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German Pages XIII, 121 [130] Year 2020
TECHNO:PHIL
Samuel Ulbricht
Ethik des Computerspielens Eine Grundlegung
BAND 4
Techno:Phil – Aktuelle Herausforderungen der Technikphilosophie Band 4 Reihe herausgegeben von Birgit Beck, Berlin, Deutschland Bruno Gransche, Siegen, Deutschland Jan-Hendrik Heinrichs, Aachen, Deutschland Janina Loh, Wien, Österreich
Diese Reihe befasst sich mit der philosophischen Analyse und Evaluation von Technik und von Formen der Technikbegeisterung oder -ablehnung. Sie nimmt einerseits konzeptionelle und ethische Herausforderungen in den Blick, die an die Technikphilosophie herangetragen werden. Andererseits werden kritische Impulse aus der Technikphilosophie an die Technologie- und Ingenieurswissenschaften sowie an die lebensweltliche Praxis zurückgegeben. So leistet diese Reihe einen substantiellen Beitrag zur inner- und außerakademischen Diskussion über zunehmend technisierte Gesellschafts- und Lebensformen. Die Bände der Reihe erscheinen in deutscher oder englischer Sprache. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16150
Samuel Ulbricht
Ethik des Computerspielens Eine Grundlegung
Samuel Ulbricht Mannheim, Deutschland
ISSN 2524-5902 ISSN 2524-5910 (electronic) Techno:Phil – Aktuelle Herausforderungen der Technikphilosophie ISBN 978-3-662-62396-1 ISBN 978-3-662-62397-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-62397-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Carina Reibold J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Für alle Spieler·innen.
V
Vorwort
Mehr als ein Viertel aller Deutschen spielt regelmäßig Computerspiele.1 Angesichts dieses Faktums eignet der Frage nach dem moralischen Status von Computerspielhandlungen2 eine hohe praktische Relevanz: Wenn allein in Deutschland mehr als 20 Millionen Menschen regelmäßig eine spezifische Tätigkeit ausüben, so ist ein Wissen um die moralische Dimension dieser Tätigkeit nicht nur interessant, sondern erforderlich und normativ entscheidend. Insbesondere, weil die Praxis des Computerspielens sowohl im privaten als auch im öffentlichen Diskurs nicht selten in einen Zusammenhang mit moralisch hoch problematischen Situationen gebracht wird; man denke nur an die berüchtigte ‚Killerspiel-Debatte‘.3 Angesichts dieser Präsenz und Brisanz der Thematik im Alltag wird eine differenzierte fachliche Klärung des Phänomens immer dringlicher. Die entscheidende moralphilosophische Fragestellung, die dabei im Zentrum steht und auch die Kernfrage der vorliegenden Untersuchung bildet, ist die folgende: Kann man beim Computerspielen etwas Unmoralisches tun? Eine bejahende Antwort auf diese Frage hätte erhebliche normative Konsequenzen für unseren theoretischen und praktischen Umgang mit Computerspielen. Auch eine verneinende Antwort könnte dazu beitragen, das Phänomen des Computerspielens in einem differenzierteren Licht zu sehen, weil diesbezügliche moralische Sorgen und Ängste ihre Berechtigung verlören und somit auf andere Ursachen zurückgeführt werden müssten. Und schon die Suche nach der richtigen Antwort steckt die normative Dimension des Computerspielens ab und kann
1Vgl.
Quandt 2011; Quandt 2013. Dem Verband der deutschen Games-Branche zufolge spielen aktuell gar über 34 Millionen Deutsche mindestens gelegentlich digitale Spiele (vgl. Game 2020). 2Damit bezeichne ich hier und im Folgenden alle Arten des Spielens digitaler Spiele und nicht ausschließlich das Spielen an Computern. In der neueren (philosophischen) Forschung hat sich der Begriff ‚Computerspiel‘ im Deutschen gegenüber ‚Videospiel‘ oder ‚digitales Spiel‘ durchgesetzt (vgl. Feige 2015, 19; Ostritsch/Steinbrenner 2018). 3Für eine fundierte journalistische Aufbereitung der Debatte in Videoform sei auf die dreiteilige Dokumentation „Killerspiele“ von Christian Schiffer (2016) verwiesen, ausgestrahlt im ZDF. Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex ‚Gewalt in Computerspielen‘ vgl. Venus 2018. VII
VIII
Vorwort
präzisieren, worauf wir beim Spielen, wenn überhaupt, moralisch achten sollten. Dies soll in der vorliegenden Untersuchung geschehen: Der moralische Status von Computerspielhandlungen soll ergründet werden. Es handelt sich dabei im doppelten Sinne um eine Grundlegung einer Ethik des Computerspielens: Erstens wird das Computerspielen als spezifische Handlungsform fiktions- und handlungstheoretisch vermessen, was Voraussetzung (und damit grundlegend) für eine dem Phänomen angemessene moralische Analyse ist. Daraufhin wird zweitens das Computerspielen nacheinander aus den Perspektiven des Utilitarismus, Aristoteles’ und Immanuel Kants moralisch geprüft, wodurch das Fundament für tiefergehende ethische Untersuchungen gelegt wird. Es wird sich nicht vermeiden lassen, dass die drei Ethiken und diverse andere philosophische Theorien in dem Prozess auf den Prüfstand gestellt werden: Sie werden nämlich mit der Aufgabe betraut, ein relativ neues Phänomen, das sie bislang nicht tangiert hat, begrifflich zu erläutern. Es sind insbesondere die Handlungstheorien Elizabeth Anscombes und Donald Davidsons, die Fiktionstheorie Kendall L. Waltons, die Kulturtheorie Johan Huizingas und die ethischen Überlegungen Aristoteles’, Henry Sidgwicks, Peter Singers und Kants, die mit dem Phänomen der Computerspielhandlungen konfrontiert werden. Am Ende der Untersuchung wird somit, dem Bestreben nach, nicht nur ein klarer Blick auf das Computerspielen als Handlungsform und dessen moralische Implikationen, sondern auch auf Reichweite und Anwendbarkeit geläufiger Ethiken und Handlungstheorien möglich sein. Die vorliegende Untersuchung des Computerspielens vollzieht sich in drei Schritten. Im ersten Schritt wird der Forschungsgegenstand terminologisch umrissen. Es wird die Frage behandelt, was genau wir meinen, wenn wir etwas als ‚Computerspiel‘ bezeichnen, und welche Aspekte des Begriffs im Fokus meiner Untersuchung stehen. Auf Grundlage diverser Definitionsproblematiken auf deskriptiver Ebene wird eine normative Bestimmung von ‚Computerspielen‘ entwickelt. Das Kapitel schließt mit einer scharfen terminologischen Unterscheidung von Computerspielen als Gegenständen und Computerspielen als Handlungen – nur Letztere sind Thema der nachfolgenden Betrachtung. In einem umfangreicheren zweiten Schritt wird der ausgemachte Forschungsgegenstand – das Computerspielen als Handeln – einer eingehenden handlungsund fiktionstheoretischen Analyse unterzogen. Zu diesem Zweck werden zunächst kursorisch grundlegende handlungstheoretische Positionen der älteren und jüngeren Philosophie dargestellt, um auf dieser Grundlage ein geeignetes Modell zur Analyse von Computerspielhandlungen zu konstruieren. Anschließend werden mithilfe dieses Modells drei Arten von Computerspielhandlungen unterschieden, die je eigene handlungstheoretische und fiktionstheoretische Spezifikationen aufweisen: Virtuelle Computerspielhandlungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie gewöhnlichen Handlungen strukturell ähneln, weil sie auf das Erreichen wirklicher Zwecke hinzielen. Ihr Spezifikum liegt darin, dass sie dabei einen ‚Umweg‘ über die fiktive Welt eines Computerspiels nehmen. Fiktive Handlungen sind demgegenüber gar keine wirklichen Handlungen im engeren Sinne. Sie bezeichnen die Aktionen fiktiver Spielfiguren, die innerhalb eines Computerspiels stattfinden und somit nicht (wirklich) durch einen personalen Willen verursacht werden.
Vorwort
IX
Fiktionale Computerspielhandlungen schließlich werden von der Spielerin4 ausgeführt und unterscheiden sich von virtuellen Handlungen darin, dass ihr Zweck in der fiktiven Welt des Computerspiels verortet ist. Die Fiktion ist hier nicht ‚Umweg‘ oder bloßes Mittel zum Erreichen eines wirklichen Weltzustands, sondern bildet den Zweck des Handelns selbst. Es handelt sich um Spielhandlungen im eigentlichen Wortsinne. Im dritten und letzten Schritt der Untersuchung werden die drei Arten von Computerspielhandlungen ethisch analysiert. Im Zentrum des Interesses stehen dabei fiktionale Handlungen, da sie das größte moraltheoretische Rätsel aufwerfen. Während fiktive Handlungen moralisch nicht relevant und virtuelle Handlungen ähnlich wie gewöhnliche Handlungen einzustufen sind, bewegen sich fiktionale Handlungen auf einem schmalen Grat zwischen Fiktion und Wirklichkeit, der sich moraltheoretischen Überlegungen prima facie zu entziehen scheint. Dieses Kuriosum wird gleich dreifach aufzuklären versucht: Mithilfe der Tugendethik des Aristoteles, der utilitaristischen Theorie und der Pflichtenethik Kants. Es wird sich herausstellen, dass jede Ethik einerseits ihre eigenen Herausforderungen bei der Einordnung des Phänomens zu bewältigen hat und andererseits je einen anderen wichtigen Baustein zur moralischen Beurteilung von Computerspielhandlungen beitragen kann. Insbesondere der Pflichtenethik Kants wird die Rolle zufallen, die intrinsischen moralischen Eigenschaften fiktionaler Handlungen zu bestimmen und in eine angemessene ethische Einstufung zu überführen. Zugunsten einer besseren Lesbarkeit wurde im Text auf ausführliche Erläuterungen erwähnter Computerspiele verzichtet. Unkundige Leser mögen das angefügte Glossar zu Hilfe nehmen.
Samuel Ulbricht
4Ich nutze in diesem Buch abwechselnd (doch nicht streng regelmäßig) die männliche und weibliche Form. Das Changieren zwischen den Genera soll stellvertretend den Bezug auf Personen jeden Geschlechts ausweisen.
Danksagung
Die Grundlegung zur Ethik des Computerspielens ist ein Ergebnis aus theoretischer und praktischer Erforschung des Phänomens – Letzteres in Form zahlreicher Stunden aktiven Computerspielens. Ohne herausragende Computerspiele wie The Last of Us (Part I und II), Detroit: Become Human, Grand Theft Auto V, The Legend of Zelda: Breath of the Wild oder The Witcher 3: Wild Hunt, die das Medium in seinem Potential voll ausschöpfen, hätte es für mich keinen Anlass gegeben, eine Ethik des Computerspielens zu entwickeln. Damit aus moralischen Intuitionen und Irritationen eine philosophische Ausarbeitung in Form dieses Buches wird, gehört jedoch mehr dazu. Ein besonderer Kreis an Personen, die meine philosophische Bildung nachhaltig geprägt haben, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Ethik des Computerspielens in der vorliegenden Form realisiert werden konnte. Zunächst danke ich Philipp Hübl für den häufigen und regen Austausch über philosophische Handlungstheorien, Jakob Steinbrenner für zahlreiche erhellende Diskussionen zur Theorie der Fiktion und Andreas Luckner für tiefe Einblicke in die Aristotelische Lehre. Dank dieser drei Philosophen konnte ich analytische wie kreative Zugänge zu diversen philosophischen Fragestellungen kennen und schätzen lernen. Daniel Martin Feige verdanke ich den frühen Kontakt mit der philosophischen Dimension von Computerspielen, mein Interesse für deren ästhetische Seite und einen stets produktiven Austausch über zentrale Problembereiche der aktuellen Spieleforschung und Kunsttheorie. Ich danke Tim Henning für unzählige aufschlussreiche Konversationen, in denen ich nicht nur mit einer extrem elaborierten Herangehensweise an Fragestellungen und Grundpositionen der Ethik vertraut werden durfte, sondern auch mit der hohen Kunst, hochkomplexe Sachverhalte auf klare und verständliche Weise darzustellen. Nicht wenige Passagen dieser Untersuchung haben von seinem kritischen Auge profitiert. Ganz besonders möchte ich Sebastian Ostritsch danken, für die jahrelange Unterstützung, Motivation, Förderung und konstruktive Diskussion meines Projekts. Ohne sein fortwährendes Interesse, gepaart mit häufigen und stets berechtigten Einwänden, würde es die Ethik des Computerspielens in dieser Form nicht geben. Auch dem J. B. Metzler Verlag bin ich für die Aufnahme in das Verlagsprogramm zu großem Dank verpflichtet, insbesondere Franziska Remeika, auf deren herzliche und hilfreiche Kooperation ich mich stets verlassen konnte, und
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Danksagung
Anupriya Harikrishnan, die für die Setzung dieses Buches verantwortlich war. Ich danke außerdem den Herausgebern der Reihe Techno:Phil – Aktuelle Herausforderungen der Technikphilosophie, die meine Arbeit mit ihrem Vertrauen ehren, was ich nie zu hoffen gewagt habe. Insbesondere Jan-Hendrik Heinrichs danke ich für seine wertvollen Anmerkungen und den stets offenen, produktiven und freundlichen Austausch. Anestis Fesatidis, Baris Elligüzel, Jonas Schmidt und Felix Wolf danke ich für ihre wertschätzenden und kritischen Kommentare, die in aufschlussreichen und lehrreichen Diskussionen mündeten. Last but not least danke ich meiner Frau Nikola Dieter: Nicht nur, weil ich mich immer auf deine vollumfängliche Unterstützung verlassen kann, sondern, weil deine inhaltlichen Anmerkungen, dein ehrliches Interesse und deine unbefangenen Intuitionen mir wertvoller nicht sein könnten.
Inhaltsverzeichnis
1 Was Computerspiele sind. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Computerspielen als Handeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.1 Der praktische Syllogismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.1.1 Von Aristoteles bis Davidson. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.1.2 Wille, Körperbewegung und Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.2 Drei Arten von Computerspielhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.2.1 Virtuelle Handlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2.2 Fiktionale Handlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.2.3 Fiktive Handlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.3 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3 Ethik des Computerspielens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3.1 Evaluative Dimension: Der Utilitarismus und Aristoteles’ Tugendethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.1.1 Können Computerspielhandlungen schädliche Folgen haben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.1.2 Können Spielende lasterhaft handeln?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.2 Deontische Dimension: Kants Pflichtenethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3.2.1 Die Rolle der Fiktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.2.2 Können Quasi-Handlungen moralisch verboten sein?. . . . . . 98 4 Abschließende Bemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Glossar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
XIII
1
Was Computerspiele sind
In dieser Untersuchung geht es vorrangig um das Computerspielen als Handlungsform und nicht um Computerspiele als Gegenstände. Das soll nicht heißen, dass diese beiden Dinge völlig unabhängig voneinander sind. Selbstverständlich braucht es Computerspiele, um (sie) spielen zu können. Und noch mehr: Die Handlungsmöglichkeiten beim Computerspielen sind je elementar durch das Spiel bedingt, das Optionen und Regeln des Agierens bereitstellt. Und umgekehrt scheint ein Computerspiel erst durch die Handlungen des Spielenden konstituiert zu werden. Nichtsdestotrotz möchte ich im Folgenden dafür plädieren, dass das Computerspielen als Handeln von den Computerspielen als Gegenständen abgegrenzt werden kann. Beim Computerspielen handelt es sich grundsätzlich um eine Art des Spielens, wie es seit Jahrtausenden von Menschen und (mindestens in Elementarformen) auch von anderen Tieren betrieben wird.1 Allerdings gilt es bezüglich dieses allgemeinen Begriffs terminologisch zu differenzieren. Sobald man mit der Suche nach einer angemessenen Definition beginnt, stellen sich sofort die ersten Hürden ein: Wo ist die Grenze zwischen Spiel und Nicht-Spiel zu verorten? Wie bringen wir die unzähligen Varianten des Spiels, die sich bis heute entwickelt haben und sich noch entwickeln werden, begrifflich unter einen Hut? Was ist das definierende Wesensmerkmal allen Spiels? Was allgemein mit dem Begriff ‚Spiel‘ bezeichnet wird, ist eine seit jeher sehr schwer zu beantwortende Frage, die wohl auch in Zukunft in letzter Instanz ungeklärt bleiben muss. Alle Versuche, notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen dafür anzugeben, wann wir es mit einem Spiel zu tun haben, scheitern spätestens mit Blick auf besonders exotische
1„Spiel ist älter als Kultur; denn so ungenügend der Begriff Kultur begrenzt sein mag, er setzt doch auf jeden Fall eine menschliche Gesellschaft voraus, und die Tiere haben nicht auf die Menschen gewartet, daß diese erst das Spielen lernten. […] Tiere spielen genauso wie Menschen“ (Huizinga 2015, 9).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE , ein Teil von Springer Nature 2020 S. Ulbricht, Ethik des Computerspielens, Techno:Phil – Aktuelle Herausforderungen der Technikphilosophie 4, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62397-8_1
1
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1 Was Computerspiele sind
Varianten desselben. Verschiedene Spiele scheinen, mit Ludwig Wittgenstein gesprochen, viel eher durch lose Familienähnlichkeiten als durch konstante Wesensmerkmale miteinander verknüpft zu sein.2 Da Computerspiele prima facie einen digitalen Typus herkömmlicher Spiele bilden, sind sie mindestens ebenso schwierig zu definieren. Das soll nicht heißen, dass es in der Vergangenheit weder Versuche noch Fortschritte in der Bestimmung von Computerspielen gegeben hätte. Im Gegenteil: Von einem Mangel an Definitionsversuchen kann in der Computerspielforschung keine Rede sein. So dominierte lange Zeit ein regelrechter Definitionsstreit zwischen sogenannten ‚Narratologen‘ und ‚Ludologen‘ die Debatte, der gleich zwei Bestimmungen des Computerspiels hervorbrachte: einerseits als digital und spielerisch umgesetzte Erzählung (narratologischer Ansatz), andererseits als digital (und manchmal erzählerisch) umgesetztes, regelbasiertes Spiel (ludologischer Ansatz).3 Recht schnell wurde deutlich, dass die angeführten Definitionen nicht zwei sich gegenseitig ausschließende Alternativen bilden, sondern je einen anderen, potentiell zentralen Aspekt von Computerspielen betonen. Während ein narrativ anspruchsvolles Spiel wie Detroit: Become Human sehr viel mit herkömmlicheren Erzählformen wie dem Film gemein hat und somit ein narratologischer Ansatz hier sicherlich sehr fruchtbar ist, wird wohl kaum jemand Tetris als Erzählung (miss-)verstehen. Umgekehrt scheint es unzureichend, Detroit: Become Human auf seine (vergleichsweise recht kargen) spielerischen und regelhaften Elemente zu reduzieren, bei Tetris hingegen macht dies durchaus Sinn. Die anschließenden, aus der Debatte erwachsenen Definitionsversuche des Computerspiels bemühen sich weniger um die Entsprechung mit einer spezifischen Schule und mehr um die Entsprechung mit dem Gegenstand: Das Computerspiel als solches soll grundlegend in seinen Eigenheiten konturiert werden.4 Dabei ist es unumgänglich, auf die eng verwandten Bestimmungsversuche des traditionellen Spiels zurückzugreifen, denn – so viel sei den Ludologen zugestanden – auf basaler Ebene handelt es sich bei allen Computerspielen um eine Form von Spielen. Aus dieser Erkenntnis lässt sich allerdings prima facie kaum etwas für eine nähere Bestimmung von Computerspielen folgern, ist doch bereits die Definition herkömmlicher Spiele mit immensen Schwierigkeiten konfrontiert, wie ich bereits mit Wittgenstein angedeutet habe. Trotz der konstitutiven Unbestimmtheit des Begriffs ‚Spiel‘ scheint jedoch die Trennlinie zwischen Spielen als Gegenständen und Spielen als Handeln auf den ersten Blick scharf gezogen zu sein: Ein Brettspiel etwa ist das, was man beim Öffnen einer Spieleschachtel vorfindet und auf-
2Vgl.
Wittgenstein 1984, §66/277f. und Verlauf der Debatte wurden von zahlreichen Autoren ausführlich rekonstruiert (vgl. Tavinor 2009, 15–25; Günzel 2012, 19–23; Feige 2015, 39–55), wobei es in der Spielforschung auch Stimmen gibt, die darauf verweisen, dass der ‚Streit‘ in einer derart scharfen und polarisierenden Form gar nicht geführt worden sei (vgl. Aarseth 2014). 4Für entsprechende Annäherungen und Versuche vgl. Tavinor 2009, 15–33; Feige 2015, 39–79; Ostritsch/Steinbrenner 2018. 3Positionen
1 Was Computerspiele sind
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baut. Spielen ist das, was man im Anschluss an den Aufbau mit dem Spiel tut. Analog könnte man als Computerspiel genau das bezeichnen, was man auf die ein oder andere Weise (je nach Hardware) startet und als Computerspielen das, was man im Anschluss daran mit dem Spiel tut. Physikalisch lässt sich ein Computerspiel als Gegenstand auf eine Software als Programmcode reduzieren, während das Spielen als Ereignis aufgefasst werden muss. Allerdings hat schon diese einfache ontologische Grenzziehung mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Erstens scheint auch Computerspielen als Handeln auf eine Codeebene reduzierbar zu sein: Mein scharfes Bremsen bei einem Rennen in Mario Kart 8 ist physikalisch mit einer Verschiebung diverser Codes beschreibbar. Zweitens scheint ein Spiel als Gegenstand mitnichten ein statisches Ding, sondern aus Ereignissen – eben den Handlungen der Spielenden – zusammengesetzt zu sein: Jedes Spiel reagiert dynamisch auf die Aktionen der Spielerin und das zeichnet es als Spiel aus. Ein Computerspiel ohne Handlungen ist (überspitzt) kein Spiel, sondern ein Film. Woher kommen diese Schwierigkeiten einer terminologischen Trennung von Spiel und Spielen? Blickt man auf einschlägige Definitionsversuche des Begriffs ‚Spiel‘ wird deutlich, dass dieses meist als Tätigkeit und nicht als Gegenstand bestimmt wird. Während Friedrich Schiller von einem „fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins“5 spricht, in dem der Mensch „von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen“6 entbunden sei, verweist Wittgenstein auf „Vorgänge, die wir ‚Spiele‘ nennen“7 und nicht auf Objekte. Auch die einflussreiche Definition des Kulturtheoretikers Huizinga bestimmt das Spiel explizit als Handeln: Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als „nicht so gemeint!“ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft[.]8
Eine Verengung auf neuere Bestimmungsversuche im Kontext des Computerspiels macht die Sache nicht einfacher. Natascha Adamowsky etwa stellt gleich zu Beginn ihrer Ausführungen fest: Jede Spielende weiß, wenn sie spielt. Dennoch gelingt es Elementen des Spiels stets aufs Neue, wissenschaftsrationalen Operationalisierungen in den Rücken zu fallen, vermutlich, weil Spielen selbst eine definierende Aktivität ist. Aus kulturwissenschaftlicher
5Schiller
2013, 27. Brief/120. Schiller verweist hier indirekt auf Tätigkeiten des Spielens, da Zwang nur diese betreffen kann (man wird durch Zwang im Handeln eingeschränkt) und sich somit auch eine Entbindung von Zwang auf Tätigkeiten beziehen muss. 7Wittgenstein 1984, §66/277f. Hervorhebung von mir (S.U.). 8Huizinga 2015, 22. 6Ebd.
1 Was Computerspiele sind
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Perspektive verschiebt sich daher die Frage, was ein Spiel sei, zum Erkenntnisinteresse daran, was Menschen eigentlich tun, wenn sie spielen.9
Sebastian Ostritsch und Jakob Steinbrenner bestätigen diesen Befund, indem sie „[r]egelbasierte Interaktivität (bzw. Gameplay)“10 als notwendigen Bestandteil eines jeden Computerspiels (neben visuellen Zeichen, einem Computerprogramm und entsprechender Hardware) bestimmen, verweisen wenige Absätze später (in Reaktion auf Grant Tavinors disjunktiven Definitionsversuch11) aber auch auf Computerspiele als interaktive „Artefakte in einem visuellen digitalen Medium“12. Diesen Definitionsversuchen, die allesamt die Grenze zwischen Spielhandlungen und Spielgegenständen verwischen lassen, steht die robuste Intuition gegenüber, dass ‚Spiel‘ schlicht nicht dasselbe wie ‚Spielen‘ ist. Es gibt eine natürliche Verwendungsweise von ‚Spiel‘, die auf Gegenstände und nicht auf Tätigkeiten referiert: „Ich habe zwölf Computerspiele im Regal stehen!“ oder „Welches Spiel findest du am schönsten?“. Es wird schwieriger, je engmaschiger es wird. Etwa, wenn es darum geht, die Computerspiele im Regal zu individuieren und von den Filmen, die danebenstehen, zu unterscheiden. Worin liegt die Verschiedenheit? Äußerlich scheint es (abgesehen von den Paratexten) keinerlei Unterscheidungsmerkmale bezüglich Disc und Hülle zu geben – das Material ist gleich.13 Die Differenz wird erst deutlich in der Verwendungsweise des jeweiligen Speichermediums; durch den Verweis auf die besondere Tätigkeit des Spielens, die sich von der Tätigkeit des Filmeschauens unterscheidet: „Spiele sind Handlungsanweisungen“14 in einem starken Sinne und Filme sind (bloß) Schauanweisungen. Ein Spiel ist somit das, was man spielen kann – das klingt analytisch und nicht informativ. Tatsächlich unterstreicht diese Bestimmung aber die zentrale Differenz zwischen Spielhandlungen und Spielgegenständen: Alle Spiele sind Handlungsanweisungen – und nicht die Handlung selbst.15 Unser gewöhnlicher S prachgebrauch 9Adamowsky
2018, 27.
10Ostritsch/Steinbrenner
2018, 68. is a videogame if it is an artifact in a visual digital medium, is intended as an object of entertainment, and is intended to provide such entertainment through the employment of one or both of the following modes of engagement: rule and objective gameplay or interactive fiction“ (Tavinor 2009, 26). 12Ostritsch/Steinbrenner 2018, 70. 13Der Verweis auf eine differierende Codeebene der Discs ist für die intuitive Unterscheidung, um die es mir an dieser Stelle geht, nicht entscheidend. Wenn wir Computerspiele von Filmen abgrenzen, meinen wir damit typischerweise nicht, dass sie andere Codesequenzen integrieren, sondern, dass andere Tätigkeiten mit ihnen verbunden sind. Mit anderen Worten: Wenn wir einen Freund fragen, ob dies ein Computerspiel oder ein Film sei, so erwarten wir keine Erläuterung der involvierten Binärcodes, sondern der entsprechenden Tätigkeit. 14Neitzel 2018, 225. 15Wobei ‚Anweisung‘ hier in einem weiten Sinne zu verstehen ist. Es ist nicht gemeint, dass jedes Spiel konkrete Anweisungen zum Handeln enthält (etwa im Sinne einer im Regelwerk formulierten Forderung: „Ziehe zwei Karten!“). Beim freien Rollenspiel von Kindern etwa ist dies nicht der Fall. Es geht vielmehr darum, dass es konstitutiv für jedwedes Spiel als Spiel 11„X
1 Was Computerspiele sind
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fundiert diese Bedeutung: Spielentwickler entwickeln Gegenstände, die man spielen kann – nicht das Spielen selbst. Und Spielgegenstände enthalten Spielregeln, die Tätigkeiten regulieren – und sind nicht die Tätigkeiten selbst.16 Wobei diese scharfe Grenzziehung bei den frühesten Formen menschlichen Spielens – Kinderspielen – wieder verwischt: Beim Versteckspiel ist Spielen das Spiel und das Spiel ist Spielen. Hier regulieren nicht nur die Spielregeln die Spielhandlungen, sondern auch die Spielhandlungen die Spielregeln. Dieses und ähnliche Beispiele legen den Finger darauf, dass die Begriffe Spiel und Spielen zwar theoretisch voneinander unterscheidbar, aber praktisch auf das Engste aufeinander bezogen sind. Es ist und bleibt ungemein schwierig, einen universal gültigen Unterschied zwischen Spielen als Handeln und Spielen als Gegenständen zu formulieren, der jeden Einzelfall abdeckt. Das hängt, wie wir gesehen haben, mit der konstitutiven Unbestimmtheit des Begriffs ‚Spiel‘ zusammen, der im alltäglichen und wissenschaftlichen Gebrauch sowohl auf Gegenstände als auch auf Tätigkeiten referieren kann. Manchmal auch auf beides gleichzeitig („Auf welches Spiel hast du heute Lust?“).17 Angesichts dieser Schwierigkeit ist es nicht möglich, eine präzise Definition dieses Begriffs aufzustellen. Dies ist unter Umständen aber auch gar nicht nötig. Die Begriffe ‚Spiel‘ und ‚spielen‘ scheinen zu der Kategorie elementarer Begriffe zu gehören, die sich grundsätzlich einer scharfen Definition im Sinne der Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen verschließen. Diese Grundbegriffe (im wahrsten Sinne des Wortes) bilden die Fundamente unserer Sprache und lassen sich nicht in ‚kleinere‘ definierende Bestandteile zerlegen. Die Aufgabe einer philosophischen Auseinandersetzung liegt daher nicht in ihrer Definition, sondern in ihrer Explikation – und nichts anderes versucht der
ist, Anweisung zum Handeln zu sein, speziell: zum Spielen. Denn ohne (Spiel-)Handeln kein Spiel. Ich danke Jan-Hendrik Heinrichs für eine entsprechende Nachfrage. 16Auf die elementare Rolle von Spielregeln beim Spielen verweist schon Huizinga, indem er Spiele als „an Regeln gebunden und dem ‚gewöhnlichen Leben‘ entrückt“ (Huizinga 2015, 87) bestimmt. Etwas präziser kann man Spielregeln mit einer Klassifizierung, die auf John Rawls zurückgeht, als konstitutive Regeln (im Unterschied zu regulativen Regeln) bezeichnen, die Tätigkeiten organisieren, deren Existenz vom Vorhandensein der Regeln abhängig ist (vgl. Rawls 1955). In neuerer Zeit und in Bezug auf Computerspiele verweist insbesondere Jesper Juul auf die bedeutende Rolle von Spielregeln: „Video games are a combination of rules and fiction. Rules are definite descriptions of what can and cannot be done in a game“ (Juul 2005, 197). 17Dazu kommt, dass das Verb ‚spielen‘ auf den ersten Blick doppeldeutig zu sein scheint. So können wir es einerseits im Sinne eines ‚freien Spiels‘ verstehen, das ohne Artefakte oder ein vorgeschriebenes Regelwerk auskommt, weil die Spielerin selbst ihre ‚Spielwelt‘ im Verlauf des Spielens konstruiert – man denke an das Rollenspiel von Kindern. Andererseits können wir uns beim Spielen auch an ein vorgegebenes Szenario inklusive festgelegter Regeln und Handlungsmöglichkeiten binden; eben genau dann, wenn wir ein konkretes Spiel spielen (sei es ein Computerspiel oder Monopoly). Ich danke Jan-Hendrik Heinrichs für diesen Hinweis. Aus einer anderen Perspektive ließe sich allerdings konstatieren, dass die vermeintliche Doppeldeutigkeit von ‚spielen‘ keine ist. Immerhin handelt es sich auch beim freien Spielen um das Spielen eines konkreten und regelbasierten Spiels: Eines vorrangig produzierten und nicht rezipierten Spiels, eines nicht wiederholbaren Spiels mit einem variablen Regelwerk und einer besonderen Struktur, aber nichtsdestoweniger eines bestimmbaren Spiels, das sich auch benennen lässt (etwa: „Mein Neffe spielt gerade ‚Pirat‘!“).
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1 Was Computerspiele sind
vorliegende Text mit Blick auf die handlungs-, fiktions- und moraltheoretische Einordnung von Computerspielhandlungen zu leisten. Zu diesem Zweck ist es allerdings unabdingbar, zumindest Spielhandlungen schärfer zu individuieren. Mit Blick auf die wichtige Unterscheidung zwischen Spiel (als Gegenstand) und Spielen (als Tätigkeit) möchte ich es nicht bei einer definitorisch ungeklärten Intuition belassen. Die Unbestimmtheit, auf die ich bei dem Versuch einer Definition von ‚Spiel‘ und damit zusammenhängend bei der deskriptiven Unterscheidung zwischen Spielgegenstand und Spielhandlung gestoßen bin, soll nun auf normativer Basis ausgeräumt werden, denn eine Differenzierung unter ästhetischen oder moralischen Gesichtspunkten ist hier durchaus möglich. Ich kann die Verzierung eines Schachbretts ästhetisch bewundern oder die Gewaltdarstellung in einem Computerspiel moralisch verdammen, ohne dabei auf Spielhandlungen Bezug zu nehmen. Gleichzeitig kann ich Spielhandlungen in den Blick nehmen, indem ich etwa den Spielzug meiner Gegnerin im Schach elegant und diskriminierendes Verhalten im Mehrspielermodus von Grand Theft Auto V unmoralisch finde, ohne dabei ein Urteil über die Spiele als Gegenstände zu fällen. Aus dieser Perspektive ist die Trennung von Spielhandlung und Spielgegenstand nicht nur möglich, sondern grundlegend. Das wird insbesondere mit Blick auf moralische Überlegungen deutlich, um die es mir in dieser Untersuchung vorrangig geht. So scheint es etwa nicht angemessen zu sein, die Handlung einer Reporterin moralisch zu verurteilen, wenn diese zu Recherchezwecken ein höchst problematisches Computerspiel wie RapeLay spielt (in dem sie Frauen vergewaltigen muss), um einen kritischen Artikel über das Spiel zu veröffentlichen und ein Verbot derartiger Spiele zu erreichen. Das Computerspiel scheint hier klar unmoralisch zu sein, aber nicht die Recherche der Reporterin; den Entwicklern gilt es einen moralischen Vorwurf zu machen, nicht der Spielerin. Umgekehrt wäre es intuitiv ebenso unangemessen, ein spielerisch und narrativ komplexes Computerspiel wie Red Dead Redemption 2 als Gegenstand dafür moralisch zu verurteilen, dass einige Spieler die offenen Spielmechaniken zu (prima facie) unlauteren Zwecken nutzen, indem sie (im Spiel) Frauenrechtlerinnen entführen und Alligatoren zum Fraß vorwerfen oder im Online-Modus Mitspieler drangsalieren. Intuitiv machen die Spieler hier etwas falsch, nicht das Spiel. Und auch beim Kinderspiel, abseits des Digitalen, kann ich Handlungen des Kindes (etwa im Spiel einen ertrinkenden Freund nicht zu retten) problematisieren, ohne damit das Spiel als solches zu verurteilen. Diese Beispiele machen deutlich, dass normativ zwischen Spielen als Gegenständen und Spielen als Handlungen durchaus unterschieden werden kann und muss, auch wenn auf deskriptiver Ebene definitorische Klarheit fehlt.
1 Was Computerspiele sind
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Die Trennung grenzt meinen Forschungsgegenstand ein: Das Computerspielen als Handeln, dessen moralischer Status – unabhängig von der Moralität von Computerspielen als Gegenständen – geklärt werden soll.18 Prima facie eignen sich Computerspielhandlungen naturgemäß besser für eine moralische Untersuchung als Spielgegenstände, denn im Zentrum der Moralphilosophie stehen gemeinhin „Urteile, durch die ein menschliches Handeln positiv oder negativ bewertet, gebilligt oder missbilligt wird.“19 Um eine Handlung moralisch bewerten zu können, muss diese klar und deutlich bestimmt sein. Computerspielhandlungen werfen in dieser Hinsicht nun allerdings Fragen auf: (Inwiefern) Entsprechen sie alltäglichen Praktiken? Haben wir es mit einer neuen Form des Handelns zu tun oder können wir uns auf herkömmliche Modelle berufen? Diesen und weiteren Unklarheiten werde ich mich im folgenden Kapitel ausführlich widmen. Ich bin der festen Überzeugung, dass ohne eine vertiefende handlungstheoretische Untersuchung die Entwicklung einer umfassenden und dem Phänomen angemessenen Ethik des Computerspielens nicht möglich ist.20
18Damit
will ich nicht behaupten, dass die Moralität eines Computerspiels in keinem Fall für die Moralität einer Computerspielhandlung relevant sei. Um einen solchen Zusammenhang im Einzelfall aber feststellen zu können, müssen zunächst die normativen Dimensionen der Relata klar und deutlich voneinander unterschieden werden. 19Birnbacher 2013, 13. Hervorhebung von mir (S.U.). Wobei die moralische Beurteilung von Handlungen als einziger Aufgabenbereich der Ethik freilich zu verengt ist, wie Dieter Birnbacher selbst betont: Zwar seien deontische Urteile vorrangig auf Handlungen bezogen, evaluative Werturteile hingegen haben „primär Motive, Einstellungen und Charakterzüge zum Gegenstand“ (ebd., 285). 20Erstaunlicherweise kenne ich keine Untersuchung zur Ethik des Computerspielens, die diesem Anspruch gerecht wird. Obwohl die Notwendigkeit einer hinreichenden Konturierung des Untersuchungsgegenstands (in diesem Fall: eine handlungstheoretische Bestimmung des Computerspielens) vor einer moralischen Analyse desselben offensichtlich scheint, verzichten die meisten Autoren auf eine entsprechende Präzisierung und untersuchen den moralischen Status von Computerspielhandlungen, ohne hinreichend zu klären, um was es sich dabei eigentlich genau handelt. Einige Positionen lassen sich teilweise dadurch entschuldigen, dass es ihnen letztlich mehr um die Moralität der Spiele oder der Spielenden als um die Moralität des Spielens zu gehen scheint – wobei sie auch hier eine entsprechende Differenzierung tendenziell vermissen lassen (vgl. McCormick 2001; Waddington 2007; Schulzke 2010; Patridge 2011), andere wiederum landen (konsequenterweise, da nicht präzise genug zwischen Spielhandlung und alltäglicher Handlung unterschieden wird) bei einer viel zu starken moralischen Einordnung des Computerspielens (vgl. Sicart 2009). Erst seit Kurzem rücken dezidiert handlungstheoretische Analysen des Computerspielens ins Zentrum der philosophischen Forschung (vgl. Börchers 2018), während das Computerspielen als Handlungsform in den Game Studies schon längere Zeit ein beliebter Forschungsgegenstand ist (vgl. Venus 2012; Günzel 2012, 119–125; Hensel 2018). Beiträge dieser jungen und wachsenden Disziplin sind mit ihrem kultur- und medienwissenschaftlichen Schwerpunkt allerdings kaum ertragreich für eine Handlungstheorie des Computerspielens als grundlegende begriffliche Klärung.
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Computerspielen als Handeln
Bevor man das Handeln in oder mit einem Computerspiel einer handlungstheoretischen Analyse unterzieht, muss deutlich werden, inwieweit dieses Unterfangen überhaupt notwendig ist. Weshalb verdienen Computerspielhandlungen eine eigenständige Untersuchung in ihrer Spezifik? Gleichen sie nicht gewöhnlichen Handlungen? Lässt sich dieser mühsame Schritt auf dem Weg zu einer Ethik des Computerspielens nicht überspringen? Während es im vorigen Kapitel um die Differenz zwischen Computerspielen als Gegenständen und Computerspielen als Tätigkeiten ging, gilt es nun, letztere von gewöhnlichen Handlungen abzugrenzen. Handlungen sind grundsätzlich genau diejenigen Tätigkeiten, die wir absichtlich durchführen.1 Näherungsweise könnte man sagen: All diejenigen Dinge, die wir tun, die wir auch unterlassen könnten, sind Handlungen. Hierunter fallen auch Unterlassungen selbst (denn wir können eine Unterlassung unterlassen – indem wir handeln), aber nicht ungewollte Reflexe oder Ticks, die uns vielmehr zustoßen, als dass wir sie ausführen oder unterlassen könnten. Es wäre verfehlt, Computerspielhandlungen extensional als eigenständige Klasse von Handlungen aufzufassen, wie Fabian Börchers überzeugend am Ende seiner Analyse betont: „Computerspielhandlungen sind wirkliche Handlungen. Sie erfüllen alle Kriterien, die für menschliches Handeln herausgearbeitet wurden.“2 Vor diesem Hintergrund scheint es wenig ertragreich, handlungstheoretische Überlegungen in Bezug auf das Computerspielen anzustellen: Sofern es nun in diesem Unterfangen Ergebnisse vorzuweisen gibt, wird man sagen, werden diese eben für alle menschlichen Handlungen gleichermaßen gelten und folglich trivialerweise auch für die Handlung des Computerspielens. Mit Handlungstheorie über
1Vgl. Anscombe 2Börchers
1963, §1/1; Davidson 2002b, 44–47; Henning 2016a, 45–49. 2018, 120.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE , ein Teil von Springer Nature 2020 S. Ulbricht, Ethik des Computerspielens, Techno:Phil – Aktuelle Herausforderungen der Technikphilosophie 4, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62397-8_2
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2 Computerspielen als Handeln
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Computerspiele nachzudenken wäre damit ein reiner Anwendungsfall, ein Wiederfinden des allgemein schon Beschriebenen im Besonderen – und damit wenig geeignet, etwas über die Spezifik von Computerspielen zu verraten.3
Allerdings gibt es auch eine andere, eine intensionale Perspektive auf das Phänomen, die einen gegenteiligen Schluss suggeriert und eine scharfe Trennung zwischen Computerspielhandlungen und gewöhnlichen Handlungen andeutet: Computerspiele […] zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass man in ihnen nicht wirklich etwas tut: Man rast über halsbrecherische Rallypisten (obgleich man ruhig auf dem Sofa sitzt), man prügelt sich auf Hinterhöfen (obwohl man nicht mehr tut, als ein paar Finger zu krümmen) oder läuft dreimal hintereinander in den eigenen Tod (und das kann man nun wirklich nicht als echte Handlung tun).4
Mit Blick auf das Ziel der vorliegenden Untersuchung, eine Ethik des Computerspielens zu entwickeln, ist insbesondere die Frage bedeutsam, ob es einen moralischen Unterschied zwischen Computerspielhandlungen und herkömmlichen Handlungen gibt. Eine spezifische handlungstheoretische Untersuchung von Handlungen erster Art lohnte in diesem Kontext nur, wenn zumindest intuitiv ein entsprechender Unterschied bestünde. Und tatsächlich legen typische Fälle diesen Befund nahe: Prima facie macht es (auch) moralisch einen großen Unterschied, ob ich in einem Computerspiel – etwa in Tekken 7 – aus Spaß einen Menschen K.O. schlage oder in Wirklichkeit. Oder ob ich in Civilization VI einen Krieg gegen Spanien erkläre oder in Wirklichkeit. Diese simplen Beispiele stoßen darauf, dass wir intuitiv zwischen Computerspielhandlungen und ihren K onterparts in der wirklichen Welt streng unterscheiden. Ein Mord im Spiel ist kein (wirklicher) Mord. Das heißt prima facie für eine moralische Einordnung: Was einen (wirklichen) Mord moralisch verwerflich macht, liefert keinen Ertrag für die moralische Einordnung einer entsprechenden Spielhandlung.5 Falls sich ein Spiel-Mord als unmoralisch herausstellte, dann ist er dies, so der Verdacht, aus ganz anderen Gründen als ein wirklicher Mord.6 Dies spricht für eine Differenzierung der 3Ebd.,
97.
4Ebd. 5Ich
verwende den Begriff ‚wirklich‘ oder ‚Wirklichkeit‘, um mich auf die aktuale, sinnlich erfassbare Erfahrungswelt zu beziehen. Spreche ich hingegen von ‚realistisch‘ oder ‚Realismus‘, so meine ich Darstellungsweisen von Fiktionen, die sich (so weit möglich) an der Wirklichkeit orientieren (vgl. Durst 2008, 29–51). 6Kurioserweise begegnet man der moralischen Gleichsetzung von Spiel-Handlungen und ihren wirklichen Konterparts in alltäglichen, öffentlichen und selbst wissenschaftlichen Diskursen nicht selten. Häufig werden Gefahren wie Potentiale des Computerspielens auf diese Weise zu fundieren versucht. So baut etwa ein Horn des von Morgan Luck konstruierten Gamer’s Dilemma auf der Annahme auf, dass sich die Moralität von Spielhandlungen aus der Moralität ihrer wirklichen Konterparts speise, weswegen wir virtuelle Tötungen ebenso moralisch verurteilen sollten wie virtuelle Pädophilie (das zweite Horn vertritt die entgegengesetzte Position, virtuelle Handlungsweisen seien per se moralisch irrelevant, vgl. Luck 2009, 31f.). Auch wenn diese Behauptung nur ein Horn des Dilemmas bildet, so stellt sie doch ein zentrales Fundament von Lucks Argumentation dar und wird auch in der weitergehenden Beschäftigung mit
2.1 Der praktische Syllogismus
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Handlungsweisen, mit denen wir es jeweils zu tun haben, ergo: für eine spezifische, handlungstheoretische Analyse von Computerspielhandlungen, die nun erfolgen soll.
2.1 Der praktische Syllogismus Computerspielhandlungen gleichen formal alltäglichen Handlungen: Wir haben es mit Ereignissen zu tun, die beabsichtigt sind und durch Körperbewegungen ausgeführt werden.7 Sie lassen sich mit Davidson durch Angabe eines primären Grundes als Proeinstellung und Überzeugung, welche die Handlung verursachen, rationalisieren.8 Die Beispiele im letzten Abschnitt machen allerdings deutlich, dass eine rein formale Analyse von Computerspielhandlungen nicht ausreicht, um
dem Dilemma als Option sehr ernst genommen (vgl. Bartel 2012; Luck/Ellerby 2013). Die These „In diesem Computerspiel tötet man Menschen!“ ist jedoch in einem essentiellen Sinne ebenso grundfalsch wie „In diesem Computerspiel lernt man, Fußball zu spielen!“. Was auch immer Computerspielhandlungen für Handlungen sein mögen – sie gleichen (in den allermeisten Fällen) weder motorisch noch kontextuell ihren Konterparts in der Wirklichkeit. Jede Ethik des Computerspielens muss dieser elementaren Differenz Rechnung tragen, die auch Daniel Feige anschaulich betont: „[D]er First-Person-Shooter ist selbst dann nicht per se eine andere Weise des Schießens mit Schusswaffen, wenn er im Rahmen von ganz speziellen didaktischen Computerspielen wie America’s Army zum Trainieren des Waffengangs gedacht ist. […] Eine Verwechslung beider Praktiken kommt dadurch zustande, dass man eben nicht auf die Praxis schaut und das, was für sie wesentlich ist, sondern sich vielmehr auf eine Praxis als feststehende und umfassende festgelegt hat, die in Wahrheit außerordentlich exotisch ist“ (Feige 2015, 128). Ein weiteres plastisches (wenn auch leicht überzogenes) Beispiel gibt Jochen Venus: „So wenig wie man die eigenen Fortbewegungskompetenzen trainiert, indem man eine Spielfigur durch dauerndes Drücken der W-Taste auf der Tastatur in der virtuellen Welt nach vorne laufen lässt, so wenig werden in den Szenarien der virtuellen Spiele Konfliktlösungsmodelle trainiert“ (Venus 2018, 336). Kurz: Eigenart und Moralität von Computerspielhandlungen sind nur in Ausnahmefällen auf direktem Wege aus analogen wirklichen Handlungen ableitbar (etwa bei Lernspielen zum Schulfach Mathematik, bei denen man de facto nichts weiter tut als zu rechnen). 7Absichtlichkeit und Rückführbarkeit auf (einen weiten Begriff von) Körperbewegungen weist Davidson als zentrale intensionale Merkmale von Handlungen aus (vgl. Davidson 2002b). Zu meiner Berufung auf die nicht unumstrittene Handlungstheorie Davidsons hier und im folgenden Verlauf der Untersuchung seien zwei Dinge angemerkt: Erstens gehe ich verstärkt auch auf differierende Auffassungen in der Handlungstheorie ein und werde Davidsons Ansatz letztlich stark modifizieren. Zweitens wird die für Davidson elementare (und am meisten umstrittene) kausale Rolle von Gründen im Folgenden eine eher untergeordnete Rolle spielen, da es mir primär um das Verständnis von Computerspielhandlungen auf normativer Ebene geht. In diesem Kontext sind Davidsons Ausführungen weit weniger strittig – insbesondere dann, wenn man Davidsons spätere Aufsätze zu diesem Thema berücksichtigt, in denen er einige seiner früheren, radikaleren Ansichten revidiert (etwa, dass kausale Erklärungen hinreichend für Handlungserklärungen seien, vgl. Davidson 2002c, oder dass Absichten auf gewöhnliche Wünsche und Überzeugungen reduziert werden können, vgl. Davidson 2002e). 8Vgl. Davidson 2002a.
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2 Computerspielen als Handeln
ihre moralische Dimension in Gänze zu erfassen. Um die entscheidende normative Trennlinie zwischen gewöhnlichen Handlungen (Mord) und Computerspielhandlungen (Spiel-Mord) klar zu ziehen, müssen deren inhaltlichen Aspekte in den Blick geraten: Warum hat der Akteur die entsprechende Handlung durchgeführt?9 Zur Beantwortung dieser Frage braucht es ein differenziertes Modell zur Handlungsanalyse, ein angemessenes Begriffsrepertoire als terminologisches Werkzeug, das in den folgenden Abschnitten erarbeitet werden soll, um sich anschließend vertiefend mit unterschiedlichen Weisen des Computerspielhandelns auseinanderzusetzen.
2.1.1 Von Aristoteles bis Davidson Ein Modell, das sich zur Erläuterung von Handlungen breit etabliert hat, ist der sogenannte praktische Syllogismus, der auf Aristoteles zurückgeht.10 Ihm zufolge weist das Zustandekommen einer Handlung durch praktisches Schließen Ähnlichkeiten mit der logischen Deduktion einer Konklusion aus zwei wahren Prämissen auf. Die erste Prämisse eines praktischen Syllogismus, als allgemeiner Obersatz des Handelns, wird von Aristoteles für den tugendhaften Menschen als Gutheit (aretē) der jeweiligen Handlung bestimmt: „Denn diejenigen Schlüsse (syllogismos), die die Gegenstände des Handelns zum Thema haben, haben einen Ausgangspunkt (archē), der besagt: ‚Da das Ziel, das heißt das Beste, so beschaffen ist‘, was immer es sein mag“11. Nicht-tugendhaften Menschen dienen mehr oder weniger kontingente allgemeine Prinzipien, etwa aus Erfahrung gewonnene Faustregeln, als Obersatz.12 Den Gegenstandsbereich der zweiten Prämisse präzisiert Aristoteles als „das Letzte und Mögliche“13, also als konkrete Handlungssituation, die „der Ausgangspunkt (archē) für den Zweck“14 ist: Um
9Dass
die ‚Warum-Frage‘ elementar zum Handlungsverstehen ist, ist seit Anscombe in der neueren Handlungstheorie breit etabliert (vgl. Anscombe 1963, §5/9–11; Henning 2016a, 46f.; Börchers 2018, 101f.). 10Vgl. NE VI 12, 1143a–1143b/210f.; NE VII 5, 1147a/224. 11NE VI 13, 1144a/214. In der neueren Forschung finden sich zahlreiche unterschiedliche Interpretationen des Obersatzes von Aristoteles’ praktischem Syllogismus. Während dieser für Andreas Luckner aus einer „Präskription besteht (das können subjektive Grundsätze/Maximen, Gebote, allgemeine Normen usw. sein)“ (Luckner 2005, 91), insistiert John McDowell auf einer ‚Nichtkodifizierbarkeit‘ der entsprechenden Prämisse: „[T]he envisaged major premise, in a virtue syllogism, cannot be definitively written down […]: generalizations will be approximate at best“ (McDowell 2002, 67). Anscombe bestimmt den Obersatz praktischen Schließens als ‚intention in action‘: Das Gewünschte als anzustrebendes Gut der Handlung (vgl. Anscombe 1963, §23/45–47; Henning 2016a, 47–49). Davidson verweist ergänzend auf die Form dieses Gewünschten, den Wunsch als Proeinstellung (vgl. Davidson 2002e, 85–89). 12Vgl. NE VII 5, 1147a/224. 13NE VI 12, 1143b/211. 14Ebd.
2.1 Der praktische Syllogismus
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bewusst handeln zu können, muss ein Akteur die Situation zunächst einordnend „durch Wahrnehmung (aisthēsis) erfassen, und diese Wahrnehmung ist intuitives Denken.“15 Durch Abwägen der (erstpersonal) allgemeinen Gutheit der Handlung (erste Prämisse) mit der konkreten Handlungssituation (zweite Prämisse) ergibt sich mit der Klugheit (phronēsis), als „eine mit Überlegung verbundene wahre Disposition des Handelns in Bezug auf die menschlichen Güter“16, die Konklusion: eine Akteur und Kontext angemessene Handlung.17 Dies ist der Prozess praktischen Schließens, den ein Akteur beim Handeln durchläuft. Er sei durch das folgende Schema dargestellt: 1. Obersatz: Allgemeines Prinzip („Jedem Menschen ist das Trockene zuträglich“ (NE VII 5, 1147a/224.) 2. Untersatz: Einordnende Wahrnehmung der Situation („Ich bin ein Mensch“ (NE VII 5, 1147a/224.) 3. Konklusion: Handlung (*Essen-Der-Trockenen-Nahrung*)
Moderne Handlungstheoretiker entwickelten die Aristotelische Struktur pra ktischen Schließens weiter, darunter Anscombe und Davidson. Davidsons ausführliche Konzipierung trägt zum einen auf normativer Ebene den Erkenntnissen Anscombes Rechnung,18 betont aber zum anderen auch die extensionale Seite des praktischen Schließens: psychische Zustandswechsel als verursachende Ereignisse. Aufgrund dieser differenzierten Herangehensweise fußen die folgenden Ausführungen überwiegend auf seinen Überlegungen, wobei sie nicht deckungsgleich übernommen werden: Mit Blick auf das Ziel der Untersuchung, den moralischen Status von Computerspielhandlungen zu ergründen, wird Davidsons Theorie erstens vereinfacht19 (wobei ich in den Fußnoten auf potentielle Schwierigkeiten und weiterführende Überlegungen eingehe) und zweitens stark modifiziert, sodass die normative Erklärungsleistung praktischer Syllogismen in den Fokus rückt. Das angestrebte Resultat dieser Vorgehensweise ist ein Modell,
15Ebd. 16NE
VI 5, 1140b/200. Beim nicht-tugendhaften Menschen übernimmt diese Rolle die Geschicklichkeit (deinotēs) als Wahl bester Mittel zum Erreichen des gesetzten Zwecks, der – anders als bei der Klugheit – auch verwerflich sein kann (vgl. NE VI 13, 1144a/214). 17Auch an dieser Stelle differieren die Interpretationen neuerer Zeit. Die gängige Auffassung lautet aber, dass die Konklusion praktischen Schließens im Handeln (und nicht in einem Urteil) besteht (vgl. Luckner 2005, 91; McDowell 2002, 65f.; Henning 2016a, 47f.), was sich auch mit Aristoteles zu decken scheint (vgl. Buddensiek 2016, 12f.). 18Während Davidson dieser These zustimmen würde (vgl. Davidson 2002a, 11–19) – er verweise lediglich ergänzend darauf, dass neben einer teleologischen Erklärung der Handlung dieselbe auch kausal erläutert werden müsse (vgl. Henning 2016a, 49f.) – bezweifeln andere Autoren die Vereinbarkeit beider Erklärungsansätze (vgl. Börchers 2018, 100–110). 19Ich werde zum Beispiel nicht auf Davidsons Überlegungen bezüglich Prima-Facie-Urteilen und seine Konzipierung des Willens (vgl. Davidson 2002d) oder auf reine Absichten (vgl. Davidson 2002e) eingehen.
2 Computerspielen als Handeln
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das einerseits fundiert genug ist, um als Analyseinstrument mit den wichtigsten Erkenntnissen der modernen Handlungstheorie verträglich zu sein, und andererseits durch seine Einfachheit und Klarheit eine ergiebige Untersuchung von Computerspielhandlungen erleichtert. Eine erste wichtige Erkenntnis Davidsons ist, dass man sich praktisches Schließen nicht als Prozess vorstellen sollte, der jedem Tun notwendigerweise vorausgehe, sondern dass jede Handlung qua Handlung nur die prinzipielle Möglichkeit eines solchen Vorgangs impliziere: We cannot suppose that whenever an agent acts intentionally he goes through a process of deliberation or reasoning, marshals evidence and principles, and draws conclusions. Nevertheless, if someone acts with an intention, he must have attitudes and beliefs from which, had he been aware of them and had the time, he could have reasoned that his action was desirable (or had some other positive attribute).20
Die Prämissen des praktischen Syllogismus führt Davidson auf die Ausformulierung derjenigen Proeinstellung (attitude) und Überzeugung (belief) zurück, die als primärer Grund die Handlung rationalisieren und verursachen: „We are to imagine […] that the agent’s beliefs and desires provide him with the premises of an argument“21. Der Obersatz, als Proeinstellung der Handlung, lässt sich durch ein Werturteil bezüglich einer bestimmten Handlungsart B ausdrücken: „[A]n action of type B is good (or has some other positive attribute)“22. Der Untersatz besteht in der Überzeugung, dass die konkret auszuführende Handlung A der gewünschten Handlungsart B entspricht. Aus den beiden Prämissen lässt sich schließlich diejenige Handlungsbeschreibung herleiten, welche die Handlung rationalisiert: „The description of the action provided by the phrase substituted for ‘A’ gives the description under which the desire and the belief rationalize the action.“23 Bezüglich des letzten Punkts gilt es zwei möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Erstens ist es nicht die Ansicht Davidsons, dass sich die Konklusion eines praktischen Syllogismus deduktiv aus den Prämissen ableiten ließe. Im Gegenteil verweist er explizit darauf, dass die Konklusion – ein uneingeschränktes Werturteil bezüglich der auszuführenden Handlung – das Ergebnis einer Abwägung sei.24 Dieses uneingeschränkte Werturteil nennt Davidson später Absicht: „[T] he intention simply is an all-out judgement. Forming an intention, deciding, choosing, and deliberating are various modes of arriving at the judgement, but it is possible to come to have such a judgement or attitude without any of these
20Davidson
2002e, 85. 85f. 22Ebd., 87. 23Ebd. 24Vgl. Davidson 2002d, 36–39; Davidson 2002e, 98f. 21Ebd.,
2.1 Der praktische Syllogismus
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modes applying.“25 Zweitens sind die Prämissen eines praktischen Syllogismus nicht bloß als Urteile zu verstehen, sondern auch als Ausdruck psychischer Zustandswechsel. Aus dieser Perspektive ist die Konklusion des praktischen Schließens kein uneingeschränktes Werturteil gegenüber der Handlung A, sondern die Handlung selbst als Ereignis. Davidson spricht sich somit für eine Doppelrolle praktischer Syllogismen aus: „It is an important doctrine that the conclusion of a piece of practical reasoning may be an action; it is also important that the conclusion may be the formation of an intention to do something in the future.“26 Wir können also praktisches Schließen mit Davidson aus zwei Perspektiven betrachten: Einerseits lassen sich die Prämissen wie oben erläutert als spezifische Urteile verstehen, aus denen das unbedingte, zukunftsgerichtete Werturteil folgt, dass die auszuführende Handlung gut ist. Andererseits verkörpern Obersatz und Untersatz des praktischen Syllogismus diejenigen konkreten psychischen Ereignisse, welche die Handlung unmittelbar verursachen. Die Handlung selbst ist aus dieser Perspektive die Konklusion des praktischen Syllogismus und impliziert nur die mögliche Bildung eines entsprechenden Werturteils: In the case of intentional action, at least when the action is of brief duration, nothing seems to stand in the way of an Aristotelian identification of the action with a judgement of a certain kind—an all-out, unconditional judgement that the action is desirable (or has some other positive characteristic).27
Unter beiden Perspektiven ist die Kenntnis von Proeinstellung und Überzeugung des Akteurs für das Handlungsverstehen zentral. Sie implizieren als Prämissen diejenige Handlungsbeschreibung, unter der die Tätigkeit absichtlich ausgeführt wurde, und erklären als psychische Ereignisse das kausale Zustandekommen derselben. Dieser Zusammenhang ist es, der durch den praktischen Syllogismus modelliert wird, dessen Konklusion extensional die verursachte Handlung und intensional ein entsprechendes Werturteil bildet: 1. Obersatz: Proeinstellung zu Handlungsart B („It is desirable to improve the taste of the stew“ (Davidson 2002e, 86.) 2. Untersatz: Überzeugung, dass Handlung A der Handlungsart B entspricht („Adding sage to the stew will improve its taste” (Davidson 2002e, 86) 3. (Extensionale) Konklusion: Handlung A (*Adding-Sage-To-The-Stew*) & (Intensionale) Konklusion: Unbedingtes Werturteil über Handlung A („It is unconditionally desirable to add sage to the stew”)
Dieses Modell gilt es nun an den Zweck einer gleichsam differenzierten wie schlanken Analyse von Computerspielhandlungen anzupassen. Zentral ist dabei die Klärung folgender Fragen: Ist vor allem die extensionale oder die
25Davidson 26Ebd.,
96. 27Ebd., 99.
2002e, 99.
2 Computerspielen als Handeln
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intensionale Dimension praktischen Schließens zur Klärung von Computerspielhandlungen relevant? Wie sind Proeinstellung und Überzeugung normativ näher zu bestimmen? Und wie genau kann die Handlungsbeschreibung aus dem Modell extrahiert werden, unter der die Handlung absichtlich ausgeführt wird?
2.1.2 Wille, Körperbewegung und Handlung Mit Davidsons Modell wird ersichtlich, dass die elementare Erklärungsleistung des praktischen Syllogismus nicht in seiner Konklusion liegen kann: Dass ich den Eintopf mit Salbei würze bzw. es wünschenswert finde, den Eintopf mit Salbei zu würzen, ist keine informative Erklärung meiner Handlung, sondern die Handlung selbst bzw. eine bloße Markierung derselben als solche. Mit bloßem Wissen um die Konklusion ließe sich lediglich die folgende (vermeintliche) Handlungserklärung herleiten: „Sie würzt den Eintopf mit Salbei, weil sie das will.“ Dies zeichnet das in Frage stehende Ereignis zwar als Handlung aus, ist aber nicht hinreichend, um diese normativ zu begründen. Hierfür muss der erstpersonale Wert einer Handlung verständlich werden, was Börchers, Anscombe sekundierend, betont: Eine Handlung als sinnvoll zu erfahren, bedeutet ihren Wert zu begreifen. Daraus ergibt sich, dass das, was manchen als die fundamentale Begründung einer Handlung gilt, nämlich ‚ich tue dies, weil ich es will‘, in Wirklichkeit gar keine Begründung […] ist, sondern lediglich die formale Andeutung darstellt, dass die fragliche Handlung von der Art ist, dass man eine Begründung geben könnte. ‚Weil ich es will‘ beantwortet die Warum-Frage nicht, sondern deutet an, dass sie zulässig ist[.]28
Wenn nicht die Konklusion eines praktischen Syllogismus als Werturteil die gesuchte Handlungserklärung liefert, so muss der Blick auf die Prämissen gelenkt werden. Das entspricht den vorangegangenen Ausführungen sowie dem Gros der Handlungstheorie: Zur Begründung einer Handlung sind die Prämissen eines praktischen Syllogismus entscheidend – denn die Konklusion desselben ist die Handlung. Aus dieser Perspektive ist es angemessen, der Handlung selbst (heißt: ihrer Extension als Ereignis) den Platz der Konklusion zuzuweisen: Sie ist es, die durch Gründe rationalisiert und durch Ethiken moralisch bewertet werden soll – nicht ein Werturteil. Wenden wir uns also den Prämissen zu. Der Obersatz des praktischen Syllogismus ist nach Davidson die Proeinstellung eines Akteurs, deren Angabe in den meisten Fällen hinreichend ist, um eine Handlung zu rationalisieren.29 Hierunter fallen: 28Börchers
2018, 110. Für Anscombe zu diesem Punkt vgl. Anscombe 1963, §51/90f. Davidson darauf besteht, dass eine vollständige Handlungserklärung erst durch die Angabe des primären Grundes als Angabe von Proeinstellung und Überzeugung gegeben ist, lässt er auch differierende Varianten gelten – etwa die bloße Nennung eines Wunsches. Diese
29Obwohl
2.1 Der praktische Syllogismus
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[D]esires, wantings, urges, promptings, and a great variety of moral views, aesthetic principles, economic prejudices, social conventions, and public and private goals and values in so far as these can be interpreted as attitudes of an agent directed toward actions of a certain kind.30
Davidsons Aufzählung hilft nur bedingt weiter, um die Erklärungsleistung von Proeinstellungen schärfer zu konturieren, denn sie enthält zwei unterschiedliche Arten von Entitäten: einerseits psychische Zustände (‚desires‘, ‚wantings‘, ‚urges‘ usw.), andererseits Inhalte solcher Zustände (‚moral views‘, ‚goals‘, ‚values‘ usw.). Für die Begründung einer Handlung – als genuin normatives Projekt – ist der Verweis auf psychische Vorgänge als extensionale Ursache der Handlung nicht entscheidend.31 Aus diesem Grund ist obiges Modell des praktischen Syllogismus ungenügend: Die Prämissen werden dort primär als verursachende psychische Ereignisse und nicht als normative Begründung einer Handlung thematisiert. Zwar muss jede Handlungserklärung eine kausale Rolle von Gründen implizieren, um eine Handlung rationalisieren zu können, denn nur so ist verstehbar, inwiefern die Konklusion eines praktischen Syllogismus die Handlung selbst zu sein vermag: Sie kann nicht die Folgerung aus Urteilen sein, denn Handlungen sind Ereignisse und Ereignisse folgen nicht aus Urteilen, sondern kausal aus anderen Ereignissen. Aber eine Explikation des kausalen Verhältnisses zwischen Grund und Handlung (als Angabe eines konkreten kausalen Gesetzes) ist, wie Davidson selbst betont, erstens nicht nötig zur Begründung einer Handlung32 und zweitens, aufgrund kategorisch verschiedener Erklärungsmuster, auch gar nicht möglich.33 In diesem Sinne mag zwar die Rationalisierung einer Handlung „a species of causal explanation“34 sein, weil sie extensional stets auf eine kausale Relation verweist, dieser Aspekt spielt aber für die normative Begründung einer Handlung auf intensionaler Ebene, um die es mir vorrangig geht, keine Rolle. Hierfür ist der Inhalt der psychischen Zustände des Akteurs entscheidend: nicht der Wunsch, sondern das Gewünschte. Mit anderen Worten: Zum Verständnis einer Handlung ist es elementar, den Wert zu verstehen, den der Akteur erstpersonal in seinem Handeln sieht. Dieser zeigt im Rahmen eines Werturteils (als Obersatz des praktischen Syllogismus) diejenige (zentrale) Handlungsbeschreibung an, unter der das Tun absichtlich ausgeführt wird.35 Um meine Handlung des
impliziere nämlich, so Davidson, stets die Existenz eines primären Grundes (vgl. Davidson 2002a, 6–8). 30Ebd., 4. 31Vgl. Henning 2016a, 51–54. 32Vgl. Davidson 2002a, 12–19. 33Vgl. Davidson 2002f; Davidson 2002g. 34Davidson 2002a, 3. 35Mit Anscombe kann man hier von der intention in action oder intention with which sprechen, die als abschließende Antwort der ‚Warum-Frage‘ das erstpersonale Gut der Handlung bestimmt (vgl. Anscombe 1963, §23–§26/37–47; Henning 2016a, 45–49; Börchers 2018, 100–110).
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Salbei-In-Den-Eintopf-Tuns zu verstehen, ist es also notwendig, den Wert zu verstehen, den ich dieser Handlung zuschreibe: Ich will den Geschmack des Eintopfs verbessern und das ist es, was mich zum Handeln motiviert. In diesem Sinne lässt sich die handlungswirksame Proeinstellung im praktischen Syllogismus auch als Wille bezeichnen, was die elementare normative Dimension derselben hervorhebt. Bloße Wünsche können wir bezüglich ein und derselben Handlung viele haben („Ich will ein Eis essen“, „Ich will die Sonne mit einem Eis genießen“, „Ich will meinem Sohn eine Freude machen“, „Ich will den Eisverkäufer kennenlernen“ usw.), aber nur einer davon (oder eine spezifische Kombination derselben) ist ursächlich für die Handlung und nimmt damit den Platz der ersten Prämisse im praktischen Syllogismus ein: „Ich kaufe ein Eis, weil ich meinem Sohn eine Freude machen will. Das ist der Grund meiner Handlung. Alles andere ist nebensächlich.“ Die Bestimmung des Willens als handlungswirksamer Wunsch wird prominent von Harry Frankfurt ausgearbeitet: „[I]t is the notion of an effective desire – one that moves (or will or would move) a person all the way to action.“36 Mit dieser Bedeutung wird auch im Folgenden der Begriff ‚Wille‘ verwendet: als handlungswirksamer Wunsch, der die erste Prämisse des praktischen Syllogismus bildet und durch Angabe des erstpersonalen Werts die entscheidende Handlungsbeschreibung gibt, unter der die Handlung absichtlich ausgeführt wird.37 Wenn nun die entscheidende normative Funktion dem Willen zukommt, welche Rolle spielt dann die Überzeugung – „believing (or knowing, perceiving, noticing, remembering)“38 – als zweite Prämisse des praktischen Syllogismus? Eine Antwort gibt Christoph Halbig unter Rekurs auf die Überlegungen Davidsons: „Die motivationale Kraft des Paars von Überzeugung und Wunsch liege vielmehr beim Wunsch, während die Überzeugung diese Kraft lediglich in eine geeignete Richtung lenkt (die eben die Erfüllung des Wunsches verspricht).“39 Als Untersatz des praktischen Syllogismus ist die Überzeugung also (ganz im Geiste Aristoteles’) grundsätzlich dafür verantwortlich, den Willen mit der konkreten Handlungssituation zu verknüpfen. In diesem Sinne kann die Überzeugung als Minimalbeschreibung der auszuführenden Handlung verstanden werden, die angibt, wie der Wille des Akteurs in die Tat umgesetzt werden soll.40 Doch was ist die Minimalbeschreibung einer Handlung? Hierzu ein Beispiel:
36Frankfurt
1971, 8. nur inhaltlich steht dies letztlich in Einklang mit Davidsons Überlegungen, sondern auch terminologisch deutet er eine ähnliche, entscheidende Funktion des Willens an (vgl. Davidson 2002d, 35). Die zentrale explanatorische und normative Relevanz der ersten Prämisse eines praktischen Syllogismus betont schon Anscombe (vgl. Anscombe 1963, §23–§26/37–47; Henning 2016a, 47f.). 38Davidson 2002a, 3. 39Halbig 2016, 137. 40Entsprechend versteht auch Anscombe die zweite Prämisse eines praktischen Syllogismus als Benennung der „Mittel […], die der Handelnde unmittelbar ergreifen kann“ (Henning 2016a, 47). 37Nicht
2.1 Der praktische Syllogismus
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Klaus kontraktiert seine Muskeln. Klaus bewegt seine Hand. Klaus drückt die Klinke. Klaus öffnet die Tür. Klaus lüftet das Zimmer. Klaus erschreckt Schmitz. Klaus tötet Schmitz.41 Angenommen, all diese Beschreibungen referieren auf dasselbe Ereignis, so werden insbesondere zwei Dinge deutlich: Erstens fällt auf, dass Klaus seine Handlung wahrscheinlich nicht unter all diesen Beschreibungen absichtlich durchgeführt hat. Es kann zum Beispiel sein, dass er zwar die Tür öffnen und das Zimmer lüften, nicht aber Schmitz erschrecken und schon gar nicht ihn töten wollte. Seine Muskeln kontraktieren wollte Klaus sicher auch nicht. Welche Beschreibung ist nun aber für die Begründung der Handlung relevant? Mit Blick auf die vorangegangenen Ausführungen lässt sich sagen: Genau diejenige Handlungsbeschreibung, die Klaus’ Willen als handlungswirksamem Wunsch entspricht. Das könnte zum Beispiel der Wunsch sein, das Zimmer zu lüften. Unter dieser Beschreibung hat Klaus dann die Handlung absichtlich durchgeführt und sie nimmt den Platz der ersten Prämisse im praktischen Syllogismus ein. Diese Handlungsbeschreibung zu kennen, ist nicht nur handlungstheoretisch, sondern auch ethisch (zumindest mit Kant) elementar: Wollte Klaus nur das Zimmer lüften, war seine Handlung nicht verwerflich, sondern nur sehr unerfreulich. Wollte Klaus hingegen Schmitz töten, sieht die Sache anders aus. Zweitens fällt auf, dass kein Szenario denkbar scheint, in dem Klaus nicht die folgende Handlungsbeschreibung akzeptieren würde: Klaus bewegt seine Hand. Das soll nicht heißen, dass die Handbewegung stets der wesentliche Grund war, aus dem heraus Klaus die Handlung durchgeführt hat. Das wäre nur dann der Fall, wenn sich sein Wille allein auf die Handbewegung bezöge (und das ist im vorliegenden Fall kaum vorstellbar). In jedem (anderen) Fall ist die Handbewegung schlicht die minimalste Ausformulierung dessen, wie Klaus durch absichtliches Handeln seinen Willen umsetzt: Er lüftet das Zimmer, indem er die Tür öffnet. Er öffnet die Tür, indem er die Klinke drückt. Er drückt die Klinke, indem er seine Hand bewegt. Und stopp – bei Klaus’ Körperbewegung bricht die sukzessive Erläuterungskette ab:42 Wir sind bei derjenigen Beschreibung 41Es
handelt sich hierbei um die Abwandlung eines Beispiels von Joel Feinberg (vgl. Feinberg 1965, 146), das auch Davidson diskutiert (vgl. Davidson 2002b, 55). Beide Autoren bezeichnen das Phänomen, ein und dieselbe Handlung mehr oder weniger ausgeschmückt beschreiben zu können, als ‚Akkordeoneffekt‘. 42Man wird vielleicht einwenden, dass „Klaus kontraktiert seine Muskeln“ die Handlung in einem minimaleren Sinne beschreibe als „Klaus bewegt seine Hand“. Dies trifft in einem basalen Sinne natürlich zu. Aber im Rahmen des praktischen Syllogismus, also im Rahmen der Handlungsbegründung, geht es um diejenige Minimalbeschreibung, unter der die Handlung absichtlich ausgeführt wurde. Und im Gegensatz zu Klaus’ Handlung als Muskelkontraktion, die nur in absoluten Ausnahmefällen (wenn überhaupt) eine erstpersonal angemessene Handlungsbeschreibung darstellt, wird die Handbewegung in jedem denkbaren Szenario absichtlich von Klaus ausgeführt. Die Beschreibung von Handlungen als Körperbewegung bildet also vielleicht nicht die prinzipiell minimalste Beschreibung derselben, wohl aber die minimalste Formulierung, die sie als absichtlich auszeichnen kann (vgl. Davidson 2002d, 50–52). Falls Muskelkontraktion in irgendeinem exotischen Szenario diese Rolle einnehmen sollte, dann spricht nichts dagegen, sie in diesem Fall als Minimalbeschreibung und ipso facto als Körperbewegung aufzufassen. Wie Davidson verstehe auch ich Körperbewegungen in einem weiten Sinne, sodass etwa auch geistige
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2 Computerspielen als Handeln
gelandet, die nach Davidson eine „primitive action“43 verkörpert „in the sense that they cannot be analysed in terms of their causal relations to acts of the same agent“44. Mit anderen Worten: Primitive Handlungen führen wir nicht mehr aus, indem wir eine andere Handlung ausführen. Sie bilden den Endpunkt der Handlungserläuterung, weil es keinen Sinn macht, weiter nach dem ‚Wie‘ zu fragen. Die Frage, ob Klaus absichtlich seine Hand bewegt habe, wird er in jedem Falle bejahen. Er wird wahrscheinlich ergänzen, dass dies nicht der Grund seiner Handlung gewesen sei, sondern dass er das Zimmer lüften wollte. Nichtsdestotrotz wird er die Beschreibung seiner Handbewegung als angemessene Beschreibung seiner Handlung akzeptieren und zwar deswegen, weil sie die Minimalfassung dessen ist, wie ein Akteur seinen Willen in einer konkreten Situation zu verwirklichen sucht: durch eine Körperbewegung. Es lässt sich schließen, dass die Minimalbeschreibung der Handlung als absichtliche Körperbewegung den Inhalt der Überzeugung eines Akteurs darstellt und somit den Platz der zweiten Prämisse eines praktischen Syllogismus einnimmt. Die absichtlich durchgeführte Körperbewegung ist das Mittel eines Akteurs, seinen Willen in die Tat umzusetzen. Zur umfassenden Erläuterung einer Handlung bleibt an dieser Stelle nur noch die Verbindung zwischen Willen und Minimalbeschreibung zu klären: Welche Elemente sind angestrebtem Gut und Körperbewegung zwischengeschaltet? Wie gelangt der Akteur vom Willen zur Handlung? Eine sukzessive Antwort auf die Frage nach dem ‚Warum‘ bildet eine Begründungskette, welche die Handlung einer Person vollumfänglich erläutert.45 Von der Körperbewegung ausgehend kann durch eine Relation des ‚Um-Zu‘ die Handlung bis zum Willen zurückgeführt werden; am Beispiel von Klaus: Warum tut Klaus das? Er bewegt seine Hand, um die Klinke zu drücken, um die Tür zu öffnen, um das Zimmer zu lüften. In umgekehrter Richtung lässt sich, wie wir bereits gesehen haben, die Handlung durch eine Relation des ‚Indem‘ erschließen: Wie verwirklicht Klaus seinen Willen? Er will das Zimmer lüften, indem er die
Handlungen (wie das Berechnen von Gleichungen oder diverse Fälle von Unterlassungen) als solche gezählt werden (vgl. Davidson 2002b, 49). 43Davidson 2002b, 49. 44Ebd. 45Vgl. Anscombe 1963, §26/45–47; Henning 2016a, 46f.; Börchers 2018, 102–104. Um ein letztes Mal über die kausale Rolle von Gründen zu sprechen: Auf eine ‚Warum‘-Frage bezüglich des Grundes einer Handlung wird naturgemäß mit einer ‚Weil‘-Antwort reagiert. Dieses Verhältnis zwischen Grund und Handlung impliziert eine kausale Relation, was an Davidsons Überlegungen hinsichtlich der Doppelfunktion praktischer Syllogismen deutlich wurde: „Central to the relation between a reason and an action it explains is the idea that the agent performed the action because he had the reason“ (Davidson 2002a, 9) – der beste Kandidat zur Erläuterung dieses ‚because‘ ist Kausalität; eine logische Konklusion aus Prämissen kann keine Relation von Ereignissen, sondern nur von Aussagen erläutern. Die Explikation dieses Kausalverhältnisses mit physikalischem Vokabular ist aber für das Handlungsverstehen als Rationalisierung wie gesagt auch für Davidson nicht entscheidend (vgl. ebd., 15–17).
2.2 Drei Arten von Computerspielhandlungen
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Tür öffnet, indem er die Klinke drückt, indem er seine Hand bewegt.46 Die vorangegangenen Überlegungen ergeben zusammengenommen ein ausführliches Bild einer Handlung: 1. Wille: Erstpersonaler Wert der Handlung („Klaus will das Zimmer lüften…“) [Erläuterungskette: „…indem er die Tür öffnet…“ „…indem er die Klinke drückt…“] 2. Minimalbeschreibung: Körperbewegung („…indem er seine Hand bewegt“) 3. Handlung
Diese Variante des praktischen Syllogismus ist nicht dazu geeignet, etwas über den grundlegenden Zusammenhang zwischen Gründen und Handlungen zu verraten. Dem steht schon die Inkongruenz entgegen, dass sich in den Prämissen auf die intensionale, in der Konklusion aber auf die extensionale Dimension von Handlungen bezogen wird. Mir geht es um die Analyse und Begründung von Handlungen und nicht um eine Deduktion von Urteilen über Handlungen, weswegen die Konklusion nicht ein solches Urteil, sondern die Handlung selbst verkörpert. Für die Handlungsbegründung ist erstens deren normative Dimension entscheidend, die durch den Willen exemplifiziert wird, und zweitens die Rückführung auf eine Körperbewegung, welche die Umsetzung des Willens in einer konkreten Handlung nachvollziehen lässt. Für die vollständige Erläuterung einer Handlung ist schließlich die Verbindung zwischen erster und zweiter Prämisse relevant. Mit diesem differenzierten Begriffsrepertoire und obigem Modell ist es nun möglich, eine schlanke, fundierte und differenzierte handlungstheoretische Analyse von Computerspielhandlungen durchzuführen.
2.2 Drei Arten von Computerspielhandlungen a) Maria verändert Binärcodes. b) Maria drückt Knöpfe. c) Maria besiegt Peter. d) Maria spielt ein Spiel. e) Maria schießt ein Tor. f) Thomas Müller schießt ein Tor. Angenommen, all diese Beschreibungen referieren auf dasselbe Ereignis: Maria spielt gegen Peter die Fußballsimulation Fifa 19 auf einer Spielkonsole und hat mit einer dem Fußballprofi Thomas Müller nachempfundenen Spielfigur das entscheidende Tor geschossen. Dass ein und dieselbe Handlung auf verschiedene
46Vgl.
Börchers 2018, 102–104.
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2 Computerspielen als Handeln
Weisen beschrieben werden kann, ist kein Alleinstellungsmerkmal von Computerspielhandlungen. Im Gegenteil kann Beschreibungsrelativität, wie im vorigen Kapitel deutlich wurde, als ein zentrales Merkmal von Handlungen aller Art gelten. Nun ist entscheidend, unter welcher Beschreibung die Handlung absichtlich ausgeführt wurde. Mit anderen Worten: Warum hat Maria das getan? Welche Beschreibung würde sie wählen, um ihre Handlung als vernünftig auszuzeichnen? Welche Beschreibung verkörpert den Willen Marias? Die Beantwortung dieser Frage ist für die Klärung dessen, was wir eigentlich tun, wenn wir Computerspiele spielen, elementar. Zur Erinnerung: Im Rahmen einer Handlungserklärung geht es nicht darum, Ereignisse physikalisch zu individuieren oder ein striktes Kausalgesetz zu finden, das Hirnaktivitäten, Muskelkontraktionen und Codeverschiebungen zueinander in Beziehung setzt. Durch dieses Verfahren ließe sich im Bestfall eine konsistente Eingliederung von Handlungsereignissen in eine physikalische Theorie des Universums erreichen, nicht aber ein tieferes Verständ nis von Handlungen als absichtlichen Aktivitäten gewinnen. Damit eine Handlung als Handlung verständlich wird, müssen wir auf normativer Ebene die Gründe verstehen, die erstpersonal für dieselbe sprechen und aus denen heraus sie ausgeführt wird. Dies ist ein zentrales Ergebnis des vorangegangenen Kapitels. Mit diesen grundlegenden Überlegungen im Hinterkopf scheinen die Handlungsbeschreibungen a) und b) denkbar ungeeignet, um die Computerspielhandlung Marias zu rationalisieren. Nur in Ausnahmefällen können wir uns vorstellen, dass Marias Wille in Ausführung ihrer Handlung auf a) oder b) gerichtet ist. Unter Beschreibung a) ist ein Szenario denkbar, in dem Maria als Entwicklerin Fifa 19 programmiert oder als ‚Cheaterin‘ den Maschinencode derart zu manipulieren sucht, dass der Schuss des fiktiven Thomas Müllers auf jeden Fall ins Tor geht. Dies sind denkbar exotische Formen des Interagierens mit Computerspielen, denen die Bezeichnung ‚Spielen‘ unangemessen scheint.47 Handlungsbeschreibung b) ist eher dazu geeignet, den Sinn von Computerspielhandlungen zu erläutern; etwa im Rahmen von Kampfspielen wie Tekken 7, bei denen Spieler diverse Sequenzen verschiedener Knopfdruck-Kombinationen auswendig lernen können, um ihre Gegner mit komplexen und kaum abwehrbaren Angriffen zu besiegen. Im Falle von Maria könnte man sie sich unter b) auch als Anfängerin vorstellen, die jeden Knopfdruck bewusst ausführen muss, da sie zum ersten Mal mit Fifa 19 und seinen Regeln konfrontiert wird. Generell muss man aber auch hier festhalten, dass es sich eher um Ausnahmefälle des Computerspielens handelt. Obwohl jeder Spieler selbstverständlich bestimmte Tastenkombinationen zunächst einmal lernen muss, um ein Computerspiel spielen zu können, spricht vieles dafür, diese
47In
diesem Zusammenhang betont auch Börchers, „dass alle Überlegungen, die darauf hinaus gehen, das Problem des ungeklärten Wirklichkeitscharakters von Computerspielen reduktiv zu klären, indem behauptet wird, dass man, wenn man Computer spielt, in einem eigentlichen Sinn oder ‚in Wirklichkeit‘ nicht mehr tut, als mit dem Programm-Code zu interagieren oder Nullen und Einsen zu verschieben oder physikalische Zustände im Prozessor und den Speicherchips des Computers zu verändern, von vornherein hoffnungslos sind“ (Börchers 2018, 111).
2.2 Drei Arten von Computerspielhandlungen
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Lernprozesse nicht als mustergültige Computerspielhandlungen aufzufassen: Der Angriff in Tekken 7 kann als solcher erst gelingen, wenn entsprechende Tastenkombinationen in ‚Fleisch und Blut‘ übergegangen sind und nicht mehr über sie nachgedacht wird; wenn ein Spieler angreifen und nicht bestimmte Knöpfe in der richtigen Reihenfolge drücken will. Maria kann erst dann wahrhaft gegen Peter Fifa 19 spielen (und nicht nur zu spielen versuchen), wenn sie die Regeln begriffen hat; wenn sie tatsächlich Tore schießt und nicht bloß die Kreistaste drückt, was sich zufällig auch als Torschuss beschreiben lässt. Die Handlungsbeschreibungen a) und b) werfen keine handlungstheoretischen Rätsel auf. Sie beschreiben – sollten sie für den primären Grund Marias wesentlich sein – prima facie keine Spielhandlungen im engeren Sinne, denn sie lassen sich erläutern, ohne auf spielinterne Geschehnisse Bezug nehmen zu müssen. Unter Beschreibung a) könnte Maria ihre Handlung sinnvoll damit begründen, diverse Vorgänge auf Codeebene nachvollziehen zu wollen. Unter Beschreibung b) könnte sie die Handlung ausgeführt haben, um die Funktionsweise des Controllers zu testen. Dies sind Rationalisierungen der jeweiligen Handlung, die keiner weiteren Information bedürfen, also ohne jeglichen Bezug auf Fifa 19 verständlich sind. Maria hätte jedes Spiel oder auch gar kein Spiel spielen können: Was auf dem Bildschirm geschieht, ist unter a) und b) tendenziell irrelevant. Anders verhält sich dies mit den Beschreibungen c) bis f): Während die Erläuterungen von Marias Handlung unter c) und d) mindestens die Bezugnahme auf Fifa 19 als Computerspiel fordern, verkörpern e) und f) explizit spielintern durchgeführte Handlungen und können von Maria ausschließlich unter Bezugnahme auf das Spielgeschehen gewollt werden. Paradoxerweise scheint auf den ersten Blick die Rationalisierung der Handlung unter f) sogar ohne Bezug auf Maria als Akteurin möglich zu sein, indem sich allein auf den (fiktiven) Willen des (fiktiven) Thomas Müller bezogen wird. Diese Fälle geben Rätsel für die Handlungstheorie auf. Börchers bezeichnet das Phänomen am Beispiel eines Rennspiels als ‚Seltsamkeit‘ von Computerspielhandlungen, die darin bestehe, „dass man die Arm- und Joystickbewegung vor dem Computer damit erläutert, dass man einem Baum im Computerspiel ausweicht“48, wodurch die Erläuterung von Computerspielhandlungen einen „Sprung in den Realitätsebenen“49 vollziehe. Börchers’ ‚Sprung‘ ist nicht so gemeint, dass man bei der Erklärung von Computerspielhandlungen auf substanzdualistisch getrennte Welten der ‚Fiktion‘ und der ‚Wirklichkeit‘ Bezug nehmen müsse. Im Gegenteil: Bei der wirklichen Handlung, Knöpfe auf einem Controller zu betätigen, und der fiktionalen Handlung des Torschießens handelt es sich um extensional identische Ereignisse. Nur so lässt sich das Geschehen als begründbare Handlung verstehen. In diesem Kontext ist die Beschreibung unter b) relevant; nicht als Verkörperung des Willens von Maria, sondern als Minimalbeschreibung ihrer Handlung: als absichtliche Körperbewegung. Denn prinzipiell lässt sich jede
48Ebd., 49Ebd.
114.
2 Computerspielen als Handeln
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Computerspielhandlung als Körperbewegung des Knöpfedrückens verstehen.50 Das ist die Gemeinsamkeit der Beschreibungen c) bis f) und ein entscheidendes Merkmal von Computerspielhandlungen insgesamt. Was differiert, sind die normativen Bestimmungen der Handlungen; der Wille, der sich einerseits auf das spielinterne Geschehen bezieht, andererseits aber ohne spielexterne Bezüge nicht verständlich ist: Das Spielhandeln ruft zu seiner Erklärung notwendig Vokabular auf, das auf Begriffe, Tätigkeiten und Fähigkeiten verweist, die ihren primären Ort in der außerspielerischen Wirklichkeit haben, oder sich zumindest von solchen ableitet. Man würde nicht verstehen, was ich spielend tue, gäbe es keine Vertrautheit mit den entsprechenden Aktivitäten in der Welt jenseits des Spiels – und doch ist die Spielhandlung keine von diesen Aktivitäten, sondern eben eine andere Aktivität in unserer Lebenswelt: das Spielen eines bestimmten Computerspiels.51
In jeder handlungstheoretischen Analyse von Computerspielhandlungen muss also zum einen verständlich werden, in welchem Sinne jemand nicht so handelt, wie er spielt: in welchem Sinne Maria kein Tor schießt, sondern Knöpfe drückt. Zum anderen muss aber auch deutlich werden, in welchem Sinne jemand so handelt, wie er spielt. Um zu verstehen, was Maria eigentlich tut, reicht es nicht, die Handlung auf Basis der Wirklichkeit zu beschreiben. Um zu begreifen, dass Maria mit Peter spielt und gegen ihn gewinnt, indem sie mit Thomas Müller ein Tor schießt, braucht es einen Wechsel der Beschreibungsebene: auf die Ebene der Fiktion.52 50Freilich
existieren einige Computerspiele, die nicht auf Knopfdruck reagieren, sondern auf Gestik, Bewegung oder Sprache. Das ändert allerdings nichts an meiner handlungstheoretischen Analyse im Ganzen. ‚Knöpfedrücken‘ sei in diesen Fällen schlicht durch eine alternative spielsteuernde Körperbewegung ersetzt. Die Bestimmung von ‚Knöpfedrücken‘ als Minimalbeschreibung typischer Computerspielhandlungen unterstreicht ein interessantes Spezifikum derselben: Jedem Spieler ist die Minimalbeschreibung seiner Handlung als Knöpfedrücken sofort ersichtlich. Es verkörpert das wesentliche Mittel von Spielern, ihre (Spiel-)Zwecke zu erreichen. Eine minimalere Beschreibung – als Finger- oder Handbewegung etwa – scheint uns beim Spielen ‚zu nah‘ zu sein, um als zweite Prämisse im praktischen Syllogismus fungieren zu können (vgl. ebd., 111). Was bei Klaus’ Lüften die Beschreibung als Muskelkontraktion ist, ist bei den allermeisten Computerspielhandlungen die Beschreibung als Fingerbewegung. 51Ebd., 114. 52Prominent betonen schon Juul und Tavinor die elementare Rolle der Fiktion mit Blick auf Computerspiele. Juul bezeichnet Computerspiele als ‚half-real‘ und verweist damit auf deren Doppelnatur zwischen ‚wirklichen Regeln‘ und fiktiven, imaginierten Ereignissen: „Video games are a combination of rules and fiction. Rules are definite descriptions of what can and cannot be done in a game, and they provide challenges that the player must gradually learn to overcome. Fiction is ambiguous – the game can project more or less coherent fictional worlds that the player then may imagine“ (Juul 2005, 197). Auch Tavinor betont diesen Zusammenhang, allerdings nimmt hier physische Interaktion den Platz der ‚wirklichen Regeln‘ von Juul ein: „Videogames, because of their robust and contingent digital media, are interactive fictions in two senses: their props engage players in an ongoing physical interaction, and they allow the player to fictionally step into an imaginary world“ (Tavinor 2009, 33). Obwohl beide Autoren zurecht auf die Bedeutsamkeit der Fiktion und ihre wichtige Beziehung zur Imagination des Spielers verweisen, sind sie zu unpräzise, wenn es um die Rolle der Wirklichkeit und deren konstitutiven Zusammen-
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Um also die Handlungsbeschreibungen c) und d) zu verstehen, muss klar werden, inwiefern Maria ein Spiel spielt und sich in ihrem Handeln auf eine Fiktion bezieht. Für das Verständnis von e) und f) scheint darüber hinaus elementar zu sein, dass Marias Handlung in irgendeiner Weise innerhalb der Fiktion angesiedelt ist. In den folgenden Kapiteln gilt es, Licht in diese dunklen Zusammenhänge zu bringen.
2.2.1 Virtuelle Handlungen Marias Handlung unter der Beschreibung c) könnte durch den folgenden praktischen Syllogismus rationalisiert werden: 1. Wille: „Ich will Peter besiegen…“ [„…indem ich ein Tor schieße…“] 2. Minimalbeschreibung: „…indem ich die Knöpfe xyz drücke.“ 3. Handlung
Aus dieser Darstellung lassen sich einige Schlüsse ziehen. Marias Computerspielhandlung gleicht formal einer gewöhnlichen Handlung: Ohne Probleme lässt sich der praktische Syllogismus unter Angabe des erstpersonalen Werts in der ersten Prämisse und der Körperbewegung in der zweiten Prämisse konstruieren. Es werden drei Handlungsbeschreibungen angegeben, unter denen Maria ihre Handlung c) absichtlich ausgeführt hat: i) „Maria besiegt Peter“, ii) „Maria schießt ein Tor“ und iii) „Maria drückt die Knöpfe xyz“. Die erste und dritte Beschreibung referieren als Angaben des erstpersonalen Werts (i) und der Körperbewegung (iii) auf die Wirklichkeit, die zweite Beschreibung, als Übergang des Willens zur Minimalbeschreibung (ii), auf das Spielgeschehen. Ohne diesen Übergang wäre die Handlungserläuterung unvollständig: Es bliebe unklar, wie Maria Peter besiegt. Ihr angestrebter Sieg wird als solcher nur verständlich unter Verweis auf das Spielgeschehen. Ohne Beschreibung ii) wäre nicht klar, dass wir es bei der beschriebenen Handlung mit einer Spielhandlung zu tun haben, denn sowohl i) als auch iii) geben dafür keinen Hinweis. Maria könnte Peter ohne ii) auch im Kontext
hang zur Fiktion geht. Ich würde erstens bezweifeln, dass die ‚wirkliche‘ Seite von Computerspielen hinreichend durch ‚wirkliche Regeln‘ oder ‚physische Interaktion‘ erläutert werden kann. Zweitens sollten Computerspiele und Computerspielhandlungen grundsätzlich nicht als diffuse ‚Mischwesen‘ aus Fiktion und Wirklichkeit verstanden werden. Dagegen muss vielmehr deutlich werden, inwiefern Computerspiele und Computerspielhandlungen mit einer Terminologie des Fiktionalen bzw. des Physikalischen angemessen beschrieben werden können und welche Erträge die jeweiligen Erklärungsmuster für das in Frage stehende Phänomen bringen (siehe die Abschnitte 2.2.2, 2.2.3 und 3.2.1).
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2 Computerspielen als Handeln
eines Drohnenkriegs durch einen Knopfdruck ‚besiegen‘ wollen. Diese Art von Knopfdruck (und auch diese Art von Sieg) unterscheidet sich aber massiv von dem, was Maria beim Spielen von Fifa 19 tut – nicht nur moralisch. Die zentrale Differenz liegt in der Erläuterungskette, die sich in letzterem Fall mit ii) auf eine Fiktion beruft – während im Falle des Drohnenkriegs von Fiktion keine Spur ist. Nun könnte man einwenden, das Beispiel des Drohnenkriegs sei schlecht gewählt, denn es handle sich dabei um ein von einem Fifa 19-Spiel grundlegend verschiedenes Ereignis, das ganz andere kausale Prozesse involviere. Ebenso könne man feststellen, das Spielen von Fifa 19 sei kein gewalttätiger Mord: Die Analogie sei nicht informativ! Der Einwand ist triftig. Das einfache Beispiel sollte lediglich andeuten, welche grundlegende normative Rolle die Fiktion in Spielhandlungen einnimmt. Nun folgt ein etwas komplizierteres Beispiel, das diesen Punkt schärfer umreißt: Es soll zeigen, dass die Differenz von Computerspielhandlungen und extensional identischen Nicht-Computerspielhandlungen allein auf dem erstpersonalen Bezug zur Fiktion gründet – und die physische Ereignisebene damit nichts zu tun hat. Angenommen, Maria ist ein Kleinkind und hat noch nie ein Computerspiel gespielt: Sie weiß mit einem Controller nichts anzufangen und versteht auch nicht die Zusammenhänge auf dem Bildschirm. Anders als Peter, der bereits täglich mit Spielekonsolen zu tun hat. Im Kindergarten ist Peter ein Rivale von Maria: Er stört sie regelmäßig im Bastelraum oder in der Leseecke und konkurriert mit ihr um den besten Platz neben dem Erzieher. Marias große Schwester weiß von dieser Fehde. Als eines Tages die Eltern Peters die befreundeten Eltern Marias besuchen, gelangt Peter in das Zuhause von Maria. Maria, besorgt um eine Degradierung im eigenen Heim, bittet ihre große Schwester ihr zu helfen, Peter eine Lektion zu erteilen. Die große Schwester weiß, dass Peter gerne Computerspiele spielt und stets auf das Gewinnen aus ist. Es wäre eine Schmach für ihn, würde er in Fifa 19 verlieren. Also holt die große Schwester die beiden Kinder in ihr Zimmer und startet die Spielekonsole. Sie stellt das Spiel so ein, dass ein Tor zum Sieg genügt: Golden Goal. Maria versteht von alledem nichts: Sie weiß nicht, dass ihre große Schwester gerade ein Spiel startet, sie sieht nur, dass der Fernseher eingeschaltet wird. Um die Sache zu vereinfachen, erklärt ihr die große Schwester, dass es genüge, die Kreistaste auf dem Gerät (dem Controller) im richtigen Moment zu drücken, um gegen Peter zu gewinnen. Und Maria will gegen Peter gewinnen – auch wenn sie nicht weiß, in was oder wie sie gegen ihn gewinnt. Sie vertraut ganz auf ihre Schwester. Diese spielt nun gegen Peter Fifa 19, bis sie mit Thomas Müller vor dem Tor steht. „Jetzt!“, ruft die große Schwester. Und Maria besiegt Peter (i), indem sie die Kreistaste drückt (iii). Das ist freilich ein sehr exotisches Beispiel. Aber die Prämissen von Marias praktischem Syllogismus gleichen den obigen Prämissen. Auch die resultierende Handlung als Ereignis ist extensional analog: Dieselben Muskeln werden kontraktiert, dieselben Binärcodes werden verschoben, dasselbe Spielgeschehen wird digital angezeigt. Doch in dem einen Fall spielt Maria, in dem anderen Fall drückt sie lediglich einen Knopf, obwohl sie in beiden Fällen gewinnt und gewinnen will. Der Unterschied liegt in der Begründungsrelation zwischen den
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Prämissen: Im ersten Fall ist diese auf eine Fiktion, auf das Spielgeschehen von Fifa 19 bezogen: „…indem ich ein Tor schieße…“. Im zweiten Fall haben wir ein Ereignis, das äußerlich zwar den Anschein einer Computerspielhandlung erweckt, erstpersonal aber nicht als solche ausgezeichnet und demnach keine Computerspielhandlung ist: Maria weiß nicht, dass sie spielt. Sie weiß nur, dass sie durch einen Knopfdruck Peter besiegt (indem sie auf ihre Schwester hört, nicht: indem sie ein Tor schießt). Daher spielt Maria hier nicht, denn sie bezieht sich in ihrem Handeln nicht auf eine Fiktion.53 Hiermit ist ein weiteres entscheidendes Merkmal von Computerspielhandlungen gefunden: Sie müssen im praktischen Syllogismus einen Bezug zur Fiktion aufweisen, um als Spielhandlungen verständlich zu sein.54 Dieser Bezug wird erstpersonal ausgewiesen. Das heißt: Sobald der Spieler selbst Aspekte seines Handelns als Fiktion versteht, bezieht er diese in seine Rationalisierung mit ein. Daraus folgt, dass eine fiktionstheoretische Einordnung des Computerspiels (als Gegenstand) für die fiktionstheoretische Einordnung des Computerspielens (als Handlung) nur eine untergeordnete Rolle spielt. Zum Beispiel kann zwar darüber gestritten werden, ob Tetris fiktional ist oder bloß ‚abstrakt‘, doch diese Diskussion ist nicht entscheidend für die Frage, ob sich eine Spielerin von Tetris beim Handeln auf eine Fiktion bezieht oder nicht.55 Letzteres hängt primär von der Spielerin und 53Eine
Handelnde muss in irgendeiner Form wissen, was sie tut. Und dieses Wissen bestimmt die Handlung. Das hebt insbesondere Anscombe unter Rekurs auf praktisches Wissen hervor (vgl. Anscombe 1963, §45/82f.; Henning 2016a, 54; Börchers 2018, 104–106), aber auch Davidson greift diesen Aspekt im Rahmen seiner Besprechung von Überzeugungen auf (vgl. Davidson 2002e, 91–96). In den diskutierten Fällen weiß Maria zwar jeweils, dass sie gewinnt, das Wissen darum, wie sie den Sieg erringt, ist allerdings je nach Situation ganz verschieden und wirkt sich auf ihre Rationalisierung aus. In diesem Zusammenhang ließe sich einwenden, dass die Fälle nicht identisch seien, weil sich die Bedeutung von ‚Gewinnen‘ in den Beispielen unterscheide und Maria je nach Fall etwas ganz Anderes erreichen wolle. So ist erste Bedeutung von ‚Gewinnen‘ genuin spielintern und allein auf einen spielerischen Sieg bezogen. Dieses Gewinnen kann somit nur beim Spielen gewollt werden. In der zweiten Bedeutung kann das Gewinnen auch außerhalb eines Spiels gewollt werden, weil es hier primär um den Wunsch nach Überlegenheit gegenüber einem Kontrahenten geht. Um die diskutierten Beispiele analog zu halten, sei also angenommen, dass für Maria in jedem Fall die zweite Lesart von ‚Gewinnen‘ im Zentrum steht, die innerhalb wie außerhalb des Spielens gewollt werden kann. Somit unterscheidet nach wie vor allein der Bezug zur Fiktion – und nicht der Wille Marias – die Fälle. Ich danke Sebastian Ostritsch für den Hinweis auf die unterschiedlichen Lesarten. 54Meine oftmals synonyme Verwendungsweise von ‚Spiel(en)‘ und ‚Computerspiel(en)‘ in dieser Untersuchung deutet an, dass die zentralen Erkenntnisse meiner Analyse nicht nur für Computerspiele, sondern für Aktivitäten des Spielens allgemein geltend gemacht werden können. Ich kann auf diese Vermutung nicht tiefer eingehen, glaube aber, dass sie wahr ist. Für kritische Leser sei meine Verwendung von ‚Spiel(en)‘ stets als ‚Computerspiel(en)‘ verstanden. 55Ich setze den Begriff ‚abstrakt‘ in Anführungszeichen, wenn ich mich damit auf die Darstellungsform eines ästhetischen Gegenstandes beziehe; in diesem Sinne können etwa auch Gemälde oder Filme ‚abstrakt‘ (oder kitschig oder realistisch usw.) sein. Ohne Anführungszeichen verwende ich den Begriff, wenn ich mich auf den ontologischen Status von Entitäten beziehe; in diesem Sinne sind beispielsweise Zahlen abstrakt. Bei der Diskussion in der Spieleforschung, ob Tetris fiktional oder bloß ‚abstrakt‘ sei, wird sich vorrangig auf die erste Lesart bezogen. Warum sollte aber das Attribut ‚abstrakt‘ das Attribut ‚fiktional‘ ausschließen? Diesbezüglich vertrete
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von ihrem Verständnis des eigenen Handelns ab. Marias Handlungen unter den Beschreibungen a) und b) etwa implizieren dieses Verständnis nicht. Im Falle von Handlungsbeschreibung c) jedoch besteht eine entsprechende erstpersonale Bezugnahme auf die Fiktion, wenn auch versteckt: Sie kommt erst zum Vorschein, wenn Maria die Begründungsrelation zwischen Wille und Körperbewegung expliziert. Ihr Wille als solcher (und natürlich auch ihre Körperbewegung) ist zwar auf die Wirklichkeit gerichtet – sie will (wirklich) gewinnen. In der tiefergehenden Erläuterung ihrer Handlung jedoch bezieht sich Maria auf die Fiktion eines Fußballspiels: Sie schießt ein Tor. Aus den vorangegangenen Ausführungen kristallisieren sich zwei wichtige Merkmale der diskutierten Handlungsart heraus: Erstens wird sich in der Erläuterungskette auf eine Fiktion bezogen, zweitens zielt der Wille auf die Wirklichkeit. Dadurch kommt dieses Spielverhalten gewöhnlichen Handlungen recht nahe. Maria nimmt gewissermaßen nur einen Umweg über eine Fiktion, um ihren wirklichen Zweck zu erreichen: Peter zu besiegen. Es ließe sich vielleicht sogar konstatieren: Maria spielt eigentlich gar nicht! Dieser Verdacht wird auf den ersten Blick durch unseren typischen Umgang mit entsprechendem Spielerverhalten fundiert: Wer kennt sie nicht, die Spieler, denen es nur um ein Profilieren durch das Gewinnen geht und die ein Spiel abbrechen (wollen), wenn dies nicht mehr möglich ist? Diesen Spielern wird oft vorgeworfen, sie würden sich nicht auf das Spiel einlassen, sie seien Spielverderber. Mit obigem Modell lässt sich der Vorwurf präzisieren: Die Fiktion dient ihnen weniger als elementarer Bezugspunkt, als vielmehr nur als Aspekt der Handlung. Sie arbeiten mit ihrem Spielhandeln auf wirkliche, nicht auf Spiel-Ziele hin. Diese Art von Computerspielhandlungen nenne ich virtuelle Handlungen. Sie zeichnet aus, dass sie grundsätzlich nicht nur formal, sondern auch inhaltlich gewöhnlichen Handlungen ähneln: Der Wille ist auf die Wirklichkeit gerichtet und die Minimalbeschreibung umfasst eine absichtliche Körperbewegung. Der entscheidende Unterschied liegt in dem Schlenker, den eine virtuelle Handlung, entgegen einer gewöhnlichen Handlung, über eine Fiktion nimmt. Die Vermutung, dass es sich bei virtuellen Handlungen nicht um Spielhandlungen im eigentlichen Sinne handle, möchte ich allerdings zurückweisen: Ich spiele auch dann eine Runde Fifa 19 gegen meinen Bruder, wenn es mir (nur) ums Gewinnen geht. Ich spiele auch dann The Witcher 3: Wild Hunt, wenn ich meiner Frau eine bestimmte Landschaft aus dem Spiel zeigen will. Ich spiele
ich – entgegen der gängigen Auffassung, Tetris und ähnlich ‚abstrakte‘ Computerspiele bildeten keine Fiktionen (vgl. Juul 2005, 130–133; Tavinor 2009, 24) – einen breiten Fiktionsbegriff, der Spiele jeglicher Art als fiktionale Werke versteht, denn jedes Spiel konstituiert qua Spiel eine Realitätsebene, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt und auf die man sich einlassen muss, um wahrhaft spielen zu können: eine fiktionale Ebene, bestimmt durch Spielregeln statt durch Naturgesetze (auf meinen Fiktionsbegriff werde ich in Abschnitt 3.2.1 vertiefend eingehen).
2.2 Drei Arten von Computerspielhandlungen
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auch dann Fortnite, wenn ich auf der Weltrangliste Platz eins erreichen will. Das belegt der geläufige Sprachgebrauch. Nichtsdestotrotz lohnt es sich, den Blick zum Abschluss dieses Kapitels auf einen engeren Sinn von Spielhandlungen zu richten. Schon Kant verweist bezüglich des Umgangs mit dem Kunstschönen auf das „freie[] Spiel[] der Vorstellungskräfte an einer gegebenen Vorstellung zu einem Erkenntnisse überhaupt“56, in dem „kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt“57, wodurch eine zweckfreie, „subjektive allgemeine“58 Erfahrung möglich sei. Schiller präzisiert, dass unser Sprachgebrauch „alles das, was weder subjektiv noch objektiv zufällig ist, und doch weder äußerlich noch innerlich nöthigt, mit dem Wort Spiel zu bezeichnen pflegt.“59 Spielhandlungen in diesem engeren Sinne sind also dadurch ausgezeichnet, dass sie, als geregelte (nicht zufällige) und gleichzeitig freie Handlungen, nicht unter der Nötigung äußerer Zwecke stehen. Das legt nahe, dass es für die Aktivität des genuinen Spielens gerade nicht ausreicht, irgendwie Fiktion zu involvieren, sondern dass zusätzlich der Wille beim Spielen nicht auf einen spielexternen Zweck zielen dürfe. In dieselbe Kerbe schlägt Huizinga: Dieses Etwas, das nicht das „gewöhnliche Leben“ ist, steht außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden, ja es unterbricht diesen Prozeß. Es schiebt sich zwischen ihn als eine zeitweilige Handlung ein. Diese läuft in sich selbst ab und wird um der Befriedigung willen verrichtet, die in der Verrichtung selbst liegt.60
Die Aktivität, die Schiller und Huizinga beschreiben, kann als Reinform des Spielens begriffen werden. Es handelt sich um eine Praxis, die nicht auf spielexterne Handlungsformen oder Zwecke reduzierbar ist. Diesen Punkt führt Huizinga sehr anschaulich aus: Man kann zwar im Deutschen „ein Spiel treiben“ […], das eigentlich zugehörige Zeitwort aber ist Spielen selbst. Man spielt ein Spiel. Mit anderen Worten: um die Art der Tätigkeit auszudrücken, muß der im Substantiv enthaltene Begriff wiederholt werden, um das Verbum zu bezeichnen. Das bedeutet allem Anschein nach, daß die Handlung von so besonderer und selbstständiger Art ist, daß sie aus den gewöhnlichen Arten von Betätigung herausfällt: Spielen ist kein Tun im gewöhnlichen Sinne.61
Das bedeutet nicht, dass ‚reine‘ Spielhandlungen nicht auch Handlungen sind. Sie sind Handlungen, die durch einen besonderen Bezug zu Fiktionen ausgezeichnet sind. Es bedeutet auch nicht, dass Spielhandlungen derart selbstgenüg-
56KdU,
B 28/132.
57Ebd. 58Ebd.,
B 29/132. 2013, 15. Brief/60. 60Huizinga 2015, 17. 61Ebd., 48. 59Schiller
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2 Computerspielen als Handeln
sam sind, dass man beim Spielen keinerlei (andere) Zwecke verfolgt.62 Auch in Reinformen des Spielens, etwa beim Sandkastenspiel von Kindern, sind natürlich Zwecke involviert – zum Beispiel das Backen eines (Sand-)Kuchens. Die Zwecke dieser reinen Spielhandlungen sind aber dadurch ausgezeichnet, dass sie innerhalb des Spielgeschehens gesetzt sind: Sie sind, mit anderen Worten, fiktional. Bei virtuellen Handlungen handelt es sich somit nicht um reine Spielhandlungen, denn Marias Zweck, gegen Peter zu gewinnen, ist ein spielexterner Zweck ‚gewöhnlicher Arten von Betätigung‘. Da Marias Ziel allerdings wesentlich durch das Spielen von Fifa 19 erreicht wird, bevorzuge ich eine breitere Verwendungsweise von ‚Spielen‘, die unserer normalsprachlichen Verwendung des Begriffs näher kommt: Auch virtuelle Handlungen sind Spielhandlungen, weil sie in ihrer Erläuterungskette Fiktionen involvieren – ich spiele auch dann, wenn ich bloß Spaß haben oder mich entspannen will. Nur ist dies kein Spielen in Reinform.63 Wie ist vor diesem Hintergrund Beschreibung d) einzuordnen? Hier wird sich wie folgt auf Marias Handlung bezogen: „Maria spielt ein Spiel“. Angenommen, diese Beschreibung verkörpert den Willen Marias. Handelt es sich um eine virtuelle Handlung oder um ein Spielen in Reinform? Das hängt elementar davon ab, wie Maria ‚Spiel‘ versteht: Entweder Maria bezieht sich auf das Computerspiel Fifa 19 oder auf das (fiktive) Fußballspiel in Fifa 19. Will Maria eine Runde Fifa 19 spielen und bildet das den primären Grund ihrer Handlung, so handelt es sich um eine virtuelle Handlung.64 Will Maria hingegen auf eine spezifische Weise 62Hierauf
verweist überzeugend auch Börchers (vgl. Börchers 2018, 117f.). semantisch potentiell streitbare Postulat eines ‚Spielens in Reinform‘ ist unter anderem wegen des weiten Bedeutungsspektrums des deutschen Begriffs ‚Spiel‘ kaum zu vermeiden. Im Englischen lässt sich zumindest zwischen ‚game‘ und ‚play‘ unterscheiden, was in der weitergehenden Forschung auch getan wird: „Danach steht play für die Intensität und Expressivität des Spiels, sein Vermögen, toll zu machen, während games demgegenüber eine institutionalisierte Struktur bezeichnen, in der sich play entfalten kann, aber nicht muss, […] denn im Gegensatz zu play können games ohne Bezug auf die Spielenden, ihre Wahrnehmungen, Erfahrungen, Leidenschaften, verhandelt werden“ (Adamowsky 2018, 34). Diese Unterscheidung ist zwar nicht völlig deckungsgleich mit meinen Ausführungen zu virtuellen Handlungen und reinen Spielhandlungen; schon deshalb nicht, weil es mir dezidiert um Handlungen geht und die Unterscheidung zwischen game und play zwischen der Bedeutung von Spiel als Gegenstand und Spiel als Handlung oszilliert. Nichtsdestotrotz könnte die Differenzierung für meine Unterscheidung zwischen der Reinform des Spielens (letztlich: fiktionalen Handlungen) und virtuellen Handlungen fruchtbar gemacht werden. Virtuelle Handlungen wären dann eher mit game und reine Spielhandlungen eher mit play zu identifizieren: ‚Gamende‘ Spieler agieren auf beobachtbare und nachvollziehbare Weise in der Wirklichkeit, ihre Handlungszwecke sind auch ohne Bezug auf die Fiktion oder spezifische Spiel-Erfahrungen verständlich. Sie wollen gewinnen, sie wollen Spaß haben, sie wollen Herausforderungen bewältigen. Ihre Handlungen sind ohne größere Schwierigkeiten analysierbar, denn sie können ohne Bezug auf das Spielgeschehen beschrieben werden. ‚Playende‘ Spieler hingegen bewegen sich außerhalb des gewöhnlichen Geschehens und handeln in einer spezifischen Weise innerhalb der Spielwelt, die es noch zu ergründen gilt. 64Der Fall ist etwas konstruiert, denn typischerweise fungiert der Wunsch, ein Computerspiel zu spielen, stets als eine Art übergeordnete Proeinstellung, die erst zur Tätigkeit des Spielens veranlasst, was dann wiederum im Verlauf des Spielens differenziertere spielinterne Weisen der Beschreibung zulässt. 63Das
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(die es noch zu klären gilt) Fußball spielen, so handelt es sich um ein Spielen in Reinform, das wie die Spielhandlung des Sandkuchenbackens nicht eine bloß indirekte Bezugnahme auf eine Fiktion enthält, sondern selbst elementar fiktional ist.65 Diese Art von Computerspielhandlung soll im nächsten Abschnitt erläutert werden.
2.2.2 Fiktionale Handlungen Marias Handlung unter der Beschreibung e) ist ein mustergültiger Fall dafür, was ich im Folgenden als fiktionale Handlung bezeichnen werde: 1. Wille: „Ich will ein Tor schießen…“ 2. Minimalbeschreibung: „…indem ich die Knöpfe xyz drücke.“ 3. Handlung
Dieser praktische Syllogismus unterscheidet sich von dem virtueller (und gewöhnlicher) Handlungen darin, dass sich der Wille Marias auf das Spielgeschehen bezieht: Der Zweck ihrer Handlung ist fiktional. Der Bezug auf die Fiktion ist im Kontext der Spielsituation unmittelbar und nicht erst durch Analyse der Erläuterungskette Marias ersichtlich, wie das noch bei der virtuellen Handlung der Fall war. Daher ist es nicht notwendig, die Zwischenschritte vom Willen zur Körperbewegung im Syllogismus aufzuführen: Gäbe es welche, wären es fakultative Ergänzungsmöglichkeiten der Handlungsbeschreibung, die zur normativen Handlungserklärung nichts beitrügen. Man könnte einwenden, eine fiktionale Handlung wie die obige sei undenkbar, denn letztlich müsse es stets um einen wirklichen Zweck beim Handeln gehen: Eigentlich wolle Maria sicherlich gewinnen oder Spaß haben oder sonst irgendetwas Wirkliches erreichen. Dieser Einwand ist nicht triftig. Erstens haben wir bereits gesehen, dass fiktionale Handlungsbeschreibungen nicht nur möglich, sondern (mindestens in der Erläuterungskette) unerlässlich sind, um eine Spielhandlung als solche identifizieren zu können. Und wenn fiktionale Beschreibungen innerhalb einer Erläuterungskette auftauchen können, warum dann nicht auch zu Beginn einer solchen? Zweitens ist mir (schon aus persönlicher Erfahrung) nicht einleuchtend, warum sich der Wille einer Spielerin nicht auf Fiktionen richten können sollte. Besonders deutlich wird dies im Rahmen erzählerisch komplexer Spiele wie beispielsweise Detroit: Become Human. Eine emotionale Identifikation mit den Figuren ist hier durch die starke narrative Bindung fast unvermeidlich. Hinzu kommt, dass der Tod einer Figur in diesem Spiel tatsächlich den
65Schon
Tavinor verweist auf den wichtigen Unterschied zwischen Virtualität und Fiktion, baut diese Unterscheidung aber (insbesondere mit Bezug auf ethische Überlegungen) nicht weiter aus (vgl. Tavinor 2009, 44–52). Beispiele für Virtualität ohne Fiktion (ergo: außerhalb des Spielhandelns, also keine virtuellen Handlungen im hier definierten Sinn) sind digitale Simulationen zur Ausbildung von Piloten oder Marias Knöpfedrücken auf Anweisung ihrer Schwester.
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2 Computerspielen als Handeln
Tod der Figur bedeutet: Es gibt keinen neuen Versuch; beim Versagen des Spielers wird die Geschichte mit einer Figur weniger fortgesetzt. Dass im Rahmen gut geschriebener Geschichten der Wunsch bei Rezipienten aufkommen kann, eine Figur möge (innerhalb der Fiktion) nicht sterben, kennt man zur Genüge aus Erfahrungen mit anderen narrativen Medien wie Filmen oder Romanen. Ich sehe nichts, was dagegen spricht, dass diese Wünsche im Falle des Computerspielens handlungswirksam werden und den Willen des Spielers bilden können. Im Falle von Detroit: Become Human etwa: „Ich will meine Ziehtochter beschützen!“ („indem ich den Mann vor mir beruhige, indem ich die richtigen Dinge sage, indem ich die Knöpfe xyz drücke“). Die Beweislast liegt bei denjenigen, die behaupten, dass solcherlei Rationalisierungen nicht möglich sind. Sie müssten zeigen, dass keinerlei Wünsche bezüglich Fiktionen möglich sind, denn ein Wille ist nichts weiter als ein handlungswirksamer Wunsch. Dieses Projekt scheint mir allerdings mit Blick auf diverse Möglichkeiten emotionaler Reaktionen bezüglich Fiktionen zum Scheitern verurteilt zu sein.66 Zurück zu Maria. Nehmen wir also an, ihr Wille bezieht sich tatsächlich auf das Spielgeschehen als Fiktion: Sie will ein Tor schießen. Wie ist das möglich? Vor allem: Wie kann ihr fiktionaler Wille, ein Tor zu schießen, durch ihre physische Handlung des Knöpfedrückens realisiert werden? Zwei Zusammenhänge scheinen hier inkompatibel zu sein: Erstens, dass eine physische Bewegung Einfluss auf eine Fiktion nimmt. Zweitens, dass ein Torschuss durch eine Fingerbewegung getätigt wird – kaum zwei Bewegungen liegen weiter auseinander. Kommen wir zunächst zum zweiten Punkt, der sich auf den ersten Blick ohne größere Schwierigkeiten aufklären lässt: Es handelt sich beim Torschießen und beim Knöpfedrücken nicht um zwei unterschiedliche Handlungen, sondern um ein und dieselbe Handlung, die auf zwei unterschiedliche Weisen beschrieben wird. Diese intensionale Eigenart von Handlungen aller Art wurde bereits zur Genüge besprochen: So, wie ich einen Mord auch als Handbewegung beschreiben kann, kann ich einen Torschuss auch als Fingerbewegung beschreiben. Gänzlich ist das Problem damit aber noch nicht gelöst. Der letzte Fall birgt nämlich eine Inkongruenz, die dem ersten fehlt: Während der Zusammenhang zwischen der Durchführung eines Mordes und einer Handbewegung offenkundig ist (Mord durch Vergiftung, Mord durch Erschießen usw.) fehlt diese intuitive Beziehung zwischen Torschuss und Fingerbewegung – es müsste sich doch vielmehr um eine Fuß- oder Beinbewegung handeln! Der entscheidende Hinweis zur Lösung ist, dass es sich beim Torschuss von Maria nicht um einen gewöhnlichen, sondern um einen fiktionalen Torschuss handelt. Und anders als ein gewöhnlicher Torschuss ist ein fiktionaler Torschuss nicht derart eng mit der Bewegung des Fußes verknüpft. Wie man einen fiktionalen Torschuss durchführt, das scheint mehr oder minder (je
66Walton
führt ausführlich und überzeugend aus, in welchem Sinne wir Emotionen gegenüber fiktiven Figuren empfinden können (vgl. Walton 1978a), worauf ich später in diesem Kapitel noch eingehen werde. Mit Blick auf Computerspiele liefern Bernd Bösel und Sebastian Möring einen guten Überblick über die Rolle von Affekten (vgl. Bösel/Möring 2018).
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nach Hardware und Software) beliebig zu sein. Damit ist aber noch nicht geklärt, was es eigentlich heißt, fiktional ein Tor zu schießen. Womit wir zum ersten Problem kommen. Um die Schwierigkeit zu präzisieren, die sich ergibt, wenn man Marias Handlung so erläutert, dass sie eine physische Körperbewegung durchführt (zweite Prämisse), um fiktional ein Tor zu schießen (erste Prämisse), betrachten wir ein eindrückliches Beispiel Waltons: Stellen wir uns vor, Charles sieht sich ein Horrorfilm mit einem furchteinflößenden grünen Schleimmonster an. Als sich das Monster auf die Kamera – auf Charles – zubewegt, gerät Charles in Panik, bekommt Schweißausbrüche und kreischt auf. Charles hatte nach eigenen Angaben schreckliche Angst, trotzdem floh er nicht aus dem Zimmer und rief nicht die Polizei. Warum nicht? There is a definite barrier against physical interactions between fictional worlds and the real world. Spectators at a play are prevented from rendering aid to a heroine in distress. There is no way that Charles can dam up the slime, or take a sample for laboratory analysis. But, as Charles’s case dramatically illustrates, this barrier appears to be psychologically transparent. It would seem that real people can, and frequently do have psychological attitudes toward merely fictional entities, despite the impossibility of physical intervention.67
Der Fall von Charles verschärft die Schwierigkeit in Bezug auf Marias fiktionale Handlung: Physische Interaktion zwischen Fiktion und Wirklichkeit scheint grundsätzlich unmöglich zu sein.68 Das ist der Grund, weshalb Charles nicht flieht oder keine andere Reaktion zeigt, die einer wirklichen Gefahrensituation angemessen wäre: Er weiß, dass ihm das Schleimmonster nichts tun kann, weil es fiktiv ist. Wie ist es dann aber Maria möglich, fiktional ein Tor zu schießen? Ein Lösungsansatz ergibt sich, wenn man mit Walton den Fall von Charles etwas genauer analysiert: Wenn Charles eigentlich weiß, dass das Schleimmonster bloß fiktiv ist (denn sonst würde er aus dem Zimmer rennen), weshalb empfindet er dann überhaupt Angst? Waltons erste Vermutung, dass zwar keine physische, wohl aber eine psychische Interaktion zwischen Fiktion und Wirklichkeit mög-
67Walton
1978a, 5f. darf nicht zu stark gelesen werden. Natürlich finden sowohl in Charles’ als auch in Marias Fall physische Interaktionen statt: Charles sieht den Schleim, weil Lichtwellen auf sein Auge treffen, wodurch in seinem Hirn bestimmte Neuronen aktiviert werden, die das auslösen, was wir ‚Angst‘ nennen. Und Marias Handlung wurde hinsichtlich der Codeebene bereits besprochen. Physische Interaktionen finden also mit (der physischen Grundlage von) Fiktionen statt. Aber: Diese physikalische Beschreibung des Geschehens bringt keinen Ertrag zum Verständnis der mentalen oder fiktionalen Situation – wir verstehen noch weniger, warum Charles vor Lichtwellen Angst haben sollte, als vor der Darstellung eines Monsters. Und Marias Torschuss wird als solcher durch den Verweis auf die Tätigkeit des Knöpfedrückens oder wechselnde Binärcodes nicht verständlich. Eine physikalische Terminologie ist schlicht ungeeignet, um mentale (vgl. Davidson 2002f; Davidson 2002g) oder fiktionale Phänomene in ihrer Spezifik zu erläutern (siehe Abschnitt 3.2.1). 68Das
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2 Computerspielen als Handeln
lich sei, wird vor diesem Hintergrund zu einem Rätsel: Wenn keine Gefahr besteht und Charles das weiß – woher kommt dann die Angst? Ein anderer Fall: Wenn wir wissen, dass eigentlich niemand gestorben ist, warum trauern wir dann, wenn eine liebenswerte Figur in einem Roman stirbt? Man empfindet Furcht bei Gefahr, Trauer bei Verlust. Beim Rezipieren von Fiktionen befinden wir uns typischerweise weder in Gefahr noch verlieren wir faktisch etwas. Ergo ist folgende Frage angebracht: Trauern wir eigentlich wirklich? Fürchtet Charles sich wirklich? Vieles scheint auf den ersten Blick dafür zu sprechen. Die Meisten von uns können Momente ersinnen, in denen Fiktionen sehr tiefe und nachhaltige emotionale Reaktionen ausgelöst haben, die sich nicht anders anfühlen als gewöhnliche Emotionen. Und auch im Falle von Charles deuten einige Symptome darauf hin, dass er tatsächlich Angst empfindet: Der Puls steigt, die Sinne sind geschärft, die Anspannung ist groß, er spricht von ‚Angst‘. Aber: Er flieht nicht – und hat auch kein Bedürfnis danach. Diese Befunde machen für Walton deutlich, dass es ein Fehler wäre, psychische Interaktion zwischen Fiktion und Wirklichkeit in einem starken Sinne zu akzeptieren: „We do indeed get ‚caught up‘ in stories; we often become ‚emotionally involved‘ when we read novels or watch plays or films. But to construe this involvement as consisting of our having psychological attitudes toward fictional entities is, I think, to tolerate mystery and court confusion.“69 Um terminologisch scharf zwischen Emotionen in Bezug auf Fiktionen und gewöhnlichen Emotionen zu unterscheiden, bezeichnet Walton erstere als Quasi-Emotionen.70 Analog können wir Handlungen wie Marias unter e), die durch ihren besonderen Bezug zur Fiktion ausgezeichnet sind, Quasi-Handlungen nennen.71 Die Art und Weise, wie Walton die Problematik der Quasi-Emotionen löst, liefert entscheidende Anhaltspunkte, um die Problematik der Quasi-Handlungen zu lösen. Die Fälle sind nicht so verschieden, wie sie auf den ersten Blick scheinen mögen: Obwohl es Walton um ein Paradox psychischer und mir um ein Paradox physischer Interaktion geht, handelt es sich insofern um dasselbe Problem, als die jeweilige Terminologie nicht geeignet ist, um das Phänomen der fiktionalen Interaktion angemessen zu fassen. Weder eine herkömmliche psychologische noch eine physikalische Einordnung ist hinreichend, um Charles’ oder Marias Verhaltensweisen vollständig zu erläutern: Die Angst vor dem Schleimmonster und der Torschuss entziehen sich traditionellen
69Walton
1978a, 6. ebd. 71Um Missverständnissen vorzubeugen sei an dieser Stelle betont, dass Walton mit der Bezeichnung ‚Quasi-Emotionen‘ nicht auf eine extensional eigenständige Klasse von Emotionen referiert. Ebenso wenig verstehe ich Quasi-Handlungen bzw. fiktionale Handlungen als extensional eigenständige Klasse von Handlungen. Worum es Walton und mir geht, ist eine terminologische Präzisierung auf intensionaler Ebene, um die Phänomene angemessen beschreiben und normativ bestimmen zu können. Es geht nicht um ein ‚Entdecken‘ physikalisch neuartiger Ereignisse, sondern um eine begriffliche Differenzierung bereits bekannter. 70Vgl.
2.2 Drei Arten von Computerspielhandlungen
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Erklärungsmustern. Dieses Problem gilt es im Folgenden erst in Bezug auf QuasiEmotionen, dann in Bezug auf Quasi-Handlungen zu lösen. Eine wichtige Beobachtung Waltons ist, dass jedem fiktionalen Werk eine eigene fiktive Welt entspricht, die durch die Imaginationskraft des Rezipienten konstituiert wird: „There is, roughly, a distinct fictional world corresponding to each novel, painting, film, game of make-believe, dream, or daydream. All fictional truths are in one way or another man-made.“72 Die Interaktion mit einer solchen Welt findet im Rahmen eines ‚game of make-believe‘ statt: Die Rezipierenden machen sich glauben bzw. tun so, als ob die fiktiven Sachverhalte tatsächlich zuträfen.73 Vor diesem Hintergrund tut Charles so, als ob ihn ein grünes Schleimmonster angreift und die resultierende Angst ist eine Als-Ob-Angst: „Charles actually experiences his make-believe fear. I don’t mean that there is a special kind of fear, make-believe fear, which Charles experiences. What he actually experiences, his quasi-fear feelings, are not feelings of fear. But it is true of them that make-believedly they are feelings of fear“74. Nach Walton empfindet Charles
72Ebd.,
10. Ich verwende in Anschluss an Walton ‚fiktive Welt‘ als einen sehr weiten Begriff, der weder hinreichend durch den Verweis auf kontrafaktische Welten erläuterbar ist (diese Position vertritt etwa David Lewis, vgl. Lewis 1978) noch zu eng als eine narrativ strukturierte, ‚erzählte Welt‘ verstanden werden sollte (unter anderem vertritt Tavinor diese Position, vgl. Tavinor 2009, aber auch in der Literaturwissenschaft ist diese Auffassung verbreitet, vgl. Martinez/Scheffel 2012, 22–28). Meines Erachtens kann jedes Computerspiel (als fiktionales Werk) eine fiktive Welt konstituieren: ein von der Wirklichkeit getrenntes Realitätssystem, mit dem Spieler auf dem Bildschirm konfrontiert werden und das eigenen Regeln folgt sowie elementar durch Lückenhaftigkeit gekennzeichnet ist (worauf ich in Abschnitt 3.2.1 vertiefend eingehen werde). Diese Auffassung begegnet dem Vorwurf, den Begriff der Fiktion über zu strapazieren, etwa bezüglich des simplen Computerspiels Tetris: „Tetris does not seem to be a fiction, because it is no part of that game that we imagine a corresponding fictional world; arguably, the game is just comprised of the real manipulation of virtual representations or symbols on a screen“ (Tavinor 2009, 24). In dieselbe Kerbe schlägt auch Börchers, indem er Tetris als ‚semantisch flach‘ bestimmt, da man hier beim Spielen „schlicht das tut, was man eben tut: Das Spiel bietet keine andere Beschreibungsweise an“ (Börchers 2018, 112). Ich stimme zu, dass Tetris als Spiel nahelegt, man würde beim Spielen bloß „herunterfallende Klötze drehen und möglichst in Lücken schon gestapelter Klötze versenken“ (ebd.). Aber erstens kann diese Beschreibung durchaus als fiktional verstanden werden; physikalisch ist sie jedenfalls nicht, schließlich stapelt man beim Spielen von Tetris nicht wirklich Klötze. Zweitens muss diese Handlungsbeschreibung gar nicht die dominante beim Spielen von Tetris sein. Das Spielen von Tetris lässt qua Handlung durchaus unterschiedliche Beschreibungsweisen neben der offensichtlichen zu. Es könnte etwa von einem phantasievollen Kind als effizientes Packen eines Koffers verstanden werden. Grundsätzlich scheint nichts gegen eine solche Handlungsbeschreibung zu sprechen, die das entsprechende Kind erstpersonal als vernünftig auszeichnen würde. Ob und inwiefern diese Beschreibung Tetris als Gegenstand angemessen wäre, ist eine andere Frage – mir geht es primär um die Handlungen der Spieler und deren Beschreibungen, die sich im Falle fiktionaler Handlungen auf fiktive Welten beziehen, die essentiell von Spielerinnen (mit-)konstruiert werden.
73Vgl.
Walton 1978a, 10–12. 22. Analog ist Marias Quasi-Torschuss keine spezielle Art wirklicher Torschüsse (und ein Quasi-Mord kein wirklicher Mord), sondern sie macht sich glauben, ihre Handlung sei ein Torschuss.
74Ebd.,
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also keine Angst im eigentlichen Sinne, sondern er macht sich nur glauben, dass er Angst im eigentlichen Sinne empfindet. Als Quasi-Angst ist die Dimension von Charles’ Reaktion ausschließlich erstpersonal angemessen erfassbar: „Insofar as make-believe truths are generated by a spectator’s or reader’s state of mind, he is no mere ‚external observer‘ of the fictional world. Ascertaining what makebelievedly is true of himself is to a large extent a matter of introspection“75. Walton geht also davon aus, dass erstens jeder Fiktion eine fiktive Welt entspricht, die zweitens imaginativ durch Spiele des make-believe (mit-)konstituiert werden und dadurch drittens (nur) erstpersonal den Akteurinnen dieser Spiele zugänglich sind. Alle empfundenen Emotionen und Interaktionen im Rahmen des make-believe sind keine gewöhnlichen Emotionen und Interaktionen, sondern Quasi-Emotionen und Quasi-Interaktionen, was nichts anderes heißt, als dass die Akteurin so tut, als ob sie die entsprechenden Erfahrungen macht. Das impliziert nicht, dass die Intensität oder Relevanz dieser Erfahrungen auf irgendeine Weise gemindert oder geschwächt sei. Im Gegenteil können Quasi-Emotionen tiefgreifende Erlebnisse sein und Quasi-Tatsachen eignen in einigen Fällen durchaus hohe (erstpersonale) Relevanz – das weiß jeder, der schon einmal die (Sand-)Burg eines spielenden Kindes zerstört hat. Das Kind wird nicht nur entrüstet und traurig darüber sein, dass einige Minuten Arbeit in den Sand gesetzt wurden, sondern auch darüber, dass die (fiktive) Burg des Königs nun zerstört ist. In Einzelfällen könnten Quasi-Geschehnisse ihren wirklichen Konterparts extensional sogar vollkommen gleichen, trotzdem bliebe der kategorische Unterschied auf intensionaler Ebene bestehen: Eine Quasi-Angst, die neuronal dieselben Hirnareale aktiviert wie wirkliche Angst, ist keine wirkliche Angst, weil sie ‚in der fiktiven Welt‘ empfunden wird, auf die wir im Rahmen des make-believe ‚hinabsteigen‘ oder genauer: „[W]e extend ourselves to their level, since we do not stop actually existing when it becomes fictional that we exist.“ Ein anderes Beispiel: Selbst wenn beim Knöpfedrücken im Rahmen einer fiktionalen Spielsituation dieselben Muskeln kontraktiert werden wie bei einer (extensional identischen) Nicht-Spielhandlung des Controllertestens, so lassen sich beide Tätigkeiten strikt voneinander unterscheiden. Der erste Fall ist eine Quasi-Handlung und involviert wesentlich die Interaktion mit einer Fiktion, der zweite nicht.76
75Ebd.,
21. 23. Dem ist freilich nicht so, wenn wir völlig vergessen, dass wir mit einer Fiktion konfrontiert sind. Erstpersonal befinden wir uns dann nämlich nicht länger in einer fiktionalen Handlungssituation; es findet kein make-believe statt. Dieser Fall dürfte allerdings extrem selten, wenn nicht undenkbar sein – für ein solches, ‚Hirn-Im-Tank‘-artiges Eintauchen in die Fiktion müssten die medialen und technischen Voraussetzungen vollkommen unsichtbar sein.
76Ebd.,
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All diese Befunde deuten darauf hin, dass wir es bei dem Phänomen der Fiktion nicht mit einer substanziell eigenständigen Welt (mit der wir gar nicht interagieren könnten), sondern mit einer spezifischen Beschreibungsweise von Ereignissen zu tun haben, die unter anderem dadurch ausgezeichnet ist, dass ihre Regeln imaginativ konstruiert werden. Der Schaffungsprozess fiktiver Welten und ihrer Regeln kann völlig frei, etwa im Rahmen von Kinderspielen, oder gebunden an fiktionale Werke (wie bei Charles) geschehen – in jedem Fall sind sie imaginativ hergestellt. Jedes Quasi-Ereignis lässt sich zwar auch als physisches Ereignis neuronaler Hirnprozesse oder als mentales Ereignis der Imagination beschreiben, doch das angemessene Erklärungsmuster liegt stets erstpersonal in einer genuin fiktionalen Terminologie: Es werden weder bloß Neuronen aktiviert noch bloß Geschehnisse imaginiert, sondern die fiktiven Sachverhalte finden auf Ebene der Fiktion tatsächlich statt. Im Moment des Spielens ist es aus Perspektive des Kindes gewissermaßen kein Spiel, dass der Sandkuchen verbrannt ist, sondern der Kuchen ist verbrannt. Und auch Charles wird nicht sagen, dass er bloß so tut, als ob er sich vor dem Monster fürchtet, sondern dass er sich vor dem Monster fürchtet. Wählte er die erste Antwortmöglichkeit, implizierte das eine ganz andere Situation als diejenige, die wir beschrieben haben: Würde Charles erstpersonal das Ereignis als ‚Als-Ob-Emotion‘ beschreiben, dann hätten wir es weder mit Angst noch mit Quasi-Angst zu tun. Charles wäre dann wie ein langjähriger Schauspieler, der zum fünfzigsten Mal auf der Bühne einen Märtyrertod stirbt – von Angst oder Quasi-Angst ist hier keine Spur, weil jegliche emotionale Reaktion fehlt. Außer natürlich, der Schauspieler ist so vertieft in seine Rolle, dass er tatsächlich auf die fiktiven Geschehnisse emotional reagiert. Dann hätte er Quasi-Angst wie Charles. Und wenn der Schauspieler seinen Text vergisst – dann empfindet er möglicherweise echte Angst. Interaktionen mit Fiktionen als make-believe zu beschreiben, ist zwar aus der Außenperspektive im Rahmen eines mentalen Erklärungsmusters elementar, weil die Handlung im Kontext von Rationalität, Gründen, Wünschen, Überzeugungen, Werten und Zwecken eingeordnet wird, aus der Innenperspektive wird sich aber auf einen ganz anderen Rahmen bezogen: auf eine fiktionale Terminologie.77
77Die
Eigenarten unterschiedlicher Beschreibungsvarianten von Handlungen mittels physikalischer und mentaler Terminologien ist inspiriert von Davidsons entsprechenden Überlegungen zum anomalen Monismus (vgl. Davidson 2002f; Davidson 2002g). Es ist allerdings nicht notwendig, Davidsons Ausführungen in diesem Kontext voll zuzustimmen, um meinen Überlegungen zur fiktionalen Terminologie zu folgen. Wichtig ist an dieser Stelle lediglich, dass physikalische Beschreibungen auf physische und mentale Beschreibungen auf geistige Entitäten referieren – und entsprechend fiktionale Beschreibungen auf fiktive Entitäten. Auf die spezifischen Eigenarten des Fiktiven wird in Abschnitt 3.2.1 vertiefend eingegangen.
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2 Computerspielen als Handeln
Genug von Charles, zurück zu Maria: Inwiefern schießt Maria nun ein Tor? Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen gibt es drei mögliche Beschreibungsvarianten: i) Physikalisch: „Maria drückt die Knöpfe xyz.“78 ii) Mental: „Maria quasi-schießt ein Tor.“79 iii) Fiktional: „Maria schießt ein Tor.“ Die physikalische Beschreibung i) hilf uns dabei, Marias Handlung als wirkliche Handlung im Kontext der kausal strukturierten, empirischen Wirklichkeit zu verstehen. Wie bereits ausführlich erläutert wurde, liefert sie aber keine hinreichende Erläuterung der Handlung auf normativer Ebene. Für diese Dimension fiktionalen Handelns ist die mentale Beschreibung ii) wesentlich, die den Torschuss im Kontext von Imaginationsprozessen, von Spielen des make-believe, verortet. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass Marias Wille auf eine Fiktion gerichtet ist, weswegen ihre Handlung fiktional und nicht bloß virtuell ist: Der Quasi-Operator gibt den entscheidenden Hinweis.80 Die fiktionale Beschreibung iii) zeigt schließlich an, inwiefern Maria tatsächlich ein Tor schießt, wodurch ihre erstpersonale Formulierung des Willens als Grund des Handelns verständlich wird. Führte Maria ihre Handlung absichtlich unter der Beschreibung i) oder ii) aus, so handelte es sich nicht um eine Quasi-Handlung – denn ihr Wille bezöge sich 78Die
ebenso möglichen physikalischen Beschreibungsvarianten als Fingerbewegungen, Muskelkontraktionen oder Codeverschiebungen wurden aus bereits hinreichend erläuterten Gründen ausgelassen (als erhebliche Reduktionen liefern sie noch weniger Erklärungsleistung als die Beschreibung als Knöpfedrücken). 79Alternative Beschreibungsvarianten wären vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen: „Maria imaginiert, ein Tor zu schießen“ oder „Maria tut so, als ob sie ein Tor schießt“ oder „Maria macht sich glauben, dass sie ein Tor schießt“. Um ein Missverständnis zu vermeiden: ‚Mental‘ meint hier nicht, dass diese Beschreibungsvariante diejenige ist, die ‚im Geiste‘ der Akteurin präsent ist. In diesem Sinne ‚mental‘ (oder schlicht: geistig) sind alle drei Beschreibungsvarianten, da sie je als Wille einer Handlung fungieren können. ‚Mental‘ betont in diesem Kontext vielmehr die Differenz zu einer physikalisch-nomologischen Beschreibungsvariante auf der einen und einer fiktional-ästhetischen Beschreibungsvariante auf der anderen Seite (auf den Zusammenhang zwischen Fiktion und Ästhetik werde ich in Abschnitt 3.2.1 eingehen). Dieser Sinn von ‚mental‘ ist übernommen von Davidsons Ausführungen (Davidson 2002f; Davidson 2002g). Alle drei Beschreibungsvarianten bezeichnen ontologisch im Grunde denselben type – Ereignisse – betonen aber je andere Aspekte derselben: kausale, normative oder imaginative. 80Es gilt an dieser Stelle die Begründungsrichtung zu beachten: Nicht die Handlungsbeschreibung bestimmt den Inhalt der Absicht, sondern umgekehrt. Der Quasi-Operator zeigt zwar an, dass die beschriebene Handlung eine fiktionale Handlung ist, dass also Maria nicht wirklich ein Tor schießt, sondern dies bloß imaginiert. Er ist aber nicht der Grund dafür, dass wir es hier mit einer fiktionalen Handlung zu tun haben. Mit anderen Worten: Es geht nicht darum, dass jede fiktionale Handlungsbeschreibung einen Quasi-Operator enthält und sich deshalb nicht auf die Wirklichkeit bezieht. Sondern darum, dass sich kein fiktionales Handeln auf die Wirklichkeit bezieht und deshalb adäquat mit einem Quasi-Operator formalisiert werden muss. Ich danke Tim Henning für ein Nachhaken an dieser Stelle.
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nicht auf eine Fiktion, sondern auf die Wirklichkeit. In unserem Fall ist es aber Beschreibung iii), die den Willen Marias bildet und ihr Tun somit als fiktionales Handeln kennzeichnet, dessen Witz gerade darin besteht, dass eine erstpersonale Explikation des imaginierten, fiktiven Aspekts gewissermaßen das Ende der Fiktion bedeutete: Sobald man als Spielerin darauf gestoßen wird, dass die eigenen Aktionen nicht ‚echt‘, sondern ‚nur gespielt‘ seien, ist es vorbei mit dem Spiel – zumindest mit einem Spiel im Sinne fiktionalen Handelns. Denn sobald man das eigene Tun aus der Metaperspektive zu reflektieren beginnt, verlässt man die fiktive Welt. Dies gilt für jeglichen Umgang mit Fiktionen, wie schon einfache Beispiele im Bereich der Brettspiele veranschaulichen: Wer sich etwa bei einer Runde Die Siedler von Catan über den geringen Ertrag an Rohstoffen ärgert (fiktionale Ebene) und die Reaktion bekommt: „Warum ärgerst du dich denn? Es ist doch nur ein Spiel!“ (nicht-fiktionale Ebene), wird auf den Konflikt zweier Beschreibungsperspektiven gestoßen. Spieler und Mitspielerin sprechen gewissermaßen eine andere Sprache, wenn der Spieler darauf insistiert, dass sein Ärger in Bezug auf den geringen Ertrag gerechtfertigt sei, während seine Mitspielerin betont, dass ein Erhalten von weniger Spielkarten keinen hinreichenden Grund für eine derartige emotionale Reaktion darstelle. Im Anschluss kann es dann passieren, dass der (ursprüngliche) Quasi-Zorn des Spielers über die wenigen Rohstoffe in echten Zorn über die Mitspielerin umschlägt. Aber genug von diesem Beispiel und zurück zu Maria. Hier würde eine analoge Inkompatibilität offenbar, wenn Peter auf Marias Sieg erwiderte „Du hast überhaupt nicht im Fußball gewonnen, du kannst nur besser Knöpfe drücken!“ oder „Du hast gar nicht richtig ein Tor geschossen, du hast nur quasi-geschossen!“. Offenkundig hat Maria aber alles Recht dazu, darauf zu bestehen, dass sie ein Tor geschossen hat – und zwar deswegen, weil sie de facto fiktional ein Tor geschossen hat. Peters Präsentation alternativer physikalischer oder mentaler Beschreibungsweisen mindert nicht im Geringsten die Wahrheit der erstpersonal angemessenen fiktionalen Erläuterung: Maria hat ein Tor geschossen. Wenn sie gar kein Tor schießen, sondern explizit nur so tun wollte, als ob sie ein Tor schießt und jede fiktionale Beschreibungsvariante (die den Quasi-Operator weglässt) ihres Handelns zurückwies, dann wäre die Handlung nicht mehr fiktional. Der Wille bezöge sich auf die Wirklichkeit und die fiktionale Beschreibung wäre ipso facto als Handlungsgrund unangemessen. Maria würde sagen: „Ich habe gar kein Tor geschossen, ich habe nur so getan als ob!“. Und sobald sie dies als ihren Willen expliziert, tut sie (paradoxerweise) nicht länger so, als ob sie ein Tor schießt, sondern ist bereits aus dem make-believe ausgetreten. Es handelt sich um einen performativen Selbstwiderspruch. Zum Abschluss der Ausführungen in diesem Kapitel sei betont, dass die angeführten Beispiele keinesfalls implizieren sollen, dass die fiktionale Beschreibungsweise von Quasi-Handlungen die einzig relevante wäre. Das ist nicht der Fall. Die fiktionale Beschreibungsweise ist zentral, um Marias Handlung erstpersonal rationalisieren und einige Eigenarten der Interaktion mit Fiktionen erklären zu können. Ohne Bezug auf die fiktive Welt ist Marias Tun nicht als Torschuss verständlich. Um ihre Tätigkeit als wirkliche Handlung zu verstehen, die, wie jede andere Handlung auch, auf eine Körperbewegung zurückführbar ist, die
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in kausaler Relation zu anderen Ereignissen steht, ist wiederum die physikalische Erklärung elementar. Und um die normative Dimension fiktionaler Handlungen zu ergründen, insbesondere ihre moralische Reichweite (worauf diese Untersuchung hinausläuft), ist der Verweis auf den Quasi-Operator mithilfe der mentalen Terminologie wesentlich, der verständlich macht, wie der Bezug eines handlungswirksamen Willens auf eine Fiktion (als Überwindung der ‚Barriere‘ zwischen fiktiver und wirklicher Welt) überhaupt möglich ist: indem sich eine Akteurin im Rahmen des make-believe auf die Ebene der Fiktion ‚ausdehnt‘, was letztlich nichts anderes heißt, als dass sie eine fiktionale Beschreibungsweise ihrer Handlung akzeptiert. Diese Akzeptanz ist elementar mit einem imaginativen Akt verknüpft: einer Identifikation mit der fiktiven Welt, die es erlaubt, ein fiktionales Erklärungsmuster anzuwenden, das beim gewöhnlichen, aber auch beim virtuellen Handeln zurückgewiesen wird. Maria selbst sind die verschiedenen Dimensionen ihrer Handlung durchaus bewusst. Wüsste sie nicht um die physischen Aspekte ihrer Handlung, so wäre ihr nicht klar, dass sie überhaupt irgendetwas tut. Wüsste sie nicht um die fiktionale Perspektive, so würde sie (erstpersonal) kein Tor schießen. Und wüsste sie nicht, dass sie auf mentaler Ebene nur quasi ein Tor schießt, müsste sie davon ausgehen, dass sie wirklich ein Tor schießt (und ipso facto nicht ihre Finger, sondern ihren Fuß bewegen). Walton referiert in diesem Zusammenhang auf eine spezifische Eigenart der Interaktion mit Fiktionen, die er als ‚duale Perspektive‘ bezeichnet: When readers and spectators become fictional they do not of course cease to be actual. If a reader or spectator is such that fictionally he exists, it is also literally the case that he exists. So our standpoint is a dual one. We, as it were, see Tom Sawyer both from inside his world [also: fiktional, S.U.] and from outside of it [also: physikalisch und mental, S.U.]. And we do so simultaneously. The reader is such that, fictionally, he knows that Tom attended his own funeral, and he is such that fictionally he worries about Tom and Becky in the cave. At the same time the reader knows that no such persons as Tom and Becky ever existed.81
Huizinga macht eine ähnliche Beobachtung, wenn er als zentrales Merkmal von Spielen herausstellt, dass dieses durch ein „Bewußtsein, wenn es auch noch so sehr in den Hintergrund gedrängt sein mag, daß man ‚bloß so tut‘“82, ausgezeichnet ist, als „ein gewisses Element von ‚make-believe‘[, das, S.U.] im primitiven Glauben jederzeit mitspielt. Ob man nun Zauberer oder Bezauberter ist, man selbst ist zugleich wissend und betrogen. Aber man will der Betrogene sein.“83 Das trifft den Nagel auf den Kopf: Indem Maria eine fiktionale Beschreibung als ihren Willen wählt, zeichnet sie sich als ‚willentlich Betrogene‘
81Walton
1978b, 21. 2015, 31. 83Ebd., 33. 82Huizinga
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aus, weil sie eine Terminologie der Imagination und Illusion den physikalischen und mentalen Beschreibungsweisen der Wirklichkeit vorzieht. Das ist fiktionales Handeln, das ist Spielen in Reinform.
2.2.3 Fiktive Handlungen Mit virtuellen und fiktionalen Handlungen wurden zwei elementare Formen des Computerspielens bestimmt. Während virtuelle Handlungen grundsätzlich (bezüglich ihrer Prämissen) gewöhnlichen Handlungen ähneln und hinreichend mit herkömmlichen Erklärungsmustern erläutert werden können, zeichnen sich fiktionale Handlungen dadurch aus, dass zu ihrer Rationalisierung der Bezug auf das fiktive Geschehen und die Verwendung eines eigenständigen fiktionalen Erklärungsmusters unverzichtbar sind: Der Wille Marias, ein Tor zu schießen, kann nicht anders als fiktional begriffen werden. Beide Formen des Handelns unterscheiden sich von gewöhnlichen Handlungen, da sie (direkt oder indirekt) Fiktionen integrieren. Sie unterscheiden sich auf der anderen Seite aber auch von fiktiven Handlungen, weil sie die Wirklichkeit (mindestens in der zweiten Prämisse: als Knöpfedrücken) integrieren. Der allgemeine Unterschied zwischen Fiktionalität und Fiktivität sei an einem einfachen Beispiel erläutert: Sherlock Holmes ist fiktiv, die Romane von Arthur Conan Doyle hingegen sind fiktional. Fiktive Entitäten, die nicht in Wirklichkeit existieren (beispielsweise Mario, Donkey Kong und Prinzessin Peach), bilden also den Gehalt fiktionaler Entitäten, die in Wirklichkeit existieren (beispielsweise das Computerspiel Mario Kart 8 oder auch: Computerspielhandlungen).84 Ein wichtiger Zusammenhang zwischen fiktionalen und fiktiven Handlungen soll nun zum Abschluss der handlungstheoretischen Ausführungen an Marias Handlung unter f) („Thomas Müller schießt ein Tor“) diskutiert werden. Ein erster Versuch, dieselbe analog zu den vorangegangenen Analysen als praktischen Syllogismus darzustellen, könnte wie folgt aussehen: i) 1. Wille: „Ich will ein Tor schießen…“ 2. Minimalbeschreibung: „…indem ich meinen Fuß bewege.“ 3. Handlung
Diese Darstellung hat offensichtlich Schwierigkeiten, Marias Handlung unter f) zu rationalisieren. Sie bezieht sich nämlich gar nicht auf Maria, sondern auf Thomas Müller. Neben der Tatsache, dass es schwierig (mir: unmöglich) scheint,
84Die
kategorische Trennung von fiktional und fiktiv geht auf die Literaturwissenschaft zurück, hat sich im philosophischen Diskurs allerdings noch nicht durchgesetzt: „[Z]wischen dem Fiktiven als einer Eigenschaft des Dargestellten und dem Fiktionalen als einer Eigenschaft der Darstellung [ist, S.U.] zu unterscheiden“ (Kablitz 2008, 15).
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fiktiven Figuren wie Thomas Müller – als abstrakten Entitäten85 – überhaupt eine konkrete Handlung inklusive Wille und Körperbewegung zuzuschreiben, wird im Syllogismus die elementare Relation zwischen dem Torschuss und Maria als Akteurin nicht deutlich. Ich wage einen zweiten Versuch, der diesen Schwierigkeiten begegnet: ii) 1. Wille: „Ich will, dass Thomas Müller ein Tor schießt…“ 2. Minimalbeschreibung: „… indem ich die Knöpfe xyz drücke.“ 3. Handlung
Auch diese Darstellung ist auf den ersten Blick problematisch. Der Wille eines Akteurs bezieht sich typischerweise auf die eigene Person, denn Handlungen sind nur erstpersonal durchführbar: Ich kann (selbst) ein Tor schießen, ich kann nicht ‚jemand anderen‘ ein Tor schießen. Ich kann zwar versuchen, jemand anderen dazu zu bringen, ein Tor zu schießen, etwa durch Zwang oder gutes Zureden, aber das ist offenkundig nicht die Relation zwischen Maria und dem fiktiven Thomas Müller. Maria überredet oder zwingt Thomas Müller nicht, ein Tor zu schießen. Zwang etwa wird typischerweise gegen den Willen einer anderen Person ausgeübt, die mindestens in der Lage sein muss, ohne Zwang anders handeln zu können. Nichts von alledem trifft auf Thomas Müller (in unserem Beispiel) zu: Er kann nicht (wirklich) handeln, er hat keinen (wirklichen) Willen und vor allem ist er keine (wirkliche) Person, sondern eine Figur und kann ipso facto von uns – als Personen – zu gar nichts gezwungen werden. Zwar lässt unser Sprachgebrauch die Redeweise zu, dass Maria Thomas Müller ‚dazu bringt‘, ein Tor zu schießen, so, wie Dichter ihre Figuren zu bestimmten Taten und in gefährliche Situationen ‚zwingen‘, aber das sind metaphorische Verwendungsweisen dieser Begriffe, die zu einer Klärung des zugrundliegenden Phänomens nichts beitragen. Maria bringt Thomas Müller nicht zu einem Torschuss, sondern sie (quasi-)schießt mit Thomas Müller ein Tor, weil sie will, dass er ein Tor schießt. Ihre Handlung enthält seinen fiktiven Torschuss. Ich möchte die ‚Handlung‘ Thomas Müllers unter Darstellung i) und entsprechende ‚Handlungen‘ fiktiver Figuren wie Sherlock Holmes, Harry Potter oder Frodo Beutlin fiktive Handlungen nennen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie gar keine wirklichen Handlungen sind. Zwar geschieht beim Torschuss Thomas Müllers gewiss irgendetwas: Ein Ereignis findet statt, das auf zahlreiche Weisen beschrieben werden kann (und eine Beschreibungsmöglichkeit gehen wir aktuell durch). Es ist sogar eine ‚Computerspielhandlung‘ in einem sehr weiten Sinne: eine Handlung im Computerspiel. Aber die fiktive Handlung Thomas Müllers i) ist rein
85Vgl.
Kripke 2014, 108. Dieses Merkmal fiktiver Entitäten wird in Abschnitt 3.2.1 nochmal aufgegriffen.
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imaginiert,86 während die fiktionale Handlung des Torschusses von Maria ii) wirklich durchgeführt wird: Sie findet in der raumzeitlichen Erfahrungswelt statt. Damit möchte ich nicht behaupten, dass sich fiktive Handlungen als Ereignisse auf einer substanziell von der Wirklichkeit getrennten Ebene abspielen. Sie zählen lediglich nicht zur gleichen Ereignisart wie wirkliche Handlungen, die agierende Personen inklusive eines Willens und einer Körperbewegung voraussetzen. Um wirkliche Ereignisse handelt es sich bei fiktiven Handlungen selbstverständlich trotzdem – nur nicht um wirkliche Handlungen. Mit anderen Worten: Fiktive Handlungen finden als solche nicht in der Wirklichkeit statt und sind in diesem Sinne ontologisch (hinsichtlich ihres „Was-Seins und Wie-Seins“87) nicht vergleichbar mit gewöhnlichen, fiktionalen oder virtuellen Handlungen. Aus einer anderen Perspektive jedoch sind fiktive Handlungen als Ereignisse durchaus auch mit einem physikalischen oder mentalen Vokabular beschreibbar und somit ontologisch (hinsichtlich ihres „DassSeins“88) auf einer Ebene mit allen anderen wirklichen Ereignissen anzusiedeln: als neuronale Hirn- bzw. als Imaginationsprozesse – aber nicht als Handlungen. Die Differenz gilt kategorisch: Fiktive Handlungen sind dadurch ausgezeichnet, dass jegliche nicht-fiktionalen Beschreibungen ihrer kategorisch unangemessen sind, weil sie ihren Handlungscharakter negieren. Kurz: Diese Handlungen finden nicht wirklich statt. Fiktionale Handlungen hingegen werden unmittelbar von Personen ausgeführt, sind wirkliche Handlungen und lassen ipso facto auch abseits der Fiktion eine entsprechende Klassifizierung als absichtliche Handlung zu (des Knöpfedrückens bzw. des Quasi-Handelns). Wegen der fundamentalen Andersartigkeit ihrer Kontexte und Akteure haben die erläuterten Arten von Computerspielhandlungen ihren Ausgangspunkt gewissermaßen in ‚anderen Welten‘, die ihren ontologischen Status als wirkliche Handlung einer Person (die unmittelbar von Maria ausgeführt wird) und als fiktive Handlung einer Figur (die von Maria rein imaginiert wird) festlegen (Abb. 2.1):
86Ich
verwende in dieser Untersuchung einen weiten Begriff von ‚Imagination‘. Es fällt darunter nicht nur freies bildhaftes Vorstellen ohne Grundlage im Sinne des Fantasierens, sondern auch vergleichsweise geringe kognitive Leistungen, wie das Pixelgeschehen auf dem Bildschirm als stattfindende Ereignisse und Handlungen wahrzunehmen. Jedes Medium erfordert diese Minimalleistung der Einbildungskraft, um das Dargestellte (das ‚Was‘) über die physische Grundlage der Darstellung (das ‚Wie‘) hinaus begreifen zu können; das Bezeichnete in den Zeichen zu sehen. Hierauf und auf verschiedene Ausprägungen von Imagination bezüglich Fiktionen wird in Abschnitt 3.2.1 vertiefend eingegangen. 87Luckner/Ostritsch 2018, 45. 88Ebd. Wenn ich in diesem Buch den Begriff ‚ontologisch‘ verwende, beziehe ich mich standardmäßig auf das ‚Was- und Wie-Sein‘ einer Entität. Differierende Verwendungsweisen im Sinne des ‚Dass-Seins‘ werden markiert. Zu dieser Unterscheidung führen Luckner und Ostritsch aus: „[W]ir haben zwar hinsichtlich des Was-(und auch des Wie-)Seins eine Pluralität der Differenzen und Differenzierungsmöglichkeiten vor uns, dagegen wird ‚Existenz‘, ‚Dass-Sein‘, in allen möglichen Fällen gleichbedeutend ausgesagt – oder […]: univok. Unabhängig von den Unterschieden hinsichtlich dessen, was oder wie etwas ist, ist in Bezug auf die Existenz alles Seiende gleich“ (ebd., 7).
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Abb. 2.1 Drei Arten von Computerspielhandlungen
Wie ist vor diesem Hintergrund die zweite Interpretation ii) der Handlungsbeschreibung unter f) einzuordnen? Aus den genannten Gründen kann es sich dabei nicht um eine fiktive Handlung handeln, denn Subjekt des Willens und der Körperbewegung ist Maria als wirkliche Person und nicht der fiktive Thomas Müller. Da es mit Blick auf die Fiktionalität des Willens auch keine virtuelle Handlung sein kann, bleibt nur noch die fiktionale Handlung. Die Richtigkeit dieser Klassifizierung wird durch eine modifizierte Version des praktischen Syllogismus unter ii) deutlich: ii*) 1. Wille: „Ich will, dass Thomas Müller ein Tor schießt…“ [„…indem ich ein Tor schieße…“] 2. Minimalbeschreibung: „… indem ich die Knöpfe xyz drücke.“ 3. Handlung
Durch die Integrierung der Erläuterungskette ähnelt der Syllogismus unter ii*) demjenigen unter e), der im vorangegangenen Kapitel diskutiert wurde. Der ehemalige Wille unter e) steht nun in der Erläuterungskette und ist einer alternativen fiktionalen Beschreibung als Obersatz untergeordnet. Der Unterschied zum Willen Marias unter e) liegt darin, dass er sich unter ii*) explizit auf die fiktive Figur Thomas Müller und deren fiktive Handlung bezieht, während er unter e) auf Marias eigene fiktionale Handlung referiert. Die Paradoxie, die in ii*) besteht – eine (fiktive) Handlung Thomas Müllers soll durch eine (fiktionale) Handlung Marias ausgeführt werden – wird dadurch aufgelöst, dass die Handlung Thomas Müllers hier letztlich nichts anderes ist als die Handlung Marias unter einer anderen Beschreibung. Maria verweist unter ii*) lediglich (anders als unter e)) auf eine fiktive Zwischeninstanz, die stellvertretend für sie die Handlung auf dem fiktiven Fußballplatz durchführt. Das impliziert nicht, dass wir Thomas Müller hier als eigenständig handelnden Akteur verstehen sollten: Beschreiben wir die Handlung auf diese Weise (unter i)), dann haben wir es nicht mehr mit einer
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wirklichen fiktionalen, sondern mit einer imaginierten fiktiven Handlung zu tun, die im engeren Sinne gar keine Handlung mehr ist.89 Wenn wir das Geschehen als wirkliches Handeln verstehen wollen, dann kann die Handelnde nur Maria (wie im Falle von ii*)) sein und Thomas Müller ist gewissermaßen nur ein ‚Spielzeug‘, ein Mittler zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Welche Konsequenzen hat Marias Bezugnahme auf Thomas Müller als fiktiv handelnde Figur für ihre Perspektive auf ihr eigenes fiktionales Handeln? Wenn Maria im Sinne von ii) oder ii*) die Beschreibung f) ihrer Handlung zum Willen wählt, dann nimmt sie gewissermaßen Abstand von derselben. Sie zeichnet einen Aspekt der Handlung aus, den sie nicht ausführt, und hierin liegt die bereits angedeutete Paradoxie: Indem Maria ihren Willen auf die Handlung Thomas Müllers richtet, weist sie den Torschuss als ihrer eigenen Handlung extern aus und expliziert ihre Distanz zum Spielgeschehen. Als fiktive Handlung schreibt sie den Torschuss Thomas Müller zu, wodurch sie eine entpersönlichte Identifikation mit der Fiktion anzeigt. Einerseits ist Maria zwar bewusst, dass der Torschuss ihr fiktionales Handeln ist. Das zeigt sich nicht nur in der Erläuterungskette, sondern auch in der Minimalbeschreibung als Körperbewegung und generell darin, dass sie das fiktive Geschehen durch ihr Handeln zu beeinflussen sucht. Andererseits ist für Maria die kategorische Trennung zwischen fiktiver Welt und Wirklichkeit essentiell, sodass sie in ihrem Willen explizit betont, dass nur ein fiktiver Stellvertreter in der Fiktion agiert. Typische Varianten dieser Form des Computerspielhandelns findet man beispielsweise dann, wenn sich Spieler eines komplexen Rollenspiels wie The Witcher 3: Wild Hunt dazu entschließen, den Protagonisten Geralt von Riva als eigenständig handelnde Figur (und nicht als einzunehmende Rolle oder Avatar) zu verstehen und versuchen, seiner spielinternen Figurenzeichnung mit ihren Spielhandlungen möglichst treu zu bleiben (und etwa keine
89Börchers
sieht das anders. Um den ‚Bruch‘ zwischen Fiktion und Wirklichkeit im Spielhandeln zu klären, führt er die Spielfigur als eigenständig handelnde Entität ein: „Wenn […] Beschreibungen im Sinne des Spielgeschehens ihrem Gehalt nach über die Beschreibung einer Aktivität auf dem Computer hinausgehen, wird zur Beschreibung der Handlung eine Differenzierung zwischen Spieler und der Spielerfigur nötig, wobei Letzterer eigene Fähigkeiten und eigenes praktisches und theoretisches Wissen zugeschrieben werden müssen“ (Börchers 2018, 121). Ich finde diesen Ansatz aus zwei Gründen problematisch. Erstens spricht mit Ockhams Rasiermesser Einiges dagegen, eine weitere Entität zur Klärung des vorliegenden Phänomens einzuführen, deren Integrierung nicht notwendig ist: Es ist möglich, jegliche Computerspielhandlung von Maria ohne Verweis auf willentlich agierende Spielfiguren zu erklären. Zwar betont Börchers, dass die Spielfigur lediglich eine intensionale und keine extensionale Neueinführung sei, allerdings wird dadurch nicht verständlicher, wieso wir der Spielfigur ‚eigene Fähigkeiten‘ und ‚praktisches Wissen‘ zuschreiben sollten – als elementare Eigenschaften von Personen. Dadurch verschärft Börchers zweitens das Problem, statt es zu lösen: Nun müssen wir nicht mehr nur die Handlung einer Akteurin, der Spielerin, erklären, sondern auch noch die Handlung der Spielfigur und die Relation zwischen Spielfigur und Spielerin. Plötzlich haben wir zwei Handelnde, nicht nur eine, und es ist nicht ohne Weiteres klar, wie nach wie vor Maria als die eigentliche Akteurin verstanden werden kann. Mein Ansatz sieht das Phänomen einerseits differenzierter, indem zwischen virtuellen, fiktionalen und fiktiven Handlungen unterschieden wird. Andererseits löse ich das Problem effektiver, indem ich fiktive Handlungen seitens Spielfiguren von wirklichen Spielhandlungen seitens Personen absondere.
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2 Computerspielen als Handeln
Bauernhäuser zu plündern, weil dies nicht den moralischen Haltungen Geralt von Rivas entspräche, obwohl es mit der Spielmechanik möglich wäre). Auch der Vorsatz einer Spielerin, das Spiel ‚als böse‘ durchzuspielen, also möglichst fatale Entscheidungen im Spielverlauf zu treffen, fällt unter diese Kategorie fiktionalen Handelns, in der Handelnde ihre eigene Person explizit nicht in das fiktive Geschehen integrieren. Nichtsdestotrotz spielen sie weiterhin im Sinne fiktionalen (und nicht virtuellen) Handelns, da ihre Zwecke innerhalb der Fiktion angesiedelt sind: Geralt von Riva soll böse handeln, Thomas Müller soll ein Tor schießen. Was jedoch zum ‚Spielen in Reinform‘ fehlt, ist die starke mentale Identifikation mit der Fiktion, wie sie noch in Marias Handlung unter e) bestand. Unter f) akzeptiert Maria zwar eine fiktionale Beschreibung ihres Handelns, negiert jedoch mit dem Verweis auf Thomas Müller die unmittelbare Autorschaft des Torschusses, wodurch das Spielhandeln explizit „als ‚nicht so gemeint!‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend“90 gekennzeichnet wird. Unter e), wenn sich Maria selbst als Torschützin versteht, ist das Bewusstsein der Fiktion zwar präsent (sonst handelte es sich nicht um eine Spielhandlung), das wird in der Handlungsbegründung aber nur impliziert und nicht expliziert: „Der Spielende kann sich mit seinem ganzen Wesen dem Spiel hingeben. Das Bewußtsein, ‚bloß zu spielen‘, kann vollkommen in den Hintergrund getreten sein.“91 Je spielerisch raffinierter und grafisch pointierter Computerspiele gestaltet sind, desto eher sind Spielende mutmaßlich dazu geneigt, sich ‚im Spiel zu vergessen‘ und vollständig mit der Fiktion zu identifizieren. Dieser Prozess geht auch (aber nicht nur) mit dem wachsenden Realismus der Computerspiele in ihrer Präsentation einher: Ein realistischeres Spiel wie Red Dead Redemption 2 regt eher dazu an, in die fiktive Welt ‚einzutauchen‘ als ein ‚abstraktes‘ Spiel wie Tetris oder ein offensichtlich überzogenes wie Mario Kart 8.92 Noch mehr sinkt die Distanz zum Spielgeschehen durch technische Weiterentwicklungen der Hardware. Spätestens mit den jüngsten Entwicklungen in der Virtual-Reality-
90Huizinga
2015, 22. 30. Dieses Verhältnis von Spiel und Spieler kann psychologisch mit dem englischen Begriff ‚Involvement‘ erfasst werden und unterschiedlich stark ausgeprägt sein (vgl. Neitzel 2018). Das Phänomen der vollkommenen Identifikation mit dem fiktiven Spielgeschehen wird in den Game Studies mit dem Begriff der ‚Immersion‘ umschrieben, der Rezeptionsprozesse bezeichnet, „bei denen Rezipienten in medial vermittelte fiktive Welten ‚eintauchen‘“ (Fahlenbach/Schröter 2015, 168), was nichts anderes heißt, als dass „die Differenz zwischen medial vermitteltem Inhalt und unmittelbar erlebter Außenwelt für sie nicht vorhanden ist“ (Günzel 2012, 73). Wobei sich einer gänzlich lückenlosen Immersion, die den Spieler die Wirklichkeit (als übergeordnete Rahmenbedingung seines Handelns) vollständig vergessen ließe, de facto wohl nur angenähert werden kann. 92Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Red Dead Redemption 2 im Gegensatz zu Mario Kart 8 und Tetris narrativ strukturiert ist und die dadurch konstituierte erzählte (und nicht bloß fiktive) Welt „narratives, temporales, emotionales und soziales Involvement“ (Neitzel 2018, 228) ermöglicht. Aber auch der grafische Realismus scheint für das Präsenzerleben eine Rolle zu spielen (vgl. Fahlenbach/Schröter 2015, 169; McMahan 2003, 75f.). 91Ebd.,
2.3 Zwischenfazit
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Branche wird deutlich, wie gering die Distanz zwischen Spieler und Spielgeschehen mit der entsprechenden technischen Ausstattung werden kann, wenn die fiktive Welt das gesamte Blickfeld des Spielers einnimmt, die Perspektive den eigenen Kopfbewegungen folgt und Hand- und Körperbewegungen direkt ins spielinterne Geschehen übersetzt werden. Eine dürftige grafische Darstellung in der Software tut hier der Illusion des direkten Erlebens und Handelns keinen Abbruch.93 In letzter Instanz ist aber stets die mentale Einstellung der Spielenden entscheidend: Ohne eine entsprechende Haltung wird sich ein Spieler auch von der Virtual Reality nicht in die fiktive Welt ‚ziehen‘ lassen. Außerdem zeigen Erfahrungen mit älteren, grafisch extrem reduzierten Spielen (etwa mit sogenannten Textadventures, die allein Textblöcke darstellen) oder die gleichbleibende Intensität des Spielens von Klassikern wie Metal Gear Solid, dass die mentale Identifikation mit fiktivem Spielgeschehen prinzipiell keine besondere Hardware oder grafische Leistung voraussetzt. Derselbe Befund zeigt sich auch mit Blick auf nicht-digitale Spiele, in die sich insbesondere Kinder völlig voraussetzungslos hineinversetzen können. Nichtsdestotrotz macht es einem die fortschreitende Technik unbezweifelbar leichter, sich auf eine fiktive Welt einzulassen und schwerer, sich derselben zu entziehen. Es ist an der Zeit, die moralischen Implikationen dieser Befunde herauszuarbeiten.
2.3 Zwischenfazit In den vorangegangenen Kapiteln wurde das Handeln mit und in Computerspielen handlungs- und fiktionstheoretisch ergründet. Mit dieser Vorarbeit ist es nun möglich, einen differenzierten Blick auf den moralischen Status von Computerspielhandlungen zu werfen. Aber auch für sich genommen liefert die handlungstheoretische Analyse wertvolle Erkenntnisse: Als typische Formen des Computerspielhandelns wurden virtuelle und fiktionale Handlungen herausgearbeitet, die sich von gewöhnlichen Handlungen darin unterscheiden, dass sie Fiktionen, und von fiktiven Handlungen darin, dass sie die Wirklichkeit integrieren. Die erste Unterscheidung ist essentiell normativ, denn gewöhnliche, virtuelle und fiktionale Handlungen beschreiben keine unterschiedlichen Ereignisarten, sondern unterschiedliche Formen wirklichen Handelns: Sie weichen in
93So
beschreibt etwa Jeremy Bailenson, neben zahlreichen anderen Beispielen, die Begegnung mit einem grafisch dürftigen, fiktiven Spiegelbild in der Virtual Reality wie folgt: „In 1999, the mirror was farily low-tech – a user’s reflection was a clunky, robotic avatar, and only rotated its head and moved back and forth without having any hand or leg movements. But it still created a powerful effect. With enough time in VR, that clunky body began to feel like your body“ (Bailenson 2018, 85). Der Grund für diesen starken Identifikationseffekt in der Virtual Reality liegt unter anderem in der elementaren Bedeutung des ‚Tracking‘ (Synchronisation von Körperbewegung und digitaler Bewegung) für das Präsenzerleben: „What are the five most important aspects of VR technology? The punch line: Tracking, Tracking, Tracking, Tracking, and Tracking“ (ebd., 22).
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2 Computerspielen als Handeln
ihrer Begründungsweise durch die Akteurin voneinander ab. Die zweite Unterscheidung hingegen zielt auf differierende Ereignisarten, denn fiktive Handlungen sind keine Handlungen mehr im engeren Sinne: Sie zeichnet aus, dass sie keinerlei Beschreibung als wirkliche absichtliche Körperbewegung zulassen. Als eine solche ‚Handlung‘ kann f) gedeutet werden, wenn der Torschuss Thomas Müllers (im Kontext von Fifa 19) als selbstständige fiktive Tat innerhalb der fiktiven Welt verstanden wird. Mental beschrieben ist der Torschuss hier eine rein imaginierte und keine wirkliche Handlung. Bei virtuellen Handlungen hingegen ist es die indirekte Bezugnahme auf die Fiktion, die nur über die Erläuterungskette des Akteurs ersichtlich ist, welche diese Form des Computerspielhandelns auszeichnet und sie in die Nähe gewöhnlicher Handlungen rückt. Dass Maria unter c) Peter besiegt, rekurriert zwar auf die fiktive Welt von Fifa 19, weil nur in Bezug auf diese Marias Sieg in Gänze verständlich ist. Allerdings findet die Handlung selbst nicht in der fiktiven Welt statt: Maria besiegt wirklich Peter, allein die Erfüllungsbedingungen dieses Sieges liegen in der Fiktion. Maria nimmt gewissermaßen einen Umweg über die fiktive Welt, denn ihr Wille ist auf die Wirklichkeit gerichtet und auch ihre Körperbewegung findet wirklich statt. In diesem Sinne ist die virtuelle Handlung mental beschrieben nichts weiter als: eine Handlung. Beim fiktionalen Handeln indessen bezieht sich der Wille direkt auf die Fiktion, wodurch dieselbe notwendigerweise in Marias Handlungsbegründung integriert ist: Nur mit Blick auf die fiktive Welt wird die Handlung Marias als Torschuss verständlich. Dass der Zweck des Handelns hier fiktional ist, kann entweder in der Formulierung des Willens expliziert sein, wodurch die Akteurin paradoxerweise einerseits bewusst in der fiktiven Spielwelt agiert und sich andererseits vom Spielgeschehen distanziert. Diese Weise fiktionalen Handelns exemplifiziert die zweite Interpretation der Handlung unter f) und erinnert an fiktives Handeln, weil die fiktive Welt durch Markierung des fiktiven Stellvertreters erstpersonal als außerhalb wirklicher Handlungen stehend charakterisiert wird. Oder der Bezug auf die Fiktion wird im Willen nur impliziert, sodass erst im Kontext der Tätigkeit – etwa in der Inkongruenz zwischen erster und zweiter Prämisse des praktischen Syllogismus: zwischen Wille und Körperbewegung – die Fiktionalität des Handelns deutlich wird. In beiden Fällen handelt es sich mental beschrieben um Quasi-Handlungen: Der Spielende tut so, als ob er bestimmte Tätigkeiten (nicht) durchführt. Bei virtuellen Handlungen ist der Quasi-Operator unangebracht, denn hier macht der Akteur sich nicht glauben, im Spiel zu handeln, sondern er arbeitet mit dem Spiel auf (wirkliche) Zwecke hin. Und bei fiktiven Handlungen gibt es gar keinen (wirklichen) Akteur, der (wirklich) quasi-handeln könnte.94 Durch die Differenzierung der drei Formen des Computerspielhandelns wird deutlich,
94Freilich
ist eine Spielfigur vorstellbar, die fiktiv quasi-handelt, doch stellt dies selbstverständlich keine Form wirklichen Quasi-Handelns dar. Jegliche (Quasi-)Handlung im eigentlichen Sinne ist (wirklichen) Personen vorbehalten.
2.3 Zwischenfazit
49
inwiefern jedes Spielen zwar einerseits wirklich eine (virtuelle oder fiktionale) Handlung exemplifiziert, diese andererseits aber auch Aspekte enthält, die nicht vom Akteur durchgeführt, sondern bloß (mehr oder weniger explizit) imaginativ auf das eigene Tun projiziert werden: fiktive Aspekte. Diese wichtigen Resultate der handlungstheoretischen Analyse seien zum Abschluss des Kapitels tabellarisch zusammengefasst (Tab. 2.1): Tab. 2.1 Handlungstheorie des Computerspielens Form des Handelns Fiktionsgrad Struktur praktischer Syllogismen Mental:
Gewöhnliches Handeln 1. Wirklich [Wirklich] 2. Wirklich 3. Handlung
Spielhandeln Virtuelles Handeln
Fiktionales Handeln
1. Wirklich
1. Fiktional
[Fiktional] 2. Wirklich 3. Handlung
[Fiktional] 2. Wirklich 3. Quasi-Handlung
Fiktives Handeln 1. Fiktiv [Fiktiv] 2. Fiktiv 3. Rein imaginierte Handlung
3
Ethik des Computerspielens
Die ausführliche handlungs- und fiktionstheoretische Analyse von Computerspielhandlungen liefert das begriffliche Werkzeug für eine dem Phänomen angemessene Ethik des Computerspielens: Virtuelle und fiktionale Handlungen konturieren den Gegenstandsbereich der folgenden tugendethischen und moraltheoretischen Überlegungen. Die Klarheit des Forschungsgegenstands sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das vorliegende Projekt noch immer elementaren Schwierigkeiten gegenübersieht. Eine naheliegende Schlussfolgerung aus der vorangegangenen Analyse scheint nämlich zu sein, dass herkömmliche Moraltheorien nicht ohne Weiteres auf Computerspielhandlungen anwendbar sind, denn Ethiken wurden für gewöhnliche Handlungen ohne fiktiven Gehalt konzipiert – und Spielhandlungen sind, wie wir gesehen haben, gerade durch ihren Bezug zur Fiktion ausgezeichnet. Vor der ethischen Untersuchung von Computerspielhandlungen mit dem Utilitarismus, Aristoteles und Kant seien deshalb einige grundlegende moralische Intuitionen bezüglich virtueller und fiktionaler Handlungen eingeholt. Prima facie sind virtuelle Handlungen im Unterschied zu fiktionalen Handlungen ohne größere Probleme mit traditionellen Ethiken evaluierbar: Ein fiktives Monster zu besiegen, um sich mit einer möglichst hohen Punktzahl zu rühmen, scheint sowohl intuitiv als auch aristotelisch, utilitaristisch und kantisch moralisch unproblematisch zu sein. Dieselbe Handlung durchzuführen, um ein zuschauendes Kind zu traumatisieren, ist hingegen klarerweise unmoralisch. Dies legt nahe: Bei einigen Computerspielhandlungen (eben: den virtuellen) steht einer direkten Evaluation durch moraltheoretische Überlegungen nichts im Wege. Geht man geläufige Fälle virtuellen Handelns gedanklich durch, so stellt man fest: Sehr viele Computerspielhandlungen sind moralisch unproblematisch. Zu spielen, um zu gewinnen (als ein typisches Spielziel), ist prima facie nicht verwerflich – ungeachtet
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE , ein Teil von Springer Nature 2020 S. Ulbricht, Ethik des Computerspielens, Techno:Phil – Aktuelle Herausforderungen der Technikphilosophie 4, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62397-8_3
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der fiktiven Ereignisse. Zu spielen, um jemand anderen zu demütigen oder gar: um ein Verbrechen in der Wirklichkeit zu planen, ist hingegen eindeutig unmoralisch (wobei dies eher seltene Fälle des Spielens sind). Wie verhält es sich aber mit einer moralischen Einordnung fiktionaler Handlungen? Insbesondere solcher, bei denen sich ein unmoralisch anmutender Wille auf eine Fiktion bezieht? Man betrachte etwa die folgende Absichtsbekundung beim Spielen von Red Dead Redemption 2: „Ich ermorde die Passanten (indem ich die Knöpfe xyz drücke), weil ich die ganze Stadt ausrotten will!“. Aus den bisherigen Überlegungen ließe sich folgern, dass diese Handlungsbeschreibung aus mentaler Perspektive (also mit Blick auf ihre normative und damit ihre moralische Dimension) elliptisch sei und ein Fiktionsoperator fehle. Spielende wissen immer, dass sie spielen (sonst spielen sie nicht länger), somit laute die Absicht in diesem Kontext eigentlich: „Ich quasi-ermorde die Passanten (indem ich die Knöpfe xyz drücke), weil ich die ganze Stadt quasi-ausrotten will!“. Die Analyse ist zutreffend, aber mit ihr ist noch nichts über den moralischen Status von Quasi-Handlungen sui generis gesagt, denn es ist nicht klar, weshalb die Quasi-Variante der Beschreibung im Rahmen einer ethischen Untersuchung mehr Gewicht haben sollte als die erstpersonale (fiktionale) Beschreibung ohne Fiktionsoperator. Zwar eignet der mentalen Terminologie wesentlich normative (und damit moralische) Relevanz, damit ist aber nichts über das Verhältnis von fiktionaler Terminologie und Normativität gesagt. Tatsächlich ist der moralische (und auch ästhetische) Status von Fiktionen grundsätzlich noch ein blinder Fleck der bisherigen Argumentation; bislang wurden diesbezüglich meist nur Intuitionen eingefangen. Vorläufig können wir fiktionale Handlungen, bei denen der Wille in einer unmoralischen Handlung resultieren würde, wenn sie in der Wirklichkeit geschähe, quasi-unmoralisch nennen.1 Die zentrale Frage lautet nun, ob quasiunmoralische Handlungen (wirklich) unmoralisch sind: (Wann) Ist es unmoralisch, so zu tun, als ob man unmoralisch agiert? 1Eine
virtuelle Handlung kann niemals quasi-unmoralisch sein, denn hier findet kein aktives Spiel des make-believe statt. Bei einer Spielhandlung, die wir ausführen, um Punkte zu sammeln oder um einen Mitspieler zu demütigen, wäre eine entsprechende kontrafaktische Formulierung unangemessen: „Hätte ich in Wirklichkeit Punkte gesammelt bzw. einen Mitspieler gedemütigt, dann…“ funktioniert nicht, weil es das Punktesammeln bzw. das Demütigen ist, was der Spieler hier tatsächlich tut – nicht mehr und nicht weniger. Anders bei einer quasi-unmoralischen fiktionalen Handlung wie dem Ermorden von Passanten, bei der eine kontrafaktische Formulierung problemlos funktioniert: „Hätte ich in Wirklichkeit die Passanten ermordet, dann wäre meine Handlung unmoralisch“. Das soll nicht heißen, dass bei virtuellen Handlungen von Fiktion und Imagination keine Spur sei, im Gegenteil: Gerade dieser Bezug unterscheidet sie von gewöhnlichen Handlungen, wie in der vorangegangenen Analyse deutlich wurde. Die imaginative Minimalleistung ist bei einer tiefergehenden Erläuterung der Handlung gefordert, weil die fiktiven Geschehnisse als Mittel zum Erreichen eines wirklichen Zwecks verstanden werden. Allerdings ist dieser Bezug – anders als bei fiktionalen Handlungen – nicht wesentlich für die Rationalisierung der Handlung, weil er nicht Teil des primären Grundes (speziell: des normativ relevanten Willens) ist, sondern lediglich eine von vielen erstpersonal akzeptierten Handlungsbeschreibungen darstellt. Der Spieler begibt sich zur Ausführung seiner virtuellen Handlung nicht imaginativ in die fiktive Welt; er tut nicht so, als ob, sondern er tut, was er will.
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Eine zentrale Hürde jeder ethischen Überlegung bezüglich Computerspielhandlungen liegt in der Beweislast zu zeigen, weshalb Spielhandlungen überhaupt moralisch relevant sein sollten und warum sie, nun ja, nicht bloß Spielhandlungen sind.2 Ostritsch bezeichnet diese Position als ludischen Amoralismus und führt aus: Er stellt eine besondere Herausforderung für die Ethik der Computerspiele dar, weil er gerade diejenige Frage, die viele Spieler und Theoretiker am meisten zu interessieren scheint, nämlich die moralische Zulässigkeit von virtuellen Gewalttaten und Verbrechen, für unzulässig erklärt. Der Amoralist wird bei jedem Versuch, die Ausführung virtueller Handlung moralisch zu bewerten, darauf pochen, dass es ‚nur ein Spiel sei‘ und daher die moralischen Kategorien von ‚gut‘ und ‚schlecht/böse‘ nicht greifen.3
Ostritsch weist den Amoralismus in Bezug auf Computerspiele als Gegenstände zurück, gibt ihm Spielhandlungen als solche betreffend aber Recht: „I claim that we can save our moralist intuition if we locate the moral wrongness not in the activity of gaming but rather in the games themselves. The amoralist […] is right only to the extent that playing games is not in and of itself morally objectionable.“4 Mit Rücksicht auf die handlungstheoretische Untersuchung lässt sich das zu lösende Rätsel wie folgt formulieren: Qua Handlung scheint sich Computerspielen für eine moralische Evaluation anzubieten, qua Fiktion von dieser zu disqualifizieren. Prima facie sind Spiel und Fiktion nämlich immun gegenüber moralischen Überlegungen. Schon Schiller betont: „Der ästhetische Schein [als Fiktion, S.U.] kann der Wahrheit der Sitten niemals
2Eine
weitere Hürde, mit der ich bereits öfter konfrontiert wurde, ist die folgende: Ist es überhaupt angemessen, einzelne Computerspielhandlungen einer moralischen Evaluation zu unterziehen und von anderen Spielhandlungen bzw. vom Spiel als Gesamtwerk zu isolieren? Man könnte meinen, dies entspräche der isolierten Analyse und Bewertung einer einzelnen Szene aus einem Film oder einem einzigen Kapitel aus einem Roman und sei deshalb dem Gegenstand als Ganzes unangemessen. So schreibt etwa Ostritsch: „If we want to talk about the moral character of a game or a certain piece of gameplay, i.e., find out its moral meaning, we must take a look at the game in its entirety instead of just going by the (seemingly) morally offensive nature of an isolated representation“ (Ostritsch 2017, 124). Dem stimme ich grundsätzlich zu. Doch geht es mir erstens nicht um eine Evaluation von Computerspielen (dafür wäre das Isolieren freilich unangemessen), sondern um eine Evaluation von Computerspielhandlungen. Und ist der Fokus hierauf gerichtet, so besteht der relevante Kontext nicht im Spiel als Gegenstand, sondern in Wille, Körperbewegung und normativer Dimension der Handlungsbeschreibung. Zweitens scheint die Unangemessenheit einer Trennung von Spielhandlung und Spiel auf ästhetischen Überlegungen zu gründen, um die es mir mit einer moralischen Analyse nicht vorrangig geht. Zwar streift die Ästhetik des Spielens durchaus auch die Ethik (wie wir im Abschnitt 3.2.1 sehen werden), aber nicht in dem Sinne, dass methodische Überlegungen des einen Feldes direkt in das andere übernommen werden könnten. Ästhetisch kann es etwa unangebracht sein, bei der Interpretation eines Kunstwerks die Meinung des Künstlers zu berücksichtigen. Das ändert aber nichts daran, dass dessen Rolle als Produzent unter moralischen Gesichtspunkten durchaus elementar ist, etwa, wenn das Werk Fremdenfeindlichkeit propagiert. 3Ostritsch 2018, 84. 4Ostritsch 2017, 118.
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gefährlich werden; und wo man es anders findet, da wird sich ohne Schwierigkeit zeigen lassen, daß der Schein nicht ästhetisch war.“5 Huizinga vertritt eine analoge Haltung bezüglich des Spiels: „Das Spiel liegt außerhalb […] von Gut und Böse. Obwohl Spielen eine geistige Betätigung ist, ist in ihm an sich noch keine moralische Funktion, weder Tugend noch Sünde, gegeben.“6 Diese Gedankengänge sind durchaus einleuchtend und fangen grundlegende Intuitionen bezüglich Fiktionen und Spielen ein. So sind etwa fiktive Figuren, wie die böse Stiefmutter, offenkundig nicht unmoralisch und sie tun auch nichts moralisch Verwerfliches, weil sie nämlich in Wirklichkeit gar nichts tun und nicht (wirklich) existieren. Wäre die böse Stiefmutter wirklich, dann wäre sie unmoralisch. Damit sind fiktive Handlungen aus einer moraltheoretischen Untersuchung ausgeschlossen, denn sie finden als solche nicht in der moralisch relevanten Wirklichkeit statt. Virtuelle und fiktionale Handlungen dagegen enthalten Elemente, die moralisch fassbar sind: ihre wirklichen Aspekte innerhalb des praktischen Syllogismus; mindestens das Knöpfedrücken als zweite Prämisse. Nun ist das Drücken von Knöpfen allerdings per se moralisch unproblematisch. Wir wissen zwar, dass dies nicht die zentrale Beschreibung von Computerspielhandlungen ausmacht, aber bislang unbeantwortet ist, inwieweit welche Beschreibungen für die moralische Evaluation eine Rolle spielen. Zwar ist die mentale Beschreibung diejenige, der grundsätzlich eine normative Dimension eignet, doch bedeutet das nicht automatisch, dass diese in jeder moralischen Analyse im Zentrum stehen muss. Tatsächlich sind die Rollen von Wille, Fiktion und Beschreibungsrelativität je nach Ethik völlig verschieden. Im Folgenden sollen nacheinander der Utilitarismus, die antike Tugendethik des Aristoteles und die Pflichtenethik Kants diesbezüglich zu Wort kommen. Es wäre wenig fruchtbar, wenn der moralische Status von Computerspielhandlungen nur aus einer Perspektive untersucht würde, denn dann würde das Ergebnis von der Richtigkeit der entsprechenden Moraltheorie abhängen. Das Ziel ist es, grundlegend die moralische Dimension von Computerspielhandlungen abzustecken. Zu diesem Zweck werden virtuelle Handlungen, fiktionale Handlungen und der ludische Amoralismus im Folgenden aus einer je eigenständigen Perspektive diskutiert. In diesem Prozess werden die drei Ethiken unvermeidlich in ihrer Anwendbarkeit auf den Prüfstein gestellt, sodass Potentiale und Grenzen derselben deutlich zutage treten.
5Schiller
2013, 26. Brief/112. 2015, 15.
6Huizinga
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3.1 Evaluative Dimension: Der Utilitarismus und Aristoteles’ Tugendethik Die Tugendethik des Aristoteles und der Utilitarismus haben prima facie ein leichteres Spiel bei der ethischen Einordnung von Computerspielhandlungen als Kant. Das liegt daran, dass diese beide Ansätze die Moralität von Handlungen an etwas dem eigentlichen Tun Externes anbinden. Während der Utilitarismus als Konsequentialismus den moralischen Wert von Handlungen am Wert ihrer Folgen bemisst,7 hängt die Moralität einer Praxis bei Aristoteles von der ethischen Disposition des Akteurs ab.8 Unsere moralischen Intuitionen beruhen daher in beiden Ethiken auf fundamentalen Werten, im Angesicht derer wir Handlungen evaluativ als gut oder schlecht, wünschenswert oder verwerflich, tugendhaft oder lasterhaft einordnen.9 Der moralische Wert einer Handlung fußt somit nicht auf der intrinsischen Richtigkeit der Handlung selbst, sondern auf dem Nutzen ihrer Konsequenzen (Utilitarismus) bzw. der Tugendhaftigkeit ihres Akteurs (Aristoteles). Dies scheint eine gute Startposition zu sein, um die Moralität von Spielhandlungen zu erläutern, denn die rätselhafte fiktionale Dimension derselben ist hier zweitrangig – sowohl Folgen als auch Spielerinnen sind schließlich wirklich.
7Dies gilt, trotz aller Unterschiede im Detail, für jeden Vertreter dieser Moraltheorie. Auch wenn erst George Moore den Konsequentialismus als elementaren Bestandteil des Utilitarismus expliziert (vgl. Moore 2016, 141f.), spricht schon Jeremy Bentham, der ‚Großvater‘ des Utilitarismus, von „governance of two sovereign masters, pain and pleasure. It is for them alone to point out what we ought to do, as well as to determine what we shall do. On the one hand the standard of right and wrong, on the other the chain of causes and effects, are fastened to their throne“ (Bentham 1987, 65). John Stuart Mill betont: „Utility, or the Greatest Happiness Principle, holds that actions are right in proportion as they tend to promote happiness, wrong as they tend to produce the reverse of happiness [pain, S.U.]“ (Mill 1987, 278). Sidgwick referiert schließlich auf die Hervorbringung von „the greatest surplus of pleasure over pain“ (Sidgwick 2000, 6), Singer auf „the course of action that has the best consequences, on balance, for all affected“ (Singer 2011, 12) und Birnbacher auf das „Nutzenprinzip, dass sich die moralische Richtigkeit einer Handlung danach bemisst, ob ihre zu erwartenden Folgen mehr Nutzen (bzw. weniger Schaden) zur Folge haben als alle anderen in der jeweiligen Situation möglichen Handlungen“ (Birnbacher 2016, 211). Die Zitate belegen: Utilitaristen postulieren mit ihrer Theorie, dass sich eine Ethik primär mit dem Wert von Handlungsfolgen zu beschäftigen habe. 8Die (charakterliche) Gutheit des Menschen liegt für Aristoteles in unseren Tugenden als ethischen Dispositionen, deren Wert sich auf diejenigen Tätigkeiten überträgt, die den Tugenden entsprechen oder zu ihrer Ausbildung (durch Gewöhnung) beitragen: „Die Dispositionen (hexis) entstehen aus den entsprechenden Tätigkeiten (energeia). Aus diesem Grund müssen wir den Tätigkeiten, die wir ausüben, eine bestimmte Qualität geben, eben weil den Unterschieden zwischen diesen die Dispositionen entsprechen“ (NE II 1, 1103b/75). 9Wobei einige Utilitaristen den Anspruch erheben, nicht bloß evaluative Urteile fällen, sondern auch deontische Pflichten generieren zu können. Diese stehen allerdings typischerweise instrumentell „im Dienst der Vermeidung von Übeln und der Beförderung des Guten“ (Birnbacher 2013, 174) – das unterscheidet sie von kantischen Pflichten.
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Der strukturell ähnliche Ausgangspunkt von Utilitarismus und Tugendethik, bei der ethischen Untersuchung des Computerspielens dessen evaluative Dimension unter Rückführung auf elementare Werte zu ergründen, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Ethiken in beinahe allen (anderen) Belangen massiv unterscheiden. Nicht nur speist sich die moralische Wertigkeit aus je unterschiedlichen Quellen, sondern vor allem verfolgen die Ethiken grundlegend ein völlig anderes Projekt: Während Aristoteles die Aspekte eines gelungenen Lebens aufzuzeigen versucht, wollen Utilitaristen primär moralische Grundprinzipien des Handelns erarbeiten. Der normative Geltungsanspruch ist elementar verschieden: Aristoteles’ Überlegungen können als klugheitsethische Ratschläge verstanden werden, denen man folgen sollte, insoweit man ein gutes als glückseliges Leben führen will. Sie haben damit grundsätzlich einen hypothetischen Charakter: Wenn du ein gutes Leben führen willst, dann solltest du tugendhaft handeln.10 Die Utilitaristen hingegen erheben einen unbedingten Geltungsanspruch mit ihrer Moraltheorie: Egal, was du willst, du sollst mit deinem Handeln stets das allgemeine Wohlergehen maximieren. Diese Lehre beansprucht kategorische Geltung und „starke[] praktische[] Normativität“11. Sie versucht, von den Konsequenzen einer Handlung ausgehend „Gebote (Gesetze) der Sittlichkeit“12 und nicht bloß „Ratschläge der Klugheit“13 zu generieren. Nun gilt es zu klären, ob sich auch aus den Konsequenzen von Computerspielhandlungen entsprechende Forderungen ergeben.
3.1.1 Können Computerspielhandlungen schädliche Folgen haben? Den moralischen Status von Computerspielhandlungen zu ergründen ist kein empirisches Projekt, sondern ein philosophisches. Obwohl der Utilitarismus das Augenmerk auf die Konsequenzen einer Handlung richtet, wird es im Folgenden nicht darum gehen, Studien auszuwerten und faktisch existierende Auswirkungen des Computerspielens zu evaluieren. Vielmehr lautet die Frage, ob aus utilitaristischer Perspektive genuine moralische Unterschiede zwischen Computerspielhandlungen und gewöhnlichen Handlungen bestehen. Ich beziehe mich dabei primär auf die Überlegungen Sidgwicks, den argumentativ stringentesten Vertreter des klassischen Utilitarismus als ‚universalen Hedonismus‘,14 und Singers, als
10Vgl.
Luckner 2005, 39–46; Ostritsch 2018, 77f. Der Witz dabei ist freilich, dass Menschen qua Menschen das gute Leben als höchstes Gut faktisch alle anstreben: „Das Glück […] ist das Ziel all dessen, was wir tun“ (NE I 6, 1097b/55). Aristoteles’ Lehre gilt somit zwar bedingt, aber trotzdem (de facto) allgemein. 11Ostritsch 2018, 77. 12GMS BA 43/46. 13GMS BA 43/45f. 14Vgl. Sidgwick 2000, 5.
3.1 Evaluative Dimension: Der Utilitarismus und Aristoteles’ …
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modernen Utilitaristen, der in Practical Ethics für einen ‚Präferenzutilitarismus‘15 einsteht. Ich werde nur in Einzelfällen auf die Eigenheiten der jeweiligen Ansätze eingehen, da sie meist zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Mit diesem Vorgehen möchte ich einerseits Dopplungen vermeiden und andererseits demonstrieren, dass die Ausführungen mit einem breiten utilitaristischen Konsens kompatibel sind.16 Der Grundgedanke eines systematisch aufbereiteten Utilitarismus könnte lauten, dass er sich geradlinig aus der Kombination von rationalem Eigeninteresse und ethischer Unparteilichkeit ergibt. Es ist vernünftig und gut nach dem eigenen, persönlichen Wohlergehen zu streben (rationales Eigeninteresse). Allerdings ist das persönliche Wohlergehen nicht mehr wert als das Wohlergehen anderer Lebewesen (ethische Unparteilichkeit). Daraus ergibt sich: Wir sollten eine möglichst hohe Summe an Wohlergehen für jedes Lebewesen anstreben. Der Utilitarismus präsentiert diesen Gedankengang als diejenige ethische Überlegung, die unserem moralischen Alltagsdenken am ehesten entspricht: „Common Sense naturally turns to the Utilitarian principle for the further determinations and decisions required.“17 Die utilitaristische Denkweise fungiert gewissermaßen als ‚Metaprinzip‘ unserer moralischen Intuitionen, das insbesondere dann in Erscheinung tritt, wenn diese in Konflikt geraten. Beginnen wir etwa darüber nachzudenken, ob wir lieber ein Versprechen zur Pünktlichkeit einhalten oder Hilfe leisten sollten, so wägen wir automatisch die jeweiligen Folgen unserer Handlungsoptionen für die Betroffenen ab und gewichten sie; wir führen eine sogenannte Nutzenkalkulation durch: Wäre es fataler, zu dem ausgemachten Treffen einige Minuten später zu kommen, obwohl ich versprochen habe, pünktlich zu sein, oder, dem blinden Mann nicht über die viel befahrene Straße zu helfen?18 Doch der 15Vgl.
Singer 2011, 8–15. Es muss ergänzt werden, dass Singer seit einigen Jahren nicht länger einen Präferenzutilitarismus vertritt, sondern eine Wende zum hedonistischen Utilitarismus, orientiert an Sidgwick, vollzogen hat (vgl. Lazari-Radek/Singer 2014). 16Ich berücksichtige freilich nicht alle Ausläufer des Utilitarismus, sondern konzentriere mich auf den historischen wie systematischen Kern desselben: den sogenannten ‚Handlungsutilitarismus‘. 17Sidgwick 2000, 8. 18Laut Vertretern eines ‚indirekten Handlungsutilitarismus‘ wie Richard Hare (vgl. Hare 2016) oder Birnbacher (vgl. Birnbacher 2016) ist eine die Folgen meiner Handlung erwägende Nutzenkalkulation ausschließlich dann durchzuführen, wenn wir in eine Situation geraten, in der wir keine robusten moralischen Regeln parat haben, die uns ein schnelles und (in den meisten Fällen) richtiges Handeln erlauben. Begegnen wir etwa bei einem Spaziergang einem ertrinkenden Kind, das wir ohne Weiteres retten könnten, so wäre es laut indirekter Handlungsutilitaristen verfehlt, (zunächst) die Folgen unseres Handelns abzuwägen: Es ist völlig klar, dass wir das Kind retten müssen, so gebietet es uns die moralische Regel der Hilfeleistung – also sollten wir dies, ohne nachzudenken, sofort tun. Hare nennt dies die erste Ebene moralischen Denkens, auf der wir etablierte ‚Gebrauchsregeln des Alltags‘ nutzen, die uns in den meisten Situationen schnelles und (wahrscheinlich) richtiges Handeln erlauben (vgl. Hare 2016, 193–203). Erst, wenn wir mit Situationen konfrontiert werden, in denen keine etablierten moralischen Regeln greifen oder diese miteinander in Konflikt geraten, kommt die sogenannte zweite Ebene moralischen Denkens ins Spiel, in der wir einen universalen Standpunkt, den Standpunkt eines unparteiischen und allwissenden ‚Erzengels‘ einnehmen sollen (vgl. ebd., 195f.). Nun gilt es, für die konkrete in
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Utilitarismus bildet nicht nur alltägliche Entscheidungssituationen ab und bietet ein plausibles Verfahren für deren Lösung an, sondern er punktet auch mit einer eleganten systematischen Herleitung. Gemäß Sidgwick und Singer entwickelt er sich aus dem Fundament einer jeden Ethik: der Einnahme eines universalen Standpunkts.19 Die klassische hedonistische und die modernere präferenzorientierte Herangehensweise stehen für zwei Varianten, wie sich aus dem ethischen Universalismus ein konsequentialistischer Utilitarismus ergibt.20 Um den Grundgedanken der utilitaristischen Moraltheorie im Allgemeinen und gleichzeitig die Unterschiede zwischen hedonistischem und Präferenz-Utilitarismus darzustellen, seien nacheinander zwei einschlägige Bestimmungen von Sidgwick und Singer zitiert. Zunächst Sidgwick: „By Utilitarianism I mean the ethical theory that the externally or objectively right conduct, under any circumstances, is such conduct as tends to produce the greatest possible happiness, to the greatest possible number of all whose interests are affected.“21 Und nun Singer: In accepting that ethical judgments must be made from a universal point of view, I am accepting that my own needs, wants and desires cannot, simply because they are my preferences, count more than the wants, needs and desires of anyone else. […] Unless there are some other ethically relevant considerations, this will lead me to weigh all these preferences and adopt the course of action most likely to maximize the preferences of those affected. Thus, at least at some level in my moral reasoning, ethics points towards the course of action that has the best consequences, on balance, for all affected.22
Frage stehende Situation die beste Handlung (mit Birnbacher: die beste spezifische Handlungsregel, vgl. Birnbacher 2016, 211–214) zu finden, indem wir die Konsequenzen unserer Handlungsalternativen für das allgemeine Wohlbefinden abwägen. Kurz: Erst dann, wenn unsere etablierten moralischen Intuitionen und Regeln uns nicht mehr weiterhelfen, sollte gemäß indirekter Handlungsutilitaristen eine Nutzenkalkulation im Sinne Singers oder Sidgwicks seine Anwendung finden. Bei der moralischen Einordnung von Computerspielhandlungen befinden wir uns in einer solchen Situation, wie die vorangegangenen Überlegungen bereits verdeutlicht haben: Die moralischen Gebrauchsregeln des Alltags greifen hier nicht, denn Spielen exemplifiziert geradezu ein ‚Heraustreten aus dem gewöhnlichen Leben‘ (vgl. Huizinga 2015, 16). Insofern ist es auch gemäß der einflussreichen Strömung des indirekten Handlungsutilitarismus korrekt und angemessen, zur moralischen Untersuchung von Computerspielhandlungen eine ausführliche Nutzenkalkulation durchzuführen. 19Singer präzisiert: „[T]he justification of an ethical principle cannot be in terms of any partial or sectional group. Ethics takes a universal point of view“ (Singer 2011, 11). Und hieraus ergibt sich letztlich, so Singer, der Utilitarismus: „The universal aspect of ethics, I suggest, does provide a ground for at least starting with a broadly utilitarian position“ (ebd.). 20Wobei Singer in Practical Ethics die Auffassung vertritt, dass der Präferenzutilitarismus als Minimalfassung des Utilitarismus vor der hedonistischen Variante einzuordnen sei: „The preference utilitarian position is a minimal one, a first base that we reach by universalizing selfinterested decision making. We cannot, if we are to think ethically, refuse to take this step. To go beyond preference utilitarianism we need to produce something more“ (ebd., 14). 21Sidgwick 2000, 3. 22Singer 2011, 11f.
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Zur moralischen Einordnung einer Handlung stellt der Utilitarismus also Überlegungen dazu an, welche Konsequenzen sich für alle von der Handlung Betroffenen ergeben. Dabei bekommt keine Stimme (auch nicht die Stimme des Handelnden) mehr Gewicht als andere: Diejenige Handlung ist moralisch gut und sollte ipso facto durchgeführt werden, die in den besten Folgen für alle Betroffenen resultiert. Im Sinne des klassischen hedonistischen Utilitarismus sind das diejenigen Folgen, die maximal die Freude vermehren. Im Sinne des Präferenzutilitarismus sind es diejenigen Folgen, die maximal die Präferenzen aller Betroffenen erfüllen. So weit sei der Utilitarismus in zwei seiner stärksten Varianten dargelegt. Welche Implikationen ergeben sich hieraus für eine Ethik des Computerspielens? Ein erster Impuls gemäß dem ludischen Amoralisten könnte darin bestehen, auf die bloße Fiktivität der Folgen zu verweisen: Selbst die prima facie verwerflichsten Computerspielhandlungen – wie das berüchtigte Foltern in Grand Theft Auto V oder Vergewaltigungen in RapeLay23 – bewirkten letzten Endes bloß fiktive Ereignisse, die nicht schädlich seien, weil es gar keine Betroffenen gebe. Bei fiktiven Figuren handle es sich um Entitäten, die weder Präferenzen noch sinnliche Empfindungen haben und somit aus dem utilitaristischen Kalkül ausgeschlossen seien. Letztlich erfolge de facto nichts weiter als ein Verschieben von Binärcodes: Welche moralische Relevanz sollte das schon haben? Niemand ist betroffen! Bei genauerer Betrachtung ist diese Argumentation nicht stichhaltig; sie ist sogar offensichtlich falsch. Beim Spielen von Computerspielen gibt es nämlich immer mindestens einen Betroffenen: den Spieler. Und Leiden oder Präferenzen desselben sind durchaus ernst zu nehmen. Im Falle eines pathologischen Spielens etwa, das Teil einer Suchterkrankung ist oder zu einer solchen führt, ist offensichtlich, dass das Spielen schädliche Konsequenzen hat. Es könnte auch sein, dass eine Spielerin aufgrund intensiven Spielens auf ihrem Smartphone eine Haltestelle beim Zugfahren verpasst, wodurch sie eine teure Rückfahrt bezahlen muss und viel länger für den Heimweg braucht oder dass sich durch langjähriges Spielen ihre Wirbelsäule chronisch (und schmerzhaft) verformt: Das Spielen verursacht hier mehr Leid als Freude für die Betroffene und dient sicher nicht ihren Interessen. Gegen diese Beispiele könnte eingewendet werden, dass sie den Begriff der Moralität überstrapazieren. Es handle sich nicht um unmoralische Praktiken, sondern bloß um eine Art unkluges Verhalten, denn die schädlichen Konsequenzen beträfen nur die Akteurin. Dieser Einwand überzeugt nicht. Wenn die hedonistische Güte der Konsequenzen oder deren Präferenzerfüllung die Richtschnur für moralische Bewertungen ist und alle Betroffenen – inklusive die Handelnde selbst (warum sollte sie „from the point of view […] of the Universe“24 weniger zählen als andere?) – berücksichtigt werden, dann sprechen schädliche
23Um
es nochmal zu betonen: Mir geht es nicht um eine moralische Bewertung dieser Spiele als Gegenstände. Hierzu findet sich eine differenzierte und überzeugende Einordnung bei Ostritsch (vgl. Ostritsch 2017, 120–125). 24Sidgwick 1962, 382.
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3 Ethik des Computerspielens
Folgen für sie ipso facto gegen eine Durchführung der Handlung und markieren sie als unmoralisch. Aber mal angenommen, jene Beispiele fielen tatsächlich nicht in den Bereich des Moralischen, weil es hier primär um eine Verantwortung gegenüber anderen gehe.25 Auch dann lassen sich Beispiele konstruieren, in denen Computerspielen schädliche Folgen hat. Zunächst einmal bleiben die Konsequenzen in obigen Fällen wohl kaum nur im Skopus der Handelnden: Pathologische Süchte oder chronische körperliche Beeinträchtigungen haben typischerweise nicht nur schwerwiegende Folgen für die direkt Betroffene, sondern auch für ihr gesamtes soziales Umfeld. Doch auch unabhängig davon sind zahlreiche Formen schädlichen Spielens vorstellbar: etwa, wenn ein Computerspiel gespielt wird, um sich auf ein Verbrechen in der Wirklichkeit vorzubereiten – beispielsweise, um die präzise Steuerung einer bewaffneten Drohne zu trainieren. Oder (um ein weniger exotisches Beispiel zu bemühen) das Spielen eines Multiplayer-Matches, bei dem mein Handeln offensichtlich mehrere Personen betrifft und erheblichen Schaden anrichten kann. Beleidigungen und Diskriminierungen anderer Spieler in spielinternen Chaträumen etwa sind (leider) gang und gäbe.26 Aus der utilitaristischen Perspektive spielt die Differenzierung zwischen virtuellen und fiktionalen Handlungen kaum eine Rolle: Es geht um schädliche Auswirkungen des Spielens, egal welcher Art.27 Dass diese grundsätzlich denkbar sind, legt nahe, dass sich Spielhandlungen mitnichten innerhalb eines abgeschlossenen „Spielplatzes“28 bewegen, der sich „außerhalb der Sphäre der sittlichen Normen“29 befindet, weswegen das Spiel „an sich weder böse
25Eine
solche Ansicht vertritt etwa Verena Rauen (vgl. Rauen 2017, 545). lassen sich zahllose weitere Beispiele für unmoralisches Handeln im virtuellen Raum mit anderen Spielern finden. Ich überlasse es der Phantasie der Leserinnen, sich entsprechende Verhaltensweisen auszumalen. Nur ein weiteres, besonders erschreckendes und obszönes Beispiel sei an dieser Stelle erwähnt: die sexuelle Nötigung anderer Spieler im (gehackten) Multiplayer von Grand Theft Auto V (vgl. Ostritsch 2018, 94). 27Das heißt nicht, dass die Motive einer Handlung für den Utilitaristen grundsätzlich völlig unerheblich seien. Sie sind durchaus relevant: mit Blick auf die Konsequenzen, in denen sie typischerweise resultieren. So schreibt Singer: „Ethical judgments are concerned with motives because this is a good indication of the tendency of an action to promote what is considered desirable or undesirable, but also because it is here that praise and blame may be effective in altering the tendency of a person’s actions. In this respect, conscientiousness (that is, acting for the sake of doing what is right) is a particularly useful motive. […] Conscientiousness is of value because of its consequences“ (Singer 2011, 284f.). Unter dieser Perspektive ließe sich freilich untersuchen, ob und inwieweit sich fiktionale und virtuelle Handlungen, gemessen an den Tendenzen ihrer unterschiedlichen Motive, moralisch unterscheiden. Können quasi-unmoralische Quasi-Handlungen überhaupt zu schädlichen Konsequenzen tendieren, wenn der Wille bloß auf Fiktionen gerichtet ist? Könnten sie etwa Folgen für die ethische Haltung des Spielers haben? Da wir hier den Bereich der Tugendethik streifen, wird dieser Ansatz im nächsten Kapitel besprochen. 28Huizinga 2015, 18. 29Ebd., 231. 26Es
3.1 Evaluative Dimension: Der Utilitarismus und Aristoteles’ …
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noch gut“30 sei. Sondern jegliche Spielhandlung muss mit dem Utilitarismus essentiell als wirkliche Handlung mit wirklichen Konsequenzen verstanden werden. Damit ist der Amoralist widerlegt: Computerspielhandlungen können, wie jede andere Handlung auch, unmoralisch sein. Sie sind es zwar prima facie aus ganz anderen Gründen als ihre Konterparts in der Wirklichkeit (der virtuelle Mord eines Mitspielers ist nicht unmoralisch, weil ich einer Person das Leben nehme, sondern – möglicherweise – weil ich ihn damit in schlimme Rage versetze), aber letzten Endes läuft es darauf hinaus, dass virtuelle wie fiktionale Handlungen schädliche Konsequenzen für alle Betroffenen haben können. Die Beweislast liegt somit beim Amoralisten, der zeigen müsste, dass die Folgen von Spielhandlungen grundsätzlich nicht schädlich sein können, etwa, weil sie niemals über das Spiel hinaus gehen. Zur Verteidigung seines Standpunkts bleiben dem Amoralisten zwei Strategien. Als Erstes könnte er anführen, dass in obigen Beispielen faktische Konsequenzen aufgeführt würden, die ein Spieler unmöglich vorhersehen könne. Deshalb tue der Spieler nichts Falsches: Er könne ja nicht um die schädlichen Folgen seines Spielens wissen! Und eine Handlung sei nur dann unmoralisch, wenn jene wissentlich hervorgebracht werden. Tatsächlich betont schon Jeremy Bentham, dass es beim Utilitarismus nicht nur um eine Evaluation faktischer Konsequenzen gehen kann (sonst käme die Ethik gewissermaßen immer zu spät), sondern: „By the principle of utility is meant that principle which approves or disapproves of every action whatsoever, according to the tendency which it appears to have to augment or diminish the happiness of the party whose interest is in question.“31 Dieselbe Ansicht vertreten auch Sidgwick, wenn er in obiger Bestimmung vom ‚Tendieren‘ einer Handlung spricht, und Singer, dem es um eine zukunftsgerichtete Erfüllung von Präferenzen geht. Aber wohin tendieren nun Computerspielhandlungen? Grundsätzlich sicher nicht dahin, Leid zu erzeugen oder die Erfüllung von Interessen zu behindern, im Gegenteil: Spielhandlungen sind typischerweise Tätigkeiten, die Freude bereiten und die Interessen aller Betroffenen mindestens in dem Minimalsinn befriedigen, dass sie freiwillig am Spiel teilnehmen.32 Außerdem erhält jede Spielhandlung das Spiel aufrecht: Jede noch so quasiunmoralische Handlung innerhalb des Spiels scheint besser als ein Abbruch des Spiels (solange alle Beteiligten weiterspielen wollen). So einfach ist es allerdings nicht. Daraus, dass Spielhandlungen typischerweise nicht dazu tendieren, schädliche Folgen zu haben, lässt sich nicht schließen, dass Spielhandlungen per se nicht unmoralisch sein können. Die Tendenz pathologischen Spielens etwa ist es eben nicht, Freude zu bereiten oder Interessen zu erfüllen, sondern eine Sucht zu fördern, die Leid erzeugt und den (langfristigen) Interessen aller Betroffenen widerspricht – und dies kann ein reflektierter Spieler durchaus wissen. Die schädliche Tendenz diskriminierender oder beleidigender 30Ebd. 31Bentham
1987, 65. Hervorhebung von mir (S.U.). Spiel ist zunächst und vor allem ein freies Handeln. Befohlenes Spiel ist kein Spiel mehr“ (Huizinga 2015, 16).
32„Alles
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Handlungen im Multiplayer dürfte ebenso offensichtlich sein. Auch wenn der Wille (im Sinne einer fiktionalen Handlung) bloß auf die Fiktion gerichtet ist – der pathologische Spieler wolle doch nur das nächste Monster besiegen, der diskriminierende Spieler wolle sich doch nur Vorteile für den nächsten Kampf verschaffen – tendieren diese Handlung vom universalen Standpunkt aus betrachtet zu schädlichen Konsequenzen. Und dieser Standpunkt ist es, den ein Spieler bei der moralischen Evaluation seines Handelns berücksichtigen muss und auf den es Sidgwick wie Singer mit ihrer Theorie primär ankommt – nicht auf die faktische erstpersonale Perspektive, die für die Bestimmung der Handlungsart eine Rolle spielt. Hierauf könnte der Amoralist nun allerdings einen zweiten Einwand aufbauen: Die spezifische Moralität von Computerspiel handlungen werde durch utilitaristische Überlegungen überhaupt nicht tangiert. Der universale Standpunkt mache nämlich keinen Unterschied zwischen Computerspielhandlungen und gewöhnlichen Handlungen und sei dem Phänomen somit völlig unangemessen. Der Utilitarismus könne zur ethischen Ergründung von Computerspielhandlungen als solchen nichts beitragen! Es stimmt, dass die konsequentialistische Perspektive des Utilitarismus Spielhandlungen unter wirkliche Handlungen mit Konsequenzen subsummiert und dadurch der handlungstheoretischen Spezifik des Computerspielens keine Rechnung trägt. Das muss allerdings nicht als Nachteil dieser Moraltheorie verstanden werden. Im Gegenteil wird auf diese Weise klar verständlich, weshalb die Ethik nicht vor Spielhandlungen haltmacht: Es sind wirkliche Handlungen mit wirklichen Konsequenzen. Mit dem utilitaristischen Ansatz lässt sich außerdem schlüssig zeigen, warum die meisten Computerspielhandlungen tatsächlich nicht moralisch problematisch sind: Sie haben größtenteils keine schädlichen Auswirkungen.33 Und gleichzeitig macht der Utilitarismus deutlich, dass
33Seit
über zwei Jahrzehnten wird in Forschung und Öffentlichkeit über den Einfluss gewalthaltiger Computerspiele gestritten. Diverse empirische Studien ‚belegen‘ sowohl die eine als auch die andere Seite der Debatte (für einen aktuellen Überblick vgl. Venus 2018, 331– 335). Zwei grundsätzliche (zugegebenermaßen an dieser Stelle nicht hinreichend belegte) Beobachtungen sprechen aber meines Erachtens dafür, die potentiellen (negativen und positiven) empirischen Auswirkungen von Computerspielhandlungen nicht allzu hoch zu hängen: Erstens ist auffällig, dass, trotz der (steigenden) Masse an Spielern, die Ausübung krimineller Verbrechen in den letzten Jahrzehnten nicht massiv zugenommen hat – wenn überhaupt, dann ist (zumindest in Deutschland) eher das Gegenteil der Fall (vgl. PKS 2019, 28f.). Zweitens spricht die konstante Uneinigkeit in der empirischen Forschung prinzipiell dafür, dass faktische Auswirkungen des Computerspielens auf unser bewusstes alltägliches Verhalten nicht allzu groß sein können. Dieser Befund ist nicht völlig aus der Luft gegriffen. Leonard Reinecke und Sina A. Klein kommen nach einer ausführlichen medienpsychologischen Meta-Diagnose auf dasselbe Ergebnis: „Einfache, starke und direkte Medieneinwirkungen sind demnach schlicht unwahrscheinlich“ (Reinecke/Klein 2015, 239). Das soll Computerspielen nicht per se das Potential einer etwaig problematischen soziokulturellen Prägung (etwas durch Vertiefung kognitiver bias) oder Einübung unbewusster Reflexe (vgl. Phillips 2018) absprechen. In diesen Kontexten steht aber nicht die Moralität von Spielhandlungen im Fokus (als bewusstes, absichtliches Tun), die mich interessiert, sondern die der Spiele bzw. die moralische Verantwortung ihrer Entwickler.
3.1 Evaluative Dimension: Der Utilitarismus und Aristoteles’ …
63
Spielhandlungen nicht grundsätzlich außerhalb jeder moralischen Bewertbarkeit stehen. Das deckt sich mit unseren alltäglichen Beobachtungen und fundiert unsere Intuitionen bezüglich obiger Beispiele. Trotz dieser unbestreitbaren Pluspunkte bleibt der Einwand des Amoralisten jedoch bestehen: Eine intrinsische (Un-)Moralität von Computerspielhandlungen wird durch den Utilitarismus nicht bewiesen. Es wird beispielsweise nicht deutlich, warum es verwerflich sein sollte, in einem Spiel wie RapeLay Frauen zu vergewaltigen. Wenn es primär um die Konsequenzen geht, spielt es nämlich keine Rolle, welche Handlung ich konkret durchführe: Hauptsache, keine schädlichen Folgen. Und auch, wenn man die Tendenz einer Handlung berücksichtigt (die bei fiktionalen Handlungen alles andere als klar ist), entspringt die (Un-)Moralität nicht dem Handeln selbst, sondern den vermuteten oder wahrscheinlichen Chancen und Risiken, die typischerweise mit ihm verbunden sind. Das reicht nicht, um per se das Vergewaltigen von Frauen (oder Männern oder Kindern) in einem Spiel moralisch zu verurteilen – intuitiv erscheint eine solche Ächtung in Anbetracht diverser Einzelfälle aber angemessen. Um dieser Intuition gerecht zu werden, müssen wir den ethischen Ausgangspunkt ändern, was später mit der Kantischen Analyse geschehen wird (siehe Abschnitt 3.2). Der (klassische) Utilitarist würde anders auf die Vorwürfe reagieren. Er würde entgegnen, dass so etwas wie eine intrinsische (Un-)Moralität von Handlungen generell nicht existiere. In der Ethik müsse man von grundlegenden Werten und nicht von moralischen Geboten oder Verboten ausgehen, denn strikte Regeln werden dem Einzelfall nicht gerecht: Nicht das Töten per se ist falsch (man denke an Notwehr), nicht das Lügen per se ist falsch (man denke an eine lebensrettende Lüge) und so weiter. Die Richtigkeit oder Falschheit von Handlungen gilt es je nach Kontext des Einzelfalls zu erwägen, denn die Folgen bestimmen die Wertigkeit der Handlung, nicht die Handlung selbst. Nur diese ethische Methode wird den spezifischen Besonderheiten konkreter Handlungssituationen gerecht.34 Aus
34Aus
diesem Grund sind diejenigen Ansätze in der Computerspielforschung methodisch fehlgeleitet, die überprüfen wollen, wie das Spielen gewalthaltiger Spiele aus utilitaristischer Perspektive grundsätzlich moralisch einzuordnen sei und dafür empirische Studien zu Chancen und Risiken des Computerspielens durchforsten (vgl. McCormick 2001; Waddington 2007; Schulzke 2010). Dem (Handlungs-)Utilitarismus geht es nämlich in erster Linie nicht darum, bestimmte Handlungsformen (als types) in ihrer Moralität zu erfassen, sondern einen allgemeinen ethischen Grundsatz zu liefern (‚Befördere stets das allgemeine Wohlergehen!‘), mit dem (Tendenzen) konkrete(r) Handlungen (als token) evaluiert werden können. Hieraus können sich per definitionem keine universalen Pflichten im Sinne von ‚Töte keine Menschen!‘ oder ‚Spiele keine gewalthaltigen Spiele!‘ oder ‚Vergewaltige im Spiel keine Menschen!‘ ergeben, weil die Konsequenzen der Handlung (und damit auch ihre Tendenz) je nach Kontext variieren – was nicht heißt, dass sich gar keine Handlungsregeln aufstellen ließen: „For an extreme [hier: klassischen, S.U.] utilitarian moral rules are rules of thumb“ (Smart 1956, 346, Hervorhebung von mir, S.U.) bzw. „Prima-facie-Regeln“ (Birnbacher 2016, 214). Das muss man nicht als Nachteil des Utilitarismus, sondern kann es als Vorteil verstehen, da er dem Einzelfall gerecht wird, indem er Ausnahmen jeder moralischen Regel zulässt. Das heißt: Die utilitaristische Antwort auf den ludischen Amoralisten kann nicht damit zurückgewiesen werden, dass es bis heute keine empirischen Belege für schädliche Effekte gebe – denn der Utilitarismus will und
64
3 Ethik des Computerspielens
einer regelmäßigen Korrelation von Konsequenzen und Handlung lassen sich zwar möglicherweise Daumenregeln ableiten, nicht aber strikte Gesetze des Handelns. Diese sind schon deswegen nicht denkbar, weil moralische Pflichten in konkreten Situationen miteinander in Konflikt geraten können, wodurch Ausnahmen nötig werden (wie etwa in obigem Beispiel die Pflicht, keine falschen Versprechen zu geben, zugunsten der Pflicht zur Hilfsbereitschaft aufgegeben werden müsste, blinden Personen über die Straße zu helfen). Solche Fälle implizieren die Notwendigkeit eines Metaprinzips zur Lösung des Konflikts: den Utilitarismus als Konsequentialismus.35 Mit der evaluativen Dimension des Handelns ist somit, gemäß dem Utilitaristen, im Grunde bereits alles gesagt, was es moraltheoretisch zu sagen gibt, denn sie ist der deontischen stets vorgeordnet: „Consequentialists start not with moral rules but with goals“36.
muss gar nicht die Existenz negativer Konsequenzen für Spielhandlungen einer bestimmten Art behaupten, um moralische Forderungen aufstellen zu können. Er setzt lediglich fest, dass wenn solche Konsequenzen vorlägen, die Spielhandlung moralisch verwerflich wäre. Um diese Möglichkeit zu beweisen, reicht ein einziges denkbares Beispiel. Und da wir mehrere solche Beispiele gesehen haben, bedeutet dies, dass Spielhandlungen innerhalb des Rahmens moralischer Bewertbarkeit liegen. Vor diesem Hintergrund sind Argumentationen wie die folgende, die sich der Methode nach in sehr vielen Texten finden lassen und einem ludischen Amoralismus Rechnung zu tragen versuchen, kaum stichhaltig, weil sie dem utilitaristischen Begründungsanspruch nicht gerecht werden: „Das zentrale Problem ist das folgende: Bevor wir uns an eine solche [utilitaristische, S.U.] Kalkulation (die natürlich auch alle positiven Effekte des Computerspielens miteinzurechnen hätte!) [von Spielhandlungen, S.U.] machen könnten, müsste allererst der empirische Nachweis erfolgen, dass es eine kausale (und nicht etwa nur korrelative) Verbindung vom Konsum gewalthaltiger Computerspiele (als Ursache) hin zu realer Gewalt (als Wirkung) gibt (wobei eigentlich zu ergänzen wäre, dass es nur um moralisch problematische Gewalt geht, denn offenkundig ist nicht jede Form von Gewalt moralisch problematisch)“ (Ostritsch 2018, 85). Der Fehler liegt, kurz gesagt, darin, dass der Utilitarismus als normative Moraltheorie keinen Nachweis über empirische Konsequenzen des Computerspielens erbringen muss, um seine These zu untermauern, dass Computerspielen wirkliches Handeln mit wirklichen Konsequenzen und somit genau dann unmoralisch ist, wenn es schädliche Folgen hat. 35Eine entsprechende Argumentationslinie findet sich bei Sidgwick: „Wenn wir zwei konfligierende Handlungsempfehlungen haben […], dann brauchen wir laut Sidgwick ein übergeordnetes Prinzip, das diesen Konflikt auflösen kann. Dieses Prinzip ist für ihn das universalhedonistische Prinzip des Utilitarismus“ (Dufner/Müller-Salo 2019, XXXIf.). 36Singer 2011, 2. Bezüglich der Richtigkeit einer Handlung sind auch für indirekte Handlungsutilitaristen spezifische Nutzenkalkulationen den Moralregeln vorgeordnet. Anders ist dies hinsichtlich der Umsetzung einer Handlung (vgl. Hare 2016; Birnbacher 2016). Dieser Grundgedanke indirekter Handlungsutilitaristen geht auf die einflussreiche Überlegung Sidgwicks zurück, dass ein utilitaristisch ideales Moralsystem, in dem für jeden Einzelfall die beste Handlung (gemäß einer ausführlichen Nutzenkalkulation) theoretisch vorgegeben ist, von einem regelbasierten, praktisch handhabbaren und empirisch existierenden Moralsystem des Common Sense zu unterscheiden sei, dessen allgemein geltenden (und nicht-idealen) Moralregeln lediglich graduell angepasst und verbessert werden können und sollen (vgl. Sidgwick 1962, 460– 495). In diesem Sinne wäre für die moralische Einordnung von Computerspielhandlungen zwar idealiter jeder Einzelfall zu erwägen, in der tatsächlichen Praxis allerdings der etablierten (und meistens richtigen) moralischen Regel des Common Sense Folge zu leisten, dass das Spielen von
3.1 Evaluative Dimension: Der Utilitarismus und Aristoteles’ …
65
Um den Bogen zu schließen: Der ludische Amoralist ist grundsätzlich keine Herausforderung für den Utilitaristen. Es müsste gezeigt werden, dass Computerspielhandlungen niemals schädliche Konsequenzen haben können. Diese universale Aussage ist mit einfachen Beispielen aber schnell widerlegt. Man könnte mit dem Utilitarismus sagen: Computerspielen ist moralisch vom Spazierengehen nicht völlig verschieden. Niemand würde sagen, das Spazierengehen sei eine unmoralische Handlungsweise, denn typischerweise resultiert es nicht in schädlichen Konsequenzen. Deshalb ist es angemessen, das Spazierengehen nicht per se moralisch zu verurteilen. Gleichzeitig würde niemand sagen, dass sich Spazierengehen prinzipiell außerhalb jeder moralischen Bewertbarkeit befinde – es könnte unmoralisch sein, lieber einen ruhigen Spaziergang zu starten, als einen Familienstreit im Eigenheim zu schlichten. Oder lieber spazieren zu gehen, statt ein ertrinkendes Kind zu retten. Für Handlungen des Spielens gilt dasselbe: Sie sind prima facie moralisch unproblematisch, aber es lassen sich Fälle denken, in denen sie schädliche Konsequenzen haben. Damit ist es angemessen, im typischen Fall alltäglichen Spielens von der Daumenregel auszugehen, dass es moralisch unproblematisch ist, Computerspiele zu spielen. Das schließt allerdings nicht aus, dass Spielhandlungen in Einzelfällen auch moralisch falsch sein können. Somit gilt grundsätzlich für Computerspielhandlungen (wie für Handlungen des Spazierengehens, ja für alle Handlungen überhaupt): Sie sind genau dann unmoralisch, wenn sie insgesamt mehr Leid als Freude erzeugen bzw. mehr Präferenzen enttäuschen als erfüllen.
3.1.2 Können Spielende lasterhaft handeln? Die Tugendethik des Aristoteles gilt in der noch jungen Tradition der Computerspielethik gemeinhin als aussichtsreichster Kandidat, um etwas über die spezifische Moralität des Spielens zu verraten.37 Das liegt vermutlich daran, dass mit Aristoteles die Moralität einer Handlung essentiell von der Moralität der Akteurin abhängt: Gegenstand von ethischem Lob und Tadel sind ihm zufolge Tugenden und Laster als charakterliche Dispositionen, die wir dadurch erwerben, „dass wir sie zuvor betätigen“38. Ob eine Computerspielhandlung gut oder schlecht ist, muss also stets im Kontext entsprechender Haltungen der Spielerin entschieden werden. Dieser Ansatz entgeht prima facie einigen Schwierigkeiten alternativer Ethiken des Computerspielens: Während die Existenz moralisch relevanter Konsequenzen oder Pflichten beim Spielen prinzipiell in Frage gestellt werden kann, so gilt dies
Computerspielen moralisch nicht problematisch sei (abgesehen von pathologischen und offensichtlich schädlichen Fällen, die von den Moralregeln des Common Sense durchaus als üblicherweise verwerfliche Taten berücksichtigt werden). 37Vgl. 38NE
McCormick 2001; Sicart 2009; Patridge 2011; Ostritsch 2018, 86f. II 2, 1103a/74.
3 Ethik des Computerspielens
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nicht für die Existenz einer Spielerin mit ethischen Haltungen, die notwendigerweise involviert sein muss. Es haben sich bis dato zwei Versionen einer tugendethischen Analyse von Computerspielhandlungen etabliert: eine expressivistische und eine konsequentialistische.39 Während der ethische Expressivismus die Moralität von Spielhandlungen vollständig an die Moralität des Akteurs bindet, indem das Spielen bestimmter (unmoralischer) Spiele als Ausdruck der verwerflichen Haltung des Spielers verstanden wird,40 verweist die konsequentialistische Version auf die potentielle Habitualisierung lasterhafter (oder tugendhafter) Charakterzüge durch das Spielen.41 Im Folgenden werde ich zeigen, dass die erste Variante für eine Ethik des Computerspielens keinen Ertrag bringt und die zweite Variante sich selbst in ihren bisherigen Ausführungen ad absurdum führt. Anschließend werde ich eine eigene, differenziertere Herangehensweise an eine Ethik des Computerspielens mit Aristoteles skizzieren. Der ethische Expressivismus in Bezug auf Computerspiele wurde von Stephanie Patridge in Reaktion auf den ihrer Ansicht nach fehlgeleiteten konsequentialistischen Ansatz entwickelt: Though virtue theorists certainly care about cultivating a proper character, […] such concerns are not the primary focus of virtue theory. What is particularly attractive about virtue theory for my purposes is that it provides non-consequential resources for assessing the moral status of our in-game activities[.]42
Patridges erste grundlegende These ist die folgende: Bestimmte Spiele enthalten eine „incorrigible social meaning“43, also faktuale unmoralische Aussagen über die wirkliche Welt. Ostritsch entwickelt diese Position zu der sogenannten „endorsement view“44 weiter und präzisiert: Spiele (und andere ästhetische Objekte) sind nicht schon dann unmoralisch, wenn sie unmoralische Weltanschauungen bloß repräsentieren – sonst müssten wir sehr viele narrative Werke moralisch verdammen (auch solche, denen wir typischerweise ein hohes Maß an ethischer Reflexion zuschreiben, etwa diverse Filme über den Nationalsozialismus, aber auch eine ganze Reihe von Spielen45). Damit Ostritsch zufolge ein Spiel als unmoralisch gelten kann, muss es dem Rezipienten eine verwerfliche Weltanschauung nahelegen und damit gewissermaßen über bloße Fiktion
39Vgl.
Ostritsch 2017, 119–122; Ostritsch 2018, 86–88. Patridge 2011, 305. 41Vgl. McCormick 2001; Sicart 2009; Schulzke 2010. 42Patridge 2011, 305. 43Ebd., 308. Patridges Fallbeispiel ist das berüchtigte Spiel Custer’s Revenge, bei dem es die Aufgabe ist, als weißer Amerikaner Pfeilschüssen auszuweichen, um bei Erfolg eine an einen Pfahl gefesselte Ureinwohnerin zu vergewaltigen (vgl. ebd., 305f.). 44Ostritsch 2017, 122. 45Ostritsch führt als Beispiel The Witcher 3: Wild Hunt an, das in einer mittelalterlichen Fabelwelt spielt, in der diskriminierende Vorurteile (gegen alle Nicht-Menschen) vorherrschen (vgl. ebd., 123). 40Vgl.
3.1 Evaluative Dimension: Der Utilitarismus und Aristoteles’ …
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hinaus gehen: „Sometimes a piece of fiction is not merely fictional because, on a pragmatic level, it also endorses a normative view about the real world. As such endorsements, pieces of fiction can be subject to moral evaluation.“46 Wie auch immer man die Unmoral von Spielen als Gegenständen konkret bestimmt: Durch freudiges Spielen derselben, so Patridge, unterschreibt die Spielerin deren verwerfliche (faktuale) Botschaft: „There must be something wrong, antecedently, with anyone who would engage in such an activity for pleasure, independent of the consequences that might accrue to herself or others“47. Ostritsch modifiziert Patridges Überlegungen, indem er bezüglich ‚Freude‘ (pleasure) an Computerspielen zwischen einer schwachen Lesart – im Sinne von bloßem „Interesse nehmen“48 – und einer starken Lesart – im Sinne von ‚zustimmendem Wohlgefallen‘49 – unterscheidet. Nur im zweiten Fall handle es sich um eine „moralisch problematische Lust an der Darstellung“50. Patridge verdeutlicht diese an folgendem Beispiel: I invite you to imagine what you would think of your friend should you find her coming out of the virtual reality suite announcing “I just had great time in there. You can even have sex with virtual children. But hey, no worries, they aren’t real.“ […] I think that it is safe to say that for most of us our attitude toward our friend would be significantly diminished. […] It would not be that we were worried that such behavior would make our friend a worse person, though it might and this is certainly a morally salient consideration. More to the point, however, we would worry that our friend is a worse person than we thought she was. Anyone who would do that must be.51
Obwohl das Beispiel in seiner Aussage überzeugt, wird hier symptomatisch deutlich, warum der expressivistische Ansatz für das Projekt einer Ethik des Computerspielens nicht fruchtet: Nicht die Moralität der Spielhandlung, sondern die Moralität der Spielerin steht im Fokus. Es ist genau genommen nicht moralisch problematisch, auf eine bestimmte Weise zu spielen, sondern: auf eine bestimmte Weise zu sein! Würde die Freundin aus Patridges Beispiel etwa erklären, sie habe ihre Spielhandlungen auf das Tiefste verabscheut und das Spiel nur gespielt, um einen kritischen Artikel zu veröffentlichen, der das Entwicklerstudio moralisch verurteilen und zum Verbot des Spiels führen solle, dann würden wir nicht länger schlecht über sie als Person denken und ipso facto würden ihre
46Ebd.,
122. 2011, 305; vgl. Ostritsch 2017, 121f. 48Ostritsch 2018, 88. 49Vgl. ebd., 87f. Ostritschs Differenzierung von ‚Freude‘ impliziert nicht zwingend eine verschieden stark ausgeprägte Intensität der Erfahrung oder Emotion. Es geht ihm basaler um die Unterscheidung amoralischer und verwerflicher Umgangsweisen mit unmoralischen Spielen (vgl. Ostritsch/Ulbricht 2020). 50Ostritsch 2018, 88. 51Patridge 2011, 305. Dieses Beispiel von Patridge impliziert Ostritschs starke Lesart von ‚pleasure‘, auch wenn sie selbst hier nicht differenziert. 47Patridge
3 Ethik des Computerspielens
68
Spielhandlungen der Kindesvergewaltigung nicht ihren lasterhaften Charakter exemplifizieren – denn dieser wäre ja gar nicht lasterhaft. Die expressivistische Analyse liefert keinen Ertrag zur Klärung des moralischen Status einer virtuellen oder fiktionalen Kindesvergewaltigung als Handlung: (Wann) Ist es moralisch verwerflich im Spiel Kinder zu vergewaltigen? „Genau dann, wenn man dadurch seine lasterhafte Haltung ausdrückt“ ist keine Antwort, sondern ein Themenwechsel. Es geht hier nämlich nicht länger um die Handlung, sondern um den Charakter des Spielers. Auf den Punkt gebracht: Der Expressivismus kann qua Expressivismus immer nur bis zu der Feststellung gelangen, dass es unmoralische Menschen gibt, die gelegentlich Computerspiele spielen. Potentiell erklärt dies zwar diverse moralische Intuitionen, die wir gegenüber bestimmtem Spielerinnenverhalten haben. Für eine Ethik des Computerspielens ist das allerdings nicht erkenntnisbringend.52 Obwohl Patridges Ansatz der Aristotelischen Idee insofern angemessen ist, als sie unsere Haltungen als eigentlichen Gegenstand ethischer Evaluation festsetzt – denn man „lobt oder tadelt […] uns aufgrund unserer Tugenden und Laster“53 – so muss im Rahmen einer Ethik des Computerspielens doch danach gefragt werden, ob es nicht noch einen anderen Anknüpfungspunkt bei Aristoteles gibt, der sich zur ethischen Einordnung von Handlungen eignet. Dieser Punkt findet sich, wenn man sich die Frage stellt, wie wir überhaupt zu Tugenden (und Lastern) als charakterlichen Dispositionen gelangen: Wie werden wir zu guten Menschen? Gemäß Aristoteles sind ethische Tugenden unter anderem dadurch ausgezeichnet, dass wir sie von klein auf habitualisieren müssen, indem wir entsprechende Tätigkeiten wiederholt durchführen, denn erst „durch Gewöhnung werden sie [die Tugenden, S.U.] vollständig ausgebildet“54. So formuliert, droht Aristoteles allerdings ein petitio principii, wie er selbst bemerkt: Es könnte aber jemand eine Schwierigkeit darin sehen, was wir meinen, wenn wir sagen, man könne gerecht werden nur dadurch, dass man Gerechtes tut, und mäßig nur dadurch, dass man Mäßiges tut. Denn wenn jemand tut, was gerecht und mäßig ist, ist er schon gerecht und mäßig, ebenso wie jemand, wenn er Grammatisches und Musikalisches tut, bereits ein Experte in der Grammatik und Musik ist.55
52Ich
bin nicht der Auffassung, dass Patridges Analyse als solche fehlerhaft sei. Als deskriptive Überlegung verstanden liefert sie durchaus eine plausible Erklärung dafür, woher unsere moralischen Intuitionen bezüglich bestimmten Spieleverhaltens kommen könnten. Und auch auf normativer Ebene vermag sie – insbesondere in ihrer Weiterführung durch Ostritsch (vgl. Ostritsch 2017) – überzeugend die Moralität von Computerspielen als Gegenständen zu erschließen. Nur trägt dies für eine normative Theorie des Computerspielens als Praxis nichts aus (worauf Patridge mutmaßlich aber auch gar nicht hinaus will). 53NE II 5, 1106a/82. 54NE II 1, 1103a/74. 55NE II 3, 1105a/79.
3.1 Evaluative Dimension: Der Utilitarismus und Aristoteles’ …
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Um dem Zirkel zu entgehen, unterscheidet Aristoteles (implizit) zwischen bloß ‚formal-tugendhaften‘ und ‚wahrhaft-tugendhaften‘ Handlungen: „Gerecht und mäßig ist aber nicht, wer solche Dinge tut, sondern wer sie außerdem so tut, wie es die gerechten und mäßigen Menschen tun“56. Unter die erste Kategorie fallen zum Beispiel Tätigkeiten von Kindern, die nur zufällig den Tugenden gemäß sein können; für die Ausführung wahrhaft-tugendhafter Handlungen brauche es nämlich Erfahrung: „Der junge Mensch aber ist nicht erfahren, denn die Länge der Zeit macht die Erfahrung“57. Auch sogenannte ‚selbstbeherrschte Handlungen‘, zu denen man sich zwingen muss, sind bloß formal-tugendhaft, weil die Akteurin bei deren Ausübung nicht auf die richtige Weise affektiert ist: Sie empfindet keine Lust an der Tugend.58 Werden wir durch gute Erziehung aber auf die richtige Weise an formal-tugendhafte Handlungen gewöhnt, sodass wir sie regelmäßig und gerne ausführen, so bilden wir mit der Zeit Tugenden als beständige Dispositionen aus und handeln entsprechend wahrhaft-tugendhaft: „Es kommt also nicht wenig darauf an, ob man schon von Kindheit so oder so gewöhnt wird; es hängt viel davon ab, ja sogar alles“59. Tugenden und Laster sind also Ergebnis von Gewöhnungsprozessen, die durch Wiederholung bestimmter Tätigkeiten, die wir mit Lust verknüpfen, in Gang gesetzt werden; „man wählt nämlich das Angenehme und meidet das Unangenehme“60. Computerspielen macht Spaß. Somit liegt der Gedanke nahe, dass diese Tätigkeit eine gewichtige Rolle in der Gewöhnung von Tugenden und Lastern zu spielen vermag. Das legen auch Aristoteles’ Ausführungen zur Tragödie in seiner Poetik nahe, der er – als fiktionales Medium – ein Potential ethischer Bildung zubilligt: „Die Tragödie ist […] Nachahmung [mimesis, S.U.] von Handelnden […], die Jammer [eleos, S.U.] und Schaudern [phobos, S.U.] hervorruft und hierdurch eine Reinigung [katharsis, S.U.] von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“61 Ungeachtet der tiefergehenden (und streitbaren) Implikationen dieser Passage ist augenfällig, dass narrative Fiktionen für Aristoteles relevante Gefühlsregungen bezüglich bestimmter Praktiken verursachen können, was wiederum wesentlich für unsere eigene Lebenspraxis ist; im Rahmen der Gewöhnung an Tugenden und Laster spielen Gefühle der Lust und Unlust schließlich eine tragende Rolle. Folgende Vermutung liegt bezüglich Computerspielen also nahe: „The player is an ethical subject who develops moral training in the playing of games precisely by playing games“62. Besonders relevant scheint dies angesichts der Gefahr einer Eingewöhnung lasterhafter
56NE
II 3, 1105b/80. Hervorhebung von mir (S.U.). 9, 1142a/206. 58Vgl. NE II 2, 1104a–1105a/76–79. 59NE II 1, 1103b/75. 60NE X 1, 1172a/311. 61Aristoteles 1994, 19. 62Sicart 2009, 147. 57NE VI
3 Ethik des Computerspielens
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Haltungen zu sein: „The Aristotelian version of virtue ethical theory provides us with the vocabulary and explanation of what our gut feeling tells us is wrong with holopedophilia, and perhaps by extension, to violent video games“63. Konkret bedeutet dies: „[G]ames like Killer7, Manhunt and the Grand Theft Auto series are games that enforce wrong habits. By playing these games, the virtuous being engages in actions that are morally wrong“64. Aber auch ein positiver Effekt von Computerspielen ist denkbar: „[G]ames are a potentially valuable source of moral training, even when they are violent, as long as scenarios are constructed in a way that allows players to practice working through moral dilemmas that are analogous to the ones that may be faced in real life“65. In summa rechtfertigen diese Befunde eine Konklusion wie die folgende: Being a player […] implies becoming, or aspiring to become, a good player from a moral perspective. […] Being a good player is being a virtuous player. A virtuous player is the one who engages in a game and enjoys its ludic experience, but it is also she who, in the face of a moral challenge, uses the practical wisdom acquired by playing that game, and all those games that form her repertoire, in order to make the most ethically informed choice.66
Diese Passage verstehe ich – anders als ihr Autor – als reductio ad absurdum einer starken Version des konsequentialistisch-tugendethischen Arguments. Noch deutlicher wird dies hier: „[The, S.U.] wish to complete the game and face the challenges can also be considered a virtue“67. Mein Einwand ist schnell formuliert: Ein guter Spieler ist nicht ipso facto ein guter Mensch. Ich verhalte mich nicht tugendhaft, wenn ich eine hohe Punktzahl in Tetris erreiche. Wo liegt der Fehler der Autoren? Es trifft zu, dass ein tugendhaftes Leben durch das gute Durchführen von Praktiken konstituiert wird; schließlich geht es im Kontext der eudaimonia (als glückseliges Leben gemäß den Tugenden) darum, „Handlungen auf gute und angemessene (kalōs) Weise […] im Sinn der eigentümlichen Tugend“68 auszuführen. Allerdings sollte dies nicht so verstanden werden, dass das Gelingen einer Handlung vom Erreichen eines bestimmten, ihr externen Ziels (wie das Bewältigen von Herausforderungen oder Erreichen einer hohen Punktzahl) abhängt. Das ist nur bei Praktiken der Herstellung (poiēsis) der Fall, die sich von tugendhaften Handlungen (eupraxia) unterscheiden: „Das Ziel der Herstellung (poiēsis) ist von dieser selbst verschieden, das der Handlung nicht. Denn das gute Handeln (eupraxia) selbst ist Ziel“69. Obige Darstellungen unter-
63McCormick
2001, 285. 2009, 194. 65Schulzke 2010, 130. 66Sicart 2009, 92. 67Ebd., 95. 68NE I 7, 1098a/57. 69NE VI 5, 1140b/200. Hierzu auch Luckner: „Für das Handeln als prâxis ist es […] charakteristisch, dass der Zweck der Handlung, anders als beim Handeln als poíêsis, nicht als tätigkeitsextern unterstellt wird: tätig kann man nämlich auch allein um der Tätigkeit willen sein“ (Luckner 2005, 81). 64Sicart
3.1 Evaluative Dimension: Der Utilitarismus und Aristoteles’ …
71
schlagen diesen Unterschied, wenn davon gesprochen wird, dass der Wunsch, das Spiel zu beenden oder Herausforderungen zu bewältigen (als poiēsis), zu tugendhaftem Handeln (als eupraxia) führe. Der Fehler obiger Autoren geht aber noch tiefer: Sie tragen dem fiktionalen Aspekt von Computerspielhandlungen nicht (genug) Rechnung, der einer direkten Übertragung der Aristotelischen Tugendethik entgegensteht. Sehen wir uns diesen letzten Punkt genauer an: Ein gutes Leben im Sinne der eupraxia zu führen heißt für Aristoteles, dass wir unser Handeln klug abwägen und uns seinem Kontext entsprechend verhalten. Dafür gilt es erstens, die Handlungssituation auf angemessene Weise zu erfassen und zweitens, die entsprechende zu verwirklichende Gutheit als Tugend zu bestimmen (die anschließend durch unser Handeln realisiert wird). Diese zentralen Aufgaben übernimmt die Klugheit (phronēsis), die das tugendhafte Verhalten als „Mittleres (meson) zwischen Übermaß (hyperbolē) und Mangel (elleipsis)“70 erwägt. Welche Implikationen haben diese Überlegungen für eine Ethik des Computerspielens? Beginnen wir mit einem eindeutigen Fall: Das pathologische Spielen, das schon vom Utilitarismus als unmoralisch klassifiziert wurde, lässt sich auch mit Aristoteles klar als verwerfliche Praxis charakterisieren. Die haltlose Befriedigung von Süchten entspricht einem Übermaß bezüglich unseres Umgangs mit Begierden, weil der Süchtige (im Sinne der Unmäßigkeit) „mehr, als man soll, darunter leidet, wenn er Angenehmes nicht bekommt; selbst seine Unlust ist durch Lust verursacht“71. Ein übermäßiges Computerspielen (mit Aristoteles auch insbesondere in der Kindheit) könnte so sehr an die entsprechende Tätigkeit gewöhnen, dass eine Sucht (als Laster der Unmäßigkeit) habitualisiert wird. Das Spielen bewegt sich in diesem Kontext zwischen Übermaß und Mangel und ist ipso facto tugendethisch relevant. Doch geht es hier um extrinsische Faktoren des Spielhandelns, die nicht den Fokus obiger Autoren abbilden und philosophisch keine Rätsel aufwerfen.72 Wie steht es mit Handlungsweisen, die essentiell innerhalb eines Computerspiels stattfinden und auf die auch der ludische Amoralist primär zielt: Können hier tugendhafte oder lasterhafte Haltungen habitualisiert werden? Betrachten wir zur Beantwortung dieser Frage exemplarisch die Tugend der Tapferkeit. Tapferkeit ist das Mittlere „[i]n Bezug auf Furcht (phobos) und Mut (tharrē)“73. Wer sich zu wenig fürchtet und „übermäßig Mut empfindet, ist tollkühn (thrasys), und wer sich zu sehr fürchtet und zu wenig Mut empfindet, ist
70NE
II 5, 1106a/83. III 13, 1118b/124. 72Ich halte es trotzdem für wichtig, diese Fälle aufzuführen, denn sie widerlegen bereits einen ‚naiven‘ ludischen Amoralismus. 73NE II 7, 1107af./86. 71NE
72
3 Ethik des Computerspielens
feige (deilos).“74 Es braucht für die Tugend der Tapferkeit (wie für jede Tugend) die passende Situation, damit sie zur Ausführung kommen kann: eine Situation der Furcht, eine Gefahr. Kann man beim Computerspielen in solch eine Situation geraten? Miguel Sicart scheint davon auszugehen: „Being courageous in an online match of Halo 3, for instance, is not different from being courageous outside of the game“75. Prima facie liegt der Fall anders. Im fiktiven Szenario des Multiplayers von Halo 3 liefert man sich Schussgefechte mit anderen Spielern. Es geht unter anderem darum, Punkte für das eigene Team zu holen, indem man gegnerische Spieler ‚tötet‘. Ich schreibe bewusst ‚tötet‘ in Anführungszeichen, weil das Abschießen des Gegners nicht einmal innerhalb der fiktiven Welt zum Tod der Figur führt, sondern zu einem Punktaufstieg für das eigene Team und einem Wiederauftauchen der gegnerischen Figur an einer anderen Stelle. Ist das eine Situation der Gefahr und Furcht für den Spieler? Offensichtlich nicht. Nur in Ausnahmefällen ist denkbar, dass der Spieler (wirkliche) Furcht vor dem Tod seiner Figur oder dem Verlieren einer Runde empfindet. Und das sind gerade Fälle, bei denen wir nicht länger von klassischen Spielhandlungen sprechen würden.76 Sehen wir uns einen plausiblen Aristotelischen Syllogismus zur Rationalisierung einer typischen Spielhandlung im Kontext des Multiplayers von Halo 3 an: 1. Allgemeines Prinzip: „Bei kompetitiven Spielen soll man gewinnen“ 2. Einordnende Wahrnehmung der Situation: „Ich spiele das kompetitive Spiel Halo 3 und gewinne, indem ich durch Abschuss meiner Gegner Punkte für das eigene Team hole“ [indem ich die Knöpfe xyz drücke]" 3. Handlung: *Abschießen-Des-Gegners-In-Halo-3*
Dies ist eine glaubhafte Variante der Rationalisierung einer virtuellen Handlung beim Spielen von Halo 3. Von der Tugend der Tapferkeit fehlt hier jede Spur, denn weder Furcht noch Gefahr bestimmen die Handlungssituation. So verhält es sich im Normalfall bei jeder virtuellen Handlung; schließlich bezieht sich der Wille hier auf die Wirklichkeit (in diesem Fall: den Sieg), die beim Computerspielen (typischerweise) schlicht nicht gefährlich ist. Sehen wir uns ein anderes Beispiel an:
74NE
II 7, 1107b/86. 2009, 93f. 76Es wäre zum Beispiel denkbar, dass das Verlieren einer Runde Halo 3 mit dem Verlust wichtiger Dateien auf dem Computer oder mit einer echten Demütigung verknüpft ist. Dann empfände der Spieler wohl wirkliche Furcht beim Spielen und könnte entsprechend tapfer agieren. Typischerweise ist die Angst zu verlieren aber nicht solcher Art, weil keine wirkliche, sondern nur eine fiktive Gefahr herrscht. Wird das Spielen zur wirklichen Gefahr, so ist dies der Moment, in dem das Spiel aufhört, bloß Spiel zu sein: der Moment, in dem man das Spiel (hoffentlich) abschaltet. 75Sicart
3.1 Evaluative Dimension: Der Utilitarismus und Aristoteles’ …
73
1. Allgemeines Prinzip: „Bei Gefahr soll man tapfer handeln“ 2. Einordnende Wahrnehmung der Situation: „Ich spiele Halo 3, befinde mich in Gefahr und kann ihr tapfer trotzen, indem ich den Angreifer abschieße. [indem ich die Knöpfe xyz drücke]“ 3. Handlung: *Abschießen-Des-Gegners-In-Halo-3*
Auch diese Situation ist gut vorstellbar: Die Spielerin hat sich imaginativ so sehr in das Spiel vertieft, dass ihr Adrenalinspiegel bei Sicht eines Gegners steigt, ihre Hände zu schwitzen beginnen und sie nur voller Aufregung ‚den Abzug drücken‘ kann. Das Schlüsselwort ist imaginativ. Diese Situation ist zwar denkbar, aber nur vor dem Hintergrund einer bestimmten Weise der Rezeption: eines Spielens als make-believe, als fiktionalen Handelns. Die Spielerin empfindet ipso facto keine Furcht, sondern Quasi-Furcht – denn sie befindet sich nicht wirklich in Gefahr. Das resultierende Verhalten kann somit nicht tapfer sein, denn Tapferkeit ist eine Tugend bezüglich des Umgangs mit wirklicher Furcht und Gefahr, nicht mit Quasi-Furcht und Quasi-Gefahr. Sicart unterschlägt, wenn er jegliche ‚Tapferkeit‘ in Halo 3 mit wirklicher Tapferkeit gleichsetzt, das eigentlich offensichtliche Faktum, dass wir es beim Spielen von Halo 3 (zum Glück!) nicht mit wirklichen Kriegssituationen zu tun haben, sondern mit fiktiven. Wir handeln weder ‚wahrhaft-tapfer‘, noch ‚formal-tapfer‘, sondern gar nicht tapfer, weil der entsprechende Kontext fehlt.77 Wir üben ipso facto beim Computerspielen (im Normalfall) nicht Tapferkeit, Tollkühnheit oder Feigheit ein. Dass jemand im Multiplayer von Halo 3 ‚tapfer‘ aus der Deckung stürmt, um seine Kameraden zu unterstützen, sagt nichts darüber aus, wie er sich in einer wirklichen Kriegssituation verhalten würde – genau das müsste es aber, wenn es sich um eine tugendhafte Handlung im Aristotelischen Sinne handelte, die Aufschluss über die ethische Grundhaltung des Akteurs gibt. Und wenn ich mich im Horrorspiel Amnesia: The Dark Des-
77Trotzdem
ist das Verhalten der Spielerin möglicherweise tugendhaft: Nicht, weil sie tapfer, sondern, weil sie den Spielregeln gemäß agiert und das Spielen auf gute Weise durchführt. Stellenweise scheint es Sicart wesentlich auch um diesen Punkt zu gehen: „[P]layers present moral reasoning, a capacity for applying ethical thinking to their actions within a game, not only take the most appropriate action within the game in order to preserve the game experience, but also to reflect on what kind of actions and choices she is presented with, and how her playersubject relates to them“ (Sicart 2009, 101). Mit diesem Schwerpunkt sind Sicarts Überlegungen nicht mehr ganz so abwegig und werden in der neueren Forschung unter anderem von Ralf Wunderlich aufgegriffen und weiterentwickelt (vgl. Wunderlich 2012, 131–147). Ich glaube aber, dass auch diese Argumentationslinie es mit der Tugendethik Aristoteles‘ zu weit treibt. Erstens ist, wie gesagt, nicht jede gute Ausführung einer Handlung tugendhaft im ethischen Sinne: Ein Schreiner, der einen stabilen Tisch baut, indem er das Holz raffiniert verarbeitet, handelt nicht gut im Sinne der praxis, sondern der poiēsis. Sein Handeln ist weniger ethisch tugendhaft gemäß der phronēsis, als vielmehr geschickt gemäß der technē (vgl. NE VI 4, 1140a/198f.). Sicart müsste zeigen, dass es sich bei den diskutierten Spielhandlungen eindeutig um Tätigkeiten der praxis handelt. Zweitens sollte die ‚Tugend des guten Spielens‘, wenn es denn eine solche gibt, nicht als diffuse Blaupause für die Einübung anderer Tugenden (außer gegebenenfalls der phronēsis) verstanden werden (wie Sicart es vielerorts suggeriert, weil er nicht scharf genug zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheidet), sondern als eigenständige Tugend. Schließlich handelte es sich drittens ohnehin nicht um eine Tugend, die moralisch (in einem starken Sinne) relevant wäre: Wer schlecht Tetris spielt, agiert nicht unmoralisch. Daher ist die Tugend des guten Spielens, falls es sie gibt, für meine Untersuchung zweitrangig.
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cent überwinde, in die Keller eines unheimlichen Schlosses zu steigen, um seinem dunklen Geheimnis auf die Spur zu kommen, so heißt das nicht, dass ich mich in einer analogen Situation in der Wirklichkeit ebenso tollkühn verhalten und nicht Hals über Kopf die Flucht ergreifen würde. Und falls mich jemand an meiner Flucht hindern wollte, indem er auf mein Verhalten in Amnesia: The Dark Descent verweist, würde ich aufgebracht und mit Recht erwidern: „Das war doch nur im Spiel!“. Fiktionale Handlungen entsprechen nicht ihren Pendants in der Wirklichkeit (wie in den handlungstheoretischen Ausführungen deutlich wurde), sondern ahmen diese höchstens im Kontext einer völlig anderen (fiktiven!) Handlungssituation nach und verbieten damit eine direkte, undifferenzierte Anwendung der Aristotelischen Tugendethik. Die Analyse bezüglich der Tapferkeit lässt sich prinzipiell auf alle Tugenden des Aristoteles im Kontext fiktionalen Handelns übertragen: Wenn das Spielerverhalten durch eine Situation innerhalb der fiktiven Welt bedingt ist, dann wird weder wahrhaft-tugendhaftes noch formal-tugendhaftes (oder lasterhaftes) Verhalten habitualisiert. Beim Spielen narrativ komplexer Rollenspiele wie The Witcher 3: Wild Hunt habe ich zwar zuhauf die Möglichkeit, mich quasi-tugendhaft oder quasi-lasterhaft zu verhalten: Ich kann tapfer ein Dorf vor einem Monster beschützen, freigiebig einem Bettler Goldmünzen schenken oder gewandt auf einem Fest die Leute unterhalten. Ich kann auch unfreundlich einen Elfen beleidigen, jähzornig einen frechen Zwerg erschlagen, ungerecht einen armen Bauern bestehlen oder unmäßig einen über den Durst trinken und so fort. In keinem dieser Fälle handle ich aber wirklich (weder formal noch wahrhaftig) gemäß diesen Tugenden bzw. Lastern, sondern bloß fiktional. Aus mentaler Perspektive – die den normativen Handlungskontext erfasst – tue ich nämlich bloß so, als ob ich tapfer, freigiebig, ungerecht und so weiter agiere. Das gilt allerdings nicht notwendigerweise für jede denkbare Spielsituation und Tugend. Betrachten wir exemplarisch die Tugend der Freigiebigkeit etwas genauer: „Wo es um das Geben und Nehmen von Geld geht, ist die Mitte die Freigebigkeit (eleutheriotēs), das Übermaß und der Mangel Verschwendung (asōtia) und Geiz (aneleutheria).“78 Wenn ich einem Bettler in The Witcher 3: Wild Hunt etwas Geld gebe, so heißt das nicht, dass ich ein freigiebiger Mensch bin – ich könnte eigentlich ein totaler Geizkragen sein und Bettlern in Wirklichkeit niemals Geld geben. Das liegt daran, dass es beim Spielen von The Witcher 3: Wild Hunt und bei meiner konkreten Handlung genau genommen nicht um ‚das Geben und Nehmen von Geld‘ geht. Ab dem Moment, da ich das Spiel an der Kasse bezahlt habe, spielt (echtes) Geld bei The Witcher 3: Wild Hunt keine Rolle mehr. Die innerfiktionale Währung hat ausschließlich innerfiktionale Relevanz. Aber es gibt Computerspiele, bei denen das anders ist. Vorzugsweise Online-Spiele, deren Erwerb oftmals kostenlos ist, bieten innerhalb ihrer Spielwelt nicht selten sogenannte Mikrotransaktionen an, was Spielern erlaubt, sich mit (echtem) Geld spielerische Vorteile zu verschaffen oder ihre Spielfigur dekorativ zu verschönern. Ein aktuelles Beispiel ist das zur-
78NE
II 7, 1107b/87.
3.1 Evaluative Dimension: Der Utilitarismus und Aristoteles’ …
75
zeit (vor allem bei jüngeren Spielern) sehr beliebte Fortnite, bei dem Spieler einen bestimmten Betrag Spielwährung käuflich erwerben können, um damit diverse spielinterne Gegenstände zu erstehen. Das ist in etwa so, wie wenn man in einer Runde klassischem Monopoly beim Bankier wirkliches Geld für Spielgeld eintauscht. Verschenke ich nun regelmäßig etwas von diesen Gütern, die auf wirklichen Ausgaben beruhen, an andere Spieler (etwa, weil diese sich einen bestimmten Gegenstand nicht leisten können oder sie mit ihrer kümmerlichen Ausrüstung jede Runde verlieren), so könnte man von der Tugend der Freigiebigkeit sprechen, die hier habitualisiert wird.79 Gleiches gilt zum Beispiel auch für die Tugend der Freundlichkeit: Ein freundliches Verhalten gegenüber Mitspielern lässt durchaus auf eine entsprechende Haltung meinerseits schließen, dass Höflichkeit in jeder Situation – auch im Wettbewerb – geboten ist. Beleidigungen im Chat hingegen legen einen gegenteiligen Schluss nahe: Wer, sobald die Hürden persönlicher Konfrontation fallen, maßloses und respektloses Verhalten gegen Andere an den Tag legt, zeigt prima facie seine ‚wahre‘ lasterhafte Einstellung. Die Differenz zwischen tugendhaftem (oder lasterhaftem) und bloß quasi-tugendhaftem (oder quasi-lasterhaftem) Verhalten beim Spielen lässt sich auf den Unterschied zwischen virtuellen und fiktionalen Handlungen zurückführen. Wenn mein Spielen durch eine wirkliche Handlungssituation bedingt ist, die meinen Willen prägt – etwa, weil ich mit wirklichen Personen interagiere, mit wirklichem Geld zu tun habe oder zu wirklichem Zorn gereizt werde – dann spricht nichts dagegen, dass meinem Handeln ethische Relevanz eignet, weil es tatsächlich Tugenden bzw. Laster eingewöhnt. Solche wirklichen Kontexte treten vornehmlich (aber nicht ausschließlich) beim Spielen mit anderen Personen auf und konfrontieren Spielende unter anderem mit Furcht, Lust, Geld, Zorn oder Vergnügen. Diese Fälle virtuellen Handelns widerlegen den Amoralisten, da sich die Spielerin in Situationen wiederfindet, die eine Abwägung der tugendhaften Mitte zwischen Übermaß und Mangel erfordern. Das gilt nicht für alle virtuellen Handlungen: Das einsame Spielen von Tetris etwa, um eine möglichst hohe Punktzahl zu erreichen, fällt typischerweise nicht hierunter. Die Handlung ist zwar virtuell, doch ist hier keine besondere ethische Tugend gefordert. Im Kontext fiktionaler Handlungen allerdings behält der Amoralist recht: Wie wir ausführlich am Beispiel der Tapferkeit gesehen haben, wird echtes tugendhaftes oder lasterhaftes Verhalten nicht im Rahmen fiktiver Handlungssituationen habitualisiert. Dies wird durch die fundamentale Trennung von Wirklichkeit und Fiktion verhindert. Zusammenfassend zeigt sich mit Aristoteles, dass man beim Computerspielen durchaus in Situationen geraten kann, die ein kluges Handeln im Sinne der Tugenden erfordern. Damit befinden sich Computerspielhandlungen auch mit Aristoteles nicht per se außerhalb jeder ethischen Bewertbarkeit. Allerdings bleibt der moralische Status von quasi-unmoralischen fiktionalen Handlungen
79Ich ignoriere freilich den offenkundig sehr unklugen (mit Aristoteles wohl unmäßigen und verschwenderischen) Aspekt der Handlung, mit echtem Geld fiktive Spielgegenstände zu erwerben, die nicht obligatorisch zum (gelingenden) Spielen des Spiels sind.
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76
weiterhin unterbestimmt. Wie beim Utilitarismus stellt sich die Frage, wie etwa die fiktionale Vergewaltigung von (fiktiven) Personen als solche moralisch einzuordnen ist. Der Problemfall wird von Aristoteles gleich zweifach nicht aufgeklärt: Erstens legt seine Ethik nicht den Fokus auf Handlungen, sondern auf charakterliche Dispositionen, deren Wertigkeit sich lediglich auf entsprechende Tätigkeiten überträgt. Deshalb ist die expressivistische Herangehensweise ebenso naheliegend wie nichtssagend hinsichtlich der Moralität von Computerspielhandlungen. Zweitens weiß auch der indirekte Weg über die Gewöhnung von Tugenden und Lastern durch das Computerspielen nichts über die Moralität fiktionaler Handlungen als solchen zu sagen, außer: dass sich Spielerinnen hier nicht mit Handlungssituationen konfrontiert sehen, die intrinsisch für die ethische Entwicklung ihres Charakters relevant sind. An der Grenze zur Fiktion endet der Zuständigkeitsbereich der Aristotelischen Tugendethik. Nur unseren Umgang mit Fiktionen und virtuelle Handlungen vermag sie zu erläutern, nicht aber ein Handeln in Fiktionen. Quasi-Handlungen bleiben in ihren moralischen Eigenarten bis hierhin ein Mysterium.
3.2 Deontische Dimension: Kants Pflichtenethik Nachdem die evaluative Seite von Computerspielhandlungen mit dem Utilitarismus und Aristoteles hinreichend erläutert wurde, ist es nun an der Zeit, sich ihrer deontischen Dimension zuzuwenden. Die Hoffnung ist, dass sich mit Kant, als Vertreter einer „strenge[n] deontologische[n] Ethik, nach der sich die moralische Richtigkeit und Falschheit einer Handlung ausschließlich nach bestimmten Merkmalen der Handlung selbst bemisst“80, die spezifische Moralität fiktionaler Handlungen endgültig klären lässt. Die vorangegangenen Versuche brachten je unterschiedliche Erträge für eine Ethik des Computerspielens hervor, scheiterten aber an jenem Anspruch. Während die Aristotelische Tugendethik an der Grenze zur Fiktion halt macht und letztlich bloß virtuelle Spielhandlungen evaluiert, existieren für den Utilitaristen gewissermaßen weder virtuelle noch fiktionale Handlungen, weil er von ihnen abstrahiert und den Blick auf die Konsequenzen richtet. Das muss nicht als Manko dieser Ethiken begriffen werden, im Gegenteil: Sie kommen gerade deswegen so gut mit der moralischen Einordnung von Computerspielhandlungen zurecht, weil sie deren dunklen fiktiven Aspekt zurückstellen. Mit dem Utilitarismus sind wir gezwungen, Computerspiel handlungen als gewöhnliche Handlungen mit Konsequenzen aufzufassen, mit Aristoteles werden wir auf die scharfe Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit verwiesen. Beide Ethiken schaffen es je mit ihrem Ansatz, Licht in die Moralität des Computerspielens zu bringen und dem ludischen Amoralisten eine herbe Beweislast entgegenzusetzen: Warum sollten Computerspielhandlungen nicht
80Birnbacher
2013, 118.
3.2 Deontische Dimension: Kants Pflichtenethik
77
unmoralisch sein können? Der Ausweg des Amoralisten liegt nun allerdings darin, genau auf diejenige Unterform von Computerspielhandlungen zu verweisen, welche die bisherigen Analysen nicht zu fassen vermochten: Fiktionale Handlungen als Quasi-Handlungen. Der Amoralist könnte behaupten (und wir haben mit unserer Bestimmung des ‚Spielens in Reinform‘ gesehen, dass er damit nicht ganz Unrecht hätte), dass eigentliches Spielen allein im Ausführen von Quasi-Handlungen bestehe. Und diese seien nach wie vor außerhalb jeder Moralität verortet, denn sie wurden in ihrer Spezifik entweder nicht beachtet oder nicht erfasst: Bis jetzt bleibt unbeantwortet, ob bzw. wann es intrinsisch unmoralisch ist, eine quasi-unmoralische Quasi-Handlung durchzuführen. Wir wissen (überspitzt) nur, wann Konsequenzen schädlich oder Dispositionen lasterhaft sind. Tatsächlich besteht das Rätsel der Quasi-Moralität noch immer. Das liegt daran, dass es bisher gar nicht darum ging, die intrinsische Moralität von Handlungsweisen zu ergründen: Der Utilitarismus und Aristoteles gehen von Einzelfällen des Handelns aus, die es anhand externer Werte zu evaluieren gilt, nicht von moralischen Gesetzen. Man stellt gewissermaßen die falsche Frage, wenn man von ihnen streng kategorische und universale Klassifizierungen wie „Jede Handlung der Art x ist verboten!“ erwartet.81 Möchte man eine Antwort darauf, ob es überhaupt etwas gebe, was man beim Spielen von Computerspielen unter keinen Umständen tun dürfe, so muss man sich an Kant wenden, der gleich zu Beginn seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hinsichtlich Aufgabenbereich und normativer Stellung (s)einer Ethik betont: Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; […] daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft, und daß jede andere Vorschrift, die sich auf Prinzipien der bloßen Erfahrung gründet, und sogar eine in gewissem Betracht allgemeine Vorschrift, so fern sie sich dem mindesten Teile, vielleicht nur einem Bewegungsgrunde nach, auf empirische Gründe stützt, zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann.82
Im Wesentlichen geht es Kant darum zu zeigen, dass moralisch achtungswertes Handeln niemals durch bestimmte inhaltliche Handlungszwecke bedingt ist, sondern rein aus Anerkennung des moralischen Gesetzes, aus Pflicht erfolgt, denn „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“83 Mit ‚Gesetz‘ ist freilich nicht die aktuelle juristische Rechtslage gemeint, sondern
81Aus
diesem Grund ist es auch fehlgeleitet, die Frage „Is it wrong to play violent video games?“ (McCormick 2001, 277) allein konsequentialistisch klären zu wollen, wie es lange Zeit in der Computerspielethik getan wurde (vgl. ebd.; Waddington 2007; Schulzke 2010). Kant wird in diesen Aufsätzen zwar integriert, aber primär als Vertreter eines konsequentialistischen Verrohungsarguments. 82GMS BA VIII/13. Hervorhebungen von mir (S.U.). 83GMS BA 14/26.
78
3 Ethik des Computerspielens
das Sittengesetz, also „dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch subjektiv zum praktischen Prinzip dienen würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte“84. Mit den Worten Tim Hennings: „Prinzipien, nach denen alle vollkommen vernünftigen Wesen als solche handeln würden“85. Entsprechend ist ein Handeln genau dann moralisch erlaubt, wenn es gesetzmäßig ist, was nichts anderes heißt, als dass der Grund des eigenen Tuns den Anspruch erhebt, für jedes Vernunftwesen als guter Grund gelten zu können. Aufgrund dieses universalen Geltungsanspruchs, der implizit jeder Maxime (als „von uns ratifizierte[] Vorstellung davon, was wir tun und warum“86, also als normative Begründung unseres Handelns) eignet,87 können moralische Forderungen an unsere Gründe nicht hypothetischer Art sein, da sonst der Handlungszweck abhängig von kontingenten Vorlieben und Handlungssituationen des jeweiligen Subjekts wäre: „Wenn (du) x (willst), dann solltest du y tun!“. Moralische Forderungen müssen als kategorische Imperative verstanden werden: „Du sollst y tun (– egal, wo du bist, wer du bist und was du willst)!“. Sie gelten intersubjektiv und sind als konkrete Pflichten (wie etwa das Verbot, ein falsches Versprechen zu geben) von einem einzigen Prinzip abgeleitet, das Kant als den kategorischen Imperativ bezeichnet. Dieser kann als eine Art Testverfahren für die Moralität unserer Maximen verstanden werden und verlangt von uns nichts anderes, als nach Gründen zu handeln, die bedingungslos und universal gültig (also: gesetzmäßig) sind: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“88 Nun geht es im Rahmen der vorliegenden Untersuchung und im Angesicht des ludischen Amoralisten weniger um die Frage, wann wir dem kategorischen Imperativ gemäß handeln, sondern mehr darum, wann wir etwas moralisch Verbotenes tun. Ein erster wichtiger Befund ist: Nicht jede Handlung, die subjektiven Zwecksetzungen folgt (also nicht das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens hat, sondern konkrete Neigungen), ist ipso facto unmoralisch. Wenn ich einem Hilfsbedürftigen Geld gebe, weil ich mein Gewissen beruhigen will (und nicht, weil es moralisches Gesetz ist), dann ist das keine unmoralische Handlung, denn ihr Grund kann durchaus als allgemeines Gesetz gewollt (und gedacht) werden. Es ist jedoch auch keine Praxis, die wir moralisch besonders hochschätzen, weil die Hilfeleistung letztlich für mich (und mein Gewissen), also wegen meiner Vorlieben erfolgt und nicht aus moralischen Gründen; sie ist „zwar pflichtmäßig, aber nicht aus Pflicht.“89 Eine unmoralische Handlung ist für Kant eine solche, die dem kategorischen Imperativ widerspricht,
84GMS
BA 16/27. 2016b, 32. 86Ebd., 30. Hervorhebungen von mir (S.U.). 87Vgl. ebd., 28–35. 88GMS BA 52/51. 89GMS BA 9f./23. 85Henning
3.2 Deontische Dimension: Kants Pflichtenethik
79
weil ihr Handlungsgrund notwendigerweise nicht für alle gelten kann. Kant veranschaulicht dies am Beispiel folgender Maxime: [W]enn ich mich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen, und versprechen, es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen. […] Da sehe ich nun sogleich, daß sie [die Maxime, S.U.] niemals als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern sich notwendig widersprechen müsse. Denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung, als eitles Vorgeben, lachen würde.90
Ein falsches Versprechen zu geben ist also deshalb unmoralisch, weil dieses Vorhaben nur möglich ist, weil es nicht alle durchführen: Würden alle falsche Versprechen geben, so würde die Praxis des Versprechens nicht länger bestehen können. Zentral ist, dass dieses Argument nicht konsequentialistisch verstanden werden darf: Ein falsches Versprechen zu geben ist nicht deshalb unmoralisch, weil dadurch ein Verlust der Institution des Versprechens tatsächlich stattfindet oder droht, sondern, weil schon die bloße Form der Maxime einen Bruch mit der eigenen Handlungsweise impliziert, indem sie den kategorischen Imperativ und damit sich selbst negiert: Ein falsches Versprechen zu geben heißt nichts anderes, als die Institution des Versprechens zu verabschieden, die aber notwendig ist, um (falsche) Versprechen überhaupt geben zu können. Mit seinem Handeln dem moralischen Gesetz zu widersprechen bedeutet somit essentiell, seinem eigenen Willen und Vorhaben zu widersprechen: [W]enn wir alles aus einem und demselben Gesichtspunkte, nämlich der Vernunft, erwögen, so würden wir einen Widerspruch in unserm eigenen Willen antreffen, nämlich, daß ein gewisses Prinzip objektiv als allgemeines Gesetz notwendig sei und doch subjektiv nicht allgemein gelten, sondern Ausnahmen verstatten sollte.91
Diese Passage unterstreicht den Kern der Kantischen Unmoral: Mit jeder unmoralischen Handlung mache ich mich, von dem objektiven Standpunkt der Vernunft aus betrachtet, zu einer Ausnahme, denn ich räume „mir mit meinem Vorhaben notwendig besondere Vorrechte und einen besonderen Status gegenüber allen anderen Menschen“92 ein, wie Henning betont: „Immerhin stelle ich ja fest, dass dieses Vorhaben nur deshalb möglich ist, weil Andere sich dasselbe nicht erlauben. Ich nutze also aus, dass sie sich mehr einschränken. […] Indem ich das Gewicht meiner Gründe überschätze, überschätze ich meine eigene Wichtigkeit.“93 Und das ist unmoralisch.
90GMS
BA 54f./53. BA 58/55. 92Henning 2016b, 13. 93Ebd., 13f. 91GMS
80
3 Ethik des Computerspielens
So weit sei die Kantische Ethik in ihren Grundzügen dargestellt. Mit der Terminologie dieser Untersuchung auf den Punkt gebracht: Ich handle genau dann unmoralisch, wenn mein Wille mit dem kategorischen Imperativ unvereinbar ist, da mein Vorhaben nur deshalb möglich ist, weil andere nicht aus denselben Gründen handeln wie ich. Mit Blick auf Computerspielhandlungen ist die Reaktion des ludischen Amoralisten leicht abzusehen: „Beim Computerspielen widersprechen wir mit unserem Handeln nicht dem kategorischen Imperativ, denn wir machen uns beim Spielen nie zur Ausnahme: Jeder kann so spielen, wie er will!“. So einfach lässt sich ein Kantischer Zugriff auf Computerspielhandlungen allerdings nicht zurückweisen. Zunächst einmal ist offensichtlich, dass virtuelle Handlungen auch mit Kant ohne Weiteres einer moralischen Evaluation unterzogen werden können: Es ist moralisch nicht relevant, in Tetris einen neuen Highscore erzielen zu wollen. Es ist allerdings unmoralisch, beim übermäßigen Spielen seine Talente verwahrlosen zu lassen.94 Es ist nicht unmoralisch, bei einer Runde Halo 3 gegen das gegnerische Team gewinnen zu wollen.95 Dagegen ist es unmoralisch, andere Spieler nach dem Sieg zu beleidigen und zu demütigen.96 Außerdem ist es unmoralisch, beim Spielen gegen andere unerlaubt ‚Cheats‘ zu benutzen, weil man damit die Regeln des Spiels und damit das Spiel als Ganzes untergräbt. Und so weiter und so fort. Virtuelle Handlungen, insbesondere beim Spielen mit anderen Personen, stellen für Kant, wie auch für den Utilitarismus und Aristoteles (und übrigens auch für einen ethischen Kontraktualismus), keine
94Dies
entspricht einem sogenannten ‚Widerspruch im Wollen‘ gegenüber einer ‚Pflicht gegen sich selbst‘: Seine Talente verwahrlosen zu lassen ist deshalb moralisch verwerflich, weil der entsprechend Handelnde „unmöglich wollen [kann, S.U.], daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde […]. Denn als ein vernünftiges Wesen will er notwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind“ (GMS BA55f./53f.). 95Ein Einwand könnte an dieser Stelle lauten, dass der Wille zum Sieg notwendigerweise impliziere, dass die Gegner verlieren. Demgemäß sei ein Gewinnen nur möglich, wenn man sich selbst zur Ausnahme – eben zum Gewinner – mache. Diese Analyse der Situation ist aber verkürzt. Meine Antwort kann hier nur knapp ausfallen: Tatsächlich verhält es sich genau umgekehrt – ohne einen Willen zum Sieg sind kompetitive Spiele nicht denkbar, denn die Möglichkeit solcher Spiele steht und fällt mit dem Befolgen ihrer Regeln inklusive Siegesbedingungen. Unmoralisch scheint sich demzufolge eher derjenige zu verhalten, dem Sieg oder Niederlage bei einem Spiel völlig gleichgültig sind, denn er hält sich nicht an die gemeinsam festgesetzten Regeln: Er spielt nicht. Der Spielverderber unterminiert den Willen seiner Mitspieler, weil er sich zur Ausnahme macht: Würden alle so handeln wie er, gäbe es kein Spiel. 96Dass dies ein Verstoß gegen das moralische Gesetz ist, wird insbesondere mit Kants sogenannter Zweckformel deutlich: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (GMS BA 65f./61). Das Beleidigen und Demütigen von Mitspielern ist deshalb unmoralisch, weil ich sie zu Mitteln meiner Selbsterhöhung degradiere. Die Zweckformel sehe ich mit Henning als eine alternative Formulierung des kategorischen Imperativs und nicht als ein eigenständiges Moralgesetz (vgl. Henning 2016b, 82–88).
3.2 Deontische Dimension: Kants Pflichtenethik
81
größeren S chwierigkeiten dar.97 Aus diesem Grund (und weil virtuelle Handlungen bereits zur Genüge besprochen wurden), soll nicht weiter auf solche Fälle eingegangen werden. Der Blick wird sich im Folgenden auf den blinden Fleck der bisherigen Untersuchung richten: auf den moralischen Status fiktionaler Handlungen. In ihrer Ergründung hat Kant prima facie bessere Karten als die Konkurrenz. Das wird deutlich, wenn wir dem ludischen Amoralisten einen kantischen Moralisten gegenüberstellen. Dessen Position sei in einem kurzen Dialog veranschaulicht, den Moralist und Amoralist angesichts der quasi-unmoralischen Handlung, eine fiktive Frauenrechtlerin in Red Dead Redemption 2 niederzuschlagen, zu fesseln und einem Alligator zum Fraß vorzuwerfen, führen könnten: Amoralist:
Das Töten der Frauenrechtlerin ist moralisch nicht relevant: Es ist doch nur ein Spiel!
Moralist:
Auch beim Spielen handeln wir. Ergo handeln wir aus Gründen. Ergo können diese Gründe moralisch verwerflich sein, weil sie dem kategorischen Imperativ widersprechen.
Amoralist:
Dann wäre es ja auch unmoralisch, in Mario Kart 8 mit Feuerbällen einen gegnerischen Rennfahrer zu bewerfen, weil man ihn von einer Klippe stürzen will – das ist absurd!
Moralist:
Das ist kein starkes Argument: Vielleicht irren wir uns ja. Vielleicht ist auch das Spielen von Mario Kart 8 unmoralisch, wenn man dabei aus den falschen Gründen agiert.
Amoralist:
Aber auch systematisch hat deine Position keinen Halt: Ein Spieler verletzt nicht den kategorischen Imperativ, denn seine Handlungen verletzen notwendigerweise keine moralischen Pflichten, weil er nichts weiter tut, als seine Finger zu bewegen. Man tötet keine Frauenrechtlerin beim Spielen von Red Dead Redemption 2, man drückt nur Knöpfe!
Moralist:
Das ist nur eine Weise, die Handlung zu beschreiben. Und nicht die relevante: Auch wirkliche unmoralische Handlungen könnten wir so beschreiben, dass keine Pflichtverletzung ersichtlich ist. Einen wirklichen Mord (durch einen Pistolenschuss) könnten wir auch als Fingerbewegung beschreiben. Das ist aber offensichtlich nicht die normativ entscheidende Beschreibung der Handlung, diese wird (als Maxime) erstpersonal vom Akteur festgelegt: Er wollte eine Person ermorden. Und dieser Grund widerspricht dem kategorischen Imperativ. Beim Spielen von Computerspielen ist das nicht anders: Erstpersonal drücke ich beim Spielen keine Knöpfe, sondern ich fahre Rennen, rette das Königreich Hyrule oder töte eben Frauenrechtlerinnen. Und diese Handlungen können unmoralisch sein.
Anhand der handlungstheoretischen Ausführungen sehen wir, dass der Moralist nicht ganz Unrecht hat: In der Formulierung des Willens können Beschreibungen von fiktionalen Spielhandlungen ihren Konterparts in der Wirklichkeit gleichen. Das liegt daran, dass erstpersonal der Wille bei Quasi-Handlungen ohne Fiktionsoperator formuliert wird – so, wie innerhalb der fiktiven Welt Hamlet keine fiktive
97Entsprechende
Fälle wurden mit Kant in der Forschung bereits diskutiert (vgl. Schulzke 2010, 128–130) – allerdings ohne Klassifizierung als virtuelle Handlungen.
82
3 Ethik des Computerspielens
Figur ist, sondern eine Person.98 Aber: Wir wissen bereits, dass der Wille eines Spielers, obwohl er grammatisch einem gewöhnlichen Willen gleichen kann, beim Quasi-Handeln essentiell fiktional ist: Der Spieler tut hier – mit der mentalen Terminologie ausgedrückt – nur so, als ob er eine entsprechende Handlung ausführt. Und in diesem Sinne kann sich der Akteur wohl kaum zur Ausnahme machen, weil jeder entsprechend quasi-handeln könnte. Der fiktive Gehalt von Quasi-Handlungen scheint sich also auch bei Kant einer moralischen Evaluation zu verschließen. Doch woran liegt das? Und ist das notwendig bei jedem QuasiHandeln der Fall? Wie ist das Verhältnis von Moralität und Fiktion konkret zu bestimmen? Um die Fäden zusammenführen und den moralischen Status fiktionaler Handlungen abschließend zu klären, ist es notwendig, sich vertiefend dem normativen Gehalt von Fiktionen zu widmen. Dies soll nun geschehen.
3.2.1 Die Rolle der Fiktion Die Theorie der Fiktion ist ein ausgedehntes Feld, das sich weit über verschiedene Disziplinen und Wissenschaften erstreckt. Von der Bedeutung fiktionaler Aussagen über die Ontologie von Fiktionen, von Funktionen und Wirkungen fiktionaler Werke bis hin zu Einzelanalysen in Literaturwissenschaft oder auch in den Game Studies – zahlreiche Disziplinen beschäftigen sich intensiv mit diesem Forschungsfeld und es gibt kaum eine, die nicht an irgendeiner Stelle den Bereich der Fiktion berührt. Sogar Handlungstheorien bis hin zu Kants Ethik müssen sich mit ihr auseinandersetzen, will man den moralischen Status von fiktionalen Handlungen dem Gegenstand angemessen ergründen. Es liegt in der Natur der Sache, dass ich im Folgenden keine allgemeine Fiktionstheorie mit Rücksicht auf alle relevanten Beiträge der philosophischen Ästhetik und Literaturtheorie darstellen kann; selbst eine kursorische Zusammenfassung lässt sich angesichts der Masse interdisziplinärer Forschung nicht geben. Aus diesem Grund werden die folgenden Überlegungen auf das dezidierte Forschungsziel dieses Kapitels verengt, den moralischen Status fiktionaler Handlungen zu ergründen, während ich ergänzende Bemerkungen und exemplarische Verweise zugunsten des Leseflusses auf die Fußnoten verlagere, die dadurch allerdings recht umfangreich ausfallen. Nicht selten wird sich dabei auf die Literaturwissenschaft bezogen – denn wer sollte sich besser mit den Eigenarten von Fiktionen auskennen als diejenige Wissenschaft, deren alleiniger Gegenstand sie seit vielen Jahrzehnten sind?
98Saul
Kripke verteidigt diesen Punkt vehement: Es gebe „einen doppelten Sinn, in dem man sagen kann, dass ‚Hamlet existiert‘ zutrifft. In dem einen Sinn berichtet man, was innerhalb der Geschichte der Fall ist: Man sagt, es wäre gemäß der Geschichte tatsächlich wahr, dass Hamlet existiert […]. Der andere Sinn ist derjenige, dem gemäß es tatsächlich die fiktive Gestalt Hamlet gibt“ (Kripke 2014, 144. Hervorhebungen von mir, S.U.).
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Fiktion beruht auf Imagination. Sowohl das Rezipieren fiktionaler Werke99 als auch das Backen eines fiktiven Sandkuchens100 wird durch imaginative Prozesse konstituiert.101 Sobald eine Leserin die Zeitung fortlegt und sich beim Lesen eine Welt vorstellt, in der Hobbits, Zwerge, Elben und Menschen leben, sobald ein Museumsgänger nicht mehr bloß Farbtupfer, sondern einen Nachthimmel auf dem Gemälde sieht, ein Kind keinen Sand aufhäuft, sondern Burgen baut und ein Spieler nicht länger Knöpfe drückt, sondern gegen Ganondorf antritt – sobald diese Dinge geschehen, werden durch Imaginationsprozesse fiktive Entitäten konstituiert, die „ausschließlich auf der Grundlage der Aktivitäten von Menschen“102 existieren. Diese kognitive Leistung, die wir beim Umgang mit Fiktionen erbringen, hat eine elementar auffüllende Funktion, denn eine fiktive Welt ist konstitutiv lückenhaft: „In den meisten (wenn nicht in allen) Fällen sind die Figuren und anderen [sic!] Gegenstände in den Geschichten nur unvollständig beschrieben“103. Das liegt daran, dass es „nicht möglich [ist, S.U.], alles zu erzählen, und sequentielle Lücken sind geradezu als notwendige Voraussetzung des Erzählens zu betrachten“104. Lücken bestehen aber nicht nur in Erzählungen,
99Wolfgang
Iser bestimmt den imaginierenden Rezeptionsprozess der Leserinnen als ein definitorisches Merkmal von Literatur: ein „organisierte[r] Verbund von Fiktivem und Imaginärem, aus dem Literatur allererst entsteht“ (Iser 1991, 15). 100Vgl. Walton 1978a, 10–16. 101Wobei zwischen verschiedenen Formen der Imagination unterschieden werden kann: Während etwa ein spielendes Kind völlig frei in seiner Imagination ist und die fiktive Welt beliebig verändern kann (vgl. ebd., 10–12), ist ein Leser (vgl. Iser 1991, 393), ein Betrachter von Gemälden (vgl. Walton 1973) oder auch ein Computerspieler (vgl. Juul 2005) in seiner Imagination gebunden an das fiktionale Werk – vorausgesetzt, er rezipiert dieses angemessen. Sich beim Spielen von Mario Kart 8 etwa vorzustellen, dass die Rennfahrer (als Figuren) in eine tiefe Depression fallen, wenn sie als Letztes ins Ziel kommen, entspräche nicht dem Narrativ des Spiels (auch, wenn man dies prinzipiell imaginieren könnte). 102Kripke 2014, 118. Wobei sich Kripke auf „Aktivitäten des Geschichtenerzählens, Stückeschreibens, Romaneschreibens usw.“ (ebd., 108) bezieht, also auf Produktions- und nicht auf Rezeptionsprozesse. Ich sehe allerdings nichts, was meiner Ausweitung der These auf Rezipierende im Wege stehen sollte, immerhin können diese wegen ihrer konstituierenden Imagination als „(Kon-)Produzent[en] zweiter Stufe“ (Peres 2011, 390) verstanden werden. 103Reicher 2014, 177. Der Gedanke der Unvollständigkeit fiktionaler (ästhetischer) Werke wird schon von Kant angedeutet: „[D]ie ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe beigestellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, der also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt“ (KdU, B 197/253. Hervorhebungen von mir, S.U.). 104Durst 2007, 261. Uwe Durst unterscheidet zwischen ‚wunderbaren Texten‘, die ihre Lückenhaftigkeit offenlegen, und ‚realistischen Texten‘, welche diese zu verdecken suchen (vgl. ebd., 239–264). Ich denke, dass diese Unterscheidung auch für die Spieleforschung fruchtbar gemacht werden könnte.
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sondern in fiktionalen Darstellungen generell.105 Überspitzt ausgedrückt: Kein Gemälde bildet eins zu eins Dinge oder Landschaften ab (schon ihre Räumlichkeit verhindert dies), keine antike Statue stellt vollständig den Kampf eines Gottes dar (schon ihre Statik verhindert dies) und kein Computerspiel macht das dargestellte Handeln wirklich erlebbar. Damit wir Landschaften sehen, Kämpfe bestaunen und unser Spielhandeln als solches durchführen können, ist es notwendig, imaginativ über die wirklichen Aspekte unserer Rezeption hinaus zu gehen.106 Was bedeutet es nun aber konkret, dass Fiktionen Lücken aufweisen? Betrachten wir exemplarisch die fiktive Figur Sherlock Holmes, von der sich die meisten prima facie eine recht genaue Vorstellung machen können – wo gibt es hier Lücken? Nun, zunächst einmal ist da die grundsätzliche Lücke zwischen Buchstaben als Zeichensymbolen und Sherlock Holmes als Figur: Das Darstellungsmedium ist nicht das Dargestellte, der Text als solcher ist nicht die fiktive Welt (obwohl das eine nicht ohne das andere zu haben ist).107 Auch wenn narrative Medien grosso modo einen erheblichen Einfluss auf das ‚Aussehen‘ fiktiver Welten haben, beruht deren Existenz doch elementar auf kognitiven, imaginierenden Leistungen der Rezipientinnen.108 Neben diesem grundsätz-
105So auch Juul mit Bezug auf Computerspiele: „[A]ll fictional worlds are incomplete. No fiction exists that completely specifies all aspects of a fictional world“ (Juul 2005, 122). 106Damit soll nicht gesagt sein, dass ästhetische Werke sui generis einer Logik der Abbildung folgen. Dem ist nicht so, man denke nur an ‚abstrakte‘ Gemälde. Dennoch rezipieren wir Kunstwerke – beinahe instinktiv (und möglicherweiße auch naiv) – häufig auf diese Weise: orientiert an der Wirklichkeit, auf der Suche nach Bekanntem im Unbekannten. Später in diesem Abschnitt werde ich vertiefend die Rolle der Wirklichkeit beim Rezipieren ästhetischer Werke diskutieren, an dieser Stelle sei lediglich auf unseren Sprachgebrauch verwiesen: Wir sprechen de facto von Landschaften in Gemälden und Kämpfen von Statuen. 107Es handelt sich hierbei um die grundlegende Unterscheidung zwischen dem ‚Wie‘ und ‚Was‘ fiktionaler Werke, die in der Literaturtheorie als fundamentaler „Gegensatz […] zwischen dem erzählerischen Medium mitsamt den jeweils verwendeten Verfahren der Präsentation einerseits und dem Erzählten (die Geschichte, die erzählte Welt) andererseits“ (Martinez/Scheffel 2012, 22) breit etabliert ist. In der neueren Ästhetik sieht sich diese Trennung allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert, denn „in bestimmter Weise gibt es unter ästhetischer Perspektive kein ‚Was‘, das von einem ‚Wie‘ abtrennbar wäre […]. In ästhetischer Hinsicht hätte das Erzählte nicht anders erzählt werden können, als es in dem entsprechenden Roman oder Film erzählt worden ist“ (Feige 2015, 43). Für die vorliegende Untersuchung sind diese Schwierigkeiten nicht von Belang, da sie nicht einer ästhetischen Perspektive verschrieben ist. Nichtsdestotrotz wird sich später in diesem Kapitel zeigen, dass der genuin ästhetische Zugang zu Computerspielen tatsächlich durch die unlösbare (imaginative) Verschränkung von ‚Wie‘ und ‚Was‘ ausgezeichnet ist. 108Wobei sich die imaginierende Rezipientin selbstverständlich nicht beliebig weit vom fiktionalen Werk ‚entfernen‘ kann, will sie noch als Rezipientin und nicht als alleinige Produzentin der Fiktion verstanden werden. Eine angemessene Rezeption ästhetischer Werke setzt voraus, dass diese in ihrer Bestimmtheit ernst genommen und nicht als gänzlich unbestimmte Objekte (miss-)verstanden werden, die beim Rezipieren willkürlich modifizierbar seien. Sie setzt voraus, sich bei der imaginativen Konstruktion fiktiver Welten vom Werk leiten zu lassen – sonst droht das Werk als solches zu verschwinden. Ich danke Daniel Martin Feige für diesen Hinweis.
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lichen Bruch zwischen Wirklichkeit und Fiktion, der imaginativ überwunden werden muss, um fiktionale Werke überhaupt verstehen zu können (und nicht bloß Zeichensymbole zu sehen), ist auch die fiktive Welt als solche durch Lückenhaftigkeit gekennzeichnet: Hat Sherlock Holmes eigentlich einen Bauchnabel? Befinden sich in seinen Augäpfeln Stäbchen und Zapfen? Ist er sterblich? Intuitiv bejahen wir diese Fragen. Aber tatsächlich geben uns die Romane keine konkreten Angaben hierüber. Auf Basis der Texte sind wir unfähig, die Fragen letztgültig zu beantworten. In diesem Sinne ist „Sherlock Holmes eine unvollständige Entität […], da es Eigenschaften gibt, die Sherlock Holmes weder hat noch nicht hat. Beispielsweise ist es weder der Fall, dass er die Blutgruppe A hat, noch dass er sie nicht hat.“109 Dies ist der Stand der Dinge, wenn wir nur von den expliziten Informationen ausgehen, die wir über Sherlock Holmes haben. Aber, wie bereits angedeutet: Dies ist nicht unser natürlicher Umgang mit Fiktionen – sondern wir ergänzen sie imaginativ beim Rezipieren und bilden eine spezifische fiktive Welt. Und zwar häufig orientiert an der Wirklichkeit, wie die Erfahrung zeigt: Obwohl uns obige Informationen über Sherlock Holmes fehlen, gehen wir natürlicherweise davon aus, dass er einen Bauchnabel hat, sterblich ist, eine bestimmte Blutgruppe hat und so weiter, weil es sich um die fiktionale Darstellung einer Entität der Gattung Mensch handelt, deren wirklichen Vertretern wir entsprechende Eigenschaften zuschreiben, die wir dann normalerweise für fiktive Menschen ableiten.110 Ich sage ‚normalerweise‘, weil es letztlich an den Rezipientinnen liegt, wie und ob überhaupt sie die Lücken mit ihrer Einbildungskraft am Vorbild der Wirklichkeit füllen: Die Imagination ist grundsätzlich frei, sie nimmt die Wirklichkeit beim ‚Auffüllen‘ fiktiver Welten aber de facto meist als Ausgangspunkt.111 Diese Überlegungen werden tagtäglich durch unsere konkreten Auseinandersetzungen mit Fiktionen bestätigt. Bezüglich literarischer Rezeptionsprozesse etwa betonen Matias Martinez und Michael Scheffel: „Um einen narrativen Text zu verstehen, konstruieren wir im Akt der Lektüre die Totalität einer erzählten Welt. Diese Konstruktionsleistung erfolgt auf der Grundlage der expliziten Aussagen des
109Werner
2014, 139. Überlegungen erinnern an das sogenannte ‚Reality Principle‘: „The interpreter is to ask what the real world would be like if the [fictional, S.U.] propositions […] were true: What else would be true if they were?“ (Walton 1990, 145). Ähnlich argumentiert auch Steinbrenner, doch werden die wesentlichen Eigenschaften fiktiver Entitäten bei ihm nicht von der ‚real world‘, sondern von „metasprachlichen Kategorienbäume“ (Steinbrenner 2019, 136) abgeleitet. 111Das soll nicht heißen, dass sich die Beschaffenheit fiktiver Welten und ihrer Bewohner per se von der wirklichen Welt ableiten ließe. Im Gegenteil: Keine fiktive Welt gleicht der wirklichen Welt, ihre „grundsätzliche Künstlichkeit“ (Durst 2007, 13) verhindert dies. Jedes Werk konstituiert ein eigenständiges Realitätssystem mit genuin artifiziellen (und nicht kontingenten) Gesetzmäßigkeiten, die sich beliebig weit von Naturgesetzen entfernen und diesen auch widersprechen können. Erst die Leerstellen fiktionaler Werke integrieren (potentiell) die Wirklichkeit, weil die Rezipienten beim imaginativen ‚Auffüllen‘ und Mit-Konstituieren der fiktiven Welt aus ihrer Erfahrung schöpfen können. 110Diese
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Erzählers und der Figuren, geht aber über sie hinaus“112. Es wurde bereits deutlich, dass dieser Befund für jegliche Arten von Fiktionen zutrifft: Sie alle sind durch Lücken ausgezeichnet, wobei die elementarste wohl die prinzipielle ‚Lücke‘ zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist, die es imaginativ zu überwinden gilt, um Fiktionen als solche verstehen zu können. Was tragen diese Überlegungen für eine Ethik des Computerspielens aus? Wir wissen nun, dass wir es beim Spielen mit Fiktionen zu tun haben, die notwendigerweise Leerstellen aufweisen, die wir imaginativ (häufig am Vorbild der Wirklichkeit) füllen. Mit der handlungstheoretischen Analyse im Hinterkopf können wir beim Quasi-Handeln sogar ziemlich genau die zentrale Lücke zwischen Fiktion und Wirklichkeit verorten: Sie liegt im praktischen Syllogismus zwischen der ersten fiktionalen und der zweiten wirklichen Prämisse. Dass Maria ein Tor schießt, indem sie Knöpfe drückt, wird nur vor dem Hintergrund eines Imaginationsprozesses verständlich, der die Brücke zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Willen und Körperbewegung schlägt: Nur imaginativ ist Maria in der Lage, mit einer wirklichen Handlung ihren fiktionalen Willen zu realisieren.113 Auch beim virtuellen Handeln wird eine solche Brücke geschlagen, doch der zu überwindende ‚Abgrund‘ ist nicht ganz so tief, denn die fiktiven Aspekte der Handlung spielen hier nur innerhalb der Erläuterungskette eine Rolle:
112Martinez/Scheffel
2012, 133. Hervorhebungen von mir (S.U.). Um die Überlegungen auf eine breitere literaturtheoretische Basis und ein weiteres, eingängiges Beispiel zu stellen: Umberto Eco spricht in diesem Zusammenhang von einer Aktualisierung des Nicht-Gesagten, die notwendig zum Verständnis eines Textes erfolgen müsse: „‚Nicht-Gesagt‘ bedeutet, daß es sich nicht an der Oberfläche, auf der Ebene des Ausdrucks manifestiert; und doch ist es gerade dieses Nicht-Gesagte, das auf der Aktualisierungsebene des Inhalts aktualisiert werden muß. Zu diesem Zweck bedarf es bei einem Text […] der aktiven und bewußt kooperativen Schritte des Lesers“ (Eco 1987, 62). Eco macht dies an zwei einfachen Sätzen deutlich: „Giovanni trat in das Zimmer. ‚Du bist ja wieder zurück!‘ rief Maria freudestrahlend“ (ebd.). Konfrontiert mit dieser Minimalerzählung „müssen wir eine Reihe verschiedener Operationen ausführen. So muss der Leser unter anderem ‚Koreferenzen‘ erkennen, d.h. er muss bemerken, dass sich ‚Du‘ auf dieselbe Person bezieht wie ‚Giovanni‘. Gestützt wird dieser Erkenntnisakt durch die Konversationsregel, dass sich ein Sprecher in Anwesenheit nur einer anderen Person normalerweise an eben diese wendet. Weiterhin führt der Leser eine ‚extensionale Operation‘ aus, indem er annimmt, dass es sich bei Maria und Giovanni um zwei Personen handelt, die in ein und demselben Zimmer sind“ und so weiter (Köppe/Winko 2013, 50f.; vgl. Eco 1987, 62f.). Der Fall zeigt, dass schon einfachste Fiktionen einer imaginativen (hier: pragmatischen) Auffüllung durch die Rezipientin bedürfen, um als solche verständlich zu sein. Die von mir diskutierte ‚auffüllende Imagination‘ ist also gleichsam voraussetzungsarm wie grundlegend. 113Dies gilt selbst dann, wenn fiktives Spielgeschehen und faktisch durchgeführte Praxis einander entsprechen – etwa, wenn ich innerhalb eines Computerspiels ein weiteres (fiktives) Computerspiel mit einer analogen (fiktiven) Spielkonsole spiele und folglich die ‚gleichen‘ Knöpfe in der fiktiven Welt und in Wirklichkeit drücke. Der irreduzible Bruch zwischen Fiktion und Wirklichkeit resultiert hier in einer paradoxen Dopplung meiner Handlungsprämissen: „Ich will die Knöpfe xyz drücken, indem ich die Knöpfe xyz drücke.“ Die tautologisch anmutende Wiederholung lässt sich dadurch erklären, dass es sich eigentlich gar nicht um dieselben Praktiken handelt: Der Wille bezieht sich auf die Fiktion, die Minimalbeschreibung auf die Wirklichkeit. Auch hier ist ipso facto die brückenschlagende Imagination der Rezipientin gefordert.
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Dass Maria gewinnt, indem sie Knöpfe drückt, erläutert sie erst auf Nachfrage damit, dass sie (fiktional) ein Tor schießt. Essentiell ist hier aber die Beschreibung des Knöpfedrückens als Gewinnen, die als (wirklicher) Wille der Handlung fungiert – zum Verständnis hiervon gilt es keine Kluft zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu überwinden. Das Bild des Abgrunds sei zur Ergründung der Moralität fiktionaler Handlungen noch etwas weiter strapaziert: Die imaginative Brücke in das Reich der Fiktion ist für die Moral gesperrt. Das ist der Punkt des ludischen Amoralisten: Das Fiktive ist jenseits der Reichweite moralischer Überlegungen. Das sehen wir an Handlungen, die ausschließlich innerhalb der fiktiven Welt stattfinden. Fiktive Figuren wie Professor Moriarty oder die böse Stiefmutter agieren nicht unmoralisch – weil sie gar nicht wirklich agieren und sich damit außerhalb der Sphäre moralischer Bewertbarkeit befinden: Ihr ‚Handeln‘ hat keine (wirklichen) Konsequenzen, verweist nicht auf eine (wirkliche) Disposition und realisiert nicht eine (wirkliche) Maxime. Den Grund für diese Immunität können wir nun genauer benennen: Er liegt in der konstitutiven Lückenhaftigkeit der Fiktion. Fiktiven Handlungen fehlt schlicht dasjenige Grundelement, das es braucht, um moralisch bewertbar zu sein. Auf den ersten Blick scheint völlig klar, um welches Element es sich dabei handelt: die ontologische Existenz (als ‚Dass-Sein‘). Auf den zweiten Blick muss dies revidiert werden: Nicht die ontologische Existenz ist es, die fiktive Entitäten missen lassen (worüber würden wir sonst sprechen, wenn wir Sherlock Holmes beschreiben?114), sondern eine raumzeitliche Wirklichkeit. 115 Mit anderen Worten: Eine physikalische Terminologie ist niemals dazu geeignet, fiktive Entitäten zu beschreiben. Jegliche Verweise auf physische Eigenschaften 114Und „die wenigsten würden wohl einen Satz wie ‚Sherlock Holmes ist ein Meisterdetektiv‘ für falsch halten“ (Luckner/Ostritsch 2018, 44). Dagegen konstatiert Steinbrenner, „die in großer Mehrheit geteilte Auffassung“ (Steinbrenner 2019, 124) sei, dass fiktionale Sätze dieser Art „weder wahr noch falsch sind und daher keinen üblichen Wahrheitswert besitzen“ (ebd.), weil „fiktive Eigennamen, Kennzeichnungen und ähnliche Ausdrücke in fiktionalen Texten gar nicht(s) denotieren“ (ebd., 130). Zwar bekenne ich in diesem Buch Farbe für die erste Position (fiktive Entitäten existieren zwar nicht wirklich, wohl aber als abstrakte Entitäten), von dieser (offensichtlich) streitbaren Auffassung hängt aber nicht das Gelingen meiner wesentlichen Argumentation ab. 115Wie an dieser Stelle deutlich wird, bin der Auffassung, dass fiktive Welten nicht substanziell eigenständige Welten, sondern ausschließlich Referenzpunkte einer Terminologie des Fiktionalen bilden. Wie bereits mehrfach angedeutet (siehe Abschnitt 2.2.3), wären damit die Eigenschaften des Fiktiven als Eigenschaften einer bestimmten Perspektive auf die Wirklichkeit ausgezeichnet, die neben den Perspektiven des Physikalischen und Mentalen, die Davidson anbietet (vgl. Davidson 2002f; Davidson 2002g), besteht. In Ergänzung zu Davidson würde das Fiktive (Geschehnisse in der fiktiven Welt) über das Geistige (Imaginationsprozesse) supervenieren, wobei das Geistige wiederum über das Physische (neuronale Prozesse) superveniert. Die Relation ist transitiv, sodass auch das Fiktive über das Physische superveniert. Zu den zentralen Eigenschaften des Fiktiven könnte neben seiner Lückenhaftigkeit (bzw. Abstraktheit) und Amoralität die Geschlossenheit gezählt werden, da jedes fiktionale Werk ein ‚eigengesetzliches Realitätssystem‘ (vgl. Durst 2007, 92–103) konstituiert, das den bezeichnenden ‚Abgrund‘ zur Wirklichkeit mitbegründet, auf den auch Walton mit seiner ‚Barriere‘ verweist (vgl. Walton 1978a, 5f.; Walton 1978b). Das Fiktive als Referenzpunkt einer spezifischen Terminologie
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von Fiktionen betreffen eben nicht diese, sondern ausschließlich raumzeitlich ausgedehnte, wirkliche Dinge. Mit physikalischen Begriffen der konkreten, sinnlich fassbaren Wirklichkeit lassen sich Fiktionen als solche nicht erläutern, obwohl sie sich reduktionistisch auf diverse raumzeitliche Ereignisse (wie neuronale Prozesse oder Codeverschiebungen) zurückführen lassen – nur sprechen wir dann nicht länger von Fiktionen.116 Trotzdem existieren fiktive Entitäten auch als solche: Von der Figur Sherlock Holmes gilt zwar, dass sie nicht existiert hätte, wenn ein Schriftsteller sie nicht erfunden und Geschichten mit ihr niedergeschrieben hätte. Aber diese Form der Abkünftigkeit der Existenz fiktiver Entitäten betrifft nicht den Status ihrer Existenz. Sie existieren, wenn sie nun mal existieren, genauso wie die Menschen, die sie erfinden (wohlgemerkt: nur hinsichtlich ihres Dass-Seins, natürlich nicht hinsichtlich ihres Was-Seins und Wie-Seins).117
Man kann fiktive Dinge als „abstrakte Entität[en]“118 (anstelle von ‚Nicht-Entitäten‘) klassifizieren. Gegenstand moralischer Evaluationen sind aber keine Abstrakta, sondern konkrete Personen und Handlungen in Raum und Zeit. Daraus ergibt sich: Das Fiktive ist irreduzibel amoralisch.119
zu begreifen deutet auch Kripke an, wenn er vorschlägt, man könne „statt zwei verschiedene Wahrnehmungsgegenstände anzunehmen, vielmehr annehmen […], dass einfach […] zwei verschiedenen Formen von Sprache verwendet werden“ (Kripke 2014, 147f.). Dieser ungemein spannende (und sicherlich streitbare) Gedankengang wird im Rahmen der vorliegenden Monographie zwar mehrfach angedeutet, bildet aber keine notwendige Bedingung für die Akzeptanz meiner zentralen Überlegungen und Konklusionen bezüglich des Computerspielens. Aus diesem Grund wird er nicht weiter ausgearbeitet; diesbezüglich lohnte eine eigenständige Untersuchung. 116Ganz ähnlich gilt dies für die Relation zwischen mentaler und fiktionaler Terminologie. Eine mentale Beschreibung bezieht sich wie eine physikalische (und anders als eine fiktionale) auf die Wirklichkeit – allerdings auf geistige, anomale und normative Aspekte derselben (und nicht auf physische und nomologische). Immer dann, wenn wir (mental) von Imagination, make-believe oder Quasi-Handlungen sprechen, sprechen wir nicht länger von fiktiven Entitäten als solchen, sondern von wirklichen Entitäten. 117Luckner/Ostritsch 2018, 45. Luckner und Ostritsch beziehen sich hier auf die Ausführungen Kripkes (vgl. Kripke 2014, 112f.). 118Kripke 2014, 108. Hervorhebung von mir (S.U.). Kripke ist mit dieser Auffassung keinesfalls allein (vgl. Reicher 2014; Luckner/Ostritsch 2018). Freilich gibt es Gegenstimmen, die häufig in der Tradition Gottlob Freges (vgl. Künne 2010) oder auch Waltons (vgl. Steinbrenner 2019) stehen. Für meine Untersuchung spielt diese Diskussion allerdings eine untergeordnete Rolle, die genannten (Gegen-)Positionen sind durchaus mit der Grundlinie meines Arguments verträglich: Hauptsache, fiktive Entitäten als solche existieren nicht in Wirklichkeit (was auch immer das implizieren mag). 119Dieser Punkt steht in der Tradition klassischer Theorien des ästhetischen Spiels. Während Schiller betont, dass die Schönheit (als ästhetische Fiktion) „schlechterdings kein einzelnes Resultat weder für den Verstand noch für den Willen [gibt, S.U.], sie führt keinen einzelnen weder intellektuellen, noch moralischen Zweck aus, sie findet keine einzige Wahrheit, hilft uns keine einzige Pflicht zu erfüllen“ (Schiller 2013, 21. Brief/83), bestätigt Huizinga: „Obwohl Spielen eine geistige Betätigung ist, ist in ihm an sich noch keine moralische Funktion, weder Tugend noch Sünde, gegeben“ (Huizinga 2015, 15. Hervorhebungen von mir, S.U.). Selbst die-
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Das Rätsel fiktionaler Handlungen ist damit nicht gelöst, sondern präzisiert. Nehmen wir an, es ist ein Spieler namens Mark, der in Red Dead Redemption 2 die Frauenrechtlerin misshandelt und ermordet. So wissen wir nun: Es ist definitiv nicht Arthur Morgan (die fiktive Spielfigur), den hier eine moralische Schuld trifft, denn dessen ‚Handeln‘ findet ausschließlich innerhalb der fiktiven Welt und damit außerhalb jeder moralischen Bewertbarkeit statt. Damit ist aber noch nichts über Marks Handlung gesagt. Wir wissen nur: Wenn überhaupt, dann muss es Mark sein, der hier etwas Unmoralisches tut, denn seine Handlung ist nicht fiktiv, sondern fiktional. Quasi-Handlungen sind als solche nicht außerhalb der raumzeitlichen Wirklichkeit verortet; sie sind erstpersonal stets auch als physische Körperbewegungen gekennzeichnet. Tut Mark nun etwas Unmoralisches? Alles hängt davon ab, wie die Relation zwischen seiner wirklichen Handlung und der fiktiven Handlung Arthur Morgans beschaffen ist; auf welche Weise der imaginative Zugriff Marks auf die Fiktion erfolgt. Wie wir in den handlungstheoretischen Ausführungen gesehen haben, ist es elementar, fiktionales Handelns mental (und damit normativ) als Spiele des make-believe zu begreifen. Nun wissen wir: MakeBelieve impliziert stets ein imaginatives Ergänzen von Entitäten, die in der raumzeitlichen Wirklichkeit nicht vorhanden sind. Daher berufen sich Spieler beim Rationalisieren ihrer Quasi-Handlungen stets auf aufgefüllte Beschreibungen ihres Tuns, die über ihr physisches Verhalten hinaus gehen, was eine Minimalleistung an Einbildungskraft erfordert: Sie sprechen vom Schießen eines Tores bzw. Misshandeln einer Frauenrechtlerin statt vom Drücken von Knöpfen und Verändern von Pixeln. Sie machen mit der Akzeptanz einer fiktionalen Beschreibung ihres Tuns deutlich, dass sie sich als fiktional Handelnde verstehen: dass sie sich mit der Fiktion identifizieren. Nun ist entscheidend, dass diese Identifikation grundsätzlich in zwei Richtungen verlaufen kann: i) Ich kann mich imaginativ auf die Ebene der Fiktion begeben und so tun, als ob mein (wirkliches) Handeln fiktiv wäre. ii) Ich kann die Fiktion imaginativ auf die Ebene der Wirklichkeit hieven und so tun, als ob das (fiktive) Geschehen wirklich stattfände. Für den fiktions- und handlungstheoretischen Status der Handlung als QuasiHandlung macht dies keinen Unterschied, denn in jedem Fall findet makebelieve statt. Für die Moralität derselben ist die Richtung der Identifikation aber
jenigen Theorien, die Fiktionen einen moralischen Gehalt zuweisen, berufen sich letztlich nicht auf fiktionale, sondern auf faktuale Aussagen, die ihr inhärent und potentiell unmoralisch seien (vgl. Tavinor 2009; Patridge 2011; Ostritsch 2017). Fiktionen sind also gewissermaßen erst dann moralisch relevant, wenn sie aufhören, nur fiktional zu sein. Das konfrontiert diese Projekte mit der Beweislast zu zeigen, dass und wie fiktionale Werke faktuale Aussagen treffen können, denn prima facie ist die „fiktionsexterne Wirklichkeit […] als literarische [und fiktionale, S.U.] Größe disqualifiziert“ (Durst 2007, 79). Hierzu gibt es allerdings vielversprechende Ansätze (vgl. Doležel 1998, 24–28).
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e ntscheidend. Bevor dieser Punkt mit Kant zu Ende geführt wird, sei der Unterschied der verschiedenen Formen fiktionalen Handelns etwas genauer erläutert. Die erste Variante i) der mentalen Identifikation mit Fiktionen, die dazu führt, dass Spielerinnen ihre Handlung gewollt unter einer fiktionalen Beschreibung durchführen und sich imaginativ der fiktiven Welt öffnen, wurde bereits eingehend erläutert. Es handelt sich um denjenigen Prozess, auf den Walton referiert, wenn er vom ‚Ausdehnen auf Fiktionen‘ spricht120 und den wir typischerweise Maria zuschreiben, wenn sie ihr Knöpfedrücken dezidiert als Torschuss begreift. Eine Extremform ist hier der Fall, bei dem die mentale Identifikation mit der Fiktion fast aufgehoben scheint, weil die fiktive Handlung im Willen explizit als dem eigenen Tun extern ausgezeichnet wird – während man sie gleichzeitig fiktional ausführt. Dies ist der Fall, wenn Maria ihre Handlung als Torschuss Thomas Müllers beschreibt (siehe Abschnitt 2.2.3). Einerseits weist sie damit das fiktive Geschehen von sich, weil sie Thomas Müller als agierenden Stellvertreter kennzeichnet. Andererseits ist und bleibt Maria die bewusst (fiktional) Handelnde in der Situation und identifiziert sich insoweit mit der Fiktion, als sie sich auf mentaler Beschreibungsebene (im Rahmen des make-believe) für das Verhalten Thomas Müllers verantwortlich weiß, was spätestens der Blick auf die Erläuterungskette zeigt (das unterscheidet ‚ihre‘ fiktionalen Handlungen Thomas Müllers von den fiktiven Handlungen des Schiedsrichters bei Fifa 19, der nicht von ihr gesteuert wird). Beim Beispiel mit Mark hätten wir es mit dieser Form mentaler Identifikation zu tun, wenn er die Tat explizit Arthur Morgan zuschreiben würde, den er als böse Figur versteht und entsprechend spielt. Auch Mark weist dadurch die (fiktive) Handlung von sich, während er gleichzeitig der (fiktional) Handelnde ist. Sowohl Mark als auch Maria tun so, als ob die ausgeführte Tätigkeit fiktiv wäre, indem sie sich glauben machen, dass nicht sie selbst die Ausführenden der Handlung sind, sondern die fiktiven Figuren: Beinahe betrachten sie ihr Spiel wie einen Film.121 Man könnte diese Form des imaginativen Zugriffs auf Fiktionen unter i) als distanzierte Identifikation bezeichnen, was die inhärente Paradoxie dieses Verhältnisses auf den Punkt bringt. Diese Form fiktionalen Handelns befindet sich an der Grenze zum Fiktiven: Es ist – dialektisch ausgedrückt – wirkliches Handeln, dessen Wirklichkeit imaginativ negiert wird, die aber de facto weiterhin besteht. Bewegen wir uns fort von diesem Grenzfall, so stoßen wir auf typische QuasiHandlungen, die als Paradefall in Abschnitt 2.2.2 diskutiert wurden: Die Spieler verstehen sich als Teil der fiktiven Welt, akzeptieren ihre Regeln als Naturgesetze und lassen sich voll und ganz auf das Geschehen ein. In diesem Rezeptionsmodus
120Vgl.
Walton 1978a, 23. will ich nicht behaupten, dass diese ‚distanzierte‘ Form der mentalen Identifikation die genuine Weise des Filmschauens exemplifiziert. Dem ist nicht so, denn auch beim Filmschauen können wir als Zuschauer hochgradig in das Geschehen involviert sein. Doch wer das eigene Spiel wie ein Zuschauer und nicht wie ein Handelnder betrachtet, distanziert sich von Aspekten seines eigenen Tuns und weist ipso facto das fiktive Geschehen als Akteur von sich. 121Damit
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werden wir von Geschichten mitgerissen, (quasi-)trauern und (quasi-)freuen uns mit Figuren und geraten in gruseligen Situationen in (Quasi-)Panik. Diese Variante des imaginativen Zugriffs könnte man imitierende Identifikation nennen, denn wirkliche Wahrnehmungs- und Handlungssituationen werden fiktional nachgeahmt. Eine alternative Bezeichnung, die einen anderen Schwerpunkt setzt, könnte lauten: ästhetische Identifikation, denn diese Weise des fiktionalen Rezipierens scheint einen ästhetisch vollkommen angemessenen Zugriff auf Spiele als Kunstwerke zu exemplifizieren.122 Diese begreife ich als all diejenigen Spiele, die den Spieler auf besondere Weise involvieren: „Der Witz von Computerspielen als Kunstwerken besteht darin, dass sich der Spieler im Spielen dieser Computerspiele selbst durchspielt“123, was nichts anderes heißt, als dass wir uns durch das Spielen auf eine spezifische Weise selbst reflektieren, die „nur in und durch die Form dieser Verhandlung zu haben ist“124. Eine Selbstreflexion durch das Spielen impliziert eine mentale Involvierung der eigenen Person in das Spiel: Durch ein imitierendes ‚Betreten‘ fiktiver Welten erkennt man sie vollständig als solche an und würdigt sie in ihrer einzigartigen ästhetischen Bestimmtheit. Man lässt sich in seiner Imagination ‚vom Spiel leiten‘, wodurch es als „reflexive Thematisierung der eigenen Verfahrensweisen dem Spieler in und durch das Spielen des Spiels eine Aussicht auf sich selbst eröffnet“125. Wer in einem Spiel virtuell handelt oder sich mit Fiktionen ausschließlich distanziert identifiziert, weist das fiktive Geschehen als persönlich belanglos und normativ unbedeutsam zurück, wodurch auch die ästhetischen Qualitäten des entsprechenden Werks verschmäht werden. Dieser Rezeptionsmodus ist aber speziell in Bezug auf Kunstwerke inadäquat, deren Verständnis essentiell „auf der Ebene der Erfahrung ihrer Oberfläche zu haben ist“126 – die ‚Oberfläche‘ der von Spielerin und Spiel ko-konstituierten fiktiven Welt. Dieser Punkt wird deutlich mit Blick auf Reaktionen gegenüber Kunstwerken, die wir typischerweise als dem Werk unangemessen einschätzen:
122Die Begriffe der Fiktion und Ästhetik miteinander zu verknüpfen ist nicht neu, im Gegenteil. Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, dem wichtigsten Nachschlagewerk für Germanisten, schreibt Gottfried Gabriel zum Begriff der Fiktion: „Auszugehen ist von dem traditionellen Gegensatz von Fiktion und Wirklichkeit (bzw. Wahrheit), von (ästhetischem) Schein und (außerästhetischem) ‚Sein‘“ (Gabriel 1997, 594). Auch in der philosophischen Ästhetik beruft man sich auf diesen Zusammenhang, der sich bis auf Kant zurückführen lässt (vgl. Bertram 2014, 85–88). John Dewey hingegen verknüpft den Begriff der Ästhetik mit dem der Imagination: „Ästhetische Erfahrung ist imaginativ“ (Dewey 1988, 319). Und die Theorie Waltons basiert grundlegend auf der Verbindung von Fiktion und Imagination: „Although fictional truths are generated in very different ways, the result is the same in every case: propositions that are to be imagined“ (Walton 1990, 185). Kurz: Meine Verschränkung der Begriffe ‚Ästhetik‘, ‚Fiktion‘ und ‚Imagination‘ steht in einer langen und recht robusten philosophischen und literaturtheoretischen Tradition. 123Feige 2015, 173. 124Feige 2018, 186. 125Ebd., 187. 126Ebd., 184.
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„Die Figuren in dem Gemälde sehen eine Landschaft, ich aber nicht!“, „Das ist doch keine Harmonie, das sind bloß Geigen- und Klaviertöne!“, „Meine Lieblingsfigur ist zwar gestorben, aber ich tue einfach so, als ob sie noch lebt!“127, „Das Monster in dem Film ist nicht echt, das wurde nur digital erstellt!“, „Ich erkunde nicht Rapture, ich entspanne mich nur!“128, „Ich habe den Mann nicht gefoltert, das war nur Trevor“ und so weiter. Den Urteilenden würden wir vorwerfen, dass sie sich nicht angemessen auf das jeweilige Kunstwerk einlassen und es deswegen nicht richtig verstehen. Ihre Beschreibungen sind inadäquat, weil sie nicht auf einer ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Werk beruhen; die Rezipientinnen sind nicht involviert: „Eine Erfahrung mit einem Kunstwerk zu machen heißt, dass wir uns im Nachvollzug der Form des Kunstwerks von diesem bestimmen lassen.“129 Das geschieht in obigen Fällen nicht. Das letzte der vermeintlich ästhetischen Urteile bezieht sich auf eine Szene in dem Computerspiel Grand Theft Auto V, die auf dem ersten Blick den Anschein erwecken könnte, dass der ästhetisch angemessene Rezeptionsmodus von Computerspielen als Kunstwerken nicht nur in der imitierenden, sondern auch in der distanzierten Identifikation zu liegen vermag.130 In der besagten Szene muss 127Dieser Fall deutet eine Rezeptionsweise an, die ich nicht eigens behandle, weil sie keinerlei mentale Identifikation mit dem ästhetischen Gegenstand anzeigt, sondern dessen Bestimmtheiten ignoriert und diesen sogar offen widerspricht – und damit keine Rezeption mehr im eigentlichen Sinne ist. Man könnte das Phänomen als fabulierende Produktion bezeichnen: Der Fabulierende rezipiert nicht ein bestimmtes Werk, sondern produziert (dabei) ein anderes. Insofern ist fabulierendes Produzieren ausgearbeiteten Fiktionen als ästhetischen Werken unangemessen; isoliert betrachtet, als freies Spiel und Generierung eigenständiger Fiktionen, aber völlig in Ordnung. Mit im freien Spiel konstruierten Fiktionen kann sich selbstverständlich ebenso mental identifiziert werden wie mit ko-konstituierten im Kontext fiktionaler Werke. Insofern gelten meine Ausführungen in diesem Kapitel auch für diese Form des Spielens – auch wenn ich sie nicht dezidiert thematisiere, weil in meiner Untersuchung das Spielen von Computerspielen im Zentrum steht. 128Das hier angedeutete Spiel BioShock kann beinahe schon als klassischer Fall eines Computerspiels als Kunstwerk gelten (vgl. Tavinor 2009, 188f.; Feige 2015, 175–179). 129Feige 2015, 17. Das heißt auch, dass es mitnichten jedem Kunstwerk angemessen ist, Elemente der Wirklichkeit beim Rezipieren direkt auf die Fiktion zu projizieren – man denke nur an ‚abstrakte‘ oder ‚wunderbare‘ Werke. Nichtsdestotrotz orientiert sich die imaginierende Rezeption eines jeden ästhetischen Werks als Erfahrung an wirklichen Erfahrungssituationen, sodass die Form des Werks – inklusive ihrer Leerstellen, die ohne den Hintergrund der Wirklichkeit gar nicht erkennbar wären – überhaupt wahrnehmbar und nachvollziehbar ist. Je realistischer ein ästhetisches Werk konzipiert ist, desto angemessener ist prima facie eine darüber hinausgehende, wirklichkeitsprojizierende Rezeption. 130Damit will ich nicht behaupten, dass es sich bei Grand Theft Auto V um ein Kunstwerk handelt – dessen bin ich mir ungewiss. Nichtsdestotrotz lässt sich durch die Besprechung der erwähnten Szene Einiges über das Potential von Computerspielen lernen, spezifische Selbstreflexionen beim Spielen im Sinne der imitierenden Identifikation anzuregen, weil Grand Theft Auto V hier zumindest punktuell den reflexiven Kunstcharakter aufweist. Ob es sich bei Grand Theft Auto V als Ganzes um ein Kunstwerk handelt, ist für meine Zwecke zweitrangig: Mir geht es nicht um das Erfassen und Ergründen von Computerspielen als Kunstgegenständen, sondern um das Erfassen und Ergründen spezifisch ästhetischer Handlungsweisen und Erfahrungen, die wir beim Computerspielen machen können – und die Computerspielen als Kunstwerken angemessen
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die Spielerin in einer Hauptmission, die nicht übersprungen oder umgangen werden kann, einen wehrlosen Mann foltern, um Informationen zu beschaffen. Die Spielerin wählt eines von zahlreichen Folterinstrumenten aus und wendet es mit verschiedenen Knopfdruck-Kombinationen auf brutale Weise an. Dieses Vorgehen muss vier Mal wiederholt werden, damit die Mission abgeschlossen wird und das Spiel voranschreitet. Die zu steuernde Spielfigur, Trevor Philips, ist zu diesem Zeitpunkt des Spiels als unberechenbare, extrem gewaltbereite und psychisch hochgradig labile Figur etabliert, mit der man zum Beispiel auch in optionalen ‚Randale-Missionen‘ ohne ersichtlichen Grund große Personengruppen ermordet. Wo aber letztere Missionen eine satirische Lesart nahelegen, ist die Folterszene trotz Überspitzung recht ernsthaft und eindrücklich inszeniert; so werden etwa Durchführung und Konsequenzen der Folterung im Detail dargestellt. Interessant an dieser Spielszene ist für meine Zwecke, dass es ein natürlicher Umgang für Spieler mit dieser potentiell unangenehmen Situation zu sein scheint, die Verantwortung für das (eigene) Tun allein der fiktiven Figur Trevor zuzuschreiben.131 Trevor ist derart charakterisiert, dass die Durchführung einer Folterung ihn nicht abschreckt – die Spielerin jedoch sieht sich mit einer Handlungsweise konfrontiert, die sie nicht ohne Weiteres (quasi-)durchführen will. Die schonungslose Inszenierung der Szene legt eine solche Reaktion nahe: Man will die Handlung nicht durchführen, muss es aber, um im Spiel voranzukommen. Damit scheint die Inszenierung der Folterung die Spielerin zu ‚zwingen‘, mental einen Schritt zurückzutreten und im Rahmen der distanzierten Identifikation die ausgeführten Taten als Trevors Taten zu markieren. Und dies scheint zu suggerieren, dass ein imitierender Zugang an dieser Stelle dem Spielgeschehen nicht entspräche: Die unangenehme Situation soll die Spielerin aus der Imitation reißen und reflektierende Distanz schaffen. Hier scheint die imitierende Identifikation also nicht den ästhetisch angemessenen Zugang darzustellen – immerhin wird sie kritisch in Frage gestellt. Eine tiefergehende Analyse relativiert diesen Befund. Tatsächlich deutet Vieles darauf hin, dass die Inszenierung der Folterszene darauf ausgelegt ist, ein moralisches Unwohlsein bei der Spielerin zu erzeugen. Der fehlende satirische Subtext und die schonungslose Inszenierung der Tat (insbesondere im Vergleich zum Rest des Spiels) legen dies nahe. Ein moralisches Unwohlsein kann jedoch nur dann auftreten, wenn die Spielerin die dargestellten (und durchgeführten) Handlungen als solche Handlungen versteht, die sie selbst ausführen soll. Der
sind. Ich denke also nicht, dass der imitierende Zugang für jedes Spiel den einzig angemessenen Zugang darstellt. Immerhin scheint es kompetitiven Spielen wie Tekken 7, Fifa19 oder Mario Kart 8 völlig angemessen zu sein, beim Spielen ‚bloß‘ gewinnen zu wollen – also virtuell zu handeln. 131Diese Annahme wird durch eine große Anzahl an Spielern fundiert, die ihr Spielverhalten in der Folterszene aufgezeichnet, kommentiert und auf diversen, frei zugänglichen Videoplattformen hochgeladen haben.
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Konflikt und der moralische Druck entstehen erst auf Basis einer imitierenden Identifikation, weil die Spielerin selbst – und nicht nur Trevor – agieren muss. Wäre eine distanzierte Identifikation von Anfang an inszenatorisch forciert, so entstünde kein moralischer Konflikt, da mit der Handlung auch jegliche Verantwortung ausdrücklich auf den fiktiven Trevor delegiert und damit jegliche normative Relevanz eliminiert würde. Der moralische Konflikt ist es aber, der diese besondere Szene in Grand Theft Auto V (gegenüber allen anderen brutalen Szenen und Hinrichtungen im selben Spiel) auszeichnet und der sich auf einer ethischen Dissonanz zwischen Spieler und Spielfigur gründet. Eine Dissonanz, die nur auf Basis einer imitierenden Identifikation entstehen kann, diese erschüttert – und damit voraussetzt. Das Beispiel zeigt, dass eine imitierende Identifikation auch dann die ästhetisch angemessene Weise des Spielens von Computerspielen darstellen kann, wenn diese komplexe Spielfiguren mit ausgearbeiteter Psyche inklusiver eigener ethischer Haltungen zeichnen. Solche Figuren fordern nur auf den ersten Blick eine distanzierte Identifikation, die sie vermeintlich ernster zu nehmen scheint als eine imitierende. Doch das Potential narrativer Computerspiele liegt wesentlich darin, der Rezipientin Figuren nicht nur aus der Distanz zu zeigen, sondern sie diese als Handelnde quasi-erleben und aktiv formen zu lassen. Ein Potential, das gerade dann reflexiv ausgeschöpft wird, wenn die imitierende Identifikation (etwa durch eine ethische Dissonanz) gebrochen und dadurch offengelegt wird: Meine Skrupel fiktional zu foltern enthüllen, dass die Geschehnisse in der fiktiven Welt mich etwas angehen. Selbst wenn ich bewusst in die Rolle Trevors schlüpfe und ich als Trevor in der fiktiven Welt agiere, bin ich imitierend in das Geschehen involviert und nicht distanziert. Schließlich mache ich mich glauben, ich wäre Trevor: Er ist für mich eine Rolle, keine eigenständig agierende Figur – deshalb empfinde ich Skrupel (und nicht bloß ‚Jammer und Schaudern‘). Dieser feine, aber wichtige Unterschied zwischen distanzierter und imitierender Identifikation sei mithilfe des gewöhnlichen Sprachgebrauchs fundiert: Beim Spielen im Sinne der imitierenden Identifikation stelle ich gegebenenfalls Überlegungen dazu an, was ich als Trevor tun würde. Distanziert identifiziert denke ich hingegen: Trevor ist allein verantwortlich für die fiktiven Taten; er ist betroffen, nicht ich. Imitierend will ich möglicherweise als Trevor, aber nie bloß mit Trevor agieren. Nicht die Figur, sondern ich werde in der ersten Prämisse meines praktischen Syllogismus als Akteur ausgewiesen: „Ich will (nicht), dass ich (als Trevor) foltere!“ (und nicht: „Ich will (nicht), dass Trevor foltert!“). Die Ausführungen suggerieren, dass distanzierte und imitierende Identifikationen zwar in der Theorie, nicht aber in der Praxis immer trennscharf zu unterscheiden sind. So changiert alltägliches Spielerverhalten vermutlich zwischen verschiedenen Identifikationsebenen und Handlungsformen, sodass ein Computerspiel mal imitierend und mal distanziert, mal virtuell und mal fiktional gespielt wird. Und in manchmal – wie in der Folterszene – scheinen mehrere Formen der mentalen Identifikation miteinander zu konkurrieren, weil – in diesem Fall – eine ethische Dissonanz und ein (quasi-)moralischer Konflikt die Situation
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dominieren.132 Die klare Unterscheidung auf begrifflicher Ebene ist unerlässlich, um die tatsächliche, hochkomplexe Praxis adäquat und differenziert analysieren zu können. Um den Bogen zu schließen: Fiktional Handelnde im Sinne der imitierenden Identifikation begeben sich imaginativ auf die Ebene eines Computerspiels, lassen ihr Tun (und nicht bloß das der Figuren) durch den fiktiven Spielkontext bestimmen und richten ihre Intentionen auf spielinterne Zwecke. In dieser imaginativen Verschränkung von Spielerin und Spiel vermag die Akteurin spezifisch ästhetische Erfahrungen von Quasi-Handlungen oder Quasi-Emotionen zu machen – sei das Spiel nun ein Kunstwerk oder nicht. Das fiktionale Handeln als imitierendes, ästhetisches Spielen ist die eigentliche Form ‚reinen Spiels‘.133 Ganz anders verhält es sich mit der gegensätzlichen Richtung mentaler Identifikation mit Fiktionen ii), die mitnichten einen ästhetischen Zugriff auf ein Werk darstellt. Nicht, weil der Rezipient sich hier imaginativ von der Fiktion distanzieren würde, sondern: weil er die Fiktion als solche aberkennt. Ein solcher Fall wurde bislang in dieser Untersuchung nicht thematisiert, weil er eine besonders exotische Variante des Spielens und Rezipierens darstellt. Hier würde Maria den fiktiven Torschuss als eine wirkliche Handlung des Torschusses und
132Auch die (noch zu besprechende) realisierende Identifikation könnte involviert sein, was in diesem Fall gegebenenfalls dazu führte, das eigene Tun in der Folterszene tatsächlich moralisch zu hinterfragen. 133Es geht mir nicht um die Bevorzugung einer Spielweise über einer anderen in einem starken normativen Sinne. Jede Spielerin kann spielen, wie sie will; ein Spielen ist nicht per se schlechter als das andere (außer, es ist unmoralisch). Wie mehrfach betont, stand im letzten Abschnitt vielmehr die Frage im Zentrum, welchen Rezeptionsmodus Computerspiele als Kunstwerke nahelegen. Letztere scheinen nämlich wesentlich die mentale Involvierung in das fiktive Geschehen als imitierenden Identifikation zu fordern, was diese als ‚ästhetische Identifikation‘ auszeichnet. Zwar sind nicht alle Computerspiele Kunstwerke: „Wie nicht jeder Film und nicht jedes Musikstück und nicht jedes Bild ein Kunstwerk ist, so ist auch nicht jedes Computerspiel ein Kunstwerk“ (Feige 2015, 24). Es ist aber durchaus der Fall, dass prinzipiell alle Computerspiele auf imitierende Weise gespielt werden können. Demnach ließe sich im Einklang mit meinen Ausführungen die These aufstellen: Kunstwerke sind genau diejenigen Computerspiele, welche die imitierende (als ästhetische) Identifikation durch ihre künstlerische Form fordern (und nicht bloß kontingenter Weise entsprechend gespielt werden können). Demnach wäre Tetris etwa kein Kunstwerk (vgl. ebd., 165–167; Feige 2018, 186), denn der geforderte Rezeptionsmodus von Tetris ist prima facie keiner, bei dem man imaginativ eine fiktive Welt betritt. Tetris scheint sich aufgrund seiner ‚Abstraktheit‘ einem imitierenden Zugriff geradezu zu verschließen, auch wenn dieser nicht völlig ausgeschlossen wird: Wir können uns Spieler vorstellen, die Tetris etwa als Parabel auf die Sinnlosigkeit des Lebens verstehen und entsprechend spielen. Diese Rezeptionsweise wird von Tetris aber nicht nahegelegt und ist (als ‚produzierendes Fabulieren‘) dem Gegenstand unangemessen. Das heißt allerdings nicht, dass eine imitierende Identifikation hier stets unangemessen sein muss. So ließe sich ein Spielen vorstellen, bei dem es allein um das möglichst lückenlose Anordnen verschiedenartiger Klötze geht – ein spielinternes Ziel, das außerhalb von Tetris keinen Sinn hat. Auch hier wird eine (sehr reduzierte) Fiktion beim Spielen imitierend betreten; eine fiktive Welt mit dem Gesetz, dass es gut ist und Sinn macht, Klötze auf eine bestimmte Weise zu sortieren. Die (offene) Frage ist, ob diese Rezeptionsweise von Tetris gefordert wird.
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Mark das fiktive Vergehen als ein wirkliches Vergehen begreifen. Die Spieler tun in diesem Rezeptionsmodus so, als ob ein wirklicher Wille durch die Fiktion erfüllt wird: Sie machen sich glauben, dass ihre Handlungen im Computerspiel spielexternen Intentionen dienlich sind. Das Ergebnis ist – dialektisch ausgedrückt – ein fiktionales Handeln, dessen Fiktivität imaginativ negiert wird, die aber de facto weiterhin besteht. Konkret: Mark imaginiert weder, dass Arthur Morgan eine Frauenrechtlerin misshandelt, noch, dass er selbst in der fiktiven Welt eine Frauenrechtlerin misshandelt, sondern, dass er beim Spielen wirklich eine Frauenrechtlerin misshandelt. Er imaginiert, dass er die Misshandlung nicht bloß imaginiert. Die Tat ist und bleibt dabei fiktional: Mark misshandelt de facto nicht wirklich eine Frauenrechtlerin, sondern tut nur so, als ob (und er ist sich dessen auch bewusst – er vergisst nicht, dass er physisch bloß Knöpfe drückt). Diese Rezeptionsweise ist dem fiktionalen Werk ästhetisch unangemessen, weil dieses als Mittel zu fiktionsexternen Zwecken missbraucht wird (und nicht gemäß i) als eigenständiges fiktionales Werk verstanden wird, das seinen Zweck in sich trägt). Diese Weise des imaginativen Zugriffs bezeichne ich als realisierende Identifikation, um zu unterstreichen, dass dem wirklichen Tun externe Elemente (das fiktive Geschehen) zu Erfüllungsbedingungen wirklicher Zwecke transformiert werden: Eine fiktive Handlung soll (wörtlich) realisiert werden. Ein zentraler Unterschied zu typischen Quasi-Handlungen gemäß i) liegt im Willen des Akteurs: Dieser ist bei der realisierenden Identifikation zwar de facto auf die fiktive Welt gerichtet und deshalb fiktional, wird aber gleichzeitig erstpersonal als wirklich interpretiert. Mark ‚begibt‘ sich zum Ausführen der Handlung nicht imaginativ in die fiktive Welt, sondern holt diese in die Wirklichkeit. Sein Tun erinnert dadurch an virtuelles Handeln, bei dem wir wirkliche Zwecke durch wirkliche Handlungen zu erreichen suchen. Das fiktive Geschehen ist im Falle virtueller Handlungen allerdings kontingenter Nebenaspekt unseres Tuns und kein Bestandteil unseres Willens. Im Falle der realisierenden Identifikation ist dies anders: Hier verkörpert die Fiktion (und nicht die Wirklichkeit) die elementare Erfüllungsbedingung unseres Willens. Mark will nicht auf die wirkliche Straße gehen und eine wirkliche Frauenrechtlerin misshandeln (sonst würde er das tun und nicht ein Computerspiel spielen). Sein Wille ist objektiv fiktional; er bezieht sich auf fiktive Geschehnisse und stellt die rationalisierende Beschreibung seiner Handlung dar. Der praktische Syllogismus gleicht somit äußerlich demjenigen typischer (imitierender) Quasi-Handlungen: 1. Wille: „Ich will die Frauenrechtlerin misshandeln und ermorden…“ [„…indem ich sie niederschlage und einem Alligator zum Fraß vorwerfe…“] 2. Minimalbeschreibung: „… indem ich die Knöpfe xyz drücke.“ 3. Handlung
Die Pointe ist nun, dass Mark nicht gemäß i) so tut, als ob er (oder Arthur Morgan) in der fiktiven Welt agiert, sondern, dass er sich glauben macht, die Fiktion sei wirklich und erfülle deshalb seine Intention – in diesem Sinne ist sein Wille
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subjektiv wirklich. Aus Beobachterperspektive ist klar, dass Marks Vorhaben nicht gelingen kann: Mark ermordet beim Spielen von Red Dead Redemption 2 nicht wirklich Frauenrechtlerinnen, genauso wenig, wie Maria beim Spielen von Fifa 19 wirklich Tore schießt. Das weiß auch Mark – und trotzdem interpretiert er seine Handlung auf diese Weise. Das ist das Exotische (und auch Paradoxe) an dem Fall. Doch im Rahmen des make-believe ist alles möglich: Imaginativ sind den Handlungen Marias und Marks keine Grenzen gesetzt. Und das nutzen sie aus: Nicht nur, um eine fiktive Welt zu betreten, sondern auch, um sie in die Wirklichkeit zu holen.134 Um die zentralen Erkenntnisse dieses Kapitels auf den Punkt zu bringen: Die zwei Weisen der mentalen Identifikation mit Fiktionen konstituieren zwei Weisen des Quasi-Handelns. Am Beispiel von Maria: Sie hat zwei Möglichkeiten, quasi ein Tor zu schießen. Zum einen kann sie die Fiktion als solche akzeptieren, indem sie entweder die Wirklichkeit ihrer Handlung negiert (distanzierte Identifikation) oder ihr Tun in die fiktive Welt übersetzt (imitierende Identifikation). Im Rahmen der distanzierten Identifikation tut Maria so, als ob sie gar kein Tor schießt, sondern Thomas Müller: ein ‚Quasi-Nicht-Handeln‘. Imitierend identifiziert tut sie so, als ob ihr Handeln ein fiktiver Torschuss ist: ein ‚Quasi-Fiktiv-Handeln‘. Zum anderen kann Maria das fiktive Geschehen als solches nicht akzeptieren und in die Wirklichkeit transformieren (realisierende Identifikation).135 Hier tut sie so, als ob ihr Handeln ein wirklicher Torschuss ist: ein ‚Quasi-Gewöhnlich-Handeln‘. Gemeinsam ist allen drei Fällen fiktionalen Handelns, dass sie im Willen als solche nicht expliziert werden: Erstpersonal wird das eigene Handeln als nicht-existent, fiktiv oder gewöhnlich ausgewiesen, nicht aber als fiktional. Das Explizieren des Quasi-Operators bedeutete das Ende der Imagination, das Ende des Quasi-Handelns (siehe Abschnitt 2.2.2).
134Freilich
haben fiktionale Werke erheblichen Einfluss darauf, ob und auf welche Weise man sich mit ihnen mental identifiziert. Aber der Rezipient hat immer das letzte Wort. Im Falle des Computerspielens können sowohl Hardware (man beachte die neusten Entwicklungen im Bereich der Virtual Reality im Gegensatz zum ersten GameBoy) als auch Software (man beachte sehr realistische und narrative Spiele wie Red Dead Redemption 2 im Gegensatz zu ‚abstrakten‘ oder überdrehten wie Tetris oder Mario Kart 8) einen bestimmten Rezeptionsmodus sehr stark forcieren: Kaum jemand spielt Mario Kart 8 als realistische Rennsimulation und kaum jemand taucht imaginativ beim Spielen von Tetris auf dem GameBoy derart immersiv in die Fiktion ein wie beim Spielen in der Virtual Reality. Unmöglich ist es den Rezipierenden jedoch nicht: Ich kann auch Red Dead Redemption 2 als bloße Zerstörung von Polygonen begreifen, die Virtual Reality als nicht-wirklich verlachen oder Tetris als systematische Vernichtung der untersten Gesellschaftsschichten verstehen. Das Spielen als imaginativer Prozess lässt mir grundsätzlich alle Freiheiten, das fiktionale Werk (ästhetisch) völlig unangemessen zu rezipieren. Aber derartige Perversionen des eigentlichen Werks sind die Ausnahme, wenn überhaupt, weswegen die Gemachtheit von Computerspielen bei der mentalen Identifikation de facto eine große Rolle spielt. 135Beim virtuellen Handeln transformiert Maria nicht die Fiktion, sondern klammert sie aus. Daher findet hier auch kein make-believe statt.
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Fiktion akzeptierendes Quasi-Handeln Fiktionales Handeln Fiktion transformierendes Quasi-Handeln
Distanzierte Identifikation Imitierende Identifikation Realisierende Identifikation
Abb. 3.1 Drei Arten der mentalen Identifikation mit Fiktionen
Die moralische Dimension der unterschiedlichen Formen fiktionalen Handelns wird nun abschließend mit Kant diskutiert, um das letzte Rätsel der Moralität von Computerspielhandlungen zu lösen. Zuvor seien aber die wichtigen Differenzierungen dieses Kapitels mit einer einfachen Grafik veranschaulicht (Abb. 3.1):
3.2.2 Können Quasi-Handlungen moralisch verboten sein? Von den vorangegangenen Überlegungen ausgehend ist es nur noch ein kleiner Schritt, eine Kantische Konklusion bezüglich der Moralität fiktionaler Handlungen zu ziehen. Die irreduzible Amoralität des Fiktiven liefert dabei den Ausgangspunkt: Computerspielhandlungen, die sich erstpersonal essentiell innerhalb von Fiktionen abspielen, können nicht dem kategorischen Imperativ widersprechen und ipso facto nicht unmoralisch sein. In fiktiven Welten herrscht kein moralisches Gesetz, das gebrochen werden könnte. Allerdings herrscht ein solches Gesetz in der Wirklichkeit und für alle Handlungen, die ihrer Maxime nach in derselben stattfinden. Dass dies virtuelle Handlungen umfasst, wurde schon hinreichend erläutert. Im Unterschied zu diesen zielt der Wille bei fiktionalen Handlungen auf fiktive Geschehnisse, die imaginativ vom Akteur (mit-)konstituiert werden: Es handelt sich um Quasi-Handlungen, um Spiele des make-believe. Bezüglich deren normativer Dimension gilt es zwischen einer Fiktion akzeptierenden und einer Fiktion transformierenden Art der mentalen Identifikation zu unterscheiden. Während die eigene Handlung im ersten Fall der Fiktion angepasst wird, indem sich erstpersonal vom Tun der Spielfigur distanziert oder die fiktive Welt imitierend ‚betreten‘ wird, kehrt der zweite Fall das Verhältnis um und integriert das fiktive Geschehen in die Wirklichkeit. Mit Kant ergeben sich die folgenden Schlussfolgerungen: Sobald die ausgeführte Handlung erstpersonal als fiktive Praxis verstanden wird, gilt die irreduzible Amoralität des Fiktiven, denn die relevante Tätigkeit wird durch die Maxime implizit oder explizit als der Wirklichkeit und Moralität extern ausgezeichnet. Sobald das fiktive Geschehen jedoch imaginativ mit der Wirklichkeit identifiziert wird, spricht der Akteur selbst seinem Tun moralische Relevanz zu und es gilt ipso facto das moralische Gesetz. Handelt man in
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diesem Sinne quasi-unmoralisch, so handelt man mit Kant wirklich unmoralisch – denn die Amoralität des Fiktiven ist aufgehoben, sobald man es als wirklich versteht.136 Das Fiktive wird durch die Imagination von Personen konstituiert, dieselbe Kraft kann es auch wieder auflösen. Mit anderen Worten: Es ist mit Kant zwar nicht unmoralisch, so zu tun, als ob man in der fiktiven Welt etwas Unmoralisches tut. Aber es ist unmoralisch, so zu tun, als ob man in Wirklichkeit etwas Unmoralisches tut. Denn sich glauben zu machen, dass man wirklich unmoralisch agiert, heißt letztlich nichts anderes, als den eigenen Willen beim Quasi-Handeln als moralisch relevant zu markieren und aus dem amoralischen Reich der Fiktion auszutreten. Zur Veranschaulichung sei nochmal Marks Fall herangezogen: Interpretiert Mark seine quasi-unmoralische Quasi-Handlung als Vollzug eines Willens, der nur in der fiktiven Welt erfüllt werden kann, so handelt es sich um einen Willen, der keine Maxime formt, die dem kategorischen Imperativ widersprechen könnte: In der fiktiven Welt ist es (moralisch) jedem freigestellt, beliebige Quasi-Schand-
136Dieser Punkt scheint für alle Arten von Fiktionen zu gelten – auch für solche, die sich zu zentralen Bestandteilen menschlicher Kultur entwickelt haben. Das Konzept der ‚Nation‘ etwa ist derart tief in der Identität vieler Bürger (und auch in der Politik wie im öffentlichen Recht) verankert, dass eine moralische Relevanz desselben nicht zu bestreiten ist: Viele Bürger identifizieren sich realisierend mit ihrer Nation, wodurch ihr de facto Moralität eignet. In diesem Sinne ist es zum Beispiel nicht kategorisch verkehrt, in der Migrationsethik mit dem kulturellen Wert nationaler Identitäten zu argumentieren (vgl. Walzer 1983). Auf der anderen Seite könnte man ‚Nation‘ allerdings auch explizit als Fiktion begreifen, weil es sich um eine Entität handelt, die (mit Kripke gesprochen) aus konkreten Aktivitäten von Menschen konstituiert ist. (Wobei Kripke Nationen zwar als abstrakt, nicht aber als fiktiv versteht, weil sie streng genommen nicht auf konkreten Aktivitäten, sondern auf Beziehungen von Menschen beruhten (vgl. Kripke 2014, 108f.). Ich bin mir nicht ganz sicher, worauf Kripke mit dieser Unterscheidung hinaus will, schließlich bilden bloße Beziehungen noch keine Nationen, sondern erst Taten. Möglicherweise kann man ihn so lesen, dass sich mit dem Konzept der Nation kollektiv realisierend identifiziert wird, ihr Existenzstatus daher nicht nur von einem Subjekt abhängig und ipso facto nicht derart prekär wie bei herkömmlichen Fiktionen ist.) Sobald man aber Nationen explizit als Fiktionen versteht, verneint man deren moralische Relevanz und entkräftet (erstpersonal) jegliches Argument, das auf einem moralischen Wert derselben beruht: „Nationen sind bloß fiktive Konstruktionen! Dem gegenüber steht die wirkliche Not tausender Menschen!“. Das Beispiel soll zeigen, dass fiktive Konstrukte ab dem Zeitpunkt realisierender Identifikationen (etwa im Rahmen einer kulturellen Akzeptanz) de facto ihre Amoralität verlieren, auf der aus einer anderen Perspektive, mit einer anderen Form der mentalen Identifikation, aber berechtigterweise bestanden werden kann. Ganz ähnlich verhält es sich im Bereich des Ästhetischen und der Kunst. Ebenso wie fiktionale Handlungen können auch Kunstgegenstände unmoralisch sein. Das sind sie aber nicht aufgrund ihrer genuin ästhetischen Eigenschaften, denen die allen Fiktionen eigentümliche Amoralität eignet. Sondern unmoralisch sind künstlerische Werke genau dann, wenn sie unmoralische Weltanschauungen über ihre Binnenstruktur hinaus in die Wirklichkeit tragen. Mit anderen Worten: Wenn sie nicht mehr bloß fiktionale und ästhetische, sondern faktuale Botschaften und Haltungen postulieren und bewerben. Eine realisierende Identifikation wird hier gewissermaßen durch das ästhetische Werk selbst nahegelegt. In diese Richtung jedenfalls geht der vielversprechende moraltheoretische Konsens im Bereich der Ästhetik und Kunsttheorie: Kunst wird genau dann moralisch relevant, wenn sie aufhört, genuin künstlerisch zu sein und auf die Wirklichkeit außerhalb des eigenen Realitätssystems verweist (vgl. Walton 1994; Carroll 2002; Gaut 2005; Misselhorn 2014; Schmalzried 2017). Auf welche Weise genau ein Kunstwerk moralische Weltanschauungen vermittelt, was dies für seine ästhetischen Qualitäten und seinen Kunststatus bedeutet und ob dies Regel oder Ausnahme ist – darin sind sich die philosophischen Positionen freilich uneins.
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taten zu begehen. Interpretiert Mark seine quasi-unmoralische Quasi-Handlung aber dahingehend, dass sie einen Willen verkörpert, den es in Wirklichkeit zu erfüllen gilt, so will er ipso facto wirklich eine Frauenrechtlerin im Rahmen des make-believe misshandeln: Er macht sich glauben, sein fiktionales Tun realisiere diesen Willen. In diesem Fall widerspricht Marks Maxime dem kategorischen Imperativ und sein fiktionales Handeln ist unmoralisch, auch wenn er faktisch gar keine Frauenrechtlerin misshandelt (und sich dessen auch bewusst ist). Die Unmoralität der Quasi-Handlung speist sich nicht aus dem Computerspiel und seiner anstößigen Darstellung, sondern allein aus der Maxime; es ist unerheblich, was Mark spielt, sondern es geht darum, wie er es tut. Demnach kann auch eine Spielhandlung in RapeLay amoralisch sein (zum Beispiel, wenn sich bloß distanziert identifiziert wird) und eine Spielhandlung in Tetris unmoralisch (zum Beispiel, wenn die Vorgänge in Tetris realisierend identifiziert als möglichst platzsparende Zuweisung von Sklaven imaginiert werden).137 Es geht um die Maxime der Spielerin, nicht um ihren Charakter, nicht um die Konsequenzen und nicht um das Spiel. Dies ist das Ergebnis einer Kantischen Analyse fiktionaler Handlungen, wenn man sie mit einer Untersuchung der (A-)Moralität von Fiktionen verknüpft. Der Großteil an Begründungsarbeit für diese Konklusion wurde bereits im vorangegangenen Kapitel erbracht. Nun soll es darum gehen, die Schlussfolgerung gegen drei naheliegende Einwände zu verteidigen. I) Beim fiktionalen Handeln werden keine Pflichten verletzt! Es spielt keine Rolle, wie sich Mark mit seinem Handeln identifiziert: Er misshandelt de facto keine Frauenrechtlerin und sein Handeln widerspricht somit nicht dem kategorischen Imperativ! Tatsächlich ist es nicht unwichtig zu betonen, dass Mark de facto keine Frauenrechtlerin tätlich angreift. Sein Handeln ist und bleibt fiktional. Bei einer normativ
137Beide Fälle sind stark konstruiert. Im ersten Fall gilt es zu betonen, dass sich mit Blick auf Spiele wie RapeLay natürlich zahlreiche Weisen unmoralischen Spielens denken lassen, die möglicherweise sogar die amoralischen Fälle faktisch überwiegen – doch handelt es sich dabei ausschließlich um virtuelle Handlungen oder Quasi-Handlungen im Sinne der realisierenden Identifikation. Distanziert oder imitierend identifiziert tut eine Spielerin nichts Unmoralisches. Zwar kann das Spielen von RapeLay aus ganz anderen Gründen (auch mit Kant) moralisch problematisiert werden, sobald man den Kontext beachtet, dass es sich um die Rezeption eines verwerflichen Spiels handelt: Möglicherweise war schon der Kauf des Spiels moralisch verboten. Und dass die Spielentwickler sich eines moralischen Vergehens schuldig gemacht haben, steht außer Frage. Doch betrifft dies weniger das Spielen, als vielmehr den Umgang mit unmoralischen Artefakten generell (vgl. Ostritsch 2017, 125f.; Ostritsch 2018, 78–80). Spielhandlungen als solche sind (nur) dann intrinsisch unmoralisch, wenn die Maxime des Akteurs dem kategorischen Imperativ widerspricht. Im zweiten Fall wird eine sehr exotische Situation der ‚fabulierenden Produktion‘ geschildert, denn die Handlungssituation wird hier fast ausschließlich durch die Akteurin imaginativ konstruiert, Tetris legt sie beileibe nicht nahe. Nichtsdestotrotz ist ein Spielen von Tetris mit einer entsprechenden Maxime im Rahmen der realisierenden Identifikation denkbar – und es ist offenkundig, dass es mit Kant moralisch verboten wäre.
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angemessenen Handlungsbeschreibung würde man nicht ‚faktisch‘ als Operator ergänzen („Mark misshandelt faktisch eine Frauenrechtlerin“), sondern ‚quasi‘ („Mark quasi-misshandelt eine Frauenrechtlerin“). Nichtsdestotrotz zielt der Wille Marks erstpersonal wirklich auf das Misshandeln einer Frauenrechtlerin und er macht sich glauben, dieser Wille würde durch ein Drücken von Knöpfen erfüllt. Dass Mark dabei nicht wirklich eine Frauenrechtlerin misshandelt, sondern nur so tut als ob, wäre relevant, wenn wir konsequentialistisch argumentieren würden. Aber mit Kant sind die Konsequenzen einer Handlung hintenangestellt. Ein Mordversuch, der misslingt, ist ebenso unmoralisch wie ein Mord. Ein Misshandeln, das nicht wirklich erfolgt, aber aus einer entsprechenden Maxime heraus ausgeführt wird, ist ebenso unmoralisch wie ein Misshandeln, das wirklich stattfindet. Das mag auf den ersten Blick befremdlich wirken, aber auf den zweiten Blick zeigt sich eine unbestreitbare Attraktivität dieser Perspektive: Wir können Marks Handeln moralisch verurteilen, ohne damit fragwürdige Annahmen über eine Verrohung seines Charakters oder ähnliche schädliche Konsequenzen zu treffen. Seine Handlung ist schlicht deshalb unmoralisch, weil sie aus einer Maxime heraus ausgeführt wird, die dem kategorischen Imperativ widerspricht. Es spielt weder eine Rolle, welchen Charakter Mark hat oder welche Lehren er aus seinem Tun zieht – das wäre ein tugendethischer Gedankengang – noch, wie die Handlung konkret ausgeführt wird und welche Folgen sie hat – das wäre ein utilitaristischer Gedankengang – sondern, dass jedwedes Tun, das aus solchen Gründen ausgeführt wird, moralisch verboten ist. Denn: Die Maxime der (wirklichen) Misshandlung von Frauenrechtlerinnen kann nicht als allgemeines Gesetz gedacht (und schon gar nicht gewollt) werden (im Gegensatz zur Maxime der Quasi-Misshandlung fiktiver Frauenrechtlerinnen138). Und im Falle der realisierenden Identifikation ist es genau diese erstpersonal wirkliche Maxime, die Marks Quasi-Handeln in Gang setzt, rationalisiert und die Pflicht verletzt, keine Personen zu misshandeln. Während Marks Tun also ein Quasi-Misshandeln ist, so zielt sein Wille auf ein wirkliches Misshandeln und er macht sich glauben, dass seine fiktionale Tat diesen (wirklichen) Willen realisiert. Und das ist unmoralisch. II) Fiktionales Handeln mit realisierender Identifikation gibt es nicht! Ein Spieler weiß immer, dass er spielt, insofern kann Marks Maxime nicht wirklich sein, während sein Handeln bloß im Spiel ist: Ein wirklicher Wille kann keine fiktionale Handlung rationalisieren! Das ist eine unzulässige Vermischung von Fiktion und Wirklichkeit! 138Eine moralische Problematisierung der Quasi-Misshandlung als sexistisches Postulat beträfe nicht den intrinsischen moralischen Status der fiktionalen Handlung, sondern ihren faktualen medialen Kontext. Die Maxime der Quasi-Misshandlung lässt sich durchaus als allgemeines Gesetz wollen, denn das Fiktive als solches tangiert nicht das Sittengesetz – doch gilt dies nicht für gesellschaftliche Auswirkungen, die möglicherweise mit der allgemeinen Ausführung entsprechender Spielhandlungen einhergingen. Diese Argumentationslinie stützt sich allerdings auf konsequentialistische Zusatzannahmen und nicht auf analytische Bestandteile der Handlung selbst, wodurch wir uns im Rahmen einer (regel-)utilitaristischen Evaluation bewegen, die von den Spezifika fiktionaler Handlungen abstrahiert.
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Es stimmt, dass Marks Handeln eine ‚Vermischung‘ von Fiktion und Wirklichkeit enthält. Aber diese spezielle Art der Vermischung ist gerade der Witz realisierender Identifikation: Das fiktive Geschehen wird imaginativ zur Erfüllungsbedingung eines Willens, der erstpersonal auf die Wirklichkeit zielt, transformiert. Vermischt werden hierbei nicht substanziell getrennte Welten, sondern verschiedene Beschreibungsebenen. Die Spielhandlung findet fiktional beschrieben innerhalb der fiktiven Welt und physikalisch wie mental beschrieben in der Wirklichkeit (als Knöpfedrücken bzw. make-believe) statt. Mit Blick auf die moralische Dimension der Handlung kommt es darauf an, wie der Akteur seine Handlung mental versteht: Weder physischen Körperbewegungen sui generis noch fiktiven Geschehnissen sui generis eignet normative Relevanz. Es kommt auf die mentale Interpretation und Einordnung der Ereignisse an; beim Computerspielhandeln: auf die Art und Weise des make-believe. Macht Mark sich glauben, dass seine Computerspielhandlung gewöhnlich ist (ein wirkliches Frauenmisshandeln: unmoralisch) oder macht er sich glauben, dass sie fiktiv ist (ein fiktives Frauenmisshandeln: amoralisch)? De facto ist Marks Handlung weder das eine noch das andere, sondern sie ist fiktional, da sie einerseits als Drücken von Knöpfen wirklich stattfindet (also nicht fiktiv ist), andererseits aber unter Bezugnahme auf fiktive Geschehnisse rationalisiert wird (also keine gewöhnliche Handlung ist). Dieses komplexe Verhältnis sei etwas genauer erläutert. Spiele des make-believe sind inhärent paradox. Das liegt in der Natur der Sache: Jeder fiktional Handelnde tut einerseits Dinge, die er andererseits nicht (wirklich) tut. Beim virtuellen Handeln ist dies anders: Der Akteur führt mit dem Spiel genau das (wirklich) aus, was er (wirklich) ausführen will. Maria gewinnt mit ihrem Spielen wirklich gegen Peter. Im Falle von Quasi-Handlungen zeigt sich die Paradoxie schon im praktischen Syllogismus als Lücke zwischen erster und zweiter Prämisse: Eine fiktive Handlung soll durch eine wirkliche Körperbewegung vollzogen werden. Dabei kann nun entweder die Schirmherrschaft der Fiktion akzeptiert werden, sodass sie erstpersonal im Rahmen der distanzierten oder imitierenden Identifikation als außerhalb vom „‚gewöhnlichen‘ Leben“139 stehend ausgezeichnet wird, wodurch Rationalität, Widerspruchslosigkeit, Moralität oder sonstige normative Beurteilungskriterien an Bedeutung verlieren.140 Oder die Fiktion wird zugunsten der Wirklichkeit im Rahmen einer realisierenden Identifikation zurückgewiesen, indem die fiktive Handlung als eine entsprechende eigene gewöhnliche Handlung verstanden wird – und normativen Maßstäben der Handlungsbeurteilung Tür und Tor geöffnet werden. Das hat Folgen: Quasi-Handlungen im Sinne realisierender Identifikation sind (im Unterschied zu anderen
139Huizinga
2015, 12. schließt auch ästhetische Kriterien ein, wodurch der Witz am genuin ästhetischen Zugang zu Computerspielhandlungen paradoxerweise gerade darin liegt, die eigene Praxis keinen normativen (inklusive ästhetischen) Bedingungen der Wirklichkeit, sondern allein den Gegebenheiten des Spiels zu unterwerfen. Dass erstpersonal die Ästhetik beim imitierenden, ‚ästhetischen Spielen‘ keine Rolle spielt, heißt allerdings nicht, dass nicht im Rahmen einer philosophischen Reflexion aus der ‚Außenperspektive‘ auf entsprechende Aspekte eingegangen werden kann. 140Das
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Quasi-Handlungen) nicht nur paradox, sondern notwendigerweise irrational, denn eine wirkliche Handlung soll durch ihren fiktiven Konterpart tatsächlich durchgeführt werden. Das widerspricht jeglicher praktischen Vernunft: Wenn uns Mark auf unsere Frage, was er da tue, antwortet „Ich misshandle tatsächlich eine Frauenrechtlerin!“, könnten wir ihm vorwerfen, dass er seine Handlung nicht richtig verstehe, denn de facto misshandle er keine Frauenrechtlerin; er glaube höchstens, dass er dies tue, und diese Überzeugung sei seiner eigentlichen Praxis des Knöpfedrückens – die er bewusst ausführe – höchst unangemessen. Fügte er hinzu: „Okay, also eigentlich misshandle ich nur in der fiktiven Welt eine Frauenrechtlerin!“ (imitierende Identifikation), oder: „Also eigentlich misshandelt Arthur Morgan die Frauenrechtlerin!“ (distanzierte Identifikation), so ist Marks Handlungsbeschreibung zwar nach wie vor seltsam, weil sie einen „Sprung in den Realitätsebenen“141 impliziert, aber nicht irrational, da Mark die Praxis explizit als eine Praxis innerhalb der fiktiven Welt und außerhalb jeglicher normativen Relevanz auszeichnet. Identifiziert sich Mark allerdings realisierend mit seinem Handeln, so ist dasselbe irrational – weil es erstpersonal als gewöhnliches Handeln verstanden wird und damit offen für normative Beurteilungen ist. Aufgrund ihrer intrinsischen Irrationalität erscheint diese Handlungsweise gleichsam exotisch wie schwer vorstellbar – ist sie überhaupt möglich? Die begriffliche Erläuterung hat freilich noch nicht die empirische Frage ausgeräumt, ob und unter welchen Umständen die diskutierte Praxis tatsächlich auftreten kann. Für einen entsprechenden Beleg müssten wissenschaftliche Studien angeführt werden, die eine realisierende Identifikation beim Computerspielen nachweisen. Mir ist bis dato keine solche Studie bekannt und ich wüsste auch nicht, wie man sie angesichts der feinen Unterschiede zwischen den Formen der mentalen Identifikation durchführen sollte. Man könnte aufgrund dieser misslichen Datenlage fordern, die vorangegangenen Erkenntnisse in den Konjunktiv zu setzen: Falls eine solche Handlung gemäß der realisierenden Interpretation tatsächlich aufträte, dann wäre sie in einem kantischen Sinne unmoralisch. Obwohl dies aus philosophischer Sicht kein geringer Ertrag ist, möchte ich in den folgenden Zeilen den Gedanken zu stärken versuchen, dass ein Spielen im Sinne der realisierenden Identifikation im Alltag nicht derart schwer vorstellbar ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Zunächst denke ich an Computerspiele, die sich ohne Weiteres auch als analoge Brett- oder Kartenspiele umsetzen ließen. Spielt beispielsweise Petra das Kartenspiel Solitär am Computer, so ist davon auszugehen, dass ihre Handlungsmotivation darauf gerichtet ist, Karten zu ziehen und in die richtigen Reihen einzuordnen. Es handelt sich hierbei um fiktionale Handlungen, da Petra nicht wirklich Karten zieht und einordnet (und sich dessen auch bewusst ist). Nicht nur physisch und motorisch, sondern auch organisatorisch ist das digitale Spielen von Solitär strikt von einem analogen Pendant zu unterscheiden. Doch handelt es
141Börchers
2018, 114.
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sich um ein fiktionales Handeln im Sinne der realisierenden Identifikation? Tatsächlich ist dies hier gar nicht unwahrscheinlich. Denn der Gedanke liegt nahe, dass Petra beim digitalen Spielen von Solitär davon ausgeht, tatsächlich nichts anderes zu tun, als wirklich Solitär zu spielen – obwohl sie sich gleichzeitig bewusst ist, dass sie nicht mit Spielkarten spielt, die sie anfassen könnte und nach jeder Runde neu mischen und anordnen müsste. Das einfache Beispiel führt die intrinsische Irrationalität des Spielens im Sinne der realisierenden Identifikation klar vor Augen: Petra weiß (wie Mark) zwar einerseits, dass sie bloß fiktional handelt, andererseits zielt ihr Wille darauf, die fiktiven Bestandteile ihres Tuns wirklich durchzuführen. Ganz ähnlich verhält es sich auch bei anderen digitalen Varianten analoger Brettspiele, etwa bei einer Online-Runde Die Siedler von Catan – nur, dass hier die Differenz zwischen digitaler und analoger Version des Spiels noch deutlicher zutage tritt. Statt des ‚echten‘ Würfelzufalls entscheidet ein undurchsichtiger Algorithmus den Fortgang des Spiels, statt gegen Personen spiele ich unter Umständen gegen computergesteuerte Gegner. Trotzdem beschreibe ich mein Handeln im Normalfall so, dass ich Siedlungen baue, Rohstoffe mit Spielern tausche und den Räuber versetze. Und nicht nur das: Ich gehe dabei davon aus, dass ich diese Dinge beim Spielen wirklich tue (freilich entsprechend des analogen Brettspiels, nicht entsprechend einer wirklichen Siedlungsgründung). Ich tue so, als ob das fiktionale Spielen gewöhnliches (analoges) Spielen wäre. Das fiktionstransformierende Spielen wird kurioser, je mehr sich Körperbewegung der Spielerin und digitale Darstellung motorisch und konsequentialistisch von ihren wirklichen Konterparts unterscheiden. So etwa in Marks Fall: De facto haben seine Körperbewegung und die digitale Darstellung beim Spielen von Red Dead Redemption 2 (glücklicherweise) kaum etwas mit einer wirklichen Misshandlung gemein. Trotzdem ist eine realisierende Identifikation auch in solchen oder ähnlichen Fällen nicht undenkbar. Dies wird besonders deutlich, wenn man Computerspiele wie America’s Army: Proving Grounds betrachtet. Die Reihe wurde von der U.S. Army mit der offenen Intention entwickelt, neue Soldatinnen für die Armee zu rekrutieren. Obwohl das Spiel einen hohen Realismus propagiert (mit eingeschränkter Waffenwahl, fatalen Verwundungsmöglichkeiten und einer hohen taktischen Komponente), bildet es selbstverständlich eine glorifizierende und verharmlosende Version kriegerischer Kampfeinsätze fern der Wirklichkeit ab; Bluteffekte sind drastisch reduziert, erschossene Gegner verschwinden, Krieg macht Spaß. Von der Homepage des Spiels wird man durch zahlreiche Buttons auf die offizielle Rekrutierungsseite der U.S. Army weitergeleitet. In diesem Kontext ist es nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, dass zumindest einige Spieler ihr Spielen von America’s Army: Proving Grounds als wirkliche Übung oder Bewährungsprobe für das Militär verstehen. Zu einem solchen werbenden Zweck wurde das kostenfrei erhältliche Computerspiel schließlich im Jahr 2002 entwickelt und erfährt bis heute regelmäßig sowohl grafische als auch inhaltliche Aktualisierungen. Stellen wir uns vor, Petra spielt America’s Army: Proving Grounds mit der Absicht, für einen Einsatz im Militär zu trainieren, so gibt es zwei Möglichkeiten, den handlungstheoretischen Status ihres Spielens zu bestimmen: Es
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handelt sich entweder um eine virtuelle Handlung oder um eine Quasi-Handlung im Sinne der realisierenden Identifikation. Im ersten Fall würde Petra davon ausgehen, dass sie ihr Spielen von America’s Army: Proving Grounds tatsächlich auf den Kriegsfall und den Eintritt ins Militär vorbereitet: Sie verfolgt mit dem Spielen den subjektiv wie objektiv in der Wirklichkeit angesiedelten Zweck, sich entsprechend vorzubereiten. Sie versteht ihr Spielen als ein Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Dieses Handeln ist irrational, weil das Spielen eines Computerspiels selbstverständlich weder für eine Laufbahn beim Militär noch für einen wirklichen Krieg wappnet. Dies ist keine dem Spielen eigentümliche Form der Irrationalität, sondern schlicht eine falsche Wahl der Mittel wegen einer falschen Einschätzung der Auswirkungen des eigenen Handelns: Petra denkt, es gebe einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Spielen von America’s Army: Proving Grounds und einer Vorbereitung für militärische Einsätze – und sie irrt sich. Im zweiten Fall versteht Petra ihr Handeln zwar ebenso als Training, ihr ist aber gleichzeitig bewusst, dass sie damit nicht besser für einen echten Kriegseinsatz gewappnet ist. Sie tut beim Spielen bloß so, als ob dem so wäre: als ob das fiktionale Handeln ein wirkliches militärisches Training darstelle (das sie auch wirklich absolvieren will). Im selben Moment weiß sie, dass sie das Spielen von America’s Army: Proving Grounds keinen Deut eher zu einer militärischen Laufbahn befähigt als bloßes Knöpfedrücken: Ihr ist (anders als bei der virtuellen Handlung) bewusst, dass es keine relevante kausale Verknüpfung zwischen ihrem Spielen und ihren militärischen Fähigkeiten gibt – eben deshalb tut sie so, als ob. Hier ist Petras Handeln irrational, weil ihr Wille postuliert, dass die Fiktion Wirklichkeit ist und sie für das Militär trainiert, während sie gleichzeitig weiß, dass dem nicht so ist – und sie bloß Knöpfe drückt. Diese Form der Irrationalität kann ausschließlich im Zusammenhang mit Prozessen des make-believe auftreten, da sie eine Vermischung von Wirklichkeit und Fiktion impliziert. Eine Vermischung, die beim virtuellen Handeln nicht auftreten kann, weil der Wille hier nicht auf eine Fiktion gerichtet ist – Petra verwechselt im ersten Fall bei ihrer Einschätzung kausaler Prozesse Fiktion mit Wirklichkeit, sie vermischt sie nicht. Eine solche Vermischung ist es aber, die im zweiten Fall auftritt und die in Marks Fall unmoralisch ist, weil sie eine Maxime hervorbringt, die dem kategorischen Imperativ widerspricht. Die angeführten Beispiele sollten zur Genüge gezeigt haben, dass ein Spielen im Sinne der realisierenden Identifikation nicht nur theoretisch denkbar, sondern im Kontext bestimmter Spieler sogar wahrscheinlich ist. Diese Spiele müssen zwar nicht auf diese Weise gespielt werden, sie können es aber. III) Inwiefern kann man in Fällen realisierender Identifikation überhaupt noch von Spielhandlungen sprechen geschweige denn von fiktionalen Handlungen? Die entsprechende Klassifizierung erfolgt nur, um am Ende die Möglichkeit unmoralischen Spielens bewiesen zu haben. Ein Paradefall von QuestionBegging! Inwieweit im Kontext realisierender Identifikationen noch von Spielhandlungen oder fiktionalen Handlungen gesprochen werden kann, ist nicht leicht zu
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beantworten. Dass virtuelle Handlungen Fälle des Spielens sind, fundiert unser typischer Umgang mit alltäglichen Spielsituationen: Wenn die Mutter mit ihrer Tochter Schach spielt, um ihr effiziente Strategien beizubringen, spielen die beiden Schach. Wenn der Sohn Tetris spielt, um sich die Wartezeit zum Ausflug zu verkürzen, spielt er Tetris. Obwohl die Zwecke der Handlungen hier nicht innerhalb der Spiele selbst angesiedelt sind, wird gespielt. Von Handlungen im Rahmen realisierender Identifikationen gibt es prima facie allerdings kaum alltägliche Fälle, weil sie eine exotische und irrationale Form des Handelns darstellen. Zwar wurden im vorangegangenen Abschnitt einige Beispiele genannt, grosso modo verkörpern diese allerdings eher Ausnahme- und nicht Normalfälle des Spielens. Demnach ist meine Einordnung dieser Form des Handelns zu fiktionalen Spielhandlungen nicht derart intuitiv robust. Der Wille wird bei der realisierenden Identifikation erstpersonal als wirklicher Wille verstanden, was für eine Zuordnung zu virtuellen Handlungen spricht. Außerdem geht es dem Akteur oft gar nicht um ein Spielen als solches, sondern um gewöhnliche Zweckerfüllung auf verquere Weise, weswegen auch die Klassifizierung als Spielhandlung unangemessen scheint. Es handelt sich definitiv um einen Grenzfall. Aber es gibt mindestens drei Gründe, warum wir eine Praxis im Sinne der realisierenden Identifikation als fiktionales Spielhandeln verstehen sollten. Erstens ist es eine Tätigkeit, bei der sich der Wille des Akteurs objektiv auf eine Fiktion bezieht (auch wenn er subjektiv anders interpretiert wird): Mark wählt als angemessene Beschreibung seiner Handlung des Knöpfedrückens bewusst eine, die auf ein fiktives und nicht auf ein wirkliches Geschehen referiert; er imaginiert dieses Geschehen. Wenn sein Wille objektiv auf die Wirklichkeit gerichtet wäre, so würde er wirklich auf die Straße gehen und Frauenrechtlerinnen misshandeln und nicht ein Computerspiel spielen. Weil der Wille aber objektiv fiktional ist, ist auch die Handlung objektiv fiktional und nicht virtuell oder gewöhnlich. Eine kontrafaktische Erläuterung der Handlung kann hier als recht zuverlässiges Testverfahren fungieren; anders als bei gewöhnlichen oder virtuellen Handlungen ist diese nämlich bei jeglichen fiktionalen Handlungen sinnvoll: „Wenn Mark wirklich eine Frauenrechtlerin misshandelt hätte, folgten rechtliche Konsequenzen“ („Wenn Maria wirklich gegen Peter gewonnen hätte, …“ ist hingegen inadäquat, weil Maria tatsächlich gewonnen hat). Zweitens erbringt die Akteurin bei der realisierenden Identifikation elementar eine imaginativ transformierende Leistung, der eine Zuordnung zu virtuellen oder gewöhnlichen Handlungen nicht gerecht würde: Eine urtümlich fiktive Handlung soll (wirklich) realisiert werden. Wenn es sich um eine gewöhnliche oder virtuelle Handlung handelte, bräuchte es keine imaginative Transformation vonseiten der Akteurin: Sie würde nicht so tun, als ob sie ihren Willen wirklich ausführte, sondern sie führte ihn schlicht wirklich aus. Damit kommen wir zum dritten Punkt: Beim Handeln im Rahmen einer realisierenden Identifikation handelt es sich ohne Frage um ein Quasi-Handeln. Die Akteurin agiert im Rahmen des make-believe, ihr Handeln ist eingebunden in einen Imaginationsprozess, auch wenn der eigentliche Sinn von So-Tun-AlsOb-Spielen pervertiert wird: Sie begibt sich nicht imaginativ in die fiktive Welt,
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sondern versucht, die Fiktion wirklich werden zu lassen. Die realisierende Identifikation widerspricht zwar dem eigengesetzlichen Charakter der Fiktion und ist somit derselben ästhetisch potentiell unangemessen, nichtsdestotrotz handelt es sich um eine fiktionale Handlung als make-believe. Und Prozesse des makebelieve sind grundlegend Prozesse des Spielens. Dem Vorwurf des QuestionBegging unterzöge sich somit vielmehr derjenige, der zu zeigen versuchte, dass fiktionale Spielhandlungen sui generis amoralisch seien, weil die einzige Form des make-believe, die unmoralisch sei, nicht fiktional bzw. kein Spiel sei – die Trennung von ‚make-believe‘ und ‚fiktional‘ oder ‚Spiel‘ ist allerdings schon analytisch problematisch. Insgesamt ergibt sich mit der Kantischen Analyse: Computerspielhandlungen sind genau dann unmoralisch, wenn sie dem kategorischen Imperativ widersprechen. Darunter fallen nicht nur virtuelle Handlungen, bei denen mögliche Pflichtverletzungen offenkundig sind, sondern auch manche Quasi-Handlungen. Im Kontext der realisierenden Identifikation können Spieler Maximen bilden, die auf fiktive Geschehnisse zielen und trotzdem dem kategorischen Imperativ widersprechen, weil sie erstpersonal als wirkliche Maximen verstanden werden. Das zeigt, dass fiktionale Handlungen intrinsisch unmoralisch sein können; dass Mark also auch dann beim Misshandeln der Frauenrechtlerin etwas falsch machen kann, wenn er eigentlich ein ‚guter Mensch‘ ist, nicht beim Spielen verroht oder seinen Charakter verdirbt, keinen Amoklauf plant, keine Freude an der Darstellung empfindet, kurz: nichts konsequentialistisch ‚Schlimmes‘ passiert, sondern er schlicht die Handlung mit einer spezifischen Maxime ausführt und sich mit ihr realisierend identifiziert. Quasi-Unmoralische Quasi-Handlungen sind zwar nicht per se unmoralisch, aber ihre erstpersonale Interpretation kann sie dazu machen. Damit ist der Amoralist auch in seiner stärksten Variante widerlegt: Bestimmte Quasi-Handlungen sind moralisch verboten und ipso facto intrinsisch unmoralisch.
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Abschließende Bemerkungen
Computerspielhandlungen können unmoralisch sein, aber die allermeisten Fälle alltäglichen Spielens sind es nicht. Man könnte es auch umgekehrt aufziehen: Computerspielhandlungen sind prima facie amoralisch, können aber auch unmoralisch sein. Auf dieses Ergebnis kommen alle drei diskutierten Ethiken auf unterschiedlichem Wege. Schädliche Konsequenzen des Computerspielens sind mit dem Utilitarismus möglich, aber eher selten. Mit Aristoteles wurde deutlich, dass sich Spieler in speziellen Fällen mit wirklichen Handlungssituationen konfrontiert sehen (vermehrt in Multiplayer-Modi), in denen lasterhafte (oder tugendhafte) Charakterzüge habitualisiert werden können. Mit Kant wurde schließlich gezeigt, dass nicht nur virtuelle Handlungen dem kategorischen Imperativ widersprechen können, sondern auch Quasi-Handlungen, allerdings nur dann, wenn diese erstpersonal als gewöhnliche Ausübung einer verwerflichen Maxime verstanden werden. Zusammengenommen ergibt sich damit das folgende Bild (Tab. 4.1): Tab. 4.1 Die Moralität von Computerspielhandlungen Virtuelle Handlung Fiktionale Handlung Unmoralisch, wenn (tendenziell) Unmoralisch, wenn (tendenziell) Utilitarismus schädliche Folgen. schädliche Folgen. Unmoralisch, wenn Amoralisch wegen fehlender (wirklicher) Aristoteles‘ Habitualisierung von Handlungssituation.a Tugendethik Lastern. Unmoralisch, wenn Wille dem Fiktion akzeptierend: Amoralisch wegen Kants kategorischen Imperativ irreduzibler Amoralität des Pflichtenethik widerspricht. Fiktiven. Fiktion transformierend: Unmoralisch, wenn Wille dem kategorischen Imperativ widerspricht. aEs steht zur Diskussion, ob dem Spielen gemäß einer realisierenden Identifikation nicht nur bei Kant, sondern auch bei Aristoteles ethische Relevanz eignet. Dagegen spricht, dass prima facie jeglichem Quasi-Handeln ein entsprechender wirklicher Handlungskontext fehlt. Nichtsdestotrotz ist dies durchaus eine tiefergehende Überlegung wert.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE , ein Teil von Springer Nature 2020 S. Ulbricht, Ethik des Computerspielens, Techno:Phil – Aktuelle Herausforderungen der Technikphilosophie 4, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62397-8_4
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4 Abschließende Bemerkungen
Die Tabelle ist eine dreifache Antwort auf die Frage, wann Computerspielhandlungen unmoralisch sind. Es ließe sich ebenso fragen: Wann sind Computerspielhandlungen moralisch besonders achtungswert? Die Tabelle wäre analog strukturiert, denn sobald eine Handlung unmoralisch sein kann, kann sie auch moralisch wertvoll sein (und sobald sie intrinsisch amoralisch ist, kann sie nichts von beidem sein): Sie kann (tendenziell) nützliche Folgen für das Wohlergehen insgesamt haben (Utilitarismus), Tugenden habitualisieren (Aristoteles) oder aus Pflicht ausgeführt werden (Kant). Der Fokus auf die verwerfliche Variante ist dadurch begründet, dass diese vorrangig in der Computerspielethik behandelt und vom ludischen Amoralisten primär in Frage gestellt wird. Obwohl der Amoralist letztlich in seiner stärksten Variante widerlegt (zumindest massiv geschwächt)1 wurde, weil Computerspielhandlungen mit Kant intrinsisch unmoralisch sein können, gilt es in einer angemessenen Ethik des Computerspielens der Grundintuition, für die er steht, Rechnung zu tragen. Ich habe gezeigt, dass der Amoralist nicht ganz Unrecht hat, wenn er darauf beharrt, dass Computerspielhandlungen wegen ihres fiktiven Gehalts keinerlei moralische Relevanz eignet, denn: das Fiktive ist irreduzibel amoralisch. Allerdings bleibt es den Spielern freigestellt, wie sie mit Fiktionen umgehen und ihre Handlungen beschreiben. Spielen sie so, dass schädliche Konsequenzen entstehen, handeln sie utilitaristisch unmoralisch. Spielen sie so, dass sie im Rahmen wirklicher Handlungssituationen Übermaß oder Mangel wählen, so agieren sie tugendethisch verwerflich. Und verstehen sie ihr Spielen als gewöhnliches Handeln – entweder, weil sie virtuell agieren, oder, weil sie ihren Willen im Rahmen einer realisierenden Identifikation als wirklich begreifen – dann kann ihre Maxime dem kategorischen Imperativ widersprechen. Neben diesen belastenden Befunden zeigt die obige Tabelle als Brennglas der vorliegenden Untersuchung aber auch, inwiefern unmoralische Quasi-Handlungen trotz allem nicht ganz so verwerflich sind wie ihre Konterparts in der Wirklichkeit. So ist das Quasi-Misshandeln einer Frauenrechtlerin in Red Dead Redemption 2 mit einer realisierenden Identifikation zwar kantisch verboten, scheint aber nicht annäherungsweise so übel wie das wirkliche Misshandeln einer Frauenrechtlerin zu sein. Mit Kant allein lässt sich dieser moralische Unterschied nicht erklären, denn aus deontischer Perspektive gleichen sich die Maximen (dies ist ja gerade der Grund dafür, weshalb die Quasi-Handlung hier
1Wie
bereits angedeutet, bliebe dem Amoralisten noch das Schlupfloch darauf zu insistieren, dass virtuelle Handlungen und Quasi-Handlungen gemäß der realisierenden Identifikation keine Handlungen des Spielens seien. Mit einem sehr engen Begriff von ‚Spiel‘ könnte er konstatieren, dass Computerspielhandlungen erst dann unmoralisch seien, wenn sie aufhörten, Spiel zu sein. Unmoralisches Verhalten sei ein dem Spiel unangemessenes, exotisches, widernatürliches Verhalten; es sei Ernst, kein Spiel. Mit Blick auf typisches, mitunter sehr ernsthaftes Spielen im Alltag (man blicke in den Sport oder andere kulturelle Rituale, vgl. Huizinga 2015), die ‚Gamification‘ von Gesellschaft (vgl. Raczkowski/Schrape 2018) und Politik (vgl. Loh 2018, 159–168) und die hier dargelegten Ausführungen zur Tätigkeit des Computerspielens liegt die Beweislast allerdings bei ihm: Er müsste zeigen, dass all diese ‚ernsthaften‘ Tätigkeitsfelder nichts mit ‚Spielen‘ gemein haben und unberechtigterweise als solche bezeichnet werden.
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unmoralisch ist). Aber mithilfe einer evaluativen Perspektive, dem Utilitarismus etwa, ist schnell ersichtlich, weshalb hier differenziert werden muss. Die relevanten Konsequenzen einer fiktionalen Misshandlung sind von einer wirklichen schließlich grundlegend verschieden. Während Letztere offensichtlich großes Leid erzeugt, ist dieses im Rahmen einer fiktionalen Praxis aufgehoben, zumindest ungleich geringer. Während also beide Handlungsweisen aus kantischer Perspektive moralisch verboten sind, zeigt uns die utilitaristische Perspektive, weswegen ihnen nicht dasselbe (un-)moralische Gewicht anhaftet. Ein wirkliches Misshandeln ist (natürlich) viel verwerflicher als ein Quasi-Misshandeln, weil es viel mehr Schaden anrichtet. Trotzdem sollte man beides nicht tun. Die kantischen und utilitaristischen Erwägungen schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich: Sie beleuchten das Phänomen in all seinen moralischen Facetten.2 Damit ist die Grundlegung einer Ethik des Computerspielens an ihr Ende gelangt. Sie verdient ihre Bezeichnung. Auf der einen Seite ist sie ‚nur‘ eine Grundlegung, weil es sich nicht um eine vollständige Ausarbeitung der Thematik handelt. Es fehlen nicht nur weitere Anwendungsfälle, um die begrifflichen Überlegungen konkret zu plausibilisieren, sondern der Komplexität der drei Ethiken konnte ich je nur skizzenhaft gerecht werden: Welche schädlichen Konsequenzen sind es genau, die beim Computerspielen drohen? Lassen sich spezifische Tendenzen der verschiedenen Spielweisen ermitteln? Welche Tugenden und Laster haben potentiell mehr Relevanz beim Spielen, welche weniger? Was kann die Kantische Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten und zwischen Widersprüchen im Denken und Widersprüchen im Wollen für eine Ethik des Computerspielens austragen? Welche Erkenntnisse lassen sich außerdem mit einem ethischen Kontraktualismus zutage fördern, der in dieser Untersuchung gar nicht zu Wort kam? Hinzu kommt, dass die ästhetische Dimension des Computerspielens nicht hinreichend vertieft wurde, die aber zentral ist, um Computerspielhandlungen normativ endgültig einordnen zu können. Und auch die Rolle der Moralität von Computerspielen als Gegenständen wurde außen vor gelassen, die potentiell auch für Computerspielhandlungen relevant sein kann. Auf der anderen Seite sind die Überlegungen der vorliegenden Untersuchung (zumindest dem Anspruch nach) aber auch essentiell grundlegend: Die ausführliche handlungstheoretische Analyse legt das Fundament dafür, überhaupt moraltheoretische Untersuchungen am Computerspielen anstellen zu können. Ohne eine Unterscheidung zwischen virtuellen, fiktionalen und fiktiven Handlungen ist eine ethisch differenzierte Einordnung des Phänomens nicht möglich.3 In besonderer
2Ich
danke Tim Henning für den Hinweis, der zu dieser präzisierenden Erläuterung führte. vermag die handlungstheoretische Analyse schon für sich genommen einige Problematiken der modernen Computerspielethik zu lösen, etwa das bereits erwähnte und vieldiskutierte Gamer’s Dilemma (vgl. Luck 2009). Luck und Nathan Ellerby erläutern es wie folgt: „The gamer’s dilemma highlights a discrepancy in our moral judgements about the permissibility of performing certain actions in computer games. Many gamers have the intuition that virtual murder is permissible in computer games, whereas virtual paedophilia is
3Entsprechend
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4 Abschließende Bemerkungen
Weise gilt dies für die Kantische Analyse, die sich dezidiert auf Handlungen und ihre Gründe beruft. In der zweiten Hälfte der Untersuchung wurden grundsätzliche Implikationen der Handlungsanalyse für den moralischen Status von Computerspielhandlungen erarbeitet, was je nach Ethik unterschiedliche Ergebnisse hervorbrachte, die einerseits der bisherigen Forschung Einiges hinzuzufügen hatten und andererseits Eigenheiten der klassischen Theorien in einem neuen Licht erstrahlen ließen. Diesbezüglich lässt sich resümieren: Die Ethiken haben allesamt der Anwendung auf ein modernes Phänomen erstaunlich gut standgehalten und je ihren Teil dazu beigetragen, den moralischen Status von Computerspielhandlungen zu ergründen. Mit diesem Befund schließe ich mein Projekt der Grundlegung einer Ethik des Computerspielens, doch die moralische, ästhetische, handlungs- und fiktionstheoretische Einordnung des Phänomens ist damit noch lange nicht abgeschlossen. Die dargelegten Überlegungen bilden kein abgeschlossenes Gedankengebilde, sondern eine Etappe auf dem Weg zu weitergehenden, fundierten und erkenntnisbringenden Untersuchungen des Computerspielens.
not. Yet finding a relevant moral distinction to ground such intuitions can be difficult“ (Luck/ Ellerby 2013, 229). Aus meiner Untersuchung ergibt sich, dass Lucks Dilemma keines ist. Es gibt sowohl unmoralische Weisen des Spiel-Tötens als auch amoralische Weisen der SpielPädophilie, wodurch die Hörner des Dilemmas ihre Spitzen verlieren. Ein Töten im Computerspiel kann im Falle virtuellen Handelns (oder bei einer realisierenden Identifikation) unmoralisch sein. Und pädophile Akte im Computerspiel können (etwa, wenn sie zu Recherchezwecken oder mit einer distanzierten Identifikation ausgeführt werden) einen amoralischen Status haben – wobei dieser Fall intuitiv besonders prekär ist (mit einer anderen Argumentationslinie kommt Rami Ali auf eine ähnliche Schlussfolgerung, vgl. Ali 2015). Christopher Bartel vermutet, dies liege an der Nähe von Spiel-Pädophilie zu Kinderpornographie (vgl. Bartel 2012). Luck und Ellerby bezweifeln dies (vgl. Luck/Ellerby 2013). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist die in Frage stehende starke moralische Intuition gegebenenfalls dadurch erklärbar, dass wir typischerweise davon ausgehen, dass jemand, der exotischerweise pädophile Akte im Spiel begeht, sich (anders als bei den omnipräsenten Spiel-Tötungsakten) eine echte (verwerfliche) Befriedigung von entsprechenden Darstellungen erhoffen müsse. Bei dieser Weise des Spielens handelte es sich um virtuelles Handeln, das somit durchaus unmoralisch sein kann und dies in vielen Fällen auch ist (allerdings vielleicht nicht notwendigerweise: Was ist etwa mit einem an Pädophilie leidenden Erwachsenen, der ein entsprechendes Spiel spielt – von dem er weiß, dass keine wirklichen Kinder zu Schaden kommen – um sich in der Wirklichkeit von seinem Verlangen zu befreien? Eine ähnliche Option wird auch von Luck angedacht, vgl. Luck 2009, 33). Im Gegensatz zu Pädophilie und Vergewaltigung ist das Töten im Computerspiel kulturell so breit etabliert, dass viele Spieler (mich eingeschlossen) ihre Spielhandlungen oft nicht mal mehr als fiktionales Töten wahrnehmen (ich sage nicht, dass dies eine wünschenswerte Entwicklung ist). Die genauen Ursachen verschiedenartiger moralischer Intuitionen zu ergründen ist allerdings primär Aufgabe einer deskriptiven Ethik und nicht der vorliegenden Untersuchung als normatives Projekt.
Glossar America’s Army: Proving Grounds. United States Army, 2013. Als das offizielle Spiel der U.S.-Army beworben, erfüllt das Spiel einen konkreten Zweck neben der Unterhaltung: Es soll neue Rekruten für das Militär anwerben (entsprechend ist es kostenlos erhältlich). Abgesehen von dieser reichlich perfiden ‚Gamifizierung‘ des Militärs (genauer: Militarisierung des Computerspiels) handelt es sich um einen klassischen taktischen MultiplayerShooter, in dem gemeinsam mit anderen Spielern ein gegnerisches Team in unterschiedlichsten Varianten überwältigt werden soll. Amnesia: The Dark Descent. Frictional Games, 2010. In dem Horrorspiel erkundet der Spieler in der Rolle des Protagonisten Daniel ein großes dunkles Gemäuer und versucht, dessen Geheimnissen und der eigenen Identität auf die Spur zu kommen. Es werden dabei keine Kämpfe ausgetragen, denn dem Spieler stehen keine Angriffsmöglichkeiten zur Verfügung. Unliebsame Begegnungen beim Erkunden des Schlosses enden somit stets in Flucht und Versteckspiel, wobei darauf zu achten ist, dass Daniel bei all dem Schrecken nicht den Verstand verliert. BioShock. 2K Boston, 2007. Der Shooter gilt schon heute als Klassiker moderner Computerspiele. Als einziger Überlebender eines Flugzeugabsturzes erkundet man im Jahr 1960 die Unterwasserstadt „Rapture“, deren Bewohner aufgrund einer genetisch mutierenden Droge wahnsinnig geworden sind. Neben den ästhetischen Qualitäten des Spiels sticht vor allem sein reflektierter Umgang mit dem eigenen Medium hervor, wodurch Bioshock zu einem zentralen Dreh- und Angelpunkt zahlreicher Veröffentlichungen der jüngeren Computerspielforschung wurde; insbesondere dann, wenn es um Computerspiele als Kunstgegenstände geht (vgl. Tavinor 2009; Feige 2015, 175–179). Civilization VI. Firaxis, 2016. Ein in Runden ablaufendes Strategiespiel, in dem ein eigener Staat von der Steinzeit bis in ferne Zukunftsszenarien in Konkurrenz zu anderen Regierungen zu errichten und aufrechtzuerhalten ist. Dazu stehen dem Spieler ein komplexes System wirtschaftlicher und politischer Entscheidungs- und Investitionsmöglichkeiten zur Verfügung, die von der Gründung eigener Städte und ihrem ökonomischen wie kulturellen Ausbau über Handelsverträge mit anderen Staaten bis hin zu globalen Kriegserklärungen reichen.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Ulbricht, Ethik des Computerspielens, Techno:Phil – Aktuelle Herausforderungen der Technikphilosophie 4, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62397-8
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Custer’s Revenge. Mystique, 1982. In Forschung und Presse berüchtigtes Computerspiel, in dem es darum geht, in der Rolle eines amerikanischen Generals Pfeilschüssen auszuweichen, um eine Ureinwohnerin, die nackt an einen Pfahl gefesselt ist, zu vergewaltigen. Wegen seiner offensichtlichen Verwerflichkeit (trotz der überzogenen Präsentation in grober Pixelgrafik) wird es häufig im Kontext der Moralität von Computerspielen diskutiert (vgl. Patridge 2011; Ostritsch 2017). Detroit: Become Human. Quantic Dream, 2018. Die Computerspiele des Entwicklerstudios Quantic Dream lassen sich im Grunde als ‚spielbare Filme‘ bezeichnen, da sie durch eine eng geführte Narration mit Fokus auf Figurenentwicklung und moralische Entscheidungen ausgezeichnet sind. So auch das jüngste Werk Detroit: Become Human. Hier erlebt die Spielerin im Detroit der nahen Zukunft die Schicksale dreier Androiden, die auf unterschiedliche Weise eine Unterdrückung durch Menschen erfahren. Die aufwendig inszenierte Geschichte handelt mittels brisanter moralischer Konflikte das Verhältnis von Mensch und Maschine aus. Die Siedler von Catan. Klaus Teuber, 1995. Ein klassisches, analoges Brettspiel (von dem es auch digitale Varianten gibt), bei dem es grundsätzlich das Ziel ist, ein eigenes Imperium von Siedlungen und Städten mithilfe verschiedener Rohstoffe und in Konkurrenz zu anderen Spielern zu errichten. Fifa 19. EA Canada, 2018. Jährlich neu erscheinende Fußballsimulation mit zahlreichen Möglichkeiten der digitalen Ausübung des Ballsports: Ob allein gegen computergesteuerte Gegner, im Turnier, im Kontext einer Erzählung oder gegen andere Spieler (online oder lokal) – in jeder Form lässt sich mit einer eigenen oder weltbekannten Mannschaft der Pixelball ins Tor führen. Fortnite. Epic Games, 2017. Ein aktuell besonders bei der jüngeren Generation sehr beliebter Shooter, bei dem es hauptsächlich gilt, als letzter Überlebender in einem immer enger werdenden Areal gegen andere Spielerinnen zu bestehen. Grand Theft Auto V. Rockstar North, 2013. Als eines der erfolgreichsten Spiele aller Zeiten dreht sich Grand Theft Auto V darum, in einer satirisch überzogenen Variante von Los Angeles („Los Santos“) die kriminelle Karriere dreier Spielfiguren voranzutreiben. Neben dem Erleben der Geschichte der drei Protagnisten bietet das Spiel eine riesige, frei begehbare und mit zahlreichen Aktivitätsmöglichkeiten bespickte offene Welt, in der die Handlungsmöglichkeiten des Spielers kaum begrenzt zu sein scheinen: von Darts spielen, Mountainbiking und Flugstunden absolvieren über Taxi fahren und Immobilien kaufen bis hin zu Ladenüberfällen und Amokläufen ist hier alles möglich. Auch online, in Kooperation mit oder in Konkurrenz zu anderen Spielerinnen.
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Halo 3. Bungie Studios, 2007. Der dritte Teil einer Shooter-Reihe mit narrativem Schwerpunkt, die sich primär um den Kampf gegen feindliche Außerirdische in ferner Zukunft dreht. Im Multiplayer-Modus lassen sich Gefechte gegen andere Spieler austragen oder gemeinsam mit ihnen eine Kampagne erspielen. Killer7. Grasshopper Manufacture, 2005. Ein stilistisch, spielmechanisch wie narrativ überzogenes Computerspiel, das einen Auftragsmörder mit multipler Persönlichkeitsstörung in seiner Mission begleitet, eine terroristische Organisation zu Fall zu bringen. Mit jedem Wechsel der Persönlichkeit des Protagonisten geht ein Wechsel der Spielmechanik einher. Manhunt. Rockstar North, 2003. Ein wegen seiner exzessiven Gewaltdarstellung vieldiskutiertes und in einigen Staaten verbotenes Computerspiel, in dem der Spieler als verurteilter Schwerverbrecher im Grunde möglichst ausgefallene Hinrichtungen auszuüben hat. Eine satirische Lesart wird teilweise nahegelegt. Mario Kart 8. Nintendo EAD, 2014. Ein moderner Ableger der erfolgreichen Rennspiel-Reihe von Nintendo, in dem wahlweise mit Go-Karts oder Motorrädern Rennen gegen computergesteuerte oder menschliche Gegner ausgetragen werden. Markenzeichen der Reihe sind ausgefallene Streckenverläufe und der Einsatz diverser Hilfsmittel (wie fliegende Schildkrötenpanzer oder Bananen), um gegnerische Rennfahrerinnen zu behindern. Metal Gear Solid. Konami Computer Entertainment Japan, 1998. Ein Klassiker der Computerspielgeschichte, der das Genre der Stealth-Spiele begründet hat, in denen Heimlichkeit und unbemerktes Ausschalten im Fokus stehen. Das Spiel erzählt eine komplexe Geschichte rund um den Soldaten Solid Snake und die Zerstörung einer Massenvernichtungswaffe. Diskutiert wird das Spiel insbesondere wegen seiner spielmechanischen Innovationen, die teilweise die vierte Wand zum Spieler durchbrechen. Monopoly. Elizabeth Magie, 1933. Ein klassisches Brettspiel (auch durch digitale Versionen vertreten), bei dem man im Wettkampf mit anderen Spielern um den Besitz der meisten Straßen und Immobilien feilscht. RapeLay. Illusion Soft, 2006. In diesem berüchtigten und weltweit als verwerflich deklarierten Computerspiel ist es das Ziel, im erzählerischen Kontext eines Racheakts verschiedene Frauen an unterschiedlichen Orten zu vergewaltigen.
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Red Dead Redemption 2. Rockstar Studios, 2018. Es handelt sich bei Red Dead Redemption 2 im Grunde um einen spielbaren Western, der eine riesige offene Welt im historischen Amerika um 1900 bietet, die mit zahlreichen Aktivitätsmöglichkeiten gesäumt ist, zur freien Erkundung einlädt und die klassische Geschichte einer Läuterung des Ganoven Arthur Morgan erzählt. Außerdem gibt es einen Online-Modus, in dem sich mit anderen Spielern (oder gegen andere Spieler) diverse Aufträge erledigen lassen. Solitär. Wes Cherry, 1990. Ziel dieses populären digitalen Kartenspiels ist es, durch geschicktes Anordnen zufällig gezogener Spielkarten vier gleichmäßige Reihen vom Ass bis zum König zu legen. Tekken 7. Namco, 2017. In dieser Kampfspielreihe geht es einzig und allein um das Besiegen des Gegenübers im Kampf eins gegen eins. Der Gegner kann computer- oder menschengesteuert sein. Ein gelungener Angriff zeichnet sich durch präzises Drücken einer Folge häufig sehr komplexer Tastenkombinationen aus. Tetris. Alexei Paschitnow, 1984. Eines der bekanntesten und ersten digitalen Geschicklichkeitsspiele, dessen Ziel es ist, herunterfallende Blöcke verschiedener Formen derart anzuordnen, dass keine Lücken entstehen. Sobald eine vollständige Reihe lückenlos gebildet wurde, verschwindet diese und die Punktzahl steigt. The Witcher 3: Wild Hunt. CD Projekt RED, 2015. Von internationalen Kritiken hochgelobtes Action-Rollenspiel, das in einer mittelalterlichen Welt spielt, die von allerlei Fabelwesen bevölkert ist. Der Fokus liegt auf der Erzählung rund um den Monsterjäger Geralt von Riva, in dessen Rolle man die riesige Spielwelt auf der Suche nach seiner Ziehtochter erkundet und mit zahlreichen, teils komplexen moralischen Entscheidungssituationen konfrontiert wird.
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Abbildungen und Tabellen Abb. 2.1 Drei Arten von Computerspielhandlungen, Abschn. 2.2.3 Abb. 3.1 Drei Arten der mentalen Identifikation mit Fiktionen, Abschn. 3.2.1. Tab. 2.1 Handlungstheorie des Computerspielens, Abschn. 2.3. Tab. 4.1 Die Moralität von Computerspielhandlungen, Kap. 4. Alle verwendeten Abbildungen und Tabellen wurden vom Autor erstellt.