Angehörigen bis zuletzt bei dem Sterbenden und begleiten ihn. Aber das Sterben vollziehen die Angehörigen doch nicht selbst mit. Damit ist der Sterbende allein. Und im Sterben verlässt er sie ja auch. Er wiederum könnte es umgekehrt erleben, dass die Welt ihn verlässt. Diese Verlassenheit ist typisch für jedes Sterben. Und das Sterben Christi macht uns diese Verlassenheit vor. Christus ist zwar in Verlassenheit gestorben, aber er war dennoch nicht allein. Anscheinend muss man zwischen Alleinsein und Verlassenheit un‐ terscheiden. Verlassenheit besteht darin, dass die Welt einen Menschen aus dem Leben gedrängt hat oder ihn im Leben nicht mehr berücksichtigt. Das kann jemand auch erfahren, wenn seine Feinde in der Nähe sind. Es ist die Verlassenheit, die Christus mit sterbenden Menschen teilt. Christus gründet eine Gemeinschaft der Verlassenen. Deswegen „musste er in allem seinen Brüdern gleich werden“ und „Anteil haben an Fleisch und Blut“. Das Abendmahl am Vorabend der Kreuzigung ist eine Versammlung der Verlassenen gewesen. Christus hält Abschied mit seinen Jüngern, die ihn wenige Stunden später schon beim Sterben sich selbst überlassen. Das Abendmahl ist deshalb auch keine gemeinsame Verlassenheit. Dann wäre es auch keine Verlassenheit mehr. Wenn wir alle in unserer Verlassenheit zu‐ sammen sind, wären wir ja nicht mehr verlassen. Sondern beim Abendmahl versammeln sich jeweils verschiedene Verlassene. So ist die Gottverlassenheit Jesu eine andere als die Verlassenheit von Petrus. Die Jünger fühlen sich in ganz anderer Weise von Jesus verlassen als Jesus von ihnen. Und wenn Christen heutzutage das Abendmahl feiern, dann unterstreichen sie auch, dass sie von Christus verlassen sind. Der Christus aus Fleisch und Blut ist nicht anwesend, wenn sie essen und trinken. Dieser Christus aus Fleisch und Blut hat uns verlassen. Gerade deshalb heißt es ja vom Brot: „Dies ist mein Leib“, weil das Brot eben die Abwesenheit Christi ausdrückt. Wäre Christus aus Fleisch und Blut da, müsste man das Brot nicht seinen Leib nennen. Das Brot vertritt den Leib Christi, gerade weil er uns verlassen hat.

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24 Selbstverzicht

Was haben Menschen für einen Gewinn, dieser Versammlung der Verlas‐ senen beizuwohnen und beim Abendmahl den zu vergegenwärtigen, der sie verlassen hat? Die Versammlung der Verlassenen hebt die Verlassenheit ja nicht auf. Wir tragen dann zwar die Verlassenheit der anderen mit, bilden dabei aber eine Gemeinschaft der Verlassenheit. Christus trägt die menschliche Verlassenheit beim Sterben mit. Und trotzdem ist jeder von uns anders verlassen. Man kann sich beim Abendmahl auch sehr einsam und bedrückt vorkommen. Bei Christus am Vorabend seiner Kreuzigung wird es wohl auch so gewesen sein. Was haben wir also für einen Gewinn, diese Versammlung der Verlassenen zu besuchen und das Abendmahl zu feiern? Und wie kann dann das Abendmahl unsere Angst vor dem Sterben überwinden? Es ist ein Unterschied, ob ich verlassen bin oder ob wir eine Versammlung der Verlassenheit bilden; ob mich alle allein gelassen haben oder ob ich mit Christus, der mich verlassen hat, zugleich eine Gemeinschaft bilde. Der, der mich verlassen hat, spricht mich zugleich an mit den Worten: „Das ist mein Leib“ und bietet mir etwas zu essen und zu trinken an. Dadurch kommt er zwar nicht wieder. Und doch bedeutet meine Verlassenheit nicht, dass keiner jetzt hier wäre. Er kommt mir vielmehr anders nahe. Das leere Gefühl, verlassen zu sein, wird überwunden durch eine gefüllte Verlassenheit. Ich bin verlassen, und zugleich wird meine Verlassenheit von jemandem mitgetragen – und zwar ausgerechnet von dem, der mich verlassen hat. Das Abendmahl baut eine produktive Spannung auf: Meine Verlassenheit wird überwunden und zugleich nicht überwunden. Der, der mich verlassen hat, ist fort. Aber meine Verlassenheit trägt er mit und bildet mit mir eine Gemeinschaft der Verlassenen. Oder noch spannungsreicher ausgedrückt: Das Abendmahl ist die Überwindung der Verlassenheit, aber in Verlassenheit. Christus, der Gestorbene, ist mir anwesend und abwesend zugleich. Wäre Christus einfach nur hier, wäre seine Nähe keine Antwort auf unsere Todesangst. Und wäre er einfach nur so gestorben wie alle Menschen, dann würde das unsere Todesangst nur noch steigern. So muss er also beides tun: Er muss uns in seinem Tod verlassen und unsere Verlassenheit mittragen. Damit verwandelt er das menschliche Sterben und öffnet es für eine Verheißung. Das spüren Menschen im Kranken- und Sterbebett, wenn sie eine Abendmahlsfeier wünschen.

24.3 Selbstlosigkeit (Mk 10,35–45)

Das Abendmahl nimmt das himmlische Festmahl nicht vorweg und be‐ seitigt unsere Angst vor dem Tod letztendlich doch nicht. Aber es bezwingt unsere Verlassenheit, indem es sie mitträgt. Literatur zur Vertiefung: M. Welker: Was geht vor beim Abendmahl?, 83–93. – Welker folgert aus den Beobachtungen des paulinischen Abendmahlsverständnisses, dass Rücksichtnah‐ men auf alle möglichen Ängste beim Abendmahl nicht zu einer „Perversion ins Unwürdige“ führen dürfen. Beim Abendmahl dürften gerade nicht Gruppen zersplittert werden, was zur Diskriminierung führen würde.

24.3 Selbstlosigkeit (Mk 10,35–45) 35 Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden. 36 Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, dass ich für euch tue? 37 Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Ehre. 38 Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? 39 Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; 40 zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das ist nicht mein Können, (jemandem) zu geben, sondern denen, die dafür bereitet sind. 41 Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. 42 Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. 43 Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, wird euer Diener sein; 44 und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. 45 Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.

Worin soll eigentlich der Reiz bestehen, im Reich Gottes zur Rechten und zur Linken Jesu zu sitzen? Warum wollen das diese beiden Jünger so gerne?

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24 Selbstverzicht

Vermutlich wollen sie Einfluss haben. Sie wollen so eng mit Jesus verbunden sein, um Macht über andere auszuüben. Und wenn Jesus nun empfiehlt, dass seine Jünger allen anderen dienen, um groß zu werden, dann will er gerade nicht, dass sie Macht ausüben. Tatsächlich können Menschen so über andere herrschen, dass sie dienen. Denn wer dient, macht sich unabkömmlich und beherrscht die Situation. Ich habe schon von Kind auf in Kirchengemeinden erlebt, wie ein Mensch gerade dadurch Einfluss ausüben wollte, dass er für andere in einer Gemein‐ degruppe nur ihr Bestes wollte. Und deshalb hat er die anderen an der Gestaltung der Gruppe nicht beteiligt. Ich habe Christen erlebt, die sich vor anderen klein geredet haben, damit sie im Hintergrund Fäden ziehen und so ihre Entscheidungen durchsetzen konnten. Und ich habe Pfarrer erlebt, die nicht mit sich haben diskutieren lassen, weil sie immer besser wussten, was für ihre Gemeinde gut ist. Auch Diener können mächtig sein. Wenn Jesus nun will, dass wir einander dienen, dann kann er das nicht wollen, dass wir über die Hintertür wieder herrschen, indem wir dienen. Vermutlich kann er Jakobus und Johannes deshalb keinen Platz zur Rechten und zur Linken anbieten, weil es diesen Platz im Reich Gottes gar nicht gibt. Es ist nicht so, dass man für ein demütiges Leben später im Himmel eine herrschaftliche Belohnung bekommt. Dienen ist kein christliches Mittel zum Zweck, um Macht über andere auszuüben. Sondern den Blick für die anderen an die erste Stelle zu setzen, ist christliches Prinzip. „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“ Jesus hat sich nicht deshalb hingegeben, damit er im Reich Gottes der Herrscher wird. Sondern auf Macht zu verzichten, gehört zu seinem Wesen und wird sich niemals ändern. Zum Reich Gottes gehört diese Regel, dass Christus selbstlos auf die anderen achtet, ohne eigene Ansprüche durchzusetzen. Wie wäre das, wenn das selbstlose Eintreten für andere tatsächlich die Grundregel unseres Zusammenlebens wäre? Vielleicht wäre es nicht so einfach. Möglicherweise wäre es einfacher, als Herrschender „die Völker niederzuhalten und ihnen Gewalt anzutun.“ Angenommen, Sie wollen Ihrer Nachbarin etwas schenken – nicht weil sie Geburtstag hat und nicht weil sie Ihnen während des Urlaubs die Zimmerpflanzen gegossen hat. (Das wären strenggenommen keine Geschenke, sondern eher eine Wiedergutmachung oder eine gute Sitte.) Sondern Sie wollen Ihrer Nachbarin einfach so einmal eine Freude machen.

24.3 Selbstlosigkeit (Mk 10,35–45)

Was wird passieren? Vermutlich wird Ihre Nachbarin sehr überrascht sein. Vielleicht wird sie auch beschämt sein, weil sie damit nicht gerechnet hat. Ihr Geschenk trifft sie unvorbereitet. Und sie hat auch nichts da, um Ihnen etwas Gutes zurückzugeben. Aber eben wenn Ihre Nachbarin etwas zurückgibt, haben Sie ihr auch kein Geschenk gemacht. Also kann es passieren, dass Sie Ihre Nachbarin beschämt haben, indem Sie sie regelrecht überrumpelt haben und ihr ein Geschenk überbracht haben. Wer beschämt ist, fühlt sich klein. So könnte es jetzt Ihrer Nachbarin gehen. Also müssen Sie sich wohl vor ihr groß gemacht haben. Das werden Sie nicht gewollt haben. Sie wollten ihr einfach nur eine Freude machen. Aber diese Freude ist gemischt mit einem unangenehmen Gefühl bei Ihrer Nachbarin. Eigentlich wollten Sie ganz selbstlos sein. Aber durch die Be‐ schämung Ihrer Nachbarin sind Sie nicht mehr selbstlos, sondern stellen sich sogar über sie. Selbst wer völlig ohne Hintergedanken jemanden beschenken will, kann sich dabei unabsichtlich groß machen. Es gibt aber Gemeinschaften, in denen es leichter ist, selbstlos zu sein als umgekehrt sich groß zu machen. Etwa in der Familie: Wenn Kinder Schmerzen haben, lassen wir alles stehen und liegen, weil sie jetzt unsere volle Aufmerksamkeit brauchen. Familienmitglieder sind sogar bereit, sich aufzuopfern, damit es dem anderen gut geht. Eltern spenden ihre Organe für ihre Kinder, wenn sie schwer krank sind. Und wenn etwas Schlimmes in der Familie passiert ist, trösten auch minderjährige Kinder ihre Eltern und ver‐ nachlässigen dabei ihr eigenes Wohlbefinden. Es wäre völlig ausgeschlossen, das alles nicht zu tun. Und weil es so selbstverständlich ist, muss auch niemand beschämt sein. In manchen Gemeinschaften bekommen wir es gar nicht richtig mit, wie sehr wir beschenkt werden von einem selbstlosen Menschen. Vielleicht bekommen wir es auch nicht richtig mit, wie sehr Jesus Chris‐ tus aus selbstloser Hingabe für unsere christliche Gemeinschaft einsteht. Das wäre dann auch in Ordnung, denn in dieser Gemeinschaft wäre ein selbstloses Verhalten dann auch selbstverständlich. Jesus hat diese Selbstver‐ ständlichkeit hier nur seinen Jüngern bewusst gemacht, damit sie merken, was ihre Gemeinschaft selbstverständlich ausmacht. Selbstlos zu sein, muss unter normalen Umständen nicht bedeuten, dass sich jemand für die anderen aufopfert. Auch Jesus hat das nicht sein Leben lang getan, sondern erst, als eine Notsituation eingetreten ist und er von seinen Feinden gefangen genommen wurde. Erst hier hat er sich vor seine Jünger gestellt, damit sie noch rechtzeitig fliehen und ihr Leben retten

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konnten (Joh 18,8). Vorher hat er zwar auch in selbstloser Liebesgemein‐ schaft mit ihnen gelebt, aber musste sich nicht für sie aufopfern. In dieser selbstlosen Liebesgemeinschaft hat er umgekehrt auch viel von seinen Jüngern bekommen. Sie haben ihn überallhin begleitet, haben Begegnungen für ihn vorbereitet und sind ihm treu geblieben. Selbstlos war nicht er allein, sondern der Geist dieser Gemeinschaft hat alle dazu gebracht, füreinander einzustehen – ganz selbstverständlich. Auch die christliche Gemeinschaft fordert ihren Mitgliedern unter nor‐ malen Umständen keine Opfer ab. Aber es gibt die christliche Gemeinde nur, weil ihre Mitglieder gemeinsam dafür sorgen, dass es sie gibt. Konfirmanden gehen selbstverständlich in den Unterricht und in die Gottesdienste. Wenn man sie fragt, warum sie es tun, hört man vor allem die Antwort, dass es nun einmal dazugehört. Überhaupt äußern die meisten Christen in unserem Land, dass es dazu gehört, als Christin und Christ zur Kirche zu gehören. Es ist selbstverständlich selbstlos. In manchen Notsituationen fällt es auf, wie selbstlos Christen füreinander eintreten. Aber zum Glück ist ein selbstloses Eintreten füreinander nicht davon abhängig, dass es solche Notsituationen gibt. Und zum Glück ist die Gemeinschaft der Kirche nicht davon abhängig, dass Menschen Macht ausüben. Literatur zur Vertiefung: P. Dabrock: Befähigungsgerechtigkeit, 308–321. – In diesem Text wird die Zwick‐ mühle beschrieben, wie schwer es ist, jemandem etwas zu schenken, ohne dadurch sich selbst aufzuwerten und die beschenkte Person zu beschämen. Dabrock entdeckt im christlichen Zusammenleben die Möglichkeit reziproken, aber asymmetrischen Gebens: Alle geben etwas anderes und tragen so zur wechselseitigen Wertschätzung bei.

24.4 Opfern (Mk 12,1–12) 1 Und (Jesus) fing an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. 2 Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs hole. 3 Sie nahmen ihn aber, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort.

24.4 Opfern (Mk 12,1–12)

4 Abermals sandte er zu ihnen einen andern Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. 5 Und er sandte noch einen andern, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die andern töteten sie. 6 Da hatte er noch einen, seinen geliebten Sohn; den sandte er als letzten auch zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. 7 Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! 8 Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. 9 Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärt‐ ner umbringen und den Weinberg andern geben. 10 Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen: »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. 11 Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen«? 12 Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er zu ihnen das Gleichnis gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon.

Diese Erzählung wirkt so, als hätte Jesus seine eigene Lebensgeschichte erzählt – ein wenig umgewandelt in ein Gleichnis. Es scheint so, als würde er eigentlich nicht von einem Weinbergbesitzer sprechen, sondern von Gott, dem Schöpfer, der seine Schöpfung seinem geliebten Volk Israel überlässt. Und als er seine Propheten sendet, töten sie sie. Und zum Schluss sogar Gottes Sohn. Auf dem ersten Blick sieht es so zumindest aus. Aber so kann es nicht sein. Zu viel passt nicht zusammen zwischen dieser Geschichte und dem Geschehen um Jesus Christus. Nach dem christlichen Bekenntnis hat Gott die Welt erschaffen aus Liebe zu den Geschöpfen – aber nicht etwa deshalb, um von ihnen eine Miete zu fordern. Die Welt ist nicht aus egoistischen Gründen Gottes erschaffen worden. Der Weinbergbesitzer dagegen verhält sich egoistisch und rücksichtslos. Alle seine Knechte liefert er den Bauern aus. Trotz zu erwartender Körper‐ verletzung und Mord schickt er immer wieder einen Knecht nach, der geschlagen oder getötet wird, und sogar seinen geliebten Sohn. Man fragt sich, wie viel Miete zu erwartet gewesen war, dass der Weinbergbesitzer dafür diesen hohen Preis zu zahlen bereit war. Die Geschichte spricht vom „geliebten Sohn“. Kann das ernst gemeint gewesen sein, seinen geliebten Sohn einer Todesgefahr auszusetzen, damit man an sein Geld kommt?

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Gott hätte das jedenfalls nicht gemacht. Die biblischen Passionserzäh‐ lungen Jesu betonen die Unausweichlichkeit dieses Lebensende und legen größten Wert daraus, dass Gott sehr genau gewusst hat, was er tat. Gott gab nur deshalb seinen geliebten Sohn dahin, weil er seine geliebte Schöpfung retten wollte (Joh 3,16). Es ist eine Entscheidung aus Liebe gewesen und keine Entscheidung aus Gewinnsucht. Auch deshalb hat das Gleichnis hier ein anderes Ende als die christliche Heilsgeschichte. Im Gleichnis werden die Bauern hingerichtet – man fragt sich zwar, wie das der Weinbergbesitzer noch anstellen konnte, nachdem er alle seine Knechte aufgerieben hatte, die ihm bei seiner Rache jetzt nicht mehr zur Seite stehen konnten. Wenn er wirklich so stark war, dass er alle Bauern allein niedermetzeln konnte, warum ist er dann nicht schon früher eingeschritten und hätte so seine Knechte und seinen geliebten Sohn geschont? Gott jedenfalls hätte es so nicht gemacht. Und deshalb geht die Heilsgeschichte anders aus. Gott kommt nicht als Rächer zu den Menschen. Die Sünder bleiben vielmehr am Leben. Man könnte fast sagen, im wirklichen Leben bekommen die Sünder das, was sie erwarten und erben tatsächlich die Schöpfung. Weil sie den Sohn Gottes töten, hinterlassen sie eine gottverlassene Welt und sind sich selbst überlassen. Den Sündern gehört die Welt. Sie haben sie in Besitz genommen. Das ist die traurige Botschaft der Passion Jesu. Gott kommt nicht als Rächer. Aber er kommt doch. Gott kommt nämlich als Opfer. Und an diesem Punkt spricht Jesus nicht mehr im Gleichnis, sondern zitiert eine Bibelstelle: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden“. Das Opfer kehrt zurück. Der getötete Sohn sucht die Sünder heim in einer Welt, aus der sie ihn gedrängt haben. Auch das ist die Botschaft vom Kreuz. Die Sünder haben zwar widerrechtlich das Erbe an sich gerissen. Aber das Opfer kehrt zurück, sucht sie heim und verschafft Recht gegen die Sünde. Wie gelingt das dem Opfer? Wie wird ein Stein, den die Bauleute verwor‐ fen haben, zum wichtigsten Stein, der die gesamte Statik des Bauwerks hält? Wie wird ein getöteter Mensch nach seinem Tod auf einmal mächtig? Wer an die Opfer des weltweiten Terrors denkt, die nicht nur getötet, sondern auch noch verhöhnt wurden, kann man sich kaum vorstellen, dass diese Opfer eine Macht ausüben. Könnte sich das aber nicht ändern? Terrorgruppen, Milizen und Schreckensregime werden nicht dauerhaft darauf stolz sein können, was sie getan haben. Wie wird es diesen Menschen Jahre später gehen? Wenn sie so weitermachen, wird sich ihre Gewalt

24.4 Opfern (Mk 12,1–12)

irgendwann gegen sie selbst richten, weil sie richtungslos ist und keine Loyalitäten kennt. Und wenn sie von der Gewalt ablassen, können sie es sich nicht ersparen, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Denn die Vergangenheit holt Täter ein. Das ist die Macht der Opfer. Sie kehren zurück. Und sogar die Täter müssen sich dieser Macht fügen. Das sieht man gerade bei einem längeren Rückblick: Als ich vor einigen Jahren die Gedenkstätte des Konzentrations‐ lagers Flossenbürg besucht habe, in dem der Theologe Dietrich Bonhoeffer von den Nazis ermordet wurde, begegneten uns drei Neonazis, die ebenfalls das Lager besuchten. Diese Begegnung beunruhigte uns. Andererseits hat offenbar diese Gedenkstätte der Opfer ihre Macht über die Täter von einst und die Anstifter von heute behalten. Die Täter müssen sogar zu den Opfern zurück. Sie werden sich vielleicht nicht vor den Opfern verneigen. Aber sie entkommen ihnen trotzdem nicht. Das Kreuz Jesu ist insofern der Ausdruck für die Nähe Gottes in der Welt, und zwar für die Nähe des Opfers in der Welt. Die Täter konnten ihn umbringen, aber ihn nicht beseitigen. Die Macht des Opfers kehrt zurück. Und es ist Gott selbst, der zurückkehrt. Er kommt nicht als Rächer, der Terroristen tötet, die in seinem Garten wildern, sondern drückt ihnen die Macht als Opfer auf. In einer Welt, in der Böses geschieht und sich Menschen Böses antun, besteht darin die Hoffnung, dass sogar das Böse sich der Macht des Opfers fügen muss. Sogar die Täter, die Böses im Schilde führen, müssen sich an der Macht der Opfer orientieren. Sie kehren zurück an die Gedenkstätten der Opfer. Sie entkommen der Vergangenheit nicht. Es überrascht sie, dass sie sogar in einer gottverlassenen Welt doch nicht sich selbst überlassen bleiben. Jesus hat eine Geschichte mit einem offenen Ausgang erzählt: „Sie ver‐ standen, dass er zu ihnen das Gleichnis gesagt hatte.“ Es ist nur ein Gleichnis, das nicht genau sagt, was es meint, und keine fertige Geschichte. Es passt so viel nicht zusammen mit Gott. Kein Wunder, denn diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sie muss mit uns zu Ende gehen. Und Gott geht sie mit uns zu Ende. Wir müssen noch erleben, dass Opfer eine Macht haben und was sich für uns verändert, wenn sie in unser Leben zurückkehren. Und wir sollen erfahren, was das mit uns macht. Oder anders gesagt: Das Gleichnis von Jesus wird erst dann fertig erzählt worden sein, wenn es sich als Heilsgeschichte erzählen lässt.

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Literatur zur Vertiefung: H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 843–849. – Hannah Arendt zeichnet an Nazi-Deutschland nach, wie selbstvernichtend totalitäre Herrschaft ist, weil sie richtungslos ist. Sie atomisiert die Mitglieder der Bewegung, die deshalb keine Solidarität zueinander aufbauen. Zudem wird gemeinsames Wissen über die Tatsächlichkeit der Welt zerstört. E. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, 327–337. – Wer einen anderen Menschen tötet, entkommt doch nicht seiner Anwesenheit. Indem man sich vor dem fremden Willen verschließt, bestätigt man ihn gerade, weil man sich sonst nicht vor ihm verschließen könnte. Der Wunsch, den eigenen souveränen Willen durchzusetzen, bleibt daher an den Anderen gebunden und damit frei, ohne souverän zu sein.

24.5 Selbstverschwendung (Mk 14,3–9) 3 Und als er in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Glas mit unverfälschtem und kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Glas und goss es auf sein Haupt. 4 Da wurden einige aufgeregt und sprachen zu sich: Was soll diese Verschwen‐ dung des Salböls? 5 Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an. 6 Jesus aber sprach: Lasst sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. 7 Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. 8 Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im voraus gesalbt für mein Begräbnis. 9 Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat.

Lassen wir einmal außeracht, dass Jesus diese Frau verteidigt. Nehmen wir an, diese großartige Zuwendung hätte die Frau einem anderen Mann entgegengebracht, Simon Petrus vielleicht oder sogar jemandem, der uns unsympathisch ist, Pontius Pilatus oder irgendeinem mächtigen Mann. Dann hätten wir doch wohl auch die Tat der Frau für eine Verschwendung gehalten. Salböl war damals kostbarer als Gold. Und wieder einmal wäre für

24.5 Selbstverschwendung (Mk 14,3–9)

irgendwelche hochstehenden Persönlichkeiten eine solche Verschwendung inszeniert worden, die ja an sich wertlos ist: Nach etwa einer halben Stunde dürfte das Öl eingezogen und der Geruch verflogen sein. Wie kann man so was verschwenden, wo es doch so viele Arme gibt, die unsere Hilfe brauchen? Wenn also die Tat der Frau eine gute Tat war, dann darf sie nicht nur des‐ halb gut sein, weil Jesus sagt, dass sie gut ist. Denn auch bei Jesus darf nichts gut sein, was sonst schlecht ist. Wir brauchen also einen Grund, warum die Verschwendung der Frau gut sein soll oder warum Verschwendung manchmal etwas Gutes ist. Der Grund, den Jesus nennt, ist der Unterschied zwischen irgendwelchen armen Menschen und ihm selbst, einer konkreten verletzbaren und sterblichen Person. Warum nämlich werden wir immer Arme haben, aber Jesus nicht immer? Weil das Wort „die Armen“ keine bestimmten Menschen bezeichnet. Arme Menschen sterben zwar auch so wie Jesus. Aber damit sterben die Armen nicht weg. Es kommen wieder andere Arme nach. Ein armer Mensch kann zwar sterben, aber die Armen bleiben immer, einfach weil „die Armen“ keine bestimmten Menschen sind, sondern eine abstrakte Masse: Sie können immer wieder durch andere ersetzt werden und bleiben trotzdem die Armen. Das Gute an der Tat der Frau besteht darin, dass sie sich einem bestimmten Menschen zuwendet. Nicht irgendwelche Leute sind ihr wichtig, sondern wenn ihr jemand wichtig ist, dann hebt sie ihn aus der Masse der Unbekann‐ ten heraus. Sie wendet sich Jesus zu und macht ihn gerade so wertvoll, einen bestimmten Menschen. Die beistehenden Leute dagegen, die die Frau kritisieren, stilisieren Jesus als einen anonymen Menschen, als ob er genauso wie „die Armen“ anonym bliebe. Wie kann ein Irgendwer gegenüber so vielen Armen herausgehoben werden? Der Einwand macht Jesus auch wieder zu einem Unbekannten. Vor Jesus, der zugegen ist, ist das ignorant. In der Geschichte wird etwas verglichen, was sich nicht vergleichen lässt: Es ist nicht besser, eine abstrakte Klasse einem konkreten Menschen vorzuziehen. Deshalb ist es auch nicht besser, „den Armen“ zu helfen als jemandem seine ganze wertvolle Liebe zu schenken. Wir sollen zwar Armen helfen. Aber Arme werden wir eben immer haben. Die unbestimmten, anonymen Schicksale werden wir nicht verringern, wenn wir ihnen helfen. Es sei denn, wir heben sie aus der Anonymität heraus und machen sie zu bestimmten, wertgeschätzten Menschen und tun ihnen deshalb auch Großartiges an, ganz individuell ihnen!

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Einen Menschen aus der Anonymität herauszuheben, ist immer Ver‐ schwendung. Wir können gar nicht einen Menschen in seiner Individualität und Bestimmtheit konkret meinen, wenn wir uns nicht an ihn verschwenden und ihm unsere Aufmerksamkeit schenken. Man kann es auch umgekehrt beschreiben: Wenn wir selber bestimmte Menschen sind, herausgehoben aus der Menge der Unbekannten, dann liegt das daran, dass jemand seine Aufmerksamkeit an uns verschwendet hat, seinen Respekt, seine Liebe. Wir können nur besondere Menschen sein aus unverdienter Gnade, aus unendlicher Großherzigkeit und Verschwendung eines anderen. Und ist es nicht genau das, was Christen glauben: dass Gott uns annimmt, nicht weil wir es verdient hätten, sondern weil er uns ansieht und uns seine Gnade unverdient schenkt? Verschwendung gehört zur Liebe Gottes. Ein anonymes Element der Klasse „Mensch“ wird unvergleichlich durch Verschwendung. Die Salbung ist in der Bibel dazu gedacht gewesen, einem Menschen durch Verschwendung eine unvergleichliche Größe zu geben. Es ist eine Erfindung aus dem Neuen Testament, dass die Sterbenskranken gesalbt werden sollen: Welch eine Verschwendung! Wenn man doch bald stirbt und nichts mitnehmen kann, hat man doch nichts von einem Stoff, der wertvoller war als Gold. Aber aus Verschwendung entsteht ein bestimmter Mensch. Wer krank ist, soll nicht vergessen werden, sondern im Gegenteil aus der Masse der Armen herausgehoben sein. Selbst Christus, der sich für uns Menschen verschwendet hat, war auf Verschwendung angewiesen, damit er der sein konnte, der er war. Deshalb prophezeit das Neue Testament, dass man sich immer an diese Frau erinnern wird. Eine derart schöpferische Verschwendung begegnet uns im Leben zum Glück oft genug, damit wir bestimmt werden, wozu uns Gott bestimmt. Literatur zur Vertiefung: E. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, 277–286. – Die Beziehung zu einem Anderen hat kein gemeinsames Maß und lässt sich deshalb auch nicht in Vergleiche zwängen. Alles bekommt eine unendliche Bedeutung. Und ohne sie können Menschen gar nicht ermessen, was überhaupt Bedeutung hat.

24.5 Selbstverschwendung (Mk 14,3–9)

Biblische Alternativen Man könnte das Thema auch in einem engeren Sinn behandeln und ausschließlich Texte einbeziehen, die von der totalen Hingabe eines Menschen berichten. Eine arme Witwe legt zwei Scherflein in den Got‐ teskasten und hat damit ihre ganze Habe geopfert (Mk 12,41–44). Schon mit ihrer Ehelosigkeit wird angezeigt, dass sie auf keine familiären Hilfen zurückgreifen kann. Die Folge ihrer Gabe ist totale Armut und Abhängigkeit. Zu den Texten totaler Hingabe gehört auch das Angebot Judas, sich anstelle seines Bruders Benjamin versklaven zu lassen (1. Mose 44,33). In den Evangelien wird der Ernst der Nachfolge von Jesus so bestimmt, dass man sich selbst zu verleugnen und sein Kreuz auf sich zu nehmen habe (Mt 16,24). Das Martyrium ist somit äußerste Konsequenz der Nachfolge Jesu. Darüber hinaus könnte auch erwogen werden, solche Texte äußerster Konsequenz von Selbstlosigkeit zu behandeln, die zur Selbsttötung führt (2. Sam 17,23; Mt 27,5). Im engsten theologischen Sinn bieten sich diejenigen Texte an, die von Jesu Hingabe seines Lebens berichten, etwa seine Leidensankündigungen in den Evangelien, seine bereitwillige Gefangennahme oder der Philipperhymnus, der die Selbsterniedrigung Christi bis zum Kreuz betont (Phil 2,5–11). Eine ethische Herausforderung besteht in der Frage der Verallgemeine‐ rungsfähigkeit der Selbstlosigkeit in diesem äußersten Sinn. Sind nicht sogar noch Spuren der Selbstbehauptung oder gar Selbstaufwertung in allen diesen Motiven zu finden? Juda bietet seine Versklavung an, um nicht die Trauer seines Vaters ansehen zu müssen (1. Mose 44,34). Die Selbsttötung kann zwar als totale Selbstaufgabe interpretiert werden, aber auch als Flucht vor der Realität, um den eigenen Stolz wiederher‐ zustellen. Ähnliches lässt sich auch vom Martyrium sagen, weil das Ziel der Selbstverleugnung in der Wertschätzung Jesu besteht (Mt 10,38). Und auch im Philipperhymnus findet die Selbsterniedrigung Christi darin ihr Ziel, dass er von Gott erhöht wird (Phil 2,9). Muss nicht Selbstlosigkeit im äußersten Sinn der Ausnahmefall bleiben? Ist Selbstlosigkeit ohne eine hintergründige Zielsetzung der Selbstge‐ winnung überhaupt logisch denkbar? Und ist äußerstes selbstloses Eintreten, wie es diese Texte nahelegen, nur vor dem Hintergrund einer sogenannten teleologischen Ethik verständlich, die also nach den günstigsten Konsequenzen strebt?

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25 Ehre Die Diskurslage Abgesehen von der missbräuchlichen Verwendung des Ehrbegriffs, der zur Instrumentalisierung menschlichen Lebens führt („Soldatenehre“, „Ehre der Gefallenen“), hat die Sozialphilosophie in den vergangenen Jahrzehnten den positiven ethischen Sinn von Wertschätzung beschrieben, die Menschen aufgrund einer individuellen oder sozialen Besonderheit verdienen. Die An‐ erkennung besonderer Leistungen oder Begabungen ist für die persönliche Identitätsentwicklung von grundlegender Bedeutung, und wenn Menschen in ihrer Wertschätzung verletzt werden oder sie ihnen willkürlich entzo‐ gen wird, werden sie auch im Aufbau ihrer moralischen Persönlichkeit behindert.1 Daran ist besonders heikel, dass die Ehrung von Personen nicht verpflichtet werden und sie deswegen auch nicht garantiert werden kann.2 Wofür jemand Ehre entgegengebracht bekommt, ist historisch und gesell‐ schaftlich variabel. Allerdings findet Ehre ihr Kriterium am gesellschaftli‐ chen Beitrag, den eine Person leistet.3 Sie ist deshalb ungleich unter den Gesellschaftsmitgliedern verteilt und kann im Laufe eines Lebens wachsen oder zurückgehen. Dennoch scheint Ungleichheit nicht ihr Wesenszug zu sein: Damit sie einen gesellschaftlichen Wert hat, kann Ehre nur von jeman‐ dem erbracht werden, der selbst Ehre hat. Wichtiger als die Ungleichheit ist daher die Reziprozität, mit der sich Menschen Ehre gewähren.4 Ehr-Entzug, weil Menschen für ihren Beitrag an gesellschaftlichen Wer‐ ten keine Anerkennung erhalten, kann moralisch nicht gerechtfertigt wer‐ den. Denn damit werden die Werte selbst ignoriert, die für diese Gesellschaft gültig sind. Gleichwohl besteht am Konzept der Ehre das moralische Pro‐ blem, dass Mitglieder auch in meritokratischen oder egalitären Gesellschaf‐ ten „unverdient“ Ehre erhalten, während sich andere mühsam Wertschät‐ zung erarbeiten müssen oder, da sie erfolglos sind, keine erhalten. Zudem ist der Ehr-Begriff nicht gesellschaftskritisch: So besitzt er kein Potenzial für die Überprüfung, ob es gerechtfertigt ist, welche gesellschaftlichen 1 2 3 4

A. Honneth: Das Andere der Gerechtigkeit, 178. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, 202f. A.a.O., 199. A. Kolnai: Dignity, 72f.

25 Ehre

Werte im Hintergrund für soziale Wertschätzung stehen. Deshalb können beispielsweise Männer bei gleichem gesellschaftlichem Einsatz ein höheres Prestige haben als Frauen, Erben mehr bewundert werden als Arbeitnehmer der sogenannten Mittelschicht oder reiche Privatiers im Rampenlicht stehen, nicht aber Sachbearbeiterinnen in einem Großraumbüro. In Ständegesellschaften sind soziale Gruppierungen geehrt worden. Da‐ gegen ist in modernen Gesellschaften Ehre weitgehend in Prestige überge‐ gangen und hat sich individualisiert. Können auch gegenwärtig Gruppen Ehre erfahren? Auch hier ist die mögliche Wertschätzung heikel. Denn Ehre erhalten dann nicht nur erfolgreiche Nationalmannschaften im Sport, sondern auch Opfergruppen von Terroranschlägen oder Diskriminierungsereignissen. Einerseits ist ihre Ehrung Ausdruck der gesellschaftlichen Werte, die durch solche Ereignisse beschädigt worden sind. Andererseits kann eine Ehrung dieser Gruppierungen auch eine stigmatisierende Wir‐ kung haben: Sie werden damit auf ihre Hautfarbe, ihr Geschlecht oder ihre Behinderung behaftet, die den Grund für die Attacken bildeten. Ehre ist ein knappes Gut und geht als individuelle Auszeichnung einer Person oder Gruppe auf Kosten der Aufmerksamkeit für andere. (Wenn die Fußballnationalmannschaft der Männer Weltmeisterin wird, erzielt der Olympiasieg einer Weitspringerin im selben Jahr ein geringeres Echo.) Klaas Huizing hat versucht, solche Schwächen des Ehrbegriffs auszugleichen, indem er Potenziale dafür erkennt, das konkurrierende Ringen darum aufzuheben. Er findet sie in der biblischen Ästhetik, Menschen vor Scham zu bewahren, was Stolz und Dankbarkeit auslöse und sogar das autoritäre Element in der Ehre zum Verschwinden bringe.5

Zur Textauswahl Der vorliegende Text stellt eine Form besonderer Wertschätzung vor, ohne dass sie zu Lasten anderer geht oder Dritte herabstuft. Ehre wird hier in Verbindung der Geschöpfe zueinander, zur unbelebten Schöpfung und zu Gott gebracht. Dabei erfahren alle erwähnten Geschöpfe besondere Wert‐ schätzung, ohne dass die Werte in ein Rangverhältnis gebracht werden.

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K. Huizing: Scham und Ehre, 117, 130.

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25 Ehre

Jes 55,6–11 6 Suchet den HERRN, weil er zu finden ist; rufet ihn an, weil er nahe ist. 7 Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum HERRN, und er wird sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung. 8 Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, 9 sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. 10 Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen, 11 so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.

„Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken“, kann schon jeder Mensch sagen. Denn wir können allenfalls erraten, was jemand anderes denkt. Und ob wir richtig geraten haben, müssen wir von der Rückmeldung des anderen abhängig machen. Was will Gott Besonderes sagen, wenn er betont, andere Gedanken als wir zu haben? Das Besondere an Gottes Gedanken beschreibt er hier so, dass sie nie ihre Richtung ändern. Das unterscheidet Gott von den veränderlichen Menschen, die hin und wieder ihre Gedanken wechseln. Vieles, was sie tun, ist daher vergeblich im Gegensatz zu dem, was Gott tut: „Meine Wege sind höher als eure Wege.“ Gott vergleicht sich mit dem Regen, der seine Richtung auch nicht umdrehen kann. Er fällt von den Wolken herab auf die Erde. Und erst wenn das geschehen ist, dann kann das Wasser wieder verdunsten und sich zu einer Wolke verdichten. Aber es ist nie so, dass der Regen nach oben fällt. Jedenfalls erscheint es aus menschlicher Sicht nicht so. Wie der Regen ändert sich Gott nicht. Er ist, was er ist (2. Mose 3,14). Der Mensch dagegen kann sich ändern. Darin liegt eine Schwäche, aber auch seine Stärke: Eben weil der Mensch sich ändern kann, kann er sich auch verbessern. Eine Stärke, die aus seiner Schwäche kommt! Dieser biblische Text erkennt allem eine unverwechselbare Würde zu. Der Regen hat eine beständige Kraft, Gottes Wort erfüllt sich immer, und der Mensch hat seine

Jes 55,6–11

Stärke darin, dass er sich noch verbessern und verändern kann. Allerdings stellt der Text dabei auch eine Rangliste auf: Gott ist der Größte – seine Gedanken sind eben höher als unsere. Und wir werden damit eben doch abgewertet. Einen hohen Wert haben wir dann, wenn wir zu Gott umkehren, wenn wir uns also dem Unwandelbaren annähern, indem wir unwandelbar an Gott glauben. Vorher sind unsere Gedanken und Vorhaben klein. Wir sind dann sogar noch kleiner als der Regen, haben eine noch geringere Würde. Denn der Regen hat immerhin eine verlässliche Richtung. Der Mensch ist etwas Besonderes und zugleich bedeutungsloser als Gott und sogar als der Regen. Worauf legen wir unseren Schwerpunkt? Dieser biblische Text Gott erschöpft sich nicht darin, Gott als groß und uns als klein zu beschreiben. Er will auch die hohe Würde des Menschen herausstellen. Die menschliche Würde besteht einerseits darin, dass wir uns manchmal bessern, aber noch viel entscheidender darin, dass Gott den Menschen nahe ist. Gott ist ihnen sogar nahe, wenn sie sich nicht ändern. „Suchet den HERRN, weil er zu finden ist. Rufet ihn, weil er nahe ist“. Er ist also schon bei euch, selbst wenn ihr ihn noch nicht gefunden habt. Das ist eure Stärke, dass Gott ein Verhältnis zu euch hat. Warum ist das eine Stärke? Einmal weil Gott selber stark und groß ist. Und dann weil Gott sich ja nicht mehr ändert. Indem der hohe Gott eine Beziehung zu euch hat, hat er auch eine unveränderliche Beziehung zu euch. Es bestimmt also nicht das Wesen der Menschen, dass sie Fehler machen oder sich zwar verändern, aber nicht verbessen. Gott erkennt vielmehr im Menschen eine Würde, die er auch dann hat, wenn er vom Weg abkommt. Diese Würde hat der Mensch nicht selber gemacht. Wenn er sie selber gemacht hätte, dann wäre sie auch abhängig davon, dass der Mensch sie erhält. Aber da sich Menschen eben verändern, können sie für ihre Würde nicht bürgen. Aufgrund ihres Veränderungspotenzials können sie sich zwar verbessern, aber auch verschlechtern. Daher darf ihre Würde nicht von ihnen selbst abhängig sein, sonst wäre sie selbst veränderlich. „Meine Wege sind höher als eure Wege“. Es wird durchaus betont, dass Menschen unvollkommen sind. Das soll sie aber gerade nicht klein machen, sondern über Gottes hohe Wege ihre hohe Würde verbürgen. Christen sollen allen Menschen die gleiche Würde zusprechen, ob sie Christen sind oder nicht, ob sie Schlimmes tun oder ob sie treu an Gott glauben. Alle haben eine gleiche Würde, denn sie sind sich im Hinblick darauf gleich, dass Gott eine unabänderliche Beziehung zu ihnen hat und ihnen für immer nahe ist.

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Man kann daran scheitern, die menschliche Ehre herauszustellen, indem man die menschliche Schwäche und Schuld verharmlost. Dann könnte man bald der Meinung sein, dass das Schlimme gar nicht schlimm ist, und dann verliert man das Sensorium für die Größe des Menschen. Man kann aber ebenso daran scheitern, indem man die menschlichen Bosheiten benennt und dann nicht mehr recht erklären kann, was an Menschen noch großartig ist. Der Text aus dem Jesajabuch hält die Balance zwischen diesen beiden Polen. Es wird beides gesagt, dass Menschen fehlerhaft sind und Schlimmes tun können, aber trotzdem eine hohe Würde behalten. Beides zugleich zu sagen, verträgt sich nur dann, wenn die Würde nicht abhängig ist vom menschlichen Tun oder menschlichen Wegen. Gott hat eine Beziehung zu uns, seine Nähe verleiht uns eine göttliche Würde, und deshalb haben wir sie. Und deshalb ist es uns möglich, uns zu ändern, uns zu entwickeln, unsere Veränderungsfähigkeit dafür einzusetzen „umzukehren“. „Ruft den HERRN, weil er nahe ist“. Das bedeutet im Zusammenhang: Macht euch groß, weil ihr schon groß seid. Denn Gott ehrt euch, weil er in eurer Nähe ist. Und jetzt ehrt euch selbst, indem ihr euch selbst in Beziehung setzt zu Gott, zum Ursprung eurer eigenen Würde. Biblische Alternativen Eine ähnliche Pointe wie hier erscheint in Psalm 8: Obwohl der Mensch im Vergleich zur übrigen Schöpfung klein ist, wird ihm Hoheit zuteil. Die Größe unterschiedlicher Geschöpfe wird wahrgenommen, ohne dass sie in ein Konkurrenzverhältnis zueinander geraten. Des Weiteren bieten sich biblische Texte an, die den Ehrbegriff aus‐ drücklich aufnehmen, die „Kabod“ in der hebräischen Bibel oder die „Doxa“ im Neuen Testament. Auch hier kann Psalm 8 als Beispiel genannt werden oder der Philipperhymnus (Phil 2,11). Diese Begriffe beschreiben eine Eigenschaft Gottes, die er den Menschen oder einzel‐ nen Individuen überträgt. Ethisch wäre zu fragen, ob eine Herabstufung bestimmter Menschen und -gruppen droht, wenn nur einige Individuen mit göttlicher Doxa bekleidet werden. Zu welchem Umgang verpflichtet zudem die Übertragung göttlicher Doxa auf einzelne Personen im zwischenmenschlichen Bereich? Eine paradoxe Verehrung erfährt „Jesus Christus der König der Juden“ (Joh 19,19) am Kreuz. Obwohl bis zum Tod gedemütigt und misshan‐

Jes 55,6–11

delt, wird Jesus für seinen gehorsamen Kreuzestod bewundert und verehrt. Der Ehrentitel wird von Pontius Pilatus zwar zur Verspottung des jüdischen Volkes funktionalisiert. Dennoch trägt der „leidende Gottesknecht“ (Jes 52,12–53,12) den Ehrentitel zu Recht, gerade für das freie Erdulden dieser Schmach. Ethisch wäre hier zu bedenken, wie sich vermeiden lässt, mit der Verehrung des leidenden Menschen auch das Leid zu verherrlichen. Dient also die Würdigung der leiden‐ den Person einer gesellschaftlichen Inklusion, oder wird umgekehrt soziale Anerkennung von widerständigem Heldentum oder Martyrium abhängig gemacht? Im letzten Fall wird diese Art der Verehrung an den gesellschaftlichen Ausschluss gebunden, weil nur der Ausgestoßene und Getötete entsprechend verehrt wird.

Literatur zur Vertiefung: K. Huizing: Scham und Ehre, 88–133. – Jesus ist für Huizing ein Erzähler der „Entschämung“ und damit der Ehrung von Menschen, ohne dass sie dabei in Konkurrenz zur Ehre anderer Menschen treten müssen. Wenn Jesus Unrecht anprangert, so verzichtet er darauf, die Ungerechten zu beschämen oder zu demütigen. Er wahrt ihre Ehre und damit ihre Fähigkeit, Normverletzungen zu entkommen.

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26 Tugend Die Diskurslage Nach Aristoteles ist Tugend eine Haltung, wodurch der Mensch gut ist und Gutes verrichtet.1 Sittliche Tugenden bestehen in ihrer Freigiebigkeit und Mäßigkeit,2 weil sie mit Affekten und Handlungen zu tun haben, bei denen es ein Übermaß und einen Mangel gibt. Deshalb zielen Tugenden jeweils auf die Mitte.3 Weit bis in die Moderne war die Tugendethik die maßgebliche moralthe‐ oretische Disziplin. Kant hatte ihre Krise herbeigeführt, weil er die Pflicht gegen die Tugend gestellt hatte: Da sich die Tugend von Neigungen leiten lasse, sei sie nicht autonom und genüge nicht einer auf Freiheit basierenden Moral.4 Kant wie auch Schleiermacher und andere haben die Tugendethik in andere Ethikperspektiven eingeordnet und somit relativiert. Alasdair MacIntyre hat eine Revision vorgeschlagen: Die Moderne habe nämlich tugendethische Aspekte noch aufbewahrt, ohne sie jedoch in eine konsistente Moraltheorie gegossen zu haben.5 Als Lösung der aporetischen Situation hat er die Begrenzung tugendethisch homogener Gemeinschaften im lokalen Bereich betrachtet,6 ohne dass sich eine universalisierbare Ethik daraus entwerfen lasse.7 Martha Nussbaum wiederum hat eine solche universalisierbare Tugend‐ ethik zu formulieren versucht. Ihr Ausgangspunkt ist eine Skizzierung des Menschseins, an der sie Handlungen bemisst, die für seine Weiterexistenz vereinbar sind.8 Aus dieser Konzeption ergeben sich die Tugenden, nämlich das richtige Handeln in unterschiedlichen Bereichen menschlichen Seins. Mit den Tugenden lassen sich partikulare Auffassungen kritisieren.9 Die

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Aristoteles: Nikomachische Ethik, III, 1106a. A.a.O., I, 1103a. A.a.O., III, 1106b. I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 183ff. A. MacIntyre: After Virtue, 246. A.a.O., 263. A.a.O., 126. M. Nussbaum: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, 187ff. A.a.O., 239.

2. Petr 1,3–8

Tugendethik ist deshalb für Nussbaum universal, weil sie das richtige Handeln für das Menschsein überhaupt beschreibt.

Zur Textauswahl Der Tugendbegriff gehört nicht in die ethische Gedankenwelt der Bibel. Der vorliegende Text zeigt noch eine relativ dichte Nähe zum Tugendver‐ ständnis der griechischen Philosophie in der Antike.

2. Petr 1,3–8 3 Wie uns alles zum Leben und zur Frömmigkeit von seiner göttlichen Kraft geschenkt ist durch die Erkenntnis dessen, der uns berufen hat durch die eigene Herrlichkeit und Tugend, 4 durch die uns die teuren und allergrößten Verheißungen geschenkt sind, damit ihr dadurch Teilhaber werdet an der göttlichen Natur, die ihr entronnen seid der verderblichen Begierde in der Welt, – 5 so eilt euch auch und gewährt in eurem Glauben die Tugend und in der Tugend Erkenntnis 6 und in der Erkenntnis Selbstbeherrschung und in der Selbstbeherrschung Geduld und in der Geduld Frömmigkeit 7 und in der Frömmigkeit Geschwisterliebe und in der Geschwisterliebe die Liebe. 8 Denn dies ist bei euch vorhanden und viel und bewirkt nichts Nutzloses oder Fruchtloses auf die Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus hin.

Der ethisch so prominente Begriff der Tugend kommt in der Bibel kaum vor. Tugend war in der Ethik spätestens seit dem Philosophen Aristoteles der zentrale Begriff. Für Aristoteles bestand die Tugend eines Menschen in dem Verhalten, mit dem er die Glückseligkeit erlangen kann, das höchste Ziel, das sich ein Mensch überhaupt setzen kann. Aber das Wort Glückse‐ ligkeit kommt überhaupt nicht in der Bibel vor. Die Bibel bestimmt ihre Ethik völlig entkoppelt von der damaligen herrschenden Lehre. Das hatte Gründe: Im Alten Testament wurde im Buch Kohelet (Prediger) vermerkt, dass tugendhafte Menschen ihren Erfolg nicht garantieren können und ihr Ziel verfehlen (Koh 2,21; 4,4). Die Tugendethik des Aristoteles ist eine Erfolgsethik. Das Neue TestamentTestaments ist dagegen sehr skeptisch,

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dass ethische Orientierungen deswegen richtig sind, weil sie zum Erfolg führen. Wer etwas richtig macht, aber trotzdem scheitert, hat es aus der Sicht des Neuen Testaments trotzdem richtig gemacht. Dieser Auszug aus dem zweiten Petrusbrief scheint mir der einzige Text des Neuen Testaments zu sein, in dem ein wenig ähnlich gedacht wird wie in der damals herrschenden Lehre. Auch hier ist Tugend das Werkzeug, um das höchste Ziel zu erreichen. Nur heißt das höchste Ziel hier nicht „Glückseligkeit“, sondern die Christen sollen sich an die Erkenntnis Jesu Christi angleichen: „Gewährt in eurem Glauben die Tugend“, und zwar „auf die Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus hin.“ Was genau der zweite Petrusbrief unter Tugend versteht, was man also dabei tun muss, wird wiederum nicht gesagt. Bei Aristoteles besteht die Tugend darin, dass man sich maßvoll verhält, also die Mitte hält zwischen den Extremen: Glückselig kann danach ein Mensch werden, der nicht arm ist, aber auch nicht reich, sondern ein mittleres Einkommen hat. Immerhin erwartet auch der zweite Petrusbrief, dass Christen „Selbstbeherrschung“ haben; das geht in die Richtung eines maßvollen Lebens. Allerdings kann jemand auch selbstbeherrscht sein, wenn er unterdrückt wird und Not leidet. Selbstbeherrschung und maßvolles Verhalten sind daher nicht dasselbe. Das zeigt mir, dass der zweite Petrusbrief doch sehr anders über Tugen‐ den schreibt als Aristoteles. Der biblische Brief beschreibt nämlich einen Wachstumsprozess, der sein Verhalten immer stärker ans Ziel anpasst. Das Verhalten bleibt nicht bei der maßvollen Mitte, sondern besteigt immer weitere Höhen. Die Christen sollen sich „eilen“, was ein maßvoller Mensch normalerweise nicht tun würde; er würde sich nur mäßig bewegen. Nach der Vorstellung des Briefverfassers hingegen entwickelt sich aus dem Glauben eine Tugend und dann weitere Lebenshaltungen und schließlich die voll‐ kommene Liebe. Nicht Maß, sondern eiliges Wachstum der Persönlichkeit liegt im Interesse dieser biblischen Tugendethik. Die christliche Ethik grenzt sich ansonsten eher ab von der Tugendethik, vor allem aus ihrer evangelischen Perspektive. Denn es klingt ansonsten so, als ob sich der Mensch selbst perfektionieren könnte. Doch weder der Erfolg ist durch Tugenden garantiert noch die Selbstperfektionierung. Vor allem kann man anzweifeln, dass die beschriebenen Schritte wirklich so funktionieren: Ist hier wirklich die richtige Reihenfolge angegeben, wie aus Tugenden liebende Menschen werden? Und wie viel Tugend muss man ha‐ ben, um Erkenntnis zu gewinnen? wieviel Erkenntnis, um selbstbeherrscht zu werden und so weiter?

2. Petr 1,3–8

Diese Erfolgsgeschichte klingt so, als ob sich Menschen damit überfor‐ dern, indem sie sich in den Blick nehmen und darauf achten, wie viel Vollkommenheit sie schon auf einer Stufe erlangt haben, um zur nächsten hochzusteigen. Auch die gegenwärtigen Empfehlungen zur Selbstachtsam‐ keit könnten missbraucht werden, wenn sie Menschen unter Druck setzen, um möglichst erfolgreich zu werden. Tatsächlich belegen Studien den Zu‐ sammenhang von Selbstachtsamkeit und Karriere. Solche Beschreibungen helfen aber denjenigen wenig, sich ethisch zu orientieren, die gescheitert sind. Allerdings steht in diesem Briefauszug nicht die Tugend am Anfang dieser Entwicklungskette, sondern der Glaube: „Gewährt in eurem Glauben die Tugend.“ Anscheinend stellt sich der Verfasser vor, dass der Glaube von sich aus Tugend auslöst und man sie nur gewähren lassen muss. Dann wäre also nichts konkret zu tun, sondern nur zuzulassen, was im Glauben von alleine geschieht. Ich komme noch einmal darauf zurück, dass das erstrebte Ziel darin besteht, dass sich die Gläubigen der Erkenntnis Jesu Christi angleichen. Die Erkenntnis Christi wiederum liegt bereits vor: Der Hinweis, dass die Adres‐ saten „durch die Erkenntnis dessen, der uns berufen hat“ Christen geworden sind, steht gleich am Anfang. Könnte dann nicht die christliche Tugend darin bestehen, die Erkenntnis Jesu aufzunehmen, nämlich zu erkennen, wie Jesus erkannt hat? Dann steht im Mittelpunkt dieser Tugendethik nicht mehr meine Selbstvervollkommnung, sondern die vollkommene Erkenntnis eines anderen, nämlich Jesus Christus. Christen sollen dann nicht danach streben, was sie selbst erkennen und dafür tun können. Sie sollen vielmehr danach streben zu erkennen, wie Jesus erkannt hat. Vielleicht würden sie auch nur vermittelt über Jesus sich selbst erkennen. Paulus hat das so beschrieben: „erkennen, wie ich erkannt bin“.10 Und er hat damit die Liebe gemeint, die hier im zweiten Petrusbrief am Ende dieser Kette steht. Das wäre dann aber keine Erfolgsethik mehr, die das Ziel hätte, sich selbst vollkommen zu machen. Dann würde nämlich die Liebe, die hier am Ende steht, bereits am Anfang zur Geltung kommen: Glaubende wollen von Anfang an „erkennen, wie sie erkannt sind.“ Sie wollen sich von Anfang an von der Erkenntnis Christi entdecken lassen. Und deshalb lassen sie im Glauben die Erkenntnis Christi „gewähren“.

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Sektion 20.2.

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Das ist tatsächlich eine Lebenshaltung von gläubigen Menschen: Sie wollen Gottes Erkenntnis erkennen. Und sie wollen erkennen, wie Gott sie erkennt. Der Glaube schließt diesen Wunsch ein. Aber dann gehört zu dieser Lebenshaltung, diesen Erkenntnisprozess auch „gewähren“ zu lassen. Das kann man eine Tugend nennen, diesen Wechsel unserer Wahrnehmung, bei dem wir von unserer Erkenntnis wegsehen auf die Erkenntnis, die wir im Glauben von Gott erfahren. Aber diese „Tugend“ kann sich gerade nicht mehr auf sich selbst verlassen, sondern braucht dazu einen anderen, der die eigentliche Bewegung antreibt. Man braucht die Erkenntnis dieses anderen, um zu erkennen, wie man erkannt ist. Das kann schon irgendein anderer Mensch sein – hier wird ja auch von der Geschwisterliebe gesprochen. Das kann aber auch dieser andere Mensch Jesus Christus sein. Und was gibt uns Christus zu erkennen? Wenn wir die Frage so stellen, dann klingt sie so, als ob wir sie auch ohne ihn beantworten könnten. Das Spannende aber an der Erkenntnis eines anderen liegt darin, dass wir sie nur durch ihn erkennen und deswegen auf Situationen angewiesen sind, in denen er sich uns zu erkennen gibt. Wenn ich in manchen Situationen ganz davon gebannt bin, was andere denken, wie sie fühlen und was sie mir von mir entdecken lassen, dann bin ich so vertieft in diesen Moment, dass ich keinen Zweifel daran habe, was gerade passiert und was ich gerade erkenne. Das ist aber etwas anderes als sich selbst vornehmen zu müssen, niemals zu zweifeln. Im zweiten Fall achte ich auf mich selbst, unterdrücke meine Zweifel und will mich selbst vollkommen machen. Im ersten Fall lasse ich die Situation „gewähren“, ohne dass sich überhaupt die Frage stellt, ob hier gerade etwas falsch läuft. Im zweiten Fall achte ich auf mich, im ersten Fall auf die Erkenntnis eines anderen. Den zweiten Fall von Tugend betrachtet das Neue TestamentTes‐ taments skeptisch. Im ersten Fall dagegen gibt es keinen Anlass für Zweifel. Und wenn sie doch entstehen, dann ist die Situation schon wieder vorbei. Die christliche Tugend besteht nicht darin, keine Zweifel aufkommen zu lassen, sondern den Glauben gewähren zu lassen in allen Situationen, in denen er widerfährt. Dann reift nicht die eigene Persönlichkeit zur Vollkommenheit heran, sondern dann bieten einzelne Situationen schon für sich genommen vollkommene Klarheit – eben die Erkenntnis Christi. Dazu muss die vollkommene Klarheit nicht auch in allen anderen Situationen vollkommen sein. Was müssen wir also praktisch tun, um diese christliche Tugend zu entwickeln? „Praktisch“ wird die christliche Tugend, wenn Christus prak‐

2. Petr 1,3–8

tisch wird und nicht wir, nämlich wenn wir Christus gewähren lassen und aufgeschlossen dafür sind, ob wir etwas von seiner Erkenntnis erkennen. Und wenn das dann geschieht, gibt uns das auch eine ethische Orientierung, wie wir uns außerdem noch zu verhalten haben. Biblische Alternativen In 1. Petr 2,9 wird von der Tugend Gottes gesprochen. In den meisten Bibelausgaben wird das Wort nicht mit „Tugend“, sondern mit „Wohlta‐ ten“ übersetzt, um den Unterschied hervorzuheben, wenn der Begriff auf Gott angewendet wird. Es handelt sich bei dieser Textstelle nur um eine inhaltliche Andeutung, was gemeint sein könnte. Dabei hat zwar der Tugendbegriff hier auch eine teleologische Erfolgsausrichtung (das Ziel liegt in der Berufung zum Licht), ohne dass man aber daraus schließen könnte, dass Gott wie in der aristotelischen Philosophie maßvoll handelt. Die Textstelle belegt, wie wenig biblisches Denken von der antiken Tugendlehre beeinflusst ist. Paulus rät gegen Ende des Philipperbriefs zur Wertschätzung von Eigenschaften, die ein Mensch durch Tugenden oder durch seine Ehre hervorbringt: „Wie groß Wahres ist, wie groß Edles, Gerechtes, Reines, Wohlgefälliges und wie groß Glückverheißendes ist, ob (es) jemand (aus) Tugend oder Beifall (hervorbringt), erkennt es an!“ (Phil 4,8). Hier wird zumindest die Möglichkeit eingeräumt, durch Tugenden die besagten Werte hervorzubringen. Die Stelle müsste aber noch näher daraufhin untersucht werden, ob zur Hervorbringung dieser Werte eine teleologische Erfolgsethik nötig ist, auf die sich die Tugenden stützen. Wahres, Edles Gerechtes usw. könnten nämlich anscheinend an sich des „Beifalls“ wert sein, ohne dass man mit ihnen ein Ziel erreicht und ohne dass sie schon selbst das Ziel des Handelns bilden.

Literatur zur Vertiefung: Aristoteles: Nikomachische Ethik, 2. Buch (26–43). – Die Tugend ist eine Haltung, wodurch ein Mensch gut ist und Gutes verrichtet. Sie besteht im maßvollen Verhalten, in der Mitte zwischen Übermaß und Mangel. K. Stock: Grundlegung der protestantischen Tugendlehre, 132–149. – Für ein protestantisches Verständnis von Tugend sind ihre Entstehungsbedingungen wesentlich. Stock findet sie in der Freude, die dadurch entsteht, dass Gottes Liebe

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sinnlich anschaulich gegeben ist, nämlich in Jesus Christus. So wie der Aufer‐ standene seinen ersten Zeugen sinnlich anschaulich wurde, so vergegenwärtigen ihn Christen im Schriftgebrauch und Gottesdienst. Tugenden folgen aus dieser freudestrahlenden Anschaulichkeit.

27 Umwelt- und Tierethik Die Diskurslage Waldsterben, Wüstenbildung, Atommüll und Klimawandel sind spätestens seit dem Report „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome von 1972 im öffentlichen Bewusstsein.1 Tierethische Diskussionen haben sich dagegen lange nur mit Recht und Unrecht von Tierversuchen in der Forschung beschäftigt. Der australische Philosoph Peter Singer brachte in den 1970er Jahren aber auch den Verzehr tierischen Fleisches in die Diskussion.2 Die Diskurse um Umwelt- und Tierschutz sind lange weitgehend unabhängig geführt worden. Und es zeigen sich nach Elisabeth Anderson auch gegen‐ sätzliche ethische Ansprüche in den jeweiligen Anliegen: Wer für den Tierschutz eintrete, betone die Empfindungsfähigkeit des Tieres, aus dem sich allerdings keine höchsten Ansprüche ableiten ließen; wer hingegen den Tieren Rechten geben wolle, unterstreiche ihren Subjektstatus, aus dem Rechte der psychischen Unversehrtheit eine Rolle spielten, die wiederum beim Tierschutz nur nachrangig behandelt würden; und wer den Natur‐ schutz zum Ziel setze, erkenne Leben in einem globalen System an, dem einzelne Exemplare des Lebens jedoch zum Opfer fallen dürften.3 Erst seitdem die Zusammenhänge der gewaltsamen Massentierhaltung und -schlachtung in die Öffentlichkeit gerückt sind, nähern sich die beiden spezialethischen Bereiche aneinander an: Gegenwärtig wird betont, dass zu viele Rinder auf der Erde leben, weil dadurch der Methanausstoß massiv die Erderwärmung beeinflusst. Durch Massentierhaltung und eine extensive Landwirtschaft wird ein Wachstumsmarkt aufgebaut, an dem alle leiden: die ausgebeuteten Arbeiter, die im Akkord für niedrigen Lohn Tiere schlachten; die Tiere, die nicht artgerecht gehalten und nicht leidfrei geschlachtet werden, sowie die Umwelt. Ob Veganismus die Lösung zu beiden Themen ist, bleibt umstritten. Auf der einen Seite wird betont, dass ohne gezielte Züchtung vom Aussterben

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D.H. Meadows u.a.: The Limits to Growth, 10, 74, 81, 85f. P. Singer: Ethik und Tiere, 77–87. E. Anderson: Tierrechte und die verschiedenen Werte nichtmenschlichen Lebens, 287f.

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bedrohte Haustiere (Hühnerrassen) bald nicht mehr existieren würden.4 Der ökologische Wert großer Flächen von Wiesen lasse sich nur durch das Abgrasen von Weidevieh erhalten.5 Dem steht gegenüber, dass auch Haustiere in Gefangenschaft leben und sie schon dadurch schutzlos der Willkür ihrer Eigentümer ausgesetzt sind.6 Nicht erst die Schlachtung, sondern bereits die Einschränkung ihrer Freiheit erzeugt ethische Bedenken. Das klassische Argument, Tieren keine Rechte zu gewähren, lautet, dass Rechten auch Pflichten entsprechen. Man könne aber Tiere nicht verpflich‐ ten, sondern allenfalls zwingen.7 Entsprechendes ließe sich auch über die Rechte der Natur anführen. Dagegen hatte schon Kant den fürsorglichen Umgang mit Tieren eine Tugendpflicht genannt, die ein Mensch sich selbst gegenüber habe, um in seiner Moralität nicht zu verrohen.8 Ein analoges Argument hat Hans Jonas zur umweltethischen Verantwortungspflicht ge‐ genüber dem zukünftigen Leben angeführt: Es gebe eine Pflicht zum Dasein, die auch die künftigen Generationen hätten. Also habe die Menschheit gegenwärtig die Pflicht, den künftigen Generationen die Daseinsbedingung zu erfüllen, damit sie ihren Pflichtbeitrag ebenso erfüllen könnten.9 Während die Theologie schon früh umweltethische Beiträge in die Dis‐ kussion eingebracht hat,10 sind theologisch-tierethische Beiträge noch rar.11 Insbesondere die Sonderstellung des Menschen als Ebenbild Gottes weist den Tieren und der Natur die Rolle zu, Objekte seiner Fürsorge zu sein – die dann auch in menschliche Dominanz mutieren kann. Nils Schütz setzt daher in seiner tierethischen Forschung mit einer umgekehrten Asymmetrie zwischen Mensch und Tier an, indem er das Tier als das primäre Subjekt versteht, an dem der Mensch zum Subjekt wird, indem er von ihm zur Verantwortung gerufen wird.12

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www.huehner-haltung.de/huehnerrassen/seltene-huehnerrassen-und-warum-sollte-i ch-diese-halten/. www.wwf.de/2018/maerz/naturschutz-braucht-schafe. B. Torres: Eigentum, Gewalt und die Ursprünge der Unterdrückung, 520. J. Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur, 62. I. Kant: Die Metaphysik der Sitten, 443. H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, 80, 89. Z.B. J. Moltmann: Gott in der Schöpfung. C. Wustmans: Tierethik als Ethik des Artenschutzes. N. Schütz: Zwischen Verantwortlichkeitshumanismus und Anthropozentrismuskritik, 69f.

27.1 Eine Ethik der Wahrnehmung (Hi 12,7–12)

Zur Textauswahl Die biblische Urgeschichte ist Anlass für umwelt- und tierethische Debatten gewesen, auch über die Theologie hinaus. Der biblische Bebauungs- und Herrschaftsauftrag über die Schöpfung (1. Mose 1,26; 9,2; 2,15) könnte als Freibrief zur Ausbeutung der Natur durch den Menschen verstanden werden. Die naturtheologische Ordnung, die in den biblischen Schöpfungs‐ erzählungen beschrieben wird, eignet sich daher besonders für das Thema dieses Kapitels. Dabei habe ich mich für den sogenannten zweiten Schöp‐ fungsbericht entschieden, weil er das Weltverhältnis des Menschen nicht kosmologisch-abstrakt, sondern als familiären Nahraum beschreibt. Mit der einleitenden Sektion wiederum verweise ich zurück auf die wahr‐ nehmungsethische Grundlage dieses Buches (Kap. 1), die in der sogenann‐ ten Weisheitsliteratur der Bibel angelegt ist. Auch das Buch Hiob gehört zur biblischen Weisheitsliteratur. Die vorliegende Stelle zieht dabei über die Wahrnehmungsdifferenzen zwischen Mensch und Tier Schlüsse zur Frage, in welchem Verhältnis beide zu Gott stehen.

27.1 Eine Ethik der Wahrnehmung (Hi 12,7–12) 7 Frage doch das Vieh, das wird dich’s lehren, und die Vögel unter dem Himmel, die werden dir’s sagen, 8 oder die Sträucher der Erde, die werden dich’s lehren, und die Fische im Meer werden dir's erzählen. 9 Wer erkennt nicht an dem allen, dass des HERRN Hand das gemacht hat, 10 dass in seiner Hand ist die Seele von allem, was lebt, und der Geist aller Menschen? 11 Prüft nicht das Ohr das Wort, und schmeckt nicht der Gaumen die Speise? 12 Ist (etwa) bei den Greisen Weisheit und Verstand auf die Länge der Tage?

Man kann Gottes Herrlichkeit unmittelbar erfassen. Dazu braucht es keine langen Überlegungen. Es sind nicht die Greise, nicht die Menschen mit langen Lebenserfahrungen, die irgendwann einmal darauf kommen, was wohl Gott gemacht haben muss. Vielmehr erkennt bereits das Tier die we‐ sentlichen Zusammenhänge, das Vieh, die Fische und Vögel. Die Lebewesen, die nicht lange nachdenken, kennen Gott ganz genau. Gottes Weisheit zeigt

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sich beim unmittelbaren Schmecken und Sehen. „Prüft nicht das Ohr das Wort, und schmeckt nicht der Gaumen die Speise?“ Gott ist etwas, was man schmecken, hören und sehen kann. Der Verstand kann Menschen nach Hiob offenbar bei der Gotteserkennt‐ nis behindern. Gott kann man nicht herbeiphilosophieren, sondern nimmt ihn unmittelbar wahr. Aber was nehmen Tiere von Gott wahr? Schmeckt das Vieh Gott, wenn es Gras frisst? Hört der Vogel etwas Göttliches, wenn er ein Lied pfeift? Wahrscheinlich hat Hiob das nicht gemeint, dass Tiere wissen, wer Gott ist. Aber Tiere unterscheiden sich von uns tatsächlich in einem Punkt: Sie orientieren sich allein daran, was sie wahrnehmen können. Sie orientieren sich am Schmecken und Sehen. Und Hiob meint wohl, dass das Schmecken und Sehen die Spur wittern, um Gott zu finden. „Der Gaumen schmeckt die Speise.“ Manchmal stellen wir fest, dass unser Geschmack uns getäuscht hat. Als wir gestern noch die Plätzchen abgeschmeckt haben, haben sie noch süß geschmeckt. Heute dagegen haben wir den Eindruck, dass etwas fehlt. Der Geschmack kann sich täuschen. Und sollte man Gott beim Schmecken entdecken, dann könnte man sich doch wohl auch bei ihm täuschen. Aber eins erkennt der Gaumen immer: nämlich das Schmecken selbst. Alle Lebewesen, die einen Gaumen haben, schmecken permanent etwas in ihrem Gaumen. Sie kommen gar nicht daran vorbei, dass sie immer irgendetwas schmecken. Sie können sich auch davor gar nicht verschließen. Wer einen Gaumen hat, muss schmecken und nimmt permanent etwas wahr. Perma‐ nent erhält der Gaumen Informationen und muss etwas erkennen. Selbst wer seinen Geschmack verloren hat, schmeckt den Verlust im Gaumen. Mensch und Tier können nur leben, indem sie permanent etwas erkennen. Auch wer schläft, träumt dabei, als würde er dabei etwas erkennen. Später, wenn wir aufwachen, wissen wir, dass der Traum uns getäuscht hat. Aber er hat uns nicht darin getäuscht, dass wir permanent etwas erfahren – auch im Traum. Permanent strömen auf uns Informationen ein. Solange wir leben, ist das so. Leben heißt erkennen. Oder anders: Leben heißt weise sein. Also haben wir die Weisheit immer schon entdeckt, solange wir leben. Gottes Weisheit müssen wir nicht erst erforschen. Wir müssen Gott nicht erst auf die Spur kommen und brauchen auch nicht ein Leben lang dafür, bis wir alt und greis sind. Denn leben heißt weise sein. Und solange wir leben, haben wir Gottes Weisheit in uns.

27.1 Eine Ethik der Wahrnehmung (Hi 12,7–12)

Deshalb sind die Tiere uns voraus, weil der Verstand uns manchmal auch daran hindert, zu sehen, was man vor Augen hat, zu hören, was im Ohr ist, zu schmecken, was auf der Zunge liegt. Tiere werden nicht an der Weisheit gehindert, die im Schmecken selber liegt und die wir in uns selbst finden, einfach weil wir leben. Gott ist nicht im fernen Himmel, dass man nur über ihn spekulieren könnte mit schwierigen Gedanken. Sondern Gott ist ganz dicht bei uns. Seine Weisheit ist nämlich in uns. Wir sind zwar nicht allwissend wie ein allmächtiger Gott im Himmel. Aber wir sind doch „permanent wissend“. Wir erfahren nämlich dauernd etwas Neues, allein weil wir leben. Es geht nur so. Die Weisheit von Gott dem Schöpfer findet sich also in seinen Geschöpfen wieder, seine Allwissenheit als permanentes Wissen unter uns Menschen. In der Weisheit ist Gott in uns Menschen. Gott im Himmel hat auf Erden seine Weisheit hinterlassen. Seine Weisheit können wir gar nicht übersehen. Hiob fragt: „Wer erkennt nicht an dem allen, dass des HERRN Hand das gemacht hat?“. Die Antwort heißt: Wir alle müssen erkennen, solange wir leben. Denn die Weisheit erschafft alles, was wir sind und spüren. Sobald wir nichts mehr spüren können, können wir auch nicht mehr leben, und unsere Welt würde zusammenbrechen. Denn wir haben immer nur Zugang zur Welt über das, was wir spüren. Das Leben und die Welt, die wir spüren, verdanken wir der Weisheit in uns. Sie ist in uns, aber sie erschafft auch alles, was wir sind. Menschen dagegen, die zweifeln können, vertrauen allein in irgendwel‐ che Gesetzmäßigkeiten und nicht zuerst in die Urteilskraft des Gaumens, sondern in die chemische Zusammensetzung der Speise. Das Vieh muss da‐ gegen nur am Gras riechen, um es sofort zu fressen, und verhungert fraglos, wenn sein Geschmacksinn ausgefallen ist. Der zweifelnde Mensch dagegen vertraut nicht seinen Sinnen. Er muss es nachprüfen. Genauso vertraut der zweifelnde Mensch nicht in seine Ohren. Nur weil er zweifeln kann, kann der Mensch auch lügen und belogen werden. Deshalb prüft er, was er wahrnimmt, und vertraut nur den Gesetzmäßigkeiten, die er selbst aufstellt. Diese Gesetzmäßigkeiten der Welt sind menschliche Konstruktionen und haben mit der Ordnung Gottes nichts zu tun. Naturgesetze oder chemische Zusammensetzungen unserer Speisen sind keine Ordnungen Gottes. Sie sind auch nicht einfach und nicht einfach zu erkennen. Sie ergeben sich erst durch mühsames Denken des zweifelnden Menschen. Gott findet man so gerade nicht. Denn wenn man so Gott finden könnte, dann müsste es ja ein Gesetz geben, warum Hiob jetzt leidet. Es müsste einen Grund geben, warum Gott

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ihn mit Unglück straft. Aber es gibt eben keinen Grund: Der arme Hiob leidet völlig grundlos. Der zweifelnde Mensch stößt hier mit seiner Weisheit an eine Grenze. Darin besteht die Störung. Gott findet man nur unmittelbar. Man muss ihn so einfach wiederfinden wie das Vieh das Gras oder der menschliche Gaumen die Speise. Gott taucht auf, wo für den Zweifel noch keine Zeit war. Hiob macht diese neue Gotteserfahrung gerade jetzt, wo er leidet. Gerade an der Stelle, an der er unmittelbar fühlt, dass hier etwas nicht stimmt. Daran wiederum, dass etwas nicht stimmt, kann man nicht zweifeln. Dass etwas nicht stimmt, wird genauso unmittelbar und fraglos erlebt wie das Gras für das Vieh oder die Speise für den Gaumen. Und doch können nur Wesen diese Erfahrung machen, die durch den Zweifel hindurchgegangen sind, eben Menschen. Deshalb räumt Hiob immerhin den Greisen die typisch menschliche Weisheit ein und übertreibt dabei etwas. Denn bereits größere Kinder können schon erleben, dass etwas nicht stimmt. Aber immerhin müssen sie dazu vorher schon gelernt haben zu zweifeln. Die menschliche Gotteserfahrung besteht nicht in Gottes Ordnung, wo‐ nach alles nach einem guten Gesetz verläuft, sondern im Entsetzen, dass etwas nicht stimmt. Sie besteht in dem Entsetzen, dass wir mit Gott nicht mehr gerechnet haben – und dass er deswegen nur unbe-rechen-bar auftritt. Das unterscheidet die menschliche Gotteserkenntnis von der Weisheit des Tieres, dass Gott gerade im Leiden erfahren wird und wie entsetzlich es ist, dass sich das Leid nicht nach einem Gesetz vollzieht, sondern überraschende Schwankungen hat. Wenn etwas nicht stimmt, dann funktionieren unsere Gesetzmäßigkeiten nicht. Und wenn sie nicht funktionieren, heißt das, dass etwas völlig Neues passiert – wofür es eben keine Regel gibt, aber gerade deshalb neue Chancen auftauchen können, mit denen ebenso niemand rechnen konnte. Hiob scheint genau darauf zu vertrauen. Und gerade deshalb beharrt er so darauf, dass Gott sich gerade nicht in den Gesetzen zeigt, sondern in der unmittelbaren Erfahrung – und gerade auch in der unmittelbaren Erfahrung alter Menschen, die das kennen, dass vieles nicht stimmt. Wer so ungerecht leidet, wird nicht damit getröstet, dass es ein Gesetz gibt, das sein Leid erklärt. Man wird nur getröstet, indem etwas Neues passiert. Das natürliche Spüren ereignet sich unmittelbar. Der Mensch muss diese Unmittelbarkeit mühsam und auf tragische Weise erleiden, indem er über den Zweifel hinaus auf sie gestoßen wird, sobald etwas nicht stimmt. Daraus

27.2 Umweltethik (1. Mose 2,8–23)

ergibt sich ethisch eine Haltung, die moralische Beziehung zur Natur und zu den Tieren danach zu bestimmen, wie Menschen unmittelbar spüren. Literatur zur Vertiefung: M. Nussbaum: Jenseits von „Mitleid“ und Mitmenschlichkeit“, 176–216. – Unter Gerechtigkeit versteht Martha Nussbaum die Beförderung von Lebewesen, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Dieser Gerechtigkeitsaspekt geht über die menschliche Gattung hinaus. Dabei bringt Nussbaum Gefühle als Bezugnahme zwischen den Gattungen ausdrücklich ein. N. Schütz: Zwischen Verantwortlichkeitshumanismus und Anthropozentrismuskri‐ tik, 57–78. – Die unmittelbare Begegnung zu den Tieren erzeugt deren unmit‐ telbare Anerkennung. Der ethische Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht nur darin, dass der Mensch damit zur Verantwortung gegenüber dem Tier aufgerufen ist, das Tier jedoch nicht.

27.2 Umweltethik (1. Mose 2,8–23) 8 Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. 9 Und Gott der HERR ließ wachsen aus der Erde alle Bäume, liebenswürdig von Gestalt und gut als Speise, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. 10 Und es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilte sich von da in vier Hauptarme. 11 Der erste heißt Pischon, der fließt um das ganze Land Hawila, und dort findet man Gold; 12 und das Gold des Landes ist gut. Auch findet man da Bedolachharz und den Edelstein Schoham. 13 Der zweite Strom heißt Gihon, der fließt um das ganze Land Kusch. 14 Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der Euphrat. 15 Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihm diente und ihn bewahrte. 16 Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, 17 aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben.

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18 Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch für sich sei; ich will ihm eine Hilfe machen wie sein Gegenüber. 19 Und Gott der HERR bildete aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; und bei allem, wie der Mensch jede lebendige Seele nannte, war dies der Name. 20 Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen fand er keine Hilfe wie sein Gegenüber. 21 Da ließ Gott der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und verschloss Fleisch darunter. 22 Und Gott der HERR baute eine Frau mit der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. 23 Da sprach der Mensch: Dies einmal ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch; zu ihr wird man sagen Frau (Männin), weil sie vom Mann genommen ist.

Kann man hier am Anfang der Bibel beginnen, um umweltethische Aspekte zu ermitteln? Immerhin ist der Mensch im weiteren Verlauf der Erzäh‐ lung aus dem Garten Eden vertrieben worden. Seitdem ist der Erdboden „verflucht“ (1. Mose 3,17), und zwischen Mensch und einer Tierart, der Schlange, besteht seitdem „Feindschaft“ (1. Mose 3,15). Würden wir das nicht mitberücksichtigen, würden wir auch nicht erkennen, dass die Bibel ihr Verhältnis zur Umwelt bereits am Anfang revidiert hat. Das menschliche Verhältnis zur Umwelt ist nicht so harmonisch und schön geblieben, wie die Erschaffung des Lebens im Garten Eden beschrieben worden ist. Man würde ethisch den falschen Rahmen setzen, einer längst vergangenen Zeit nachzutrauern. Umweltethische Aspekte lassen sich aber dann an dieser Schöpfungser‐ zählung aus dem zweiten Kapitel der Bibel erfassen, wenn wir beschreiben, was gleich bleibt, nachdem der Mensch aus dem Garten Eden vertrieben worden ist. Gott hat ja danach seine Schöpfung nicht komplett abgewickelt. Vielmehr lebt der Mensch auch nach der Vertreibung aus dem Garten noch in Gottes Schöpfung – mit Tieren, Pflanzen, Flüssen und Rohstoffen (Gold, Harz und Edelsteinen). Also lässt sich mit dieser Erzählung beschreiben, wie nahe sich die Geschöpfe geblieben sind und worin sie sich unterscheiden, seitdem sie erschaffen wurden.

27.2 Umweltethik (1. Mose 2,8–23)

Und da zeigen sich einige Überraschungen: Die Pflanzen sind nämlich schöpferischer als der Mensch. Gott ließ die Bäume wachsen; daraus lässt sich schließen, dass sie von selbst wuchsen. Die Pflanzenwelt wurde von Gott nicht „gebaut“ wie der Mensch oder die Tiere. Es mag sein, dass in anderen Religionen der Erdboden wie eine Gottheit verehrt wurde, aus der die Bäume wachsen. Dann könnte man verstehen, warum Gott den Erdboden später verflucht, weil er keine Götter neben sich duldet. Das ändert aber nichts daran, dass die Pflanzen schöpferischer sind als die Tiere und die Menschen. Eine zweite Überraschung: Der Mensch ist den Tieren ähnlicher als seinesgleichen. Mensch und Tier werden von Gott aus dem Erdboden geformt – aber die Frau nicht: Sie wird mit einem Teil des Menschen geformt, und erst seitdem es sie gibt, gibt es auch den Mann. Es wird übrigens nicht gesagt, dass Gott aus der Rippe eine Frau formte – dann wäre sie wohl sehr klein geworden. Vielmehr baut Gott die Frau „mit“ der Rippe, als ob die Rippe ein Werkzeug war. Aus welchem Stoff die Frau erschaffen wird, bleibt im Dunkeln. Aber die gemeinsame Erdverbundenheit scheint es nicht zu sein, die Mann und Frau verbindet. Der Mensch ist dem Tier näher als der Frau. Durch die Frau, die später die „Mutter allen Lebens“ genannt wird (1. Mose 3,20), entsteht etwas völlig Neues, die Geschlechtlichkeit, Mann und Frau. Die Frau ist dem Mann nahe, das Tier aber dem Menschen. Interessant ist zudem, dass die Tiere keinen Zweck in der Schöpfung haben. Die Pflanzen stellen das Essen bereit, die Flüsse die Fruchtbarkeit der Erde, der Mensch soll den Garten bearbeiten, die genannten Rohstoffe Gold, Harz und Edelsteine sind vermutlich dazu wertvoll. Außerdem sind die Bäume auch zur Schönheit erschaffen und die Frau zur Hilfe. Aber die Tiere haben keinen Zweck. Sie sind zwar die Ursache dafür, dass der Mensch zum ersten Mal in der Bibel spricht. Und die erste Unterhaltung eines Menschen wird die mit einem Tier sein (1. Mose 3,1–5). Aber als Hilfe für den Menschen versagen gerade die Tiere: Sie sind nicht sein Gegenüber und sie sind auch nicht zum Essen da. Trotzdem vernichtet Gott sie auch nicht, als er erkennt, dass sie ihren Zweck verfehlt haben, zu dem sie erschaffen worden sind. Seitdem bleiben sie zweckfrei in der Schöpfung, sogar das Vieh des Feldes, das dem Menschen gehört. Der Mensch lebt mit den Tieren zusammen, ohne sie zu gebrauchen. Und noch etwas ist überraschend: Gott ist nicht das Gegenüber des Menschen. Erst die Frau bestimmt den Menschen dazu, ein Gegenüber in Geschlechtern zu sein. Gott hat auch kein direktes Verhältnis zu seiner

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Schöpfung, sondern erschafft alles nur für den Menschen. Die Ordnung dieser Welt gilt für den Menschen. Die Tiere und Pflanzen dagegen überlässt Gott sich selbst: Die Pflanzen wachsen von alleine, und die Tiere haben keinen Zweck in Gottes Ordnung. Auch sie werden von ihm nur „gelassen“. Ist das ethisch viel oder wenig? Oder wäre uns umweltethisch ein friedlicherer, harmonischerer oder zumindest solidarischer Umgang mit der nichtmenschlichen Schöpfung lieber? Zumindest wäre es mehr, als was das gegenwärtige menschliche Verhalten der Natur zugesteht, wenn die Umwelt auch vom Menschen „gelassen“ werden würde. Denn der Mensch hat den Tieren die Zweckfreiheit geraubt. Und er zwingt der Natur neue Unordnungen auf, die es ihr immer weniger gestatten, von selbst aufzuge‐ hen. Hausgemachte Dürren und Fluten lassen den zwar verfluchten, aber doch weiterhin schöpferischen Erdboden immer weniger zur Entfaltung kommen. Die umweltethische Haltung, die sich aus der biblischen Anfangserzäh‐ lung ergibt, lautet, sich mit dem Anderssein der Umwelt zu arrangieren. Es wird keine Solidarität mit der Natur erfordert, nicht einmal Friede, da sie mit Fluch und teilweiser Feindschaft belegt wird. Immerhin reizt sie ein wenig zur liebevollen Bewunderung ihrer Schönheit. Aber vor allem ist die Natur das Andere des Menschen. Selbst die Tiere, die dem Menschen näher sind als er seinesgleichen, haben im Gegensatz zu ihm keinen Zweck und bleiben daher etwas völlig anderes, was quer liegt zu seinen eigenen Plänen. Aufrichtig kann die Bibel davon sprechen, dass das Verhältnis des Menschen zur Natur gestört ist durch Fluch und Feindschaft. Und trotzdem hat er sich mit ihrem Anderssein zu arrangieren. Er braucht sie nämlich. Und zugleich lässt sie sich nicht vollständig für seinen Gebrauch instrumentalisieren. Sie hat zweckfreie Seiten, derer er sich nicht bemächtigen kann. Sie ist schön und muss „gelassen“ werden. Sich mit der Natur zu arrangieren, heißt also bei allen menschlichen Interessen, die Natur auch sich selbst zu überlassen. Vielleicht haben manche Menschen darüber hinaus auch Ehrfurcht vor der Natur oder Respekt, Liebe, Solidarität oder ein Verantwortungsgefühl. Aber auch wenn das alles fehlt, soll der Mensch eine Haltung entwickeln, sich mit dem Anderssein der Natur zu arrangieren. Umweltbewegungen drohen bisweilen mit der Feindschaft der Natur, wenn sie befürchten, die Natur werde „zurückschlagen“, weil sie den Menschen nicht brauche, sondern der Mensch die Natur. Und Szenarien der Erderwärmung beschreiben eine düstere Zukunft, wie sehr der Mensch von Dürren, Stürmen, Überschwemmungen und Naturgewalten

27.3 Tierethik (1. Mose 2,18–20)

heimgesucht werden wird. Weil sie anders ist, kann die Umwelt feindlich sein. Und man bekommt ihre Gewalt nicht schon in den Griff, wenn man sich mit ihr verbündet. Die Haltung, sich mit der Umwelt zu arrangieren, heißt vielmehr, die Grenzen zu achten, die sie uns setzt, weil sie anders ist. Es ist ein maßvolles Arrangement: Wir sollen uns von ihr ernähren, aber wir sollen sie noch selbst wachsen lassen. Wir können ihre Schönheit bewundern, aber dann sollen wir sie auch nicht entstellen. Wir können ihre Rohstoffe nutzen, aber darauf achten, dass wir auch künftig noch welche in ihr finden. Der Mensch lebt in Feindschaft mit der Schlange, aber hat auch auch ihre Zweckfreiheit zu bewahren. Das Anderssein der Natur hat Gewicht. Auch wenn der Mensch es nicht wahrhaben will, entkommt er dieser Tatsache nicht, dass die Natur das Andere bleibt, das er nicht vollständig in Gebrauch nehmen und nach seinem Willen formen kann. Dieses Gewicht des Andersseins wird in dieser Erzählung mit Gott repräsentiert, der für den Menschen die Ordnung herstellt. Gott setzt zwar Feindschaft und Fluch der Natur für den Menschen, aber Gott legt auch fest, dass der Mensch die Natur nie unter seine Kontrolle bekommt. Und schon damit setzt Gott der Feindschaft und dem Fluch eine Grenze. Literatur zur Vertiefung: G. Böhme: Die Natur vor uns, 113–138, 150–167. – Bäume, Blumen und Landschaften zeigen ihre Ästhetik selbst an. Dass sie schön oder erhaben sind, wird nicht vom wahrnehmenden Menschen an sie herangetragen, sondern sie entwickeln diese Eigenschaften selbst. Die Schönheit einer Blume oder Landschaft lässt sich auch nicht allein mit ihrem evolutionsbiologischen oder ökologischen Zweck erklären. H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, 136–150. – Hans Jonas hat in seinem Haupt‐ werk gezeigt, dass die Naturwissenschaften nicht alles über die Natur sagen können, weil sie sie an nicht-natürlichen Zwecken erklären. Demgegenüber verweist Jonas darauf, dass die Natur auch ohne den Menschen Werte hegt und im überindividuellen Sinn einem Ziel folgt.

27.3 Tierethik (1. Mose 2,18–20) 18 Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch für sich sei; ich will ihm eine Hilfe machen wie sein Gegenüber.

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19 Und Gott der HERR bildete aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; und bei allem, wie der Mensch jede lebendige Seele nannte, war dies der Name. 20 Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen fand er keine Hilfe wie sein Gegenüber.

Die Natur kann den Menschen bedrohen, wenn er ihr Anderssein nicht achtet. Das Tier aber scheint keinen drohenden Charakter zu haben. Zwar malen Menschen ihre Feinde oft als bedrohliche Tiere mit ihren hässlichen Drachenköpfen und fletschenden Zähnen. Menschen können auch in Wirk‐ lichkeit mit ihren Tieren drohen, mit ihren bellenden Hunden oder in unzivilisierten Gesellschaften Menschen Tieren zum Fraß vorwerfen. Aber da ist es der Mensch, der die Tiere für seine Zwecke instrumentalisiert. Und es ist eigentlich eine zwischenmenschliche Feindschaft, bei der das Tier nur zum Werkzeug menschlicher Drohung verkommt. Eigentlich gibt es nur zwei Ursachen, wann Tiere zum Feind der Men‐ schen werden können: wenn sie einem Menschen gehören, der mit ihrer Körperkraft droht, und wenn man ihrem Lebensraum zu nahe kommt. Ansonsten aber sind Tiere selten bedrohlich. Es ist eher umgekehrt: Der Mensch bedroht das Tier und macht sich zum Feind der Tiere. Es gibt nur wenige biblische Geschichten, in denen ein Mensch von Tieren angegriffen wird, und wenn es sie gibt, dann werden die Tiere zu Waffen des Menschen gemacht, so etwa bei der Erzählung von Daniel in der Löwengrube (Dan 6). Es gibt aber sehr viele biblische Erzählungen, in denen Tiere ihre Zweckfreiheit verlieren und für menschliche Interessen ausgenutzt werden. Nachdem sie Gottes Willen nicht entsprochen haben, ein Gegenüber des Menschen zu werden, belässt Gott sie zwar in seiner Schöpfung. Aber ihre Zweckfreiheit verlieren sie schnell, als die Schlange zum Feind wurde und das Tierfleisch zum religiösen Opfer, das Gott anerkannte (1. Mose 4,4), oder zum Genussmittel für den Menschen (1. Mose 9,3) und die tierische Kraft zur Arbeitskraft eingesetzt wurde. Genauer: Das Tier verliert seine Zweckfreiheit, sobald es zum menschlichen Eigentum wird (1. Mose 9,2). Hier zeigen sich Unterschiede zwischen der Umweltethik und der Tier‐ ethik: Die Umwelt kann zum Feind und Fluch des Menschen werden, sie kann den Menschen bedrohen. Das Tier bedroht den Menschen nur in

27.3 Tierethik (1. Mose 2,18–20)

Ausnahmefällen. Der Mensch muss sich mit dem Anderssein der Umwelt arrangieren. Das Tier dagegen kann ganz und gar für den menschlichen Mutwillen instrumentalisiert werden, ohne dass es den Menschen irgendet‐ was kostet. Gerade weil das Tier keinen Zweck hat, kann der Mensch es ganz und gar für sich ausbeuten. Heute trennen wir beides nicht mehr so scharf, wie das die Bibel be‐ schreibt. Der ökologische Zusammenhang von Biotopen macht schon klar, dass Tiere durchaus einen Zweck haben, dass Insekten Blüten bestäuben und ein Insektensterben deshalb auch den Menschen bedroht; dass zu viele Rinder den Klimawandel beeinflussen. Aber nicht die Tiere sind hier die Feinde, sondern die Natur bedroht den Menschen, wie sie es immer macht, wenn er ihr Anderssein nicht beachtet. Wenn Tiere aussterben, rächt sich die Natur, nicht die Tiere, weil sie ja gerade jetzt fehlen. Und wenn es zu viele Rinder gibt, dann bedrohen nicht sie den Menschen, sondern der Mensch sich selbst, weil er sie zu seinem massenhaften Eigentum vermehrt. Dass das Tier ganz und gar vernutzt werden kann, liegt paradoxerweise gerade daran, dass es wirklich dem Menschen zum Anderen wird. Die Umwelt ist zwar das Andere des Menschen, die er sich in ihrem Anderssein nie ganz erobern kann. Sie setzt dem menschlichen Ich eine definitive Grenze. Das Tier aber lässt das menschliche Ich überhaupt erst entstehen. Der Philosoph Emanuel Levinas behauptet: Wir werden zum Ich, indem uns ein Anderer begegnet. Bei der biblischen Erzählung vom Garten Eden zeigt sich das daran, dass der Mensch erst jetzt anfängt zu reden, als er den Tieren begegnet. Die Natur begrenzt den Menschen, das Tier dagegen setzt ihn frei, indem sein Ich erst über die Begegnung mit ihm entsteht – genauso wie der Mann durch die Begegnung mit der Frau entsteht. Und genauso kann der Mensch sowohl das Tier wie auch seine Mitmen‐ schen ausbeuten und instrumentalisieren. Die, denen er sich verdankt, weil er ihnen begegnet, macht er zu seinem Objekt. Es ist festgestellt worden, wie eng die Ausbeutung von Tieren mit der Ausbeutung von Menschen verbunden ist. Man kann hochrechnen, wie wenige Sekunden Zeit in der Industrie der Massentierhaltung einem Schlachter bleibt, ein einziges Schwein oder Rind zu schlachten. Und es ist klar, dass eine fachgerechte Schlachtung sich dann oft nicht durchführen lässt. Tiere sterben dann unter Qualen, und Menschen stehen unter einer ungeheuren Dauerbelastung, die sie auch quält wie die Schlachttiere. Deshalb braucht die Tierethik andere Maßstäbe als die Umweltethik. Die Natur kann den Menschen bedrohen, das Tier kann das nicht. Die Natur setzt

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dem Menschen die Grenze, das Tier schenkt ihm seine Selbstentfaltung. Das heißt aber im Umkehrschluss, dass der Mensch sich selbst verliert, wenn er das Tier total vernutzt. Gerade weil das Tier ihm keine Grenze setzt, verliert er seine menschlichen Konturen, wenn er grenzenlos auf das Tier einschlägt. Am Umgang mit dem Tier entscheidet sich, ob der Mensch noch bei sich ist. Es ist aber gerade deshalb dem Menschen eine ethische Haltung zu emp‐ fehlen, sich ebenso zu verhalten wie gegenüber der Umwelt: Der Mensch soll sich mit dem Anderssein des Tieres wie der Umwelt arrangieren. Die Gründe aber sind andere. Die Natur schlägt zurück, wenn der Mensch es nicht tut. Dagegen ist das Tier ganz und gar zweckfrei, ganz und gar leidend und kann ganz und gar dem Willen des Menschen gehorchen. Aber wenn der Mensch diese totale Hingabe des Tieres ausnutzt, wird er sich selbst verlieren. Der Unterschied zwischen Umweltethik und Tierethik besteht darin: Die Umwelt droht mit Macht, das Tier gefährdet den Menschen mit seiner Ohnmacht. Das Tier macht uns selbst zu Feinden unserer selbst, weil es nicht feindlich gesinnt ist. Wir brauchen eine Tierethik, die unsere Feindschaft unter Kontrolle bekommt. Wir brauchen eine Tierethik, die von den Tieren das menschliche Sprechen empfängt, anstatt unsägliche Grausamkeiten an Tier und Mensch zu verüben. In zwei biblischen Geschichten reden Tiere mit Menschen, und in beiden wird der Mensch zur Rechtfertigung aufgefordert. Die Schlange fragt die Frau, warum sie nicht alle Früchte im Garten verzehrt. Und der Esel des Propheten Bileams fragt ihn, warum er ihn schlägt (4. Mose 22,28.30). Der Mensch lernt vom Tier zu sprechen. Und sobald er sprechen kann, muss er sich auch schon vor ihm rechtfertigen. In beiden Erzählungen beginnt das Tier das Gespräch, und in beiden offenbart es sich dem Menschen als der Andere. Für Levinas offenbart sich Gott im Anderen. Diese Offenbarung ist schöpferisch, weil sie das menschliche Ich entstehen lässt und ihm die Spra‐ che verleiht, indem es zu seiner Rechtfertigung aufgefordert wird. Gerade dadurch wird der Mensch zum moralisch zurechnungsfähigen Wesen. Von einer Eigenwürde des Tieres wird nichts erzählt. Das mag manchen Tierethikern zu wenig sein. Das Tier passt irgendwie nicht in diese Welt. Gerade deshalb ist es so sehr gefährdet, vom Menschen vernutzt zu werden. Aber gerade weil es nicht in die Welt passt, offenbart sich in ihm etwas Neues für den Menschen. Es hat keine Eigenwürde, sondern lässt dem Menschen seine eigene Würde erkennen. Zugleich offenbart die Verletzbarkeit des

27.3 Tierethik (1. Mose 2,18–20)

Tiers, wie sehr der Mensch seine eigene Würde verletzen kann. Daran ändert sich nichts, wenn Tierethiker weiter gehen wollen und dem Tier eine Eigenwürde zusprechen wollen. Nicht seine Eigenwürde, sondern seine Ohnmacht offenbart, wie viel auf dem Spiel steht, wenn sich der Mensch nicht mit dem Anderssein des Tieres arrangieren kann. Literatur zur Vertiefung: E. Levinas: Nom d’un chien oder das Naturrecht, 129–133. – Obwohl Levinas einen neuen Humanismus formuliert, scheint er in diesem kurzen Beitrag einen Punkt anzudeuten, an dem sein Humanismus über die Gattungsgrenze hinausgeht. Hier erzählt Levinas von der Begegnung mit einem Hund, die er als Gefangener im Zweiten Weltkrieg hatte und die ihm Würde zurückgab. Zeitschrift für evangelische Ethik 63/2019, 8–64. – Fünf Beiträge beschäftigen sich mit dem moralischen Status des Tieres aus theologischer Sicht und stellen die aktuelle Diskussionslage dar.

Biblische Alternativen Anstelle des zweiten Schöpfungsberichts könnte man den ersten aus‐ wählen und insbesondere den Herrschaftsauftrag an den Menschen über die Tiere in den Blick nehmen (1. Mose 1,26). Er steht in einem Zusammenhang zu 1. Mose 9,2f, wo Gott den Menschen die Erlaubnis gibt, die Tiere zu unterwerfen und zu essen. Exegetisch steht diese Erlaubnis im Zusammenhang mit der Kultordnung: Nur dadurch, dass der Mensch Tiere unterwerfen und schlachten darf, kann er sie auch zur stellvertretenden Sühne opfern und sich von der Sünde befreien. Um das Ich des Sünders auf das Opfertier zu übertragen, muss es das Eigentum des Menschen sein. Die Voraussetzung für diesen Umgang ist die Sünde. Daher ist zu fragen, ob sich darauf eine Tierethik stützen kann, da sie Sünde reproduziert. Gottes Erlaubnis, Tiere zu töten, kann auch als Notverordnung angesichts der Sünde gelesen werden, aus der ethisch nicht jegliche Willkürhandlung gegen Tiere folgt. Unter dieser Voraussetzung hätte die christliche Position, dass Christus das Ende der Opfer ist, auch tierethische Konsequenzen (Heb 9,23–26; 10,12–18). Bei der Einweihung des Jerusalemer Tempels sind nach 1. Kön 8,63 hunderttausende von Tieren zum Dankopfer geschlachtet worden. Da‐ mit wird die unstillbare Lebensgabe demonstriert, die Gott seinem Volk gewährt, da es sich diese Massentötung leisten kann. Diese Erzählung

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dürfte fiktiv sein. Aber selbst in ihrer Fiktion ist sie bescheidener als das beträchtliche Wachstum des weltweiten Fleischmarkts in der Gegenwart. Die Tieropfer sind nach den Gesetzen des Alten Testaments zahlenmäßig ihren jeweiligen Kontexten zugeordnet. Ein Wachstum an Schlachtungen ist nicht vorgesehen. Fleischverzehr als Demonstration unstillbarer Lebensgabe und Überle‐ genheit Gottes dürfte auch im Hintergrund der entsprechenden Diskus‐ sion bei Paulus stehen (1. Kor 8–10; Röm 14). Paulus aber empfiehlt nicht um der Tiere willen den Verzicht auf fleischliche Kost, sondern um der Mitchristen willen und auch nur in einem fremden religiösen Kontext. Ethisch zu fragen wäre, ob dann nicht auch Vegetarismus als christliche Praxis den Anspruch an Dritte stellen darf, auf Fleischverzehr zu verzichten. Denn wenn um der Mitchristen willen der Verzicht geboten ist, könnte Vegetarismus erzwungen werden, wenn er christliche Motive hat. Hier ist das Dilemma der Rücksicht auf die Schwachen berührt, denn jede Position könnte auf diese Weise die Gegenseite zum Verzicht ihrer Position und Praxis zwingen (Kap. 20). Umweltethische Aspekte könnte man zudem aus Textstellen zu entneh‐ men versuchen, die ihre Aufmerksamkeit auf die stummen Kreaturen der Schöpfung legen. Der Gottesknecht wird mit einem verstummten Lamm verglichen, das zur Schlachtbank geführt wird (Jes 53,7). In Psalm 19 lobt die Schöpfung Gott mit unhörbarer Stimme: Sie spricht und hat eine Stimme, bleibt dabei aber unhörbar (V. 4f), wenn auch offenbar nicht unverständlich, denn sonst würde ihr Lob Gottes nicht vom Menschen begriffen werden. Gerade in ihrer Unhörbarkeit bewirkt die Stimme der Schöpfung menschliche Verwunderung. Dieses Phänomen wird reflexiv in einer Erzählung, in der ein Tier wirklich anfängt zu sprechen, nämlich die Eselin Bileams (4. Mose 22,28–30): Die stumme Kreatur bricht ihr Schweigen, indem sie dem Menschen den Spiegel vorhält („Was habe ich dir getan, dass du mich nun dreimal geschlagen hast?“). Wäre dieser Zustand des Menschen, auf das eigene Handeln im Spiegel zurückgeworfen zu sein, nicht normal, wenn Tiere sprechen könnten? Oder verstehen Menschen ihre eigene Verantwortung gerade dadurch noch besser, dass Tiere und Pflanzen mit „unhörbarer Stimme“ kommunizieren?

28 Vergebung Die Diskurslage Ähnlich wie die Toleranz1 greift Vergebung in Situationen moralischer Über‐ tretung ein. Schon allein dadurch ist sie nicht selbstverständlich moralisch lobenswert, sondern kann sich selbst als moralische Übertretung erweisen. Menschen können dafür verklagt werden, dass sie anderen verzeihen, aber auch, dass sie es nicht tun. Obwohl das Phänomen ethisch heikel ist, überrascht es, dass es relativ wenige Publikationen hierzu gibt. Selbst in der evangelischen Theologie, die die biblische Botschaft von Gottes Vergebung der Sünder ins Zentrum stellt, lassen sich nur wenige Publikationen zur Ethik der Vergebung finden. Ulrich Körtner hat die Freiheit zur Bedingung der Vergebung erhoben. Deshalb könnten auch nicht die geschädigten Personen einer verwerflichen Tat zur Vergebung gezwungen werden. Mit der Freiheit zur Vergebung ist vielmehr ebenso die Freiheit zur Strafe verbunden, die Körtner im selben Beitrag rechtfertigen kann.2 Dann aber stellt sich die Frage, welchen spezifischen Zweck Vergebung hat. Für Hannah Arendt hat sie einen personenkonstitutiven Charakter: Nur weil Menschen einander vergeben, ist ihre Identität nicht darauf festgelegt, was sie tun. Indem sie in der Vergebung von den Folgen ihrer Taten befreit werden, gewähren sie sich wechselseitig eine Offenheit für die Zukunft.3 Wer verzeiht, eröffnet einen neuen Anfang, und zwar indem die menschliche Gemeinschaft nicht nur als tatenkonstituiert erlebt wird, sondern auch als Raum für Neues. Verzeihen hat darum einen Person-enthüllenden Charak‐ ter.4 Rückwirkend über die Möglichkeit des Verzeihens bekommt auch Schuld einen Person-enthüllenden Charakter: Der Mensch wird nämlich nicht einfach schuldig an seinen Opfern, sondern primär an der Gemeinschaft.5 Arendt zeigt allerdings an den „Verbrechen gegen die Menschheit“ des Nazi-Regimes auf, dass es sich dort um eine neue Qualität von Verbrechen 1 2 3 4 5

Kapitel 16. U.H.J. Körtner: Muss Strafe sein? 116. H. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 302. A.a.O., 307f. H. Arendt: Eichmann in Jerusalem, 382, 395.

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handelte, nämlich um einen „Angriff auf die menschliche Mannigfaltigkeit als solche“6, also um die Vernichtung der Möglichkeit der Person-Enthül‐ lung. Deshalb konnten die Verbrechen laut Arendt auch nicht vergeben werden.7 Diese Unterscheidung wird jedoch fraglich, sobald Verzeihen die Person enthüllt und damit erst auch Schuld als ein interpersonales Gesche‐ hen bestimmt, und zwar gerade indem Schuld mit der Interpersonalität bricht. Ist dann nicht doch jede Schuld ein Verbrechen an der Menschheit, nämlich an den Bedingungen der Person-Enthüllung? Arendts Kriterium, einen Möglichkeitsraum der Vergebung zu bestimmen, ist nur dann richtig abgesteckt, wenn die Person auch auf andere Weise enthüllt wird als lediglich darüber, vergeben zu bekommen. Aber grundlegend ist für Arendt stets, dass Personalität vor und durch die menschliche Gemeinschaft enthüllt wird.8 In diesem Kapitel möchte ich auf drei Aspekte hinweisen, die in der bibli‐ schen Rede der Vergebung zusammengehören, nämlich das Verzeihen einer moralischen Schuld, die Wiederherstellung der interpersonalen Beziehung und die Entlastung der Beziehung von materiellen Pflichten (Schuldener‐ lass).

Zur Textauswahl Zwei biblische Symbole stehen herausragend für die Vergebung von Schuld, nämlich das Motiv vom Jüngsten Gericht und das Sabbatjahr. In den Symbolen werden Menschen in gegensätzlichen Rollen angesprochen. Das Symbol des Jüngsten Gerichts legt die ethische Haltung nahe, sich vergeben zu lassen, das Sabbatjahr demgegenüber die Verpflichtung, anderen zu vergeben.

6 7 8

A.a.O., 391. A.a.O., 404. H. Arendt: Vita activa, 224. Dies.: Über das Böse, 53.

28.1 Vergebung zur Neubewertung annehmen (2. Petr 3,8–13)

28.1 Vergebung zur Neubewertung annehmen (2. Petr 3,8– 13) 8 Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, dass ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag. 9 Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde. 10 Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb; dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden ihr Urteil finden. 11 Wenn nun das alles so zergehen wird, wie müsst ihr dann dastehen in heiligem Wandel und frommem Wesen, 12 die ihr das Kommen des Tages Gottes erwartet und erstrebt, an dem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden. 13 Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.

Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb – nicht so sehr weil er plötzlich kommt, sondern weil er uns wie ein Dieb die Lebensgrundlage wegnimmt. Wie bei plötzlichen Todesfällen wird uns besonders drastisch vor Augen geführt, dass wir das Leben nicht festhalten können. Doch nicht wirklich anders ist es mit Verstorbenen, die einen langen Sterbeweg gegangen sind. Vielleicht fällt die Plötzlichkeit ihres Todes nicht so sehr auf. Aber in einem solchen Fall ist es genauso spürbar, wie sehr uns ein liebgewonnener Mensch weggerissen wird. Das Leben endet wie bei einem Diebstahl. Es wird alles weggenommen, was eigentlich zu uns gehört. In solchen Situationen fordert das Bibelwort dazu auf, die Zeit zu nutzen. Man soll sich auf diesen letzten Diebstahl einstellen und darauf, dass das eigene Leben gefährdet ist und uns in jedem Fall weggenommen wird. Mit dieser Drohung leben lernen, sei besser als so tun, als würde es immer so weitergehen wie bisher. „Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine Verzögerung halten.“ Gott hat nur Geduld mit uns, damit wir in unserer bemessenen Zeit die richtige Lebenseinstellung gewinnen ange‐ sichts unserer Sterblichkeit. Und die richtige Lebenseinstellung beschreibt das Bibelwort als einen heiligen und frommen Lebenswandel. Wir wissen alle, dass wir irgendwann sterben müssen. Aber diese Er‐ kenntnis bedeutet noch nicht, fromm zu sein. Denn wir können über die

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menschliche Sterblichkeit auch so sprechen, als sei sie weit weg und hätte mit uns nichts zu tun. Welch eine gedankliche Verzerrung! Denn alle Menschen werden länger tot sein als sie auf Erden gelebt haben werden. Fromm sein, einen heiligen Lebenswandel haben, bedeutet für diesen Bibeltext jedenfalls das Eingeständnis, dass unsere Glückseligkeit nicht in diesem Leben liegt. Gegenüber dem Tod ist alles eitel. Und wenn unser Leben einen Sinn haben soll, dann muss er außerhalb des Lebens liegen. Dann muss noch etwas zu erwarten sein. „Die ihr das Kommen des Tages Gottes erwartet“ – diese Menschen werden als fromm beschrieben mit einem heiligen Lebenswandel. Denn sie vertrauen auf eine Verheißung nach dem Tod, für die jeder Dieb zu spät kommt. Wenn ich mit Trauernden spreche, höre ich öfter, wie sie Gott dafür verklagen, dass ihre Liebsten gestorben sind. Sie verklagen einen Dieb. Oft sprechen sie sich zugleich selbst schuldig dafür, dass ihre Liebsten gestorben sind, weil sie den Einbruch nicht aufgehalten haben. Weil die Thematik in beiden Aussagen ein Diebstahl ist, der die Lebensgrundlage vernichtet, können oft dieselben Menschen, die Gott verklagen, zugleich sich selbst verklagen. In solchen Gesprächen habe ich jedoch meistens den Eindruck, dass es gar nicht darum geht, jemanden konkret schuldig zu sprechen, sondern niemanden von der Schuld auszunehmen. Man deutet den Tod eines gelieb‐ ten Menschen als eine Ungerechtigkeit, die bodenlos ist und keine Grenzen kennt. Dadurch wendet man zugleich den Blick davon ab, wer konkret die Schuld trägt. Schuld ist zwar das Thema, aber die Anklage richtungslos. Die Ungerechtigkeit ist irgendwie überall und macht auch bei Gott nicht halt. Deswegen hilft es auch nichts in solchen Situationen, wenn Christen Gott verteidigen. Es hilft genauso wenig wie die Trauernden zu beschwichtigen, dass sie nichts für den Tod ihrer Liebsten beigetragen haben und ihn niemals hätten aufhalten können. Denn es geht nicht um konkrete Schuld. Es geht darum, dass alles ungerecht geworden ist – irgendwie. In solchen Situationen wuchert die Schuldwahrnehmung ins Unermessli‐ che, weil der Verlust bodenlos ist. Mag sein, dass alles schuldig geworden ist. Es ist jedenfalls empörend, wenn Kinder oder pflegebedürftige Angehörige zurückgelassen werden, die bisher vom Verstorbenen versorgt wurden, oder wenn jemand vom einen auf den anderen Moment seinen Sohn oder seine Tochter verliert. Genauso ungerecht ist es, wenn Menschen eine lange Krankheit erdulden müssen, bis man ihnen irgendwann sogar den Tod wünscht. In dieser Welt gibt es keine Glückseligkeit. Also legt sich nahe, den

28.1 Vergebung zur Neubewertung annehmen (2. Petr 3,8–13)

Grund für das Unglück ebenso außerhalb der Welt zu suchen. Kein Wunder, dass wir den Schmerz über eine ungerechte Welt auch gegen Gott richten. Es hilft dann kein Gott, dessen Gerechtigkeit unbefleckt bliebe, während Menschen unermesslich leiden oder ihr Leben geraubt wird. Wenn gegen diese Schuld Vergebung hilft, dann ist klar, dass sie auch kein weltliches Ereignis ist. Vergebung kommt von jemandem, der aus dem Tod kommt. Ein Lebenszeichen aus dem Ort der totalen Vernichtung ist die Auferstehung Jesu Christi. Das Bibelwort sagt es ausdrücklich, dass Gerechtigkeit nicht von dieser Welt ist: „Wir warten auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt“. Auch davon können Trauernde mir berichten: von dem Menschen, der aus dem Tod kommt. Sie erzählen mir dann von Orten, an dem sie ihm sich besonders nahe fühlen, dass sie mit ihm sprechen und dass ihnen solche Momente Kraft geben. Der Auferstandene Jesus Christus hat Spuren seiner Nähe gelegt. Und er hat sie gerade auch an Orte gelegt, wo wir unsere Liebsten betrauern. Der Mensch, der aus dem Tod kommt, unterbricht jedenfalls unsere Empörung. So sehr Trauernde hadern – gegen sich selbst oder gegen Gott oder gegen beide –, so sehr ändert sich das, sobald wir lebendige Spuren finden, die uns mit den Verstorbenen verbinden. Dann sprechen Trauernde davon, dass sie in manchen Momenten Kraft bekommen, dass es ihnen gutgetan hat, ans Grab zu gehen oder ins Sterbezimmer oder an den Kleiderschrank des Verstorbenen. Was gegen die Ungerechtigkeit dieser Welt hilft, ist Vergebung. Und diese letztgültige Vergebung kann nur der Mensch leisten, der die Welt bereits verlassen hat. Uns Menschen wird zugemutet, auf einen neuen Himmel zu warten und auf eine neue Erde. Uns wird zugemutet, auf Heilung zu warten von dem, der aus dem Tod kommt. Das bedeutet, mit dem Tod zu leben, mit der eigenen Vergänglichkeit und eigenen Grenzen. Es gibt keine normalen Tage, wenn es irgendwann diesen einen Tag des Herrn gibt, der wie ein Dieb kommt. Die Spuren der Auferstehung von den Toten schieben sich in unser Leben. Solche Ereignisse prägen andere Werte aus als die, nach denen wir normalerweise von morgens bis abends streben. Man muss dieser Zumutung nicht folgen. Man kann auch anders leben, als ginge einen der Tod nichts an. Aber man kann dann die Wunden nicht heilen, die der Tod in uns reißt. Man kann diese Wunden zwar verdrängen, aber sie bleiben trotzdem an uns haften. Manche Menschen wünschen sich einen plötzlichen Tod. Sie würden am liebsten vom einen auf den anderen

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Moment tot umfallen, um sich eine lange Krankheit zu ersparen. Weiß man eigentlich, was man sich da wünscht? Man wünscht sich den Dieb herbei, der alles vernichtet. Nur in einer Welt, die bereits ungerecht ist, kann man sich das wünschen. Christen aber warten auf eine neue Welt, in der Gerechtigkeit wohnt. Das ist eine Welt der Vergebung. Eine Welt, in der der Mensch vergibt, der aus dem Tod kommt, und damit unsere Lasten abnimmt. Man kann auch anders leben. Aber nur die letztgültige Vergebung heilt. Wir Menschen sind aufgerufen, unsere Wunden heilen zu lassen. Literatur zur Vertiefung: L. Ohly: Was Jesus mit uns verbindet, 113–117. – In diesem Abschnitt zeige ich, wofür sich Hinterbliebene gegenüber Verstorbenen schuldig fühlen können und wie Vergebung auf ihre Beziehung zueinander einwirkt.

28.2 Schulden erlassen (5. Mose 15,1–2) 1 Alle sieben Jahre sollst du ein Erlassjahr halten. 2 So aber soll’s zugehen mit dem Erlassjahr: Wenn einer seinem Nächsten etwas geborgt hat, der soll’s ihm erlassen und soll’s nicht eintreiben von seinem Nächsten oder von seinem Bruder; denn man hat ein Erlassjahr ausgerufen dem HERRN.

Was wäre eigentlich, wenn wir alle auf unsere Geldforderungen verzichten würden? Wenn die alleinerziehende Mutter keine Miete zahlen muss, weil sie nicht zur Arbeit gehen kann, um ihr Kind zu versorgen? Wenn die Vermieterin dieser Mutter bis auf Weiteres keine Schulden begleichen müsste, die sie seit dem Kauf der Wohnung hat? Und wenn es immer so weiter ginge, dass niemand einem anderen etwas schuldet? Dann müsste uns alles kostenlos angeboten werden: Wasser, Strom, die Wohnung und unsere täglichen Lebensmittel. Müsste dann nicht irgendwer dafür zahlen, dass es alle anderen im Moment nicht tun? Das klingt volkswirtschaftlich utopisch, aber vielleicht auch nicht so viel schlechter als die Verordnungen, die während der Corona-Krise umgesetzt worden sind. Als diese weltweite Pandemie im Winter 2019/20 ausgebro‐ chen war und die Staaten ihre Einwohner in den Lockdown geschickt hatten, fiel mir diese biblische Institution des Sabbatjahres wieder ein. Und ich

28.2 Schulden erlassen (5. Mose 15,1–2)

fragte mich, ob sie nicht wirtschaftlich und sozial vernünftiger gewesen wäre als die staatlichen Maßnahmen, private Haushalte mit Fördergeldern zu unterstützen oder Wirtschaftsbetrieben Ausgleichszahlungen dafür zu leisten, dass sie zeitweise stillgelegt werden mussten, damit Mitarbeitende sich nicht begegnen und infizieren konnten. Physischer Abstand war über lange Zeit das einzige Mittel, um die Ausbreitung des tödlichen Virus einzudämmen. Der Lockdown führte aber zu sozialen Ungleichheiten: Kleidungsge‐ schäfte mussten geschlossen bleiben, aber Internetportale konnten ihr Kleidersortiment verkaufen. Wenn im Homeoffice eine Dienstleistung er‐ bracht werden konnte, so konnte in dieser Branche weiter gewirtschaftet werden, während Gastronomie und Kulturbetriebe weitgehend geschlossen bleiben mussten. Manche Betriebe durften also Geld verdienen, aber anderen war es verboten, weil die Ansteckungsgefahr der Corona-Pandemie hoch gewesen ist. Zudem bestanden ungleiche Bedingungen für den persönlichen Verdienst: Nicht in allen Branchen ist das Einkommen davon abhängig, dass sie einen Gewinn erwirtschaften (z. B. bei Lehrerinnen und Beamten). Auch die Generationen traf der Lockdown unterschiedlich stark: Neu gegründete Familien mit Kindern hatten ein erhöhtes Risiko, sich zu verschulden, während die meisten Rentner ein überdurchschnittlich hohes Vermögen besitzen, das sie relativ unabhängig durch die Krise laufen ließ. Andererseits konnte man die öffentliche Betriebsamkeit auch nicht ein‐ fach morgen wieder in Gang setzen, als wäre nichts gewesen. Dann wären deutlich mehr Menschen erkrankt und gestorben, wie man am Vergleich mit solchen Ländern sehen konnte, die ihre Bevölkerung nachlässiger geschützt hatten. Warum hätte man es also nicht so machen können, wie es das Sabbatjahr im Alten Testament gebietet? Warum nicht Schulden erlassen, wenn die wirtschaftliche Produktivität stillsteht? Könnte das nicht gerechter sein? Hätte jemand einen Schaden davon? Vielleicht diejenigen, bei denen die anderen Schulden haben, die jetzt davon befreit werden. Wenn Brot umsonst sein muss, dann müssen die Zutaten für den Bäcker auch umsonst sein. Dann muss der Anbau von Lebensmitteln auch umsonst sein – obwohl er das nicht ist. Wenn auch Strom und Wasser umsonst sein sollen, müssten dann nicht die Produzenten dafür zahlen, dass sie das alles für uns bereitstellen? Eigentlich ja nicht, wenn wirklich alles umsonst ist – zeitlich begrenzt wie in der Zeit einer Krise oder in den 365 Tagen eines Sabbatjahres! Niemand hätte wirklich einen Verlust, weil niemand einen Gewinn hätte. Was produ‐

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ziert werden könnte, würde produziert, damit keine Versorgungsengpässe entstehen. Die Arbeitnehmer in den Branchen, in denen gearbeitet werden kann, dürften zwar nicht ausschlafen wie die freigesetzten Beschäftigten im Lockdown. Aber sie würden volkswirtschaftlich dafür sorgen, dass nach Beendigung der Frist wieder das normale Wirtschaftsleben weiterginge. Und davon würden sie auch selbst profitieren. Die Arbeitsbelastungen wären also vermutlich ungleich verteilt, was aber weder hieße, dass die arbeitende Bevölkerung unzufriedener wäre, noch, dass irgendjemand an der volkswirtschaftlichen Partizipation ausgeschlossen würde. Soweit ich in der Literatur gestöbert habe, ist nicht eindeutig bekannt, ob das Erlassjahr in Israel wirklich genauso beachtet worden ist, wie es in dieser Bibelstelle beschrieben worden ist. Ethisch fragwürdig ist zudem, dass ausländischen Personen die Schulden nicht erlassen werden mussten (V. 3). Ökonomisch macht ein solcher Ausschluss von der Sabbatordnung keinen Sinn, weil er soziale Verwerfungen verschärft, während das Aussetzen von Schulden und Gewinnen gerade dazu führt, dass das gesamte Wirtschafts‐ system stabil bleibt. Umgekehrt spricht ein anderer ethischer Grund dafür, dass in Israel das Gebot nicht ganz konsequent umgesetzt worden ist: Denn das göttliche Gebot des Sabbatjahrs muss mit der menschlichen Freiwillig‐ keit verknüpft sein. Mehrfach spricht die Bibelstelle vom „Herz“, das sich den Bedürfnissen der Armen zuwenden soll (V. 7–10). Gott gebietet zwar, wie das Herz ausgerichtet sein soll, aber mit einem Gebot lässt sich das Herz nicht vorprogrammieren. Zudem besteht die Freiwilligkeit des Schuldenerlasses allein schon darin, dass man beim Geschäftemachen frei entscheidet, wie viel man verleiht oder verkauft. Insofern lässt sich Solidarität nicht erzwingen. Trotz dieser Unschärfen steht dieses Gebot in der Bibel und wurde nicht vergessen. Es sollte die Menschen trotzdem orientieren, auch wenn sie es damit nicht so genau genommen haben mögen. Das Gebot steht im Raum. Man kommt nicht von ihm los, wenn man es nicht beachtet. Denn auch die Ungerechtigkeit steht im Raum, wenn Menschen nicht nach einer gemeinsamen Lösung suchen. Darin besteht Gottes Gerechtigkeit, dass man nicht von seinem Gebot loskommt, auch wenn man es missachtet, und darin, dass man sich an ihr orientiert, auch wenn man das Gebot nicht ganz genau umsetzt. Was also hätte man in Krisenzeiten wie dem Corona-Lockdown von der Institution des Sabbatjahres übernehmen können? Vielleicht, dass alle, die ihr Einkommen weiter erhielten, diejenigen unterstützten, die gerade nichts erwirtschaftet und verdient hatten. Wie wäre es mit einer freiwilligen

28.2 Schulden erlassen (5. Mose 15,1–2)

Abgabe des eigenen Einkommens oder Vermögens an Menschen gewesen, die zur selben Zeit nichts verdienen konnten? Wie wäre es gewesen, wenn Vermieter mit einem hohen Vermögen freiwillig keine Miete genommen hätten? Das Erlassjahr, das Gott geboten hat, fordert von den Gewinnern einer Krise, dass sie mehr abgeben sollen als alle anderen. Vielleicht kommen die Gewinner in Notzeiten auch selbst darauf, dass sie dann etwas für die Allgemeinheit tun müssen. Denn das Gebot der Stunde steht dann im Raum und bleibt auch auf die Stunde beschränkt. Literatur zur Vertiefung: U. Becker: Kirchliche Zeitpolitik, 89–104. – Der Artikel zeigt die Ressourcen der Sabbatruhe für eine Wertschätzung des Menschen auf, die sich nicht einem Nutzenkalkül unterwirft. B. Emunds: Die Finanzkrise rührt an die Grundlagen der Wirtschaftsordnung, 21–35. – Von den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise lohnt sich ein Blick auf die Weltfinanzkrise gut zehn Jahre vorher, die Emunds analysiert. Er hat prophezeit, dass eine weitere Krise, wenn sie nur wenige Jahre später einsetzt wie die Corona-Pandemie, schwere wirtschaftliche und soziale Verwerfungen mit sich bringen wird. L. Ohly: Gerechtigkeit und gerechtes Wirtschaften, 324–340. – Hier stelle ich meine These eingehender und in Diskussion mit möglichen Einwänden vor, dass ein zeitweises Aussetzen der Geldwirtschaft in Notlagen die Integrität einer Gesellschaft davor bewahrt, dass es Krisengewinner und -verlierer gibt.

Biblische Alternativen Etliche kreuzestheologische Texte mahnen die ethische Haltung an, die Gnade Gottes anzuerkennen, wie sie durch den Tod Christi der Menschheit gewährt wird. Hierzu gehören etwa Röm 10,9–13 oder Joh 3,16–19. Der Hebräerbrief warnt an einigen Stellen davor, die Vergebung anzunehmen und anschließend wieder vom Glauben abzufallen (Heb 6,4–6; 10,29). Alle Texte verweisen auf das Jüngste Gericht oder die endzeitliche Erlösung, übrigens auch dann, wenn sich das Gericht bei Johannes bereits im Moment ereignet (Joh 3,18). Vor eine ethische Herausforderung stellt der Vorbehalt der Gnade in diesen Texten: Wenn Christus zur Vergebung der Sünden ein- für allemal gestorben ist (Röm 6,10; Heb 7,27), versteht sich nicht von selbst, dass diejenigen keine

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Vergebung erlangen, die sie ausschlagen. Wer ist dann Souverän über das Urteil, Gott oder die Sünder, die die endgültige Befreiung von der Sünde rückgängig machen können? Und was ist dann verlässlicher, Sünde oder Gnade? Das Problem ist deshalb ethisch zu diskutieren, weil die beiden Sprechakte in ethischer Spannung zueinanderstehen, Vergebung zuzusprechen und zugleich mit Ungnade zu drohen. Die Pflicht zu vergeben wird im Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,21–35) illustriert: Der Knecht, dem sein König alle Schulden erlässt, der aber die Schulden seines Mitknechts fordert, wird vom König für seine Hartherzigkeit bestraft. Die ethische Herausforderung ist zum einen die gleiche wie in den obigen alternativen Texten, nämlich wie die Gnade wieder rückgängig gemacht werden kann, die man bereits erhalten hat. In rechtlicher Hinsicht hat der Knecht einen Anspruch auf die Rückzahlung der Schulden. Insofern hat er keine Schuld auf sich geladen. Der König kann ihn dann nur bestrafen, wenn er die Regeln des Zusammenlebens willkürlich setzt (Kap. 5). Zum anderen kann man fragen, ob die Pflicht, anderen zu verzeihen, von der Erfahrung abhängig ist, selbst vergeben bekommen zu haben. Oder anders: Soll der Grund zu verzeihen darin bestehen, dass man selbst Vergebungserfahrungen gemacht hat? Dann stünde nicht die schuldige Person im Zentrum der Vergebung und auch nicht die Beziehung zwischen ihr und dem, der verzeiht. Stattdessen würde man einem Kalkül folgen, um einen Ausgleich herzustellen, der nur auf einer abstrakten Ebene besteht. Die Textstelle muss daher die Spannung zwischen der Gleichniserzählung und den Folgerungen Jesu klären: Denn während im Gleichnis allein materielle Forderungen erlassen werden, fordert Jesus eine interperso‐ nale Vergebung „von ganzem Herzen“ (V. 35).

29 Sterbebegleitung Die Diskurslage Unumstritten ist, dass Patienten Hilfe im Sterben erfahren sollen durch Seel‐ sorge, menschliche Nähe und Intensivierung der Pflege. Dagegen bleibt bis heute kontrovers, ob Patienten auch Hilfe zum Sterben erfahren sollen. Die Debatte um Sterbehilfe hat sich in den vergangenen Jahren in Deutschland auf die Suizidbeihilfe konzentriert. Das liegt zum einen daran, dass Patien‐ ten, die sterben wollen, sich selbst das Leben nehmen können. Sogar nahezu vollständig gelähmte Patienten können inzwischen mit Hilfe technischer Apparate den Tötungsprozess selbst einleiten. Das lenkt den Blickwinkel auf die Frage, ob ihnen Dritte solche Tötungsmittel zur Verfügung stellen dürfen – also die Frage der Suizidbeihilfe. Zum anderen hat eine spezifisch deutsche Debatte zur Fokussierung auf den assistierten Suizid geführt: Ein Gesetz aus dem Jahr 2015 sollte geschäftsmäßige Suizidbeihilfe verbieten, wurde aber durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020 wieder aufgehoben. Ethisch kollidie‐ ren hier der Lebensschutz mit der Patientinnenautonomie oder auch das Fürsorgeprinzip mit dem Prinzip der Selbstbestimmung. Das Bundesverfas‐ sungsgericht hat beide Prinzipien anerkannt, fordert aber vom Gesetzgeber eine Verhältnismäßigkeit der Mittel, um den Lebensschutz zu gewährleis‐ ten.1 Oft wird behauptet, dass Patienten mit einem Tötungswunsch eigentlich nur eine Linderung ihres Leides wünschen.2 Mit dem Ausbau der Palliativ‐ medizin werde sich somit der Wunsch vermindern oder ganz aufheben, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden. Demgegenüber verweisen andere Autoren darauf, dass das dringende Begehren nach Leidlinderung nicht dasselbe ist wie der Wunsch, selbstbestimmt zu sterben. Vielmehr können Gründe der Selbstidentität ausschlaggebend für den Willen sein, selbstverfügt sterben zu können.3 Der Unterschied ist insbesondere sozial‐ ethisch relevant: Wer Beihilfe zum Suizid leistet, kann dies aus Achtung 1 2 3

2 BvR 2347/15 -, Rn. 1-343. Wenn Menschen sterben wollen, 13. R. Anselm: Leben als Gut, nicht als Pflicht, 108 f. U.H.J. Körtner: Beihilfe zur Selbsttö‐ tung, 92.

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vor der Patientinnenautonomie tun, ohne zu bestreiten, dass es auch andere Wege gäbe, das Leid der Patientin zu lindern.4 Vor diesem Hintergrund haben Isolde Karle, Reiner Anselm und Ulrich Lilie im Jahr 2021 eine Debatte angestoßen mit ihrem Vorschlag, Suizidbeihilfe in Einzelfällen auch in kirchlich-diakonischen Einrichtungen zu gewähren.5 Aber darf nicht nur Gott das Leben nehmen? Philosophisch gewendet: Ist die selbstbestimmte Lebensbeendigung nicht eine widersprüchliche An‐ wendung der Autonomie, die sich im Vollzug ihres Willens selbst aufhebt?6 Ethisch ist neben Tun (Töten) und Unterlassen (Sterbenlassen) noch eine existenzielle Haltung als Drittes zu beachten, wie Menschen damit umgehen sollten, dass ihr Leben nicht von ihnen selbst gegeben ist. Diese Haltung, dass Menschen nicht anders können, als ihre endliche Gegebenheit anzu‐ nehmen, nennt Christofer Frey „Lassen“7. Zu dieser Haltung kann sogar für einige Autorinnen gehören, die Nahrungsaufnahme einzustellen und das eigene Leben mit Sterbefasten zu verkürzen.8 Hier steige ich mit dem vorliegenden Bibeltext ein. Das Thema der Sterbe‐ hilfe diskutiere ich aus der umfassenderen Perspektive der Sterbebegleitung, also der weitergehenden Frage, welche Haltung grundsätzlich Sterbenden entgegenzubringen ist.

Zur Textauswahl Der Text bietet sich aus seelsorgerischen Gründen an. In Sterbeprozessen können nämlich die Angehörigen erfahren, welche Macht das Schweigen einer sterbenden Person bei ihnen auslöst.

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L. Ohly/S. Rink: Suizidbeihilfe aus theologisch-ethischer Perspektive, 87. R. Anselm/I. Karle/U. Lilie: Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen; FAZ 11.01.2021, 6. J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, 829. Chr. Frey: Wege zu einer evangelischen Ethik, 48, 50. M. Zimmermann/R. Zimmermann: Lebenssatt!, 37–52.

Jes 42,1–4

Jes 42,1–4 1 Siehe, das ist mein Knecht – ich halte ihn – und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. 2 Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. 3 Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. 4 Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.

Sprachlos und still vollzieht Gott seine Sache. „Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen.“ Die Stille erzeugt eine Kraft. „Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte.“ Er wird einfach durch sein ruhiges Wesen für Recht sorgen. Versuchen wir uns, eine angemessene Situation dafür vorzustellen: Gott wird jemanden schicken, der für Recht sorgen wird und gerade dadurch Weisung gibt, dass er schweigt – im politischen Bereich (auf den Gassen) und im privaten Bereich (auf den Inseln). Er wird Recht setzen, ohne Macht einzusetzen. Wie soll so Recht entstehen? Schweigen nicht auch die Untertanen eines Unrechtsstaates zum Unrecht? Sind nicht auch ihre Stimmen auf den Gassen verklungen? Ist ihre Unauffälligkeit eine geeignete Methode, um Recht zu schaffen? Offenbar muss es hier einen Unterschied geben zwischen dem Schweigen eingeschüchterter Untertanen und der Ruhe, aus der Gott Gerechtigkeit erschafft. Die Ruhe, die der Knecht Gottes hat, muss eine symbolische Ruhe sein, die provoziert, zum Nachdenken auffordert und zur Umkehr aufruft. Christen bekennen, dass Jesus Christus dieser Knecht ist, der für Recht sorgt. Noch am Kreuz schweigt er, und sein Tod vertieft sein Schweigen. Aber der Tod hat ihn nicht zerbrochen. Was hier der Prophet verkündet, trifft auf Jesus zu. Und doch ist konnte der Prophet diese Beschreibung nur deshalb seinen Zeitgenossen anbieten, weil Jesus nicht der einzige gewesen ist, der auf diese Weise ungeheuer gewirkt hat, indem er so gestorben ist. Jesus ist vielmehr das Vorbild des sterbenden Menschen. Es ist der sterbende Mensch, der aus der Ruhe Recht schaffen kann.

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Mir berichten oft Angehörige eines schwer kranken oder auch eines ver‐ storbenen Menschen von den Gesprächen, die sie am Krankenbett geführt haben, dass gerade in dieser Situation „alles“ miteinander besprochen und geregelt worden ist, obwohl die sterbende Person nur noch wenig Kraft gehabt hat. Am Krankenbett vergeben sich Menschen alte Kränkungen. Ans Krankenbett kommen plötzlich Menschen, die jahrelang mit der sterbenden Person nichts mehr zu tun haben wollten. Hier klären sich oft viele Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem Wert des eigenen Lebens der Gesunden, auch Fragen des Glaubens und der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Am Krankenbett geschieht Recht, gerade durch den Menschen, der hier zum Schweigen verurteilt ist, nicht mehr auf die Straße geht. Gerade eine sterbende Person führt Menschen zusammen und beendet alten Streit. Und sehr oft findet sie auch für sich selbst die letzten Antworten für ihr Leben. Gerade am Krankenbett erfüllt sich die Bestimmung dieser Person: Es entsteht Gerechtigkeit und Friede. Hospiz-Bewegungen weisen auf dieses christliche Menschenbild beson‐ ders hin. Deshalb machen sie es auch zu ihrer Aufgabe, den Sterbenden in die Gesellschaft zu stellen. Sterben soll gerade nicht in der Einsamkeit geschehen. Der sterbende Mensch soll nicht isoliert werden. Er soll bei uns sterben, zu Hause oder zumindest so, dass er Menschen um sich hat. Diese Aufgabe erfüllen haupt- und ehrenamtliche Hospiz-Arbeiter eben nicht nur aus Mitleid, als ob man sich herablassen müsste zum kranken und sterbenden Menschen. Vielmehr eröffnen gerade Sterbesituationen Chancen, die sowohl die sterbende Person ergreift als auch die Gesellschaft befriedet: Der sterbende Mensch kann Gerechtigkeit werden lassen. Diese Würde hat er. Das ist sein Dienst, den Gott ihm gegeben hat: „Das ist mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat“. Sterben braucht seine Zeit. Diese Zeit, die das Sterben für sich einnimmt, sollen wir auch respektieren. Denn hier erfüllt sich vieles, was sonst unerfüllt zurückbliebe. Viele Menschen denken genau umgekehrt und wünschen sich selbst einen schnellen Tod. Sie würden am liebsten einmal abends ins Bett gehen und morgens nicht mehr aufwachen. Was ist dann davon zu halten, wenn auf die Zeit des Sterbens so stark hingewiesen wird und auf das Schweigen? Ist dann der schnelle Tod ein Fluch? Ist dann der schnelle Tod, den sich doch viele Menschen für sich und für andere wünschen, eine verpasste Chance? Tatsächlich kann das so sein. Deshalb protestiert die Hospiz-Bewegung auch entschieden gegen aktive Sterbehilfe, die den Tod plötzlich kommen

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lässt und gerade die Langsamkeit des Sterbens nicht als Chance ergreift. Ich erlebe auch trauernde Menschen sehr oft besonders niedergeschlagen, wenn sie einen ganz plötzlichen Tod verkraften müssen. Und sehr oft stellt sich gerade beim plötzlichen Tod die Frage für die Angehörigen: Ist denn das gerecht? Dagegen erlebe ich Trauernde, die ein längeres Sterben miterlebt haben, oft in einer ganz anderen Situation: Sie sind erschöpft. Sie sind traurig. Aber sie fühlen sich nicht ungerecht behandelt. Sie haben keinen Zorn. Und trotz der Trauer atmen sie sogar schon auf. Aber das sind alles nur Regeln. Man kann nicht sagen, dass es sich immer so verhält. Langsames Sterben kann auch unerträglich und ungerecht werden. Und umgekehrt kann es auch ein schnelles Sterben geben, das ebenso Versöhnung unter den Menschen bringt und Gerechtigkeit. Wenn das der plötzliche Tod aber manchmal auch kann, dann hat in der Regel schon Friede geherrscht im Umfeld des Verstorbenen. Und dann hat der Verstorbene auch schon in gesunden Tagen bewusst gelebt, tiefsinnig und sich schon mit der menschlichen Sterblichkeit versöhnt, bevor sie ihn ereilte. Hinter diesen Tendenzen liegt für Christen eine grundsätzlichere Regel, nämlich tiefsinnig zu leben. Gott überzeugt uns schon in gesunden Tagen, dass in der Ruhe die Kraft liegt und dass Sterblichkeit und Verletzbarkeit auch etwas Gerechtes haben und auch etwas, was Menschen Hoffnung gibt. Der christliche Glaube gibt die Ruhe, aus der Gerechtigkeit erwächst. Getrost können wir so den Tod leichter annehmen – und manchmal sogar aus Gottes Hand. Biblische Alternativen Man könnte die Diskussion zuspitzen auf die Frage lebensverkürzender Maßnahmen oder auf die Frage des Rechts, den Willen einer Person umzusetzen, die sterben will. In vier Bibelstellen wird der Suizid eines Menschen erwähnt (1. Sam 31,4f; 2. Sam 17,23; Mt 27,5). Aktive Sterbehilfe wird in einem Fall ver‐ weigert (1. Sam 31,4). An keiner Stelle wird Suizid moralisch verurteilt. Allerdings kann er als Ausdruck totalen Scheiterns interpretiert werden, das mit Selbsterniedrigung maximal gesteigert wird. Die paradoxe Gestalt dieser scheinbaren Selbstlosigkeit habe ich bereits angedeutet (Kap. 24). Diese Texte ethisch zu lesen bedeutet, sie darauf zu befragen,

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wie sich die Selbsttötung zur Selbstachtung verhält und zur Achtung der Menschen, die mit einem Suizidenten konfrontiert sind. Das fünfte Gebot „Du sollst nicht töten!“ gilt schon in der Bibel nicht uneingeschränkt. Im Kriegsfall (Kap. 10) und zur Bestrafung von Ge‐ setzesübertretern wird biblisch die Tötung von Menschen gefordert. Somit scheint das Alte Testament zwischen Mord und Tötung zu unter‐ scheiden. Dann müsste der Sinn des fünften Gebots ethisch präzisiert werden, um zu entscheiden, ob lebensverkürzende Maßnahmen unter Umständen als zu billigende Tötung verstanden werden können. Auch die Diskussion über die Verbindlichkeit der Gebote ist zu berücksichti‐ gen, um die Geltung des Tötungsverbotes hier voll zu ermessen (Kap. 7). Will man das Thema der Sterbebegleitung breiter berücksichtigen und auch pflegeethische Aspekte mit aufnehmen, so legt sich die Erzählung vom bettlägerigen und erblindeten Isaak nahe, dessen Beeinträchtigung von seiner Frau und seinem Sohn Jakob ausgenutzt wird, um ihn zu hintergehen (1. Mose 27). Wie wird die Perspektive Isaaks in dieser Erzählung aufgenommen? Weder wird er in der Autonomie respektiert, eigentlich seinem Sohn Esau den Erstgeburtssegen spenden zu wollen; noch hat er eine Verfügungsgewalt über den Inhalt des Segens (1. Mose 27,36–38). Liest man die Erzählung aus der Perspektive Isaaks, so legt sich nahe, seine Ohnmacht als menschengemacht zu verstehen. Nicht seine körperliche Einschränkung erzeugt Ohnmacht, da er ja sogar einen Segen spenden kann, den niemand an seiner Stelle sprechen kann. Vielmehr ist seine Ohnmacht ein soziales Phänomen, das durch seine Nichtberücksichtigung entsteht.

Literatur zur Vertiefung: R. Anselm/I. Karle/U. Lilie: Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen, 6. – In diesem breit diskutierten Aufsatz wird vorgeschlagen, in Einzelfällen und seelsorgerlich begründet den assistierten Suizid auch in kirchlich-diakonischen Einrichtungen vorzunehmen. P. Dabrock: Selbstbestimmungsalternativen zwischen ethischer Bewertung und rechtlicher Normierung, 123–132. – Die Angst vor Kontrollverlust am Ende des Lebens kann nicht durch Angebote der Palliativmedizin voll aufgehoben werden. Dennoch darf Suizidassistenz nicht zur Praxis von Ärztinnen werden. Keine Patientin soll unter den sozialen Druck gestellt werden, warum sie noch da ist.

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Allenfalls aus Gründen der Billigkeit kann im Einzelfall die ärztliche Assistenz zum Suizid toleriert werden. M. Zimmermann/R. Zimmermann: Lebenssatt!, 37–52. – Das Phänomen ist relativ häufig anzutreffen, dass Patientinnen durch Sterbefasten ihr Leben verkürzen. Der Artikel stellt heraus, dass diese lebensverkürzende Haltung zwar mit Leiden verbunden ist, für die jedoch pflegerische Maßnahmen zur Verfügung stehen. „Satt“ zu sein, führt zu einem Freiheitsgewinn. Dabei müssen die Motive der Patienten nicht am „Mythos der Selbstbestimmung“ orientiert sein, sondern dürfen auch das Leben der Mitbetroffenen mitberücksichtigen.

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30 Schlusswort: Mt 7,24–27 24 Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, der wird mit einem klugen Mann verglichen werden, der sein Haus auf Fels baute. 25 Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet. 26 Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der wird mit einem törichten Mann verglichen werden, der sein Haus auf Sand baute. 27 Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein, und sein Fall war groß.

Auch die Kirche hat Häuser. Und Pfarrerinnen und Kirchenvorstände fragen sich auch manchmal, ob diese Häuser auf Fels gebaut sind oder auf Sand. Wenn man die finanziellen Engpässe sieht, mit denen Kirchengemeinden zunehmend konfrontiert sind, dann kann man sich offenbar auch nicht ganz sicher sein. Bei dem hohen Aufwand, wie Kirchen ihre großen Häuser instandhalten müssen, kann einem vielmehr bisweilen angst und bange werden. Jesus stellt einen klugen Hausbauer vor, dem man im Moment des Hausbaus noch nicht ansieht, dass er klug ist. Wie sicher der Untergrund ist, auf dem man das Haus baut, das sieht man nicht immer vorher, sondern das muss genau überprüft werden. Für Jesus wird es sich erst in Zukunft herausstellen, wie klug man ist: „Der wird verglichen werden mit einem klugen Mann.“ In diese Reihe kluger Entscheidungen gehört es auch, sich daran zu erinnern, dass Christen auf einem ganz anderen Grund stehen als auf dem Grund finanzieller Sicherheit und guter Baustoffe. Christen engagieren sich nicht deshalb in ihrer Kirchengemeinde, weil es hier Häuser gibt. Und niemand sucht sich eine Gemeinde aus, weil sie dichte Dächer hat, sondern weil sie einen festen Grund hat. Denn die Gemeinde ist zuallererst die Versammlung der Gläubigen. Und sie kann sich überall versammeln, wo der Geist sie hintreibt. Ein Platz für die Versammlung wird sich dann immer finden, solange Christen wissen, dass sie eigentlich nach dem Grund suchen. Das schwere Versäumnis des törichten Mannes aus dem Gleichnis besteht darin, dass der Sand selbst weggeweht wird, nicht nur das Haus. Für Jesus sind die Menschen töricht, denen der Grund wegweht.

30 Schlusswort: Mt 7,24–27

Die Ethik bildet nicht den Grund christlicher Praxis. Sie wird vielmehr in den Stockwerken darüber ausgehandelt. Sie ist aber eine Reflexion auf den Boden, auf dem Christen gemeinsam stehen. Und indem die Ethik nicht selbst den Grund bildet, bietet sie ihr Modell auch für Menschen an, die auf einem anderen Boden stehen, damit sie erproben können, ob dieses Modell auch darauf passt. Christliche Ethik ist beides: Sie ist diskursiv und damit offen für alle, die in den Diskurs eintreten. Und sie vertraut darauf, dass nicht sie es ist, die den Grund selbst legen muss. Indem sie über den Grund reflektiert, bestätigt sie ihn. Der Grund aber sind nicht einzelne Worte, nicht einmal biblische Worte. Denn Worte befinden sich bereits im Diskursraum oberhalb des Grundes. Der Grund ist das, was sich als vertrauenswürdig herausstellt, während er die Reflexionsphasen durchläuft. Für Christen ist das die Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Sie spiegelt sich in der Weise, wie Christen miteinander und mit anderen zusammenleben wollen. Dietrich Bonhoeffer hat darauf wertgelegt, dass Christus die Welt mit Gott versöhnt hat. Deshalb können Christen nicht einfach nur damit zufrieden sein, auf dem Grund zu stehen. Sie sollen vielmehr in ihrem Verhalten Gottes Liebe zur Welt abbilden. Das Reich Gottes ist das „Letzte“, aber die Welt immerhin das „Vorletzte“, dem die christliche Verantwortung gilt. Das gilt es auch im Umgang mit den Ressourcen der christlichen Gemeinschaft zu beachten. Das heißt also, dass sich durchaus auch am kirchlichen Umgang mit ihren Häusern, Finanzen und Personal zeigt, wie wichtig den Christen Gottes Versöhnung mit der Welt ist. Denn in der Verantwortung für das Vorletzte bildet sich das Letzte ab. Literatur zur Vertiefung: D. Bonhoeffer: Ethik, 137–163. – Hier stellt Bonhoeffer die ethische Beziehung zwischen dem Letzten und dem Vorletzten dar.

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Literaturverzeichnis

Links https://www.huehner-haltung.de/huehnerrassen/seltene-huehnerras‐ sen-und-warum-sollte-ich-diese-halten/ (Zugriff 04.08.2021) https://www.wwf.de/2018/maerz/naturschutz-braucht-schafe (Zugriff 04.08.2021)

Sachregister Anderer 70, 76, 107–110, 166, 173, 189–192, 211ff., 215, 219, 230, 232, 259f. Anerkennung 28, 31, 35, 86, 103, 114, 116–123, 167, 171, 182, 194, 203, 205, 216, 234, 239, 253 Anwesenheit 203f., 230 Ehre 69, 115, 181, 211f., 223, 234f., 238f., 245 Flüchtling 73, 85, 111, 113–117 Freiheit 37, 40–44, 46–55, 75, 123, 133f., 141, 164, 182, 185, 187, 194, 204, 240, 248, 263 Frieden 85, 87ff., 91–96, 103–109, 175, 192, 212, 230, 256, 276f. Fürsorge 123, 168, 172, 206ff., 210f., 213f., 248 Gebot 11ff., 50, 60ff., 69–72, 74f., 79, 81, 88, 104, 131, 168f., 171ff., 182, 270f., 278 Gerechtigkeit 12f., 51, 86, 90ff., 104, 125–129, 132ff., 138, 142, 144, 149f., 152, 206, 253, 265, 267f., 270, 275ff. Gesetz 48, 54, 70, 72–75, 77, 79f., 90, 96, 102, 115, 120, 122, 136, 162, 167, 178ff., 199, 204, 251f., 273 Gewissen 16, 128f., 176, 185, 194–199 Glaube 23, 25, 32, 50, 92, 95, 107, 120f., 135, 148–151, 162f., 170f., 186, 196, 218, 241–244, 271, 276f. Gott (s. Vater, Jesus Christus, Heiliger

Geist) 11ff., 15f., 21–26, 28–32, 36f., 41ff., 45, 48–54, 56–63, 67–70, 72f., 75, 79f., 85, 87f., 90f., 93, 95f., 99ff., 103, 106–110, 112–116, 119–123, 130, 132, 134f., 138, 141f., 144, 148ff., 156ff., 161, 165, 167, 171–177, 181, 185, 189, 191, 194–198, 201–206, 209, 213, 218–221, 223f., 227ff., 232f., 235–238, 244f., 248– 255, 257f., 260–263, 265ff., 270f., 274– 277, 281 Gutes 56f., 59–63, 86, 90, 100, 128f., 166f., 202, 211, 225, 230f., 240, 245, 253 Haltung 85, 109, 143, 146, 162f., 204, 240, 245, 253, 256f., 260, 264, 271, 274, 279 Heiliger Geist 39, 119–122, 124, 197f., 209 Israel/Juden 11, 15, 36ff., 42f., 53f., 72ff., 79, 87f., 90, 93ff., 99f., 112f., 116, 119f., 122f., 135f., 139, 148f., 169, 175, 179, 184, 195, 207f., 227, 238, 270 Jesus Christus 11, 23, 35–39, 45–48, 50, 62, 66, 68, 73ff., 79f., 94f., 101, 123, 127f., 132, 134–138, 142, 144, 147–151, 158, 161, 164, 166–174, 178ff., 185, 195–198, 204, 207–210, 213f., 216, 220– 233, 238f., 241–246, 261, 267, 271f., 275, 280f. Kirche

85f., 91ff., 95, 103, 137, 144,

294

Sachregister

150, 158, 170f., 186, 211, 226, 280 Kreuz 189, 207f., 214, 221, 228f., 233, 238, 275 Krieg 87f., 98–104, 106, 109, 144 Leben 12, 16, 31, 34, 36f., 40, 44f., 47, 50, 66f., 71–74, 85f., 107, 118, 145, 150, 155–158, 160–165, 167, 171f., 174ff., 180, 195f., 200–205, 209–214, 217, 219ff., 223ff., 228f., 232ff., 241f., 247f., 250f., 253ff., 265ff., 273f., 276, 278f. Liebe 15, 22, 48f., 63, 114f., 123, 129, 166f., 169–178, 182, 186, 189–193, 209, 211ff., 215, 227f., 231f., 241ff., 245, 256, 281 Mensch 12ff., 16, 21–25, 30ff., 34f., 38ff., 42ff., 46, 48ff., 52ff., 59–62, 64, 66–75, 77, 79f., 85f., 88–92, 94ff., 99, 101ff., 107ff., 111f., 114f., 117–127, 129f., 134–138, 140, 142ff., 147–150, 152, 156–172, 174–180, 185, 187, 190, 192, 195–206, 208–222, 224ff., 228– 245, 248–271, 274–278, 280f. Menschenwürde 12, 64–69, 145, 194, 200, 205 Offenbarung

79, 122, 260, 281

Paulus 48f., 51–55, 71, 73, 115, 123, 135f., 157f., 164, 181, 186, 188–191, 193, 198f., 207, 211, 213f., 217, 219, 243, 245, 262 Pflicht 102, 117f., 129, 194, 204, 240, 248, 264, 272 Philosophie 21, 32, 194, 241, 245 Pluralismus 34f., 38f. Politik 15, 27, 32, 34, 65, 85f., 88–93,

95ff., 99, 104, 106, 108f., 111, 116, 125, 146, 161, 172, 181, 184, 194, 275 Recht 40, 44f., 75, 80, 85, 90, 95, 98, 101f., 111, 114ff., 128, 134, 136f., 140, 167, 180, 184, 189, 203f., 228, 239, 247, 275ff. Religion 14, 28f., 31, 63, 86, 91, 93, 95f., 99, 116, 157f., 174, 179 Schöpfung 107, 160f., 164, 227f., 235, 238, 249, 254ff., 258, 262 Schuld 46, 180, 238, 263f., 266f., 272 Sohn Gottes 227f. Staat 27, 64, 79, 85f., 91f., 98, 104, 111, 115ff., 150, 203 Sünde 23, 53, 115, 178ff., 201, 207, 228, 261, 272 Testament Altes 14f., 54, 72ff., 79, 87, 109, 113, 116, 123, 241, 262, 269, 278 Neues 11, 15, 45, 74, 162, 196, 199, 216, 219, 232, 238, 241f., 244 Theologie 17, 21, 27f., 248f., 263 Tier 60, 78, 101, 164, 168, 247–251, 253–256, 258–262 Tod 40, 53, 95, 155, 157, 160, 174, 180, 195, 202, 208–211, 216, 220, 222f., 228, 238, 253, 265–268, 271, 275ff. Treue 123, 142, 144, 275 Tugend 16, 186, 240–245 Umwelt

11, 140, 247, 254, 256–260

Vater (Gott der) 22, 36, 172, 185, 195ff. Verantwortung 32, 51, 68f., 85, 94ff., 103, 109, 149, 166, 170, 205f., 211, 214,

Sachregister

295

248, 253, 262, 281 Vergebung 73, 204, 236, 263ff., 267f., 271f. Verstehen 35, 70, 108

Wissenschaft 27–33, 163 Würde 66, 68f., 73, 101, 108f., 169, 236ff., 260f., 276 Zwei-Reiche-Lehre 85f., 90ff., 96f., 111

Wahrnehmung

21f., 25, 118, 244, 249

Bibelstellenregister Altes Testament 1. Mose 1,26 2,8–23 2,15 2,18–20 3 3,1–5 3,15 3,17 3,20 4,4 9,2 9,2f 9,3 18,22–32 19,30–38 22,1–19 23 27 27,36–38 30,25–43 37-50 38,27–30 44,33 44,34 2. Mose 3,14 13,20–22 16,3 19,23–25 22,20

249, 261 253 249 257 62 255 254 254 255 258 249, 258 261 258 103 182 57 112 278 278 164 116 204 233 233 236 41 42 72 116

34,4–5 3. Mose 18,22 19,18 4. Mose 6,26 22,28 22,28–30 22,30 5. Mose 5,6 7,8 12 15,1–2 15,3 15,7–10 18,20–22 20,10 23,2–9 23,8 Jos 9,15 Ri 4,17 19 Rut 1,16 3,11f 4,17 1. Sam 1,1–17

72 181 48 109 260 262 260 54 123 87 268 270 270 28 109 87 116 109 109 182 117 117 116 174

Neues Testament

15,1–3 15,7–11 15,13–15 15,17–22 16,7 31,4 31,4f 2. Sam 10,19 13,11–17 17,23 28,3 28,10 28,21–25 1. Kön 8,63 18,28f Tob 4,15 Hi 12,7–12 Ps 1 4,9 8 19,4f 29,11 85,9

297

99 99 99 99 123 277 277 109 182 233, 277 214 214 214 261 122 76 249 25 109 238 262 109 109

130,3 139,13–16 139,16 Koh 2,21 4,4 Jes 2,1–5 3,14f 8,11–15 26,12 40–55 42,1–4 52,12–53,12 53,7 55,6–11 57,15 60,17 Jer 1,4–10 5,26–28 29,4–7 29,10–14 Dan 6 Am 8,4–6

179 205 205

7,12 7,24–27 8,5–13 10,17–23 10,38 15,21–28

77 280 147 195 233 151

241 241 106 144 90 109 54 275 239 262 236 69 109 201 144 87 87 258 144

Neues Testament Mt 5,17 5,19 5,27–30 5,44–48 5–7

179, 204 74 182 104 11

298

Bibelstellenregister

15,28 16,24 18,21–35 18,35 20,1–16 25,14–30 25,31–46 27,5 Mk 4,26–29 7,24–30 7,29 9,40 10,18 10,35–45 12,1–12 12,17 12,28–31 12,30 12,41–44 14,3–9 15,34 15,40–42 Lk 1,41–44 2,15 2,20 5,10 6 6,31 10,25–37 10,42 14,31f 15,11–32 16,10–13 16,13 19,41–48

151 233 272 272 126 44 65 233, 277 161 151 151 38, 151 62 223 226 96 74 50 233 230 221 214 204 24 24 123 11 80 167 214 103 130 141 96 93

Joh 1,14 1,48–51 3,16 3,16–19 3,18 4,42 4,5–14 8,3–11 12,44–50 15,12 16,7 18,8 19,16–30 19,19 Apg 5,29 9,3 10,44–48 16,14–15 Röm 1 1,16 1,24 1,26f 2,11 2,15 3 3,26 5,20 6,10 8,26 10,4 10,9–13 12,9–16 14 14,1

173 123 228 271 271 37 35 178 172 173 209 226 207 238 91, 96 158 119 123 181 139 199 181 138 199 138 149 115 271 198 73 271 211 262 186

Neues Testament

1. Kor 3,16 3,17 8,1–3 8,4–13 8,12 8–10 9,19 9,24–27 10,25 10,27 10,28 11,1 11,30 13 13,2f 13,12 13,13 15,44 15,45 15,49 22 2. Kor 3,4–6 4,13 9,6–10 11,21–33 12,9 12,11 Gal 2,18

299

156 156 189 185 199 186, 262 219 216 199 199 199 190 193 190 191 189 190 158 164 159 219 74 121 51 193 193 193 73

3,26–29 5,1 5,13–14 6,2 Phil 1,23 2,5–11 2,9 2,11 4,8 Kol 2,3–10 1. Tim 1,5 Hebr 2,14–18 Heb 6,4–6 7,27 9,23–26 10,12–18 10,29 1. Petr 2,9 2. Petr 1,3–8 3,8–13 1. Joh 3,1–6 4,16

135 48 48 136 159 233 233 238 245 32 199 220 271 271 261 261 271 245 241 265 22 177

uistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprach senschaft schaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik Stat \ Management M \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichtte \ Spraacherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidakttik \ DaFF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourism mus \ VW WL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanisttik \ Theoologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik Li \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnnik \ Hist Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ TheaterwisssenMat schaaft Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BWL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnnik \ Hist Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologie \ Sport \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie \ Kulturwissenschaften \ Soziologie \ TheaterwisssenMat schaaft \ Geschichte \ Spracherwerb \ Philosophie \ Medien- und Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauweesen \ Fremdsprachendidaktik Fr \ DaF \ Germanistik \ Literaturwissenschaft \ Rechtswissenschaft \ Historische Sprachwissenschaft \ Slawistik \ Skandinavistik \ BW WL \ Wirtschaft \ Tourismus \ VWL \ Maschinenbau \ Politikwissenschaft \ Elektrotechnik \ Mathematik & Statistik \ Management \ Altphilologgie \ Sport rt \ Gesundheit \ Romanistik \ Theologie g \ Kulturwissenschaften \ Soziologie g \ Theaterwissenschaft \ Geschichte \ Spracherwerb p \ Philosophie Philosoph p \

BUCHTIPP

ien- undd Kommunikationswissenschaft \ Linguistik \ Literaturgeschichte \ Anglistik \ Bauwesen \ Fremdsprachendidaktik \ DaF \ Germanistik \ Literaturw Literaturwissensc

Lukas Ohly

Dogmatik in biblischer Perspektive 2020, 272 Seiten €[D] 22,90 ISBN 978-3-8252-5423-0 eISBN 978-3-8385-5423-5

In seiner systematisch-theologischen Zielsetzung will der Band die Wahrheit des christlichen Glaubens erfahrungsnah und weitgehend ohne Fachsprache begründen. Leserinnen und Leser sollen an ihren Lebenserfahrungen die Plausibilität christlicher Wahrheitsansprüche abgleichen können. Darüber hinaus werden die theologischen Topoi an biblische Texte zurückgebunden, die dabei konsequent als gedeutete Erfahrungen interpretiert werden. Das Buch entfaltet alle Topoi der evangelischen Dogmatik. Die klassische Einteilung in Fundamentaltheologie, Gotteslehre, Schöpfungslehre und Theologische Anthropologie, Christologie, Pneumatologie und Eschatologie wird dabei beibehalten. Am Ende jeder Sektion werden einige Literaturempfehlungen zur Vertiefung gegeben und kommentiert.

Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ [email protected] \ www.narr.de

Theologie

Wie verhalten sich ethische Argumente zu biblischen Texten und welche normativen Schlüsse lassen sich aus biblischen Motiven ziehen? Mittels 30 ethischer Begriffe informiert dieses Buch zügig über eine biblische Perspektive. Zu jedem Begriff wird die aktuelle Diskurslage zum jeweiligen Thema skizziert. Darauf folgt ein biblischer Abschnitt, der interpretiert und zur Deutung des jeweiligen Grundbegriffs zuge­ spitzt wird. Die Auswahl wird begründet und mit biblischen Alternativtexten konfrontiert. Die Inter­ pretationen werden zu den biblischen Texten aktuell situiert. Leser:innen erhalten schnelle Informationen über ethische Probleme und ihre gegenwärtigen Lösungs­ ansätze. Zugleich bietet das Buch einen Zugang zur Debatte, welche Rolle biblische Texte in ethischen Diskursen überhaupt noch spielen können.

Dies ist ein utb-Band aus dem Narr Francke Attempto Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr-und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.

ISBN 978-3-8252-5809-2

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