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German Pages XVIII, 491 [497] Year 2021
Uta Breuer Dieter D. Genske Hrsg.
Ethik in den Ingenieurwissenschaften Eine Annäherung
Ethik in den Ingenieurwissenschaften
Uta Breuer · Dieter D. Genske Hrsg.
Ethik in den Ingenieur wissenschaften Eine Annäherung
Hrsg. Uta Breuer FB Ingenieurwissenschaften Hochschule Nordhausen Nordhausen, Thüringen, Deutschland
Dieter D. Genske FB Ingenieurwissenschaften Hochschule Nordhausen Nordhausen, Thüringen, Deutschland
ISBN 978-3-658-29475-5 ISBN 978-3-658-29476-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: Brückenbauwerk in China (Foto: Dieter D. Genske) Planung/Lektorat: Frieder Kumm Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Geleitwort
Liebe Leserinnen und Leser, Grundlage jeder Ingenieurwissenschaft ist das naturwissenschaftliche Verständnis unserer Welt, das die Entwicklung neuer Technologien erst möglich macht. Deswegen müssen Ingenieurinnen und Ingenieure zunächst naturwissenschaftliche und technische Exzellenz beweisen und werden entsprechend ausgebildet. Allerdings liegt so auch der Gedanke gefährlich nah, dass sich die Objektivität der Natur- auf die Ingenieurwissenschaften übertragen ließe. Das ist verführerisch, aber es ist ein Irrtum. Keiner kennt die technologische Basis unserer Gesellschaft so gut wie ihre Ingenieurinnen und Ingenieure. Aber diese Technik ist nicht objektiv. Sie ist immer Mittel zu einem Zweck, der sich ändern kann. Deshalb ist unsere Gesellschaft darauf angewiesen, dass sich die Entwickler ihrer technischen Grundlagen klar darüber sind, welche Möglichkeiten ihre Tätigkeit bietet, welche Folgen sie haben kann. Wichtig ist, sich der Prinzipien bewusst zu sein, die ihr Handeln und ihre Entwicklungen leiten sollten. Unverzichtbar ist ein Bewusstsein V
VI Geleitwort
davon, was es zu unterstützen und was es zu vermeiden gilt. Dieses Bewusstsein muss mit in jeder Generation neu ausgebildet werden. In diesem Sinne sind Ingenieurwissenschaften tätige Gesellschaftswissenschaften. Die Beiträge dieses Buchs zeugen davon, in welcher Breite die Ingenieurwissenschaften unsere Gesellschaft tragen und in welchem Umfang sie sich den Herausforderungen unserer Zeit stellen müssen. Deshalb sind sie nicht nur für angehende Ingenieurinnen und Ingenieure relevant. Ich wünsche diesem Buch also eine große Leserschaft, weit über den Kreis der Fachleute hinaus. Und ich danke den Initiatoren von der Hochschule Nordhausen, den Autorinnen und Autoren, deren Initiative und deren Beiträge dieses Buch möglich und lesenswert gemacht haben. Ihr Wolfgang Tiefensee Thüringer Minister für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft
Vorwort
Sollten Ingenieurinnen und Ingenieure sich zu ethischen Fragen äußern? Können sie das überhaupt? Oder müssen sie es vielleicht sogar? Diese Frage war für uns am Fachbereich Ingenieurwissenschaften der Hochschule Nordhausen eher neu, zumindest ungewohnt, und motivierte uns dazu, sie einmal im Rahmen einer Ringvorlesung öffentlich zur Diskussion zu stellen. Nun suchen Ingenieure – wie alle Wissenschaftler – immer nach Antworten auf neue Fragen. Und ihre Antworten sind nur dann wirklich interessant, wenn sich daraus neue Fragen ergeben. Aber Ethik? Ist das nicht eher etwas für Sozialwissenschaftler, für Kulturwissenschaftler, für Philosophen? Die Prinzipien, die Immanuel Kant schon in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) formulierte, die Sprache, die er dafür gebrauchte, das historisch-philosophische Wissen, das er voraussetzte, die Konsequenzen, die er aufzeigte, stellen uns Naturund Technikwissenschaftler, die wir im wesentlichen mit Messungen, Statistiken, Gleichungen und Formelwerken arbeiten, vor besondere Herausforderungen. Wir Ingenieure sind darin geübt, zu beobachten, zu messen, zu analysieren, zu optimieren; und wir vermitteln solche Methoden und Denkweisen jungen Menschen, die damit technische VII
VIII Vorwort
Probleme lösen sollen und so im Glücksfalle der Gesellschaft dienen können. Sollen wir das wegen ein paar aus dem 18. Jahrhundert überlieferten Überlegungen eines Königsberger Philosophen nun etwa infrage stellen? Natürlich nicht, aber gleich der erste Beitrag zu unserer Ringvorlesung machte allen Hörern auf beklemmende Weise klar, wie wichtig es ist, sich auch als Ingenieur ethischen Fragen zu stellen. Rebekka Schubert erinnerte daran, wie deutsche Ingenieure seltsam besinnungslos die Konstruktion hocheffizienter Krematorien für die Vernichtungslager des Nazi-Regimes zu optimieren wussten. Für die auf Öfen und Heizungsanlagen spezialisierte Firma Topf & Söhne war die Sparte Krematorien nicht einmal lukrativ, die von ihr beauftragten Techniker waren auch keine überzeugten Nationalsozialisten, die Firma hatte keine direkte Anweisung ‚von oben‘, es gab keine ‚Befehlslage‘, mit der sich später so viele aus ihrer Verantwortung zu stehlen suchten. Es war allein die technische Herausforderung, ein gegebenes ‚Problem‘ – die Erhöhung der Opferzahl pro Zeiteinheit – mit deutscher Ingenieurkunst zu lösen, die ihnen genügte, den Auftrag zu ‚erledigen‘ und das ‚Problem zu lösen‘. Auf dem Auditorium lastete nach diesem Beitrag betroffenes Schweigen. Allen wurde die Tragweite des Themas, seine Dimensionen, Implikationen, Konsequenzen, auch ohne weitere Worte schlagartig klar. Im Unterschied zum facheinschlägigen Diskurs innerhalb der akademischen Philosophie sind die Autorinnen und Autoren der Beiträge zu diesem Band über „Ethik in den Ingenieurwissenschaften“ keine ausgewiesenen Moralphilosophen. Vielmehr stehen sie mitten in ihren jeweiligen hochspezialisierten Fachgebieten und sehen sich möglicherweise von Fragen, die eine ethisch grundsätzlichere Betrachtung erfordern, eher in der Routine ihrer Arbeit unterbrochen, vielleicht gar unnötig behindert. Andererseits sind genau sie es, die die Konsequenzen solcher Grundsatzfragen besser bis ins technische Detail überblicken, als es die meisten Schulphilosophen je vermöchten. Denn sie sehen genau, was in ihrem Fache alles möglich ist, eben weil es ‚machbar‘ ist. Aus
Vorwort IX
dieser Perspektive heraus die Frage nach der Ethik in den Ingenieurwissenschaften zu stellen macht dieses Buch besonders. Es gliedert sich in drei Teile: Der erste Teil wirft einen Blick zurück und beschwört die (auch) aus der historischen Verantwortlichkeit des Einzelnen erwachsene Pflicht zur Reflexion der Maximen des eigenen Handelns; ein kurzes Zwischenstück dient, zum zweiten, der intuitiven und theoriegeleiteten Standortbestimmung, einerseits aus der Perspektive der Studierenden, andererseits aus der Sicht eines Fachvertreters, der einen kurzen Überblick gibt über den aktuellen Stand der Ethik-Codices in seinem Fach Ingenieurwissenschaften; der dritte Teil bietet dazu dann ein Fülle von Belegen und Fallbeispielen aus der ingenieurwissenschaftlichen Praxis, die illustrieren sollen, dass die Frage nach den (ethischen) Maßstäben technischen Problemlösungshandelns alles andere als trivial ist. So klar die Struktur und so übersichtlich der Aufbau dieses Buches sind, so speziell und individuell sind die einzelnen Beiträge aus unterschiedlichen Fach- und Wissenschaftskulturen, was sich bis in die unterschiedlichen Konventionen der Zitierweise spiegelt, die wir als Herausgeber deshalb bewusst nicht editorisch hinwegredigiert haben. In ihrem historischen Rückblick berichten zunächst Annegret Schüle, Rebekka Schubert und Regine Heubaum über ihre Forschungen zur Arbeit der Fa. Topf & Söhne und zu den Beständen der KZ- Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Daran schließen sich einige begriffshistorisch- und systematisch motivierte Überlegungen aus dem Abstand bewusst fachfremder Perspektive an, die das Plädoyer für eine Ethik der Ingenieur- und Technikwissenschaften diskurstheoretisch zu untermauern suchen und im Ausblick auch zur Lektüre von einigen Beispielen literarischer ‚Problematisierungen‘ technischer Verantwortung ermuntern wollen. Sodann haben wir Studierende gefragt, ob überhaupt und, wenn ja, wie sie ethische Überlegungen in ihrem jeweiligen Fachzusammenhang anstellen, ob und wie sie intuitiv so etwas wie eine Ethik für ihr Fachgebiet innerhalb der Ingenieurwissenschaften definieren oder skizzieren würden. Eine sich daran anschließende kritische Erläuterung und
X Vorwort
Kommentierung des gegenwärtigen Standes in der Entwicklung eines Ethik-Codex für Ingenieure verweist zugleich auf die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Debatte, zu der der hier vorgelegte Band einen Beitrag liefern will. Im dritten Teil schließlich werden Belege für die Relevanz ethischer Fragen aus verschiedenen ingenieurwissenschaftlichen Bereichen vorgestellt. Hierzu zählen die Biotechnologie (Uta Breuer), die Informatik und die künstliche Intelligenz (Frank-Michael Dittes, Jürgen Löffelholz, Hermann Rösch, Claudia Spindler), der Maschinenbau (Thomas Link), die Stadt- und Verkehrsplanung (Matthias Gather, Claudia Hille, Christoph Breuer), die Wasserversorgung (Dieter D. Genske, Ernest Hess-Lüttich), die Abfallentsorgung (Jürgen Poerschke) und die Endlagerung radioaktiver Abfallstoffe (Dieter D. Genske), die Klimaforschung mit ihren aktuellen Erkenntnissen zum Klimawandel (Konrad Ott) sowie schließlich Fragen zum ethischen Handeln in Zeiten globaler Krisen am Beispiel der CORONA-Pandemie (Ernest Hess-Lüttich, Uta Breuer und Dieter D. Genske). Diese Fachbeiträge machen die ethische Verantwortung deutlich, der sich alle ingenieurund naturwissenschaftlichen Disziplinen stellen müssen. Sie sollten stets ihre in unserem Grundgesetz garantierte Freiheit nutzen, um – wie Viktor Wesselak in seinem Epilog zu dieser Edition noch einmal hervorhebt – auf Fehlentwicklungen und Missstände hinzuweisen. Ein dergestalt trans- und interdisziplinäres Unterfangen wie die Versammlung so unterschiedlicher Ansätze und Darstellungen innerhalb eines Bandes ist – dessen sind wir uns als Herausgeber durchaus bewusst – nicht ohne Risiko. Aber aus der Pluralität der Perspektiven mag der Leser, die Leserin, so hoffen wir, ein hinlänglich komplexes Bild gewinnen von der Bedeutung ethischer Verantwortung und moralischer Positionierung des Einzelnen in Zeiten um sich greifender Wissenschaftsskepsis und ‚neuer Unübersichtlichkeiten‘ (Jürgen Habermas) in einer global vernetzten und ebenso fragilen wie gefährdeten Welt. Diese Edition wäre nicht zustande gekommen ohne die aktive Mitwirkung von Kolleginnen, Kollegen und Studierenden bei der Ausrichtung unserer Ringvorlesung zur „Ethik in den Ingenieurwissenschaften“ an der Hochschule Nordhausen. Das große Interesse an diesen Vorlesungen und die sich jeweils daran anschließenden
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engagierten Diskussionen motivierten uns schließlich zu dieser Edition. Unser Dank gebührt den Referent(inn)en, die ihre Vorlesung für dieses Buch in die Form eines Aufsatzes brachten, den Autor(inn)en, die zusätzliche Kapitel dafür schrieben, den Studierenden, deren kritische Diskussion und Beteiligung an unserer Befragung diesen Band ebenfalls bereichern, und nicht zuletzt der Hochschule Nordhausen, die dieses Editionsprojekt tatkräftig unterstützt hat, sowie dem Springer Verlag mit Frieder Kumm und seinem Team für die professionelle Produktion dieses Buches, dem wir nun viele kritisch engagierte Leser wünschen, die sich als Ingenieure, Techniker, Praktiker in ihrem beruflichen Handeln stets ihrer auch gesellschaftlichen Verantwortung stellen und ihrer ethischen Rechtfertigungspflicht bewusst sind. Uta Breuer Dieter D. Genske
Inhaltsverzeichnis
Teil I Historischer Rückblick 1
Menschheitsverbrechen und Berufsalltag. J. A. Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz 3 Annegret Schüle
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Raketenrüstung und KZ-Zwangsarbeit: Ingenieure und Wissenschaftler als Akteure im Betrieb des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora 33 Regine Heubaum
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Dürfen wir (immer, alles), was wir können? Für eine Diskursethik der Ingenieurwissenschaften 51 Ernest W. B. Hess-Lüttich
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XIV Inhaltsverzeichnis
Teil II Begriffe und Meinungen 4
Studierende definieren eine Ethik in den Ingenieurwissenschaften: Eine Umfrage 81 Uta Breuer, Dieter D. Genske und Marcel Kandler
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Ethik-Codices in den Ingenieurwissenschaften: Beispiele und Systematisierung 95 Dieter D. Genske
Teil III Fallbeispiele und Belege 6
Bioethik: Gaspedal oder Bremse einer nachhaltigen Entwicklung? 109 Uta Breuer
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Ethische Fragen der Informatikausbildung 133 Jürgen Löffelholz und Frank-Michael Dittes
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Nichts zu verbergen? Suchmaschinen und Soziale Netzwerke unter ethischen Gesichtspunkten 151 Hermann Rösch
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Die Ethik der Datenströme: Technische Entwicklung und resultierende soziale, pädagogische und gesellschaftliche Fragestellungen 191 Claudia Spindler
10 Der Dieselskandal 235 Thomas Link
Inhaltsverzeichnis XV
11 Grenzenlos mobil? Eine ethische Betrachtung unseres Verkehrs- und Mobilitätssystems 245 Matthias Gather und Claudia Hille 12 Gibt es eine ethische Stadtplanung? 269 Christoph Breuer 13 Tag Null am Kap der Guten Hoffnung. Eine Wasserkrise als technische Herausforderung und sozialethische Aufgabe 291 Dieter D. Genske und Ernest W. B. Hess-Lüttich 14 Ethik in der Abfallwirtschaft 321 Jürgen Poerschke 15 Eine Million Jahre Endlager: Zur Ethik technischer Ewigkeiten 345 Dieter D. Genske 16 Domänen der Klimaethik, ein neuer Blick – Domains of Climate Ethics Revisited 379 Konrad Ott 17 Ethik in Zeiten globaler Krisen: Die CORONAPandemie 419 Ernest W. B. Hess-Lüttich, Uta Breuer und Dieter D. Genske 18 Fazit 469 Uta Breuer und Dieter D. Genske 19 Epilog: Zur Ethik der Wissenschaftsfreiheit 475 Viktor Wesselak Stichwortverzeichnis 481
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeber Uta Breuer studierte Biochemie an der Universität in Leipzig und bekleidet nach Stationen am Umweltforschungszentrum Leipzig und einem kleinen biotechnischen Industrieunternehmen in SachsenAnhalt seit 2012 an der Hochschule Nordhausen die Professur für biologische und chemische Verfahrenstechnik. Ihre Interessengebiete liegen neben der molekularen Biotechnologie vor allem auf mikrobiologischen Aspekten der Bioverfahrenstechnik. Dieter D. Genske lehrt an der Hochschule Nordhausen Landschaftstechnologie und Flächenrecycling. Der Geo- und Ingenieurwissenschaftler leitet als Studiendekan den Bachelorbereich Geotechnik und den Masterbereich Energetisch-Ökologischer Stadtumbau. In diesem Rahmen bearbeitet er mit seinem Team nationale und internationale Forschungs- und Entwicklungsprojekte. Vor seinem Ruf an die Hochschule Nordhausen war er Professor an der TU Delft und der ETH Lausanne und davor Fachgutachter der Deutschen Montan Technologie Essen. Ein Humboldt-Stipendium führte ihn an die Universität von XVII
XVIII Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Kyoto (Japan). Er wurde zu Gastprofessuren an internationalen Hochschulen eingeladen und 2012 mit seinem Team mit dem Europäischen Solarpreis ausgezeichnet.
Autorenverzeichnis Christoph Breuer Leipzig, Deutschland Uta Breuer Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland Frank-Michael Dittes Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland Matthias Gather Fachhochschule Erfurt, Erfurt, Deutschland Dieter D. Genske Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland Ernest W. B. Hess-Lüttich Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland Regine Heubaum KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, Nordhausen, Deutschland Claudia Hille Fachhochschule Erfurt, Erfurt, Deutschland Marcel Kandler Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland Thomas Link Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland Jürgen Löffelholz Fachhochschule Erfurt, Erfurt, Deutschland Konrad Ott Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel, Deutschland Jürgen Poerschke Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland Hermann Rösch TH Köln, Köln, Deutschland Annegret Schüle Erinnerungsort Topf & Söhne, Erfurt, Deutschland Claudia Spindler Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland Viktor Wesselak Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland
Teil I Historischer Rückblick
1 Menschheitsverbrechen und Berufsalltag. J. A. Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz Annegret Schüle
Zusammenfassung Das historische Beispiel der Firma J.A. Topf & Söhne und einzelner Beteiligter im Unternehmen zeigt, wie eng berufliches Handeln mit dem nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen des Holocaust verbunden sein konnte. Dass die Firma sechs Konzentrationslager mit Verbrennungsöfen ausstattete und für das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau die Be- und Entlüftungstechnik für die unterirdischen Gaskammern zur Verfügung stellte, war keine Zwangsläufigkeit, sondern beruhte auf den Entscheidungen einzelner Beteiligter.
A. Schüle (*) Erinnerungsort Topf & Söhne, Erfurt, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_1
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Abstract The historical example of the J.A. Topf & Sons including the role of employees shows how closely working for a company could be linked to Nazi crimes against humanity in the Holocaust. The fact that the company equipped six concentration camps with incinerators and provided the ventilation technology for the underground gas chambers of the Auschwitz-Birkenau extermination camp was not inevitable, but was based on individual decisions of the employees. Schlüsselwörter Topf & Söhne · Technik für den Massenmord · Ethik Ingenieurwissenschaft und Technik · Auschwitz · Holocaust
1.1 Einleitung Das historische Beispiel des Erfurter Familienunternehmens J.A. Topf & Söhne zeigt exemplarisch, wie eng das berufliche Handeln in der privat geführten Maschinenfabrik von 1939 bis 1945 mit dem nationalsozia listischen Menschheitsverbrechen des Holocaust verbunden sein konnte und wie das Geschäft mit dem Massen- und Völkermord im Erfurter Unternehmen alltäglich präsent war: als geschäftlicher Auftrag und als technische Herausforderung. Die Firma startete als kleines, im Familienbesitz befindliches feuerungstechnisches Baugeschäft. Nach der Jahrhundertwende wuchs es zu einem weltweit führenden Unternehmen für Mälzerei- und Brauereianlagen an und wurde zu einem renommierten Anbieter für Krematoriumsöfen, auch wenn dieser Bereich nur einen kleinen Teil des Gesamtfirmenumsatzes ausmachte. Dass die Firma ab 1939 mit der SS zusammenarbeitete und sechs Konzentrationslager mit Verbrennungsöfen ausstattete und für das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau die Be- und Entlüftungstechnik für die unterirdischen Gaskammern zur Verfügung stellte, war keine Zwangsläufigkeit, sondern beruhte auf den Entscheidungen der Unternehmensleitung und weiterer Beteiligter. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Firmengeschichte bietet die Möglichkeit, Mittäterschaft und persönliche Handlungsspielräume am konkreten Beispiel nachzuvollziehen, sich selbst ein historisches
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Abb. 1.1 Erinnerungsort Topf & Söhne, 2011 (Sammlung Erinnerungsort Topf & Söhne; mit freundlicher Genehmigung von © Erinnerungsort Topf & Söhne. All Rights Reserved)
Urteil zu bilden und dieses mit der eigenen Lebensrealität in Beziehung zu setzen: sich selbst in seinem eigenen Handeln zu hinterfragen und über die Verantwortung des Einzelnen in seinem (beruflichen) Alltag heute zu reflektieren (siehe Abb. 1.1). Das ehemalige Verwaltungsgebäude, in dem sich die Arbeitsplätze der Geschäftsführer Ludwig und Ernst Wolfgang Topf und der Ingenieure Kurt Prüfer und Fritz Sander befanden, ist heute das wichtigste Exponat des Geschichtsmuseums. Es wurde mit dem weithin sichtbaren Zitat »Stets gern für Sie beschäftigt, …« aus einem Geschäftsbrief von J. A. Topf & Söhne an die SS-Bauleitung in Auschwitz vom 2. Februar 1943 gekennzeichnet. Eine Außenausstellung auf dem ehemaligen, zu großen Teilen neu bebauten Firmengelände trägt die Geschichte von Topf & Söhne in den städtischen Alltag. Am 27. Januar 2011 und damit 66 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz wurde auf dem ehemaligen Firmengelände der Erinnerungsort Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz als Geschichtsmuseum der
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Abb. 1.2 Besuchernotiz in der Dauerausstellung „Techniker der ‚Endlösung‘“ am Erinnerungsort Topf & Söhne (Sammlung Erinnerungsort Topf & Söhne; mit freundlicher Genehmigung von © Erinnerungsort Topf & Söhne. All Rights Reserved)
Landeshauptstadt Erfurt eröffnet.1 Er ist die einzige historische Stätte in der europäischen Erinnerungslandschaft, der an einem ehemaligen Firmensitz die Mittäterschaft der privaten Wirtschaft am Massenmord in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern belegt und vermittelt (siehe Abb. 1.2).
1.2 Topf & Söhne – ein deutsches Unternehmen Die Anfänge des Unternehmens gehen auf das Jahr 1878 zurück. Der bereits 62 Jahre alte Braumeister Johannes Andreas Topf hatte seine Anstellung verloren und eröffnete deshalb eine eigene Firma. Diese 1In Erfurt war die Bereitschaft, sich mit der Geschichte von Topf & Söhne auseinanderzusetzen, lange gering. Ehemalige Mitarbeiter des Erfurter Mälzerei- und Speicherbau wollten die Tradition ihres Unternehmens nicht in der Kritik sehen. Auch die Diskussion in der Stadtpolitik war lange von einer Haltung geprägt, die die Erinnerung an die Rolle von J. A. Topf & Söhne im Nationalsozialismus abwertete. Man fürchtete, das öffentliche Bild der Stadt Erfurt würde Schaden nehmen.
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Existenzgründung, die gegen den Rat der Söhne erfolgte, erklärte das Unternehmen später zur Geburtsstunde von J. A. Topf & Söhne. Kurz zuvor hatte Topf Verbesserungen bei der Braupfannenfeuerung entwickelt und auf eigenen Namen als Patente angemeldet. Diese wollte er nun verwerten, was ihm allerdings mehr schlecht als recht gelang. Erst mit dem Einstieg der Söhne, die 1885 die Firma neu als J. A. Topf & Söhne, Spezialgeschäft für Heizungsanlagen, Brauerei- und Mälzereieinrichtungen gründeten, stellte sich der Erfolg ein. Im Jahre 1889 erwarb das Erfurter Familienunternehmen sein erstes eigenes Firmengrundstück. Der neue Firmenstandort lag außerhalb des Stadtkerns und war wegen der Nähe zum Güterbahnhof verkehrstechnisch gut ausgewählt (siehe Abb. 1.3). Unter Ludwig Topf, Sohn des Firmengründers Johannes Andreas Topf, wurde das Unternehmen zu einem international erfolgreichen Produzenten von Heizungsanlagen, Brauerei- und Mälzereieinrichtungen. Mit einer Handvoll anderer Betriebe machte J. A. Topf & Söhne die Stadt Erfurt zu einem Zentrum der Metallindustrie. Das
Abb. 1.3 Luftbild des Firmengeländes von J. A. Topf & Söhne mit dem Firmen zeichen in einer Werbeanzeige von 1935. Im Vordergrund die langgestreckte Montagehalle, im Hintergrund die Eisenbahnanlagen (Sammlung Erinnerungs ort Topf & Söhne; mit freundlicher Genehmigung von © Erinnerungsort Topf & Söhne. All Rights Reserved)
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Unternehmen blieb bis zu seiner Enteignung in Familienhand. In der DDR wurde der volkseigene Betrieb 1957 in Erfurter Mälzereiund Speicherbau (EMS) umbenannt. 1993 wurde das Unternehmen privatisiert und 1996 kam mit dem Konkurs das Ende (siehe Abb. 1.4). Diese über hundertjährige Firmenbiografie ist typisch und keinesfalls außergewöhnlich. Doch sechs Jahre – jene zwischen 1939 und 1945, in denen die Brüder Ludwig und Ernst Wolfgang Topf aus der dritten Familiengeneration die Leitung innehatten – geben dieser Unternehmensgeschichte eine besondere Dimension. Denn in dieser Zeit stellte das Unternehmen die eigens entwickelten Produkte auch den Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau, Auschwitz, Groß-Rosen, Mogilew, Mauthausen und Gusen zur Verfügung. Die Leichenverbrennungsöfen der Firma halfen der SS dabei, eines der größten Probleme des Massenmordes, die Beseitigung der Leichname, zu lösen. Erst durch die Verbrennung in den Öfen von Topf & Söhne wurde es möglich, die unzähligen Toten so verschwinden zu lassen, dass die Spuren der Verbrechen fast völlig getilgt schienen. Mit den Be- und Entlüftungsanlagen von Topf & Söhne im größten nationalsozialistischen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurde es für die SS möglich, nach einem Massenmord mit Gas die Kammern rasch zu entlüften und sie so ohne Verzögerung für die nächste Mordaktion bereitzustellen. Weit über eine Million Menschen wurden in Auschwitz getötet. Zum ersten Mal in der Geschichte ließ die SS dort Menschen wie am Fließband ermorden und ihre Leichen verbrennen. Häftlinge nannten diese Großkrematorien „Todesfabriken“. Die Frage nach den Motiven der Beteiligten offenbart Irritierendes: So machte die Geschäftsbeziehung mit der SS nur knapp zwei Prozent des gesamten Firmenumsatzes jener Jahre aus. Sie war also weder wichtig für das Überleben der Firma noch wurde ein Zwang auf das Unternehmen ausgeübt, die Aufträge zu übernehmen. Der Hauptumsatz der Firma wurde weiterhin mit Mälzerei- und Brauereianlagen, Silos und industriellen Feuerungsanlagen erwirtschaftet. Auch waren die Firmeninhaber Ludwig und Ernst Wolfgang Topf nach den überlieferten Quellen weder fanatische Nationalsozialisten noch Antisemiten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutete nichts darauf hin, dass J. A. Topf & Söhne ein Jahrhundert später unwiderruflich mit der
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Abb. 1.4 Werbeplakat, 1920er Jahre (Signatur: 6–0/27A1/007; mit freundlicher Genehmigung von © Stadtarchiv Erfurt. All Rights Reserved)
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Erinnerung an das Menschheitsverbrechen der Schoah verbunden sein würde. Als das Unternehmen 1914 den Bau von Einäscherungsöfen für städtische Krematorien als kleine Unterabteilung in sein Produktionsprofil aufnahm, berücksichtigte man bei der Konstruktionsweise der Topf-Öfen die Pietätskriterien und gesetzlichen Vorgaben einer würdevollen Feuerbestattung in vorbildlicher Weise, was die Firma in der Weimarer Republik zum Marktführer in diesem Bereich aufsteigen ließ. Doch die Achtung der Individualität und Würde des Menschen auch nach seinem Tod spielten überhaupt keine Rolle mehr, als die SS 1939 bei Topf & Söhne Leichenverbrennungsöfen nachfragte, um schnell und mit geringem Brennstoffaufwand die Opfer des Massenmordes in den nationalsozialistischen Lagern zu beseitigen. Die Hauptakteure in der Firma, die an den Geschäften mit der SS beteiligt waren, waren Menschen, die ihrer Arbeit nachgegangen sind, die verheiratet waren und Familien hatten, Menschen, die sich in Vereinen engagierten, Menschen, die ehrgeizig waren und Herausforderungen im Beruf und Erfolg suchten und Anerkennung wollten. Im Folgenden wird exemplarisch auf vier Hauptakteure, die beiden Firmenchefs Ludwig und Ernst Wolfgang Topf sowie auf die beiden Ingenieure Fritz Sander und Kurt Prüfer eingegangen. Des Weiteren erfolgt eine kurze Darstellung des Buchhalters Willy Wiemokli und des Monteurs Heinrich Messing, die während des Nationalsozialismus als Opfer bzw. Gegner des Regimes galten.
1.3 Die Ingenieure Kurt Prüfer und Fritz Sander Dass die Firma Topf & Söhne, die ab 1914 städtische Krematorien mit Feuerbestattungsöfen ausstattete, in den zwanziger Jahren zum führenden deutschen Hersteller von Feuerbestattungsöfen aufsteigen konnte, lag zu einem entscheidenden Anteil an dem Ingenieur Kurt Prüfer (siehe Abb. 1.5). Er wurde 1891 als Sohn eines Lokomotivführers in Erfurt geboren und evangelisch getauft. Er war eines der jüngsten von 13 Kindern. Nach acht Jahren Schule schloss er die Maurerlehre mit „sehr gut“ ab und studierte Hochbau an der Königlichen Baugewerkeschule in Erfurt.
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Abb. 1.5 Kurt Prüfer (1891–1952), Anfang 1920er Jahre (Signatur: J. A. Topf & Söhne Nr. 252, Bl. 14v; mit freundlicher Genehmigung von © Landesarchiv Thüringen-Hauptstaatsarchiv Weimar. All Rights Reserved)
Anschließend wollte er unbedingt bei der bekannten Firma Topf & Söhne arbeiten und erreichte 1911 schließlich beim dritten Versuch seine Einstellung. Im Oktober 1912 verließ er die Firma, weil er seinen Militärdienst ableisten musste. Nach dem Krieg schloss er sein Studium 1920 ab. Als fertig ausgebildeter Ingenieur kehrte Kurt Prüfer kurz vor seinem 29. Geburtstag zur Firma Topf & Söhne zurück. Er wurde nun in der Abteilung D, dem Feuerungsbau, eingesetzt. Im Juni desselben Jahres heiratete er, die Ehe blieb kinderlos. Es war wohl auch seinem Aufstiegswillen geschuldet, dass er sich innerhalb des Feuerungsbaus, in dem vor allem industrielle Feuerungsanlagen hergestellt wurden, auf den zukunftsträchtigen Bereich der pietätvollen Krematoriumsöfen spezialisierte. 1927 bekam Kurt Prüfer einen neuen Vorgesetzten, Fritz Sander (siehe Abb. 1.6).
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Abb. 1.6 Fritz Sander (1876–1946), Anfang 1920er Jahre (Signatur: J. A. Topf & Söhne Nr. 252, Bl. 14r; mit freundlicher Genehmigung von © Landesarchiv Thüringen-Hauptstaatsarchiv Weimar. All Rights Reserved)
Fritz Sander war damals 50 Jahre alt, also 15 Jahre älter als Prüfer. Er war 1876 als Sohn eines Angestellten in Leipzig geboren worden. Seit 1910 arbeitete Fritz Sander bei Topf & Söhne. 1920 war er zum Oberingenieur ernannt worden, ein Titel, den die Firma vergab. 1928 wurde ihm Gesamtprokura verliehen. Fritz Sander arbeitete sich zum wichtigsten Mann im Feuerungsbau hoch und war dabei auch für den kleinen Bereich Ofenbau verantwortlich. Sander bekam alle Konstruktionspläne Prüfers zur Begutachtung. Zwischen den beiden scheint allerdings von Anfang an die Chemie nicht gestimmt zu haben.
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Topf & Söhne war zwar nicht der einzige Anbieter für Krematoriumsöfen in der Weimarer Republik, jedoch der erfolgreichste, was seinen Grund darin hatte, dass die Firma die Gebote der Pietät technisch optimal umsetzte. Die Firma optimierte den koksbeheizten Ofen unter Pietätskriterien, sie installierte 1927 auch den ersten rein gasbeheizten Ofen in Dresden. Zudem brachte das Unternehmen den ersten elektrisch beheizten Ofen auf den Markt. Auch international fand die Feuerbestattungstechnik von Topf & Söhne Beachtung. So wurde das erste sowjetische Krematorium in einem ehemaligen Kloster in Moskau 1926 mit einem Topf-Ofen ausgestattet. In seiner Abteilung Ofenbau konstruierte Kurt Prüfer seit 1925 zusätzlich Müllverbrennungsöfen, darunter Öfen zur Verbrennung von Kadavern. Er wusste, dass es bei diesen Öfen nur darauf ankam, schnell und brennstoffsparend den Abfall zu beseitigen. Während er die Krematoriumsöfen in den firmeninternen Unterlagen „Einäscherungsanlagen“ nannte, hießen seine Müllverbrennungsöfen „Vernichtungsöfen“. Kurt Prüfer engagierte sich als Vorsitzender des Erfurter Volksfeuerbestattungsvereines und erreichte durch seine öffentlichen Vorträge und Krematoriumsführungen, dass sich die Zahl der Anhänger der Feuerbestattung in Erfurt vervielfachte. War die Feuerbestattungsbewegung im 19. Jahrhundert von Vertretern des säkularisierten, aufgeklärten Bürgertums ausgegangen, so gelang ihre Verbreitung in der Weimarer Republik, weil sie in breiten Arbeiterkreisen Fuß fassen konnte. Volksfeuerbestattungsvereine, zumeist von Gewerkschaftskreisen gegründet, hatten daran einen entscheidenden Anteil. Die Firma war optimal aufgestellt, als 1934 die Feuerbestattung der Erdbestattung gleichgestellt und reichsweit erlaubt wurde. Das Feuerbestattungsgesetz vom Mai 1934 formulierte jene Vorgaben der Pietät, die Topf & Söhne mit ihrer Technik hervorragend garantierten. Mit Kurt Prüfer hatte sich Topf & Söhne den Ruf erworben, dass sie bei der Entwicklung technischer Möglichkeiten der Verbrennung weder Kosten noch Mühe scheute, um die Würde und Individualität des Menschen nach seinem Tode zu wahren. Dennoch blieb der Bau von Feuerbestattungsöfen von seinem Umfang her immer ein Randbereich im Unternehmen.
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1.4 Die dritte Unternehmergeneration – Ernst Wolfgang und Ludwig Topf Ende 1929 verstarb der letzte noch von Ludwig Topf, dem Sohn des Firmengründers, eingesetzte Direktor. Kurz danach trat sein Sohn Ernst Wolfgang Topf als kaufmännischer Angestellter in das Unternehmen ein. Zwei Jahre später, 1931, folgte ihm dessen Bruder Ludwig und wurde Angestellter im Feuerungsbau (siehe Abb. 1.7). Anfang der 1930er Jahre geriet die Firma in die Wirtschaftskrise. Aus dem Konkursverfahren, das im Frühjahr 1933 drohte, machte Ernst Wolfgang Topf dreizehn Jahre später einen rein politischen Konflikt und stellte dies so dar: die nationalsozialistisch eingestellten Männer in der Firmenleitung hätten die neuen Machtverhältnisse genutzt, um die politisch missliebigen Brüder um ihr Erbe zu bringen. „Als ‚Judengenossen’“ hätten sie „ihr Anrecht auf die Leitung verloren“, soll ein Betriebsdirektor auf einer nach dem 30. Januar 1933 einberufenen Betriebsversammlung gesagt haben. Ein führender Funktionär der
Abb. 1.7 Ludwig Topf (1903 – 1945) und Ernst Wolfgang Topf (1904 – 1969), Ende der 1930er Jahre (Sammlung Erinnerungsort Topf & Söhne; mit freund licher Genehmigung von © Erinnerungsort Topf & Söhne. All Rights Reserved)
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Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation hätte daraufhin den Brüdern in Aussicht gestellt, nach einer Übernahme des Betriebes durch die Brüder Topf dann nicht im Wege zu stehen, wenn sie beide in die Partei einträten (vgl.: Schüle3 2017, S. 66 f.). Der dann folgende Eintritt der Brüder in die NSDAP geschah nicht aus politischer Überzeugung. Die beiden Brüder kamen den neuen Machthabern entgegen, um den Familienbetrieb zu retten. Ernst Wolfgang Topf wurde als kaufmännischer Leiter und Ludwig Topf als technischer Leiter eingesetzt. Im Zuge der Kriegsvorbereitungen erhielt Topf & Söhne Großaufträge der Wehrmacht für den Bau von sog. Heeres- und Reichsspeicher, mit denen die Ernährung der Soldaten und der Zivilbevölkerung sichergestellt werden sollte. 1939 erreichte die Firma ihre höchste Beschäftigtenzahl mit 1150 Arbeitern und Angestellten. Die Hälfte von ihnen wurde in den Kriegsjahren eingezogen. Ersetzt wurden sie durch ausländische Arbeitskräfte. Mindestens 620 Zwangsarbeiter sind in den Quellen belegt.
1.5 Opfer und Gegner des Regimes bei Topf & Söhne „Eine Familie mit den Eigenschaften der Menschlichkeit war geradezu dazu ausersehen, die verfolgten jüdischen Mitbürger und Mitarbeiter bis zum Äußersten zu schützen und das haben wir nachweisbar bis zur Selbstaufgabe und bis zum Kriegsschluss getan“ (zitiert nach: Schüle3 2017, S. 341). Diese Behauptung Ernst Wolfgang Topfs aus dem Jahre 1958 ist eine dreiste Lüge aus der Nachkriegszeit. Der 1908 in Halle/Saale geborene Willy Wiemokli, wegen seines aus einer jüdischen Familie stammenden Vaters David Wiemokli zu den „verfolgten jüdischen Mitarbeitern“ von Topf & Söhne zählend, hätte diese Aussage von Ernst Wolfgang Topf allerdings unterschrieben. Wiemokli, wie seine Mutter evangelisch getauft, wurde gemeinsam mit seinem Vater im Novemberpogrom 1938 verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht (siehe Abb. 1.8). Aufgrund dieser Haft verlor er seine Arbeit als Kaufmann in Erfurt und damit
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Abb. 1.8 Willy Wiemokli (1908–1983), Anfang 1940er Jahre (Signatur: BF, S. 63; mit freundlicher Genehmigung von © Landesarchiv Thüringen-Hauptstaatsarchiv Weimar. All Rights Reserved)
auch die Möglichkeit, den arbeitslosen Vater zu unterstützen. Groß muss seine Erleichterung und Dankbarkeit gewesen sein, als ihn Ernst Wolfgang Topf Anfang 1939 einstellte, wohl wissend, dass er „jüdischer Mischling“ und erst vor kurzem aus dem KZ entlassen worden war. Als Mitarbeiter der Betriebsabrechnung war es die Aufgabe von Willy Wiemokli, Umsatzlisten von Kurt Prüfer mit den Daten aus der Buchhaltung abzugleichen. Sicher ist, dass Wiemokli durch diese Listen wusste, dass die Firma Topf & Söhne Aufträge für die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau, Mauthausen, Auschwitz, Flossenbürg und Sachsenhausen annahm. 1943 wurde sein Vater nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Willy Wiemokli erhielt Unterstützung von der Unternehmensleitung, als ihn ein Kollege der Beziehung zu einer nichtjüdischen Kollegin, also der „Rassenschande“, bezichtigte und die Gestapo ihn mehrfach verhörte. Erst 1944, als die so genannten Halbjuden oder jüdischen Mischlinge reichsweit zur Zwangsarbeit in
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Lager eingewiesen wurden, rettete ihn auch der Schutz seines Betriebes nicht mehr. Während es sich bei den als „Halbjuden“ Verfolgten in der Belegschaft um Einzelne handelte – Ernst Wolfgang Topf spricht von vier, aus den Quellen sind namentlich zwei bekannt -, war die Gruppe der politischen Kriegsgegner größer und im Falle der KPD auch organisiert. Es wurden auffällig viele kommunistische Arbeiter mit Hafterfahrung bei Topf & Söhne eingestellt, weil dort in den Jahren der Kriegsvorbereitung zwar Heeresspeicher für die Wehrmacht, doch keine Rüstungsgüter im engeren Sinne hergestellt wurden. Es fällt auf, dass fast alle namentlich bekannten kommunistischen Arbeiter nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurden, also das Privileg der „Uk-Stellung“ durch die Firmenleitung genossen, obwohl sie erst wenige Jahre Betriebszugehörigkeit vorweisen konnten.2 Dass sich die Brüder Topf bei der Entscheidung über eine „Uk-Stellung“ eher überzeugter Nazis im Betrieb entledigten als der kommunistischen Arbeiter, ergab sich auch aus ihren eigenen Interessen. Erstere konnten zu mächtig werden, letztere waren nach Arbeitslosigkeit und Lagerhaft froh, mit Gleichgesinnten in einem Betrieb arbeiten zu können und revanchierten sich mit guter Arbeit. Einer dieser Kommunisten arbeitete für Topf & Söhne im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau: der Lüftungsmonteur Heinrich Messing (siehe Abb. 1.9). Er wurde 1902 als siebtes Kind eines Schuhmachers in Erfurt geboren. Nach dem Abschluss der Volksschule absolvierte er eine Lehre als Klempner und arbeitete 13 Jahre in diesem Beruf. Er organisierte sich gewerkschaftlich im Deutschen Metallarbeiter-Verband. 1927 heiratete er, das Paar bekam drei Kinder. 1930 wurde er wie sein ältester Bruder Mitglied der KPD, 1932 wurde er arbeitslos. Im Februar 1933 wurde er verhaftet und unter dem Vorwurf der „Vorbereitung zum Hochverrat“ in Schutzhaft genommen, aus der er nach elf Wochen entlassen wurde, ohne dass es zum Prozess kam.
2„Uk“
steht für „unabkömmlich“.
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Abb. 1.9 Heinrich Messing (1902–1985), um 1950 (Signatur: AIM 236/54, T. I, S. 3; mit freundlicher Genehmigung von © Bundesbeauftragte für die Unter lagen des Staatssicherheitsdienstes.
1.6 Verbrennungsöfen für Lagerkrematorien Am 1. September 1939 begann mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Die Radikalisierung der Gewalt nach außen bedeutete auch eine Radikalisierung der Gewalt nach innen. Menschen aus den besetzten Gebieten wurden in Konzentrationslager deportiert, der Terror und die Todeszahlen wuchsen. Im KZ Buchenwald kam es 1939 zum ersten von der SS herbeigeführten Massensterben von polnischen und Wiener Juden im so genannten Polen-Sonderlager. Seit Eröffnung des Lagers 1937 waren die Lagertoten im Bruch mit dem Feuerbestattungsgesetz von 1934 im städtischen Krematorium von Weimar
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eingeäschert worden. Nun begann die SS mit der Realisierung ihres Plans, ein eigenes Lagerkrematorium zu errichten. Als Übergang setzte sie mobile Öfen von Topf & Söhne ein. Nach dem ersten Umsatz mit fahrbaren Einmuffel-Öfen machte sich Kurt Prüfer sofort an die Weiterentwicklung der mobilen Leichenverbrennung und bot der SS einen Doppelmuffel-Ofen, also einen Ofen mit zwei Verbrennungskammern, an. Dieser erste DoppelmuffelOfen von Kurt Prüfer weis eine Besonderheit auf, die auch alle nachfolgenden, stationären Mehrmuffel-Öfen hatten. Die Ofenkammern waren zur Beschleunigung des Verbrennungsvorganges durch Aussparungen in der Zwischenwand miteinander verbunden, sodass sich mit dem durch den ganzen Ofen wandernden Feuer auch die Asche der Toten vermischte. Nicht erst die Praxis der SS, mehrere Leichname in einer Ofenkammer zu verbrennen, brach das Feuerbestattungsgesetz, das eine Vermischung der Asche verbot (siehe Abb. 1.10). Während des Ausprobierens transportabler Leichenverbrennungsöfen wurde das Lagerkrematorium fertiggestellt. Die ersten Ofenlieferungen
Abb. 1.10 Transportabler, ölbeheizter Doppelmuffel-Ofen von Topf & Söhne für Konzentrationslager, 1940 (Signatur: 6-0/27 A7-029; mit freundlicher Genehmigung von © Stadtarchiv Erfurt. All Rights Reserved)
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nach Buchenwald wurden von der SS und der Firma Topf als Auftakt einer umfassenden Geschäftsbeziehung verstanden. Den ersten stationären KZ-Ofen mit zwei Verbrennungskammern hielt die Firma J. A. Topf & Söhne für so zukunftsträchtig, dass sie ihn am 6. Dezember 1939 als „Einäscherungs-Ofen mit Doppelmuffel“ zum Patent anmeldete. Später, nachdem derselbe Ofentyp zweimal im Krematorium des Stammlagers Auschwitz aufgestellt worden war, nannte ihn Kurt Prüfer „Modell Auschwitz“. Dass Kurt Prüfer mit den KZ-Öfen gegen Gesetz und Pietät verstieß, war ihm bewusst, installierte er doch in derselben Zeit auch weiter Feuerbestattungsöfen in städtischen Krematorien. Für Prüfer waren die schnelle Umsatzsteigerung und die Wichtigkeit von Aufträgen aus der Machtzentrale der SS verlockend. Für sich sah er darin eine Chance, Gehalt und Status im Betrieb zu steigern und zeigte deshalb große Eigeninitiative bei der Entwicklung weiterer KZ-Ofentypen. Auch sein Ehrgeiz als Techniker und Erfinder war angesprochen. Bis 1941 lieferte die Firma Öfen in die Lager Buchenwald, Dachau, Gusen sowie in das Stammlager Auschwitz.
1.7 Schlüsselrolle für das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Wie schon nach Kriegsbeginn 1939 kam es mit dem am 22. Juni 1941 beginnenden Krieg mit der Sowjetunion zu einer Radikalisierung der Gewalt, jetzt in noch stärkerem Maße. Opfergruppen waren Juden und Sinti und Roma in den eroberten Gebieten sowie sowjetische Kriegsgefangene. Am 26. September 1941 befahl Hans Kammler, Chef des SS-Bauwesens, den Bau eines Lagers für zunächst 50.000 sowjetische Kriegsgefangene bei Auschwitz-Birkenau. Im Oktober 1941 wurde das Lager bereits für 125.000 sowjetische Kriegsgefangene geplant. Die SS-Führung hegte den Plan, aus diesen Männern eine riesige Arbeitssklavenarmee zu machen. Für das Lager wurden eigene Verbrennungsanlagen projektiert. Dafür bestellte SS-Bauleiter Kurt Bischoff bei Kurt Prüfer im Oktober 1941 fünf der von ihm neu und wohl extra für diesen Zweck entwickelten Dreimuffel-Öfen. Pro Tag werden über
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1.000 Menschen sterben, kalkulierte Bischoff (vgl.: Schüle3 2017, S. 141). In der Kalkulation der Kapazitäten für die Verbrennung von Leichen ging er also davon aus, dass alle erwarteten 125.000 sowjetischen Kriegsgefangenen nach rund vier Monaten nicht mehr am Leben sein würden. Ernst Wolfgang Topf bestätigte am 4. November 1941 den Auftrag für das geplante Krematorium und führte in dem Schreiben an die SS aus: „Erwähnen möchten wir, daß die Einäscherungskammern in den Öfen jetzt größer gebaut werden als bei den bisherigen Öfen. Hierdurch wollen wir eine größere Leistung erreichen. Aus dem gleichen Grunde haben wir auch statt 2 Saugzug-Anlagen deren 3 vorgesehen, dabei aber auch berücksichtigt, daß gefrorene Leichen zur Einäscherung gelangen, die mehr Heizmaterialaufwand bedingen, wodurch die Abgasmenge sich erhöht.“3 Waren zunächst die Ofenkammern in den Lagerkrematorien kleiner als bei städtischen Einäscherungsanlagen, weil kein Sarg vorgesehen war, so wurden sie bei den neuen Ofentypen wieder vergrößert. Die Firmenleitung wusste also, dass mehr als eine Leiche auf einmal verbrannt werden sollte. Nach weiterer erfolgreicher Konstruktion, nämlich eines Ofens mit acht Kammern und einem weiteren Geschäftsabschluss mit der SS in Auschwitz forderte Prüfer eine Prämie ein. Am 6. Dezember 1941 schrieb er an die Brüder Topf: „Wie Sie wissen, habe ich die 3 Muffel- als auch die 8 Muffel-Einäscherungsöfen durchgearbeitet und hierbei meistens meine Freizeit – zu Hause – benutzt. Diese Ofenkonstruktionen sind auch für spätere Zeiten bahnbrechend und darf ich wohl annehmen, daß Sie mir für die geleistete Arbeit eine Prämie gewähren werden.“4 Die Brüder Topf bewilligten ihm Ende 1941 150,Reichsmark Prämie und stellten ihm mehr in Aussicht, wenn sich der neue Ofentyp in der Praxis bewährt haben würde (siehe Abb. 1.11).
3Auszug
aus der Auftragsbestätigung für fünf Dreimuffel-Öfen für Auschwitz, 4. November 1941, Staatliches Russisches Militärarchiv, Abteilung Sonderarchiv, Moskau 502-1-313. 4Auszug aus der Prämienanforderung von Kurt Prüfer an die Brüder Topf, 6. Dezember 1941, Landesarchiv – ThHStAW, J. A. Topf & Söhne Nr. 14, Bl. 98.
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Abb. 1.11 Dreimuffel-Öfen im Krematorium Buchenwald (Signatur: 014.001; mit freundlicher Genehmigung von © Archiv der Gedenkstätte Buchenwald. All Rights Reserved)
Zwei dieser Dreimuffel-Öfen wurden in das KZ Buchenwald geliefert, denn dort ermordete die SS seit Mitte 1942 sowjetische Kriegsgefangene. Die Inbetriebnahme der beiden neuen Öfen im Krematorium Buchenwald, die Ende August bzw. Anfang Oktober 1942 erfolgte, wertete Kurt Prüfer als großen Erfolg. Am 15. November 1942 schrieb er erneut an seine Chefs: „Sehr geehrte Herren Topf! Nach der Absprache mit Ihnen die Ende vorigen Jahres stattfand, haben Sie mir für die Neukonstruktion der Dreimuffel-Einäscherungsöfen eine Entschädigung zugesagt. (…) Vor 12 bzw. 6 Wochen sind die beiden ersterrichteten Topf-Dreimuffel-Einäscherungsöfen im Krematorium Buchenwald in Betrieb gekommen. Der erste Ofen hat bereits eine große Anzahl Einäscherungen hinter sich, die Arbeitsweise des Ofens und demzufolge die Neukonstruktion hat sich bewährt u. ist einwandfrei. Die Öfen leisten 1/3 mehr, als von mir überhaupt vorgesehen war.
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(…) Dieserhalb bitte ich Sie, die mir versprochene Entschädigung baldigst anweisen zu wollen. Stets gern zu Ihren Diensten Ihr ergebener Kurt Prüfer“.5 Prüfer sprach in diesem Schreiben von insgesamt 14 Dreimuffel-Öfen, die schon produziert oder noch in Arbeit waren. Zu diesem Zeitpunkt hatte er zwei nach Buchenwald, zwei nach GroßRosen und zehn nach Auschwitz-Birkenau verkauft. Die Brüder Topf dankten Prüfer die unerwartete Verbrennungsleistung des neuen KZOfentyps mit weiteren 450,- Reichsmark Provision. Seit Sommer 1942 wurden Juden aus allen besetzten Gebieten in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort begann die SS mit den systematischen Selektionen, also die unmittelbar nach der Ankunft vorgenommene Einteilung in Menschen, die zur Arbeit gezwungen wurden, und in Menschen, die sofort im Gas getötet wurden. Mehr als sieben von zehn Personen wurden wenige Stunden nach ihrer Ankunft in den Bunkern von Auschwitz-Birkenau im Gas ermordet, vor allem Frauen und Kinder. Mit der systematischen Vernichtung nahm das Problem der SS, die Leichen zu beseitigen, massiv zu. In dieser Situation fand am 19. August 1942 eine Unterredung der SS-Bauleitung mit Kurt Prüfer statt, in dem sie gemeinsam drei weitere Großkrematorien konzipierten. Dass Kurt Prüfer nach eigenen Angaben spätestens seit dem „Frühjahr 1942“ von den Massenmorden mit Gas wusste, sah die SS nicht als Unsicherheitsfaktor an (Schüle3 2017, S. 162). Im Gegenteil: Er wurde durch sein Wissen zum idealen Kooperationspartner für die Schaffung fabrikmäßiger Massenvernichtungsanlagen, weil er das Ziel der SS kannte und ihr so seine technische Kompetenz noch besser andienen konnte. Zu Bauberatungen reiste Prüfer mindestens ein Dutzend Mal nach Auschwitz. Mit der SS war ein Großkunde aufgetaucht, der mit seiner Macht und dem wachsenden Bedarf an Verbrennungsanlagen seiner kleinen Abteilung Spezialofenbau eine größere Bedeutung verlieh.
5Auszug
aus der Prämienanforderung von Kurt Prüfer an die Brüder Topf, 15. November 1942, Landesarchiv – ThHStAW, J. A. Topf & Söhne Nr. 14, Bl. 85.
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1.8 Der kontinuierliche LeichenVerbrennungsofen für Massenbetrieb Kurt Prüfers Erfolge bei der Akquisition von Aufträgen in Auschwitz wurde bei seinem Vorgesetzten Fritz Sander und in der Geschäftsleitung als Signal für weitere Aufträge verstanden. Es galt, sich als Firma den zukunftsträchtigen Markt zu sichern und auszubauen. Deshalb und aus Konkurrenz zu Kurt Prüfer wandte sich Fritz Sander im September 1942 mit einer Erfindung an die Geschäftsführung: den „kontinuierlich arbeitenden Leichen-Verbrennungsofen für Massenbetrieb“. Bis heute lautet eine der stereotypen Rechtfertigungen für ein Mittun im Nationalsozialismus, man sei dazu gezwungen worden. Bei einer Weigerung sei man selbst zum Opfer geworden. Sanders Vorgehen zeigt das Gegenteil. Es steht für ein Mitmachen „auf eigene Initiative“. Er fühlte sich herausgefordert zu zeigen, dass er der bessere Ingenieur sei. Fritz Sander war gerade 66 Jahre alt geworden und konnte auf ein langes und erfolgreiches Arbeitsleben in leitender Stellung zurückblicken. Der Ofenbau gehörte nicht zu seinem direktem Arbeitsgebiet, er drängte sich in den Bereich von Kurt Prüfer hinein. In einem Schreiben an die Firmenleitung begründet Fritz Sander seine Ofenkonstruktion wie folgt: „Der starke Bedarf an Einäscherungsöfen für Konzentrationslager – der in letzter Zeit besonders deutliche für Auschwitz in Erscheinung getreten ist […] veranlasste mich zu einer Prüfung der Frage, ob das bisherige Ofensystem […] das richtige ist […] als meiner Ansicht nach ideale Lösung bezüglich Bauart eines Einäscherungs-Ofen für die Zwecke eines Konzentrationslagers sehe ich einen solchen mit kontinuierlicher Beschickung für ebensolchen Betrieb an […] die zu verbrennenden Leichen würden oben – ohne Störung des Verbrennungsvorgangs – […] auf dem Weg durch den Ofen zünden, brennen, ausbrennen und veraschen […] Dabei bin ich mir vollkommen klar darüber, dass eine solcher Ofen als reine Vernichtungs-Vorrichtung anzusehen ist, dass also die Begriffe Pietät, Aschetrennung sowie jegliche Gefühlsmomente vollständig ausgeschaltet werden müssen. All das ist
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wohl aber auch schon jetzt bei dem Betriebe mit zahlreichen MuffelÖfen der Fall. Es liegen eben in den KZ-Lagern besondere kriegsbedingte Umstände vor, die zu derartigem Verfahren zwingen.“ Die verbrecherische Dimension des von Fritz Sander entwickelten Hochleistungs-Ofen zur Verbrennung menschlicher Leichen wird nicht dadurch geringer, dass zwar Reichspatentamt angemeldet, jedoch weder patentiert noch konstruiert wurde.6
1.9 Lüftungstechnik für die Gaskammern 1942 erreichte die Mittäterschaft der Firma J. A. Topf & Söhne eine neue Qualität. Neben der Optimierung der Leichenbeseitigung durch die Ausstattung der vier Großkrematorien in Auschwitz-Birkenau mit Ofenanlagen und der weiteren Planung industrieller Massenverbrennungsöfen wirkte die Firma auch daran mit, das Töten selbst zu optimieren, indem sie die Gaskammern in Krematorium II und III mit Lüftungstechnik ausstattete. Da diese im Keller lagen und nicht auf natürlichem Wege belüftet werden konnten, war der Luftaustausch durch die Ventilation die Voraussetzung, um den Massenmord schnell fortsetzen zu können. Zuständig dafür war der Ingenieur Karl Schultze, mit 40 Jahren einer der jungen Abteilungsleiter der Firma. Er begann als Ingenieur bei Topf & Söhne im Oktober 1928. Karl Schultze war kein Mitglied der NSDAP. Die umfangreichen Aufträge in den Jahren 1942 und 1943 erforderten über einen langen Zeitraum die Anwesenheit von drei Feuerungsbauern der Firma Topf & Söhne in Auschwitz-Birkenau. Auch Lüftungsmonteur Heinrich Messing war vor Ort. Er hielt sich von Januar bis Juni 1943 in Auschwitz auf (vgl. Pressac 1994, S. 184).
6Nach
Aussage von Sander kam es nicht zur Patenterteilung, weil die Erfindung aus Geheimhaltungsgründen nicht offiziell registriert werden konnte. Man habe jedoch eine Akte angelegt und ihm deren Nummer auch mitgeteilt. Da die Erfindung geltendem Recht widersprach, könnte auch das der Grund für die Verweigerung des Patentes gewesen sein. Gebaut wurde er vermutlich deshalb nicht, weil Kurt Prüfer Kritik an der Konstruktion äußerte.
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Im Februar 1943 wartete er auf die Lieferung eines Gebläses Nr. 450 für die Ventilation der Gaskammer. Eine Aktennotiz gibt Auskunft über ein Telefonat, das Karl Schultze am 17. Februar 1943 von Auschwitz mit Fritz Sander in Erfurt deshalb führte (siehe Abb. 1.12). Als »Sonderakten« gekennzeichnete Unterlagen wurden zentral bei der Geschäftsleitung abgelegt. Bemerkungen und Kürzel belegen, dass die Notiz durch die Hände von Ludwig Topf, Betriebsdirektor Gustav Braun, des kaufmännischen Prokuristen Max Machemehl und des Leiters des Einkaufs Florentin Mock gegangen ist. Diese Telefonnotiz zeigt, dass es in der innerbetrieblichen Kommunikation zum Gasmord kein Tabu gab. Als Zivilisten waren den Topf-Mitarbeitern die verschleiernden Sprachregelungen der SS nicht unbedingt geläufig. Untereinander nannten sie die Dinge beim Namen, der Kellerraum für den Gasmord war kurz „der Gaskeller“.
Abb. 1.12 Telefonnotiz von Oberingenieur Fritz Sander, 17. Februar 1943, (Signatur: J. A. Topf & Söhne Nr. 95, Bl. 34r und v.; mit freundlicher Genehmigung von © Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar. All Rights Reserved)
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Am 5. März 1943, mehr als einen Monat nach dem ursprünglich geplanten Fertigstellungstermin, sah sich die SS-Bauleitung erstmals in der Lage, ihrer Berliner Führung die Dreimuffel-Öfen im Krematorium II vorzuführen. 22 junge, männliche jüdische Häftlinge, darunter der damals 26 Jahre alte Henryk Tauber aus Polen, waren für die Bedienung der Öfen ausgesucht und in einem „einmonatigen Praktikum“ im Krematorium I im Stammlager angelernt worden, wie es Tauber im Mai 1945 vor der polnischen Untersuchungskommission zu den in Auschwitz begangenen Verbrechen bezeichnete. Zehn der jungen Häftlinge waren inzwischen verstorben oder ermordet worden (Piper 1999, S. 280). Die Inbetriebnahme der Öfen des Krematoriums II Anfang März 1943 hat Henryk Tauber so beschrieben: „Wir heizten von früh bis ungefähr 4 Uhr nachmittags. Um diese Zeit kam eine Kommission zum Krematorium angefahren, zu der Angehörige der Politischen Abteilung und hohe SS-Offiziere aus Berlin gehörten. Außer ihnen nahmen an der Kommission auch Zivilisten und Ingenieure von der Firma ‚Topf‘ teil. (…) Nachdem die Kommission eingetroffen war, erhielten wir die Anweisung, aus dem Leichenmagazin Leichen herauszuholen und sie in die Retorten zu werfen (…) Nachdem der ganze Vorrat an Leichen auf alle Retorten aller fünf Öfen verteilt war, beobachteten die Angehörigen der Kommission mit Uhren in der Hand den Verlauf der Verbrennung der Leichen, sie öffneten die Türen, schauten auf die Uhren, sprachen miteinander und wunderten sich, dass die Verbrennung so lange dauerte.“ (zitiert nach: Piper 1999, S. 286 f.). Die rechnerische Gesamtverbrennungskapazität lag bei maximal 8000 Leichen in 24 h in allen vier Krematorien in Birkenau (vgl.: Piper 1999, S. 182). Dass diese Zahl an täglichen Verbrennungen erreicht oder überschritten wurde, war nicht die Regel. Zwischen 1942 und Frühjahr 1944 wurden selten mehr als durchschnittlich tausend Menschen am Tag nach Auschwitz deportiert. Anders war dies im Sommer 1944, als fast 440.000 Jüdinnen und Juden aus Ungarn in Auschwitz ermordet wurden. Bis zu 9000 Leichen täglich, an manchen Tagen über 10.000 wurden in den noch funktionsfähigen Krematorien II, III und V sowie in Gruben unter freiem Himmel verbrannt (vgl.: Broszat 2008, S. 1665).
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Mit der Fertigstellung der Gaskammern war die SS Anfang März 1943 noch immer in Verzug. Aus einer Arbeitszeitbescheinigung, die der Topf-Monteur Heinrich Messing für den Zeitraum von Montag, den 8., bis Sonntag, den 14. März 1943, ausfüllte, wird ersichtlich, dass er in dieser Woche unter Hochdruck an der Lüftungstechnik der Kellerräume im Krematorium II arbeitete, d. h. der Gaskammer und des Auskleideraumes, zur Tarnung als Leichenkeller I und II bezeichnet. Dass er dabei selbst den Begriff „Auskleidekeller“ verwendete, zeigt, wie präzise er über den Ablauf des Gasmords informiert war. Er wusste also, dass die Menschen sich in dem größeren Keller entkleiden mussten, um danach im kleineren Keller erstickt zu werden. Während er die Technik für den schnellen Erstickungstod von Hunderttausenden installierte, häufte Messing in sechs Tagen 27 Überstunden an, die er säuberlich vermerkte. Schultze war in dem gesamten Zeitraum ebenfalls in Birkenau.7 Schultze und Messing sind jene Topf-Mitarbeiter, die unmittelbar Zeugen und Beteiligte einer Gasmordaktion waren. An diesem 13. März 1943 wurden insgesamt 1.492 deportierte Juden aus dem Krakauer Ghetto getötet. (vgl.: Czech 1989, S. 440). Schultze sagte darüber im Moskauer Verhör aus: „Nach der Rückkehr aus Auschwitz habe ich in Erfurt über die von mir durchgeführten Arbeiten bei der Erprobung des Gebläses und der Lüftungsanlagen im zweiten Krematorium des Lagers Auschwitz Bericht an den Firmenschef Ludwig Topf erstattet. Nebenbei berichtete ich ihm, dass die SS-Leute in der Gaskammer eine Gruppe von Häftlingen vergiftet hatten, wonach ihre Leichen in den Einäscherungsöfen verbrannt wurden. L. Topf hat darauf nicht reagiert.“8 Die von der Firma Topf eingebaute Lüftungstechnik in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau beschleunigte die Abläufe beim Massenmord derart, dass dort von Mai bis Oktober 1944 rund 600.000
7Die Bestätigung stammt vom 11. März 1943 und ist für den 1. bis 12. März 1943 ausgestellt. Zeitlohn- und Arbeitszeitbescheinigung von Heinrich Messing, Landesarchiv - ThHStAW, J. A. Topf & Söhne Nr. 95, Bl. 207 bzw. Bl. 872. 8Nach eigener Aussage reiste Schultze am Samstag, dem 13. März 1943 zurück nach Erfurt. Verhörprotokoll von Karl Schultze, 11. März 1948, Archiv der Gedenkstätte Buchenwald.
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Menschen getötet wurden. Insgesamt sind während der Betriebszeit der Krematorien von März 1943 bis November 1944 fast eine Million Menschen getötet worden.
1.10 Schlussbetrachtung Der Gesamtumsatz der Firma Topf & Söhne in Auschwitz-Birkenau betrug 1942 bis 1944 220.538 Reichsmark. Geht man auch für die Geschäftsbeziehung mit der SS in Auschwitz von der durchschnittlichen Gewinnrate der Firma aus, so belief sich der Reinerlös aus der Entwicklung und Produktion der Vernichtungsanlagen in AuschwitzBirkenau für das Erfurter Unternehmen auf eine Summe zwischen 11.400 und 20.000 Reichsmark. Umgerechnet auf heute hat die Firma Topf zwischen 50.000 und 90.000 EUR Gewinn damit erwirtschaftet, die Technologie für den fabrikmäßigen Völkermord zu liefern. Für die kleine Abteilung Spezialofenbau unter der Leitung von Kurt Prüfer hatten die Lieferungen nach Auschwitz-Birkenau allerdings eine große Bedeutung. Für das Gesamtunternehmen war die Ausrüstung der Todesfabriken wirtschaftlich dagegen fast bedeutungslos.9 Der Weg vom Parteieintritt der Brüder Ludwig und Ernst Wolfgang Topf im Jahre 1933 bis zur Geschäftspartnerschaft mit der SS sechs Jahre später war vorgezeichnet, aber nicht alternativlos. Die in dieser Zeit mit dem Regime gesammelten Erfahrungen, nicht zuletzt durch den unmittelbaren Kontakt mit verfolgten Kommunisten und Belegschaftsangehörigen jüdischer Herkunft sowie mit jüdischen Freunden und Bekannten, hätte zu einem Umdenken führen können. Doch es fehlte an moralischer Stärke, um sich den verlockenden Aufträgen eines verbrecherischen Systems zu entziehen. Es war Zufall, dass gerade bei Topf & Söhne das Produktionsprofil zur Verfügung stand, mit dem sie zu Technikern der „Endlösung“ wurden. Festzustellen ist, dass nach Quellenlage alle, die bei Topf & Söhne von Berufs wegen und
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beträgt der Umsatz von Topf & Söhne 7 Mio. Reichsmark, (vgl.: Schüle3 2017, S. 381).
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aufgrund ihrer Funktion im Unternehmen mit der Abwicklung der SSGeschäfte befasst waren, freiwillig mitmachten. Neben den Geschäftsführern Ludwig und Ernst Wolfgang Topf und den Ingenieuren im Feuerungsbau war die gesamte Leitungsebene des Betriebes involviert. Die Beteiligung des Unternehmens an der Massenvernichtung wurde von einem Konsens in der Funktionselite des Betriebes getragen. Ludwig und Ernst Wolfgang Topf trugen die größte Verantwortung, auch für das Tun ihrer Mitarbeiter. Sie hätten die gesamte Arbeit für die SS verhindern können. Ein Monteur dagegen konnte nur verhindern, dass er selbst an den Verbrechen beteiligt war. Doch für das, was er selbst tat, trägt auch er die Verantwortung. Kurt Prüfer durfte zwar keine Geschäfte selbstständig abschließen, trieb aber durch seine Initiativen die Arbeit für die SS entscheidend voran. Die Ingenieure im Feuerungsbau, vor allem Kurt Prüfer und Fritz Sander, sahen in dem Massensterben und -morden eine technologische Herausforderung. Kann man bei den Brüdern Topf ein Beschweigen ihres Handelns zum Zeitpunkt der Tat annehmen, so trifft dies nach den Dokumenten aus der Zeit vor 1945 für die Ingenieure keinesfalls zu. Da ist die Rede von Leistung, Stück (für Leichen), Einäscherungsobjekten und Leichenteilen. Indem die Ingenieure mithilfe ihrer technizistischen Sprache davon abstrahierten, dass es sich um ermordete Menschen handelte, konnten sie die Auseinandersetzung auf der Ebene technischer Fragen führen. Auch wenn dieses Umfeld für die Brüder Topf wesentlich war, moralisch war das Mittragen durch Opfer und Gegner des Regimes ebenfalls von großer Bedeutung. Dass sich die Brüder Topf bei ihren Geschäften mit einer menschenvernichtenden Diktatur einreden konnten, anständig zu bleiben, hatte den realen Hintergrund, dass sie es gegenüber ihren Mitarbeitern tatsächlich geblieben sind. Die Konstruktion, die Zusammenarbeit mit der SS als eine gewöhnliche Geschäftsbeziehung zu begreifen, funktionierte deshalb so gut, weil alle mitmachten, von oben bis unten – die an Aufträgen und Beziehungen interessierten Brüder Topf, technizistisch denkende und miteinander konkurrierende Ingenieure, für den gewährten Schutz dankbare Opfer antisemitischer Verfolgung, wie Willy Wiemokli, und politische Regimegegner, wie Heinrich Messing.
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Die Untersuchung zeigt exemplarisch, dass es Aufträge und Verlockungen, aber keiner rassistischen Überzeugung und keines Zwangs von außen bedurfte, damit normale Menschen das Gebot des Respekts vor dem Leben anderer in ihrem beruflichen Tun missachteten. Für die Brüder Topf und ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen war eine Beteiligung an den nationalsozialistischen Großverbrechen möglich, ohne dafür ideologische Gründe zu haben. Es reichten die Anforderungen der Staatsmacht und persönliche Vorteile wie eine UkStellung sowie die üblichen, eigentlich unverdächtigen Interessen und Praktiken im beruflichen Alltag und das Zusammenspiel der Betriebsfamilie. Hier bestärkte man sich über hierarchische und ideologische Grenzen hinweg in einem beruflichen Handeln, bei dem Fragen der Moral und Mitmenschlichkeit außerhalb eigener Gemeinschaftsgrenzen keine Geltung mehr hatten.
Literatur Broszat, Martin, Hg. (2008) Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß, München 2008. Czech, Danuta (1989) Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945, Reinbek, 1989. Piper, Franciszek (1999) Auschwitz 1940-1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, Bd. III: Die Vernichtung, Oświeçim 1999. Pressac, Jean-Claude (1994) Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes, München/Zürich 1994. Schüle, Annegret (201733) Industrie und Holocaust. Wallstein: Göttingen, 464 S.
Quellen Staatliches Russisches Militärarchiv, Abteilung Sonderarchiv, Moskau (SAM): 502-1-313 Landesarchiv – Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStAW): J. A. Topf & Söhne Nr. 14, 95
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Archiv der Gedenkstätte Buchwald (BwA): Sowjetische Verhörprotokolle Diese Akten befinden sich im Original im Zentralarchiv des FSB (russischer Geheimdienst) in Moskau. Dem USHMM (United States Holocaust Memorial) in Washington stellte Jean-Claude Pressac im Jahre 2000 Kopien zur Verfügung. Diese übergab er Jahre 2003 auch an die Gedenkstätte Buchenwald. PD Dr. Annegret Schüle ist amt. Direktorin der Geschichtsmuseen der Landeshauptstadt Erfurt und als Oberkuratorin für Neuere und Neueste Geschichte am Erinnerungsort Topf & Söhne in Erfurt tätig. Sie promovierte 2001 am Historischen Institut der Universität Jena und wurde 2012 an der Universität Erfurt habilitiert.
2 Raketenrüstung und KZ-Zwangsarbeit: Ingenieure und Wissenschaftler als Akteure im Betrieb des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora Regine Heubaum
Zusammenfassung Dieser Beitrag beleuchtet die Rolle der Wissenschaftler, Techniker und Ingenieure beim Aufbau und Betrieb des Konzentrationslages Mittelbau-Dora bei Nordhausen, Thüringen. Dabei liegt der Fokus auf dem Einsatz von KZ-Häftlingen bei der Untertageverlagerung der Rüstungsproduktion sowie in der Montage der Raketenwaffen. Absract This article highlights the role of scientists, technicians and engineers in the construction and operation of the Mittelbau-Dora concentration camp near Nordhausen, Thuringia. It focusses on the use of concentration camp prisoners in the underground relocation of the production of arms and in the assembly of missiles. Schlüsselwörter Konzentrationslager Mittelbau-Dora · Nordhausen V2 · Ethik Ingenieurwissenschaft und Technik · Holocaust
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R. Heubaum (*) KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, Nordhausen, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_2
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2.1 Einleitung Das Lager Dora wurde im August 1943 als Außenlager des KZ Buchenwald gegründet. Ziel dieser Neugründung war die Untertageverlagerung der Raketenwaffenproduktion in unterirdische, gegen Luftangriffe der Alliierten geschützte Stollenanlagen. Bereits zuvor waren KZ-Zwangsarbeiter in der Heeresanstalt Peenemüne auf der Halbinsel Usedom eingesetzt. Die Umsetzung des deutschen Raketenprogramms lag in den Händen des Rüstungsministeriums, der Wehrmacht und der SS. Diese Institutionen zeichneten maßgeblich nicht nur für den Einsatz, sondern auch für die Behandlung der KZ-Häftlinge verantwortlich. Im Heereswaffenamt, das die Raketenentwicklung koordinierte, waren zudem viele zivile Ingenieure beschäftigt. Die Mitverantwortung, die Wissenschaftler und Ingenieure an den KZ-Verbrechen trugen, wurde nach 1945 kaum thematisiert. Die Entwickler und Planer der Massenvernichtungswaffe, die unter den Bedingungen eines Konzentrationslagers in Serie gefertigt wurde, mussten sich meist nicht vor Gericht verantworten. Als Träger der Hauptverantwortung galten vor allem die NS-Führungselite und höher rangige SS-Angehörige. Rüstungsminister Albert Speer verurteilten die Richter im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zu zwanzig Jahren Haft. Seine Verteidigung vor Gericht und seine Publikationen während der Haftzeit prägten ein Entschuldungsnarrativ, das von vielen Wissenschaftlern, Ingenieuren und Rüstungsmanagern in der Folgezeit aufgegriffen und auch von der Öffentlichkeit positiv rezipiert wurde: Als Wissenschaftler hätten sie sich voll und ganz dem technischen Fortschritt verpflichtet gfühlt und seien dadurch in die Fänge des verbrecherischen NSRegimes geraten. Der folgende Beitrag beleuchtet die Rolle der Wissenschaftler, Techniker und Ingenieure beim Aufbau und Betrieb des Konzen trationslages Mittelbau-Dora bei Nordhausen. Dabei liegt der Fokus auf dem Einsatz von KZ-Häftlingen bei der Untertageverlagerung der Rüstungsproduktion sowie in der Montage der Raketenwaffen.
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2.2 KZ-Zwangsarbeit in Peenemünde, Wiener Neustadt und Friedrichshafen Seit Ende der zwanziger Jahre war das Interesse der Reichswehr verstärkt auf die Entwicklung neuartiger Waffensysteme gerichtet, da auf diese Weise die Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages umgangen werden konnten. 1932 beauftragte das Heereswaffenamt im Rüstungsministerium eine Gruppe junger Wissenschaftler um Wernher von Braun mit der Entwicklung einer Flüssigkeitsrakete.1 Im Zuge der Kriegsplanungen des nationalsozialistischen Deutschlands stieg die Bedeutung des Raketenprogramms. Seit 1936 waren Wissenschaftler und Techniker wie Wernher von Braun, Arthur Rudolph, Walter Dornberger und Walter Riedel im Entwicklungs- und Erprobungszentrum für Raketenwaffen in Peenemünde im Rahmen des deutschen Rüstungsprogramms damit beschäftigt, eine ballistische Fernwaffe zu entwickeln. Ein Jahr später wurde Wernher von Braun zum technischen Direktor der Heeresanstalt ernannt – ohne Zweifel ein erster Höhepunkt in der Karriere des erst 25-jährigen Ingenieurs. Walter Dornberger leitete das Raketenwaffenprogramm des Heereswaffenamtes und war in dieser Funktion maßgeblich bei Organisation und Aufbau der Heeresanstalt Peenemünde beteiligt.2 Im Oktober 1942 gelang erstmalig der Start einer A4-Rakete (Aggregat 4), die von der
1Zur
Biografie Wernher von Brauns und der Geschichte der Heeresanstalt Peenemünde vgl. Michael J. Neufeld: Wernher von Braun. Visionär des Weltraums, Ingenieur des Krieges. München: Siedler 2009. Ders.: Die Rakete und das Reich. Wernher von Braun, Peenemünde und der Beginn des Raketenzeitalters. Berlin: Brandenburgisches Verlagshaus 1997. Philipp Aumann: Rüstung auf dem Prüfstand: Kummersdorf, Peenemünde und die totale Mobilmachung. Hrsg. v. Historisch-Technischen Museum Peenemünde. Berlin: Ch. Links 2015. Zur Geschichte des KZ Mittelbau-Dora vgl. Jens-Christian Wagner: Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora. Göttingen: Wallstein 2015. 2Ausführliche Biografien zu den im A4-Programm tätigen Ingenieuren und Wissenschaftlern finden sich in: Jens-Christian Wagner (Hg.): Konzentrationslager Mittelbau-Dora 1943–1945. Begleitband zur ständigen Ausstellung in der K Z-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Göttingen: Walllstein 2007.
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nationalsozialistischen Propaganda in den Folgejahren als „Vergeltungswaffe“ gepriesen wurde und die entscheidende Kriegswende zugunsten Deutschlands bringen sollte. Anfang 1943 gründete Rüstungsminister Speer den Sonderausschuss A4, der die Serienfertigung der A4-Rakete auf den Weg bringen sollte und fortan von Gerhard Degenkolb geleitet wurde. Der Maschinenbauingenieur war seit 1935 als Direktor der DEMAG-Werke in Duisburg tätig. Seine berufliche Karriere bekam mit Kriegsbeginn einen weiteren Schub, als ihn das Rüstungsministerium mit der Koordination der Massenfertigung von Kriegslokomotiven beauftragte. Als Leiter des Sonderausschusses A4 setzte sich Gerhard Degenkolb für den Einsatz von KZ-Häftlingen in der Raketenproduktion ein. Seit Juni 1943 mussten in der Heeresanstalt Peenemünde Häftlinge der Außenlager Karlshagen I und II des KZ Ravensbrück Zwangsarbeit leisten. Die KZ-Zwangsarbeiter des Lagers Karlshagen I waren bei Erd- und Bauarbeiten einestzt, die des Lagers Karlshagen II in der Teilmontage der Raketen. Die Initiative zum Einsatz von K Z-Häftlingen war von den Raketeningenieuren und Rüstungsmanagern selbst ausgegangen, die dadurch die Möglichkeit sahen, den Arbeitskräftemangel in der Raketenproduktion abzufedern. Während eines Betriebsappells am 18. Juni 1943 begründete Walter Dornberger gegenüber den versammelten deutschen Ingenieuren, Zivilangestellten und –arbeitern den Einsatz von KZ-Häftlingen und zivilen Zwangsarbeitern als kriegsbedingte Notwendigkeit und unterstrich dabei – ganz im Sinne der rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten – die Überlegenheit des deutschen Ingenieurs und Arbeiters gegenüber den ausländischen Zwangsarbeitern. Das Sterben von Hunderten KZ-Häftlingen wurde dabei schon in dieser Phase der Waffenproduktion billigend in Kauf genommen: Belegt ist der Tod von 232 KZ-Zwangsarbeitern in Peenemünde.3
3Philipp Aumann, Thomas Köhler: Vernichtender Fortschritt. Serienfertigung und Kriegseinsatz der Peenemünder „Vergeltungswaffen“. Berlin: Ch. Links 2018. S. 26 f.
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Weitere Standorte der A4-Raketenproduktion bestanden in Wiener Neustadt und Friedrichshafen. Im Lager Wiener Neustadt, einem Außenlager des KZ Mauthausen, mussten Häftlinge beim Aufbau der A4-Fertigungsanlagen Zwangsarbeit leisten. Hier waren die zum Henschel-Konzern gehörenden Raxwerke Ende März 1943 mit der Montage der A4-Rakete beauftragt worden. Nach Verhandlungen von Walter Dornberger und Wernher von Braun mit den Zeppelin-Werken bestand seit Juni 1943 in Friedrichshafen eine Außenstelle der Heeresanstalt. Mehrere hundert Häftlinge des Außenlagers Friedrichshafen, das dem KZ Dachau angeschlossen war, mussten Einzelkomponenten der „Vergeltungswaffe“ herstellen.
2.3 Untertageverlagerung der Raketenproduktion Am 18. August 1943 zerstörte ein Luftangriff der Royal Air Force einen Teil der Produktions- und Versuchsanlagen in Peenemünde. Kurz darauf ordnete Adolf Hitler nach einer Besprechung mit SS-Chef Heinrich Himmler und Rüstungsminister Albert Speer die Verlagerung der Raketenproduktion in bombensichere, unterirdische Anlagen an. Eine Stollenannlage im Kohnstein bei Nordhausen, die 1936 als unterirdisches Treibstofflager der Wehrmacht angelegt worden war, schien für das Vorhaben bestens geeignet zu sein. Gleichzeitig einigte man sich darauf, dass bei den erforderlichen Baumaßnahmen und bei der Produktion der Waffe auch zukünftig KZ-Häftlinge eingesetzt werden sollten. Beauftragt mit dem Ausbau der Untertage-Anlage wurde Hans Kammler, im SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt verantwortlich für Bauangelegenheiten der SS. Wenige Wochen nach dem Luftangriff auf Peenemünde trafen die ersten Gefangenen aus dem KZ Buchenwald am Kohnstein ein. Um das vorhandene Tanklager in eine Raketenfabrik umzubauen, waren umfangreiche Planierungs-, Betonierungs- und Gleisbauarbeiten erforderlich; in einem der Hauptstollen musste noch ein Teilstück von 200 Meter Länge ausgeschachtet werden. Die Häftlinge des neu
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gegründeten KZ-Außenlagers Dora waren zunächst in provisorischen Zeltunterkünften vor dem Eingang zur Stollenanlage untergebracht. Fast täglich kamen Hunderte KZ-Zwangsarbeiter aus Buchenwald nach Dora. Angesichts der steigenden Häftlingszahlen verlegte die SS die Gefangenen in die Stollenanlage, wo vier Querkammern des Stollensystems zu „Schlafstollen“ ausgebaut wurden. Abgeschnitten von Tageslicht, Frischluft sowie jeglicher hygienischer und medizinischer Grundversorgung mussten die Häftlinge in zwölfstündigen Schichten körperliche Schwerstarbeit verrichten. Ende 1943 vegetierten bis zu 10.000 Menschen in dem unterirdischen Konzentrationslager. Körperliche Erschöpfung, Krankheiten, Hunger und Misshandlungen zehrten die Häftlinge aus. Je nach körperlicher Konstitution und psychischer Abwehrkraft führte die körperliche Schwerstarbeit im Stollen spätestens nach vier bis acht Wochen zur vollständigen Erschöpfung. Bis einschließlich März 1944 starben SS-Unterlagen zufolge rund 3000 Häftlinge (Abb. 2.1). Mitte Oktober 1943 trafen zwei Transporte mit 650 Häftlingen aus Peenemünde ein. Es folgten das zivile Personal und die in der Heeresanstalt demontierten Maschinen und Montageeinrichtungen. Nach Luftangriffen auf die Produktionsstandorte in Wiener Neustadt und Friedrichhafen transportierte die SS auch die Häftlinge dieser KZ-Außenlager in das neu gegründete Lager Dora. Unter ihnen war auch Adam Cabała, der in Wiener Neustadt Zwangsarbeit beim Aufbau der A4-Fertigungsanlagen Zwangsarbeit geleistet hatte. Der Pole überlebte die KZ-Haft und schrieb nach der Rückkehr in die Heimat seine Erinnerungen an die Haftzeit im KZ Mittelbau-Dora nieder. Adam Cabała war es ein wichtiges Anliegen, auf die große Verantwortung der deutschen Ingenieure und Manager hinzuweisen, die im Mittelwerk und in Peenemünde tätig waren. Sein Bericht ist nicht nur ein Zeugnis über das Massensterben während der letzten Etappe des Stollenausbaus und die Zwangsarbeit in der Raketenproduktion, sondern auch und vor allem eine Anklage gegen die verantwortlichen Ingenieure und Manager, insbesondere gegen Wernher von Braun. Eindringlich schildert der Verfasser das gleichgültige Wegschauen der deutschen Wissenschaftler, deren Bestrebungen einzig und allein auf
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Abb. 2.1 Dominik Černý: K.L. Dora: Bydlení ve štole (Leben im Stollen), Holz schnitt, 1953. (Mit freundlicher Genehmigung © KZ-Gedenkstätte MittelbauDora)
die erfolgreiche Fertigstellung des Untertageverlagerungsvorhabens im projektierten Zeitrahmen gerichtet waren.4 Albin Sawatzki leitete die Untertageverlagerung der Betriebsanlagen in das Stollensystem im Kohnstein und war für die Vorbereitung der A4-Produktion verantwortlich. Der Ingenieur hatte sich nach Kriegsbeginn bei der nationalsozialischen Führung einen Namen als Fachmann für die Serienfertigung von Waffensystemen gemacht und 4Regine
Heubaum: Das Geheimnis des Tunnels von Dora – Erinnerungsbericht des ora-Überlebenden Adam Cabała. In: Günther Jikeli (Hg.): Raketen und Zwangsarbeit in D Peenemünde. Schwerin: Friedrich-Ebert-Stiftung 2014. S. 158–173.
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war im Sonderausschusses A4 beim Rüstungsministerium verantwortlich für diesen Arbeitsbereich. Angesichts der hohen Todesraten bei den Stollenausbauarbeiten fürchteten er wie auch der Leiter des Ausschusses, Gerhard Degenkolb, um die zügige Fertigstellung des Bauprojektes. Eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen erfolgte aber offenbar nicht, denn die Todesraten stiegen weiter an. Am 10. Dezember 1943 besichtigte Rüstungsminister Albert Speer die fast fertig gestellte unterirdische Fabrik bei Nordhausen. Er gab nach dem Krieg an, über die Zustände im Stollen fassungslos gewesen zu sein und den Bau oberirdischer Häftlingsunterkünfte angeordnet zu haben – vermutlich eine Schutzbehauptung, denn zu diesem Zeitpunkt waren KZHäftlinge bereits dabei, Baracken auf dem Lagergelände zu errichten.5 Im Januar 1944 lief die Produktion der A4-Rakete an und die ersten Häftlingsgruppen wurden schrittweise in das im Aufbau befindliche oberirdische Barackenlager verlegt. In den Augen der verantwortlichen Ingenieure hatte nun die Serienfertigung der Waffe oberste Priorität. Die Häftlinge, die die körperliche Schwerstarbeit und die katastrophalen Bedingungen im Herbst und Winter 1943/44 überlebt hatten, meinte man in der Produktion nicht mehr gebrauchen zu können, da sie entweder körperlich zu geschwächt oder für die Arbeit an den Montagebändern beruflich nicht qualifiziert schienen. Im Frühjahr 1944 schob die SS daher 3000 kranke und sterbende Häftlinge in die Konzentrationslager Lublin-Majdanek und Bergen-Belsen ab. Von ihnen hat kaum jemand überlebt. Gleichzeitig mussten qualifizierte KZ-Zwangsarbeiter mit entsprechender Berufsausbildung für die Produktion gefunden werden, die aus anderen Konzentrationslagern stammten: Auf Vorschlag von Albin Sawatzki begab sich Wernher von Braun im Sommer 1944 persönlich in das KZ Buchenwald, um vor Ort geeignete Häftlinge für die Raketenfertigung auszusuchen.6
5Jens-Christian Wagner: Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora. Göttingen: Wallstein 2015. S. 174. 6Schreiben von Wernher von Braun an Albin Sawatzki, 15. August 1944. National Air and Space Museum DC FE 694a.
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2.4 Das Mittelwerk Die Fertigung der sogenannten Vergeltungswaffen stand unter der Ägide der reichseigenen und privatwirtschaftlich organisierten Mittelwerk GmbH. In den Leitungsgremien waren alle beteiligten Institutionen verteten: Karl-Maria Hettlage und Gerhard Degenkolb saßen für das Rüstungsministerium im Beirat; das Heereswaffenamt war durch General Dornberger, die SS durch Gruppenführer Hans Kammler vertreten. Die Firmenleitung der Mittelwerk GmbH bestand mit Kurt Kettler, Albin Sawatzki und Arthur Rudolph aus Ingenieuren und Managern, die das Rüstungsministerium vermittelt hatte oder die schon in der Heeresanstalt Peenemünde tätig gewesen waren. Der Maschinenbauingenieur Arthur Rudolph hatte bereits seit 1934 im Auftrag des Heereswaffenamtes Raketentriebwerke erprobt und war später in Peenemünde als Direktor des Versuchsserienwerkes der Raketenwaffe tätig gewesen. SS-Sturmbannführer Otto Förschner, gleichzeitig Kommandant des Lagers Dora, gehörte ebenfalls der Geschäftsführung an. Ab April 1944 übernahm der Ingenieur Georg Rickhey, zuvor Geschäftsführer der DEMAG-Fahrzeugwerke in Berlin-Falkensee, den Posten des Generaldirektors der Mittelwerk GmbH. Mit ihm verstärkte ein weiterer Manager aus der Privatwirtschaft die Firmenleitung. Wernher von Braun setzte seine Tätigkeit in der Heeresanstalt Peenemünde fort; allerdings führten ihn Dienstreisen, für die ihm ein Privatflugzeug zur Verfügung stand, häufig nach Nordhausen. Die in der Mittelwerk-Leitung tätigen Ingenieure und Rüstungsmanager konnten auf eine überaus erfolgreiche berufliche Laufbahn zurückblicken. Für diese Fachleute bedeutete die verantwortliche Tätigkeit in der Raketenproduktion einen weiteren Karrieresprung. Im Herbst 1944 erfolgten die ersten Einsätze der sogenannten Vergeltungswaffe gegen die Londoner Zivilbevölkerung. Daraufhin wurden Wernher von Braun, Walter Dornberger, Georg Rickhey und Heinrich Kunze am 16. Dezember 1944 mit dem Ritterkreuz geehrt – einer Auszeichnung, die im nationalsozialistischen Deutschland höchstes Ansehen und Popularität bedeutete. Auch materiell konnten die Manager und Techniker aus ihrer Tätigkeit für die deutche
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Rüstungsindustrie Profit ziehen: Noch im März 1945 erhielt Albin Sawatzki eine Prämie in Höhe von Adolf Hitler 30.000 Reichsmark als Anerkennung für seine „Verdienste um die deutsche Rüstung“. Als Betriebsingenieur war er maßgeblich für die Organisation der KZZwangsarbeit in der Raketenfertigung verantwortlich. Die Arbeitskommandos der Häftlinge in Mittelbau-Dora waren in den Unterlagen der KZ-Verwaltung nach ihm benannt – „Kommando Sawatzki“ (Abb. 2.2). Durchschnittlich mussten etwa 5000 Häftlinge in der Waffenproduktion des Mittelwerks arbeiten. Außerdem waren 3000 Zivilarbeiter und –angestellte in der unterirdischen Fabrik beschäftigt, darunter mehr als hundert Ingenieure, die unter anderem in Abteilungen wie
Abb. 2.2 Blockbuch mit Angabe der Belegungszahl der Unterkunftsbaracken, Blockältesten und Arbeitskommandos im Lager Dora, Februar 1945. Das „Arbeitskommando Sawatzki“ ist hier mehrfach aufgeführt (National Archives Washington)
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„Zusammenbau“, „Oberflächenschutz“ und „Kontrolle“ tätig waren.7 Hier waren sie unmittelbar mit der Zwangsarbeit der Häftlinge und den Repressalien der SS gegenüber den KZ-Zwangsarbeitern konfrontiert. In der Zeit von Ende November 1944 bis Ende März 1945 ließ die SS über 200 Häftlinge erschießen oder erhängen. Meist warfen SS und Gestapo den zum Tode Verurteilten tatsächliche oder vermeintliche Sabotage der Produktion vor. In mindestens zwei Fällen fanden die öffentlichen Hinrichtungen in der Stollenanlage statt. Da die Exekutionen eine abschreckende Wirkung erzielen sollten, fanden sie unter den Augen der gesamten Belegschaft statt: Nicht nur die Häftlinge, sondern auch das zivile Personal mussten antreten, um den Hinrichtungen beizuwohnen.
2.5 Das Mittelwerk als Vorzeigeprojekt des Rüstungsministeriums Für SS-Brigadeführer Hans Kammler wurde die unterirdische Raketenfabrik bei Nordhausen zum Vorzeigeprojekt. Im Winter 1943/44 forcierten die Verantwortlichen im Rüstungs- und Luftfahrtministerium ihre Planungen, nach dem Vorbild des Mittelwerks weitere unterirdische Rüstungsfabriken einzurichten. Im Dezember 1943 erteilte das Rüstungsministerium Kammler den Auftrag, in der Umgebung des Mittelwerks weitere Stollen vorantreiben zu lassen. Die geplanten Anlagen waren für die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke vorgesehen, deren Produktion so vor alliierten Luftangriffen geschützt werden sollte. Die Planung und Realisierung dieser Bauprojekte erforderte das Fachwissen von zahlreichen Wissenschaftlern, Architekten und Bauingenieuren, die ihrerseits durch die Zusammenarbeit mit der SS materiell profitieren konnten. Die verantwortliche Mitarbeit
7Anlage
zur Direktionsanweisung Nr. 60 der Mittelwerke vom 26. Mai 1944. Gliederung und personelle Besetzung der Mittelwerk GmbH. Bundesarchiv, NS 4, Anh. Vol. 16.
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an den prestigeträchtigen Bauprojekten eröffnete den Fachkräften zudem neue Karrierechancen. So fungierte Walter Schriel, ordentlicher Professor für Geologie an der Georg-August-Universität in Göttigen, im Jahr 1944 als geologischer Sachverständiger für die Bauvorhaben der SS-Sonderinspektion II und leistete grundlegende Vorarbeiten für die Untertageanlagen des KZ Mittelbau, indem er hydrogeologische Gutachten erstellte. Der Architekt Herbert Rimpl übernahm im Sommer 1944 die technische Bauleitung des Untertageverlagerungs-Projektes auf der Nordseite des Kohnstein, das für den Junkers-Konzern vorgesehen war. Das Baubüro Rimpl koordinierte den Häftlingseinsatz auf der Baustelle und rechnete regelmäßig mit den zuständigen Stellen der SS die Kosten für den Einsatz der KZ-Zwangsarbeiter ab. Im Umkreis dieser Baustellen entstanden KZ-Außenlager, deren Insassen schwere körperliche Arbeit im Stollenvortrieb, beim Eisenbahn- und im Straßenbau verrrichten mussten. Insgesamt exisitierten bei Kriegsende in der Südharz-Region 39 Außenlager, die Ende Oktober 1944 zusammen mit dem Lager Dora zum selbstständigen KZ Mittelbau zusammengefasst wurden. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren für die Häftlinge, die auf den Baustellen abeiten mussten, meist schlechter als für die Gefangenen, die im unterirdischen Mittelwerk in der Raketenmontage Zwangsarbeit leisteten. Die Arbeit in der Rüstungsproduktion erforderte eine längere Anlernphase oder eine berufliche Qualifikation. In der Perspektive der SS galt es daher, die Arbeitskraft dieser Häftlinge zu erhalten. Sie erhielten bessere Kleidung und Verpflegung und waren zudem nicht in dem Maße der Arbeitshetze und den Gewaltexzessen der SS ausgesetzt wie ihre Mithäftlinge auf den Baustellen. Aber auch die Mittelwerk-Häftlinge machte die Zwangsarbeit in der unterirdischen Fabrik und das Leben im Konzentrationslager auf Dauer oftmals krank. Geschwächte Gefangene schob die SS daher, wenn sie in der Produktion nicht mehr zu gebrauchen schienen, auf die Baustellen in der Umgebung ab, wo die Bedingungen ungleich härter waren. Hier starben Häftlinge aus purer Erschöpfung während der Arbeit und Misshandlungen durch die Bewacher gehörten zum Alltag. Nicht nur im Mittelwerk, sondern auch auf den Baustellen wurden Häftlinge öffentlich an ihren Arbeitsplätzen unter Anwesenheit des deutschen
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Zivilpersonals hingerichtet. Die hier tätigen Bauingenieure und Bauleiter wussten um die mörderischen Arbeitsbedingungen der Häftlinge; Kritik an der Ausbeutung der KZ-Zwangsarbeiter wurde aber, wenn überhaupt, nur dann laut, wenn projektierte Bauziele nicht erreicht werden konnten.
2.6 Kriegsende Die militärische Forschungseinrichung in Peenemünde hatte auch nach Verlagerung der Serienfertigung der A4-Rakete in die Stollenanlage bei Nordhausen noch 5000 Mitarbeiter. Die Techniker und Wissenschaftler, die hier tätig waren, genossen weiterhin etliche Privilegien und selbst jetzt war es noch möglich, die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten fortzusetzen. Die Mitglieder des Raketenteams wurden in den letzten Kriegsmonaten zu einer verschworenen Gemeinschaft, die davon überzeugt war, an einer technischen Meisterleistung zu arbeiten. Ende Januar 1945 ordnete Hans Kammler die Evakuierung des Raketenzentrums auf der Halbinsel Usedom in die Südharzregion an. Hier, in der „Festung Harz“, beabsichtigte die NS-Führung ein Raketen- und Rüstungszentrum einzurichten, das unter der Bezeichung „Entwicklungsgemeinschaft Mittelbau“ rund 30 Firmen umfassen sollte, die an der Entwicklung von Raketenwaffen beteiligt waren. Diese Planungen blieben eine völlig realitätsferne Fiktion. Angesichts des Vorrückens der alliierten Truppen ließ Kammler Anfang April 1945 eine Gruppe von etwa 500 Ingenieuren und Technikern um Wernher von Braun und Walter Dornberger in die bayerischen Alpen verbringen, wo sie unter die Aufsicht der SS gestellt wurden. In einer Kaserne in Oberammergau untergebracht, konnten sie hier fernab von militärischen Kampfhandlungen dem Kriegsende entgegensehen. Von Braun, sein Bruder Magnus und Dornberger waren in einem Hotel untergebracht, wo sie auch jetzt noch in den Genuss aller Annehmlichkeiten kamen.8
8Johannes
Weyer: Wernher von Braun. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999. S. 76 f.
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Zur gleichen Zeit trieb die SS nach Räumung der Mittelbau-Lager Tausende kranke und ausgezehrte Häftlinge auf Todesmärschen über den Harz oder transportierte sie in überfüllten Eisenbahnwagons in andere Konzentrationslager. Nach Bekanntwerden von Hitlers Tod Anfang Mai 1945 nahm von Braun Kontakt mit den US-amerikanischen Truppen auf, um die Kapitulation der Peenemünder Wissenschaftler anzubieten (Abb. 2.3). Wenige Monate später trafen Wernher von Braun und seine Mitarbeiter in Fort Bliss in Texas ein, wo sie in den folgenden Jahren im
Abb. 2.3 Walter Dornberger und Wernher von Braun nach der Kapitulation der Peenemünder Wissenschaftler, 2. Mai 1945. Der Armbruch Wernher von Brauns war Folge eines Autounfalls (National Archives, Washington)
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Auftrag der US-Armee Raketenwaffen entwickelten. Dem Chefkonstrukteur der „Vergeltungswaffe“ und seinen Kollegen war es dank ihrer opportunistischen Grundeinstellung gelungen, die Zäsur von 1945 zu überstehen, ohne persönlichen Schaden zu nehmen. Wernher von Braun hatte sich mit der NS-Diktatur arrangieren können, da ihm berufliche Anerkennung, materieller Zugewinn und persönliche Vorteile zuteil wurden. Er hatte in seinem bisherigen Berufsleben Raketenwaffen für das nationalsozialistische Deutschland entwickelt und konnte seine Karriere nun ungebrochen in den Vereinigten Staaten fortsetzen. Nicht nur die USA und Großbritannien machten sich nach Kriegsende das Know-how der deutschen Raketeningenieure zunutze, auch die sowjetische Regierung sicherte sich ihre Dienste und profitierte vom Technologietransfer: Das sowjetische Militär ließ mehrere hundert Ingenieure und Fachleute um Helmut Göttrup, der in Peenemünde im Team um Wernher von Braun tätig gewesen war, zunächst in Bleicherode bei Nordhausen und später in der Sowjetunion eine A4-Rakete rekonstruieren.
2.7 Prozesse und Karrieren Die meisten Rüstungsmanager und Ingenieure, die sich bereitwillig in den Dienst der Nationalsozialisten gestellt und den Einsatz von KZ-Zwangsarbeitern in der Rüstungsproduktion befürwortet und vorangetrieben hatten, mussten sich nach dem Krieg nicht vor einem Gericht verantworten. Walter Dornberger, der sich zusammen mit Wernher von Braun den Amerikanern gestellt hatte, wurde zunächst an Großbritannien ausgeliefert. Die Anklage gegen ihn wegen des Einsatzes der „Vergeltungswaffen“ gegen England wurde jedoch wenig später fallen gelassen. Dornberger emigrierte in die USA, wo er weiter an militärischen Raketenprojekten arbeitete. Georg Rickhey, der ehemalige Generaldirektor der Mittelwerke, musste sich 1947 vor einem US-amerikanischen Militärgericht in Dachau verantworten. Die Richter sprachen ihn aus Mangel an Beweisen frei. Arthur Rudolph, der frühere Betriebsdirektor für die Raketenmontage im Mittelwerk und mitverantwortlich für den Häftlingseinsatz, wurde juristisch nicht belangt. Er
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wanderte in die USA aus, wo er bis zum Direktor des Entwicklungsprogrammes für die Saturn-V-Rakete aufstieg. Erst 1982 leiteten die US-amerikanischen Behörden ein Ausbürgerungsverfahren gegen Arthur Rudolph wegen seiner NS-Vergangenheit ein. Er zog nach Hamburg, wo zunächst ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet, dann aber eingestellt wurde. Wernher von Braun musste sich nicht vor einem Gericht verantworten. Die fehlende juristische Aufarbeitung nach Kriegsende war nur vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges möglich, der das Interesse des Militärs an rüstungswichtigen Technologien vor die strafrechtliche Ahndung von NS-Verbrechen stellte. Die Techniker des Raketenprogramms setzten sich mit ihrer NS-Vergangenheit meist nicht auseinander. Der Einsatz von KZ-Zwangsarbeitern wurde lange geleugnet oder als notwendiges Übel verharmlost. Die Verantwortlichen reduzierten ihre Tätigkeit auf die technische Herausforderung und blendeten die moralischethische Dimension ihres Handelns aus. Die Fachleute lösten damit das Raketenprojekt – die Entwicklung und Produktion einer Massenvernichtungswaffe – aus dem politischen Kontext heraus, dem es seine Realisierung verdankte. Anfang der 1950er Jahre erschien Walter Dornbergers Buch „V2 – Der Schuss ins Weltall. Geschichte einer großen Erfindung“. Diese Sichtweise festigte sich, als 1969 im Rahmen der Mission Apollo 11 die ersten Menschen den Mond betraten. Artikel in der Bunten Illustrierten wie „Wernher von Braun: Sturm zu den Sternen“ wurden von einer breiten bundesrepublikanischen Öffentlichkeit wohlwollend rezipiert. Dabei geriet aus dem Blick, dass die Forschungsarbeit des Teams um Wernher von Braun in den USA auch nach 1945 zunächst ausschließlich militärischen Zwecken gedient hatte. 1982 regte der Berliner Senat an, den städtischen Flughafen Tegel nach Wernher von Braun zu benennen. Die Namensgebung konnte durch den scharfen Protest des französischen KZ-Überlebenden Bernard D’Astorg verhindert werden, der mittlerweile als Stadtkommandant im französischen Sektor von Berlin amtierte. General D’Astorg hatte als Häftling die grausamen Arbeits- und Lebensbedingungen im KZ Mittelbau-Dora eigens erlebt und war Zeuge des Massensterbens seiner Mithäftlinge geworden.
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In der Perspektive der Ingenieure und Wissenschaftler, die in Peenemünde und später in den USA Raketenwaffen entwickelt hatten, war die sogenannte Vergeltungswaffe der erste Schritt der Menschheit in den Weltraum. Noch Anfang der 1990er gründete sich ein Verein „ehemaliger Peenemünder“, der sich für den Aufbau eines Historisch-Technischen Museums Peenemünde als „Geburtsort der Raumfahrt“ stark machte.9 Diese Interpretation überhöhte die Leistungen der Peenemünder Fachleute bezogen auf einen vermeintlichen technischen Fortschritt, der auf der Ausbeutung und dem tausendfachen Tod von KZ-Häftlingen in der A4-Raketenproduktion und bei der Untertageverlagerung der Produktionsstätten fußte. Regine Heubaum studierte Neue Geschichte und Russisch an der Freien Universität Berlin und promovierte 2001 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2013 bis 2020 war sie Leiterin der Dokumentationsstelle der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora und seit 2004 auch stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte. Sie publizierte zur Geschichte des KZ Mittelbau-Dora sowie zu erinnerungspolitischen und regionalgeschichtlichen Themen. Als Historikerin arbeitete sie an zahlreichen Ausstellungen der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora mit.
9Raketenpost.
Halbjährlich erscheinende Schrift des Vereins „Förderung und Aufbau eines Historisch-Technischen Museums Peenemünde – Geburtsort der Raumfahrt“. Sieger-Verlag: Lorch/Württemberg 1993.
3 Dürfen wir (immer, alles), was wir können? Für eine Diskursethik der Ingenieurwissenschaften Ernest W. B. Hess-Lüttich
Zusammenfassung Die Zukunft der Industriegesellschaften hängt nicht zuletzt auch von den technischen Entwicklungen in den Ingenieurund Technikwissenschaften ab. Die ihnen daraus erwachsende soziale und ethische Verantwortung wird freilich fachintern nicht systematisch reflektiert. In ingenieur- bzw. technikwissenschaftlichen Curricula werden ethische Fragen kaum aufgeworfen, geschweige denn beantwortet. Wohin wird uns die Entwicklung des technisch Machbaren führen, wenn es den verantwortlich handelnden Ingenieurwissenschaftlern an ethischem Grundverständnis mangelt? Anlässlich der Erinnerung an ethisches Fehlverhalten verantwortlicher Ingenieure im Dritten Reich sucht der Beitrag (mit Blick auf einschlägige Berufscodices) den Bedarf einer Angewandten Ethik für Ingenieure, Techniker und Naturwissenschaftler durch eine begriffshistorische und -systematische Explikation des Ethikdiskurses in der Klassischen Rhetorik und Philosophiegeschichte zu
E. W. B. Hess-Lüttich (*) Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_3
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untermauern, wobei er unter dem Eindruck der aktuellen Entwicklung in der digitalisierten Mediengesellschaft und des Zusammenhangs von Ethos (ἦθος) und Sprache für einen diskursethischen Ansatz plädiert und diesen für die genannten Anwendungsfelder fruchtbar zu machen sucht. Vor dem in kritischer Auseinandersetzung mit den Diskussionen in der Technikfolgenforschung exponierten Hintergrund erinnert der Beitrag zum Ausklang und zur Anregung eigener Lektüre an klassische Beispiele literarischer Problematisierung ethischer Dilemmata bei technischen Problemlösungen. Abstract The future of industrial societies depends not least on technical developments in science, technology, and engineering. However, the social and ethical responsibility that arises from these developments is not systematically reflected within the disciplines. Ethical questions are hardly ever raised, let alone answered, in engineering curricula or technical studies. Where will the development of what is technically feasible lead us if the responsible engineers lack a basic ethical understanding? Motivated by the remembrance of ethical misconduct of engineers in the Third Reich, the article seeks to underpin the need for an applied ethics for engineers, technicians and natural scientists with a historical and systematic explication of the ethics discourse in classical rhetoric and the history of philosophy. Under the impression of current developments in the digitalised media society and the connection between ethos (ἦθος) and language, the paper pleads for a discourse-ethical approach and seeks to make this fruitful for the fields of application mentioned. Against the background of current research on technology impact, the article ends with a look at some classical examples of the literary depiction of ethical dilemmas in technical solutions, hoping to stimulate further reading in the arts and sciences. Schlüsselwörter Ethos · Angewandte Ethik · Diskursethik · Inge nieurwissenschaften · Naturwissenschaften · Technikfolgenabschätzung · Literatur und Technik; Aristoteles · Kant · Habermas · Ungeheuer
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Keywords Ethos · applied ethics · discourse ethics · engineering sciences · natural sciences · technology assessment · literature and technology; Aristoteles · Kant · Habermas · Ungeheuer
3.1 Tödliche Technologie Ingenieure lösen Probleme. Für ‚Ethik‘ seien sie nicht zuständig, sagen viele. Ethik: das sei etwas für Philosophen oder Theologen, vielleicht auch (soweit es Rendite verspricht) für Werbeleute und PR-Abteilungen, aber nicht für nüchterne Techniker, die mit Zahlen zu tun haben, mit Messungen, mit Daten und Fakten, mit Aufträgen und deren Erfüllung, mit Bedarfsnachfragen und wirtschaftlichen Zwängen. Der Ingenieur will die Verbesserung des Lebens durch technischen Fortschritt. Das gelang und gelingt ihm auch immer wieder in beeindruckender Weise, auch in Deutschland, wo das Telefon erfunden (Johann Philipp Reis 1861) und das erste Auto mit Verbrennungsmotor gebaut wurde (Carl Benz 1886), das erste Motorrad (Gottlieb Daimler 1885), die erste praxistaugliche Elektro-Lokomotive (Werner v. Siemens 1879), das erste Gleitflugzeug (Otto Lilienthal 1891), die erste Farbbildröhre (Werner Flechsig 1938), der erste elektrisch beheizte Leichenverbrennungsofen (Topf & Söhne 1927). Von ihm wird noch die Rede sein. Das ist alles – und die Liste ließe sich noch lange fortsetzen – schon eine Weile her, aber trotzdem gilt nach wie vor: Nicht zuletzt dem Können der Ingenieure verdanken wir unseren heutigen Lebensstandard. Der Ruf hat ein wenig gelitten in jüngster Zeit. Deshalb widmete die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit ein Dossier der (nur auf den ersten Blick) schlichten Frage: „Was kann der deutsche Ingenieur?“ (Die Zeit 41 v. 04.10.2018: 15–17). Nun, was er kann, wird auch gemacht. Dass mit dem technologischen Können womöglich auch eine moralische Verantwortung einhergeht, wird deutschen Ingenieuren in ihrer Ausbildung bis heute nicht intensiv und systematisch genug vermittelt, obwohl keine Woche vergeht, ohne dass die Zeitungen oder die Fernsehnachrichten im Zusammenhang mit vermeintlichen technologischen Errungenschaften irgendwo ein Versagen, einen Betrug, einen Skandal vermelden.
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Dass freilich ethisches Bewusstsein auch in der Alltagspraxis von Ingenieurbüros kaum eine Rolle spielt, scheint angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen praktisch alle ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen stehen, denn doch einigermaßen überraschend: Geotechniker prüfen gemäß politischen Vorgaben riskante Möglichkeiten der Endlagerung von Kernbrennstoffen für einige hunderttausend Jahre, Maschinenbauingenieure helfen das Ausmaß von Schadstoffemissionen zu verschleiern und deren Messung zu manipulieren, Verkehrstechniker optimieren das ,autonome Fahren‘ ohne vorherige Beantwortung der Frage nach der Verantwortung der Technik für Unfälle, Bioingenieure entwickeln Gen-Scheren mit weitreichenden Selektionspotentialen, Hydrologen und Agraringenieure bieten bei der Versorgung der Weltbevölkerung mit Wasser und Nahrung Hand zu ökonomischen Verwertungsketten und Zugangsentscheidungen, Informatiker vernetzen ,intelligente‘ Sprachassistenzmaschinen zur ökonomischen Auswertung von Verhaltensprofilen, die chinesische Staats- und Parteileitung nutzt künstliche Intelligenz in Verbindung mit Big Data für ihre Vision des gläsernen Bürgers, eine chinesische Version von Orwells 1984 zur flächendeckenden Überwachung der ‚Untertanen‘ – auch diese Liste ließe sich mühelos fortsetzen. Ein wesentliches Motiv meiner Bereitschaft als vollkommen fachfremder Germanist und Diskursforscher zur Mitwirkung an diesem Band zur Ethik in den Ingenieurwissenschaften war die Lektüre des in seiner sachlichen Lakonie umso bedrückenderen Auftaktbeitrags von Annegret Schüle und Rebekka Schubert (2020) zu diesem Thema. Er bietet anhand eines historischen Beispiels die akribische Rekonstruktion des abschüssigen Weges in die direkte Mitverantwortung für menschenverachtend unethisches Handeln durch vermeintlich rein technische Leistung. Der industriell betriebene Massenmord an Millionen Menschen mit Hilfe des Insektenvertilgungsmittels Zyklon B hatte die SS vor gewisse technische Probleme der Be- und Entlüftung der Gaskammern (zwecks schnellerer ‚Nutzungsrotation‘) und der kostengünstigen, Brennstoff sparenden und möglichst spurlosen Entsorgung der in kurzer Zeit anfallenden großen Zahl von Leichen gestellt. Die Ingenieure der seinerzeit im Ofengeschäft marktführenden Erfurter Traditionsfirma Topf & Söhne konnten helfen, diese Probleme mit der
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Massenvernichtung von Menschen effizient zu lösen. Und sie wussten, was sie taten. Denn die Entwicklung des durch den leitenden Ingenieur Fritz Sander mit Schreiben v. 26.10.1942 zum Patent angemeldeten „Kontinuierlich arbeitenden Leichen-Verbrennungsofen für Massenbetrieb“ (Abb. 3.1) setzte ebenso wie die neuartige Entlüftungstechnik zur ‚Optimierung der Erstickungsrate‘ die genaue Beobachtung des Tötungsprozesses im Fließbandverfahren voraus. Seine Erfahrungen und die seiner Kollegen Kurt Prüfer oder Karl Schultze flossen in die Entwicklung der Anlagen ein und erlaubten deren weitere Perfektionierung. Sie handelten nicht unter Zwang oder auf Befehl, sondern dienten den Machthabern ihre technische Expertise an. Weil sie es konnten. In ihren Öfen sollten rückstandslos Millionen Menschen brennen, als „Schutzhäftlinge“ gezeichnet und gekennzeichnet, Juden vor allem, aber auch Homosexuelle, Behinderte, Bibelforscher, Bettler, Ausländer, Sinti und Roma – penibel sortiert zuvor in bürokratischen Etikettierungslisten und zur Vernichtung freigegeben (Abb. 3.2).
Abb. 3.1 Patentanmeldung (mit freundlicher Genehmigung © Bundesarchiv Berlin Dahlwitz-Hoppegarten, BArch DO 1/ vorl. Dok K 562-1, Bl. 135.).
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Abb. 3.2 Kennzeichen für Schutzhäftlinge (United States Holocaust Memorial Museum, gemeinfrei).
Nach dem Krieg bekannten sich weder die Firmenleitung noch die Entwicklungsingenieure zu ihrer Verantwortung. In der DDR galt in dem nunmehr volkseigenen Betrieb dann die Sprachregelung, die kapitalistischen vormaligen Eigentümer seien schuld. Eine Aufarbeitung
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unterblieb. Erst seit 2018 dokumentiert ein umfangreicher Katalog zur von Annegret Schüle kuratierten Wanderausstellung über die Fa. Topf & Söhne akribisch den Beitrag der Industrie zum Holocaust am Beispiel der „Ofenbauer von Auschwitz“ (Schüle ed. 2018; s. auch Schüle s.u. Lit.verz.).
3.2 Ethik, Rhetorik und Diskurs Nur am Rande wird dabei eine Frage aufgeworfen, die den Germanisten und Diskursforscher ebenfalls interessiert, nämlich die nach den Bedingungen der Möglichkeit des Sprechens über jenes Grauen, das den Durchschnittsmenschen mit einigermaßen intaktem Moralempfinden eigentlich verstummen lassen müsste. Wie verschleiert man als Mit-Täter das industriell organisierte Morden vor dem Bürger, welchen Ausweg bietet diesem die Sprache, nicht so genau hinsehen zu müssen? Welche zynisch camouflierenden Euphemismus-Strategien in den ‚Sprachregelungen‘ der NSDAP und ihrer Untergliederungen erlaubten ihm, später zu sagen: „Wir haben ja nichts gewusst“? Was genau verband er mit Wörtern wie ‚Arbeitsdienst‘, ‚Sonderbehandlung‘, ‚Endlösung‘? Indem die erwähnten Ingenieure der Fa. Topf & Söhne, keineswegs glühende Anhänger des Nationalsozialismus oder sonstwie fanatische Ideologen, ihre Mitwirkung am Massenmord in geschäftsmäßigem Tone als ingenieurtechnische Herausforderung beschrieben, und indem sie, wie Rebekka Schubert und Annegret Schüle zu Recht resümieren, mit technizistischen Ausdrücken wie ‚Leistungssteigerung‘ (der Verbrennungskapazitäten), ‚Stückzahlerhöhung‘ (von Leichen) oder ‚Einäscherungsobjekten‘ (Leichenteilen) „davon abstrahierten, dass es sich um ermordete Menschen handelte, konnten sie die Auseinandersetzung auf der Ebene technischer Fragen führen“ (Schüle & Schubert 2020, in diesem Band, S. 30). Das schleichende Gift der Lingua tertii imperii hat der Romanist Victor Klemperer seinerzeit so präzise wie eindringlich beschrieben (Klemperer 2018). Die beklemmende Aktualität dieses Notizbuchs eines Philologen, das eigentlich in den Unterricht einer jeden deutschen Schule gehörte, ermisst mit bangem Unbehagen, wer in diesen Tagen
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den Reden von manchen Rechtspopulisten lauscht. Die Sprachwissenschaftler Thomas Niehr und Jana Reissen-Kosch widmen unter dem Titel Volkes Stimme? ihr jüngstes Buch der Sprache des Rechtpopulismus und liefern darin zahllose Beispiele dafür, wie Parlamentarier der AfD mit kalkulierten sprachlichen Tabuverletzungen Tag für Tag die Grenzen dessen verschieben, „was man doch noch mal wird sagen dürfen“ (cf. Wolfgang Thierse in seinem Vorwort zu Niehr & ReissenKosch 2019, S. 7). Der Linguist Josef Klein, der seit Jahrzehnten das Zusammenwirken von Sprache und Politik erforscht, beschreibt im fünften Kapitel seines aktuellen Buches (Politik und Rhetorik) das Verhältnis von „Ethik und politischer Rhetorik“, dessen Bedeutung heute im öffentlichen Diskurs über komplexe technologische Entwicklungen eine neue Brisanz gewinnt (Klein 2019). Der Politikwissenschaftler Steffen Kailitz verdeutlicht dies im Dezember 2019 in seinem pointierten Spiegel-Essay über die Ähnlichkeiten in der Rhetorik rechtspopulistischer Funktionsträger mit den sprachlichen Tricks der Nazis sowie zwischen deren Parteiprogrammen und den Forderungen der AfD anhand einer Fülle von Beispielen (Kailitz 2019, S. 34–35). Sie verstärken den Eindruck von kritischen Beobachtern unserer gesellschaftlichen Entwicklung in den Sozialwissenschaften, dass es Teilen der Bevölkerung wieder an historischer Verantwortung, ethischer Orientierung und sprachlicher Mäßigung gebricht. Dies belegen in erschreckendem Maße auch die empirischen Befunde der Antisemitismusforschung, die einen alarmierenden Anstieg antisemitisch motivierter Straftaten meldet, die von einer überlasteten Justiz nur unzureichend geahndet werden. Ihren sprachlichen Niederschlag findet diese Entwicklung in sozialen Netzen, in denen enthemmte Nutzer aller zivilen Schranken ledig ihre hasserfüllten Botschaften (hate speech) vomitieren (cf. Schwarz-Friesel 2019 zu deren linguistischer Analyse). Immer wenn die Maßstäbe sittlichen Verhaltens strittig sind oder infrage gestellt werden, bedarf es einer stets neuen Vergewisserung der Normen und Richtwerte einer Zivilgesellschaft, die individuelles Handeln leiten im Interesse des Gemeinwohls unter sich historisch verändernden Bedingungen. Deshalb ist es weder trivial noch unzulässig, die Brücke zu schlagen vom Sprachgebrauch unter den Bedingungen der Diktatur, die ohne Mitläufer und Handlanger und Wegseher in
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kritischer Zahl kaum errichtet werden könnte, und dem Sprachgebrauch jener Verächter unserer Demokratie, die den Demos durch einen fiktiven Ethnos zu ersetzen streben. Weil damit der weitere Horizont unserer Fragestellung erkennbar wird, sei ihre theoretische Grundlage in hier gebotener Kürze begriffshistorisch und -systematisch hergeleitet. „An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen“, lautete der zum geflügelten Wort avancierte Titel eines Aufsatzes, den Hans Jacob 1938 in einer Exilzeitschrift veröffentlichen konnte (Jacob 1938, S. 81–86). Es ist ein seit der Antike geläufiger Topos: er geht wohl auf ein Fragment aus den Gnomai Monostichoi des Menander (Fr. 66 K.-Th.: cf. Steinmetz 2000, S. 133) zurück und ist in Anlehnung an Platon (Charmides 160 d-e, [Platon 1922, S. 30]) in kanonischer Form von Madauros überliefert (loquere, ut te videam/Sprich, damit ich dich sehe), wurde von Ben Jonson (1572–1637) in einem berühmt gewordenen Diktum wieder aufgegriffen (language must shews a man: speake that I may see thee) und hat in seinen ungezählten Varianten von Erasmus über Lichtenberg bis heute nichts von seiner Aktualität verloren. Deshalb wird eine Diskursethik ihren Ausgang von der Sprache nehmen – zumal gerade unter dem Eindruck der gegenwärtig in den Internet-Foren nicht selten emotional überhitzten Debatten interessant ist, dass bereits in der Antike der Begriff des Ethos auch auf die Sprache übertragen wurde und in Gestalt des rhetorischen Ethos das affectus-Merkmal maßvollen Redens und Schreibens mit-meint. Wie ein roter Faden zieht sich die Verbindung von ‚gutem Charakter‘ und glaubwürdiger Rede durch die Philosophiegeschichte ebenso wie die Geschichte der Rhetorik (cf. Robling et al. 1994). Bereits Aristoteles übernimmt die Trias von Weisheit, Tugend und gutem Willen als Bedingungen überzeugender Wirksamkeit argumentierenden Sprechens aus der Tradition (Arist. Rhet. II, 1 1378a6-19; cf. dt. Aristoteles [2018]; Wörner 1990), die u. a. auch Quintilian in seiner Institutio oratoria wieder aufgreift und damit die weitere Entwicklung in der Renaissance und im Humanismus nachhaltig prägt. Noch Immanuel Kant setzt beim rhetorischen Ethos auf die Verbindung von Tugend, Klugheit und Mäßigung des Affektes und schlägt (womöglich unter dem Einfluss von Lessing) die Brücke zur Poetologie, die im 18. Jh. das semantische Spektrum des Ethos (Charakter, Gesinnung, Affekt)
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ausschöpft und das römische vir bonus-Ideal mit dem aptum-Postulat angemessenen Sprachgebrauchs verknüpft (Ethopoeia), was uns zum Schluss noch kurz zu der Frage führen wird, ob und (wenn ja, wie) auch die Poesie und sog. Schöne Literatur (belles lettres) sich des Themas angenommen habe (s. u. Abs. 4). Es ist hier natürlich nicht der Ort, diese mehr als zweitausendjährige Tradition mit allzu grobem Strich nachzuzeichnen (s. dazu die knappe Übersicht von Robling et al. 1994), aber es fällt schon auf, dass sie in den populären Redelehren der Gegenwart kaum mehr gegenwärtig scheint (cf. Hess-Lüttich 1994), was abermals ein bezeichnendes Licht auf die verbreitete Beobachtung wirft, in den heftigsten Disputen der sog. sozialen Medien gehe oft ein Mangel an Anstand und Empathie mit sprachlicher Verrohung einher. Umso wichtiger, dass die Menschen als Personen, d. h. als soziale Subjekte und hypothetisch Handelnde, sich verständigen über die Regeln ihres Zusammenlebens und die Maximen ihres Handelns in Gesellschaften. Wenn ihr Handeln ein ethisches sein soll, muss es gegenüber dem/den Anderen zu begründen und zu rechtfertigen sein. Im Unterschied zu den antiken Tugendlehren fragen die modernen Handlungsethiken nach den Kriterien ‚guten Handelns‘. Während der teleologische Ansatz das Kriterium guten Handelns in seinem Nutzen für die von diesem Handeln Betroffenen sucht, richtet der deontologische Ansatz sein Augenmerk auf die innere Einstellung des Handelnden selbst. Kants „Kategorischer Imperativ“ ist der Prototyp dieses Ansatzes: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Kant 1975: 140 = KpV § 7; cf. hierzu ausführlich Höffe 2004, S. 173–207). Beiden Ansätzen wohnen eine Reihe von Problemen inne: Walter Schweidler diskutiert bei dem einen u. a. Probleme der Folgenabschätzung, der Abgrenzung des Kreises der Betroffenen, der Kontingenz und Berechnung, bei dem anderen solche des Rigorismus, der Abstraktheit und der Definition handlungsorientierender Voraussetzungen (Schweidler 2018, S. 46–52). Unbeschadet dieser Probleme kann und darf die Verantwortung der Ingenieure für ihr Handeln nicht wirtschaftlichen Zwängen im Dienste des technisch Machbaren, ökonomisch Wünschbaren oder gar ökologisch Empfohlenen (wie z. B. Atomkraftwerke, die von deren
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Apologeten immer wieder als im Verhältnis zu Kohlekraftwerken vergleichsweise ‚sauber‘ gepriesen werden) unterworfen werden, zumal (aber nicht nur) in den modernen Industriegesellschaften. Um dieser Verantwortung ein normatives Fundament zu verleihen und dafür ein diskursives Programm zu entwickeln, dürfte das Vertrauen Immanuel Kants in die „Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart“ (Kant 1975: 300 = KpV, Beschluß, II 205) kaum ausreichen, wenn wir uns manche Persönlichkeiten in den Chefetagen der Industrie- und Finanzwirtschaft betrachten.
3.3 Kritische und Angewandte Diskursethik Deshalb beschränken sich neuere (sog. ‚postkonventionelle‘) Ansätze lieber auf die Formulierung von Verfahrensregeln zur Aushandlung von Bedingungen gesellschaftlicher Verfasstheit als auf die Bestimmung von Konventionen. Nach der Systemethik (Niklas Luhmann) orientieren sich soziale Subjekte an Codierungen funktionalen Handelns, ohne jedoch die Bedingungen für Systemstabilität selbst erklären zu können (cf. Luhmann 2008). Nach der Vertragsethik (John Rawls) beruht diese auf einem Vertragsschluss zwischen freien und gleichen Partnern, ohne jedoch die Voraussetzungen dafür anders als utilitaristisch bzw. ökonomisch bestimmen zu können (cf. Rawls 1999). In der Diskursethik (Karl-Otto Apel, Jürgen Habermas) wird das ‚rationale Gespräch‘ zum Medium der argumentativen Verständigung über Geltungsansprüche deskriptiver Wahrheit, normativer Richtigkeit und expressiver Wahrhaftigkeit, ohne freilich die Differenz zwischen idealem und realem Diskurs überwinden zu können (Habermas 1983, S. 53–125). Habermas’ Diskursethik transformiert Kants Pflichtethik gleichsam in einen dialogischen Prozess, wobei Habermas die Voraussetzung einer kontrafaktisch ‚idealen Sprechsituation‘, an der sich seinerzeit mancherlei Kritik entzündete (auch meine eigene, wenn auch aus empirisch-linguistischem, nicht moralphilosophischem Interesse: cf. Hess-Lüttich 1981, s. dort auch zu Luhmann), inzwischen ebenso relativiert wie die konsenstheoretischen Prämissen
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der Wahrheitsfindung und stattdessen einem realistischeren Verständnis der Spannung von normativen Handlungsgründen und deren pragmatischer Rechtfertigung zuneigt (cf. Seel 2019, S. 35). Denn in der kontrafaktischen Unterstellung einer ‚idealen Sprechsituation‘ für die Verständigung über Maximen des Handelns in der und für die Gesellschaft beschränkt sich die Problematisierung von Geltungsansprüchen zwar, wie gesagt, nicht nur auf die Wahrheit von Äußerungen, sondern auch auf deren Wahrhaftigkeit und an der Realität prüfbaren Richtigkeit. Aber die Richtigkeit von Handlungsnormen zu ratifizieren setzt ein Verfahren voraus, mittels dessen sich die Diskursteilnehmer auf die Geltung von Normen verständigen können. Für Habermas ist das der argumentativ-rationale Dialog, für Apel (1999) das ‚Apriori der Kommunikationsgemeinschaft‘ als Bedingung der Möglichkeit von Argumentation. Beiden ist durchaus bewusst, dass das dialektische Problem der doppelten Voraussetzung der idealen in der realen Kommunikationsgemeinschaft, von der man zugleich weiß, dass sie der idealen nicht entspricht, die Akzeptanz von Verfahrensregeln zur Prüfung vorgetragener Geltungsansprüche präsupponiert. Davon kann aber in Zeiten ‚alternativer Fakten‘ und einander widersprechender oder gar ausschließender Wirklichkeitswahrnehmungen keineswegs mehr sicher ausgegangen werden. Hier stehen im ethnomethodologischen Sinne ‚Basisregeln der Interaktion‘ zur Disposition und damit letztlich die Möglichkeit vernünftiger Verständigung überhaupt. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns skizziert Habermas (1981) bereits die Bedingungen für die Formulierung von prozeduralen Regeln für die rationale Diskussion über strittige Geltungsansprüche mit dem Ziel des allseits akzeptierten Konsensus’ über das in spezifischer Konstellation jeweils überzeugendste Argument, was freilich den gemeinsamen Willen konsensueller Entscheidungsfindung unterstellt. Die theoretisch komplexe Unterstellungsstruktur des Ansatzes ist zugleich seine empirische Schwäche: so wie es die ‚ideale Sprechsituation‘ in der Praxis ebenso wenig gibt wie die unterstellte Symmetrie der (‚freien und gleichen‘) Kontrahenten, so selten sind die ‚reine‘ Verständigungsorientierung argumentativer Rechtfertigung (die frei ist von strategischen oder manipulativen Nebenzwecken) und die vorbehaltlose Einigung über die je geltenden Antecedens-Bedingungen des
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Arguments, die sich mit den sich wandelnden ‚Umständen‘ mitunter sehr schnell ändern können, weshalb es einer Revisionsklausel bedarf, die festlegt, unter welchen Voraussetzungen bereits getroffene Entscheidungen revidiert werden können. Überdies wäre ein gestaffeltes Repräsentationssystem vorzusehen, wenn die Entscheidungen größere Kollektive (Interessengruppen, Gemeinden, Länder usw.) betreffen und nicht alle daran Beteiligten bzw. davon Betroffenen zugleich Diskursteilnehmer sein können (cf. Porsché 2014, S. 105). Selbst das garantiert keineswegs, dass eine potentielle Kakophonie der Stimmen beteiligter bzw. betroffener Akteure überhaupt zu einem konsensorientierten Dialog zusammengeführt werden kann, in dem über öffentliche und private Prämissen und Interessen, über soziale, technische, ökonomische Zielsetzungen annähernd rational zu verhandeln wäre. Ein solches kollaborativ orientiertes Dialogmanagement müsste – wie ich am Beispiel urbaner Planungsprozesse (in der anhaltenden Debatte über die Randbebauung des Tempelhofer Feldes) zu zeigen versucht habe (Hess-Lüttich 2017) – zudem jederzeit den Zusammenhang von Machtkonstellationen, Interessenlagen und Planungsdesideraten im Blick behalten, eben weil die vorausgesetzte Unterstellung einer Symmetriekonstellation der Diskurspartner in der Praxis eben Fiktion ist. Und was passiert, wenn die Diskurspartner nicht nur kontroverse Positionen zu gemeinsam definierten Sachverhalten zu verhandeln haben, sie also nicht nur unterschiedliche Interessen vertreten, sondern sie nicht einmal dieselben Wissensbestände und Wertorientierungen teilen, also ihre ‚Weltsicht‘, d. h. ihre Interpretation von Wirklichkeit differiert? Das führe dann nämlich nach Albrechts und Denayer (2001, S. 372; cf. Schiewer 2013, S. 203–219) dazu, dass […] public discourse suffers from the implicit divergence, because societies like ours have political mechanisms only for resolving conflicting interests, not for conflicting views of reality. Because the mechanisms for dealing with conflicting world-views, discourse communities are lacking (and because in discourse, we mainly stick to our own group and the language we ‘understand’), we only seldom notice that perceptions and not only interests in society differ markedly [Hervorh. v. mir, EHL].
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Wissenschaftlich optimal exakte Erhebung und Beschreibung von Daten und Fakten allein kann das zugrundeliegende Rechtfertigungsproblem also nicht lösen. Auch vermeintlich objektive Wirklichkeitswahrnehmung, auch naturwissenschaftliche Erkenntnis oder technische Problemlösung enthebt den jeweiligen Entscheidungsträger in konkreten Situationen oder konflikthaften Konstellationen nicht seiner subjektiven Verantwortung und Rechtfertigungspflicht. Der einstige Optimismus positivistischer Welterklärung ist längst einer skeptischen Pluralität der Sehweisen gewichen, aus der im Glücksfalle die Möglichkeit einer ‚rationalen‘ Einigung über Sachverhalte erwachsen kann (cf. Stegmüller 1969; Jonas 1979; Schweidler 2018, S. 89–96). In dieser Lage taugt das kontrafaktisch-normative Modell der Diskursethik demnach allenfalls als regulative Idee, an der sich faktische Diskurse messen lassen; es bedarf jedoch der empirischen Begründung, in deren (hier jetzt nicht zu leistenden) Ausarbeitung ich mich möglicherweise in der Tradition von Humboldt über Bühler und Schütz bis zu Berger und Luckmann an den Fragmenten der Kommunikationstheorie Gerold Ungeheuers orientieren würde. Dessen Ansatz, den ich vorläufig als ‚Skeptische Kommunikationspragmatik‘ etikettiere, stellt die „kruziale Fallibilität der Kommunikation“ (Ungeheuer 1987, S. 322) ebenso in Rechnung wie die impliziten Wissensbestände der Diskursteilnehmer, die sich aus einer Pluralität soziobiographisch heterogener Voraussetzungen speisen. Der im Rahmen Kritischer Diskursanalyse geschärfte Blick für Asymmetrien und das aufgrund von Impulsen der Historischen Semantik vertiefte Bewusstsein disparater Interessenlagen könnte für einen solchen Ansatz soziosemiotisch ebenso fruchtbar gemacht werden wie die Anregungen aus der konfliktlinguistischen Beschreibung der psychosozialen Prämissen von Emotionshaushalten und Bedingungsgefügen von Gruppenidentitätskonstruktionen (cf. Bendel Larcher 2015; Reisigl 2017; Kurilla 2019 [i. Vorb.]). Die Komplexität der dabei involvierten Interaktionsnetzwerke kann hier nur angedeutet werden, aber ihrer Veranschaulichung soll ein Beispiel aus der Praxis des ökologisch sensibilisierten Ingenieurs dienen, der den südafrikanischen ‚Day Zero‘ miterlebt hat, an dem im Western Cape 2018 das Wasser auszugehen drohte (s. Genske & Hess-Lüttich 2020, in diesem Band).
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Nun geht es dem Techniker oder dem Ingenieur aber nicht in erster Linie um wissenschaftliche Erklärung eines Sachverhalts, sondern um dessen Nutzen in der Anwendung auf Bedarfsfälle. Deshalb muss die diskursethische Auseinandersetzung mit normativen Ansprüchen und Erwartungen im Hinblick auf deren Funktion in sozialen Verantwortungsstrukturen präzisiert werden, also im Hinblick auf ein Berufsethos des Entscheidungsträgers. Diese ‚angewandte‘ Dimension der Diskursethik verlangt nicht nur die Begründung und Rechtfertigung des je spezifischen beruflichen Handelns, sondern auch dessen Folgen für Dritte bzw. davon Betroffene in Rechnung zu stellen. Gegenstand des Diskurses ist dann nicht allein die technische Zwecksetzung, sondern auch deren Orientierung an Normen und sozialen Richtwerten. Schweidler (2018, S. 98–99) nennt als „Kriterien der ethischen Beurteilung technischer Produkte“ Wirtschaftlichkeit, Wohlstandssteigerung, Sozialverträglichkeit, Umweltverträglichkeit und Sicherheit. Der Ingenieur muss also prüfen, ob sein technisches Handeln das Verhältnis von Nutzen und Aufwand rechtfertigt, ob es der Verbesserung des Lebensstandards dient und das Bruttosozialprodukt mehrt, ob es nach Maßgabe geltender Werte und gesetzlicher Vorgaben (Normenwerk) gesellschaftlich akzeptiert wird oder Konfliktpotentiale birgt, ob es die natürlichen und kulturellen Ressourcen des Lebensraumes zu beeinträchtigen droht und ob die Relation von Nutzen und Risiko plausibilisiert werden kann. Wenn etwa das Risiko eines technischen Systems als Produkt von Schadensumfang und Eintrittswahrscheinlichkeit (bzw. -häufigkeit) z. B. nicht mehr gegen Versagen, Missbrauch, Unfälle oder Angriffe versicherbar ist (wie bei Atomkraftwerken mit ihrem bislang ungelösten Problem der Endlagerung radioaktiver Abfälle oder dem durch Naturkatastrophen bzw. terroristische Zerstörung potentiell eintretenden Schadensumfang), wäre es fahrlässig, es ohne vorherige wissenschaftlich gesicherte Technikfolgenabschätzung zu implementieren. Zu der qualitativen Bewertung eines technischen Systems tritt die quantitative hinzu, wenn dessen Risikopotential durch seine progrediente Verbreitung steigt (Stichwort Entsorgungsproblem). Der Bewertungsmaßstab kann demnach in Abhängigkeit von solchen Kalkulationen variieren. In keinem Falle jedoch kann die individuelle
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Rechenschaftspflicht des Ingenieurs (an die Firma, den Chef, die Versicherung, die Gesellschaft) delegiert werden (cf. Hastedt 1994). Die Bedeutung dieser individuellen Pflicht ist aktueller denn je, wenn wir die jüngsten Debatten über Industrie- und Technik-Skandale in den Blick nehmen. Wenn sich Ingenieure von ihren Chefs, die vielleicht eher ihre Boni und Bilanzen im Blick haben als den oben zitierten Kriterienkatalog, z. B. dazu verpflichten lassen, ihre Kunden bei einem der in der Welt am weitesten verbreiteten Industrieprodukte überhaupt, dem Automobil, mit falschen Angaben und betrügerischer Software zu sedieren (Stichwort ‚Dieselskandal‘), dann bedarf es einer kritischen Diskursethik, die sie daran erinnert, sich immer zu fragen, ob sie, was sie (technisch) machen können, auch (moralisch) machen sollten, d. h. dass sie jene zugleich technologische und ethische Verantwortung übernehmen, an der es ihren Vorgesetzten möglicherweise gebricht. Damit wird die politische, ja demokratietheoretische Dimension des Desiderats erkennbar. Es geht „im Zeitalter des Neofeudalismus“, wie der prominente Frankfurter Philosoph Rainer Forst in der Zeit mahnt, um nichts weniger als die „Rückgewinnung demokratischer Kontrolle über wirtschaftliche Strukturen“ (Die Zeit 46 v. 08.11.2018: 48). Die alte Machtfrage der Foucault’schen Diskurstheorie stellt sich damit erneut und in neuer Weise, seit Künstliche Intelligenz und Digitalindustrie mit dem Versprechen vermeintlicher Effizienzsteigerung und Arbeitserleichterung qua Automatisierung zugleich globale Monopolansprüche verbinden. Insoweit hat die Münchner Philosophin Lisa Herzog recht, wenn sie in derselben Ausgabe der Zeit konstatiert, dass die nationale Politik daran zu scheitern im Begriffe sei, die „Märkte zum Wohle aller Gesellschaftsmitglieder zu gestalten“ (Die Zeit 46 v. 08.11.2018: 48). Den wirtschaftshistorischen Untersuchungen des Pariser Ökonomen Thomas Piketty zufolge nähert sich die soziale Asymmetrie (also die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen) in den westlichen Industriegesellschaften bekanntlich bereits wieder dem Stand des 19. Jahrhunderts (cf. Piketty 2016). Auch wenn seine Datengrundlage nicht ganz unumstritten ist, scheint dennoch das ‚Gefühl‘ verbreitet, es bedürfe einer Neujustierung der Balance zwischen Technologie, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, weil andernfalls der
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soziale Zusammenhalt brüchig zu werden drohe und die sich daraus wiederum ergebenden politischen Folgen (zumindest in den demokratischen Gesellschaften) schwer kalkulierbar würden. Dies leitet aber direkt wieder zurück zum diskursethischen Verlass auf das emanzipatorische Potential der Sprache, mit deren Struktur nach Habermas (1968a; id. 1981) ‚Mündigkeit‘ bereits gesetzt sei. Sie eröffne damit zugleich, als nicht nur semantisch denotative und pragmatisch geltungsorientierte, sondern eben auch ‚welterschließend‘ kreative Kraft, die Möglichkeit des Entwurfs einer prinzipiell nicht abgrenzbaren „Vielfalt von Perspektiven auf jeweilige Lebenswirklichkeiten“, die sprachlich Handelnden „den Spielraum einer kritischen Transformation ihrer Einstellungen und Überzeugungen“ freigebe, betont Martin Seel in seiner Würdigung des diskursethischen Ansatzes von Habermas anlässlich von dessen 90. Geburtstag (18.06.2019) in der Zeit, und folgert daraus, dass gerade „der literarischen Rede und den anderen Künsten […] hierbei eine unentbehrliche Rolle“ zukomme (Seel 2019, S. 35). Diese Gedankenfigur, die an gleicher Stelle auch bei Manfred Frank aufscheint, wenn er hervorhebt, dass es nicht ‚die Sprache‘ sei, die Verständigung erlaube, sondern das Sprechen und mutuelle Verstehen von Individuen, die „die Ordnung unserer Verständigungsysteme“ bedrohten, insofern sie „die verinnerlichten Regeln einer gemeinschaftlich gewordenen sprachlichen Praxis nicht einfach identisch weitergeben, sondern unkontrollierbar – und im Falle der poetischen Rede innovativ – verändern (können)“ (Frank 2019, S. 36), führt uns zurück zum rhetorischen Ausgangspunkt unserer begriffshistorischen Überlegungen, die im Sinne der Ethopoeia Kants diskursethisch eine Brücke von der Technik zur Poetik zu schlagen erlauben. Insofern wir vermöge der Vernunft die Möglichkeit haben, den Wirklichkeitsausschnitt des je nur Gegebenen zu transzendieren und als Möglichkeitsraum neu zu entwerfen, kann sich ein Blick auch in die literarischen und ästhetischen Entwürfe zur diskursethischen Reflexion technologischer Verantwortung und Kritik technizistischer Reduktionismen als lohnend, zumindest inspirierend erweisen. Deshalb seien zum Ausklang und als Anregung zur eigenen Lektüre hier exemplarisch nur einige wenige Werke aufgerufen, die ingenieurtechnisches Handeln im weiteren Sinne literarisch ‚problematisieren‘ (i. S. v. Hess-Lüttich 1984).
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3.4 Ausklang: Ethik, Ethopoeia und der Ingenieur als literarische Figur Im 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhundert wurde ‚der Ingenieur‘ sowohl in den noch jungen Sozialwissenschaften als auch in der Belletristik noch vergleichsweise unbefangen als Hoffnungsträger imaginiert, der beseelt von optimistischem Fortschrittsglauben beansprucht, „gesellschaftliche Probleme auf der Grundlage des rationalisierten Denkens der Technikwissenschaften zu lösen“ (Leucht 2011, S. 288). Insbesondere im Genre der literarischen Utopie hat der Ingenieur zunächst geradezu Konjunktur (cf. nach Leucht 2011 z. B. Josef André 1903: Nach dem Nordpol, Carl Grunert 1907: Im Fluge zum Frieden, Aleksandr Bogdanov 1912: Inzener Menni, Bernhard Kellermann 1913: Der Tunnel, Otfried v. Hanstein 1928: Elektropolis. Die Stadt der technischen Wunder u. v. a.). Aber auch in differenzierteren Texten von Autoren wie Arnolt Bronnen, Ödön von Horváth, Georg Kaiser oder Ernst Toller gehört er umstandslos zum Ensemble der Figuren. Erste Risse bekommt das Bild bei dem ausgebildeten Ingenieur Robert Musil. In seinem zuerst 1930 erschienenen Roman Der Mann ohne Eigenschaften ist der Ingenieur Ulrich anfangs fasziniert von der Welt der Technik und fragt sich, wen „das tausendjährige Gerede darüber, was gut und böse sei, fesseln [solle], wenn sich herausgestellt hat, daß das gar keine ‘Konstanten’ sind, sondern ‘Funktionswerte’, […] eine kraftvolle Vorstellung vom Ingenieurswesen“ (Musil 1952, S. 37). Mit subtiler Ironie wird das Bild von in ihrer Disziplin gefesselten Fachidioten gezeichnet, die gelegentlich „aus dem technischen Denken“ heraus Ratschläge erteilen „für die Lenkung und Einrichtung der Welt“ und zwar manche „Sprüche formen“, denen es aber schon nicht gelinge, „die Kühnheit ihrer Gedanken statt auf ihre Maschinen auf sich selbst anzuwenden“ (ibid., S. 37). Hier verkehrt sich die Apotheose des technischen Spezialisten (Prometheus!), wie ihn der Ingenieur Ludwig Brinkmann noch zu Beginn des Jahrhunderts beschwor – „Vorläufig ist technisches Denken ein Geschäft; je einseitiger die Fähigkeit, desto wertvoller der Mann, der durch die Atomisierung der Kenntnisse stets
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irgendwo irgendetwas leisten kann“ (Brinkmann 1908, S. 85) – in ihr Gegenteil. Als dann nach anfangs noch nationalistisch befeuerter Apologetik in den Weltkriegen das zerstörerische Potential der Rüstungstechnologie entfesselt wurde, kippte die Stimmung endgültig. Am öffentlich augenfälligsten wurde der Bedarf an einer Diskursethik für Techniker und Ingenieure spätestens nach dem Bau der Atombombe, ein Bedarf, der eben auch von den Dichtern als den sensiblen Seismographen gesellschaftlicher Kontroversen aufmerksam registriert und literarisch angemahnt wurde. Bertolt Brechts 1939 geschriebenes (und 1943 in Zürich uraufgeführtes) Theaterstück Leben des Galilei fragt, zumal in der 1945 unter dem Eindruck der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki zusammen mit Charles Laughton überarbeiteten Fassung, nach der Verwertbarkeit von Wissen und der Verantwortung des (Natur-)Wissenschaftlers. Der im sog. ‚Manhattan-Projekt‘ an der Entwicklung der Bombe 1942 beteiligte deutschstämmige Atomphysiker J. Robert Oppenheimer wurde sich dieser Verantwortung erst allmählich bewusst und verweigerte 1951 seine Mitwirkung am Bau der Wasserstoffbombe, was ihm den Vorwurf des Landesverrats und den Entzug sämtlicher Forschungsprojekte der Regierung eintrug. Heinar Kippardts berühmtes daraus entstandenes dokumentarisches Theaterstück In Sachen J. Robert Oppenheimer, das 1964 als Fernsehspiel inszeniert und vom Hessischen Rundfunk uraufgeführt wurde, ist heute (hoffentlich immer noch) Schullektüre. Das wäre auch anderen Autoren zu wünschen, die Naturwissenschaftler, Ingenieure oder Techniker als literarische Figuren zur ethopoetischen Kommentierung nutzten. Aufgeweckte Schüler dürften (und sollten) sich in einem gesellschaftlich sensibilisierten Deutschunterricht nach wie vor inspirieren lassen können von Figuren wie dem Ingenieur und überzeugten Technokraten Walter Faber in Max Frischs 1957 erschienenem Erfolgsroman Homo Faber, dessen technisch-naturwissenschaftliches Weltbild zusehends ins Wanken gerät. Oder von den Gesprächen der Protagonisten in der nicht minder erfolgreichen Tragikomödie Die Physiker, in der Friedrich Dürrenmatt 1961 auf dramatisch amüsant verwickelte Weise die Frage nach der Verantwortung der
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(Natur-)Wissenschaftler für den Fortbestand der menschlichen Zivilisation thematisiert und Zweifel daran weckt, ob alles technisch Machbare auch umzusetzen sei, wenn die Folgen letztlich nicht zu kalkulieren sind. Bei allen Zeitbezügen zum Kalten Krieg mit seiner Doktrin der maximalen Abschreckung (‚Gleichgewicht des Schreckens‘) legt er damit zugleich die Paradoxie frei zwischen der Forderung, eine Theorie nicht in jedem Falle bis zu ihrem Ende zu denken, und der Erfahrung, dass sie nicht mehr zurückzuholen ist, wenn sie denn einmal in der Welt ist. Solche Ausgangslagen könnte man heute zum Beispiel auch auf die aktuellen bioethischen Debatten übertragen. Der ‚gefühlte‘ Mangel an ethischem Bewusstsein im Bezirk eines technologisch ermöglichten Fortschrittsglaubens ist also keine neue Erfindung unserer Zeit oder eine tagespolitisch ‚grüne‘ Unterstellung. Er motivierte Jürgen Habermas bekanntlich bereits in den 60er Jahren darüber nachzudenken, inwiefern und inwieweit „neue Potentiale einer erweiterten technischen Verfügungsgewalt […] das Mißverhältnis zwischen Ergebnissen angespanntester Rationalität und unreflektierten Zielen, erstarrten Wertsystemen, hinfälligen Ideologien offenbar“ werden ließen (Habermas 1968b). Aber auch heute könnte jeder einigermaßen belesene Zeitgenosse die Liste der literarischen ‚Problematisierungen‘ ethischer Verantwortung in den Natur- und Technikwissenschaften mühelos fortführen zu zeitgenössischen Autoren wie Stephen Frayn, der in seinem (1998 in London am Tag der ersten Nuklearwaffentests in Pakistan uraufgeführten) Schauspiel Copenhagen die bis heute in ihrer Bewertung umstrittene Begegnung von Werner Heisenberg und Niels Bohr 1941 in der von den Deutschen besetzten Hauptstadt Dänemarks zum Ausgangspunkt von Fragen nach ihrer Rolle in der Vorbereitung der technischen Nutzung der Kernspaltung oder der Entwicklung einer deutschen Atombombe nimmt und damit zugleich die gesellschaftliche Verantwortung des (Natur-)Wissenschaftlers allgemein dramaturgisch exponiert (cf. Dörries ed. 2005). Heute wird die Atomkraft von manchen Ingenieuren wieder als umweltfreundliche und kostengünstige Brückentechnologie mit dem Slogan „Transparenz und Sicherheit“ beworben, während zugleich die zahlreichen Stör- und Zwischenfälle z. B. in den Reaktoren Doel 3 bei Antwerpen oder Tihange 2 an der
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belgisch-deutschen Grenze mit der Kontamination der eigenen Belegschaft von denselben Ingenieuren verheimlicht, verharmlost, verleugnet werden (cf. Dohmen 2018). Sir Peter Ustinov war es, glaube ich, der sinngemäß einmal bemerkte: „Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt explodiert, wird die Stimme eines Ingenieurs sein, der sagt: ‘Das ist technisch unmöglich!’.“ Beim Blick in die derzeitige politische Arena mit ihrem DauerMantra über die notwendigen Segnungen der Digitalisierung, die ihren Protagonisten der ersten Stunde wie dem Erfinder des World Wide Web Tim Berners-Lee, dem Begründer von Twitter Evan Williams oder dem Chef von Google Sundar Pichai längst so unheimlich geworden sind, dass sie ihre Kinder im Silicon Valley auf Schulen schicken, an denen Handys und Tablets verboten sind, drängt sich natürlich sofort der Roman The Circle von Dave Eggers auf, dessen beklemmend aktuelles Portrait eines übermächtigen IT-Konzerns die literarische Reihe der Dystopien vom technisch ermöglichten totalitären Überwachungsstaat seit George Orwells 1984 fortsetzt. Auf die Frage von Mathias Kremp im Spiegel (44 v. 27.10.2018: 78), ob nicht die HiTech-Konzerne endlich „verbindliche ethische Prinzipien“ brauchten, verweist der Apple-Boss Tim Cook auf die „klaren Grundwerte“ des Konzerns, während dessen Ressourcenausbeutung und stellenweise menschenverachtenden Produktionsbedingungen zugleich immer mal wieder für negative Schlagzeilen sorgen. Der Internet-Pionier Jaron Lanier, Erfinder der data gloves und der virtual reality-Brillen, übrigens auch Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2014, liefert uns in seinem jüngsten Bestseller Zehn Gründe warum Du Deine Social Media Accounts sofort löschen musst (Lanier 2018) und hat sich aus solchen selber längst abgemeldet. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, warnt in seiner Rede zum Reformationstag Ende Oktober 2018 (Auszug in: Die Zeit 45 v. 31.10. 2018, S. 56) vor einer unreflektierten Apologie des technisch Möglichen: die digitale Welt sei in ethischer Hinsicht terra incognita. Eindringlich mahnt er eine Intensivierung des Ethik-Diskurses zur technologischen Entwicklung der Künstlichen Intelligenz an, wenn das gegenwärtige Geschäftsmodell der Netz-Ökonomie nicht vollends zu einem digitalen Tribalismus führen soll, der letztlich die demokratische
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Verfasstheit unserer westlichen Gesellschaften bedroht. Man muss nicht seine Hoffnung teilen, dass ausgerechnet die christliche Tradition für diese politische Gestaltungsaufgabe das nötige Orientierungswissen bereitstelle. Während in Brasilien, Australien, Indonesien die Wälder brennen, genügt vielleicht bereits die demütige, manche vielleicht demütigende, aber naturwissenschaftlich begründbare Einsicht in die Begrenztheit unseres kognitiven und perzeptiven Horizonts einerseits und der leider endlichen Ressourcen unseres Planeten andererseits, um die Frage, ob wir um des technischen Fortschritts und des daraus abgeleiteten wirtschaftlichen Wachstums willen immer dürfen, was wir können, ob wir alles dürfen, was wir können, mit einem so nachdrücklichen Nein zu beantworten wie der amerikanische Autor William T. Vollmann in seinem kürzlich erschienenen opus magnum Carbon Ideologies, der sich nach dem Urteil von Markus Jauer lese „wie ein 1200 Seiten langer Rechenschaftsbericht über die Selbstabschaffung einer Zivilisation, die glaubte, für ihr Dogma vom steten Wachstum den Planeten zerstören zu müssen, und die auch dann nicht damit aufhören konnte, als sie es besser wusste“ (Jauer 2018, S. 16).
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Ernest W. B. Hess-Lüttich, Univ.-Prof. Prof. h.c. Dr. Dr. Dr. h.c., ist Germanist mit Schwerpunkt Diskurs- und Dialogforschung, Hon. Professor an der TU Berlin (seit 2015) und der University of Stellenbosch, Südafrika (bis 2017). Er ist Autor bzw. Herausgeber von 70 Büchern und Editionen, Verfasser von ca. 380 Aufsätzen (zur sozialen, literarischen, ästhetischen, intermedialen, interkulturellen, intra-/subkulturellen, institutionellen, fachlichen, öffentlichen, politischen, urbanen Kommunikation), Herausgeber diverser Zeitschriften und Buchreihen, Präsident bzw. Vizepräsident und Ehrenmitglied diverser Fachgesellschaften und Advisory / Editorial Boards. Er wurde zu zahlreichen Gastprofessuren an Universitäten in Europa, Amerika, Afrika, Asien, Australien eingeladen.
Teil II Begriffe und Meinungen
4 Studierende definieren eine Ethik in den Ingenieurwissenschaften: Eine Umfrage Uta Breuer, Dieter D. Genske und Marcel Kandler
Zusammenfassung In diesem Beitrag wird eine Umfrage zum Bild der Ingenieure und Ingenieurinnen aus der Perspektive der Studierenden der Ingenieurwissenschaften vorgestellt. Dazu wird auch auf die vielfältigen Herausforderungen und Verantwortlichkeiten des Ingenieurberufs eingegangen. Besonderes Augenmerk wird der Frage der Ethik in den Ingenieurwissenschaften geschenkt. Dabei werden in erster Linie Fragen zum ethischen Selbstverständnis des Ingenieurs und zur praktischen Anwendung ethischer Grundsätze in der Ingenieurpraxis diskutiert.
U. Breuer (*) · D. D. Genske · M. Kandler Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland E-Mail: [email protected] D. D. Genske E-Mail: [email protected] M. Kandler E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_4
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Abstract This article presents a survey on the image of engineers from the perspective of engineering students. It also deals with the manifold challenges and responsibilities of the engineering profession. Particular attention will be paid to the question of ethics in the engineering sciences. The main questions discussed will focus on the ethical conviction of engineers and the practical application of ethical principles in engineering practice. Schlüsselwörter Umfrage · Erhebung · Ethik Ingenieurwissenschaften
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4.1 Einführung Im Jahre 2018 schlossen in Deutschland 129.190 Studierende der Fächergruppe Ingenieurwissenschaften ihr Studium ab, davon 71.529 als Bachelor of Engineering (B.Eng.) und 49.171 als Master of Engineering (M.Eng). Seit 2005 hat sich die Zahl der Absolventen in den Ingenieurwissenschaften mehr als verdreifacht. Insgesamt schlossen im Jahr 2018 in allen Fächergruppen 388.207 Studierende ihr Studium ab, davon 247.247 als Bachelor und 140.960 als Master. Die Ingenieurstudiengänge stellen somit 29 % der Bachelorabschlüsse und 35 % der Masterabschlüsse (Statistisches Bundesamt 2019). Neben der großen Bandbreite an ingenieurwissenschaftlichen Studienfächern und deren Vertiefungsmöglichkeiten locken vor allem der gute Ruf und die beruflichen Perspektiven, als Ingenieur tätig werden zu können. Denn gut ausgebildete Ingenieure, die sich den Herausforderungen der Gegenwart und zukünftigen Entwicklungen stellen, werden händeringend gesucht (Martini 2017). Doch welche Voraussetzungen sollten gute Ingenieure erfüllen, beziehungsweise, was kann von diesen erwartet werden? Zu dieser Frage sollten Studierenden der ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge an der Hochschule Nordhausen Stellung nehmen. Insbesondere sollte anhand der gestellten Frage ersichtlich werden, ob die Studierenden interessiert daran sind, sich auch mit ethischen Themen während ihres Studiums gezielt auseinander zu setzten. Denn ethische
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Themen fließen kaum in die Curricula der Ingenieurwissenschaften ein und das, obwohl auch praktizierende Ingenieure mit Problemen konfrontiert sind, die eine bewusste ethische Herangehensweise erforderlich macht. Das Ziel dieser Umfrage war schließlich auch abzuklären, ob überhaupt Interesse bei den Studierenden besteht, sich mit ethischen Sachverhalten auseinander zu setzen.
4.2 Was ist Ethik? Bevor weiter auf die Umfrage eingegangen wird, sollte im Vorfeld geklärt werden, was unter dem Begriff der Ethik verstanden werden kann. Denn Ethik wird eher als Teil der Geisteswissenschaften gesehen und auf dem ersten Blick könnte man meinen, dass Ingenieure in deren Arbeitsalltag nicht oder selten mit ethischen Fragen konfrontiert werden. Warum denn auch? Ist denn die Aufgabe der Ingenieure nicht, objektiv und kritisch Fakten zu erkennen und Sachverhalte einzuschätzen, um darauf aufbauend, Lösungsansätze für die gestellten Probleme zu liefern? Aus den Beiträgen im ersten Teil dieses Buches und den noch folgenden Belegen wird jedoch deutlich, dass diese Annahme falsch ist und Ingenieure durchaus die ethischen Dimensionen ihres Handels vorausschauen und auch verantworten müssen. Dieser Text geht nicht auf ethische Theorien oder Texte ein. Vielmehr werden die ethischen Grundsätze der Ingenieure des Vereines Deutscher Ingenieure (VDI 2002) als Rahmen vorausgesetzt. Ziel dieser Arbeit ist es auszuloten, wie Studierende der Ingenieurwissenschaften zu den Fragen der Ethik stehen.
4.3 Erwartungen an die Befragung Mit dieser Umfrage sollte zunächst ein Stimmungsbild zur Ethik in den Ingenieurwissenschaften gezeichnet werden sollte. Sie dient somit lediglich als Impuls oder als Ideenansatz. Zunächst sollte die Befragung klären, ob sich die Studierenden bereits mit ethischen Fragen befasst
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haben und ob Interesse bestünde, sich auch im Ingenieurstudium vertieft damit auseinander zu setzen. Zudem sollte ersichtlich werden, in welchen typischen beruflichen Situationen sich Ingenieure in einer ethischen Verantwortung sehen. Dabei wurde auch nach Adjektiven gezielt gefragt, die nach Meinung der Studierenden einen Ingenieur am besten beschreiben. Schließlich sollte erfragt werden, wie sich die Studierenden die Integration einer Lehrveranstaltung zum Thema „Ethik“ in ihr Curriculum vorstellen könnten. Uns liegen bislang keine Informationen zu vergleichbaren statistischen Befragungen vor. Möglicherweise ist daher diese Umfrage die erste ihrer Art.
4.4 Die Befragung Die Umfrage fand an der Hochschule Nordhausen im Sommersemester 2019 und im Wintersemester 2019/2020 statt. Insgesamt haben 117 Studierende an der Umfrage teilgenommen. Beteiligt waren die Bachelorstudiengänge Maschinenbau (B.Eng.), Geotechnik (B.Eng.), Umwelt- und Recyclingtechnik (B.Eng.) und Wirtschaftsingenieurwesen für nachhaltige Technologien WINTEC (B.Eng.) sowie die Masterstudiengänge Energetisch-Ökologischer Stadtumbau (M.Eng.) und Wirtschaftsingenieurwesen (M.Eng.). Befragt wurden Studierende aus allen Semestern (Grundstudium, Hauptstudium und Masterstudium), wobei die Wahl des Studiengangs und des Semesters zufällig erfolgte. Die Studie bildet somit einen typischen Querschnitt deutscher Ingenieurstudiengänge ab, beschränkt allerdings auf den Fachhochschulbereich. Wir gehen davon aus, dass diese Studie von ihrer Zusammensetzung und Struktur zumindest einen ersten Eindruck vom aktuellen Stimmungsbild zur Ethik als Lehrfach an Ingenieurschulen in Deutschland gibt. Inwieweit sie repräsentativ für die Gesamtheit aller Ingenieurstudiengänge ist, wäre in einer weiteren Studie zu untersuchen. In der Umfrage wird zunächst gefragt, ob die Befragten in ihrer Schullaufbahn die Möglichkeit hatten, Ethik als Schulfach zu belegen. Die meisten Studierenden (77 %) hatten danach die Möglich-
4 Studierende definieren eine Ethik … 85
keit, an ihrer Schule das Fach Ethik zu belegen, um sich mit verschiedensten Denkansätzen und Beispielen auseinander zu setzten. Etwa 2/3 der Befragten (63 %) nahmen dieses Angebot auch wahr. Zwei der Befragten wiesen jedoch darauf hin, dass an ihrer Schule das Fach „Ethik“ im Wesentlichen dem Fach „Religion“ entsprach, dass sich also hinter der Moralphilosophie eine Glaubenslehre verbarg (was die Befragten misstrauisch stimmte). Denn in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) zählen, so das allgemein vermittelte Bild, nur Messungen, Daten und Fakten. Im zweiten Teil der Umfrage geht es um das Bild des Ingenieurs aus Sicht der Studierenden. Es wurden Fragen gestellt, die die Befragten mit „trifft nicht zu“, „trifft weniger zu“, „trifft eher weniger zu“, „trifft etwas zu“, „trifft größtenteils zu“ oder „trifft voll zu“ beantworten konnten. Nur eine Antwort wurde zugelassen (Abb. 4.1). Zunächst wurde gefragt, ob Ethik für den Befragten eine Orientierung zum Handeln böte. Dies trifft für die Hälfte der Befragten
Abb. 4.1 Das Bild des Ingenieurs und sein ethisches Selbstverständnis aus der Sicht der Studierenden (Stichprobenumfang 117 Befragte)
86 U. Breuer et al.
(46 %) größtenteils oder voll zu. Nur 15 % der Befragten hatten kein oder kaum Interesse, sich mit ethischen Fragen zu befassen. In Bezug auf das angestrebte Berufsbild bestätigten über die Hälfte der Befragten, dass der Ingenieur mit seinem Handeln eine Vorbildrolle einnehmen sollte (63 %) und immer das Allgemeinwohl zu berücksichtigen habe (61 %) (trifft größtenteils oder voll zu). Es wird also durchaus ein moralischer Anspruch mit der eigenen Berufsplanung verbunden. Die Studierenden können sich mit ethischen Ansprüchen identifizieren und sie spielen auch eine Rolle bei ihren Handlungsentscheidungen. Spezifischer gefragt, ob ein Ingenieur immer nach ethischen Grundsätzen handeln sollte, stimmten immer noch über die Hälfte (55 %) zu. Dies ist bemerkenswert, stellt sich doch ethisches Handeln in der gewinnorientierten und ressourcenoptimierten Praxis durchaus als Herausforderung dar. Dieses ethische Bewusstsein wurde von der Hälfte der Befragten (49 %) selbst für Berufsanfänger reklamiert. Demnach können nach der Meinung der Befragten auch unerfahrene Ingenieure ethisch handeln. Dieses Ergebnis überrascht nicht, entspricht es doch der moralischen Einstellung unserer Gesellschaft. Man könnte auch sagen, bewusst ethisch handeln ist moralisch gut und wird in großen Teilen der Gesellschaft angesehen. Die Häufigkeitsverteilung der Antworten zu dieser Frage ist jedoch bimodal (mit zwei Häufungen), denn immerhin 12 % der Befragten trauen nur erfahrenen Ingenieuren ethisches Handeln zu. Die zweite bimodale Verteilung ergibt sich aus der Frage, ob Ingenieure und Ingenieurinnen bei ethischen Fragen gleich urteilten. Überraschenderweise stimmte die Mehrzahl (56 %) der Befragten dieser Aussage eher nicht zu, wogegen gut ein Drittel (38 %) dieser Aussage eher zustimmten. 6 % der Befragten beantworteten diese Frage nicht (der größte Wert). Es ist also zu konstatieren, dass bei der Beantwortung dieser Frage eine gewisse Unsicherheit bestand. Mehrheitlich wird ethisches Handeln als ein gender-gebundes Verhaltensmuster gesehen. In diesem Zusammenhang anzumerken ist, dass nur jeder fünfte Studierende (18 %) im Fachbereich Ingenieurwissenschaften der Hochschule Nordhausen weiblich ist (Stand 14.10.2019, interne Statistik der Hochschule Nordhausen).
4 Studierende definieren eine Ethik … 87
Die folgenden Fragen sollten den ethischen Anspruch in der Ingenieurpraxis noch weiter präzisieren und wurden aus dem Ethik-Kodex des VDI hergeleitet. Die Fragen sollten vor allem die Verantwortlichkeit der in diesem Beruf Tätigen aufzeigen So stimmten der Aussage „Ein Ingenieur ist nur seinem Arbeitgeber gegenüber verpflichtet“ drei Viertel der Befragten (74 %) eher nicht zu. Mehr als zwei Drittel der Befragten (70 %) sind der Meinung, dass „ein Ingenieur für den ethisch vertretbaren Gebrauch seiner Erfindung verantwortlich“ sei. Insofern hätte also Einstein unethisch gehandelt, da seine Forschungen ja auch zum Bau der Atombombe beigetragen hat – obwohl er ein überzeugter Pazifist war. Es ist bei dieser Frage interessant zu sehen, dass bei den Studierenden der Gedanke der Technikfolgeabschätzung bereits irgendwie verfangen hat, obwohl der Fachbereich Ingenieurwissenschaften hierzu keine gesonderte Vorlesung anbietet. Starke Zustimmung (52 %) fand die Aussage, dass ein Ingenieur eine Gefahr melden müsse „auch wenn diese nicht in seinem Aufgaben- oder Verantwortungsgebiet“ läge (87 %, davon 52 % als „voll zutreffend“). Der Feststellung: „Erkennt ein Ingenieur eine Unregelmäßigkeit oder einen Fehler, muss er sie melden, auch wenn sie seinen Auftraggeber betrifft“ wurde sogar noch deutlicher zugestimmt (93 %). Abschließend konstatierten über die Hälfte der Befragten (56 %), dass sie den Begriff Ethik für sich definieren könnten (trifft größtenteils oder voll zu). Im dritten Teil sollten die Studierenden treffende Adjektive benennen, die nach ihrer Meinung am besten einen Ingenieur beschreiben. Für die Studierende ist am augenscheinlichsten, dass ein Ingenieur „analytisch“, „innovativ“ und „genau“ arbeite. Die Schlagwortwolke (Abb. 4.2) verdeutlicht diesen Zusammenhang. Der Ingenieur ist „zielorientiert“, arbeitet „strukturiert“ und „planend“. Es überrascht, dass aus Sicht der Befragten der Ingenieur kaum „lernbereit“, wenig „vertrauenswürdig“, nicht „führungsstark“ und wenig „selbstständig“ ist. Dies bestätigt das Klischee des willensschwachen Rechenknechtes, ein Vorurteil, dass offensichtlich sowohl in der Bevölkerung als auch bei den Studierenden immer noch besteht. Der letzte Teil der Umfrage sollte zeigen, ob die Studierenden sich ein verstärktes Ethik-Angebot an der Hochschule wünschten. Hier überrascht erneut, dass kaum die Hälfte der Studierenden (45 %) ein verstärktes Angebot begrüßen würden. Wenn überhaupt, dann sollte
88 U. Breuer et al.
Abb. 4.2 Die Schlagwortwolke zeigt die als dominierend angesehenen Eigen schaften eines Ingenieurs (generiert mit jasondavis.com)
Ethik eher im Grundstudium (63 %) angeboten werden. Als Lehrform wurde das Seminar (36 %) bevorzugt, gefolgt von der klassischen Vorlesung (23 %) und der Lehrform der Exkursion (21 %). Eine Exkursion zu ethischen Fragestellungen finden wir einen durchaus interessanten Ansatz. Die Ringvorlesung folgt mit 15 % noch vor der Übung mit 10 %. 41 % der Studierenden würden 1 SWS (Semesterwochenstunden, also Lehrstunde pro Woche) für eine Ethik-Veranstaltung veranschlagen, 54 % 2 SWS und 5 % 2,5 oder mehr SWS.
4.5 Fazit Diese Befragung zeigt gleich mehrere Aspekte zur Ethik in den Ingenieurwissenschaften auf: Erstens muss die Überzeugung bei den Studierenden wachsen, dass Ingenieurinnen und Ingenieure selbstverantwortlich handeln müssen, auch gegen den Willen von Arbeit- oder Auftraggebern. Sie sind und dürfen eben nicht nur Erfüllungsgehilfen sein.
4 Studierende definieren eine Ethik … 89
Zweitens besteht in der Gestaltung ingenieurwissenschaftlicher Curricula an Hochschulen dringender Handlungsbedarf. Ein irgendwie sich mit Ethik beschäftigendes Wahlpflicht- oder gar Wahlfach entspricht keinesfalls den heutigen Handlungszwängen, denen Ingenieure unterliegen. Gerade in Zeiten der Ressourcenknappheit und des Klimawandels müssen Ingenieure beweisen, dass sie die Zeichen erkannt haben, dass sie auch danach handeln und Lösungen für die Allgemeinheit anbieten können. Da sollte es ob des fehlenden Ethikbewusstseins kein Zaudern und Zögern geben (dürfen). Drittens sollte sich dieser Zweig der Ethik, nämlich der in den Ingenieurwissenschaften (obgleich schon lange vorhanden, aber nicht bewusst wahrgenommen) stärker und öffentlichkeitswirksamer entwickeln. Eine öffentliche Meinung oder Wahrnehmung zum richtigen Handeln kann und wird auch erzieherisch wirksam werden. Es gibt zurzeit keine allgemeine Ethikauffassung in den Ingenieurwissenschaften. Diese ist häufig nur disziplin- oder fachgebunden. Das sollte sich ändern, um die Bedeutung, die Ethik in den Ingenieurwissenschaften im Allgemeinen und nicht nur im Speziellen hat, auch deutlich zu zeigen. Erst dann wird es auch gelingen, Ethik als bei den Studierenden akzeptiertes und nachgefragtes Studienfach einzuführen. Dieser Aufgabenstellung stellt sich diese erste Befragung der Studierenden zur Ethik in den Ingenieurwissenschaften. Die Autoren dieses Beitrags hoffen damit einen ersten Schritt hin zur Akzeptanz dieses Themas in den Curricula der Hochschulen gemacht zu haben.
Umfrageergebnisse Seihe Tab. 1, 2, 3, 4, 5, 6 und 7. Tab. 1 Ethikangebot an Schulen in Prozent (Stichprobenumfang 117 Befragte) Wurde an Ihrer Schule Ethik als Unterrichtsfach angeboten?
Ja
Nein
Keine Antwort
77
22
1
63
36
1
Ethik bietet für mich eine Orientierung für mein Handeln Ich habe kein Interesse mich mit ethischen Fragen zu beschäftigen Ein Ingenieur sollte durch sein Handeln eine Vorbildrolle ein nehmen Ein Ingenieur soll immer das Allgemeinwohl berücksichtigen Ein Ingenieur soll immer nach ethischen Grund zügen handeln Erst ein erfahrener Ingenieur kann ethisch handeln Ingenieure und Ingenieurinnen urteilen bei ethischen Fragen gleich Ein Ingenieur ist nur seinem Arbeitgeber gegenüber verpflichtet 6 26 3
7 9 23 29
33
18
2
1
3
26
15
22
Trifft weniger zu
6
Trifft nicht zu
19
13
17
13
8
5
26
12
Trifft eher weniger zu
14
13
13
19
22
26
15
29
Trifft etwas zu
Tab. 2 Die Befragung in Prozent (Stichprobenumfang 117 Befragte)
9
20
9
39
41
39
8
34
Trifft größtenteils zu
2
6
12
15
20
24
7
12
2
5
1
2
2
1
0
1
Keine Antwort
(Fortsetzung)
Trifft voll zu
90 U. Breuer et al.
Ein Ingenieur ist für den ethisch vertret baren Gebrauch seiner Erfindung verantwort lich Erkennt ein Ingenieur eine Gefahr muss er sie melden, auch wenn diese nicht in seinem Aufgabengebiet/Ver antwortungsgebiet liegt Erkennt ein Ingenieur eine Unregelmäßigkeit oder einen Fehler, muss er sie melden, auch wenn sie seinen Auftraggeber betrifft Ich kann für mich den Begriff Ethik definieren
Tab. 2 (Fortsetzung)
8
0
2
3
3
1
2
Trifft weniger zu
9
Trifft nicht zu
15
2
9
13
Trifft eher weniger zu
24
15
9
20
Trifft etwas zu
33
32
26
29
Trifft größtenteils zu
23
46
52
21
Trifft voll zu
1
3
1
1
Keine Antwort
4 Studierende definieren eine Ethik … 91
92 U. Breuer et al. Tab. 3 Die Arbeit ines Ingenieurs beschreibe Adjektive in Prozent (Stichproben umfang 117 Befragte, drei Adjektive waren zu wählen, 336 Antworten) Adjektiv
%
Adjektiv
%
Adjektiv
%
Analytisch Innovativ Genau Zielorientiert Strukturiert Planend Intelligent Zuverlässig Kreativ
11 8 8 7 7 7 6 6 5
Sachlich Teamfähig Hinterfragend Flexibel Ehrgeizig Wissbegierig Objektiv Selbstständig Führungsstark
5 5 4 4 4 3 2 2 1
Vertrauenswürdig Selbstbewusst Motivierend Lernbereit Bestimmend Faul Überzeugend Keine Antwort
1 1 1 1 0 0 0 0
Tab. 4 Ethik sollte in dem Curriculum Ihres Studienganges aufgenommen werden in Prozent (Stichprobenumfang 117 Befragte, 116 Antworten) Antwort
%
Ja Nein Summe
45 55 100
Tab. 5 Die auf die Frage „Ethik sollte in dem Curriculum Ihres Studienganges aufgenommen werden“ mit „Ja“ geantwortet haben: Wann bzw. wo sollte Ethik im Studium angeboten werden? (72 Antworten) Studienabschnitt
%
Grundstudium Hauptstudium Ungültig (beides) Summe
63 36 1 100
Tab. 6 In welcher Form sollen ethische Kontexte übermittelt bzw. bearbeitet werden? (Mehrfachantwort möglich) (118 Antworten) Lehrform
%
Seminar Exkursion Vorlesung Ringvorlesung Übung Wahlpflichtfach Summe
36 18 23 13 8 3 100
4 Studierende definieren eine Ethik … 93 Tab. 7 Wie viel Semesterwochenstunden (Lehrstunden pro Woche) würden Sie dafür aufbringen wollen? (74 Antworten) Semesterwochenstunden
%
1 2 2,5 Mehr Summe
41 54 4 1 100
Literatur Martini, A. (2017) Berufsbild Ingenieur. Aufgerufen am 04.10.2019 unter https://www.academics.de/ratgeber/berufsbild-ingenieur, erschienen 12/2017 Statistisches Bundesamt (2019) Anzahl der Absolventen in der Fächergruppe Ingenieurwissenschaften an Hochschulen in Deutschland in den Prüfungsjahren von 2005 bis 2018. Aufgerufen am 10.12.2019 unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/247927/umfrage/absolventenin-der-faechergruppe-ingenieurwissenschaften-an-deutschen-hochschulen/ VDI (2002) Ethische Grundsätze des Ingenieurberufs. Verein Deutscher Ingenieure (VDI), Düsseldorf: 8 VDI (2000) Richtlinie 3780 Technikbewertung – Begriffe und Grundlage. Verein Deutscher Ingenieure (VDI), Düsseldorf: 44 Uta Breuer studierte Biochemie an der Universität in Leipzig und bekleidet nach Stationen am Umweltforschungszentrum Leipzig und einem kleinen biotechnischen Industrieunternehmen in Sachsen-Anhalt seit 2012 an der Hochschule Nordhausen die Professur für biologische und chemische Verfahrenstechnik. Ihre Interessengebiete liegen neben der molekularen Biotechnologie vor allem auf mikrobiologischen Aspekten der Bioverfahrenstechnik. Dieter D. Genske lehrt an der Hochschule Nordhausen Landschaftstechnologie und Flächenrecycling. Der Geo- und Ingenieurwissenschaftler leitet als Studiendekan den Bachelorbereich Geotechnik und den Masterbereich Energetisch-Ökologischer Stadtumbau. In diesem Rahmen bearbeitet er mit
94 U. Breuer et al.
seinem Team nationale und internationale Forschungs- und Entwicklungsprojekte. Vor seinem Ruf an die Hochschule Nordhausen war er Professor an der TU Delft und der ETH Lausanne und davor Fachgutachter der Deutschen Montan Technologie Essen. Ein Humboldt-Stipendium führte ihn an die Universität von Kyoto (Japan). Er wurde zu Gastprofessuren an internationalen Hochschulen eingeladen und 2012 mit seinem Team mit dem Europäischen Solarpreis ausgezeichnet. Marcel Kandler studiert Umwelt- und Recyclingtechnik an der Hochschule Nordhausen. Aus seiner Sicht kommt der Anspruch des ethischen Handelns in unserer heutigen, verdichteten Arbeitswelt meist zu kurz. Sich während des Studiums mit dieser Thematik zu beschäftigen, ermöglicht es ihm, neue Sichtweisen kennen zu lernen und den eigenen Horizont zu erweitern.
5 Ethik-Codices in den Ingenieurwissenschaften: Beispiele und Systematisierung Dieter D. Genske
Zusammenfassung Im folgenden Beitrag wird zunächst die Frage aufgeworfen, ob sich ein Ingenieur/eine Ingenieurin zu ethischen Fragestellungen äußern sollte. Darauf aufbauend wird erläutert, wie Ethik-Codices in den Ingenieurwissenschaften historisch entstanden sind und von welchen Leitsätzen sie zunächst inspiriert wurden. Anschließend wird der Ethik-Codex des Vereins Deutscher Ingenieure analysiert. Abschließend wird auf Ethikkommissionen und die Zukunft der Ethik-Codices eingegangen. Abstract In the following article, the question is raised whether an engineer should give his opinion on ethical issues at all. Based on this, it is explained how codes of ethics in engineering have historically developed and by which guiding principles they were initially inspired. Then, the code of ethics of the Association of German Engineers is analysed. Finally, ethics committees and the future codes of ethics will be discussed. D. D. Genske (*) Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Thüringen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_5
95
96 D. D. Genske
Schlüsselwörter Ethik-Codex · Ethikkodizes · Verein Deutscher Ingenieure · Ethik in den Ingenieurwissenschaften
5.1 Ingenieure und Ethik Darf sich ein Ingenieur zu ethischen Fragen äußern? Wahrscheinlich hat er gar keine Wahl – er muss. Dabei kommt ihm zu Hilfe, dass er, zumindest zunächst, auf eine relative leicht verständliche Definition von Ethik zurückgreifen kann. Sie stammt aus der Feder eines Philosophen, der eher für lange und komplizierte Sätze bekannt ist: Nach Immanuel Kant befasst sich Ethik als „Sittliches Verständnis“ (so die griechische Grundbedeutung) mit dem richtigen Handeln in vorgegebener Situation, kurz: Was soll ich tun? Richtig handeln: Warum eigentlich? Auch auf diese Frage gibt Kant eine gerade für Naturwissenschaftler und Ingenieure verblüffend einfache und einleuchtende Antwort. In seiner „Metaphysik der Sitten“ liefert er unter § 13 (Sachenrecht) den folgenden Beweis (Kant 1797, S. 373): „Alle Menschen sind ursprünglich … im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d.i. sie haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat. Dieser Besitz (possessio), der vom Sitz (sedes), als einem willkürlichen, mithin erworbenen, dauernden Besitz unterschieden ist, ist ein gemeinsamer Besitz, wegen der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche, als Kugelfläche; weil, wenn sie eine unendliche Ebene wäre, die Menschen sich darauf so zerstreuen könnten, daß sie in gar keine Gemeinschaft mit einander kämen, diese also nicht eine notwendige Folge von ihrem Dasein auf Erden wäre. – Der Besitz aller Menschen auf Erden, der vor allem rechtlichem Akt derselben vorhergeht (von der Natur selbst konstituiert ist), ist ein ursprünglicher Gesamtbesitz (communio possessionis originaria), dessen Begriff nicht empirisch und von Zeitbedingungen abhängig ist … sondern ein praktischer Vernunftbegriff, der a priori das Prinzip enthält, nach welchem allein die Menschen den Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen gebrauchen können.“
5 Ethik-Codices in den Ingenieurwissenschaften … 97
Die Erde ist also keine Scheibe, unendlich ausgedehnt, auf der jeder unbehelligt seiner Wege gehen könnte, ohne sich um die Rechte der Anderen kümmern zu müssen. Vielmehr ist sie eine Kugel, auf der unser Platz begrenzt ist, auf der wir, früher oder später, uns wieder begegnen werden – auch wenn wir uns nicht leiden können. Eine solche Welt braucht Regeln. Um sie zu systematisieren verfasste Kant seine Schriften. Doch auf welche grundsätzliche, maßgebliche, allumfassende Regel lässt sich all dies reduzieren? Natürlich beantwortet Kant auch diese Frage – mit seinem kategorischen Imperativ. In der Ingenieurpraxis ist dieser nun auf konkrete Problemstellungen anzuwenden: Was soll ich tun? Wie soll ich handeln? Tagtäglich werden Ingenieure mit dieser Frage konfrontiert. Im Bauingenieurwesen (meiner Disziplin) ist die Antwort zu einem gewissen Grade formalisiert: Es gibt eine Fülle von Normen, Empfehlungen und Regelwerke, auf die wir uns stützen und verlassen können, die auch in Streitfällen vor Gericht Anwendung finden. Mehr noch: Im Bauingenieurwesen werden zwei Entscheidungspfade unterschieden, die sich an dem zu erstellenden Bauwerk orientieren. Zum einen ist nachzuweisen, dass das Bauwerk „gebrauchstauglich“ ist, also keine Baufehler wie Risse, Undichtigkeiten, Einschränkungen der Begehbarkeit, etc. aufweist. Wird ein Mangel festgestellt, dann lässt sich dieser in der Regel beheben. Probleme bei der Gebrauchstauglichkeit lassen sich mit Geld lösen. Die Versicherung springt ein. Dann gibt es aber noch den Nachweis der „Standsicherheit“. Das Bauwerk muss standsicher sein, es darf nicht einstürzen. In diesem Fall würde Gefahr für Leib und Leben bestehen. Würden im „Versagensfall“ tatsächlich Menschen zu Schaden kommen, könnte dies nicht mehr mit Geld geregelt werden. Es gelte dann auch nicht mehr das Zivilrecht, sondern das Strafrecht. Der Bauingenieur fällt seine Entscheidungen also zwischen den formalisierten Nachweisen der Gebrauchstauglichkeit und der Standsicherheit. So stellt er sicher, dass er sowohl wirtschaftlich als auch sicher baut. Innerhalb des Aufgabenfeldes des Bauens handelt er
98 D. D. Genske
somit richtig, also ethisch. Schwieriger wird es, sobald er sich darüber Gedanken machen muss, was er baut. So kann er helfen, ein Krankenhaus zu errichten oder ein Straflager, eine Autofabrik zu bauen oder eine Munitionsfabrik, eine Windkraftanlage zu planen oder ein Kernkraftwerk. Nun sind wir schon fast beim Thema. Zuvor aber der Hinweis, dass sich nach meinem Studium des Bauingenieurwesens noch die Möglichkeit ergab, Geologie zu studieren – mit der Vertiefung „Ingenieurgeologie“. Geologen gehen völlig anders vor als Bauingenieure. Sie denken raum-zeitlich, machen sich also ein Bild von den naturräumlichen Zusammenhängen in längst vergangenen Zeiten. So können sie die geologische Situation, wie sie sich uns heute darstellt, aus dem Vergangenen deuten. Dabei geht es sowohl um den Aufbau des Untergrundes als auch um dessen Ressourcen. Auch Geologen haben einen ethischen Anspruch. Allerdings ist für Geologen das „richtige Handeln“ weniger formalisiert als für Bauingenieure. Oft werden Geologen eingespannt für Aufgaben, die sich historisch seit der Zeit Alexander von Humboldts’ als Bergassessor entwickelt haben und heute eher kritisch betrachtet werden. Handelt der Geologe richtig, wenn er Georessourcen wie Kohle und Öl ausbeutet? Handelt er richtig, wenn er hilft, Uran zu finden und abzubauen? Wenn er Abraum zu riesigen Halden aufschüttet, deren Stäube die Umgebung kontaminieren? Wenn er Schlammteiche konstruiert, um die Rückstände des „Yellowcakes“ zurückhalten? Wenn er die Regierung bei der Errichtung von Endlagern berät? (Siehe hierzu auch den Beitrag zur Endlagerung in diesem Band). Bei der Bearbeitung von Projekten sehen sich also sowohl Bauingenieure als auch Geologen mit ethischen Fragen konfrontiert. Das gleiche gilt auch für andere Ingenieurdisziplinen wie Biotechnologie, Informatik, Maschinenbau, Umwelttechnik, Energietechnik, Architektur, etc. In diesem Beitrag wird recherchiert, inwieweit ingenieurwissenschaftliche Disziplinen einen ethischen Anspruch definieren und inwieweit diese in Ethik-Codices präzisiert wurden.
5 Ethik-Codices in den Ingenieurwissenschaften … 99
5.2 Wie entstanden Ethik-Codices? Die Recherche zu Ethik-Codices in natur- und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen zeigte, dass entweder von prominenten Vertretern eines Berufsstandes oder von einzelnen Berufsverbänden Verhaltensregeln formuliert wurden. Ein anschauliches Beispiel für den ersten Fall ist der Eid des Hippokrates, in dem wesentliche Elemente wie die Schweigepflicht, die Verpflichtung zu helfen und das Verbot zu töten festgeschrieben sind. Der Hippokratische Eid ist in die Genfer Deklaration des Weltärztebundes eingeflossen und somit Bestandteil des ärztlichen Berufsethos. Im Gegensatz zur Einzelleistung Hippokrates´ ist die Formulierung von Ethikkriterien mit oder nach Gründung eines Berufsverbandes eher die Regel. Allerdings können sich diese Kriterien zumindest punktuell auch auf Postulate prominenter Vertreter der entsprechenden Fachgebiete beziehen oder sich von ihnen inspirieren lassen. Matthias Maring sieht hier eine Vorreiterrolle der britischen und amerikanischen Berufsverbände, die schon früh Codes of Conduct oder Codes of Practice aufstellten (Maring 2013). Carl Mitcham konkretisiert die Entwicklung dieser Codices in vier Phase (Mitcham 2009), von der Verpflichtung zur Loyalität zum Auftraggeber über die Förderung des beruflichen Ansehens, dem Streben nach technischer Perfektion bis hin zum allgemeingültigen Gemeinwohl, dem zentralen Anliegen aktueller berufsspezifischer Ethik-Codices. Im Grunde ist der generelle Rahmen für berufsethisches Handel bereits im § 138 des Bürgerlichen Gesetzbuch festgeschrieben, nachdem „ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt“ nichtig ist, insbesondere wenn dies „unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen …“ geschieht. Doch diese „ausfüllungsbedürftige Generalklausel“ (Maring 2013) ist nicht wirksam genug, um tatsächlich berufsethisches Verhalten zu garantieren. Nicht nur aus diesem Grund wurden berufsethische Grundsätze von den Berufsverbänden formuliert. Ein wichtiger Aspekt ist auch die Abgrenzung der Einzeldisziplinen untereinander und die
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Präsentation des Fachgebietes nach außen. Dennoch gibt es vielen Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen berufsspezifischen EthikCodices. Als Beispiel für einen Ethik-Codex werden im Folgenden die 2002 verabschiedeten „Ethischen Grundsätze des Ingenieurberufs“ des Vereins Deutsche Ingenieure vorgestellt (VDI 2002). Sie wurden unter der Federführung von Christoph Hubig (Praktische Philosophie) formuliert und auch ins Englische übersetzt.
5.3 Die ethischen Grundsätze des Ingenieurberufs In seinem Vorwort sensibilisiert Christoph Hubig den Leser für die Rolle des Ingenieurs als „Gestalter“ der Zukunft, dessen Arbeit zu guten Ergebnissen führen kann – aber auch zu schlechten. Daher sind Fragen der Ethik in Naturwissenschaft und Technik für die gesamte Gesellschaft von Interesse. Die im Folgenden formulierten ethischen Grundsätze sollen zur Orientierung bei der Beurteilung von Gestaltungs- und Verantwortungskonflikten dienen. Die Präambel führt fort, dass sich hieraus eine besondere Verantwortung ergibt, eine „Technikverantwortung“, die alle Ingenieure und Ingenieurinnen wahrzunehmen und in die Praxis umzusetzen in der Pflicht sind. Im nächsten Abschnitt wird der Begriff der Verantwortung präzisiert. Ingenieurinnen und Ingenieure haben eine „Bringpflicht für sinnvolle technische Erfindungen und Lösungen“, die in Produkten und Verfahren münden, deren „Qualität, Zuverlässigkeit und Sicherheit sowie fachgerechte Dokumentation“ von ihnen sicherzustellen sind. Sie tragen „allein … die Folgen ihrer beruflichen Arbeit“ und verantworten sie „gegenüber ihrem Berufsstand, den gesellschaftlichen Institutionen, den Arbeitgebern, Auftraggebern und Techniknutzern“. Hier wird eine rechtliche Dimension deutlich, die praktizierenden Ingenieuren nicht fremd ist und die im Folgenden noch konkretisiert wird, indem auf die im Tätigkeitsland zu beachtenden gesetzlichen Regelungen hingewiesen wird, die zu befolgen sind, sofern nota bene diese „universellen moralischen Grundsätzen nicht widersprechen“. Ein Ingenieur dürfte
5 Ethik-Codices in den Ingenieurwissenschaften … 101
sich also auch gegen eine gesetzlich beschlossene Regel stellen, sofern diese seiner Überzeugung widerspricht. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass der Ingenieur in diesem Rahmen auch eine politisch Gestaltungsaufgabe wahrnimmt, indem er „beratend und kritisch am Zustandekommen und der Fortschreibung rechtlicher und politischer Vorgaben mit[wirkt]“. Der Begriff der „Verantwortlichkeit“, präziser der „Technikverantwortlichkeit“, wird in diesem Abschnitt also ziemlich genau umrissen, auch wenn auf die Definition von „universellen moralischen Grundsätze(n)“ oder die Frage, was genau eine „sinnvolle“ technische Erfindung ist, nicht näher eingegangen wird (was allerdings auch den Rahmen dieses absichtlich kurz gehaltenen Ethik-Codex sprengen würde). Der nächste Abschnitt des VDI-Codex formuliert Vorgaben, an denen sich Ingenieurinnen und Ingenieur orientieren sollten. Technische Systeme sind in „gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Zusammenhänge“ eingebettet. Grundlegend für die zukunftsgerechte Beantwortung von Technikfragen ist daher das Verständnis dieser Wechselwirkung. Insbesondere ist zu vermeiden, dass sich aus technischen Lösungen Sachzwänge entwickeln, die „nur noch bloßes Reagieren erlauben“. Auch verbietet es sich für Ingenieure, an Projekten mitzuarbeiten, die ausschließlich einer „unmoralischen Nutzung“ dienen. Als „unmoralisch“ definiert werden international geächtete Produkte (wie zum Beispiel Streubomben) oder Verfahren (wie zum Beispiel das Klonen von Menschen). Das gleiche gilt für Projekte, von denen „unwägbare Gefahren und unkontrollierbare Risikopotentiale“ ausgehen könnten. Schließlich achten Ingenieurinnen und Ingenieure in Wertkonflikten „den Vorrang der Menschengerechtigkeit vor einem Eigenrecht der Natur, von Menschenrechten vor Nutzenserwägungen, von öffentlichem Wohl vor privaten Interessen sowie von hinreichender Sicherheit vor Funktionalität und Wirtschaftlichkeit“. Der „Vorrang der Menschengerechtigkeit vor dem Eigenrecht der Natur“ ist sicher ein Aspekt, der näher zu diskutieren wäre. Diese Forderung erinnert an die biblische Anweisung „Macht Euch die Erde Untertan“. Auch wenn Franz Alt in seiner Internetbotschaft (Alt 2015) betont, dass der Papst mit seiner Enzyklika Laudato Si, mi Signore
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(Sei gelobt, mein Herr) diesen Leitsatz nun umdeutet in „Macht Euch der Erde Untertan“, bleibt doch die christliche Tradition der Unterwerfung der Natur nach dem Willen des Menschen. Ist in diesem Zusammenhang die Nutzung fossiler Ressourcen, der die Menschheit Macht und Wohlstand verdankt, „menschengerecht“ oder vielleicht eher selbstgerecht? Hätte hier nicht das „Eigenrecht der Natur“ auf Unversehrtheit (der Atmosphäre) viel früher erkannt werden müssen? Vor der Kulisse des stattfindenden Klimawandels, der ökologischen Rücksäcke, des Artensterbens und der Tatsache, dass auf dem 35. Internationalen Geologischen Kongress in Kapstadt inzwischen ein neues geologisches Zeitalter, das Menschenzeitalter oder Anthropozän postuliert wurde, verdient die Forderung nach „Menschengerechtigkeit“ vielleicht eine Widererwägung. Dennoch sind die in diesem Abschnitt formulierten Orientierungshilfen von grundlegender Bedeutung und haben zum Teil bereits Eingang gefunden in die technischen Normen- und Regelwerke, insbesondere mit Blick auf das sichere und wirtschaftliche Konstruieren. Im nächsten Abschnitt formuliert der Ethik-Codex die Umsetzung in die Praxis. Zunächst wird auf die Pflicht der beruflichen Weiterbildung hingewiesen, die in einigen Ingenieurdisziplinen auch eine Voraussetzung für das Unterzeichnen von Expertisen (wie Standsicherheitsuntersuchungen) ist. Neben diesem fachlichen Bildungsengagement sieht der Ethik-Codex aber auch eine konstruktive Beteiligung an „fach- und kulturübergreifenden“ Diskussionen vor, auch außerhalb des eigenen Fachkreises (zum Beispiel an Schulen und Hochschulen oder in Kommissionen). Dies betrifft insbesondere die Bewertung „widerstreitender Wertvorstellungen“. Bemerkenswert ist der Hinweis, dass in „berufsmoralischen Konfliktfällen“, die nicht intern (mit dem Arbeits- und Auftraggeber) gelöst werden können, eine „institutionelle Unterstützung“ zu suchen ist und wenn dies nicht gelingt, sogar „die Alarmierung der Öffentlichkeit oder die Verweigerung weiterer Mitarbeit in Betracht zu ziehen“ ist. Der Ethik-Codex nimmt somit vorweg, was Anfang 2019 das Europäische Parlament beschlossen hat: Hinweisgeben (Whistleblowing) ist nicht strafbar, sofern eine vorausgegangene interne Meldung keine Wirkung zeigt. Vielmehr sind
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inweisgeber vor Repressalien wie Einschüchterung oder Entlassung H zu schützen. Nach einer Studie der EU Kommission führte bislang der mangelnde Schutz von Hinweisgebern bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen in der EU zu Schäden von 5–10 Mrd. € pro Jahr (EU 2019). Der Verein Deutscher Ingenieure fasst abschließend die Ethischen Grundsätze des Ingenieurberufs in zehn Forderungen zusammen, die im Folgenden wortwörtlich zitiert werden (VDI 2002). Ingenieurinnen und Ingenieure • verantworten allein oder mitverantwortlich die Folgen ihrer beruflichen Arbeit sowie die sorgfältige Wahrnehmung ihrer spezifischen Pflichten. • bekennen sich zu ihrer Bringpflicht für sinnvolle technische Erfindungen und nachhaltige Lösungen. • sind sich bewußt über die Zusammenhänge technischer, gesellschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Systeme und deren Wirkung in der Zukunft. • vermeiden Handlungsfolgen, die zu Sachzwängen und zur Einschränkung selbstverantwortlichen Handelns führen. • orientieren sich an den Grundsätzen allgemein moralischer Verantwortung und achten das Arbeits-, Umwelt und Technikrecht. • diskutieren widerstreitende Wertvorstellungen fach- und kulturübergreifend. • suchen in berufsmoralischen Konfliktfällen institutionelle Unterstützung. • wirken an der Auslegung und Fortschreibung rechtlicher und politischer Vorgaben mit. • verpflichten sich zur ständigen Weiterbildung. • engagieren sich bei der technologischen Aufklärung in Aus- und Weiterbildung an Schulen, Hochschulen, in Unternehmen und Verbänden. Die vom VDI aufgestellten Ethikregeln sind leicht verständlich und anschaulich, sie orientieren sich an universellen Werten und Wertvor-
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stellung innerhalb der Ingenieurwissenschaften, appellieren an die Eigenverantwortung und die Kollektivverantwortung und integrieren die drei Säulen der Nachhaltigkeit (Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft). Sie beinhalten auch eine Extrapolation der Verantwortung in die Zukunft, das Erkennen möglicher „Handlungsfolgen“, die zu „Sachzwängen“ führen könnten, was zu vermeiden ist.
5.4 Zur Zukunft der Ethik-Codices Über die Einhaltung der Ethik-Codices wachen die Ethikkommissionen der Berufsverbände (Bogner 2013). Neben diesen berufsständigen Kommissionen bilden auch Hochschulen, Unternehmen, Interessenverbände sowie die Bundesländer und die Bundesregierung Ethikräte, in denen sich Betroffene, Wissenschaftler und Politiker über ethische Konflikte beugen, Lösungen suchen und Schiedsgerichte bilden. Mit der World Commission on the Ethics of Scientific Knowledge and Technology (COMEST) haben 1998 die Vereinten Nationen eine internationale Kommission gebildet, die ethische Regeln definiert und in den öffentlichen Diskurs zu ethischen Fragen eingreift. Der hier vorgestellte, vom Verein Deutscher Ingenieure formulierte Ethik-Codex stellt sowohl fachdisziplinäre als auch interdisziplinäre Ansprüche. Dazu kommt die Aufforderung einer aktiven Beteiligung an der „Auslegung und Fortschreibung rechtlicher und politischer Vorgaben“ sowie der „technologischen Aufklärung“. Dies setzt eine Sensibilisierung für die ethischen Dimensionen des Ingenieurberufs voraus, die spätestens im Studium der Ingenieurwissenschaften zu leisten wäre. Der VDI plädiert somit für eine Integration des Faches „Ethik“ in die ingenieurwissenschaftlichen Curricula, eine Forderung, der sich der Autor anschließt. Ethikregeln sind nicht in Stein gemeißelt und ewig gültig. Bis auf jene, die sich auf universelle Werte beziehen, wie den kategorischen Imperativ Immanuel Kants. In einer durch Ressourcenknappheit und Klimawandel geprägten, durch politische Umbrüche und
5 Ethik-Codices in den Ingenieurwissenschaften … 105
Populismus bedrohten Welt sehen wir uns mit immer neuen Herausforderungen konfrontiert, die immer wieder neu zu bewerten und zu lösen sind. Ethikkommissionen garantieren eine ständige Anpassung der ausformulierten Ethikgrundsätze. Zwar wird die Kantsche universalmoralische Verpflichtung auch in einer sich wandelnden Gesellschaft eine Konstante bleiben, doch erfordern ständige Innovationen in den einzelnen Fachgebieten immer wieder eine Reflexion der beschlossenen Grundsätze. Wer hätte zum Beispiel zur Jahrtausendwende eine elektronische Vollüberwachung von Bürgern für technisch möglich gehalten, wie dies in einer Pilotstudie in chinesischen Modellstädten nun erprobt wird – außer vielleicht jene, die den Roman „1984“ von George Orwell gelesen haben.
Literatur Alt, F. (2015) Papst Franziskus: Macht Euch der Erde untertan! Retrieved 23.05.2019, from http://www.sonnenseite.com/de/franz-alt/kommentareinterviews/papst-franziskus-macht-euch-der-erde-untertan.html. Bogner, A. (2013) Ethikkommissionen. Handbuch Technikethik. A. Grunwald and M. Simonidis-Puschmann. Stuttgart/Weimar, Metzler: 415–420. EU (2019) Whistleblower: Erstmals EU-weiter Schutz für Hinweisgeber. EU, Pressedienst, Generaldirektion Kommunikation Europäisches Parlament, 12.03.2019. Kant, I. (1797) Die Metaphysik der Sitten in zwey Theilen. Erster Abschnitt, Vom Sachenrecht, § 13, Kant Werke, Bd. 7, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975, 372–373. Maring, M. (2013) Ethikkodizes. Handbuch Technikethik. A. H. Grunwald. Stuttgart/Weimar, Metzler: 411–415. Mitcham, C. (2009) A historico-ethical perspective on engineering education: From use and convenience to policy engagement. Engineering Studies 1(1): 35–53. VDI (2002) Ethische Grundsätze des Ingenieurberufs. Düsseldorf, Verein Deutscher Ingenieure (VDI): 8.
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Dieter D. Genske lehrt an der Hochschule Nordhausen Landschaftstechnologie und Flächenrecycling. Der Geo- und Ingenieurwissenschaftler leitet als Studiendekan den Bachelorbereich Geotechnik und den Masterbereich Energetisch-Ökologischer Stadtumbau. In diesem Rahmen bearbeitet er mit seinem Team nationale und internationale Forschungs- und Entwicklungsprojekte. Vor seinem Ruf an die Hochschule Nordhausen war er Professor an der TU Delft und der ETH Lausanne und davor Fachgutachter der Deutschen Montan Technologie Essen. Ein Humboldt-Stipendium führte ihn an die Universität von Kyoto (Japan). Er wurde zu Gastprofessuren an internationalen Hochschulen eingeladen und 2012 mit seinem Team mit dem Europäischen Solarpreis ausgezeichnet.
Teil III Fallbeispiele und Belege
6 Bioethik: Gaspedal oder Bremse einer nachhaltigen Entwicklung? Uta Breuer
Zusammenfassung Der Beitrag thematisiert das aktuelle Gebiet der Bioethik und fokussiert dabei auf die Technik des Gen Editings. Abstract The article deals with the current field of bioethics and focuses on the technique of gene editing. Schlüsselwörter Bioethik · GenEditing · CRISPR Cas · Ethik im Ingenieurwesen
U. Breuer (*) Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_6
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6.1 Einführung Bioethik umfasst Gebiete der Ethik, die mit dem Leben oder der Natur zu tun haben. Das Feld der Bioethik ist jedoch extrem breit gefächert (Abb. 6.1). Sich mit jedem Teilgebiet im Rahmen der Ingenieurwissenschaften auseinanderzusetzen, sprengt den Rahmen dieser Betrachtung. Daher wurden Bereiche gesucht, die die Ethik in der Biologie besonders beeinflusst oder in letzter Zeit eine sehr rasche Entwicklung genommen haben. Beide Aussagen treffen auf die Gentechnik, genauer das Gen Editing zu.
Abb. 6.1 Bereiche der Bioethik. (Mit freundlicher Genehmigung © Werner Moskopp)
6 Bioethik: Gaspedal oder Bremse einer nachhaltigen Entwicklung? 111
6.2 Was ist Gen Editing? Gen Editing ist eine neue biotechnologische Methode, die zielgerichtet das Erbgut, das Genom, verändern kann und unsere Sicht zur Genveränderung revolutionieren könnte. Obwohl die Methodik zu den Veränderungen des Erbguts schon seit den 1980er Jahren bekannt und evaluiert ist, ließen sich bis dato diese Modifikationen nicht zielgerichtet vornehmen. Der Grund dafür ist die Zuhilfenahme von sogenannten Vektoren, um die Genveränderung in den Organismus einzuführen. Wo diese die jeweiligen Bausteine, die Nukleotide, letztendlich einbauten, ließ sich nur mehr oder weniger gut vorherbestimmen und führte mitunter sogar zu schädlichen Mutationen. Nun sind Methoden bekannt geworden, wie z. B. das weiter unten beschriebene CRISPR Cas-System, die an genau definierten Stellen die Basensequenzen in das Genom einführen, sehr präzise und fast fehlerfrei. Es wird hierbei keine fremde DNA eingebaut, sondern die Nukleotide werden nur neu angeordnet. Möglicherweise lässt sich ein solcherart neu geschaffener Organismus technisch nicht von seinen natürlich vorkommenden Verwandten unterscheiden. Von seinen Eigenschaften jedoch könnte er höchstwahrscheinlich gerade den neuen Erfordernissen, wie eine Resistenz gegen Krankheiten, Widerstandsfähigkeit gegenüber Klimaveränderungen oder eine Zunahme von Masse sowie wertvollen Inhaltstoffen besser entsprechen.
6.3 Was ist CRISPR Cas? CRISPR Cas9, kurz CRISPR, bedeutet „clustered regularly interspaced short palindromic repeats“, also kurze palindromische Wiederholungssequenzen, die durch andere Erbgutstücke getrennt sind und in Prokaryoten oder Archea auftreten. Palindrome sind bekannt als Wörter oder Sätze, die vorwärts und rückwärts zu lesen sind und einen Sinn ergeben, teilweise sogar dieselbe Bedeutung haben.
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Diese palindromischen Nukleotid-Einheiten im Genom haben offensichtlich eine bedeutende Funktion, was auch dadurch unterstrichen wird, dass sie im Genom an bestimmten Stellen gehäuft auftreten. In der Nähe dieser sich wiederholenden Einheiten finden sich bei allen Bakterien weitere auffällige genomische Einheiten, die CRISPR-assoziierten Gene, Cas. Diese Bausteine wurden erst in den 80iger Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckt, aber ihre Träger, die Prokaryoten, haben über beide Elemente, insbesondere aber die Cas, eine antivirale Abwehr entwickelt. Wie funktioniert diese Abwehr? Die von den Cas-Genen exprimierten (ausgeprägten) Proteine sind in der Lage, jede beliebige DNA zu zerschneiden, sofern ein passendes Erkennungssignal in Form einer RNA vorhanden ist. Danach kann die Zelle ihren natürlichen Reparaturmechanismus anschalten und der Virenangriff bleibt für die Zelle ohne finale Folgen. Dieser Mechanismus kann entweder die zerschnittenen Enden wieder zusammenfügen oder andere, zusätzliche DNA-Elemente an diese Stelle einbauen. Damit sind äußerst präzise Änderungen der Sequenz im Genom möglich. Dabei gibt es keinen Unterschied, ob es sich um Bakterien, Tiere, Pflanzen oder den Menschen handelt. Auf diese Weise liegt anscheinend ein Gentechnik-Allheilmittel mit fast uneingeschränkten Möglichkeiten vor. Bildlicher erklärt der Begriff „Genschere“ diese Funktion, die helfen kann, z. B. krankmachende Mutationen zu beseitigen oder Nutzorganismen, wie Pflanzen oder Tiere, mit besseren oder wettbewerbsfähigeren Eigenschaften zu erzeugen. Aber andererseits hat man damit das Werkzeug in der Hand, um das menschliche Genom zu verändern oder zu verbessern. Durch eine niemals zuvor erreichte Genauigkeit dieser Methode kann man von einer Revolution in der Gentechnik bei der Veränderung des genetischen Materials sprechen, obwohl es immer noch Fehleinbauten oder unerwünschte Nebeneffekte dabei gibt. Ethisch ist dieses Vorgehen, wie kaum eine der vorherigen Innovationen in den Lebenswissenschaften, mit einem großen Dilemma verknüpft.
6 Bioethik: Gaspedal oder Bremse einer nachhaltigen Entwicklung? 113
6.4 CRISPR Cas bei Tieren Die Anwendung des CRISPR Cas bei Tieren wird häufig mit der Bezeichnung „Gene Drive“ oder „Vererbungsturbo“ gleichgesetzt. Was heißt das? CRISPR Cas fungiert als Methode zur schnellen Verbreitung gentechnisch veränderter Gene und damit bestimmter Eigenschaften in einer Population von Lebewesen mit weitreichenden Auswirkungen auf das Ökosystem. Beispielhaft soll hier eine Nutzungsmöglichkeit dargestellt werden, welche gleichermaßen sehr deutlich den Konflikt für die Ethik beschreibt. Seit einigen Jahren versuchen Wissenschaftler Malariamücken und andere Moskitos, die gefährliche Krankheitserreger übertragen, mit Hilfe der Gentechnik auszurotten. Möglich wäre es, einerseits die Insektenpopulationen regional oder global gänzlich auszurotten oder andererseits ihr Genom so zu verändern, dass eine Übertragung auf den menschlichen Wirt verhindert wird. Technisch scheint dies mit der CRISPR-Methode kein Problem mehr darzustellen. Die von RNA-Zielsequenzen gesteuerte Genschere CRISPR bringt zunächst genetische Bausteine in einige Tiere ein, die sich dort in beide Chromosomen aller Zellen kopieren und an alle Nachkommen weitergegeben werden. Diese manipulierten Mücken sollen sich dann mit anderen Mücken paaren und das manipulierte Gen so durch einen Gene Drive über einige Generationen hinweg in der gesamten Population verbreiten. Theoretisch könnten dann ganze Populationen zusammenbrechen, wenn beispielsweise die manipulierten Erbgutschnipsel Weibchen unfruchtbar machen (Abb. 6.2). Nach zunächst erfolgreich anlaufenden Experimenten machten Evolutionsprozesse den Forschern allerdings einen Strich durch die Rechnung: in wenigen Mücken entstanden zufällige Erbgutveränderungen in den Zielsequenzen der CRISPR-Genschere – und machten erst die Tiere selbst, alle ihre Nachkommen sowie schließlich nach und nach die Gesamtpopulation resistent gegen den Gene Drive. Mittlerweile ist es in neuen Ansätzen gelungen, die Entwicklung solcher Resistenzen zu umgehen und tatsächlich eine Population von
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Abb. 6.2 Funktion des Vererbungsturbos. (Mit freundlicher Genehmigung © Der Spiegel, Spiegel online)
alariamücken im Labor nach wenigen Generationen per Gene Drive M auszurotten (Osterkamp 2018). Was auf den ersten Blick für die Gesunderhaltung von Menschen in gefährdeten Gebieten als sehr vorteilhaft erscheint und eine große Chance darstellt, das Lebensalter der Menschen in den oft betroffenen Schwellenländern zu erhöhen, stellt auf der anderen Seite ein schwer überschaubares ökologisches Risiko dar. Bedenken bestehen zudem auch im rechtlichen und ethischen Bereich. Wenn eine zahlenmäßig große Gruppe von Insekten in einem Ökosystem ausstirbt, besteht eine Gefahr für das gesamte Leben auf dem Planeten. Nach dem Aussterben dieser Insekten wird ihr Platz in der Nahrungskette frei werden, was für die Fressfeinde der Insekten bedeutet, entweder ebenfalls auszusterben oder ein anderes Biotop oder eine andere ökologische Nische zu suchen. Dieses Prozedere würde sich bis hin zum Menschen wiederholen und zielgerichtet dieses Ökosystem drastisch verändern bis zu einer finalen natürlichen Ödnis. Daraus erwachsen Fragen, die noch nicht beantwortet sind oder werden können. So die Frage nach den erforderlichen Sicherungsmechanismen für den Gene Drive bei einer Freisetzung hinsichtlich der Auswirkungen auf Mensch und Natur. Momentan gibt es zudem keine Methode, die die Reichweite des Gene Drives begrenzt
6 Bioethik: Gaspedal oder Bremse einer nachhaltigen Entwicklung? 115
oder es ermöglicht, die gentechnische Veränderung nach Freisetzung wieder „zurückzuholen“ oder zu reparieren, quasi aus dem Genom der betroffenen Population zu tilgen. Reichen dann nationale Regelungen aus oder sollte es nicht eher internationale Maßnahmen für den Einsatz von CRISPR Cas bei Tieren und die Freisetzung solcherart veränderter Organismen in der Natur geben? Auf der anderen Seite, wie oben erwähnt, steht die gewünschte schnelle Beseitigung von Krankheitserregern bereits nach wenigen Generationszeiten der Insekten. Und schließlich: Wie groß ist der Druck der zu lösenden globalen Probleme, wie dem Hunger oder der zunehmenden Zahl an mikrobiellen Pathogenen, um die oben geschilderten Bedenken ohne weiteres über Bord zu werfen?
6.5 CRISPR Cas bei Pflanzen Ein immer stärker werdendes globales Bevölkerungswachstum, zunehmende Trockenperioden und steigende Temperaturen fordern immer passgenauere Lösungen für eine ertragreiche Landwirtschaft sowie für Nutzpflanzen, die gegen Krankheitserreger und Dürre widerstandsfähig sind. Die Frage ist dabei nur, wie sich diese Aufgabe in der geforderten Geschwindigkeit realisieren lässt? „Normale“ Züchtungen, die aus klassischen Züchtungstechniken mit anschließender Auslese der geeigneten Nachkommen bestehen, dauern erfahrungsgemäß lange. Zu lange, um die oben genannten globalen Ernährungsprobleme lösen zu können. Die Unterschiede der Möglichkeiten zur Veränderung bei Pflanzen wurden sehr anschaulich in einer Publikation des vom Bayerischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst geförderten Projektteams „Pflanzen-Forschung-Ethik“ dargestellt (Tab. 6.1) (Projektverbund TTN/i-bio). Ein Beispiel für die erfolgreiche Anwendung von CRISPR Cas bei Pflanzen wäre eine neue Weizensorte, die resistent gegen eine weit verbreitete Pilzerkrankung, den Echten Mehltau, ist und impliziert, dass, bei ihrem großflächigen Anbau zur Erzielung eines hohen Ertrages zukünftig erheblich weniger Pflanzenschutzmittel notwendig sein sollten.
Nutzbares Genmaterial
Verfahren
Hybridzüchtung
Mutagenese
Gentechnologie
mit Hilfe gezielte Kreuzung Auslösen einer Kreuzung und geeigneter Ver Vielzahl von zwei Eltern Auswahl der fahren werden spontaner linien, bei denen Nachkommen Gene bzw. die gewünschten Mutationen anhand Genkonstrukte durch Merkmale rein bestimmter direkt in Genom ionisierende erbig vorhanden äußerlicher einer Pflanze Strahlung oder sind Merkmale; eingebracht Chemikalien; zufällige dadurch größere Kombination von genetische Eigenschaften Variabilität der Eltern des Pflanzen materials für die Züchtung Genpool der grundsätzlich „natürliche“ Ver Genpool der jeweiligen Art jeweiligen Art Gene aller mehrung ohne Organismen; technische Ein weitere griffe Genelemente für sinnvolle Expression erforderlich
Klassische Züchtung
(Fortsetzung)
Genpool der jeweiligen Art; keine „art fremden“ Gene
Herbeiführen einer gezielten Mutation an einer ganz bestimmten Stelle im Genom
Genome Editing
Tab. 6.1 Zusammenstellung ausgewählter Möglichkeiten der Genveränderung bei Pflanzen (nach Projektverbund TTN/i-bio)
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Nachkommen
zufällige Kombinationen von Genen und Genmaterial
Klassische Züchtung
Tab. 6.1 (Fortsetzung)
mischerbig mit einem breiten Spektrum ver schiedener Erbanlagen; Nachkommen sind ertragsreicher und widerstandsfähiger als Elternlinien
Hybridzüchtung
Gentechnologie
nach Einführung zufällige, des neuen Gens ungerichtete wird aus Zelle Veränderung des eine Pflanze Genmaterials regeneriert; an unzähligen, erfüllt diese die im Einzelnen Erwartungen, nicht bekannten wird sie in Stellen im gängige Kultur Genom; sorten ein Identifikation gekreuzt interessanter Mutanten anhand äußerer Merkmale oder bestimmter Markergene
Mutagenese
(Fortsetzung)
nach GenEditierung besitzen alle Nachkommen nur die jeweilig beabsichtigte Punktmutation;
Genome Editing
6 Bioethik: Gaspedal oder Bremse einer nachhaltigen Entwicklung? 117
Vor-/Nachteile
Hybridzüchtung
Sorten mit bewährtes, guten Ertrag akzeptiertes Ver seigenschaften, fahren aber nur bei den direkten Nachkommen; Nachzüchtung ist nicht möglich bzw. mit starken Ertragsverlusten verbunden
Klassische Züchtung
Tab. 6.1 (Fortsetzung) Gentechnologie
Erweiterung genetische der nutzbaren Variabilität wird genetischen „künstlich“ Ressourcen über erhöht den jeweiligen großer Auf Genpool hinaus wand nötig, um Sorten nur mit erwünschter Mutation zu erzeugen, Risiko unerwünschter Mutationen besteht, die vor Markteinführung nicht erkannt werden
Mutagenese sehr viel präziser als klassische Züchtungsver fahren und Gentechnik; vergleichs weise einfach, zuverlässig und kostengünstig
Genome Editing
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6 Bioethik: Gaspedal oder Bremse einer nachhaltigen Entwicklung? 119
Neben diesen ökonomischen treten seit Beginn des gezielten Gen Editings bei Pflanzen rechtliche und ethische Fragestellungen in den Fokus der Betrachtungen. Neben der Frage nach der Sicherheit der neuen Techniken geht es in erster Linie um den Wert bzw. die Würde der Pflanze. Der ethisch-gesellschaftliche Diskurs um Genome Editing bei Pflanzen hat Fahrt aufgenommen. In der Öffentlichkeit wird der Einsatz von gentechnischen Methoden bei Pflanzen ohnehin sehr stark abgelehnt, weil man eine Beeinträchtigung der Biodiversität und schließlich ein zielgerichtetes Übergreifen der pflanzlichen Genveränderungen auf den Menschen befürchtet. Aktuell wird mit der neuen Methode des CRISPR Cas und der damit verbundenen fehlenden Unterscheidbarkeit von Wildtyp und genetisch veränderten Pflanzen hinsichtlich fremden Erbguts zudem die Frage diskutiert, was als „natürlich“ gilt und was nicht (mehr)? Was ist z. B. mit der weit genutzten Getreidesorte Triticale als Kreuzung aus Weizen (Triticum aestivum) und Roggen (Secale cereale)? Bedeutet der Beisatz „natürlich“, dass die so erzeugte Pflanze rechtlich und ethisch „sicher“ ist und letztlich durch den Verbraucher akzeptiert wird? Mutationen kommen permanent natürlich vor und, wie oben ausgeführt, verändern auch klassische Züchtungsmethoden das Erbgut, bloß, dass solcherart erzeugte Pflanzen keinerlei gesetzlichen Regulation unterliegen und ohne Einschränkungen angebaut und konsumiert werden. Was wäre, wenn in der USA erzeugter CRISPR Cas – Mais, der in den USA bisher keiner gesetzlichen Einschränkung unterliegt, im Zuge des globalen Handels nach Deutschland eingeführt würde und wegen des fehlenden wissenschaftlichen Nachweises seiner anderen Herstellung zu uns in die Geschäfte käme? Das wäre nicht nur rechtlich, sondern vor allem ethisch problematisch. Es könnte bedeuten, dass genetisch veränderte Organismen ohne Zulassung und Prüfung in Deutschland vertrieben würden, zur Reduktion der Biodiversität führten und nicht abschätzbare Langzeitfolgen beim Menschen verursachen könnten. Die Wahl würde bereits jetzt beim Verbraucher liegen. Ohne, dass es in der Öffentlichkeit sichtbar würde, hätte sich durch diese Methode die lebendige Umwelt verändert. Das wäre eine Revolution und keiner hätte sie bemerkt.
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6.6 CRISPR Cas beim Menschen Die bereits beschriebene Methode kann auch beim Menschen eingesetzt werden. Denkbar sind viele erfolgversprechende Anwendungen im Bereich der Medizin. Konkret könnten solche Gentherapien bisher nicht heilbare Erbkrankheiten therapieren oder Krebs sowie AIDS könnten mit Gen Editing geheilt werden. Gerade durch die im zweiten Unterkapitel (2. Was ist CRISPR Cas) beschriebenen Vorteile scheint diese innovative Methode bei der Nutzung in der medizinischen Genchirurgie sicher. Mit dieser angeblichen Sicherheit könnte einerseits ein großer Investitionsumfang verknüpft sein, der unter Umständen die weitere Forschung beschleunigen würde. Aber ebenso könnten sich andererseits Besitzstände im Umgang mit neuen Forschungsergebnissen entwickeln, die eine weitere Erkenntnisgewinnung hemmen würden. Doch ist eine so schnelle, anscheinend blindgläubige Entwicklung von Innovationen immer zielführend? Gerade ein geschichtlicher Exkurs zeigt, dass Euphorie bei der Entdeckung bahnbrechender Erkenntnisse, gepaart mit einem hohen Tempo der Nutzung häufig die Ursache von Irrwegen und Katastrophen war. Das zeigt z. B. der Missbrauch des radioaktiven Zerfalls für den Einsatz in Atomwaffen im Gegensatz zu der Nutzung, die dem Entdecker Otto Hahn vorschwebte. Was macht den Einsatz von CRISPR Cas beim Menschen so ethisch bedenklich? Bei der Verwendung von CRISPR Cas ist der Einsatz bei somatischen, also Körperzellen, im Vergleich zu dem bei Keimzellen zu unterscheiden. 2012 wurde zunächst, beginnend mit der Entdeckung von CRISPR Cas, der genchirurgische Eingriff außerhalb des menschlichen Körpers in einer Petrischale mit isolierten Körperzellen erfolgreich durchgeführt (Emmrich 2018). Hier konnte durch die Prüfung des korrekten genchirurgischen Eingriffs in die Zelle außerhalb des Körpers der Vorteil und die höhere Sicherheit der CRISPR Cas Methode gezeigt werden.
6 Bioethik: Gaspedal oder Bremse einer nachhaltigen Entwicklung? 121
Das Ziel war und ist jedoch ein Eingriff direkt im menschlichen Körper. Dazu waren weitere Veränderungen der Werkzeuge notwendig, um deren Präzision, Effizienz und Sicherheit zu erhöhen. So ließe sich Organmangel für eine Transplantation durch eine exakte Veränderung der genetischen Sequenzen und die damit verknüpfte Verhinderung von Abstoßungsreaktionen bei Tiergewebe überwinden. Ob jedoch eine bloße Übertragbarkeit von Laborergebnissen in den menschlichen Körper möglich ist, bleibt fragwürdig. Genauso ungewiss ist, ob die bekannten Reparaturmechanismen des menschlichen Organismus bei Veränderung der Gensequenzen in Funktion treten oder nicht. Das Risiko, welches mit der CRISPR Cas Methode verknüpft ist, wird im Vergleich zu dem Einsatz bei Körperzellen immanent, wenn vom Eingriff in die Keimbahn gesprochen wird. Für solche Eingriffe in das menschliche Genom hat sich der Begriff Enhancement (Verbesserung) durchgesetzt. Schockenhoff, Professor für Moraltheorie an der Universität Freiburg, vergleicht diese Keimbahnintervention mit einer Reise ins Ungewisse, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass es unvorhersehbare Wirkungsketten gibt (Schäfers 2016). Erfolgreich waren Laborversuche in dieser Hinsicht (bisher) nicht. Ein chinesischer Eingriff zur Behandlung einer schweren Blutkrankheit (2015) zeigte einen nicht erwarteten unpräzisen Genaustausch und dazu viele Fehlschnitte (Liang et al. 2015). 2017 gelang es hingegen amerikanischen Forschern, in Embryos einen Gendefekt, der für eine Herzkrankheit verantwortlich zu machen ist, via CRISPR Cas zu beheben. Fehlschnitte wurden in diesem Experiment nicht beobachtet (Emmerich 2018). Jedoch sind zum realen Einsatz noch sehr viel mehr Untersuchungen einschließlich der damit verknüpften Auswertungen erforderlich. Die Möglichkeiten, mit CRISPR Cas Menschen zu heilen, werden im Gegensatz zum Einsatz bei Pflanzen sehr häufig von der Öffentlichkeit, insbesondere von Betroffenen, nicht nur akzeptiert, sondern sogar begrüßt. Es ist daher insbesondere bei der medizinischen Nutzung eine sehr sorgfältige ethische Risiko-Nutzen-Abwägung durchzuführen. Das forderte bereits der VDI (2017). Insbesondere betrifft dies alle Formen
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der Keimbahnintervention. Bereits seit 2015 fordern unterschiedliche Institutionen und gesellschaftliche Akteure zudem ein freiwilliges internationales Moratorium für sämtliche Formen der Keimbahnintervention beim Menschen (Emmerich 2018). In dieser gegenwärtig gespannten und sich schnell verändernden Situation kann man diverse Stellungnahmen und einige Literaturquellen zur Anwendung von Gen Editing Methoden beim Menschen finden (Knoepfler, VDI u. a.). Die Problematik in der eigentlich notwendigen Breite hier darzustellen, sprengt den Rahmen dieser aufsatzmäßigen Abhandlung über Ethik in den Ingenieurwissenschaften und bedarf einer alleinigen Darstellung. Daher wurde hier nur der Versuch einer aktuellen und generellen Darstellung gewählt, die helfen soll, sich eine Position bei der Anwendung der Gen Editing Methoden beim Menschen zu erarbeiten. Momentan scheint ein gesellschaftlicher Konsens in der Ablehnung der Eingriffe in die Keimbahn wegen der Unzuverlässigkeit und Gefährlichkeit vorzuliegen. Gleichermaßen wird aber auch vor zu hohen Erwartungen beim Einsatz dieser Methode und einer zu frühen, weil unerforschten, und unzuverlässigen Anwendung gewarnt.
6.7 Rechtsprechung und ethische Implikation bei CRISPR Cas Ethische und rechtliche Kontrollmechanismen für den Einsatz solcher Methoden zu etablieren, die auch das Erbgut beim Menschen überaus präzise verändern können, ist zurzeit gegeben. Neben den Möglichkeiten und Chancen solcher Methoden müssen dabei jedoch unbedingt die (bisher) nichtkalkulierbaren Risiken und Gefahren erkannt werden. Hinzu kommt, dass diese revolutionäre Methode in der Lage ist, nicht nur präzise das Genom zu schneiden und Veränderungen anzubringen, sondern auch hilft, Genfunktionen verstehen zu lernen. Obendrein ist sie kostengünstig und leicht erlernbar.
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Die deutsche Gesetzgebung ist in Bezug auf den Einsatz dieser neuen gentechnischen Methoden wenig präzise. In den letzten etwa fünf Jahren wird jedoch auch die öffentliche Diskussion deutlicher. Das deutsche Gendiagnostikgesetz, welches seit Februar 2010 existiert und beispielsweise den kommerziellen Anbau von GVO verbietet, regelt den Umgang mit diesen aktuellen Methoden nicht adäquat. Hier ist dringender Handlungsbedarf erkennbar. Das Embryonenschutzgesetz in Deutschland von 1990 mit letzter Änderung von 2011 zeigt viele Lücken in der Rechtsprechung, die beispielsweise in solchen Bereichen, wie der Embryonenselektion liegen. Eine notwendige Änderung sollte auch dem gestiegenen Interesse an der Forschung auf diesem Gebiet Rechnung tragen. Nachdem auch die Leihmutterschaft in Deutschland nicht geregelt ist, erscheint es sinnvoll, über ein Fortpflanzungsmedizingesetz zu sprechen, wie bereits im Oktober 2017 öffentlich gefordert wurde (Wiesemann). Dort müssen auch die neuen technischen Möglichkeiten Eingang finden. In einer gemeinsamen Stellungnahme kommen die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften – acatech, die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften und die Deutsche Forschungsgemeinschaft bereits 2015 zur Einschätzung, dass „Genome Editing” ein hohes wissenschaftliches Potenzial besitzt und in vielen Bereichen ethisch und rechtlich unbedenklich ist“ (Wallenfels 2018). Ebenfalls im Jahr 2017 hatte der Deutsche Ethikrat eine Empfehlung für die Bundesregierung und den Bundestag ausgesprochen, in der er eine internationale Konferenz vorschlägt – ähnlich den Klimakonferenzen. Die VDI-Biotechnologieexperten sehen genauso die internationale GenAufsichtsbehörde in der Pflicht, das globale Spannungsfeld zu befrieden, das sich aus den ethischen Implikationen versus gesundheitsökonomischen Betrachtungen ergibt (cf. Wallenfels 2018). Auch, weil die deutsche Gesetzgebung in diesem Punkt zu ungenau ist, die weltweite wissenschaftliche Entwicklung jedoch weitergeht und die globalen Erfordernisse drängender werden, hat die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina nochmals im März vor der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) (siehe unten)
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ein Diskussionspapier zur ethischen und rechtlichen Beurteilung des Genome Editings in der Forschung an humanen Zellen vorgelegt. Dabei wird die besondere Relevanz des Einsatzes von Genome Editing an menschlichen Keimbahnzellen für Erforschung und das Verständnis der frühen Embryonalentwicklung festgestellt. Keimbahnveränderungen werden abgelehnt sowie entsprechende Therapien erst nach einer äquivalenten Erforschung des Einsatzes bei Körperzellen und, darauf aufbauend, an den Keimbahnzellen und Embryonen akzeptiert. Für medizinische Forschungszwecke sollten nur verwaiste Embryonen zugelassen werden. Verwaiste Embyonen sind solche, die zwar zur Fortpflanzung erzeugt worden, nun aber von den biologischen Eltern nicht verwendet werden, sei es, weil die Embryonen selbst genetische Defekte aufweisen, oder die Familienplanung abgeschlossen ist cf. Tetsch 2017). Genome Editing zur Verbesserung von Eigenschaften des Menschen (Enhancement) jenseits der Behandlung und Prävention von Erkrankungen wird abgelehnt. Wie unterschiedlich international diese Frage der Keimbahnintervention geregelt ist, zeigt Abb. 6.3. Im Juli 2018 hat der Europäische Gerichtshof EuGH entschieden, dass Pflanzen, die mit modernen biologischen Methoden im Labor entstanden sind, zu den gentechnisch veränderten Pflanzen zählen. Folglich müssen sie den strengen EU-Richtlinien für gentechnisch veränderte Organismen (GVO) standhalten, d. h. dass ihre Verwendung, aber auch ihre Freisetzung in die Umwelt genehmigt werden müssen. Zur Begründung hieß es, die Risiken solcher Verfahren seien vergleichbar mit denen älterer Verfahren, die bereits unter strengen Auflagen stehen. Pflanzen, die mit den neuen Verfahren erzeugt wurden, müssen daher noch vor ihrer Zulassung auf eine mögliche Gefahr für die Gesundheit oder die Umwelt geprüft werden. Zudem ist eine spezielle Kennzeichnung der daraus hergestellten Lebens- oder Futtermittel vorgeschrieben, die die Produkte rückverfolgbar macht (Die Zeit 2018) Mit dem Urteil wurde einerseits Klarheit geschaffen, aber andererseits auch eine größere Diskussion entfacht, die schlussendlich auch zu einer Online-Petition gegen das EuGH-Urteil führte. In dieser wurde, initiiert von französischen Wissenschaftlern, die fehlende wissenschaft-
Abb. 6.3 Unterschiedliche internationale Gesetzgebung hinsichtlich der menschlichen Genmodifikation. (Mit freund licher Genehmigung © Araki and Ishii; licensee BioMed Central Ltd. 2014)
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liche Basis bemängelt. Des Weiteren wurde darin das Risiko von unbeabsichtigten Folgen des Genome Editings als nicht größer im Vergleich zu älteren und weniger genauen Züchtungsmethoden eingeschätzt. Auch wurde dem höheren Tempo und Ausmaß widersprochen, mit der mit Genome Editing gentechnisch veränderte Sorten herzustellen seien. Das zeigt einerseits tatsächlich eine fehlende Wissensbasis und andererseits sehr deutlich das Streiten zwischen Ethik und Ökonomie (Bockolt 2018). Auch muss nun die Politik auf internationaler Ebene die entsprechenden Handlungsleitfäden verabschieden. Dieses Werkzeug des Gen Editings, insbesondere CRISPR Cas, ausschließlich als moderne Gefahr für den Fortbestand der Menschheit zu geißeln, greift viel zu kurz. Die wirklich großartigen Chancen werden nicht adäquat gesehen und eher die Risiken der Methode betont. Dabei würde dann ein Fehler bei der Behandlung einer neuen Wissenschaftsmethode wiederholt werden. Es gibt eine fast panikartige öffentliche Ablehnung der grünen Gentechnik, ohne dass Anstrengungen unternommen werden, die Bevölkerung über den gegenwärtigen Stand von Forschung und Entwicklung inklusive der damit verbundenen Risiken aufzuklären. Ein „Zurückrudern“ wäre notwendig, aber eher mit einem großen Zeitaufwand verknüpft, wenn nicht gar unmöglich. Anders hingegen sieht die Situation bei der roten Gentechnik (Anwendungen in der Medizin) aus. Ließen sich schwerste Erbkrankheiten durch Zuhilfenahme der neuen gentechnischen Methoden von vornherein verhindern, würde es sicher bei einem Großteil der informierten Bevölkerung eher Zustimmung, denn Ablehnung geben. Diese Situation spiegelt sich in der gegenwärtigen öffentlichen Wahrnehmung der neuen Gen Editing Methoden wider. Was wir aus dieser Entwicklung lernen müssen, ist die notwendige Einbeziehung der öffentlichen Sicht in diese ethische Diskussion. Es muss einen gesellschaftlichen Diskurs und eine begründete Entscheidung für oder gegen die Nutzung dieser Methode geben. Tatsächlich hätte man mit CRISPR Cas jedoch Möglichkeiten und Chancen, die es mit den bisherigen gentechnischen Verfahren nicht gibt. Als neue, wenig evaluierte Methode sind Risiken nicht auszuschließen und müssen umfänglich untersucht werden.
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Solche Risiken sind bereits 2017 vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) Risiken zusammengetragen worden (BfR Wissenschaft 2017). • fehlender Nutzen: Es gibt vorzugsweise finanzielle Motive der Industrie. • Unwägbarkeit: Die Folgen insgesamt und die gesundheitlichen Wirkungen auf den menschlichen Organismus sind noch unbekannt. • fehlende Nachweisbarkeit: Sie gefährde die Entscheidungsfreiheit für oder gegen Nutzung entsprechender Lebensmittel. • reine ethische Bedenken: Es besteht die Gefahr des Missbrauchs der Technik, z. B. um den „optimalen Menschen“ zu designen. • Technikfolgenabschätzung: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit und das Schadenspotenzial möglicher Fehler, unbeabsichtigter Freisetzung und schneller und effektiv wirkender Gegenmaßnahmen einzuschätzen? • missbräuchliche Verwendung solcher Technologien Es muss in Bezug auf CRISPR Cas eine Sicherheitskultur geschaffen werden, in deren Rahmen Aufklärung und Selbstverpflichtung der Wissenschaft, die Erarbeitung entsprechender Verhaltensregeln und ggf. die Installierung von Kommissionen adressiert werden können (Dabrock und Braun 2017). Ist das CRISPR Cas System moralisch-ethisch verwerflich? Hinsichtlich eines Keimbahneingriffs sind die Risiken gegenwärtig so schwer einzuschätzen, dass es ohne weitere Kenntnisse keine Intervention in die Keimbahn geben darf. Der Umgang mit Gentechnik allgemein und CRISPR Cas im Speziellen zeigt jedoch auch, dass diese Technologie nicht pauschal goutiert oder abgelehnt werden sollte. Es sind bei der Bewertung Kriterien zu beachten, wie die Erhaltung der Biodiversität bei Anwendung der Methode, die Rückholbarkeit der erzielten Ergebnisse, unterteilt nach Empfänger und Ort der Veränderung (Zelle, Gewebe, Organismus), die geplante Anwendung (Grundlagenforschung, Forschung und/oder Nutzung für Medikamente, Nahrungsmittel, Militär) und auch die beteiligten Akteure (Privatpersonen, öffentliche Forschung, Industrie, Militär) (Dabrock und Braun 2017).
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Dabei sollte die Öffentlichkeit, wie bereits weiter oben erwähnt, nicht erst im Nachgang der Anwendung, sondern bereits vor dem Einsatz in Kenntnis gesetzt werden. So wären kritische Fragen gleichsam wie die öffentliche Bewertung von Chancen und Risiken Bestandteil einer von vielen Schultern getragenen Akzeptanz neuer Methoden (Dabrock und Braun 2017). Auch werden verschiedene Bevölkerungsgruppen zur Teilnahme am Gespräch aufgefordert, was der Akzeptanz und dem Fortschrittsgedanken weiter zuträglich ist. Trotzdem ist in letzter Zeit auch eine Müdigkeit innerhalb der Bevölkerung festgestellt worden, sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen und Stellung zu beziehen, was in diesem Fall sicherlich mit nicht komplett verstandenen komplexen Vernetzungen zu anderen Wissenschaftsgebieten zu erklären ist. Dem kann man nur proaktiv entgegentreten. Die Öffentlichkeit muss ohne Aufforderung informiert und am Entscheidungsprozess beteiligt werden.
6.8 Fazit CRISPR Cas als eine Methode des Gen Editings hat eine neue Qualität der Gentechnik in das gegenwärtige Leben eingebracht. Aber sie ist auch mit großen Risiken verbunden, die z. T. wegen des fehlenden Wissens (noch) nicht beherrschbar sind. Die Öffentlichkeit muss in die Bewertung der Chancen und Risiken mit den entsprechenden Folgemaßnahmen vorurteilslos einbezogen werden. Gelingt dies, kann diese vielversprechende, aber auch mit Gefahren behaftete Biotechnologie mit dem nötigen Vertrauen und der gebotenen Skepsis öffentlich begleitet werden. Den Einsatz dieser Technik grundsätzlich scheitern zu lassen, wäre jedenfalls nicht nur ethisch unverantwortlich. Angesichts des enormen Potenzials gibt es eben auch nicht nur eine Schuld, wenn man gefährliche Dinge tut, sondern auch, wenn man angesichts drängender globaler Herausforderungen sinnvolle Lösungsansätze vorschnell unterlässt (Dabrock und Braun 2017). CRISPR Cas ist ein Beispiel dafür, dass neue Methoden ambivalent zu beurteilen sind, also weder Bremse noch Gaspedal, sondern Kupplung zwischen Möglichkeiten und ethischer Verantwortung.
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6.9 Epilog Inzwischen wurde die Meldung öffentlich, wonach ein chinesischer Wissenschaftler durch die CRISPR Cas Methode 2 Embryonen so verändert hat, dass sie resistent gegen den HIV-Virus werden. Obwohl eine wissenschaftliche Veröffentlichung und Bestätigung dieser Versuche bislang fehlen, zeigt diese Meldung doch auch, dass es jetzt höchste Zeit ist, weltweit gemeinsam zu einem Moratorium gegen den Einsatz der CRISPR Cas Methode in der menschlichen Keimbahn zu kommen. Diese Experimente sind auf der Basis des heutigen Erkenntnisstands, nachdem die Folgen, die Kontrolle und die Nebenwirkungen bei dem Einsatz im Menschen noch völlig unzureichend erforscht und bekannt sind, auf das Schärfste zu verurteilen.
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Knoepfler, P. (2018) Genmanipulierte Menschheit, Springer-Verlag: Berlin Heidelberg New York Liang. P., Xu, Y., Zhang, X., Ding, C., Huang, R., Zhang, Z., Kv, J., Xie, X., Chen, Y., Li, Y., Sun, Y., Bai, Y., Songyang, Z., Ma, W., Zhou, C., Huang, J. (2015) CRISPR/Cas9-mediated gene editing in human tripronuclear zygotes. Protein & Cell, 6(5): 363–372 Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Deutsche Forschungsgemeinschaft, acatech ‒ Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (2015) Chancen und Grenzen des genome editing/The opportunities and limits of genome editing. Halle (Saale), 30 S Osterkamp, J. (2018) CRISPR-Genwelle löscht Mückenpopulation aus, 24.9.2018, https://www.spektrum.de/news/crispr-genwelle-loescht-muecken population-aus/1593408 Projektverbund TTN/i-bio (2018) Züchtungsverfahren im Überblick – Mit und ohne Gentechnik, 21.08.2018, https://www.pflanzen-forschung-ethik. de/verfahren/ueberblick-verfahren.html Projektverbund Schäfers, B. (2016) Gentechnische Methode CRISPR-Cas9 Ethische Bedenken bei der „Gen-Schere“ 18.10.2016, https://www.deutschlandfunk.de/gentechnische-methode-crispr-cas9-ethische-bedenken-bei-der.886. de.html?dram:article_id = 368569 Tetsch, L. (2017) Embryonenschutzgesetz 2.0?, 04.04.17, https://www.laborjournal.de/editorials/1236.php VDI-Gesellschaft Technologies of Life Sciences (VDI-TLS) (2017) CRISPR/ Cas & Co – Neue Biotech-Werkzeuge, VDI-Thesen und Handlungsfelder November 2017 Wallenfels, M., Medizinethik (2018) CRISPR/Cas-Methode – Zwischen Zauberwerk und Hexenkunst, 25.05.2018, https://www.aerztezeitung.de/ politik_gesellschaft/medizinethik/article/964538/medizinethik-crisprcasmethode-zwischen-zauberwerk-hexenkunst.html Wiesemann, C., Krauter, R. (2017) Embryonenschutzgesetz veraltet? „Viele Bereiche ungeregelt, aber Forschung bleibt nicht stehen“, 18.10.17, https:// www.deutschlandfunk.de/embryonenschutzgesetz-veraltet-viele-bereicheungeregelt.676.de.html?dram:article_id=398504
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Uta Breuer studierte Biochemie an der Universität in Leipzig und bekleidet nach Stationen am Umweltforschungszentrum Leipzig und einem kleinen biotechnischen Industrieunternehmen in Sachsen-Anhalt seit 2012 an der Hochschule Nordhausen die Professur für biologische und chemische Verfahrenstechnik. Ihre Interessengebiete liegen neben der molekularen Biotechnologie vor allem auf mikrobiologischen Aspekten der Bioverfahrenstechnik.
7 Ethische Fragen der Informatikausbildung Jürgen Löffelholz und Frank-Michael Dittes
Zusammenfassung Die Autoren analysieren die Spezifik der Arbeit von Informatikern und verweisen auf die besondere Verantwortung für die Produkte ihrer Tätigkeit – vom Computerprogramm bis zur Entscheidung, welcher Automat wann zum Einsatz kommt und wo Menschen nicht durch Roboter ersetzt werden sollten. Ausgehend von langjährigen Erfahrungen u. a. an den Fachhochschulen Erfurt und Nordhausen leiten sie Vorschläge ab, wie die studentische Ausbildung dazu beitragen kann, dieser Verantwortung besser gerecht zu werden. Darüber hinaus wird betont, dass der dafür erforderliche Rahmen in Form von Regeln und Standards usw. von der Gesellschaft insgesamt geschaffen werden muss, einschließlich der Politik.
J. Löffelholz (*) Fachhochschule Erfurt, Erfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] F.-M. Dittes Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_7
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Abstract The authors analyse the specific nature of the work of computer scientists and point out the special responsibility for the products of their work – from the computer program to the decision which machine is used when and where humans should not be replaced by robots. Based on many years of experience at the Universities of Applied Sciences in Erfurt and Nordhausen, among others, they derive suggestions as to how student education can contribute to better meeting this responsibility. Furthermore, it is emphasised that the necessary framework for this in the form of rules and standards etc. must be created by society as a whole, including politics. Schlüsselwörter Informatik · IT · Roboter · Informatikstudium · Ethik
7.1 Einleitung Die stürmische Entwicklung der Informationstechnologie ist in aller Munde: Digitalisierung, Robotik, künstliche Intelligenz, Industrie 4.0. Damit verbundene Veränderungen sowohl der Produktionsprozesse als auch der Lebensweise vieler Menschen haben dazu geführt, dass ethische Probleme der Entwicklung und des Einsatzes informationstechnischer Systeme wie auch Fragen der ethischen Verantwortung von Informatikern in den vergangenen Jahren verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit getreten sind. Im Folgenden gehen wir auf einige der damit verbundenen Aspekte ein. Ausgehend von unserer Tätigkeit an verschiedenen Hochschulen konzentrieren wir uns dabei auf die unserer Meinung nach dort besonders relevanten Aspekte der Ausbildung von Informatikerinnen und Informatikern.
7.2 Verantwortung Es bedarf eines gesellschaftlichen Konsenses, wie wir mit den heutigen Entwicklungen der Informationstechnologie (IT) umgehen wollen. Insbesondere sollte die Generation, welche die digitale Transformation
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realisieren wird, auf diese gut vorbereitet werden – das gilt in besonders hohem Maße für die Fachleute, welche die weitere Entwicklung der IT prägen werden. Hochschulen haben in dieser Hinsicht bei der Ausbildung von Studentinnen und Studenten eine besondere Verantwortung. Aber es ist natürlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und betrifft uns alle, angefangen vom Elternhaus und der Schule über die Berufsausbildung bis hin zu den öffentlichen Medien. Die Autoren dieses Beitrags vertreten die These, dass jeder Programmierer in besonderer Weise verantwortlich ist für sein Produkt und dass sich daraus für die Ausbildung von Studentinnen und Studenten im Bereich Informatik zwingend wichtige Lehrinhalte ergeben – sowohl für das Fachwissen als auch darüber hinaus. Eigentlich betrifft die Frage der Verantwortung alle Menschen, die irgendetwas herstellen, verkaufen oder als Dienstleistung erbringen. Der Grad der Verantwortung ist dabei naturgemäß unterschiedlich und von der Art der Tätigkeit abhängig. Erwarten wir aber nicht zu Recht von jeder Person, sei es Arzt, Lehrer, Journalist, Politiker, Wissenschaftler, Laborant, Service-Mitarbeiter, Konstrukteur, Ingenieur, Tischler, Briefzusteller oder Busfahrer • Sachkenntnis bezüglich der Aufgabe, • Offenheit gegenüber den Anforderungen der Kunden bzw. Nutzer, • einen Blick über den eigenen Horizont? Bestimmte aus dieser Verantwortung resultierende Konsequenzen sind sofort einsichtig: So sollte die Mitarbeit an Projekten für kriegerische und andere inhumane Zwecke für jeden Informatiker ein Tabu sein! In der studentischen Ausbildung können wir bereits darauf hinwirken, z. B. durch die Unterbindung entsprechender Projektarbeitsthemen oder die Verweigerung der Zusammenarbeit mit militärnahen Unternehmen. Aber auch abseits dieser klaren Grenzen stellt sich die Frage nach ethischem Verhalten. Steht doch in der heutigen, auf Profit orientierten Gesellschaft das Streben nach verantwortungsbewusstem Handeln gar zu oft in unlösbarem Widerspruch zu anderen Interessen, zuvorderst finanzieller Art – sowohl eigener als auch der des Arbeitsgebers und/ oder anderer involvierter Personen.
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Die Auswirkungen dieses Konflikts sind häufig in der gesamten Gesellschaft zu spüren. Erinnert sei nur an zwei solcher Ereignisse der vergangenen Jahre: Im sogenannten „Dieselskandal“ 2014 wurden u. a. von Mitarbeitern der Firma VW unerlaubte Abschalt-Einrichtungen in Millionen von Fahrzeugen eingebaut, mit deren Hilfe deren wahrer Schadstoffausstoß verschleiert wurde (siehe Beitrag „Der Dieselskandal“ in diesem Buch). Dass dies Betrug ist und moralisch verwerflich, sollte jedem beteiligten Informatiker und Ingenieur klar gewesen sein. Noch tragischere Folgen hatte ein anderer Interessenkonflikt: Beim Absturz von zwei Flugzeugen des Typs Boeing 737 Max im Jahr 2019 kamen über 300 Menschen ums Leben. Als Ursachen haben sich – leider viel zu spät – ungenügend durchdachte Systemarchitektur, nicht redundant ausgelegte kritische Sensorik, mangelhafte Dokumentation der eingesetzten Software und lückenhafte Schulung der Piloten herausgestellt. Dass Mitarbeiter dem Arbeitgeber nicht immer alternativlos ausgeliefert sind, zeigt ein Fall bei Google. Als der Konzern im Jahr 2015 ungeachtet seines langjährigen Mottos „Don’t be evil“ mit der Entwicklung von Systemen der künstlichen Intelligenz für das US-Militär begann, protestierten Tausende Mitarbeiter so lange, bis die Einstellung der Zusammenarbeit beschlossen wurde. Auch unzureichende Qualifikation oder charakterliche Schwächen wie Bequemlichkeit und Ignoranz stehen häufig einem Handeln entgegen, das dem Anspruch an Verantwortlichkeit entspricht. Weder den Programmierer noch den Busfahrer befreit dies allerdings von seiner Verantwortung: Ein unkorrekt übergebenes Programm sollte den Programmierer genauso wenig ruhig schlafen lassen wie ein waghalsiges Überholmanöver den Busfahrer; wir gehen auf diesen Aspekt im Abschnitt „gute und schlechte Software“ noch näher ein. So gegenübergestellt, offenbart sich aber sofort ein zentraler Punkt der Problematik: Während für viele der oben aufgeführten Berufsgruppen ein fragwürdiges, unethisches Verhalten sofort ins Auge springt, die Konsequenzen also unverzüglich eintreten, ist bei vielen anderen, einschließlich der Informatiker, diese Beziehung häufig erst zeitverzögert sichtbar. Jeder Informatiker sollte im Kopf daher immer folgende Fragen haben:
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• Dient das Produkt meiner Arbeit einer sinnvollen Verwendung oder erledige ich meine Arbeit nur, weil es von mir so verlangt wird? Kann es Menschen in Gefahren bringen oder missbraucht werden für inhumane Zwecke? • Ist das von mir oder unter meiner Teilnahme entwickelte Programm sicher, kann ich einen Automaten im Notfall auf manuelle Steuerung umschalten oder mit RESET wieder in den ursprünglichen Zustand versetzen? Sind Fehlfunktionen erkennbar und leicht zu korrigieren? • Habe ich den verwendeten Algorithmus sowohl für mich und andere Entwickler als auch für den Nutzer verständlich dokumentiert? Ist der Quellcode meines Programms kurz, effektiv und übersichtlich? Entspricht es den Standards?
7.3 Besonderheiten der Arbeit als Informatiker Arbeit ist nach wie vor eine für die Gesellschaft notwendige nützliche Tätigkeit und für jeden Einzelnen ein fundamentales Element seiner Existenz – viel mehr als nur ein Job um Geld zu verdienen. Eine sinnvolle Arbeit motiviert zum Lernen, ermöglicht Begabungen und Interessen zu entwickeln, für sich und gemeinsam mit anderen Lebenszeit zu gestalten (Engels 2019). Programmieren ist dabei, wie wohl jede geistige Beschäftigung, eine besonders kreative Tätigkeit. Uns scheint der Vergleich mit der von Handwerkern und Ingenieuren naheliegend; die Berufsbezeichnung „Software-Entwickler“ sagt bereits, dass daran etwas richtig ist. Ein junger Mensch, der sich für solch einen Beruf entscheidet, denkt dabei zunächst vielleicht an weltweit genutzte Apps oder auch an faszinierende Geschichten um Bill Gates und andere Pioniere der Informatik, bevor er selbst immer komplexer werdende Projekte mitgestalten kann. Informatiker haben hervorragende Chancen, das Wissen und die Fertigkeiten, die sie im Studium für den Einstieg ins Berufsleben erworben haben, in der Praxis weiter zu entwickeln und wichtige Erfahrungen zu sammeln. Ohne Zweifel wird es in der überschaubaren
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Zukunft für sie interessante Betätigungsfelder geben. Sie gestalten die Zukunft der Gesellschaft mit und daraus resultiert eine besondere Verantwortung für die Ergebnisse ihrer Tätigkeit.
7.4 Spezifik der Informatikausbildung Viele Hochschulen haben in den zurückliegenden Jahren leider die Erfahrung gemacht, dass Studienanfänger oft nur über sehr mangelhafte Kenntnisse in den Bereichen Mathematik und Physik verfügen. Oft wird dann versucht, mit Hilfe von Brücken-Kursen und ähnlichen unterstützenden Maßnahmen unmittelbar vor Studienbeginn die Defizite nachträglich zu beheben, obwohl die Ursachen u. a. im frühen und mittleren Schulalter liegen (vgl. die regelmäßig durchgeführten PISA-Studien, in denen die geringe Leistungsfähigkeit vieler Schüler in oben genannten Bereichen zutage tritt, Pisa Studien 2020). Kritik an der Qualifikation nicht nur von Auszubildenden, sondern auch von Studienabsolventen kommt aber auch von vielen Unternehmen. Dies zeigt, dass die Qualität der Ausbildung an den Fachhochschulen in dieser Hinsicht offensichtlich ungenügend ist bzw. dass man die während der Schulzeit entstandenen Defizite in den für ein Bachelorstudium zur Verfügung stehenden 6 bis 7 Semestern nur schwer aufholen kann. Dabei geht es nicht nur um die fachlichen Fähigkeiten wie die gute Beherrschung einer Programmiersprache. Es geht auch um das Erwerben der Bewusstheit, dass das Produkt eines Programmierers von vielen Menschen eingesetzt wird mit der Erwartung, damit sich selbst oder anderen keinen Schaden zufügen zu können. Wir vertreten allerdings die These, dass ethische Wertmaßstäbe weder im luftleeren Raum entstehen, noch in einem solchen umgesetzt werden können. Vielmehr ist dies eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft: Von Elternhaus, Schule, Öffentlichkeit und Medien müssen ethische Prinzipien angelegt werden, bevor diese im Rahmen eines Studiums vertieft werden können. Dabei scheint uns insbesondere die selbständige Bearbeitung konkreter, immer komplexer werdender Aufgaben (unter Betreuung von Eltern, Lehrern und Dozenten) eine zentrale didaktische
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Abb. 7.1 Studierende der Ingenieurwissenschaften im CAE-Labor der Hochschule Nordhausen. (Foto: Hochschule Nordhausen, mit freundlicher Genehmigung © Hochschule Nordhausen 2019)
Herangehensweise, um die Auswirkungen des eigenen Handelns zu erkennen und bewerten zu können (Abb. 7.1).
7.5 Gute und schlechte Software Die Rolle der Sachkenntnis, d. h. der Professionalität des Programmierers wird erstaunlicherweise in den Diskussionen um ethische Fragen der Informatik wenig betont. Oft bewirken aber gerade Fehler im Design und/oder der Implementierung, dass ein System ungenügend vor Angriffen durch Schadsoftware geschützt ist oder dass es Fehler macht – beides mit potenziell fatalen Folgen. Ethische Normen in die Informatikausbildung einzubringen heißt daher vor allem das Bewusstsein für gute Software auszuprägen und die
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Studentinnen und Studenten zu befähigen, diese auch herzustellen. Ein Ansatz für ersteres ist die intensive und wiederholte Vermittlung der Kriterien für gute Software, wie zum Beispiel in dem internationalen Regelwerk ISO/IEC 25000 beschrieben (früher ISO/IEC 9126). Beim Entwickeln von Software gilt es eben nicht nur, auf die Mindestanforderungen an die Funktionalität und Sicherheit (wie sie im Pflichtenheft dargelegt sind) zu achten, sondern – ganz im Sinne der Nutzerorientierung – auch nicht-spezifizierte Benutzungen wie auch möglichen Missbrauch zu bedenken. Nach besten Möglichkeiten sind dann erstere zu unterstützen und letztere zu verhindern. Ein guter Softwareentwicklungsprozess zielt deshalb auch immer sowohl auf die technische Korrektheit der Umsetzung konkreter ProduktAnforderungen als auch auf die Erfassung und Befriedigung der darüber hinausgehenden Kundenbedürfnisse (Balzert 2009). Nun steht das Streben nach hochwertiger und gut geschützter Software gerade in der heutigen hektischen Welt in heftigem Widerspruch zum Druck, mit eben dieser Software Geld zu verdienen. Diesen Druck spürt sowohl der selbständige Programmierer, der sich gegen die Konkurrenz behaupten muss, als auch der Angestellte, der seitens seiner Firma gedrängt wird, Projekte im „magischen“ Dreieck von Zeit, Finanzierung und Produktqualität zu halten. Software, die nach dem bekannten Motto „quick and dirty“ erstellt wurde und die Schlammspur ihrer Fehler und Angreifbarkeiten durch den gesamten Lebenszyklus zieht, verstößt damit gegen ethische Prinzipien genauso wie die arrogante „Bananenstrategie“ großer IT-Firmen, das Produkt möge doch bitte beim Kunden nachreifen. Daher die Forderung an den Chef eines jeden Software-Unternehmens, den Abteilungsleiter und auch den Programmierer: Bedenke stets die Konsequenzen Deiner Handlungen! Vielleicht hilft bei der Durchsetzung dieser Maxime ein bisschen die Erfahrung, dass schlechte Arbeit letztlich auf den Verursacher zurückfällt. Sowohl der finanzielle Schaden als auch Vertrauensverlust beim Kunden war bzw. ist nicht nur in den obengenannten Beispielen für die beteiligten Firmen gewaltig und in seinen langfristigen Auswirkungen noch gar nicht abschätzbar.
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7.6 Komplexität und Transparenz von Algorithmen Eine wichtige Anforderung an gute Software ist die der Transparenz. Was ist darunter zu verstehen? Selbst wenn das Ergebnis eines Programms nicht ohne Hilfe eines Computers ermittelt werden kann, muss seine Funktionsweise nachvollziehbar sein! Nun werden allerdings die entwickelten Programme immer mächtiger und die verwendeten Algorithmen immer komplexer. Moderne Betriebssysteme etwa basieren auf Dutzenden Millionen Zeilen Quelltext. Außerdem sind viele Algorithmen nichtdeterministisch, d. h. sie enthalten ein stochastisches Element. Ein typisches Beispiel hierfür sind künstliche neuronale Netze, deren Struktur und Funktion der des menschlichen Gehirns nachempfunden sind. Ein solches Netz, beispielsweise für die Mustererkennung, muss „angelernt“ werden: Anhand einer großen Menge in zufälliger Reihenfolge eingegebener Trainingsmuster adaptiert das System seine Parameter, d. h. die Stärke der Verbindung zwischen den künstlichen Neuronen. Ein anderes Beispiel dieser Art stellen genetische Algorithmen dar. Hier werden im Optimierungsprozess zufällig Änderungen des Systemzustands, genannt „Mutationen“, vorgenommen, sodass weder der Verlauf der Optimierung noch das Ergebnis eindeutig vorhersagbar sind. Mit steigender Komplexität der verwendeten neuronalen Netze, wie sie in Systemen der Künstlichen Intelligenz verwendet werden (Stichwort „Deep Learning“), oder generell mit wachsender Parameterzahl des zu optimierenden Systems wird es selbst für den Programmierer schwer oder gar unmöglich nachzuvollziehen, wie der Algorithmus im konkreten Fall die Aufgabe gelöst hat; schon der Name „self-organizing map“ eines verbreiteten Typs neuronaler Netze weist darauf hin, dass diese Systeme eine Black Box darstellen. Die oben erwähnten stochastischen Elemente wie auch die Vieldimensionalität des Lösungsraumes erschweren unserer Erfahrung nach das Verständnis für die Funktionsweise von komplexen
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Algorithmen erheblich. Alle diese Programme erzeugen zudem nichtlineare Abhängigkeiten des Outputs vom Input, d. h. der Reaktion des Systems. Unser „Lineares Denken“ verhindert leider dabei oft das Verständnis dafür, wie der Algorithmus arbeitet (Klinger und Barzel 2019). Es muss daher im Laufe des Studiums unbedingt mehr Verständnis für nichtlineares Verhalten, mehrdimensionale Probleme und Komplexität von Prozessen entwickelt werden. Dies kann nur erreicht werden durch anspruchsvollere Kurse u. a. in Physik und deren Grundlagen in Mathematik auch für Informatiker. Um auf die Transparenz zurückzukommen, bleibt unserer Meinung nach die Forderung nach Quellcodes, die vom Programmierer gelesen, verstanden und dem Nutzer erklärt sowie bei leichter Veränderung der Aufgabenstellung zielgerichtet bearbeitet werden können, bestehen. Zum Beispiel bestehen Fuzzy Control Systeme aus WENNDANN-Regeln, welche dem Nutzer offengelegt werden können – in der Dokumentation, in der Benutzeroberfläche oder in einer OnlineHilfe. Ähnlich ist es mit Systemen, die auf zellulären Automaten basieren. Gute Software zeichnet sich aus durch Robustheit, Flexibilität und Transparenz. Dies wird durch den Einsatz von Algorithmen erreicht, deren Funktion logisch abgesichert ist, die in einem weiten Parameterbereich getestet wurden und deren Struktur übersichtlich dokumentiert ist.
7.7 Bedeutung der Programmiersprache Galileo Galilei wird der Ausspruch zugeschrieben, dass „das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben [ist]“ (Behrends 2013). Gilt vielleicht analog im IT-Zeitalter, dass unsere digitale Welt in Algorithmen formuliert ist? Letztere werden in Computer-Programmen umgesetzt, dann in Simulationen getestet und schließlich in der Praxis genutzt. Dies geschah und geschieht jeweils in einer konkreten Programmiersprache. Auf diese Weise sind die fertigen Programme von Menschen verfasste Information, die dann in Kommunikation, Diagnostik, Technik usw. eingesetzt werden kann.
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Das Erlernen einer Sprache ist für jeden Menschen sehr wichtig, weil er vor allem dadurch Kontakt und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erlangen kann. Menschen, welche nicht lesen oder schreiben können, sind in ihren Kontaktmöglichkeiten nach wie vor wesentlich eingeschränkt. Neben der Muttersprache ist in unserer globalisierten Welt heute auch die Beherrschung von Fremdsprachen, insbesondere Englisch, von Bedeutung und – ganz im Sinne des Galileizitats – von Grundwissen der Mathematik. Schon in der Schule sollten junge Menschen nicht nur ihre Muttersprache entwickeln und in dieser korrekt lesen, sprechen und schreiben können, sondern zumindest eine Fremdsprache lernen und auf zentralen Feldern der Mathematik wie Rechnen, Logik, Wahrscheinlichkeit usw. elementare Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben. Und um den Bogen zur Informatik zu schlagen, sollte auch die Beherrschung einer einfachen Programmiersprache zur „Grundausstattung“ zumindest jedes Schulabgängers gehören, der Interesse an einem Beruf in den Bereichen Technik oder Informatik hat. Allerdings gibt es seit dem Beginn der Digitalisierung in den 1980-er Jahren eine rasante Entwicklung nicht nur der Computer-Hardware, sondern auch der Software. Insbesondere bringen Firmen wie Apple und Microsoft praktisch im Jahrestakt neue Versionen ihrer Betriebssysteme auf den Markt, dazu neue Versionen von Standardprogrammen für Texte, Grafik usw.. Parallel unterliegen auch die gängigen Programmiersprachen einer solchen Entwicklung und einem hohen Konkurrenzdruck untereinander. Hardware und Software schaukeln sich dabei gegenseitig in der Leistung auf, wie das bekannte „Gesetz“ von Moore besagt, nach dem sich die Leistungsfähigkeit praktisch aller IT-Komponenten aller 18 bis 24 Monate verdoppelt. Dies erzeugt viele Probleme auch in der studentischen Ausbildung: • die Notwendigkeit der Finanzierung neuer PC und Lizenzen für Software, • Schwierigkeiten bei der interdisziplinären Zusammenarbeit und im gegenseitigen Verstehen zwischen den Generationen, • Stress für Lehrer und Dozenten, um „auf dem Laufenden zu bleiben“.
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Ein Lösungsansatz könnte darin bestehen, auch im IT-Bereich Standards zu vereinbaren, welche über einen längeren Zeitraum gelten. Außerdem sollte für die Masse der Nutzer die erforderliche Datenmenge so gering wie möglich gehalten werden, was durch geschicktes Programmieren und Beschränkung auf Wesentliches erreicht werden kann. Man denke nur an die Begleitung der Landung der Apollo–Missionen auf dem Mond vor mehr als 50 Jahren mit aus heutiger Sicht geradezu „erschreckend“ elementarer Hard- und Software. Das Pflegen der Muttersprache, ergänzt durch eine Fremdsprache, und dazu das Erlernen einer Programmiersprache würde noch einen Effekt mit sich bringen, dessen Fehlen wir in unseren Lehrveranstaltungen oft genug schmerzlich bemerkt haben: Die Fähigkeit, die wesentlichen Gedanken eines Algorithmus verbal zu formulieren und zu Papier zu bringen – bevor man diesen als Quellcode in einem Computer-Programm umsetzt. Damit würde sich auch der Bogen zur Mathematik und zu einem anderen berühmten Physiker schließen: Paul Dirac hat einmal gesagt, „…dennoch ist die Mathematik nur ein Werkzeug und man muss sich die Begriffe und Gedanken dahinter auch ohne Bezugnahme auf ihre mathematische Form klar vor Augen stellen“ (Röseberg 2013).
7.8 Tendenzen und Risiken der Künstlichen Intelligenz Die gegenwärtige informationstechnische Revolution scheint vor nichts und vor niemandem halt zu machen. Aber muss man wirklich alles automatisieren bzw. digitalisieren – nicht nur in der Produktion und der Technik? Ist dies nicht zum Beispiel in den Bereichen An- und Verkauf, Wissensverarbeitung, Service und in sozialen Bereichen oft eher fragwürdig? Die Frage „Brauchen wir diesen oder jenen Roboter wirklich?“ sollte immer gestellt werden, mit anderen Worten: „Gewinnen wir mit der Automatisierung einer konkreten Aufgabe wirklich an Lebensqualität?“. Oder verlieren wir durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) wichtige Fähigkeiten, soziale Kontakte oder gar die
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Kontrolle über die Prozesse, die unser Leben ausmachen sollten? Geben wir gedankenlos, gewissenlos, geldgierig Entscheidungen an einen undurchsichtigen Algorithmus ab, obwohl diese besser von uns selbst getroffen werden sollten? In der Geschichte ging mit jeder neuen Technologie zunächst eine Phase von Ungewissheit, Faszination, breiter Anwendung und oft Erwartung auf Lösung fast aller Probleme einher – man denke nur an die Nutzung der Dampfkraft, die überschwänglichen Erwartungen an die Elektrizität, die Chemie, Elektronik oder Atomenergie. Man bemerkte leider oft viel zu spät, dass jede Technologie auch eine problematische Seite besitzt. Vermutlich wird es mit der Informationstechnologie wohl leider nicht viel anders werden. „Schmeicheln wir uns indes nicht zu schnell mit unseren scheinbaren Siegen über die Natur. Jeder solcher Sieg hat zuerst zwar Folgen, die wir erwartet haben. Aber dann auch ganz andere unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben.“ (Engels 2019) Unserer Meinung nach muss verhindert werden, dass der sinnvollen Automatisierung, Digitalisierung, Vernetzung und dem Einsatz von Algorithmen der KI in Industrie und Landwirtschaft, Verkehr, Kommunikation, Medizin u. a. eine unkontrollierte inhumane Automatisierung der Gesellschaft durch Algorithmen folgt. Ein Schritt dazu wäre der Verzicht auf Roboter mit menschenähnlichem Aussehen. Wird hier nicht etwas vorgetäuscht, was nicht existiert? Maschinen haben kein Bewusstsein, keine Interessen, keine Gefühle – jedenfalls nicht auf absehbare Zeit! Wesen mit Bewusstsein, Interessen, Gefühlen gibt es zum Glück bereits – nämlich auf biologischer Basis. Der Versuch, dieses wunderbare Ergebnis einer Million von Jahren dauernden Evolution auf unserem Planeten in Windeseile auf elektronischer Basis zu wiederholen oder gar zu verbessern, ist absurd und insbesondere die Gemeinschaft der Informatiker sollte sich dem verweigern. „Jenseits apokalyptischer Untergangszenarien und technizistischer Erlösungshoffnungen gibt es einen alternativen Weg zur Bewahrung und Verbesserung der Lebensbedingungen für den Menschen auf dieser
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Erde durch den kulturell, sozial und politisch kontrollierten Einsatz von Technik.“ Das schreiben die Autoren des Buches „Digitaler Humanismus“ (Nida-Rümelin und Weidenfeld 2018) und dies ist auch unsere Hoffnung.
7.9 Standards, Regeln und Gesetze Für eine Entwicklung der IT, die nicht außer Kontrolle durch den Menschen gerät, sind allgemein bekannte und anerkannte Normen und Gesetze notwendig. Deren Vermittlung muss auch im Informatikunterricht ausreichend Platz eingeräumt werden. Die Festlegung solcher Normen und Gesetze im Bereich Informatik kann im Rahmen des breiten öffentlichen Diskurses erfolgen, der gegenwärtig den Prozess der immer stärkeren Durchdringung aller Bereiche des Lebens durch IT-Anwendungen, insbesondere Methoden der KI, und den daraus erwachsenden Veränderungen begleitet. In ihrem „Digital-Manifest“ (Helbing et al. 2017) fordert ein Team von Autoren aus unterschiedlichen Bereichen folgende Grundprinzipien zu beachten, um für unsere Gesellschaft gefährliche Fehlentwicklungen der IT zu vermeiden: 1. die Funktion von IT-Systemen zu dezentralisieren, 2. informative Selbstbestimmung und Teilhabe zu unterstützen, 3. die Transparenz für Vertrauenswürdigkeit zu verbessern, 4. die Verzerrung/Verschmutzung von Informationen zu reduzieren, 5. nutzergesteuerte Informations-Filter zu ermöglichen, 6. gesellschaftliche und ökonomische Vielfalt zu fördern, 7. die Fähigkeit technischer Systeme zur Zusammenarbeit zu verbessern, 8. digitale Assistenten und Koordinationswerkzeuge zu schaffen, 9. kollektive Intelligenz zu unterstützen, 10. die digitale Kompetenz der Bürger zu fördern. Selbst führende IT-Firmen fordern neuerdings die Vereinbarung verbindlicher Standards für Produkte. So schlägt Microsoft folgende Grundsätze vor: KI muss alle Menschen fair behandeln (Diskriminierungsfreiheit),
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zuverlässig und sicher sein (Datenschutz, Datensicherheit, Schutz der Privatsphäre), allen Menschen zugutekommen (Barrierefreiheit), Entscheidungen erklären (Transparenz der Algorithmen) und sie darf nur den Einfluss haben, den wir ihr erlauben (Verantwortlichkeit) (Microsoft 2018). Appelle an das moralische Verhalten von Firmen und an das Gewissen einzelner Menschen sind zwar gut, sie werden aber erfolglos bleiben ohne Unterstützung durch die Politik. Erste Schritte in diese Richtung sind vorhanden. So wurde bereits 1988 mit Beteiligung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in Kaiserslautern das Deutsche Forschungszentrum für KI gegründet mit inzwischen weiteren Standorten (dfki 2020). Im Auftrag der EU-Kommission haben kürzlich über 50 Experten Fragen des sinnvollen Umgangs mit KI diskutiert und Anfang 2019 entsprechende Richtlinien vorgestellt (Hegemann 2019).
7.10 Fazit für die Informatik-Ausbildung Studierende der Informatik sind normalerweise sehr technikverliebt und kommen mit einer hohen Faszination für die Errungenschaften der IT zum Studium. Diese Faszination beizubehalten und gleichzeitig sinnvolle Grenzen der Technisierung der menschlichen Gesellschaft zu vermitteln und das Engagement für wichtige Fragen der Gesellschaft zu bekräftigen, bleibt ein Hauptanliegen der Informatikausbildung an Hochschulen. Fachliche Kompetenz und breites Wissen müssen gleichermaßen entwickelt werden, damit die Arbeit als Informatiker stets als Beitrag zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft verstanden werden kann. Wir rufen dazu auf, folgende wichtige Themen in Kursen für Studierende der Informatik unbedingt weiterzuführen, zu aktualisieren bzw. neu aufzunehmen und dies mit anderen Lehrveranstaltungen abzustimmen: • Mathematik und Grundlagen der Physik, • nichtlineare Prozesse, Optimierung und Komplexität, • Computer-Simulation von Prozessen,
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• Geschichte der Naturwissenschaften und der Kybernetik, • Evolution des Lebens und Umweltproblematik, • Philosophie und Ethik. Dies mag manchem als vollkommen übertrieben erscheinen. Aber wenn wir uns im täglichen Leben, basierend auf Energieversorgung, Transport und Verkehr, Ernährung, Medizinwesen, Kommunikation usw. auch auf die dort eingesetzten Automaten verlassen wollen, so müssen wir insbesondere von Menschen, die im IT-Bereich arbeiten, ein hohes Maß an Sachkenntnis, Verantwortung und Weitblick verlangen und durch die kontinuierliche Vermittlung ethischer Werte unterstützen.
Literatur Engels, F. (2019) „Dialektik der Natur“, Neuausgabe Verlag Neuer Weg PISA Studien der OECD (2020), s. https://de.wikipedia.org/wiki/PISAStudien Balzert, H. (2009) „Lehrbuch der Softwaretechnik“, Springer: Berlin Heidelberg New York Klinger, M., Barzel, B. (2019) „Der Funktionsbegriff“, in „Mathematik – Herausforderung des Nichtlinearen“, UNIKATE 53, Universität DuisburgEssen, 2019 Behrends, E. (2013) „Fünf Minuten Mathematik“, Springer: Berlin Heidelberg New York Röseberg, U. (2013) „Quantenmechanik und Philosophie“, Springer: Berlin Heidelberg New York Nida-Rümelin, J., Weidenfeld, N. (2018) „Digitaler Humanismus – Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz“, Piper-Verlag: München Helbing, D., Frey, B.S., Gigerenzer, G., Hafen, E., Hagner, M., Hofstetter, Y., van den Hoven, J., Zicari, R.V., Zwitter, A. (2017) „DIGITAL-MANIFEST (I) – Digitale Demokratie statt Datendiktatur“, in „Unsere digitale Zukunft – In welcher Welt wollen wir leben?“, Spektrum der Wissenschaft Spezial 1/2017 Microsoft (2018) „The Future Computed: Artificial Intelligence and its Role in Society”, Microsoft Corporation, Redmond 2018
7 Ethische Fragen der Informatikausbildung 149
dfki (2020) Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. 25.01.2020 https://www.dfki.de Hegemann, L. (2019) „Eine Frage der Ethik – Was darf KI? Empfehlungen und Leitlinien für Ethik-Regeln zur Entwicklung der KI“, vorgelegt der EU-Kommission am 6. April 2019, s. z. B. ZEIT Online vom 08.04.2019
Regelwerke ISO/IEC 25000 Systems and software engineering – Systems and software Quality Requirements and Evaluation (SQuaRE) – Guide to SQuaRE, International Organization for Standardization, ersetzt seit 2005 die ISO/ IEC 9126 Jürgen Löffelholz studierte Physik in Breslau/Wroclaw (1968–1973) und promovierte danach an der Universität Leipzig. In seinen Forschungsarbeiten befasste er sich mit exakt lösbaren Modellen der Quantenelektrodynamik. Neben seiner Lehrtätigkeit und Forschung in Physik und Mathematik betreute er schulpraktische Experimente (1973–1994). Er arbeitete an wissenschaftlichen Projekten in Wroclaw, Dubna, Kiew, Leipzig, Pisa, Campinas, Schmalkalden und Nordhausen (1975–2009), war Lehrer an Gymnasien in Bozen, Meran, Penig (2000–2003) und gibt seit 2001 Vorlesungen in Mathematik, Physik, Informationstheorie, Optimierung, Fuzzy Control, neuronalen Netze und Computer-Simulationen an der Fachhochschule Erfurt. Frank-Michael Dittes studierte Physik in Moskau (1972–1978) und forschte danach an der Universität Leipzig, am Forschungszentrum Rossendorf und am Weizman Institute of Science in Rehovot, Israel. In seinen Arbeiten befasste er sich mit theoretischer Hochenergiephysik und mit der Dynamik komplexer Systeme (Promotion 1982, Habilitation 1998). Seit 2002 ist er Professor für Softwareengineering an der Hochschule Nordhausen und gibt Vorlesungen zu Programmiersprachen, Datenbanken, Algorithmen und Datenstrukturen, Mensch-Maschine-Schnittstellen, Methoden der KI, komplexen Systemen und Optimierungsverfahren. Als Autor populärwissenschaftlicher Bücher schrieb er zu Komplexität und Optimierung.
8 Nichts zu verbergen? Suchmaschinen und Soziale Netzwerke unter ethischen Gesichtspunkten Hermann Rösch
Zusammenfassung Die folgende Untersuchung konzentriert sich zunächst auf den Aspekt der Privatheit, der große Auswirkungen sowohl auf die individuelle Entwicklung als auch auf das soziale Zusammenleben und die politischen Strukturen hat. Im Anschluss werden Geschäftsmodelle und Praktiken von Suchmaschinen und Sozialen Netzwerken am Beispiel von Google und Facebook dargestellt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Frage, in welchem Maße die Praktiken dieser Unternehmen mit dem Recht auf Privatheit kollidieren. Auf der Grundlage der dabei gewonnenen Einsichten werden schließlich Überlegungen angestellt, welche Maßnahmen sich zur Entschärfung bestehender Gefahren anbieten.
H. Rösch (*) TH Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_8
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Abstract The following investigation will initially focus on the aspect of privacy, which has great implications for the individual development as well as for the social coexistence and for political structures. Subsequently, business models and practices of search engines and social networks are presented using Google and Facebook as examples. Particular attention will be paid to the extent to which the practices of these companies collide with the right to privacy. Finally, based on the insights gained in this context, the paper considers which measures are appropriate to mitigate existing threats. Schlüsselwörter Soziale Netzwerke · Suchmaschinen · Privatheit Google · Facebook · Ethik
·
8.1 Ausgangslage Die Informationskultur der Gegenwart ist geprägt durch digitale Medien und weltweite Vernetzung im Internet. Mit der Entwicklung interaktiver Angebote im Kontext des Web 2.0 haben die für die Informationsgesellschaft charakteristischen Paradigmen der Vernetzung und des (Mit-)Teilens eine weitere Zuspitzung erfahren. Der Zugang zu dem Informationskosmos des Internet erfolgt durch Suchmaschinen und Soziale Netzwerke. In beiden Segmenten haben Google bzw. der Mutterkonzern Alphabet und Facebook seit Jahren eine marktbeherrschende Stellung. Schon lange sehen sich Unternehmen der Internetökonomie mit dem Vorwurf konfrontiert, sie missachteten durch ihre Geschäftspraktiken den Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Darauf angesprochen gab der damalige Google-Geschäftsführer Eric Schmidt in einem Interview im Dezember 2009 zur Antwort: “If you have something that you don’t want anyone to know, maybe you shouldn’t be doing it in the first place.”1 Wer also nichts zu v erbergen
1Google
CEO Eric Schmidt on privacy (Video). https://www.youtube.com/watch?v= A6e7wfDHzew.
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habe, so die beschwichtigende Botschaft, brauche sich nicht vor Speicherung und Weitergabe entsprechender Daten zu fürchten. In eine ähnliche Richtung ging Facebook-Gründer Mark Zuckerberg wenig später mit dem ideologisch aufgeladenen, verheißungsvollen Bekenntnis, Facebook fördere radikale Transparenz und basiere auf der Überzeugung, „that the world will be better if you share more“2. Schmidts und Zuckerbergs Aussagen laufen nicht nur im Subtext darauf hinaus, den Kunden ihrer Unternehmen jede Scheu zu nehmen, so viele personenbezogene Daten preiszugeben wie möglich und damit möglichst transparent und gläsern zu werden. Zu fragen ist, ob diese Intentionen tatsächlich so harmlos sind, wie sie in der Selbstinszenierung daherkommen oder ob sich dahinter nicht ernsthafte Gefahren verbergen, die auch unter ethischen Gesichtspunkten alarmierend sind. Ethisch problematische Praktiken von Suchmaschinen und Sozialen Netzwerken beziehen sich vor allem auf den Grundwert Privatheit, auf die partielle Verschleierung der Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre sowie auf Hassreden und Desinformation. Daneben verweisen Kulturkritiker auf zahlreiche weitere negative Effekte. Für Simanowski etwa ist die „Facebook-Gesellschaft“ geprägt von einem Selbstdarstellungsimperativ, der narzisstische, exhibitionistische und voyeuristische Tendenzen in höchst bedenklicher Weise verstärkt.3 Darüber hinaus führe die ständige Mitteilung des erlebten Augenblicks zum Verlust der Gegenwart sowie zum Verlust reflexiver Welt- und Selbstwahrnehmung.4
2Fuchs,
Christian: Critique of the Political Economy of Web 2.0 Surveillance. In: Internet and Surveillance. The Challenges of Web 2.0 and Social Media. Hrsg. Christian Fuchs et al. New York, London: Routledge 2012, S. 35. 3Vgl. Roberto Simanowski: Facebook-Gesellschaft. Berlin: Mathes u. Seitz 2016. S. 32, 34. 4Vgl. ebd., S. 15.
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8.2 Privatheit Liberale Gesellschaften garantieren ihren Bürgern den Schutz ihrer Privatsphäre und stufen das Recht auf Privatheit als Grundrecht ein. Die grundsätzliche Trennung in öffentlich und privat hat sich in der Neuzeit im Gefolge der Aufklärung herausgebildet. Die Anerkennung des Individuums als Träger unveräußerlicher Rechte und als prinzipiell gleichberechtigter und autonomer (Mit-)Gestalter des öffentlichen Raumes in demokratischen Gesellschaften setzt zugleich voraus, dass es einen nicht-öffentlichen, d. h. privaten Raum geben muss, in dem das Individuum seine Autonomie ausprägen kann. Das Individuum muss die Chance haben, sich in einen privaten Innenraum zurückzuziehen, welcher der Kontrolle durch den Außenraum entzogen ist. Hier können Alltagserfahrungen verarbeitet, Schlüsse gezogen und unbeobachtet Gedanken entwickelt werden. Das Recht auf Achtung der Privatheit ist unabdingbar für die freie und selbstbestimmte Entfaltung des Menschen in jeder Hinsicht. Darüber hinaus können Bürgerinnen und Bürger nur so jene Autonomie entwickeln, die Voraussetzung aller Demokratie ist. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass die Kontrolle oder gar Zerstörung des Privaten ein Wesenszug aller totalitären Herrschaftsformen ist.5 In einem liberal-individualistischen Sinn ist Privatheit weitgehend identisch mit dem Anspruch auf räumlichen Rückzug und informationelle Kontrolle der auf die eigene Person bezogenen Informationen.6 Ein soziales Verständnis sieht Privatheit zudem als soziale Ressource7, die geschützte Kommunikationsräume schafft, in
5Vgl. Harald Welzer: Wenn man etwas merkt, ist es zu spät. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 22. April 2014. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/datensammler-wenn-man-etwas-merkt-istes-zu-spaet-12905404.html. 6Vgl. Sandra Seubert, Paula Helm: Privatheit und Demokratie. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen. 30, 2017, 2, S. 120–123. Hier S. 120. 7Vgl. Johannes Eichenhofer: Privatheit und Transparenz in der Demokratie. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen. 30, 2017, 2, S. 133–142. Hier S. 140.
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denen sich soziale und politische Vielfalt entwickeln kann. Privatheit ist damit konstitutiv für kritischen Meinungsaustausch und demokratische Willensbildung.8 In dieser Sicht tritt hervor, dass Privatheit nicht nur ein individuelles, sondern auch ein Öffentliches Gut ist, das als Voraussetzung demokratischer Selbstbestimmungspraxis angesehen werden muss.9 Schon 1890 fanden Warren und Brandeis in einem bis heute grundlegenden Aufsatz für Privatheit die griffige Formel „the right to be let alone“10, also das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Damit hatte in den USA nicht nur der Begriff „Privacy“, sondern auch der damit verbundene Inhalt Eingang in die öffentliche Debatte wie in den juristischen Fachdiskurs gefunden. Im deutschen Grundgesetz taucht der Begriff Privatheit jedoch nicht auf. Dort wird stattdessen die Familie in Art. 6 unter besonderen Schutz gestellt und pars pro toto die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13) sowie des Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10) garantiert. Die genannten Regelungen sind eindeutig geprägt von der zu ihrer Entstehungszeit bestehenden analogen Welt. Gegenüber dem Handlungspotenzial digitaler Medien wirken sie geradezu anachronistisch. Immerhin ist im Grundgesetz die Rede von „technische(n) Mittel(n) zur akustischen und sonstigen Überwachung“, die staatlicherseits nur unter bestimmten Bedingungen eingesetzt werden dürfen. Doch sind die vielfältigen Möglichkeiten der Überwachung durch GPS-Tracking, durch externen Zugriff auf individuelle Computer, Tablets und Smartphones und durch Profilbildung mittels Sammelns und Zusammenführens individueller Datenspuren damit keineswegs abgedeckt. Auch wenn eine Verfassung wie das Grundgesetz nicht die Funktion hat, sich auf Details zu beziehen, so wäre doch eine inhaltliche Erweiterung und terminologische Aktualisierung wünschenswert, durch welche die Auswirkungen der digitalen Revolution erfasst werden könnten.
8Vgl.
Sandra Seubert, Paula Helm (wie Anm. 6): S. 121. Sandra Seubert: Das Vermessen kommunikativer Räume. Politische Dimensionen des Privaten und ihre Gefährdungen. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen. 30, 2017, 2, S. 124–133. Hier: S. 128. 10Vgl. Samuel Warren, Louis D. Brandeis: The Right to Privacy. In: Harvard Law Review. 4, 1890, S. 193–220. 9Vgl.
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Für Beate Rössler gilt etwas dann als privat, „wenn man selbst den Zugang zu diesem ‚etwas‘ kontrollieren kann“11. Sie unterscheidet drei Dimensionen: dezisionale, informationelle und lokale Privatheit.12 Dezisionale Privatheit bezieht sich dabei nicht nur auf die Freiheit des Einzelnen, „Handlungen, Verhaltensweisen und Lebensweisen“ selbst zu bestimmen, sondern erstreckt sich darüber hinaus auch auf die Abwesenheit externer Intervention:13 Im privaten sozialen Raum sollen Dritte sich bewertender Kommentare, Einsprüche oder Urteile enthalten, solange nicht in die Rechte anderer Personen eingegriffen wird.14 Informationelle Privatheit bezieht sich auf das Recht, jeweils selbst zu entscheiden, wer welche Informationen über die eigene Person erhält. In anderen Zusammenhängen wird dies auch als informationelle Selbstbestimmung bezeichnet. Dazu gehört zum einen, dass die Menschen wissen, wann und wie Daten über sie erhoben werden und zum anderen, dass sie den Fluss der Informationen über die eigene Person kontrollieren können.15 Die dritte Dimension besteht in der lokalen Privatheit.16 Gemeint ist damit der physische Raum, der dem Einzelnen erlaubt, sich vor der Beobachtung durch andere Personen und durch die allgemeine Öffentlichkeit zurückzuziehen. Konventionen und Rollenerwartungen der Öffentlichkeit sind hier suspendiert, und in Abwesenheit von Beobachtung und Überwachung sollten sich dezisionale und informationelle Privatheit gleichsam von selbst einstellen.17 Ob dies in Anbetracht interaktiver Haushaltsgeräte, profilbildender Suchmaschinen und Sozialer Netzwerke auch weiterhin unterstellt werden kann, bedarf der eingehenden Überprüfung. Um einer drohenden Erosion der Privatsphäre entgegenzuwirken, sind in den vergangenen Jahrzehnten drei normative Konzepte 11Rössler,
Beate: Der Wert des Privaten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 23. ebd., S. 25. 13Vgl. ebd. S. 145. 14Vgl. Karsten Weber: Das Recht auf Informationszugang. Begründungsmuster der politischen Philosophie für informationelle Grundversorgung und Eingriffsfreiheit. Berlin: Frank und Timme 2005, S. 192 und vgl. Rössler (wie Anm. 11), S. 144–200. 15Vgl. Rössler (wie Anm. 11), S. 201–254. 16Vgl. ebd., S. 255–304. 17Vgl. Weber (wie Anm. 14), S. 197 f. 12Vgl.
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entwickelt worden: Datenschutz, informationelle Selbstbestimmung und Datensparsamkeit bzw. Datenvermeidung.
Datenschutz Datenschutz als allgemein anerkanntes Instrument zum Schutz des Rechts auf Privatsphäre ist bereits in den 1970er Jahren, d. h. in der Frühphase digitaler Technologien entstanden. Dies erklärt, weshalb Datenschutzregelungen ursprünglich ausschließlich auf den Schutz vor staatlichen Überwachungsmaßnahmen und den Missbrauch personenbezogener Daten zielten, die im Rahmen staatlicher Verwaltungsmaßnahmen notwendig erhoben werden. Dabei handelt es sich z. B. um Daten der Einwohnermeldeämter, Grundbuchämter, Strafregister, Verkehrssündenregister oder Finanzämter. Staatliche Stellen sind demnach verpflichtet, bei der notwendigen Erfassung personenbezogener Daten die Grundsätze der Datensparsamkeit, der Anlassbezogenheit und der Einzelfallabwägung anzuwenden. Grundsätzlich gilt darüber hinaus die Regelung, dass personenbezogene Daten vor Erhebung, Speicherung und Verarbeitung der Zustimmung des Betroffenen bedürfen.18 Während früher vor allem der Staat begierig war, große Mengen an personenbezogenen Daten zu erhalten und auszuwerten, gilt dies jetzt auch für Wirtschaftsunternehmen. Insbesondere die Geschäftsmodelle kommerzieller Suchmaschinen, Sozialer Netzwerke und digitaler Verkaufsplattformen im Internet basieren darauf, möglichst viele Daten über ihre Kundinnen und Kunden zu erhalten und weiterverarbeiten zu können. Praktizierter Datenschutz regelt und limitiert die Erhebung und die Verwendung dieser Daten klar, sodass die Schutzbedürfnisse der Einzelnen und ihre Persönlichkeitsrechte gewahrt bleiben. Zu den Grundlagen und Forderungen des Datenschutzes gehören sowohl die explizite Einwilligung seitens der Betroffenen als auch die Zweckbindung seitens der datenverarbeitenden Instanz. Damit Betroffene 18Vgl.
Gabriele Beger: Datenschutz. In: Lexikon der Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Hrsg. Konrad Umlauf, Stephan Gradmann. Bd. 1. Stuttgart: Hiersemann 2011, S. 189.
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über eine ausreichende Entscheidungsgrundlage verfügen, bevor sie ihre Einwilligung geben oder versagen, müssen sie zuvor umfassend über Umfang und Zweck der Datenerhebung, Verarbeitungsmethoden, Speicherdauer und Zugangsbeschränkungen der erhobenen Daten informiert werden. Mit der Zweckbindung wird festgelegt, dass der Empfänger der personenbezogenen Daten diese nur für jene Zwecke verwenden darf, für die der Betroffene zuvor seine Zustimmung erteilt hat.
Informationelle Selbstbestimmung Während die frühen Datenschutzregelungen sich darauf beschränkten, eine erst- und einmalige Erlaubnis zur Erhebung und Verarbeitung der personenbezogenen Daten einzufordern, wurde in Deutschland das Konzept des Datenschutzes um jenes der informationellen Selbstbestimmung erweitert. Behörden, Verbände und Unternehmen müssen den Betroffenen demnach nicht nur Methoden und Ziele der Weiterverarbeitung der Daten offen legen, sondern auch das Recht auf Auskunft und Einsicht einräumen sowie die Möglichkeit, gegebenenfalls Korrekturen oder Löschung ihrer personenbezogenen Daten vornehmen zu lassen. Dies soll den Menschen garantieren, dass sie in jeder Phase der Nutzung ihrer persönlichen Daten die Kontrolle behalten.19 Selbst wenn persönliche Daten anderen bereits mitgeteilt worden sind, verbleibt dem Einzelnen eine gewisse Kontrolle. Darüber hinaus gelten Vereinbarungen zwischen zwei Parteien nicht für Dritte. Wenn also eine Person einem Interaktionspartner bestimmte Zusagen hinsichtlich seiner personenbezogenen Daten gemacht hat, können sich Dritte, an die diese Daten gelangt sind, nicht darauf berufen, sondern müssen selbst entsprechende Vereinbarungen treffen.
19Vgl. Viktor Mayer-Schönberger: Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten. 3. Aufl. Berlin: University Press 2015, S. 163.
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Den Begriff informationelle Selbstbestimmung hat Wilhelm Steinmüller bereits 1971 geprägt.20 1983 wurde der Terminus durch das Bundesverfassungsgericht im Zuge des Volkszählungsurteils aufgegriffen. Im Rahmen dieses Urteils wurde nicht nur der Begriff adaptiert, sondern der Datenschutz um das Konzept der informationellen Selbstbestimmung erweitert. Die „Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“21 wird darin als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bezeichnet und den vom Grundgesetz garantierten Grundrechten zugeordnet. Politische Initiativen zur Einfügung eines Datenschutz-Grundrechtes mit Garantie der informationellen Selbstbestimmung in das Grundgesetz haben bislang nicht die erforderliche Unterstützung gefunden. Auch auf europäischer Ebene ist das Konzept der informationellen Selbstbestimmung aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) der EU, die 2016 verabschiedet wurde und 2018 in Kraft getreten ist.22 Ziel war es, auch solche Betreiber von Suchmaschinen, Sozialen Netzwerken und Verkaufsplattformen an die datenschutzrechtlichen Vorschriften und Normen der EU zu binden, die zwar ihren Sitz außerhalb der EU haben, ihre Transaktionen mit EU-Bürgern via Internet jedoch in der EU vornehmen. Unter personenbezogenen Daten werden hier Informationen verstanden, „die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität“23 einer natürlichen Person sind, sodass diese identifizierbar wird. Interessanterweise werden darüber hinaus einige Datentypen in der
20Vgl.
Wilhelm Steinmüller: Das informationelle Selbstbestimmungsrecht. Wie es entstand und was man daraus lernen kann. In: FIfF-Kommunikation. Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung. 2007, 3, S. 15–19. https://www.fiff.de/publikationen/fiffkommunikation/fk-2007/fk-3-2007/fk-3-2007/fiff-ko-3-2007-steinmueller. 21Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 15.12.1983, so zitiert in Karsten Weber (wie Anm. 14), S. 187. 22Vgl. Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) 2016. 23Vgl. Art. 4, Abs. 1 Datenschutz-Grundverordnung 2016.
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atenschutz-Grundverordnung explizit behandelt: genetische Daten, D biometrische Daten, Gesundheitsdaten und Daten über strafrechtliche Verurteilungen.24 Für besonderes Aufsehen hat das in Art. 17 DSGVO formulierte Recht auf Löschung bzw. Vergessenwerden gesorgt. Demnach besteht die Möglichkeit, persönliche Daten im Internet auf Wunsch des Betroffenen löschen zu lassen. So kann z. B. ein Geschäftsmann, der vor Jahren Insolvenz anmelden musste, die Tilgung von Links verlangen, die von seinem Eintrag in den Ergebnislisten von Suchmaschinen auf entsprechende Presseartikel verweisen.25 Die Zeitungsartikel selbst bleiben allerdings zugänglich. Die Löschung bezieht sich also lediglich auf die Verlinkung der als veraltet oder unzumutbar angesehenen Quelle mit dem Personennamen. Personen des öffentlichen Lebens übrigens kommen nicht in den Genuss des Rechts auf Vergessenwerden.
Datensparsamkeit bzw. Datenvermeidung Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung umfassen Rechte der Einzelnen gegenüber dem Staat und Wirtschaftsunternehmen hinsichtlich des Umgangs mit personenbezogenen Daten. Datensparsamkeit und Datenvermeidung richten sich sowohl an die Einzelpersonen als auch an deren Transaktionspartner. Schon im Zusammenhang mit Datenschutz war gefordert worden, dass von Unternehmen und Behörden immer nur so viele Daten erhoben werden sollen und dürfen wie für den gegebenen Zweck erforderlich sind. Zweckbindung und Erforderlichkeit sollten demnach ausschlaggebend sein für das Ausmaß der erhobenen personenbezogenen Daten. Aber auch an die betroffenen Personen ergeht der Appell, bei der Preisgabe personenbezogener Daten insbesondere im Internet Zurückhaltung zu zeigen.
24Vgl.
Art. 4, Abs. 13–15, Art. 10 Datenschutz-Grundverordnung 2016. Koen Lenaerts: Das Recht auf Privatheit überwiegt. EuGH-Richter über Google-Urteil. In: Tageszeitung. 20.9.2014. https://www.taz.de/!5032929/. Der Europäische Gerichtshof hatte schon 2014, also noch vor der Verabschiedung der Datenschutz-Grundverordnung in diesem Sinne entscheiden. 25Vgl.
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Den Interessen und Praktiken vieler Internetunternehmen läuft dies zuwider, denn je mehr personenbezogene Daten gesammelt und ausgewertet werden, desto größer ist das Potenzial, damit gewinnbringend zu arbeiten. So lassen sich daraus zum einen sehr aussagekräftige individuelle Persönlichkeitsprofile erstellen, die für personalisierte Werbung genutzt und zu gewerblichen Zwecken verkauft werden. Zum anderen werden die Daten möglichst vieler Kundinnen und Kunden zusammengeführt. Die technischen Möglichkeiten, aus diesen immens großen Rohdatensammlungen durch leistungsstarke, algorithmische Analysetools Muster und Wahrscheinlichkeiten zu entwickeln, haben dazu geführt, dass in der Wirtschaft im Gegenteil Datenreichtum gefordert wird und vom Produktionsfaktor Daten die Rede ist. Zweckbindung bei der Datenerhebung und Datensparsamkeit passen demnach nicht mehr zur heutigen Wertschöpfung in der Internetökonomie.26 Big Data erweist sich damit als das Gegenkonzept zu Datensparsamkeit und Datenvermeidung.27
8.3 Suchmaschinen Suchmaschinen basieren auf einem durch Webcrawler bzw. Harvester erzeugten Index, auf den bei der Suche zurückgegriffen wird. Diese Crawler kopieren im Web zugängliche Dateien und speisen sie in den Index der zugehörigen Suchmaschine ein. Gleichzeitig folgen sie den auf den Dateien enthaltenen Links und kopieren die auf diese Weise erreichbaren Dateien. So erschließen Suchmaschinen das frei zugängliche Web in nennenswertem Umfang. Das Retrieval erfolgt vorwiegend als Stichwortsuche über die in den Dokumenten enthaltenen Wörter. Wesentlichen Anteil an der Bewertung des Gebrauchswertes einer Suchmaschine hat die Ergebnispräsentation, d. h. das Ranking. Ethische 26Vgl.
Dietmar Neuerer: Ein Push für den Markt. In: Handelsblatt. 8.11.2016. https://www. handelsblatt.com/politik/deutschland/datensparsamkeit-ein-push-fuer-den-markt/14809588. html. 27Vgl. Philipp Richter: Big Data. In: Handbuch Medien- und Informationsethik. Hrsg. Jessica Heesen. Stuttgart: Metzler 2016. S. 210–216. Hier S. 211.
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Problemstellungen im Umfeld von Suchmaschinen bestehen vor allem im Kontext der Erschließungsreichweite, der Indexkontrolle, der Ergebnispräsentation, des Umgangs mit personenbezogenen Daten, der Marktdominanz und des Geschäftsmodells.28
Erschließungsreichweite und Indexkontrolle Bei der Erschließungsreichweite ist zunächst wichtig, dem weit verbreiteten Mythos entgegenzutreten, Suchmaschinen seien in der Lage, das Internet vollständig zu erschließen. Suchmaschinen beziehen sich zum einen auf das Web und nicht auf die übrigen Schichten des Internet (wie z. B. E-Mail). Aber auch das Web kann von Suchmaschinen nur partiell erschlossen werden. Das sog. Deep Web bleibt ihnen prinzipiell verschlossen. So können z. B. Anbieter von Inhalten festlegen, ob Webcrawler die Webseite in den Index der Suchmaschine aufnehmen und den darin enthaltenen Links folgen dürfen oder nicht. Zum Deep Web, manchmal auch als Invisible oder Hidden Web bezeichnet, gehören ferner vor allem29 • Seiten, auf die keine Links weisen • Seiten, die aus kommerziellen Gründen durch Passwörter geschützt sind • Dokumente, die in einem der Suchmaschine nicht bekannten Format gespeichert sind • Inhalte von Datenbanken, die nur über Nutzereingaben in Suchmasken über dynamisch erzeugte Webseiten ermittelbar sind • das sog. Dark Web, das nur über spezielle Tools erreichbar ist und genutzt wird zum Verkauf illegaler Produkte aber auch Whistle-
28Vgl. dazu auch Herman Tavani: Search Engines and Ethics. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy Archive. Fall 2016 Edition. https://plato.stanford.edu/entries/ethics-search. 29Vgl. dazu Karsten Weber: Search Engine Bias. In: Handbuch Internet-Suchmaschinen 2. Neue Entwicklungen in der Web-Suche. Hrsg. Dirk Lewandowski. Heidelberg: Akademische Verlagsgesellschaft 2011, S. 265–285. Hier S. 271. und Dirk Lewandowski: Suchmaschinen verstehen. Heidelberg: Springer 2015. Hier S. 236.
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blowern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten dazu dient, um ihre Identität zu verschleiern. Die Aufklärung darüber, dass Suchmaschinen nur einen eingeschränkten Teil des Webs zugänglich machen und schon gar nicht „das Wissen der Welt“ erschließen, muss im Kontext der Vermittlung und Förderung von Informationskompetenz durch Bibliotheken, Schulen und weitere Bildungseinrichtungen systematisch erfolgen. Dies strukturell und institutionell sicher zu stellen, ist eine wichtige Aufgabe staatlicher Daseinsvorsorge. Wer eine Suche über eine Suchmaschine anstößt, sucht keineswegs im Internet, sondern im Index der Suchmaschine. Erst wenn innerhalb der Ergebnisliste ein Link angeklickt wird, verlässt der Nutzer den von der Suchmaschine kontrollierten Informationsraum. Da Suchmaschinen gegenwärtig als kommerzielle Unternehmen betrieben werden, sind sie grundsätzlich frei in der Entscheidung, was sie in ihren Index aufnehmen und was nicht. Marktführer wie Google beteuern, dass Sie von definierten Ausnahmen abgesehen keine manipulativen Eingriffe in ihre Indizes vornehmen, sondern die von den Harvestern kopierten und indizierten Dokumente für die Suche bereitstellen. De facto werden Suchmaschinenbetreiber vor allem von staatlichen Stellen und Gerichten systematisch ersucht, Inhalte aus den Indizes zu löschen. Als Gründe werden etwa angegeben Gefährdung der nationalen Sicherheit, Verstoß gegen nationales Recht, Verleumdung, Datenschutz, Jugendschutz usw. Diese Aufforderungen sind z. T. zu werten als Elemente einer staatlichen Zensur, z. T. aber auch als nachvollziehbare Maßnahmen zum Schutz vor übler Nachrede oder zum Jugendschutz.
Ergebnispräsentation/Ranking Die Reihenfolge der präsentierten Suchergebnisse spielt für die Nutzung eine entscheidende Rolle. Untersuchungen belegen, dass primär
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die ersten drei bis vier Angaben wahrgenommen werden.30 Google spricht in diesem Zusammenhang vom quasi objektiven Charakter der Reihenfolge, denn diese „sei nicht Produkt direkter menschlicher Intervention, sondern das Erzeugnis eines Rankingalgorithmus“31, für den mehr als 200 Faktoren herangezogen werden. Dazu gehören textspezifische Faktoren, etwa wie oft und an welchen Stellen des Dokuments die Suchbegriffe vorkommen. Herausragende Bedeutung aber haben linktopologische Verfahren, die Aussagen darüber enthalten, wie populär eine Website ist. Zusätzlich wird das Ranking durch personalisierende Aspekte bestimmt, um ein auf das Interessenprofil des einzelnen Nutzers zugeschnittenes Ergebnis präsentieren zu können. Dafür werden neben den Suchanfragen, die der Nutzer in der Vergangenheit gestellt hat, zahlreiche weitere personenbezogene Daten herangezogen, über die die Suchmaschinenbetreiber verfügen. Der Rankingalgorithmus, der sich aus diesen und weiteren Faktoren zusammensetzt, wird von den Suchmaschinenbetreibern als Betriebsgeheimnis betrachtet und daher nicht offen gelegt. Algorithmen operieren automatisch und gehen als Folge von Handlungsanweisungen immer gleich vor. Aus diesem Grund erwecken sie leicht den Anschein von Objektivität. Tatsächlich aber enthalten sie immer implizite Annahmen und Werturteile derjenigen Menschen, die sie entwickelt haben.32 Wenn Algorithmen grundsätzlich nicht neutral sein können, gilt dies auch für Suchmaschinen und ihr Ranking. Bedenklich muss stimmen, dass Nutzer nicht erfahren, warum die Suchmaschine das Dokument a für relevanter hält als das Dokument b. Ein weiterer Grund, weshalb Suchmaschinen keine neutralen Ergebnisse liefern können, liegt in der sog. Suchmaschinenoptimierung. Darunter sind Maßnahmen zu verstehen, durch welche die Position von Webseiten im Ranking der Suchmaschinen verbessert wird. Viele
30Vgl.
Lewandowski (wie Anm. 29), S. 131. Weber: Moral und Suchmaschinen. In: Handbuch Internet-Suchmaschinen. Nutzerorientierung in Wissenschaft und Praxis. Hrsg. Dirk Lewandowski. Heidelberg: Akademische Verlagsgesellschaft 2009, S. 301–325. Hier S. 305. 32Vgl. Lewandowski (wie Anm. 29), S. 270. 31Karsten
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Unternehmen greifen auf die Dienste von Suchmaschinenoptimierern zurück, um die Sichtbarkeit ihrer Produkte zu verbessern. Suchmaschinenoptimierer bemühen sich darum, die Prinzipien der Rankingalgorithmen soweit wie möglich zu identifizieren, um auf diese Weise manipulativ in das Ranking eingreifen zu können. Diese Maßnahmen reichen von der Integration häufig verwendeter Suchwörter in die Dokumente bis zur Simulation von Popularität z. B. durch Linkfarmen. Damit wird klar, dass ökonomische Interessen über Suchmaschinenoptimierer in erheblichem Maße auf das Ranking der Suchergebnisse einwirken und damit Einfluss gewinnen auf das, was Nutzer zu sehen bekommen und schließlich auch auswählen.33 Auch dies ist ein Aspekt, der im öffentlichen Bewusstsein kaum Aufmerksamkeit erlangt hat. Viel zu häufig gehen Nutzer weiterhin davon aus, dass die durch „objektive“ Rankingalgorithmen „implizierte Qualität mit tatsächlicher Qualität übereinstimmt“34. Auf den Ergebnisseiten aber taucht auch offene Werbung auf, die zu den Suchbegriffen passt und in der Regel durch den Zusatz „Anzeige“ gekennzeichnet ist. Manchmal sind die Werbeanzeigen farblich leicht abgesetzt. Ansonsten sind sie ästhetisch und strukturell an die Präsentation normaler Treffer angepasst, stehen vor diesen und nehmen damit die Position ein, auf die der Blick der Nutzer zuerst fällt. Der Übergang zwischen dem Werbeblock und den normalen Ergebnissen ist nicht immer durch eine klare Trennlinie markiert, sodass Nutzer glauben können, eine einheitliche Ergebnisanzeige vor sich zu haben. Der Text der Werbeanzeigen wird von den Werbenden festgelegt. Die Reihenfolge innerhalb des Werbeblockes ist preisabhängig. Tatsächlich ist es so, dass ca. 45 % der Nutzer Werbeanzeigen und organische Ergebnisse nicht auseinanderhalten können.35
33Vgl.
ebd., S. 278. Ebd., S. 269. 35Vgl. Martin U. Müller, Christoph Pauly, Marcel Rosenbach, Hilmar Schmundt, Christian Stöcker: Der Türsteher. In: Der Spiegel. 2012. Nr. 43, S. 86–94. Hier S. 91, https://www.spiegel. de/spiegel/print/d-89234405.html. 34Lewandowski
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Die Bedeutung der Werbeanzeigen ergibt sich aus dem Geschäftsmodell der Suchmaschinen. Die Anzeigen erscheinen kontextbezogen. Der Suchende hat durch die Eingabe des Suchbegriffes ein akutes Interesse an dem beschriebenen Gegenstand artikuliert, sodass die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Kauf kommt, vergleichsweise hoch ist. Der Suchmaschinenbetreiber generiert seine Einnahmen dadurch, dass die Werbetreibenden zunächst für die Suchbegriffe bezahlen, zu denen ihre Werbung kontextsensitiv erscheinen soll und ferner für jeden Klick, mit dem Nutzer im Anschluss den Werbeangeboten folgen. Das Ranking von Suchmaschinen wird jedoch nicht nur durch die intransparenten Algorithmen, die Suchmaschinenoptimierer und die offen deklarierte Werbung verzerrt. Auf den Ergebnisseiten erscheinen auch auf die Suche bezogene Ergebnisse aus weiteren von der Suchmaschine betriebenen Indizes bzw. Datenbanken. Bei Google z. B. werden die am besten zu den Suchbegriffen passenden Ergebnisse aus Google Bilder, Google Books, Google Maps, Google News oder Google Shopping angezeigt. Diese Treffer werden meist nicht besonders oder allenfalls höchst unauffällig gekennzeichnet. Darüber hinaus wird insbesondere gegenüber Google seit längerem der Vorwurf erhoben, in der Ergebnispräsentation würden Google-eigene Produkte und Dienstleistungen wie z. B. der Preisvergleichsdienst Google Shopping oder die eigene Flugsuche grundsätzlich vor denen anderer Anbieter platziert. Aus diesem Grund hat die EU-Kommission 2010 ein Wettbewerbsverfahren gegen Google eingeleitet und im Juni 2017 befunden, das Unternehmen habe seine „marktbeherrschenden Stellung als Suchmaschine durch unzulässige Vorzugsbehandlung des eigenen Preisvergleichsdienst(es)“36 missbraucht und müsse eine Geldbuße in Höhe von 2,42 Mrd. Euro bezahlen. Es zeigt sich, dass Suchmaschinenergebnisse prinzipiell nicht neutral und objektiv sein können. Darüber hinaus haben Suchmaschinenbetreiber eine Vielzahl von Möglichkeiten (und ökonomischen Motiven), 36EU-Kommission:
Kartellrecht. Kommission verhängt Geldbuße in Höhe von 2,42 Mrd. EUR gegen Google wegen Missbrauchs seiner marktbeherrschenden Stellung als Suchmaschine durch unzulässige Vorzugsbehandlung des eigenen Preisvergleichsdienst[es]. Europäische Kommission – Pressemitteilung. 27. Juni 2017. https://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-1784_de.htm.
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um auf die Ergebnislisten Einfluss zu nehmen. Zudem greifen Suchmaschinenoptimierer ein, um die Webangebote ihrer Kunden im Ranking möglichst weit nach oben platzieren zu können.
Personalisierung und Datenschutz Suchmaschinenbetreiber sind daran interessiert, so viele Daten über ihre Nutzer zu sammeln wie möglich. Dabei handelt es sich um IPAdressen, Ort des Login, Suchgeschichte, verwendete Suchbegriffe, angeklickte Suchergebnisse, Onlinekäufe und vieles mehr.37 Diese personenbezogenen Daten werden kumuliert und zu Nutzerprofilen verdichtet. Hinzugezogen werden dabei z. B. von Google, sofern vorhanden, weitere persönliche Daten aus Diensten wie YouTube, Gmail, Google Maps, Google Play oder der Kommunikation mit Sprachassistenten. Darüber hinaus erwirbt Google seit einigen Jahren auch die Transaktionsdaten großer Kreditkartenunternehmen wie Mastercard, um auch Informationen über das Kaufverhalten in der analogen Welt zu erhalten.38 Die so gewonnenen Nutzerprofile dienen dazu, die Ergebnispräsentation auf die vermuteten Interessen des jeweiligen Nutzers zuzuschneiden. Demnach führt die gleiche Suchanfrage bei unterschiedlichen Nutzern mit hoher Wahrscheinlichkeit zu abweichenden Ergebnislisten. Das kann im Einzelfall durchaus hilfreich sein. Das Motiv aus Sicht der Suchmaschinenbetreiber besteht allerdings darin, auch die eingeblendeten Werbeanzeigen auf das Interessenprofil des Nutzers zuzuschneiden, um auf diese Weise eine möglichst hohe Zahl an Klicks und Transaktionen herbeizuführen. Mit jedem Klick, der auf diese Weise zustande kommt, generieren die Suchmaschinen Einnahmen. Die EU-Kommission stellte 2017 fest, dass Google sich zu 90 % aus Werbung finanziert, d. h. vor allem aus Werbeanzeigen, die im 37Vgl.
Thilo Weichert: Datenschutz bei Suchmaschinen. In. Handbuch Internet-Suchmaschinen. Nutzorientierung in Wissenschaft und Praxis. Hrsg. Dirk Lewandowski. Heidelberg: Akademische Verlagsgesellschaft 2009, S. 285–300. Hier S. 286. 38Vgl. Douglas C. Schmidt: Google Data Collection. Digital Context Next. August 15, 2018. https://digitalcontentnext.org/wp-content/uploads/2018/08/DCN-Google-Data-CollectionPaper.pdf.
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Zusammenhang mit den Ergebnislisten gezeigt werden.39 Dieses Geschäftsmodell kollidiert eindeutig mit dem Grundsatz der Datensparsamkeit und Datenvermeidung.40 Google und andere behelfen sich damit, dass sie die Nutzung ihrer Dienste binden an eine Zustimmung der Nutzer zu den firmeneigenen „Datenschutzbestimmungen“, in denen auf die Sammlung personenbezogener Daten und die damit verfolgten Zwecke hingewiesen wird. Die Behauptung, Google könne daher „von einem informed consent der Nutzer ausgehen“41 ist jedoch inakzeptabel. Denn diese Bestimmungen sind oft so umfangreich und auf eine Vielzahl von Seiten und Unterseiten verteilt, dass ihre Lektüre äußerst zeitraubend ist und durchaus mehrere Stunden dauern kann.42 Der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen fordert daher für Unternehmen die Pflicht, ihre Kunden auf je einer Seite mit max. 500 Wörtern über die datenschutzrechtlichen Vorgaben und die Allgemeinen Geschäftsbedingungen aufzuklären.43 Gegenwärtig verzichten viele Nutzer auf die Lektüre und akzeptieren die Bedingungen blind. Dabei ist ihnen oft nicht klar, dass sie nicht nur der Speicherung ihres Suchverhaltens zustimmen, sondern auch der Datenverarbeitung in anderen Ländern und der Weitergabe ihrer Daten an Geschäftspartner der Suchmaschinenbetreiber. Es bleibt offen, in welchen Ländern die Datenverarbeitung stattfindet und um wen es sich bei den Partnern handelt. Die Nutzer haben damit de facto keine Kontrolle mehr darüber, was mit ihren Daten geschieht und an wen diese weitergeleitet werden. Google und die meisten anderen Suchmaschinen stellen aufgrund ihrer Funktionsweise eine allgemeine Gefährdung für den Datenschutz 39Vgl.
EU-Kommission (wie Anm. 36). § 3a Bundesdatenschutzgesetz. 41Weber (wie Anm. 31), S. 317. 42Vgl. Google fordert Zustimmung zum Datenschutz. Verbraucherzentrale. 12.11.2015. https:// www.verbraucherzentrale.de/wissen/digitale-welt/datenschutz/google-fordert-zustimmung-zumdatenschutz-12309 (19.8.2019). 43Vgl. Digitale Souveränität. Gutachten des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Berlin 2017.S. V. https://www.svrverbraucherfragen.de/wp-content/uploads/Gutachten_Digitale_Souver%C3%A4nit%C3%A4t_. pdf. 40Vgl.
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und die informationelle Selbstbestimmung ihrer Nutzer dar. Was genau mit den Daten geschieht wird nicht mitgeteilt, wie sie und wozu sie verarbeitet werden und an wen sie weiterverkauft werden, bleibt intransparent.44 Wenn die Verarbeitung zudem im Ausland erfolgt, gelten die dortigen nationalen Gesetze. Selbst wenn Google dem Druck der jeweiligen Regierungsbehörden und Geheimdienste auf Zugang zu oder Herausgabe von personenbezogenen Daten widerstehen sollte, bleibt dennoch ungewiss, wie sich die Geschäftspartner verhalten und an wen die entsprechende Daten verkauft worden sind. Dies ist nicht nur dann bedenklich, wenn Diktaturen und andere repressive Staaten Zugriff auf personenbezogene Daten fordern, um Regimegegner zu verfolgen.45 Erinnert sei daran, dass der Patriot Act alle Unternehmen in den USA verpflichtet, dem FBI auf Verlangen gespeicherte Nutzerdaten zugänglich zu machen, auch solche, die im Ausland erhoben worden sind und sich auf Personen beziehen, die nicht US-Staatsbürger sind.46
Geschäftsmodell und Marktdominanz Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei Suchmaschinenbetreibern um gewinnorientierte Wirtschaftsunternehmen handelt. Dies gerät leicht aus dem Blick, da die Dienstleistungen auf den ersten Blick kostenlos zu sein scheinen. Das Geschäftsmodell der Betreiber von Suchmaschinen (und anderer Unternehmen der Internetökonomie) besteht darin, bestimmte Dienstleistungen wie allgemeine Internetrecherche, Kommunikations- oder Verkaufsplattformen entgeltfrei anzubieten und als Gegenleistung das Recht zu erhalten, die Datenspuren zu sammeln, daraus Nutzerprofile zu entwickeln und anschließend Werbung schalten zu können, die auf das Interessenprofil der Nutzer möglichst passgenau zugeschnitten ist. Dies ermöglicht individualisiertes Oneto-one-Marketing, das erheblich erfolgreicher ist, als die klassischen Formen des Massenmarketings. Eine weitere Einnahmequelle besteht 44Vgl.
Weichert (wie Anm. 37), S. 289. Weber (wie Anm. 31), S. 306. 46Vgl. Weichert (wie Anm. 37), S. 298. 45Vgl.
170 H. Rösch Tab. 8.1 Marktanteile von Suchmaschinen im Juli 2019 Google (USA) Bing (USA) Yahoo! (USA) Baidu (China) Yandex (RU) DuckDuckGo (USA)
Weltweit
Deutschland
92,19 2,61 1,85 1,21 0,55 0,54
93,31 4,25 0,71 0,67
im Verkauf personenbezogener Daten an andere Unternehmen des E-Commerce. Ethisch bedenklich ist vor allem, dass dieses Geschäftsmodell für die Nutzer der Suchmaschinen nicht ohne weiteres erkennbar ist. Eli Pariser zitiert in diesem Zusammenhang Andrew Lewis, der im Hinblick auf kostenlose Angebote im Internet festgestellt hatte: „If you’re not paying for something, you’re not the customer; you’re the product being sold.”47 Die EU-Kommission vertrat im Juni 2017 die Auffassung, Google habe in allen 31 Ländern des Europäischen Wirtschaftsraumes eine marktbeherrschende Stellung. Die Marktanteile lagen demnach in den meisten Ländern seit Jahren bei über 90 %.48 Viele Untersuchungen bestätigen diesen Befund. In Tab. 8.149 werden die Marktanteile im Juli 2019 angegeben. Dabei wird nicht nach Zugriffsgeräten unterschieden. In dieser Konstellation spielt der Markt als Regulativ keine Rolle mehr. Ernstzunehmende Konkurrenz ist nicht erkennbar, Google verfügt über ein Quasi-Monopol. Damit hat ein weltweit operierendes US-amerikanisches Unternehmen erheblichen Einfluss darauf, was Nutzer vom Internet zu sehen bekommen und was nicht. Weder sind Aufbau und Umfang des Index bekannt, noch die Kriterien des Ergebnisrankings, obwohl doch beide eine wichtige Rolle bei der Herstellung von Öffentlichkeit haben. Sicher ist jedoch, dass das Geschäftsmodell 47Zitiert in Eli Pariser: The Filter Bubble. What the Internet is hiding from you. London: Viking 2011, S. 18. 48Vgl. EU-Kommission (wie Anm. 36). 49Vgl. etwa die Ergebnisse der Dienstleisters zur Analyse von Online-Aktivitäten bei Statcounter. Search Engine Market Share Worldwide July 2018 – July 2019. https://gs.statcounter.com/ search-engine-market-share.
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des gewinnorientierten Wirtschaftsunternehmens zur Verzerrung der Ergebnispräsentation beiträgt. Selbst wenn feststeht, dass Index, Algorithmen und Ranking grundsätzlich nicht neutral und objektiv sein können, so wäre es doch notwendig z. B. durch einen Vergleich mit Konkurrenzprodukten, den Grad der Verzerrung feststellen zu können und deren Ursachen identifizieren zu können.50 Damit stellt sich die Frage, ob und wie sich die auch aus ethischer Sicht gegenwärtig missliche Situation verbessern lässt. Verschiedene Lösungsoptionen sind in diesem Zusammenhang diskutiert worden. So wurde vorgeschlagen, öffentlich finanzierte Suchmaschinen nach dem Modell der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu begründen.51 Unklar ist jedoch, wie ein solches Projekt finanziert werden könnte, welche Mechanismen geeignet wären, um dessen auftragsgemäßes Wirken zu kontrollieren und ob es auf nationaler, kontinentaler oder globaler Ebene angesiedelt sein müsste. Weitere Vorschläge bezogen sich auf die Offenlegung der Rankingalgorithmen, die Zerschlagung von Google in verschiedene, voneinander unabhängige Teilunterunternehmen und den Aufbau eines offenen Web-Index, der allen Suchmaschinenbetreibern zur Verfügung stehen soll.52 Keine dieser Ideen scheint auf den ersten Blick realistisch. Die Offenlegung des Rankingalgorithmus würde die Manipulation durch Suchmaschinenoptimierer erleichtern. Die zwangsweise Zerschlagung eines weltweit operierenden Unternehmens müsste auf dem Konsens vieler Beteiligter beruhen und dürfte rechtlich problematisch sein. Für den Aufbau eines offenen Web-Index schließlich, der auf die Finanzierung durch Werbung verzichtet, müssten gerecht bemessene Beiträge bei Nutznießern erhoben werden. Auch diese Option erscheint gegenwärtig kaum möglich. Trotz aller Bedenken ist nicht zu bestreiten, dass kommerzielle Suchmaschinen nach dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung ein unersetzliches Hilfsmittel für die Navigation im Internet sind und
50Vgl.
Weber (wie Anm. 29), S. 277. Weber (wie Anm. 31), S. 313. 52Vgl. Lewandowski (wie Anm. 29), S. 288. 51Vgl.
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bleiben. Mit dem auf EU-Ebene verabschiedeten „Recht auf Vergessenwerden“ und dem deutschen „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ von 2017 wurde versucht, zumindest einige Auswüchse auf rechtlicher Ebene zu regulieren. Ob dies wirklich erfolgreich ist, bleibt abzuwarten und ob die damit verbundenen Nebenwirkungen hinnehmbar sind, ist umstritten. Was allerdings in jedem Falle möglich ist, ist Aufklärung der Öffentlichkeit über die bestehenden Hintergründe. Öffentliche Diskurse und systematische Unterrichtung im Rahmen der Vermittlung und Förderung von Informationskompetenz sollten dafür sorgen, dass Suchmaschinen als Informationsvermittler mit eigenen, ökonomisch determinierten Interessen wahrgenommen werden.53 Auch die oben angesprochenen Mechanismen, welche zur Verzerrung der Suchergebnisse führen, sollten den Nutzern im Einzelnen bekannt sein. Wichtig ist ferner, die Privatheitskompetenz zu fördern und Nutzern klar zu machen, welche Risiken sie eingehen, wenn sie sich auf die Nutzungsbedingungen von Suchmaschinenbetreibern vorbehaltlos einlassen. Auch sollte auf Möglichkeiten hingewiesen werden, Suchmaschinen bzw. Teile ihres Angebots nutzen zu können, ohne dass man sein Einverständnis in die grenzenlose Erhebung und Weiterverarbeitung der eigenen personenbezogenen Daten gibt. Die Verbraucherzentrale etwa verweist in diesem Zusammenhang auf die Nutzung von Metasuchmaschinen.54 Eine grundsätzliche Lösung der ethischen Probleme, die im Zusammenhang mit Suchmaschinen bestehen, ist jedoch gegenwärtig nicht in Sicht. Dennoch bleibt zu fordern, dass die Chancen für Informationsangebote, in den Suchmaschinenindex aufgenommen zu werden, gleich sein sollten und die Rankingalgorithmen so strukturiert werden, dass alle Angebote gleich behandelt werden. Ferner müssen Suchergebnisse viel deutlicher von Werbung und allen anderen Zugaben getrennt werden.
53Vgl. 54Vgl.
Lewandowski (wie Anm. 29), S. 288. Google fordert Zustimmung zum Datenschutz (wie Anm. 41).
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8.4 Soziale Netzwerke Soziale Netzwerke beruhen auf einem ähnlichen Geschäftsmodell wie Suchmaschinen. Die Nutzer können die angebotenen Dienstleistungen vermeintlich kostenlos in Anspruch nehmen. Als Gegenleistung erhalten die Betreiber i. d. R. das Recht, alle Inhalte für die eigenen Zwecke kommerziell auszuwerten oder an Geschäftspartner bzw. staatliche Behörden weiterzuleiten. Soziale Netzwerke (im Internet) nutzen die interaktiven Möglichkeiten des sog. Web 2.0, um auf diese Weise die kommunikative Vernetzung und den Austausch nutzergenerierter Inhalte zu ermöglichen. Die Begriffe Soziale Netzwerke und Soziale Medien (social media) werden nicht selten synonym gebraucht, obwohl Soziale Medien streng genommen weitere Varianten umfassen wie Content Sharing Communities (z.B. YouTube) oder Gaming Communities. Im Folgenden stehen solche Soziale Netzwerke im Mittelpunkt, deren Ziel in erster Linie darin besteht, Nutzern im Internet durch Vernetzung die Chance zum Austausch von Alltagserfahrungen, Meinungen, Bewertungen und Informationen in Form von Text-, Bild-, Film- oder Tonnachrichten zu geben. Strukturell bestehen derartige Soziale Netzwerke zunächst aus den individuellen Profilen, der Liste anderer Nutzer, mit denen „Freundschaftsbeziehungen“ geknüpft worden sind und der Möglichkeit, Nachrichten blogähnlich zu posten bzw. untereinander auszutauschen. Innerhalb des Netzwerkes besteht die Möglichkeit, nach anderen Nutzern zu suchen und gegebenenfalls eine Freundschaftsanfrage zu stellen, die bei einigen Anbietern vom Adressaten akzeptiert werden muss, damit es zu einer gegenseitigen Aufnahme in die jeweiligen Kontakt-Netzwerke kommt. Ist dies geschehen, können miteinander „befreundete“ Nutzer ihre jeweiligen Profile einsehen und erhalten die Mitteilungen und Statusmeldungen des bzw. der anderen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, diese Mitteilungen gegenseitig zu kommentieren und zu bewerten. Bei Facebook geschieht dies z. B. durch Anklicken des sog. Like-Buttons. Die Nutzer haben die Option, den Zugriff auf die über ihr Profil zugänglichen Informationen zu steuern. Ihr Name und ihr Profilbild
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sind grundsätzlich öffentlich; alle anderen Informationen können sie für die Öffentlichkeit sperren und nur ihrem Freundesnetzwerk zugänglich machen. Bei der Beschreibung des eigenen Profils werden Aussagen abgefragt zu Alter, Geschlecht, Wohn- und früheren Aufenthaltsorten, Ausbildungsgang, Beruf, Mitgliedschaft in Institutionen, Hobbies, Vorlieben usw. Die Betreiber ermuntern ihre Nutzer dazu, die Profilbeschreibung so ausführlich wie möglich zu gestalten ohne im Einzelnen vorzuschreiben, dass die Kategorien ausgefüllt werden müssen. Pflicht ist es allerdings, den Namen anzugeben und ein Bild einzustellen. Facebook z. B. verlangt, dass der richtige Name angegeben wird. Diese Vorschrift wird jedoch nicht selten umgangen. Zu den beliebtesten Anbietern Sozialer Netzwerke zählen Facebook, Xing, LinkedIn und Twitter. Facebook ist das weltweit größte Netzwerk mit 2,3 Mrd. Nutzern pro Monat (April 2019). Es wird vor allem im privaten Bereich genutzt. Allerdings besteht auch für Unternehmen die Möglichkeit, ein Facebook-Profil anzulegen und auf diese Weise Online-Marketing zu betreiben. Auch Künstler, Vereine, Interessenverbände und Institutionen können Fanseiten anlegen und so über Facebook für sich werben, Nachrichten verbreiten und sich vernetzen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, themen- oder interessenspezifische Gruppen einzurichten. Diese können offen für alle Interessenten sein oder sich nur an ein ausgewähltes Publikum richten. Twitter ist anders ausgerichtet als Facebook. Es handelt sich bei Twitter um eine Microblogging-Plattform. Nutzer können Nachrichten von max. 280 Zeichen versenden. Die Vernetzung erfolgt unidirektional, d. h. eine Bestätigung ist nicht notwendig. Weitere Soziale Netzwerke wie Pinterest, Instagramm, LinkedIn oder Xing mit teilweise unterschiedlichen Schwerpunkten ließen sich nennen. In den einschlägigen Statistiken wird Facebook eindeutig als Marktführer ausgewiesen und der Marktanteil weltweit mit ca. 72,1 % (Stand: Juli 2019) angegeben.55 Die Marktdominanz bei Sozialen Netzwerken ist zwar nicht so ausgeprägt wie bei Suchmaschinen, doch ver-
55Vgl. Statcounter. Social Media Stats worldwide July 2018 – July 2019. Statcounter. https:// gs.statcounter.com/social-media-stats.
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fügt Facebook ebenso wenig über einen ernsthaften Konkurrenten wie Google bei den Suchmaschinen. Facebooks Marktführerschaft ist der Grund dafür, dass sich Praxisbeispiele im Folgenden vorwiegend auf das von Mark Zuckerberg erst 2004 gegründete Unternehmen beziehen.
Datenschutz und Privatheit Die grundsätzlich positive Funktion Sozialer Netzwerke besteht darin, Gleichgesinnte und Freunde im Netz aufzuspüren, um mit ihnen in Kontakt treten zu können. Facebook bietet dazu die Möglichkeit an, die E-Mailkontakte des eigenen E-Mailkontos zu kopieren und mit den E-Mail-Adressen der Facebook-User zu vergleichen. Auf dieser Grundlage werden dann Vorschläge für Freundschaftsanfragen unterbreitet. Allerdings werden auch die E-Mail-Adressen und Daten solcher Personen gespeichert, die nicht Mitglied von Facebook sind. Dies ist nicht die einzige Praxis, die dazu führt, dass Facebook an Daten von Nicht-Nutzern kommt. Beim Besuch einer Facebook-Seite wird unabhängig davon, ob es sich um ein Facebook-Mitglied handelt oder nicht, im Browser ein Cookie platziert, das Informationen über die angesteuerten Webseiten speichert. Jedes Mal, wenn die entsprechende Person eine Seite aufruft, auf der Facebooks Like- bzw. Share-Button enthalten ist, werden die über das Cookie gespeicherten Navigationshistorien von Facebook ausgelesen, unabhängig davon, ob der Button angeklickt worden ist.56 Immerhin 7,9 % aller Webseiten haben den Like- bzw. Share-Button von Facebook eingebunden.57 Nutzer geben auf den Sozialen Netzwerken persönliche Daten nicht nur durch die mehr oder weniger ausführliche Selbstbeschreibung im Rahmen der vorgeschlagenen Kategorien bei der Beschreibung ihres Profils preis (Beruf, Hobbies, Vorlieben usw.). Eine wichtige Rolle in
56Vgl.
Facebook darf Daten über Nichtmitglieder sammeln. In: Spiegel online. 30.6.2016. https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/facebook-darf-daten-ueber-nicht-mitgliedersammeln-a-1100604.html: 57Vgl. Usage of social widgets for Websites. In: W3Techs 19.8.2019. https://w3techs.com/ technologies/overview/social_widget/all.
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diesem Zusammenhang spielen die Like- und Share-Buttons. Im Unterschied zu anderen Netzwerken, die z. T. auch die Möglichkeit bieten, abstufende Bewertungen abzugeben (z. B. bis zu drei oder fünf Sterne) bietet Facebook nur die Möglichkeit, ein positives Votum („Like“) abzugeben. Einen Dislike-Button wie z. B. bei Youtube gibt es dort hingegen nicht. Durch das Anklicken des Like- oder Share-Buttons werden die Nachrichten von Freunden, Ereignisse, Werbeauftritte oder Selbstdarstellungen von Gruppen, Unternehmen oder Produkten bestätigt bzw. positiv bewertet. Aus Sicht der Nutzer haben diese Aktivitäten die Funktion, die Vernetzung über die Bestätigung gemeinsamer Vorlieben zu verstärken und damit das Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen Gruppe zu bestätigen. Für Unternehmen, Werbetreibende und Interessenvertreter aller Art hingegen spielen Like- und Share-Buttons eine zentrale Rolle im Rahmen des Social Media Marketings. Wird nämlich der Button auf Produkt-, Unternehmens- oder sonstigen Werbewebseiten von einem Facebook-Mitglied angeklickt, bedeutet dies, dass diese Seite allen seinen Freunden empfohlen wird. Für die Betreiber der Netzwerke wiederum werden die individuellen Nutzerprofile durch die Empfehlungen über Like- oder Share-Buttons fortwährend aktualisiert und erheblich angereichert. Dies verbessert die personalisierte Werbung und die Qualität der Nutzerprofile insgesamt, die an Partner weiterverkauft werden. Besonderen ökonomischen Reiz gewinnen die von Facebook zusammengestellten Persönlichkeitsprofile, da sie in hohem Umfang mit den Klarnamen verbunden sind. Auch wenn nicht wenige Nutzer die Pflicht zur Angabe des richtigen Namens umgehen, ist doch der allergrößte Teil der Profile mit den zutreffenden Namen verknüpft. Eine wachsende Rolle in den Sozialen Netzwerken spielt der Upload von Bildern. Es hat seinen besonderen Reiz, durch „Selfies“ und Momentaufnahmen Alltagserlebnisse und kuriose Begebenheiten zu dokumentieren und die Freunde des Netzwerkes daran teilhaben zu lassen. Schon vor einigen Jahren bot Facebook seinen Nutzern an, auf Fotos Freunde zu identifizieren und durch automatische Analysetools nach groben Kategorien zu erschließen. Anschließend können Gesichter und Namensnennungen auf älteren Fotos abgeglichen werden. Bei der automatischen Gesichtserkennung werden biometrische Verfahren
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e ingesetzt, die mittlerweile über eine hohe Zuverlässigkeit verfügen. In den meisten europäischen Ländern ist dafür jedoch die Zustimmung der abgebildeten Personen notwendig. Daher bietet Facebook auf Druck hin diese Funktionen in Europa zurzeit nicht an.58 In den USA jedoch werden alle hochgeladenen Bilder mit einer Gesichtserkennungssoftware analysiert. Facebook sieht darin einen Beitrag zur Verbesserung der Privatsphäre seiner Nutzer, denn diese werden automatisch benachrichtigt, wenn sie auf einem Bild identifiziert werden, das ihnen bislang nicht bekannt war.59 Dieser Dienst wird in den USA grundsätzlich eingesetzt, Nutzer können ihn allerdings über eine OptOut-Funktion abschalten. Für die Nutzerprofile bietet Gesichtserkennung weiteres wichtiges Anreicherungspotenzial. Die datenschutzrechtlichen Bedenken gegen diese Praktiken sind enorm. Niemand hat unter Kontrolle, wann er per Zufall im Alltag durch Dritte mit dem Smartphone, dem Tablet oder einer gängigen Digitalkamera im Hintergrund mit fotografiert wird, ganz zu schweigen von heimlichen und unerlaubten Aufnahmen, die mittlerweile auch per Drohne gemacht werden können. Die Chance, dass diese Fotos in nennenswertem Umfang in Soziale Netzwerke hochgeladen werden, ist groß. Allein Facebook verfügt mit seinen 2,3 Mrd. Nutzern monatlich über eine kritische Masse. Wenn diese Fotos dann ausnahmslos mit Gesichtserkennungssoftware analysiert würden, ließen sich personenbezogene Daten in äußerst besorgniserregendem Umfang rekonstruieren. Weitere Probleme hinsichtlich des Datenschutzes und des Schutzes von Privatheit ergeben sich dadurch, dass der Messaging-Dienst WhatsApp 2014 durch Facebook übernommen wurde. Bei WhatsApp handelt es sich um einen beliebten Dienst, der es Nutzern von Mobiltelefonen erlaubt, ohne direkte Kosten Textnachrichten, Bilder, Videos oder Tondokumente im bilateralen Austausch oder in der definierten 58Vgl.
Conrad Conrad (2016): Neue Perspektiven und Gefahren der Gesichtserkennung. In: Datenschutz Notizen. 27.6.2016. https://www.datenschutz-notizen.de/neue-perspektiven-undgefahren-der-gesichtserkennung-1915015. 59Vgl. Markus Reuter: Facebook weitet Gesichtserkennung aus. In: Netzpolitik.org 21.12.2017. https://netzpolitik.org/2017/facebook-weitet-gesichtserkennung-aus/.
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Gruppe zu versenden. Auch das internetbasierte Telefonieren ist seit einiger Zeit möglich. Mit der Zustimmung zu den Datenschutzbedingungen müssen Nutzer, wenn sie das Funktionsangebot in zufriedenstellendem Umfang nutzen wollen, WhatsApp das Recht einräumen, die Telefonnummern ihrer Gesprächspartner und weitere Daten wie Zeitpunkt und Dauer der Kontakte oder den Standort weiterzugeben. Die Weitergabe erfolgt in erster Linie an den Mutterkonzern Facebook. Verbraucherschützer bemängeln, dass auf diese Weise personenbezogene Daten von WhatsApp-Nutzern an Facebook gelangen, selbst wenn diese keine Facebook-Nutzer sind. Darüber hinaus werden die Telefonnummern von Dritten an Facebook weitergeleitet, die in den Adresslisten von WhatsApp-Nutzern gespeichert sind, ohne dass die Betroffen zugestimmt haben.60 In Deutschland wurde WhatsApp 2017 gerichtlich untersagt, personenbezogene Daten an Facebook weiterzugeben. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Besondere Brisanz gewinnt die ungeheure Kumulation personenbezogener Daten durch Facebook auch unter dem Aspekt, dass Polizeibehörden und Nachrichtendienste darauf zugreifen. Insbesondere in totalitären und demokratiefeindlichen Regimen führt dies dazu, dass Fotos, Namen und Persönlichkeitsprofile von Dissidenten zu Zwecken der politischen Verfolgung genutzt werden. In der Türkei z. B. wurden Anfang 2018 über 600 Personen unter dem Vorwurf der Terrorpropaganda festgenommen, weil sie sich in Sozialen Netzwerken kritisch zur türkischen Militäroffensive in Syrien geäußert hatten. Soziale Netzwerke sind ebenso wenig wie Suchmaschinen daran interessiert, ihre Nutzer über die reale Bedeutung und die Folgen der Sammlung und Auswertung ihrer personenbezogenen Daten nachhaltig aufzuklären. In der Datenrichtlinie von Facebook z. B. finden sich zum einen zahlreiche unkonkrete und unspezifische Formulierungen wie: „Für die in dieser Richtlinie beschriebenen Zwecke kann Facebook Informationen intern innerhalb seiner Unternehmensgruppe oder mit
60Vgl. Was Facebook mit ihren WhatsApp-Daten macht. In: Spiegel online. 18.5.2017. https:// www.spiegel.de/netzwelt/apps/was-facebook-mit-ihren-whatsapp-daten-macht-a-1148318.html.
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Dritten teilen.“ Wer diese Dritten sind und worin genau die Zwecke bestehen, wird nicht erläutert. Wer sich der zeitraubenden Lektüre dieser Richtlinie tatsächlich unterzieht, erfährt, dass Facebook zur Anreicherung der Persönlichkeitsprofile Daten auch bei externen Unternehmen erwirbt: „Wir erhalten von Drittpartnern Informationen über dich und deine Aktivitäten auf und außerhalb von Facebook…“61 Zum Umgang mit den Daten in Facebooks Firmenimperium heißt es ferner: „Wir erhalten Informationen über dich von Unternehmen, die sich im Besitz von Facebook befinden oder von diesem betrieben werden, im Einklang mit deren Nutzungsbedingungen und Richtlinien.“62 Dass dazu auch WhatsApp und Instagramm gehören, ist einer Unterseite zu entnehmen, auf die man über einen „Erfahre mehr“-Link gelangt. Mit der konkludenten Zustimmung zu den Nutzungsbedingungen und der Datenrichtlinie geben die Nutzer Facebook im Grunde eine Generalvollmacht, alle sie betreffenden personenbezogenen Daten zu sammeln. Umso wichtiger ist es, dass Schulen, Hochschulen, Bibliotheken und andere Einrichtungen den Bürgerinnen und Bürgern ausreichend Gelegenheit bieten, Privatheitskompetenz zu erwerben. Studien belegen, dass Jugendliche und junge Erwachsene nur über eine geringe Privatheitskompetenz in Online-Umgebungen verfügen.63 Gleichzeitig ist jedoch zu beobachten, dass Nutzer mit höherer Privatheitskompetenz keineswegs ein signifikant anderes Verhalten im Hinblick auf den Schutz ihrer personenbezogenen Daten zeigen. Auch wenn dem Schutz der Privatsphäre hohe Priorität zugeschrieben wird, verzichten diese Nutzer nur in sehr begrenztem Umfang auf Angebote, welche die Preisgabe personenbezogener Daten verlangen. Selbst bei vorhandenem Problembewusstsein werden nur selten technische Maßnahmen ergriffen, um den Zugriff auf die eigenen personenbezogenen Daten einzuschränken.64 In der Forschung wird diese Diskrepanz zwischen 61Facebook:
Datenrichtlinie 29. September 2016. https://www.facebook.com/policy.php. (wie Anm. 61). 63Vgl. Philipp K. Masur, Doris Teutsch, Tobias Dienlin, Sabine Trepte: Online-Privatheitskompetenz und deren Bedeutung für demokratische Gesellschaften. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen. 30, 2017, 2, S. 180–189. Hier S. 183. 64Vgl. ebd., S. S. 183. 62Facebook
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Einstellung und Verhalten als Privacy-Paradox bezeichnet.65 Es gibt dafür verschiedene Erklärungsansätze.66 Zum einen wird geltend gemacht, dass die negativen Folgen der Verletzung von Privatheit nicht unmittelbar zu spüren sind, daher zunächst vergleichsweise abstrakt bleiben und unterschätzt werden. Eine weitere Ursache wird in dem Interessenkonflikt gesehen, in dem freie Kommunikation und Komfort mit Privatheit bzw. kurzfristige Vorteile mit langfristigen Vorteilen kollidieren. Ein weiteres Erklärungsmodell gibt als wahren Grund Resignation an. Demnach lehnt die große Mehrheit die ungewollte Preisgabe personenbezogener Daten ab, sieht dies jedoch als unvermeidlich an, da jeder Versuch, sich dagegen zu wehren aufgrund der Marktmacht der Betreiber von Sozialen Netzwerken und der Anbieter weiterer Internetdienstleistungen zum Scheitern verurteilt sei. Diese These steht in krassem Widerspruch zu der von den Betreibern aufgestellten Behauptung, ihr Geschäftsmodell beruhe auf einer allgemein akzeptierten Tauschbeziehung.67
Verschleierung der Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre Aus Sicht der Nutzer wird der Kommunikationsmodus in Sozialen Netzwerken in der überwiegenden Zahl der Fälle als Konversation wahrgenommen und nicht als Publikation.68 Die Nutzer glauben, ausschließlich im und für das individuelle Freundschaftsnetzwerk zu kommunizieren. Denn dieses Netzwerk ist etwa bei Facebook dadurch zustande gekommen, dass die Betroffenen in jedem Fall über die Aufnahme selbst entschieden haben. Die Freundschaftsanfragen wurden 65Vgl. Rüdiger Funiok: Verantwortung. In: Handbuch Medien- und Informationsethik. Hrsg. Jessica Heesen. Stuttgart: Metzler 2016. S. 74–80. Hier S. 78. 66Vgl. dazu Anna Wehofsits: Big Data. Ethische Fragen. Hrsg. Vodafone Institut für Gesellschaft und Kommunikation. Oktober 2016. S. 28 f. https://www.vodafone-institut.de/wp-content/ uploads/2016/10/Big-Data_Ethische-Fragen.pdf. 67Vgl. ebd., S. 29. 68Vgl. Christoph Bieber: Öffentlichkeit. In: Handbuch Medien- und Informationsethik. Hrsg. Jessica Heesen. Stuttgart: Metzler 2016. S. 67–73. Hier S. 70.
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häufig aus eigener Initiative gestartet. In den meisten Fällen aber ging ihnen ein Vorschlag der Betreiber der Sozialen Netzwerke voraus. Diese Vorschläge werden gewonnen durch einen automatisierten Abgleich der Persönlichkeitsprofile. Auf diese Weise kommen dann auch solche Personen für die Aufnahme in das eigene Freundschaftsnetzwerk in Betracht, mit denen lediglich der Besuch derselben Schule verbindet oder die mit anderen Mitgliedern des eigenen Netzwerkes befreundet sind. Trotz der Tatsache, dass auf diese Weise nicht selten auch eher fernstehende Personen in das individuelle Netzwerk aufgenommen werden, dominiert im individuellen Bewusstsein der Eindruck, sich tatsächlich unter Freunden zu befinden. So entsteht eine soziale Vertrautheit, die der face-to-face-Kommunikation entspricht, während vergessen wird, dass im Hintergrund Dritte anwesend sind: die Netzbetreiber, die werbende Industrie sowie Polizei und Geheimdienste.69 Deren Interessen bestehen in der erfolgreichen Platzierung personalisierter Werbung, im Weiterverkauf der Persönlichkeitsprofile zu Werbezwecken und in umfassender Überwachung. Online-Kommunikation in Sozialen Netzwerken ist nie rein privat, sondern immer latent öffentlich.70 In dieser Kombination aus öffentlicher Privatheit oder privater Öffentlichkeit verschwimmt die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Diese Grenze aber ist demokratischen Gesellschaften strukturell eingeschrieben und für ihr Funktionieren elementar. Gelegentlich wird die öffentliche Privatheit Sozialer Netzwerke in Zusammenhang gebracht mit dem Modell des dritten Ortes.71 Der Stadtsoziologe Ray Oldenburg hatte Ende der 1980er Jahre neben der häuslichen Privatsphäre und dem Arbeitsplatz Orte wie Cafés, Parks, Öffentliche Bibliotheken als dritte Orte beschrieben, an denen sich zivilgesellschaftliche Aktivitäten entfalten und demokratische Öffentlichkeit herausbilden kann.72 Der 69Vgl.
Funiok (wie Anm. 65), S. 78. Bieber (wie Anm. 68), S. 78. 71Vgl. ebd., S. 70. 72Vgl. Ray Oldenburg: The Great Good Place. Cafés, coffee shops, bookstores, bars, hair salons, and other hangouts at the heart of a community. Cambridge, MA: Da Capo Press 1997. Zuerst 1989. 70Vgl.
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fundamentale Unterschied zwischen den von Oldenburg genannten Beispielen und Sozialen Netzwerken aber besteht darin, dass die Nutzer zur Preisgabe möglichst vieler personenbezogener Daten animiert werden, die dann zu kommerziellen Zwecken benutzt werden oder der Überwachung durch staatliche Behörden dienen. An einem solch kommerzialisierten und durch systematische Beobachtung charakterisierten Ort kann sich keine unverzerrte demokratische Öffentlichkeit herausbilden. Es läge in der gesellschaftlichen Verantwortung der Betreiber Sozialer Netzwerke, ihre Nutzer, die in Wahrheit Kunden sind, auf die tatsächlichen Strukturen und Sachverhalte gezielt hinzuweisen, damit ihnen bewusst wird, dass Kommunikation in Sozialen Netzwerken eben keine private Kommunikation mehr ist, sondern einen von den Sendern nicht kontrollierbaren Adressatenkreis erreicht. De facto jedoch animieren die Betreiber Sozialer Netzwerke ihre Kunden zur Veröffentlichung des Privaten, zur unbewussten Selbstentäußerung in einem verdeckten, von ökonomischen Verwertungsinteressen und politischen Kontrollansprüchen geprägten Umfeld.73 Ausgewertet werden die personenbezogenen Daten dann von Algorithmen, die auf diese Interessen zugeschnitten sind, um über Empfehlungen und personalisierte Werbung zum Konsum zu animieren. Soziale Netzwerke setzen damit in digitalen Kontexten fort, wie Kritiker hervorheben, was Jürgen Habermas schon 1981 als „Kolonialisierung der Lebenswelt“ bezeichnet hat.74 Zudem sehen sie in der durchgängigen Inklusion der Datenspuren auch intimer Ereignisse in das Trackingsystem eine Bestätigung des von Gilles Deleuze konstatierten Übergangs von der Disziplinargesellschaft in die Überwachungsgesellschaft.75 Während die Überwachung in analogen Disziplinargesellschaften in Institutionen und abgrenzbaren Bereichen wie Fabriken, Krankenhäusern oder Schulen erfolgt, ist die digitale 73Vgl.
Simanowski (vgl. Anm. 3), S. 72. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2. Bd. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 522. 75Vgl. Gilles Deleuze: Postskriptum zu den Kontrollgesellschaften. In: Ders.: Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 254–262. 74Vgl.
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Überwachung penetrant und ubiquitär: eine Grenze zwischen privat und öffentlich existiert nicht mehr.76
Hassreden und Desinformation Der subjektive Eindruck, in einer quasi privaten Umgebung zu kommunizieren sowie die Möglichkeit, die Autorschaft zu anonymisieren oder hinter einem Pseudonym zu verbergen, erhöht die Gefahr, dass Kommunikationsfreiheit umschlägt in Enthemmung.77 Verstärkt wird dieser Effekt durch die Unmittelbarkeit vieler Reaktionen. Die Kommentare werden häufig abgeschickt, kurz nachdem deren Gegenstand zur Kenntnis genommen worden ist und bevor eine nüchternere und reflektiertere Haltung eingenommen werden konnte. Auch aus diesem Grund kommt es in Sozialen Netzwerken häufiger zu hochgradig emotional aufgeladenen Stellungnahmen, zu übler Nachrede und zu persönlichen Verunglimpfungen. Verstärkt wird aber auch der Trend zu radikalen Äußerungen, mit denen nicht nur die Grenzen des guten Geschmacks übertreten werden, sondern die darüber hinaus Forderungen enthalten, die weder ethisch noch rechtlich hinnehmbar sind. Dabei handelt es sich um sog. Hassreden, zu denen u. a. rassistische und ausländerfeindliche Hetze, menschenverachtende Herabwürdigungen, sexistische Beleidigungen oder unverhohlene Aufrufe zu Straf- und Gewalttaten gehören. Besonders häufig finden sich Aussagen vergleichbaren Inhalts in geschlossenen Gruppen etwa bei Facebook. Manche Teilnehmer lassen ihrem blanken Hass, ihren Gewaltphantasien und ihren xenophoben Projektionen freien Lauf. Von den Hassreden zu unterscheiden sind gezielte Desinformationskampagnen. Dabei können beide Phänomene durchaus inhaltlich identische Aussagen enthalten. Der Unterschied besteht in der 76Vgl.
Carlos Figueiredo, César Bolaño: Social Media and Algorithms. Configurations of the Lifeworld Colonization by New Media. In: International Review of Information Ethics. 26, 2017, 12, S. 26–38. Hier S. 36. https://www.i-r-i-e.net/inhalt/026/IRIE-26-Marx-12-2017-4. pdf. 77Vgl. Jessica Heesen: Freiheit. In: Handbuch Medien- und Informationsethik. Hrsg. Jessica Heesen. Stuttgart: Metzler 2016. S. 52–58. Hier S. 55.
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Wirkungsabsicht der Sender. Während Hassreden eher von Einzelpersonen ausgehen und Einzelmeinungen artikulieren, handelt es sich bei Desinformation meist um Aktivitäten, für die Interessengruppen verantwortlich sind und die darauf zielen, Verwirrung zu stiften und die öffentliche Meinung in propagandistischer Absicht zu manipulieren. Für Desinformation, die über Soziale Netzwerke lanciert wird, hat sich in jüngster Zeit der Begriff Fake News eingebürgert. Es handelt sich dabei um Falschmeldungen, die über Soziale Netzwerke in manipulativer Absicht verbreitet werden, sich dort jedoch als vertrauenswürdige Quelle ausgeben.78 Die Motive zur Verbreitung von Fake News lassen sich unterscheiden in Spaß und bloßes Trolling, Steigerung des Internettraffic um die daran geknüpften Geldeinnahmen zu erhöhen, Verbesserung der Produktvermarktung und des Verkaufs vor allem aber politische Einflussnahme durch Propaganda und gezielte Desinformation.79 Fake News richten sich an die Gefühle der Adressaten, um Stimmungen zu schüren und die daraus resultierende Aufregung in den Dienst der eigenen, meist politischen Ziele zu stellen. Ein wichtiges Instrument zur Verbreitung von Fake News sind Social Bots. Dahinter verbergen sich Computerprogramme, die automatisiert auf vorher festgelegte Impulse reagieren und eine menschliche Identität vortäuschen. So ist es z. B. möglich, einen Social Bot bei Twitter zu installieren, der mit falschem Namen, Profilbild, Posts und Followern versehen wird und für andere als Account einer natürlichen Person erscheint. Social Bots reagieren mittels computerlinguistischer Verfahren auf bestimmte Hashtags und versenden („retweeten“) dann vorgefertigte Antworten. In ähnlicher Weise werden Social Bots in großer Zahl auch auf Facebook eingesetzt, um Falschinformationen zu „liken“. Dies sorgt für Amplifikationseffekte durch simulierte Zustimmung, in deren Folge die Popularität der entsprechenden Aussagen für die Algorithmen
78Vgl. Caroline Sinders: Ethische Systementwicklung im Zeitalter emotionaler Schadsoftware. Fake News, maschinelles Lernen und die Erzeugung von Transparenz in einer Zeit des Misstrauens in großen Netzwerken. In: 3TH1CS. Die Ethik der digitalen Zeit. Hrsg. Philipp Otto, Eike Gräf. Berlin: iRights.media 2017, S. 56–64. Hier S. 59. 79Vgl. Vincent F. Hendricks, Mads Vestergaard: Postfaktisch. Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien. München: Blessing 2018. Hier S. 110.
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steigt. Damit erhalten die zugehörigen Inhalte erhöhte Sichtbarkeit, stärkere Verbreitung und möglicherweise größerer Akzeptanz. Über Social Bots lassen sich Fake News in Echtzeit verbreiten und Minderheitsmeinungen massiv verstärken.80 Eine weitere Möglichkeit zur Verbreitung von Fake News in Sozialen Netzwerken besteht in sog. Troll-Farmen, Troll-Fabriken oder Troll-Armeen. In diesen Fällen sind es Menschen, die dafür bezahlt werden, mittels fingierter Accounts in Sozialen Netzwerken Falschinformationen in propagandistischer Absicht zu verbreiten.81 Es entspricht dem Geschäftsmodell Sozialer Netzwerke, wenn Nutzer durch ihre Interaktionen auf den Plattformen für emotional aufgeladene Momente sorgen. Dadurch werden zustimmende oder ablehnende Reaktionen in großer Zahl hervorgerufen sowie Jubel, Wut und Empörung stimuliert. Emotionalisierte Auseinandersetzungen animieren zu mehr Kommunikation, steigern die Bindung an die Plattform und liefern zusätzliche Nutzerdaten, die kommerziell verwertet werden können. Hassreden und Desinformation erfüllen diese Funktion in besonderer Weise, deren Sperrung oder Löschung laufen den wirtschaftlichen Interessen der Netzwerke hingegen zuwider. Aufgrund entsprechender Reaktionen der Öffentlichkeit, negativer Presse sowie politischer und rechtlicher Vorgaben haben die Betreiber ihre über lange Zeit währende stillschweigende Akzeptanz gegenüber Hassreden, Desinformation bzw. Fake News jedenfalls in gewissem Umfang aufgegeben. Maßnahmen gegen Fake News in Sozialen Netzwerken zu ergreifen, ist aus ethischer Sicht nicht nur unbedenklich, sondern in vielen Fällen auch geboten. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass es klare Kriterien zur eindeutigen Identifikation gibt und die Abwehrmaßnahmen 80Vgl. Lisa-Maria Neudert: Angriff der Algorithmen. Wahlmanipulation im Internet? Veranstaltung. „(Des)Information?! Politische Meinungs- & Willensbildung in sozialen Netzwerken“. Friedrich-Ebert-Stiftung. Köln am 08. Juni 2017. S. 2. https://www.fes.de/index.php?eID=dump File&t=f&f=15002&token=cffa557f222b899c1454a74ef3ca3a583375de6b; vgl. auch Alexandra Sowa: Digital Politics. So verändert das Netz die Demokratie. 10 Wege aus der digitalen Unmündigkeit. Bonn: J.H.W. Dietz 2017, S. 62–66. 81Vgl.
Karolin Schwarz: Trolle, Influencer, Evangelisten. Heinrich-Böll-Stiftung. 9.2.2017. https://www.boell.de/de/2017/02/09/trolle-influencer-evangelisten.
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unabhängig von Inhalten, Urhebern und Adressaten transparent und im Bemühen um Objektivität erfolgen. Anders verhält es sich bei Hassreden. Die Schwierigkeit in diesem Fall besteht darin, die Grenze zwischen Hassrede und Meinungsfreiheit eindeutig zu ziehen. In ihrem Selbstverständnis verstehen sich Soziale Netzwerke nicht als Content Provider, sondern als technikbasierte Distributionsplattform.82 Daher lehnen sie eine Haftung für die Inhalte grundsätzlich ab.83 Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz sind die Betreiber Sozialer Netzwerke in Deutschland seit Ende 2017 verpflichtet, alle Dokumente, die ihnen gemeldet werden, weil sie im Verdacht stehen Hassreden zu enthalten, zu überprüfen und gegebenenfalls zu löschen. Dem kommen Facebook, Twitter, Youtube und andere mittlerweile offenbar auch nach. Kritik entzündet sich zum einen daran, dass die Löschpraxis weitgehend intransparent bleibt. Zum anderen wird moniert, dass der Staat damit hoheitliche Aufgaben an Privatunternehmen delegiert. Unabhängig vom Netzwerkdurchsetzungsgesetz hat Facebook aber schon in der Vergangenheit Beiträge gelöscht, die gegen „Gemeinschaftsstandards“ verstoßen haben. Diese Standards orientieren sich offenbar an der Werteordnung der USA, des Landes, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat. Entfernt wurden z. T. Bilder und Texte mit erotischen Inhalten und Darstellungen von Nacktheit, die in Europa eher als harmlos angesehen werden. Aus ethischer Sicht ist zu fordern, dass Löschungen nach einem transparenten Kriterienkatalog erfolgen. Betroffene müssen unverzüglich darüber informiert werden, wenn von ihnen hochgeladene Inhalte gelöscht worden sind. Jede Löschung ist detailliert unter Bezugnahme auf den Kriterienkatalog zu begründen. Die bislang gängige Praxis, entweder gar keine Begründung zu geben oder pauschal zu behaupten, 82Vgl. Michael Veddern: Hate Speech, Fake News auf Facebook, Twitter & Co. In: Zensur und Medienkontrolle in demokratischen Gesellschaften. Hrsg. Ulrich Ernst Huse. Wiesbaden: Harrassowitz 2017, S. 127–141. Hier S. 130. 83In den Nutzungsbedingungen heißt es explizit: „Wir sind nicht verantwortlich für beleidigende, unangemessene, obszöne, rechtswidrige oder auf sonstige Art anstößige Inhalte oder Informationen, denen du eventuell auf Facebook begegnest. Wir sind nicht für das Verhalten von Facebook-NutzerInnen verantwortlich, weder online noch offline.“ Facebook: Nutzungsbedingungen. 30.Januar.2015. https://www.facebook.com/legal/terms.
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es habe ein „Verstoß gegen Gemeinschaftsstandards“ vorgelegen, ist inakzeptabel. Ferner müssen Betroffene die Möglichkeit haben, vor einer zweiten Prüfungsinstanz Einspruch einzulegen. Wichtig ist darüber hinaus, dass die Freiheit der Kunst und der Satire nicht durch rigides Löschen eingeschränkt wird.
8.5 Resümee Die Auseinandersetzung mit Suchmaschinen und Sozialen Netzwerken unter ethischen Gesichtspunkten hat nicht zum Ziel, deren Funktionalität und Gebrauchswert grundsätzlich in Abrede zu stellen. Stattdessen geht es darum, auf ethisch problematische Aspekte aufmerksam zu machen, einen Anstoß zu deren Beseitigung zu geben und Missbrauch grundsätzlich zu erschweren. Es zeigt sich, dass Suchmaschinen und Soziale Netzwerke aufgrund ihres Geschäftsmodells personenbezogene Daten in größtmöglichem Umfang kumulieren, um daraus Persönlichkeitsprofile zu entwickeln, die vor allem zu Werbezwecken eingesetzt werden. Nutzern bleibt dieser Zusammenhang und vor allem das Ausmaß der Datenauswertung oft verborgen. Selbst wenn diese Zusammenhänge bekannt sind, führt die marktbeherrschende Stellung etwa von Facebook dazu, dass gravierende Nachteile in Kauf genommen werden. Der Verzicht auf die Teilnahme an der Facebookoder WhatsApp-Gruppe einer Studierendengruppe oder die Weigerung mittels kommerzieller Suchmaschinen im Rahmen einer schulischen Aufgabe im Internet zu recherchieren könnte leicht zu sozialer Exklusion, Stigmatisierung und zu inakzeptabler Benachteiligung führen. Um die ethischen Problemfelder von Suchmaschinen und Sozialen Netzwerken zu entschärfen, bedarf es großer Anstrengungen sowohl im Hinblick auf die Nutzer als auch auf die Anbieter. Grundsätzlich ist es Aufgabe der staatlichen Daseinsvorsorge, allen Bürgerinnen und Bürgern in der Informationsgesellschaft die Chance zu geben, in ausreichendem Maße Informationskompetenz zu erwerben, um die Funktionsweise sowie die Vor- und Nachteile von Suchmaschinen und Sozialen Netzwerke angemessen einschätzen zu können. Geeignet dafür
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sind vor allem Bibliotheken, die diese Kompetenzen in Kooperation mit Schulen, Hochschulen und Einrichtungen der Erwachsenenbildung systematisch vermitteln sollten. Zu fordern ist ferner, dass Behörden, Institutionen, Unternehmen, Vereine und Verbände, die gegenwärtig arglos dazu auffordern, ihnen z. B. auf Facebook zu folgen, immer auch darauf hinweisen, welche Vorsichtsmaßregeln beachtet werden sollten und Kontakte zu solchen Stellen nennen, die über den vertretbaren Umgang mit und angemessenes Verhalten in Sozialen Netzwerken informieren. Die Menschen darüber aufzuklären, welche Risiken mit der Preisgabe persönlicher Informationen verbunden sind, ist nicht einfach, da die negativen Folgen meist zum Zeitpunkt, da dies geschieht, nicht spürbar sind.84 Dennoch sollten die Erfolge z. B. von AntiRaucher-Kampagnen Mut machen und Hoffnung geben. Es reicht nicht, wenn der Einzelne entsprechendes Problembewusstsein entwickelt. Die Anbieter müssen darüber hinaus durch klare Vorgaben und Selbstverpflichtungen dazu gebracht werden, ihre Praktiken an ethischen und rechtlichen Normen zu orientieren und Nutzern die Kontrolle über ihre persönlichen Daten zurückzugeben. Zu fordern ist, dass die Geschäftspraktiken transparent sind, Nutzer Zugriff auf die über sie gespeicherten Daten erhalten und gestufte Opt-OutFunktionen angeboten werden. Der Gesetzgeber sollte dafür sorgen, dass die Nutzer erfahren, wer Zugriff auf ihre Daten hat und damit verstehen, dass alle in Sozialen Netzwerken vollzogenen Aktionen latent öffentlich sind. Schließlich bieten Soziale Netzwerke ein ideales Umfeld für Hassreden, Desinformation und Fake News. Gegenmaßnahmen der Betreiber müssen auf der Grundlage eines transparenten und detaillierten Kriterienkatalogs erfolgen und detailliert begründet werden. Davon Betroffene müssen informiert werden und die Möglichkeit zum Widerspruch erhalten. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag, ein verbraucherzentriertes Datenportal einzurichten: Suchmaschinen und andere Onlinedienste sollten verpflichtet werden, auf diesem Datenportal die Informationen zu spiegeln, die sie über einen Verbraucher 84Vgl.
Mayer-Schönberger (wie Anm. 19), S. 156.
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gespeichert haben. Dieser hätte über das Portal den zentralen Zugriff über die Suchbegriffe, die er eingegeben hat, die Websites, die er aufgesucht hat, die Liste der getätigten Onlinekäufe und sämtliche sonstigen personenbezogene Daten, die bei den verschiedenen Dienstanbietern über ihn gespeichert sind. Der Verbraucher gewönne aber nicht nur den Überblick, sondern erhielte das Recht, seine Daten zentral zu verwalten, d. h. zu ändern, zu löschen und Zugriffsrechte festzulegen.85 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung könnte so auch im Kontext der Internetökonomie wieder hergestellt werden. Im Rahmen eines anhaltenden öffentlichen Diskurses sollte nach intelligenten Lösungen zum Schutz der Privatheit durch Datenschutz, informationelle Selbstbestimmung und Datensparsamkeit gesucht werden. Darüber hinaus müssen geeignete Maßnahmen gefunden werden, die verhindern, dass über Suchmaschinen und Soziale Netzwerke die öffentliche Meinungsbildung manipuliert wird. Hermann Rösch studierte Germanistik, Soziologie und Politikwissenschaft und war von 1997 bis 2019 Professor am Institut für Informationswissenschaft der TH Köln. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung Lehre gehören Informationsethik und Informationsdienstleistungen.
85Vgl.
Gesche Joost: Kontrolle über meine Daten. Ein zentrales Datenportal soll Verbrauchern helfen, digitale Souveränität zu gewinnen. In: Die Zeit. 29. Juni 2017, Nr. 27, S. 27; vgl. Digitale Souveränität (wie Anm. 42), S. 8. NB: Alle Internetquellen sind, sofern nicht anders angegeben, zuletzt aufgesucht worden am 20.8.2020.
9 Die Ethik der Datenströme: Technische Entwicklung und resultierende soziale, pädagogische und gesellschaftliche Fragestellungen Claudia Spindler
Zusammenfasung In diesem Beitrag werden ethische Fragestellungen auf der Grundlage der technischen Entwicklungen insbesondere im Bereich der Robotik und der künstlichen Intelligenz hergeleitet. Nach einem kurzen Überblick über aktuelle Medienmeldungen zur Anwendung künstlicher Intelligenz und der Systematisierung ihrer Formen bis hin zu technischen Systemen, die Körperfunktionen übernehmen (Cyborgs), wird das Verhältnis zwischen Menschen und Maschine näher beleuchtet. Die Wahrnehmung der Maschine als menschliches Hilfsmittel wird der ethischen Dimension einer dem Menschen gleichwertigen, selbstlernenden Maschine gegenübergestellt, um dann die Frage zu stellen, ob eine solche, selbstlernende Maschine eine Moral haben könnte. Darauf aufbauend werden Mechanismen der Kontrolle über diese Maschinen diskutiert und auch die Frage, inwieweit ihre Nutzung negative Auswirkung auf die Entwicklung und
C. Spindler (*) Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_9
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Leistungsfähigkeit der Menschen haben könnte. Abschließend werden die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung der Wirtschaftswelt ausgelotet und kritisch reflektiert. Abstract In this paper, ethical questions are derived on the basis of technical developments, especially in the fields of robotics and artificial intelligence. After a brief overview of current media reports on the application of artificial intelligence and the systematization of its forms up to technical systems that take over bodily functions (cyborgs), the relationship between humans and machines is examined in more detail. The perception of the machine as a human aid is contrasted with the ethical dimension of a self-learning machine equivalent to humans, and then the question is raised as to whether such a self-learning machine could have a moral. Based on this, mechanisms of control over these machines are discussed, as well as the question of the extent to which their use could have a negative impact on human development and performance. Finally, the social effects of the digitalization of the economic world are sounded out and critically reflected upon.
9.1 Einleitung In der Geschichte der Menschheit standen technische, soziale und gesellschaftliche Entwicklungen immer in einem interdependenten Verhältnis, doch Publikationen und Diskussionen der letzten Jahrzehnte legen nahe, dass gegenwärtig ein besonders revolutionärer Schub stattfindet. Die technische Entwicklung, subsumiert unter dem Begriff der „Digitalisierung“ führt zu einer Veränderung der Produktionsbedingungen, die häufig als „Vierte industrielle Revolution“ (Schwab 2016) bezeichnet wird und aus der wiederum der sogenannte „Arbeitsmarkt 4.0“ resultieren soll. Aus dem Zusammenspiel von Digitalisierung und Globalisierung wird ein massiver Wandel des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenlebens prognostiziert, welcher durch weitere Herausforderungen, wie dem Klimawandel und der Begrenzung der natürlichen Ressourcen begleitet wird (Beck 1997; Jischa 2014: 17).
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Die Machbarkeit dessen, was durch die technischen Errungenschaften möglich ist, überschreitet die Grenzen der eigenen menschlichen Natur, d. h. sowohl der Mensch selbst als auch seine Fähigkeiten können mit Hilfe der technischen Neuerungen optimiert und um ein Vielfaches potenziert werden. Darin bergen sich große Chancen und Risiken für die Zukunft. Die Fragen der Risikominimierung, der Diskussion und Reflexion des menschlichen Zusammenlebens werden allgemeinhin als Chance wahrgenommen, die vorgestellten negativen Szenarien zu vermeiden. In diesem Sinne ergeben sich neue ethische Fragen, die mit einer Verantwortung der heutigen Generation für die zukünftige Menschheit einhergehen, wie der Philosoph Hans Jonas in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ schreibt: „Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden“ (Jonas 2017: 7). An die Stelle von Kants ethischer Grundfrage „Was soll ich tun?“ kann eine Pluralformulierung im Sinne von „Was sollen wir, die Menschen tun?“ treten. In Bezug auf die Risiken einer Reflexiven Moderne stellt sich auch die Frage nach den Erkenntnismöglichkeiten, nach dem „Was kann ich wissen?“ und dem Wesen des Menschen im Sinne der zukünftigen und generellen anthropozentrischen Ausschließlichkeit entsprechend der Frage „Was ist der Mensch?“ (Kant 1781/2006: 815; 1800: o. S.; Beck 1996a; Jonas 2017: 15). Saurwein et al. (2017: 4) stellen fest, dass die Risiken der technischen Entwicklungen überwiegend in den journalistischen und populärwissenschaftlichen Medien diskutiert werden, während die sozialwissenschaftliche Analyse in diesem Punkt als eher zurückhaltend eingeschätzt wird. Mit Beck (1996b: 301) lässt sich dieser These entgegensetzen, dass die risikobehafteten Nebenfolgen der Entwicklung, in der Art, wie sie in der Öffentlichkeit diskutiert werden, auf „Nicht-Wissen“ beruhen, wobei er zwischen Verzerrungen in der Wissensproduktion und den Grenzen der Erkenntnis durchaus unterscheidet. In diesem Artikel wird an mehreren Stellen auf die medialen und populärwissenschaftlichen Darstellungen zurückgegriffen, um auf deren Basis drei Argumentationsstränge zusammenzuführen:
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a. Ableitung ethischer Fragestellungen aus der technischen Entwicklung verbunden mit der Frage, inwieweit technischen Systemen ein moralischer Status zugeschrieben werden sollte b. Auswirkungen der Digitalisierung und Mediennutzung auf die Entwicklung, insbesondere den Erwerb kognitiver Kompetenzen sowie der Ableitung entsprechender Forderungen an die (Medien-) pädagogik c. Ein zusammenfassender Ausblick auf die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, da die Erweiterung des Blickwinkels notwendig erscheint, einer möglichen risikobehafteten Entwicklung der Digitalisierung etwas entgegenzusetzen. Diese Zugangsweise wurde bewusst gewählt, um die Annäherung der Autorin an das Thema, die erstmals im Rahmen der Ringvorlesung „Ethik in den Ingenieurwissenschaften“ der Hochschule Nordhausen erfolgte, zu skizzieren.
9.2 Medienmeldungen über die Erfolge Künstlicher Intelligenz (KI) Künstliche Intelligenz (KI) ist die Bezeichnung für eine Fachrichtung der Informatik, in der Algorithmen auf mathematischer Basis Problemlösungen finden und anwenden (Seng 2019: 58). Am 10. Februar 1996 wurde in Philadelphia (USA) der Glaube in die überlegene menschliche Intelligenz erstmals tief erschüttert. Der damalige Schachweltmeister Garri Kasparow, der bis heute als „der beste Schachspieler der Welt“ (Die ZEIT 2016) bezeichnet wird, verliert gegen die IBM-Software „Deep-Blue“ (ebd.; Heßler 2017: 5–7; Stöcker 2016; Harari 2017: 432). In den folgenden Jahren kommt es immer wieder zu Erfolgsmeldungen über die übermenschlichen Leistungen künstlicher Intelligenz. Die Software „Watson“ (IBM) gewinnt im Februar 2011 zunächst das Fernsehquiz „Jeopardy“ gegen die erfolgreichsten menschlichen Spieler (Ulrich 2019: 254). 2015 erfolgt die Meldung, dass die, mittlerweile weiterentwickelte, hohe medizinischen Expertise von
9 Die Ethik der Datenströme: Technische Entwicklung … 195
„Watson“ in der Diagnostik und Behandlung von Krankheiten zuverlässiger ist, als die von erfahrenen Mediziner*innen (Eberl 2016; Heßler 2017: 24–26; Harari 2017: 425–429). Der große Fortschritt bei der Entwicklung von „Watson“ war die Reaktionsfähigkeit auf Sprache, welche die unmittelbare Mensch-Software-Interaktion möglich machte. 2015 werden von der Software „Deepmind“ (Google) 49 Atari-Spiele beherrscht, wobei das Programm, und das ist das Besondere und Neue, nicht nur auf bisher übliche Handlungskonzepte zurückgreift, sondern eigenständig bisher unbekannte Spielzüge entwickelt (Mnih et al. 2013; Eberl 2016). 2016 siegt die Software „Alpha Go“ (Google Deepmind) im asiatischen Brettspiel „Go“, welches als komplexer und komplizierter als Schach gilt, gegen den damals amtierenden Weltmeister Lee Sedol aus Südkorea (Heßler 2017: 26; Stöcker 2016). Und bereits seit den 1990er erfolgen Meldungen über die sensationellen Musikkompositionen der Software EMI (Experiments in Musical Intelligence) von David Cope, womit sich die Leistungsfähigkeit der Künstlichen Intelligenz auch einem Gebiet zeigt, welches exklusiv nur dem Menschen vorbehalten schien, dem Bereich der künstlerisch-kreativen Leistungen (Harari 2017: 437–439). Die zentrale Frage der Künstlichen Intelligenz wurde bereits 1947 von Alan Turing formuliert: „Können Maschinen denken?“ (Konrad 1998: 287). Diese zentrale Frage begleitete die Entwicklung der Wissenschaftsdisziplin „Künstliche Intelligenz“ seit ihrer Geburtsstunde, welche auf die 1956 stattfindende Konferenz an Dartmouth College datiert wird (ebd. S. 287). 1958 machte Herbert A. Simon vier Voraussagen über die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. So prognostizierte er für den Zeitraum der nächsten zehn Jahre (also bis 1968), dass ein Computer: a) Schachweltmeister sein würde; b) ein mathematisches Theorem finden und beweisen könnte; c) Musik mit hohem ästhetischen Wert komponieren könnte und darüber hinaus, dass d) psychologische Theorien Analogien von Computerprogrammen sein würden. Bereits in den 1970er Jahren wurde festgestellt, dass die anfängliche Euphorie nicht der Realität standhielt. Wie bereits erwähnt, dauerte es noch einmal 20 bis 25 Jahre, erst dann erfüllte sich ein Teil der Prognosen. Und auch hier gilt es zu relativieren, insbesondere, wenn es darum geht, in
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medienwirksamen Wettkämpfen die Überlegenheit der Computerleistung gegenüber den menschlichen Fähigkeiten nachzuweisen. Im Anschluss an dem Aufsehen erregenden Sieg gegen Kasparow gelang es in nachfolgenden Spielen häufiger, Remis zu erreichen. 2006 gab es einen vorerst letzten Sieg des Computers im Schach, seitdem haben keine Wettkämpfe in dieser Form mehr stattgefunden (Heßler 2017: 4). Der amtierende Schachweltmeister Magnus Øen Carlsen aus Norwegen hat seine Fähigkeiten durch Schachprogramme trainiert. Einen Wettkampf gegen eine Software lehnt er strikt ab. Bei der Weltmeisterschaft in „Go“ gewann 2017 wieder ein aus Menschen bestehendes Team (Bögeholz 2017). Das japanische Go-Programm DeepZenGo, welches im Vorfeld „AlphaGo“ besiegt hatte, belegte den dritten Platz nach den Teams aus Korea und China. Bei der sich etablierenden Überlegenheit der Technik bei Brettspielen handelt es sich außerdem um eine eingeschränkte Fähigkeit. Minsky formuliert dazu treffend: „Deep Blue kann zwar ein Schachspiel gewinnen, aber er weiß nicht, dass er reingehen muss, wenn es regnet“ (nach Heßler 2017: 20). Die Datenbasis für EMI stellte encodiertes Material menschlicher Musik, wie Harmonien und Melodien, zusammen, aus deren Variationen „im musikalischen Würfelspiel“ tatsächlich überraschende Ergebnisse entstehen. „EMI is a composer’s toll. It can be said to ‚compose‘, not because it has the intelligence, the motive or the free will to do so, but because it performs the functions David Cope, the composer, programmed“ (Da Silva 2003: 47). Sowohl in der Musik als auch in der Malerei gelingt diese Kombination bekannter Elemente so gut, dass Laien Schwierigkeiten in der Unterscheidung haben, ob die Werke von Menschen oder Programmen stammen. Als völlig gegenteilig bezüglich der Qualität wird die kreative Leistung der KI bei Geschichten oder Theaterstücken eingeschätzt. Auch Menschen greifen in ihrem kreativen Schaffen auf Bekanntes zurück, aber ein kreatives Werk entsteht auf der Basis komplexer Erfahrungs- und Verarbeitungsmechanismen, von denen die existierenden Softwareprogramme bisher noch weit entfernt sind (Lenzen 2018: 122/123). Bleibt noch das medizinische Wunderwerk „Dr. Watson“. Dieses entpuppte sich als Enttäuschung und fiel in der medizinischen Praxis an mehreren Kliniken durch (Baltzer 2018; Müller 2018).
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9.3 Arten und Formen der Künstlichen Intelligenz I: Algorithmen In der Praxis lassen sich die digitalen, virtuellen und materiellen Aspekte der Kombination von Soft- und Hardware nur noch schwer klassifizieren. Hinsichtlich des Aspekts der autonomen Handlungssteuerung spielen Algorithmen die zentrale Rolle. „In der Informatik unterschiedet man üblicherweise zwischen Verfahren zur Lösung von Problemen und ihrer Implementierung in einer bestimmen Programmiersprache auf bestimmten Rechnern. Man nennt diese Verfahren Algorithmen“ (Ottmann und Widmayer 2017: 1). Algorithmen sind klar formulierte Regelwerke, die genau definierte Informationen aufnehmen und in Zahlen codieren. Diese Zahlen werden anhand von im Vorfeld präzise definierten Regeln verarbeitet und bilden die Basis für das Ergebnis (Reichmann 2019: 137). Mittelstadt et al. (2016: 2) verweisen darauf, dass im Sprachgebrauch selten die präzise mathematische Bedeutung bei der Benutzung des Begriffs „Algorithmus“ impliziert ist, sondern ein erweitertes Verständnis, welches sich auf Software und Programme bezieht, in denen mehrere Algorithmen ausgeführt werden. Reichmann (2019: 141) unterschiedet nicht-lernende Algorithmen und lernende Algorithmen, wobei er die nicht-lernenden Algorithmen ohne Einbezug exogener Daten als „blinde Algorithmen“, die nicht-lernenden Algorithmen mit Einbezug exogener Daten als „sensorische Algorithmen“ und die lernenden, die immer exogene Daten einbeziehen, als „sensorisch-lernende Algorithmen“ bezeichnet. Eine andere Klassifizierung findet sich bei Gleß & Weigend (2014: 562/563), die diese Unterscheidung als Basis für eine weitere juristische Diskussion nutzen: 1. Einfache Datenverarbeitungssysteme, bei denen die Definition des Datentyps und der eingesetzten Algorithmik klar festgelegt und hierarchisch strukturiert sind, wie z. B. bei einem Taschenrechner. 2. Geöffnete Systeme, bei denen ein variierender Dateninput nach unveränderlichen Regeln verarbeitet wird, wie z. B. bei Haushaltsrobotern zum Saugen, Putzen oder Rasenmähen.
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3. Intelligente Systeme, die sich durch dynamische Reaktionen auf Dateninput und die eigene Datenverarbeitung auszeichnen. Dabei wird noch einmal in zwei Subgruppen unterschieden: a) Die sensorische Analyse der Umwelt und die Reaktionsauswahl erfolgt innerhalb eines vorher festgelegten Spektrums; b) Anhand der Analyse der Umwelt und bereits erfolgter Reaktionsmuster können algorithmische Lernprozesse, z. B. durch die Anwendung der Strategie des „Deep Learning“ (Mnih et al. 2013) stattfinden, die zu neuen, vorher nicht bestimmten Reaktionsmustern führen. Diese werden auch unter dem Begriff der „intelligenten Agenten“ subsumiert (Bendel 2016a, b a: 5). Lediglich der letzte Typus des „sensorisch-(selbst)lernenden“ Algorithmus ist in der Lage, unabhängig von der unmittelbaren Steuerung des Menschen zu agieren. Es können nach Saurwein et al. (2017: 2) folgende Funktionen durch Algorithmen ausgeführt werden: a) Suchprozesse; b) Aggregation; c) Überwachung; d) Prognose; e) Filterung; f ) Empfehlung; g) Bewertung/Scoring; h) Inhaltserstellung; i) Allokation. Das ethisch relevante Risikoprofil der Algorithmen kann folgendermaßen skizziert werden (Mittelstadt et al. 2016: 4–9; Saurwein, Just & Laatzer 2017: 4): • Aufseiten der Nutzer*innen entsteht die zunehmende Einschränkung der Autonomie bei gleichzeitig größer werdender Dominanz der Algorithmen in Form von Bias, Filterblasen oder Echokammern. Folglich erhalten Personen nur noch einseitige Informationen, was ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit verzerrt. Es wird diskutiert, ob die Automatisierung von Algorithmen negative Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen hat. Auf diese Weise, so die Negativprognose, kann es zur Herausbildung einseitiger dominanter Machtstrukturen und zum Missbrauch von Marktmacht kommen. Des Weiteren besteht das Risiko der Manipulation der Selektionsprozesse aufgrund des Eigeninteresses der Betreiber*innen oder durch externe Akteur*innen. • Die unautorisierte Sammlung von Daten, die Verletzung der Privatsphäre und die Undurchsichtigkeit der Informationsweitergabe
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führt zur Überwachung und zur zunehmenden Missachtung der der Datenschutz- und Persönlichkeitsrechte. Darüber hinaus besteht das Risiko der Verletzung von Eigentumsrechten, insbesondere dem Urheberrecht. • Aus den Selektionsprozessen der Algorithmen können soziale Diskriminierungen resultieren. Keine Datensammlung kann als absolut repräsentativ angesehen werden. Das bedeutet, dass Verzerrungen bereits in der Datengrundlage vorliegen. In den von Menschen über Menschen produzierten Daten spiegeln sich häufig Vorurteile und Stereotype, die dann an den Algorithmus weitergegeben werden. Darüber hinaus arbeiten die Algorithmen mit Wahrscheinlichkeiten, d. h. sie vernachlässigen seltener vorkommende Zusammenhänge oder schlussfolgern aufgrund von Zufallskorrelationen, was wiederum zu fehlerhaften Schlussfolgerungen führen kann. „Algorithmenbasierte Klassifikationen tendieren dazu, den bestehenden Status zu zementieren“ (Lenzen 2018: 168).
9.4 Arten und Formen der Künstlichen Intelligenz II: Roboter Der Begriff Roboter geht ursprünglich auf ein Theaterstück des tschechischen Autors Karel Čapek aus dem Jahr 1920 zurück. „Robota“ bedeutet im Tschechischen „Arbeit“ bzw. „Fronarbeit“. Das Kernthema des Dramas beschreibt eine bis heute zentrale Fragestellung um den menschlichen Wert seiner Arbeitskraft sowie die Angst durch Roboter ersetzt zu werden (Seng 2019: 61/62). Roboter sind als „komplexe Computersysteme, die eine grundlegende Handlungsautonomie einprogrammiert bekommen haben, infolgedessen in der Lage sind, eigenständig und unabhängig von konkreter menschlicher Anleitung aktiv zu sein und einprogrammierte Aufgaben zu übernehmen, und die sich zudem mit Menschen ‚verständigen‘ können – was immer genau ‚verständigen‘ hier auch heißt. Für Hardware-Roboter beinhaltet diese Autonomie eine gewisse eigenständige Beweglichkeit in Raum und Zeit, für Software-Roboter, etwa
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Chat Bots, die nicht an spezifische Hardware gebunden sind, besteht diese Autonomie aus Vervielfältigung und Beweglichkeit im Netz“. (Krotz 2019: 21) Eine besondere Gruppe innerhalb der Roboter stellen die sogenannten „Androiden“ bzw. „Humanoiden“ dar, die dem Menschen im Aussehen und im Verhalten sehr ähnlich sind (Bendel 2016a: 7/8; Küppers 2018: 27). Das Europäische Parlament (2017, Abs. 1.) fordert eine unionsweite Begriffsbestimmung für intelligente Roboter, die folgende Eigenschaften umfasst: a) Datenaustauch durch Interkonnektivität mit der Umgebung oder durch Sensoren sowie eine Bereitstellung und Analyse dieser Daten als Voraussetzung für Autonomie; b) Erweiterung der Funktionsweisen durch Rückkopplung mit der Umwelt und durch frühere Prozessdaten („Selbstlernen durch Erfahrung und durch Interaktion“); c) Mindestmaß an physischer Unterstützung; d) Anpassung an Umweltanforderungen; e) Ausschluss der Definition als Lebewesen. Da sich ein immenses Spektrum der Einsatzmöglichkeiten zeigt, lassen sich ethische Fragen besser konkretisieren, wenn auf den einzelnen Nutzungskontext eingegangen wird (Seng 2019: 67/68). Kommunikationsroboter (Bots): Chat Bots oder Chatterbots sind Dialogsysteme mit natürlichsprachlichen Fähigkeiten. (Bendel 2016a: 28). Schlagzeilen machte 2016 ein Kommunkationsroboter namens „Tray“ von Microsoft. Als Chat Boot konzipiert konnte „Tray“ aus der Kommunikation mit den Usern im Internet „lernen“. Bereits nach wenigen Stunden nahm Microsoft „Tray“ wieder vom Netz, da das Programm mehrere rassistische und sexistische Botschaften sowie Sympathiebekundungen für Hitler und den Nationalsozialismus veröffentlicht hatte. Bei „Tray“ handelte es sich um ein „lernendes System“, welches von seinen Usern mit rechtsextremistischen und diskriminierenden Informationen „gefüttert“ worden war (Krotz 2019: 26). Somit schließt die hier beschriebene Situation an die bereits behandelte Problemlage der sozialen Diskriminierung an, bezieht sich aber darüber hinaus auf das Thema, der, an die Software vermittelten, einseitigen und manipulierten Daten. Darüber hinaus berührt das Beispiel auch das Thema der Grenzen der Akzeptanz von im Netz geäußerten Meinungen und Kommentaren.
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Industrieroboter: Der Einsatz in der Industrie für gefährliche und schwere Arbeiten gilt als älteste Anwendung der Robotik. Die Definition von Industrierobotern lautet: „An automatically controlled, reprogrammable, multipurpose manipulator programmable in three or more axes, which can be either fixed in place or mobile for use in industrial automation applications“ (ISO 8373:2012, nach International Federation of Robotics 2016b: 25). Besonders Arbeiten, die aus einer festlegbaren Folge standardisierter Einzelschritte bestehen, werden von Robotern effektiv, effizient und zuverlässig ausgeführt. Die besondere gesellschaftliche Herausforderung des Einsatzes von Robotern in der Industrie ergibt sich vorrangig aus der Substitution menschlicher Arbeitskräfte. Automatisierte und autonome Robotersysteme: Ausgangspunkt der aktuellen Diskussionen im Kontext von Ethik und Technologie oder der Frage der Moralität von Maschinen ist der Einsatz von autonomen Verkehrsmitteln, insbesondere die Entwicklung autonomer Fahrzeuge auf Level 5, die ohne aktiv involvierte Person am Straßenverkehr teilnehmen (BMVI 2017: 14). Die verstärkte Aufmerksamkeit der Medien und Öffentlichkeit wurde 2016 und 2018 durch zwei tödliche Unfälle in den USA hervorgerufen. 2016 führte ein Zusammenstoß des Models Tesla Model S mit einem Lastkraftwagen in Florida zum Tod des 40jährigen Autofahrers, während das Assistenzsystem eingeschaltet war. Es wurde davon ausgegangen, dass die Stereokameras und die Radarsensoren den Sattelschlepper aufgrund der Lichtverhältnisse und weiterer Umstände nicht erkannt hatte (Harloff 2016; Hengstenberg und Hucko 2016). Bei dem Fahrzeug handelte sich um eine Testversion des Levels 2, welches eigenständig die Spur halten und wechseln kann sowie sich den Verkehrsregeln anpasst (Harloff und Reek 2018), bei der die fahrzeugführende Person jedoch darauf hingewiesen wird, im Notfall die Kontrolle zu übernehmen. (Harloff 2016; Hengstenberg und Hucko 2016). Darüber hinaus stellte sich in nachfolgenden Ermittlungen heraus, dass der Fahrer die Warnungen des Autopiloten ignoriert hatte (Werner 2018). Auf einem höherem Entwicklungslevel (Level 3–4) befand sich das Fahrzeug des Taxisanbieters Uber, welches im März 2018 eine Fußgängerin in Arizona überfuhr. Auch dieses
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ahrzeug war von einem Fahrer besetzt, der die Fußgängerin, die an F einer dunklen Stelle ca. 100 m vor dem Auto plötzlich die Fahrbahn betrat, ebenfalls übersah. Der Unfall, so die Schlussfolgerung wäre autonom oder manuell kaum vermeidbar gewesen, was Uber hinsichtlich der Schuldfrage entlastet (Becker 2018; Hartloff und Reek 2018). Ein vollständig autonomes Fahren in Roboterfahrzeugen soll ab dem Level 5 möglich sein. Diese Fahrzeuge sollen weder über eine*n Fahrer*in noch über Eingriffsmöglichkeiten, wie Lenkrad oder Pedale verfügen. Erste Testphasen werden prognostisch auf die Jahre 2025 bis 2030 datiert. Die Mehrheit der Fahrten selbstfahrender Autos und Busse findet derzeit unter optimalen Bedingungen statt, da die Systeme derzeit mit schwierigen Wetterlagen und unübersichtlichen Verkehrssituationen der Rush Hour noch überfordert sind. Dieser Punkt muss bei dem Ergebnis, dass selbstfahrende Fahrzeuge im Vergleich zu menschlichen Fahr*innen als sicherer gelten und weniger Unfälle verursachen, berücksichtigt werden (Hartloff und Reek 2018; BMVI 2017: 15). Ethische Fragen bestehen hier neben den bereits angerissenen Problemen des Datenschutzes und der Manipulationsgefahr in der Verantwortungsübernahme bei Unfällen. Militärroboter (ähnlich auch Polizeiroboter) sind in Rahmenbedingungen eingebunden, in denen zerstörerische oder gewalttätige Aktionen von vornherein eingerechnet werden (Krotz 2019: 22), die per se ethisch problematisch sind (Seng 2019: 68). Allerdings gilt es zu unterscheiden, ob es sich um Roboter handelt, die zu Transport- oder Rettungszwecken, z. B. auch bei Erdbeben eingesetzt werden, oder ob es sich um Kampfroboter im engeren Sinne handelt. „Ein Kampfroboter, in Form eines Landroboters oder einer militärischen Drohne, die im Wasser oder in der Luft unterwegs ist, dient in kriegerischen Auseinandersetzungen und bei terroristischen Bedrohungen der Erkundung und Überwachung von Gebieten und der Eliminierung der Gegner“ (Bendel 2016a: 115). Unter Berücksichtigung des Kriegsrechts und der Diskussion um gerechtfertigte Kriegseinsätze liegt eine Analyse von Lin et al. (2018) aus US-amerikanischer Perspektive vor, in der die bereits diskutierten Probleme der Verantwortungsübernahme und akzeptierbaren Risiken beim Einsatz von intelligenten Agenten im Krieg sowie die Möglichkeiten einer moralischen Programmierung
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diskutiert werden. Darüber hinaus gehen die Autor*innen auf das Risiko einer höheren Kriegsbereitschaft beim Einsatz von Robotern ein. 2015 wurde unter der Federführung von „Future of Life“ ein offener Brief geschrieben und von zahlreichen KI-Fachleuten unterschrieben, in denen eine eindringliche Warnung vor der Entwicklung von autonomen Waffen und Waffensystem formuliert wird. Im Appell an die Vereinten Nationen wird sich aufgrund des hohen Risikos der Unkontrollierbarkeit, der Schnelligkeit und des Missbrauchs vehement für ein internationales Verbot solcher Waffensysteme und ein Kontrollgremium eingesetzt (ebd. 2018). Aus ethischer Sicht ist ein Verbot von Programmierungen von Robotern oder technischen Systemen mit direkter Tötungs- oder Schadensabsicht gegenüber Menschen deutlich zu befürworten. Serviceroboter: Serviceroboter übernehmen Aufgaben, die für den Menschen nützlich sind. Industrielle Anwendungen werden jedoch ausgeschlossen. Unterschieden werden die Roboter in Erbringer persönlicher Leistungen, professioneller Leistungen und in Robotersysteme (International Ferderation of Robotics 2016b: 9). Einen Überblick über die weiteren Unterteilungen und die Anwendungsbereiche findet sich bei der International Federation of Robotics (2016a). Die ethischen Aspekte von Servicerobotern werden vor allem bei ihrem Einsatz in der Pflege und Betreuung von älteren Menschen aufgegriffen. „Pflegeroboter“ im engeren Sinne sind die Robotersysteme, die menschliche Pflegekräfte unterstützen oder ersetzen. Pflegeroboter haben in der Regel einen direkten physischen und/ oder kommunikativen Kontakt mit den zu Betreuenden, was bei den Robotern in der Pflege nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Bei den Pflegerobotern können wiederum zwei Typen nach folgenden Aufgabenmustern unterschieden werden: a) diejenigen, die physischen Service anbieten, um die Aktivitäten in der Pflege zu unterstützen, wie Heben und Umlagern von bewegungseingeschränkten Patient*innen, Transportroboter für Wäsche oder andere Objekte. b) Roboter, die emotionale und fürsorgliche Aufgaben übernehmen, wie Konversation, soziale Interaktionen und Unterhaltung. (Sparrow und Sparrow 2006: 151). Bei einem weiteren Subtyp handelt es sich um Roboter, die das
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Verhalten und die Gesundheit älterer oder pflegebedürftiger Menschen überwachen (Sharkey und Sharkey 2010: 27). Aus der Gesamtkonstellation ergeben sich mehrere Punkte, die es in Hinblick auf eine ethische Reflexion zu hinterfragen gilt. In den Artikeln von Sharkey und Sharkey (2010) und Klein (2010) werden folgende Probleme formuliert, wobei der Fokus bei Klein auf dem stationären Setting liegt, während Sharkey & Sharkey die Versorgung im häuslichen Bereich betrachten: • Gefährdung der Privatsphäre und die Frage nach der Verantwortung: Pflegeroboter nehmen eine Reihe sensibler, privater und gesundheitsbezogener Daten auf. Neben Fragen des Datenschutzes und des Schutzes der Privatsphäre ist die Frage zentral, inwieweit eine bessere Versorgung eine ständige Überwachung aufwiegen kann. Klein (2018: 219/220) problematisieren die „verdeckten Adressat*innen“ in diesem Zusammenhang, da sich aus ersten Erfahrungen zeigt, dass Menschen im Kontakt mit Robotern Informationen preisgeben, die sie gegenüber der Pflegekraft nicht offenbart hätten. Besonders problematisch wird dies, wenn die Systeme, wie z. B. der Pflege- und Unterhaltungsroboter ZORA vom Pflegepersonal ferngesteuert wird. Des Weiteren besteht die Frage nach der Verantwortungsübernahme, wenn im Zuge eines technischen Defekts oder einer Manipulation ein Schaden erfolgt. • Risiko der Reduktion menschlicher Kontakte und vermehrter Isolation: Dieser, kritisch zu hinterfragende, Punkt des Einsatzes von Robotern betrifft nicht nur die Momente von Kommunikation und Austausch, sondern auch die Situationen, in denen im Alltag bei Haushalts- und Pflegearbeiten ebenfalls persönlicher Kontakt zwischen Menschen entsteht. Insbesondere für das Feld der stationären Pflege gilt, dass nicht Einsparungen in Form von Stellenreduzierungen das Ziel für den Einsatz von Robotern sein können, sondern Unterstützung und Entlastung der Pflegekräfte, die dann wiederum mehr Zeit für direkten Kontakt und Interaktionen mit den zu Pflegenden haben. Sozialer Kontakt hat einen positiven Einfluss auf Stress, das Risiko an Demenz zu erkranken und den Erhalt kognitiver Fähigkeiten im höheren Alter. In Studien zur Interaktion
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von älteren Menschen mit Robotern konnten durchaus positive Effekte gefunden werden, was die Reduktion des Gefühls von Einsamkeit und die Steigerung der Kommunikation beim Menschen mit dementiellen Erkrankungen betrifft, die sich jenen Ergebnissen annähern, die bei tiergestützten Angeboten gefunden wurden. Der Einsatz von Robotern ersetzt keineswegs den persönlichen Kontakt, kann aber die Lebenssituation gegenüber den Menschen verbessern, die kein entsprechendes Angebot wahrnehmen können (Sharkey und Sharkey 2010: 34). • Tendenz der „Gleichsetzung von Mensch und Objekt“ (Kreis 2018: 214): Gerade in der Erledigung von Routineaufgaben durch Roboter kann eine Objektivierung eintreten, die nicht mit der inhärenten Würde des Menschen vereinbar ist (Sharkey und Sharkey 2010: 30). Ausschlaggebend ist, ob ein Eingehen auf die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Adressat*innen der Pflege möglich ist. Zudem ist es den Nutzer*innen wichtig, ein Gefühl der Kontrolle über das Geschehen zu haben und selbst eingreifen zu können. Unter diesen Voraussetzungen bevorzugen einige Menschen Roboter in der Pflege, das zeigen erste Untersuchungsergebnisse zur Thematik. Insbesondere bei der Pflege im Intimbereich wird Scham durch den Einsatz von Robotern vermindert. Auch bei anderen Routinearbeiten und bei der Bewegungsunterstützung bevorzugen einige Patient*innen Roboter, weil sie hier im Vergleich zu menschlichen Pflegekräften ein stärkeres Gefühl von Autonomie, Intimität, Sicherheit und Vertrauen haben. (Kreis 2018: 225; Bendel 2016a, b b: 29). • Verlust persönlicher Freiheit und Kontrollverlust: Sowohl im Zusammenhang mit dem Schutz der Privatsphäre, als auch mit dem der Objektivierung spielt der Kontrollaspekt eine Rolle. Ausschlaggebend ist dabei, ob die Nutzer*innen berechtigt und kompetent genug sind, die technischen Hilfsmittel zu steuern und über ihre Einsatzmöglichkeiten zu bestimmen, um das Gefühl des Kontrollverlustes über das eigene Leben zu vermeiden. Gerade hinsichtlich der Einsatzmöglichkeiten ist wichtig zu berücksichtigen, dass die selbstständige Erledigung von Alltagsangelegenheiten bei beeinträchtigten Menschen häufig damit einhergeht, dass diese sich kompetent und selbstbestimmt erleben. „Das nicht (mehr) Können“
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und die zunehmende Reduzierung selbst übernommener Aufgaben wird häufig als Einschränkung der eigenen Freiheit empfunden. Umso wichtiger ist die Beteiligung an Entscheidungsprozessen und ein Empowerment der betroffenen Menschen, um einem Verlust der Selbstbestimmungsmöglichkeiten entgegenzuwirken (Sharkey und Sharkey 2010: 31). Die Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten sind eng verknüpft mit den vorhandenen kognitiven Kompetenzen der Personen. Noch brisanter wird die Frage hinsichtlich der räumlichen Einschränkungen sowie der Begrenzung von Handlungsmöglichkeiten, wenn die Roboter bei Menschen mit demenziellen Erkrankungen oder kognitiven Einschränkungen eingesetzt werden. Gerade in diesem Bereich, aber auch generell, kommt es dann zu Konflikten, wenn der Eigensinn der Personen den Fürsorgenotwendigkeiten entgegensteht, z. B. wenn die Einnahme wichtiger Medikamente verweigert wird. Dieser Punkt bedeutet, unabhängig vom Einsatz von Technik, eine Herausforderung zwischen dem grundlegenden Recht der autonomen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit in Bezug auf die eigenen Lebensumstände einerseits, und der Verantwortungsübernahme innerhalb professioneller Pflege- und Betreuungsverhältnisse, die in der Literatur unter den Stichworten „Care/Fürsorge“ und „Paternalismus“ behandelt werden, andererseits (Bockenheimer-Lucius et al. 2012: 156–157). Besonders unter diesem Aspekt ist zu reflektieren, ob die Gefahr besteht, die Handlungsmöglichkeiten der Nutzer*innen zu beschneiden, insbesondere dann, wenn über die Motive der Fürsorge und des Schutzes hinaus arbeitsorganisatorische Aspekte eine Zeit und Aufwand sparende Rolle spielen. Der Verlust der menschlichen Kontakte kann beim fremdbestimmten Einsatz von Robotern zu einem Verlust der menschlichen Würde führen (Sharkey und Sharkey 2010: 30). • Unethische Täuschung und Infantilisierung älterer Menschen: Mittlerweile gibt es Roboter, die in ihrem Aussehen und Verhalten Menschen oder Tieren sehr ähnlich sind. Exemplarisch soll hier der Kuschelroboter, die Robbe „PARO“ und die Puppe „Primo Pull“ aufgeführt werden. Die Puppe wurde ursprünglich für die Zielgruppe „der jungen Singlefrauen“ als „Begleitperson“ konzipiert, erfreut sich aber in Japan bei älteren Frauen großer Beliebtheit. PARO
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agiert auf Zuwendung (und Misshandlungen) in seinen Bewegungen und Lauten wie ein Robbenbaby. Primo Pull ist ebenfalls interaktiv angelegt, die Puppe kann sprechen, sie kichert und fragt nach Umarmungen. (Kreis 2018: 222; Sharkey und Sharkey 2010: 34). Im Zentrum der ethischen Bedenken steht neben dem Aspekt, dass die Nutzer*innen über die wahre Natur des Roboters getäuscht werden, die Gefahr der Infantilisierung, da ihnen hier in einem erweiterten Verständnis „technisches Spielzeug“ anstelle natürlicher Zuwendung angeboten wird. „Insofar as robots can make people happier only when they are deceived about the robots‘ real nature, robots do not offer real improvements to people’s well-being; in fact the use of robots can be properly said to harm them“ (Sparrow und Sparrow 2006: 155). Im Zusammenhang mit dem Einsatz von Robotern im Sozialbereich stellen sich folgende Fragen: a) Wo und in welchem Umfang sollen Roboter eingesetzt werden? b) Welche Motivation liegt dem Einsatz von Robotern zugrunde? c) Welche Chancen und Risiken für die Erhöhung oder Verschlechterung der Lebensqualität sind nachweisbar? d) Welche Chancen und Risiken in Bezug auf ein menschenwürdiges Leben, insbesondere auf den Wert „Autonomie“, aber auch darüber hinaus, sind mit dem Einsatz von Robotern verbunden? e) Welche Kontrollmechanismen und –instanzen sind in der Benutzung von Robotern auf der Ebene der Nutzer*innen, der professionellen Fachkräfte, der Angehörigen der Nutzer*innen, der institutionellen Ebene, der gesellschaftlichen Ebene, der Ebene der Herstellerfirmen und der unabhängigen Kontrolle (z. B. Ethikkommissionen) gegeben? (siehe auch Thimm und Bächle 2019: 77/78) Ein weiterer Bereich des Einsatzes von Servicerobotern ist der Bildungsbereich. In dem Sammelband von Merdan et al. (2017) werden viele Beispiele vorgestellt. Ethische Fragen werden hier nicht diskutiert. Cyborgs: Cyborgs sind technische Systeme, die angelehnt an organische Modelle, Körperfunktionen ausführen und ersetzen (Park 2014: 304). Die „Maschinisierung“ der Menschen ist in den letzten Jahrzehnten fortgeschritten (Beck 2012: 10). Ein Beispiel für eine bereits gängige
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Variante des Cyborgs ist das Cochleaimplantat, welches über 300 000 Menschen auf der Welt tragen und welches seit den 1970er Jahren in der klinischen Anwendung ist. Es überträgt akustische Reize direkt an die Hörnerven. Das Implantat wird am Schädel in ein ausgefrästes Knochenbrett hinter dem Ohr eingesetzt. Die Reize werden durch eine Sende- und Empfängerspule durch die Kopfhaut, an der sie magnetisch verbunden sind, übertragen. Die Sendespule wird außen am Ohr getragen, durch ein Mikrofon und einen Sprachprozessor werden die akustischen Reize aufgenommen, zuerst in elektrische Signale und anschließend in einen Code umgewandelt, welcher dann weitergeleitet wird. Im Innenohr werden diese Signale decodiert und an die Nervenfasern im Innenohr (der Cochlea ) übertragen. Dazu dient eine Elektrode, die im Innenohr die Funktion der geschädigten Haarzellen übernimmt. Zu ergänzen ist, dass nicht alle Formen der Hörschädigung durch ein Cochleaimplantat kompensiert werden können, es ist ausschließlich bei Innenohrschwerhörigkeit bzw. Schallempfindungsschwerhörigkeit erfolgversprechend. Darüber hinaus ist der Einsatz an bestimmte Voraussetzungen gekoppelt, wie z. B. eine funktionierende Reizverarbeitung akustischer Signale im Gehirn, welche bei einem Einsatz im höheren Alter durchaus durch Lernen angepasst werden muss. Der Einsatz eines Cochleaimplantats bedeutet nicht automatisch, dass die betroffenen Menschen hören können. Neben individuellen Faktoren ist dafür ein intensives Hörtraining Voraussetzung (Leonhardt 2014: 116–126). Unter dem Titel „Darf man ein gehörloses Kind gegen den Willen der Eltern operieren?“ (Heinrich 2017) veröffentlichte der Spiegel 2017 einen Fall, in welchem viele ethische Dimensionen des Cochleaimplantats deutlich werden. Der betreuende Arzt schlug für einen gehörlosen Jungen, der in einer Familie mit gehörlosen Eltern und Geschwistern aufwuchs, im Alter von anderthalb Jahren ein Cochleaimplantat vor. Die Eltern verweigerten den operativen Eingriff. Die Mutter begründete die Entscheidung mit den Risiken der Operation, aber auch damit, dass sie mit ihrem Sohn nicht in der Lautsprache kommunizieren kann. Sie verwies darauf, dass es trotz der Implantation und der Gewährleistung einer intensiven Förderung zu Verzögerungen im Spracherwerb kommen kann. Der Arzt wandte sich mit dem Ziel der Durchsetzung der Operation und dem damit verbundenen Verdacht
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auf Kindeswohlgefährdung an das Jugendamt, welches den Fall an das zuständige Amtsgericht weiterleitete. Drygala und Kenzler (2018) beurteilen den Fall juristisch und fassen zusammen, dass eine teilweise Entziehung der elterlichen Sorge mit dem Ziel einer Einsetzung eines CI weder erforderlich noch verhältnismäßig ist. Es ist eine vertretbare Entscheidung, dass sich die Eltern gegen eine Operation wenden. Aufgrund der Entscheidung werden die Lebenschancen des Kindes nicht schwerwiegend beeinträchtigt. Es besteht kein stattliches „Optimierungsgebot“ von Kindern mit Behinderungen. Eine Trennung von den Eltern widerspricht Art. 23, Abs. 4, Satz 2 des „Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“, in dem festgeschrieben ist, dass ein Kind nicht aufgrund seiner oder der Behinderung der Eltern durch staatliche Behörden getrennt werden darf und Art. 24, Abs. 3 b, nach dem der Staat verpflichtet wird, Bildungs- und Rahmenbedingungen zur Vermittlung der Gebärdensprache zu schaffen. Zudem können auch gehörlose Kinder die Lautsprache erlernen (United Nations 2006). Aus dem Fall erschließen sich mehrere, ethisch zu reflektierende, Dimensionen. Die erste Dimension bezieht sich darauf, dass ein Eingriff zur Heilung von Krankheiten selbst dann befürwortet wird, wenn der betroffene Mensch nicht selbst einwilligen kann (Beck 2013: 1007). Im oben beschrieben Fall zeigt sich diese Tendenz in ihrer Erweiterung auf Beeinträchtigungen, bei denen ein Eingriff ohne notwendige medizinische Indikation zur Kompensation organischer Funktionsbeeinträchtigungen durchgeführt werden soll. Diese Tendenz impliziert Normvorstellungen der menschlichen Leistungsfähigkeit, die dem Vorwurf des „Ableismus“ (Bucher et al. 2015) entsprechen und die im Gegensatz zur Anerkennung von Vielfalt steht. Neben der Heilung und Optimierung wird als dritte Stufe dieses Prozesses das „Enhancement“ diskutiert. Beim Enhancement soll eine Verbessrung der Fähigkeiten oder des Aussehens gesunder Menschen erfolgen (Beck 2013: 1009; Hilgendorf 2013: 1047). Cyborgs heben die Trennung von Menschen und Maschinen auf, d. h. sie durchbrechen die Unterscheidung von physischer Materie und dem komplexesten Organismus auf der Erde, was zu einem erheblichen ethischen Dilemma führen kann, insbesondere dann, wenn der Cyborg mit dem Gehirn bzw. Nervensystem gekoppelt wird (Warwick 2003: 131; Park 2014: 303). Beschrieben
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werden in der Literatur Computerchips, die durch eine Deep Brain Simulation die Symptome von Parkinson lindern. Fragen entstehen in diesem Zusammenhang zunächst im Kontext der unbeabsichtigten Nebenfolgen, wenn z. B. der Arzt ohne Einwilligung eingreift, weil die Simulation zu Verhaltensveränderungen (z. B. manisches Verhalten) führt, die der Patient nicht wahrnimmt oder als angenehm empfindet, die jedoch sein Verhalten völlig verändern und für ihn selbst langfristig schädlich sind (Brunhöber 2012: 84). Eine besondere Gruppe der Verbindung technischer Möglichkeiten innerhalb organischer Körperstrukturen sind die nanotechnologischen Maschinen („Nanobots“), welche zum Aufdecken von Fehlfunktionen und deren Regulierung eingesetzt werden können. Durch die Möglichkeit der Vernetzung der Technik (Beck 2013: 999/1001) u. a. mit dem Internet besteht die Gefahr der Manipulation und Steuerung des Menschen von außen, verbunden mit der vorhergehenden Veränderung von Wahrnehmung und Bewusstsein, ebenso wie die Möglichkeiten der Optimierung und Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten und somit die Schaffung eines „neuen“ bzw. „post-humanen Menschen“ (Warwick 2003: 132). Park (2014: 304–306) diskutiert ethisch relevante Aspekte, die in einem Zusammenhang mit der Weiterentwicklung und dem Einsatz von Cyborgs stehen, wie Integrität des Körpers, (Selbst-)Kontrolle, Sicherheit und soziale Inklusion. Der Punkt der Integrität des Körpers stellt für ihn ein medizinisches Problem dar, bei welchem er die Grenze der Einsatzmöglichkeiten auf medizinische Indikationen der Kompensation von organisch bedingten Funktionsschädigungen setzt. Des Weiteren argumentiert er, dass die Fragen der (Selbst-)Kontrolle und Sicherheit nicht nur für Cyborgs gelten, sondern für die allgemeine technische Entwicklung und Vernetzung, indem einerseits immer kleinere Geräte zum Einsatz kommen, die ständig und körpernah getragen werden, andererseits die gesamte Lebenssituation von Menschen in einer technisch vernetzten Umgebung stattfindet, in der Daten aufgezeichnet, vernetzt und an die menschlichen Akteure zurückgespielt werden. Der vierte Punkt, der sozialen Inklusion, beschreibt, inwieweit alle Menschen gleichberechtigt Zugang zu technischen Innovationen haben, die ihnen eine verbesserte Teilhabe am Leben ermöglichen. Neben der Integrität des Körpers und dem Schutz vor
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Selbstschädigung, der Wahrung von Chancengleichheit und Wahrung der Selbstbestimmung, Identität und Authentizität, wird als wichtiges Kriterium im Kontext der Menschenwürde auch die Wahrung der Natur des Menschen im Sinne der „Gattungswürde“ diskutiert (Brunhöber 2012: 86; Beck 2013: 1011). Die ethischen Fragen, die den Einsatz von Cyborgs betreffen, sind an vielen Stellen deckungsgleich mit anderen Bereichen der Medizinethik und Bioethik, vor allem der Pränataldiagnostik, Präimplantationsdiagnostik und dem Einsatz künstlicher sowie tierischer Spenderorgane, der Xenotransplantation (Readon 2015).
9.5 Menschen und Maschinen – Rechnen, Denken und ethisches Handeln. In der Auseinandersetzung um den Zusammenhang von Ethik und moderner Technik können zwei Extrempositionen vorgefunden werden. Bei der einen Position wird die Auffassung vertreten, dass Maschinen ausschließlich menschliche Hilfsmittel sind, die vollständig von menschlichem Wollen und Handeln abhängig sind, woraus die Schlussfolgerung resultiert, dass keine neuen ethischen Positionen notwendig sind. Bei der zweiten, entgegengesetzten Position wird formuliert, dass seit der Entwicklungsstufe der selbstlernenden Maschinen und der Künstlichen Intelligenz eine Autonomie von Maschinen vorliegt, die mit der des Menschen vergleichbar ist und es somit erforderlich macht, eine breitere Ethik anstelle des traditionellen, anthropozentrischen Paradigmas zu stellen (Rath, Karmasin & Krotz 2019: 3/4). In Verbindung mit der zweiten Position stehen Ängste der Unkontrollierbarkeit des technischen Fortschritts in Hinblick auf die Machtübernahme durch die Algorithmen und der Substitution des Menschen auf dem Arbeitsmarkt und sowie die komplette Veränderung der bisherigen Lebensbedingungen der Menschen (Sauerwein 2019: 38; Seng 2019: 67). Darüber hinaus finden sich sogar Aussagen, dass die Maschinen die besseren Menschen seien, da sie nicht von Gefühlen oder Ermüdungserscheinungen beeinflusst werden, sondern zuverlässige, effiziente und rationale Entscheidungen auf der Basis der Datenlage treffen (Rath
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2019: 238). Zentral in der Argumentationsfigur der zweiten Position ist das Konzept der autonom entscheidenden und handelnden sowie selbstlernenden technischen Systeme. „Ubiquitär, wenn nicht sogar inflationär gebraucht, ist er [der Begriff der Autonomie] in kurzer Zeit zu einer Metapher für die Loslösung der Technik aus der menschlichen Kontrollsphäre geworden“ (Thimm und Bächle 2019: 73). Dem Konzept der „Autonomie“ kommt in dieser Diskussion eine Schlüsselposition zu. Dabei gibt es in Sozialwissenschaften mehrere Konzeptionen zu diesem Begriff, welche sich wiederum deutlich von dem der technischen Disziplinen unterscheidet (Darwall 2006: 263). Der Begriff „Autonomie“, dessen Geschichte sich bis zu den Anfängen der Aufzeichnungen über menschliches Handeln in der Antike zurückverfolgen lässt, gilt seit der Aufklärung im Querschnitt über verschiedene philosophische Ansätze bis heute als Voraussetzung der freien Willensentscheidung, die nur durch die Einbildung in normgebende und selbstreflexive Verantwortung möglich ist (Bielefeldt 2011: 311). Leitmotiv dieses „genuin ethischen Autonomieverständnisses“ (Thimm und Bächle 2019: 75; Bielefeldt 2011: 312) ist nach Kant der mündige Mensch, der nicht nur die eigenen, sondern auch die Rechte anderer als gleich gegeben anerkennt (Kant 1797/1990: 354) und sich mit diesen im Diskurs auseinandersetzt (Habermas 1992: 151–155). Aus dieser zentralen Denkfigur der Reflexion in sozialer Eingebundenheit, welche sowohl einen impliziten als auch expliziten Diskurs beinhaltet, resultiert die Fähigkeit zur moralischen Urteilsbildung. An dieser Stelle soll nicht darüber hinweggegangen werden, dass diese Denkfigur auf der einen Seite einen idealistischen Anspruch an den Menschen beschreibt und auf der anderen Seite einige wissenschaftliche Positionen davon ausgehen, dass der Mensch nicht über einen freien Willen verfügt, sondern durch seine neurobiologischen Prozesse determiniert ist (Wegner 2002). Dem entgegenzusetzen ist die Argumentation von Sandel (2013: 177): „Wissenschaft kann die Natur erforschen und die empirische Welt befragen, aber moralische Fragen beantworten oder den freien Willen widerlegen kann sie nicht. Denn Moralität und Freiheit sind keine empirischen Vorstellungen. Wir können nicht beweisen, dass es sie gibt, aber unserem moralischen Leben können wir keinen Sinn geben, wenn wir sie nicht voraussetzen.“
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Die unreflektierte Übertragung der Begriffe „Denken“, „Handeln“, „Lernen“ und „Autonomie“ vom Menschen auf künstlich geschaffene Systeme ist überaus kritisch zu betrachten (Ulrich 2019: 243; Deutscher Bundestag/Algorithm Watch 2017: 1). Diese Übertragung entstand zum Teil aus einer engen Verbindung der wissenschaftlichen Arbeitsgebiete der Künstlichen Intelligenz, der Kognitionswissenschaften und kognitiven Psychologie (Anderson 2001: 10–13). Resümierend lässt sich sagen, dass mithilfe der kognitiven Ansätze und der Kognitionswissenschaften eine Reihe von Modellen der Informationsverarbeitung entwickelt wurden, die das Verständnis dieser Prozesse erweitert haben. Das Rätsel um das menschliche Bewusstsein unter der Voraussetzung der Integration komplexer Umwelteindrücke mit vorhandenen internen Repräsentationen konnte jedoch bisher nicht annäherungsweise gelöst werden. Searle (2004: 38) beschreibt hier eine „Lücke“ zwischen der beobachtbaren neuronalen Aktivität der Abwägung nach Gründen und den getroffenen Entscheidungen. „Die zentrale Kritik am Computermodell des Geistes lautet daher, dass er als Modellierung menschlicher Intelligenz eine Sackgasse ist. Es führt kein Weg vom Schachcomputer „Deep Blue“ zu den Leistungen typischer menschlicher Intelligenz“ (Lenzen 2002, nach Heßler 2017: 19). Kritisch wird besonders die mangelnde Differenzierung in der Darstellung der maschinellen Informationsverarbeitung und der menschlichen Denkprozesse auf der Seite der KI, der Kognitionswissenschaften und z. T. der kognitiven Psychologie aus der Perspektive der Philosophie und Kulturwissenschaften betrachtet, eine Tatsache, die sich in der Übernahme der oben erwähnten Termini im Sinne einer Anthropomorphisierung widerspiegelt. „Die mediale Berichterstattung unterstützt eine Rhetorik, die vermuten lassen könnte, dass die technischen Entwicklungen selbst die Verantwortung für die Folgen ihres Einsatzes tragen“ (Seng 2019: 69). Derzeit gibt es keine angemessene Sprache für die digitalen, technischen Objekte, ihre Handlungen und Ausdrucksweisen (Krotz 2019: 15). Unter der Berücksichtigung der Macht von Zuschreibungen sollten kontextsensible Aspekte der Sprache stärker berücksichtigt werden (Thimm und Bächle 2019: 74). Weder Algorithmen noch Roboter können erklären oder begründen, was sie tun. Sie können keine Ziele begründen und nicht auf der
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etakommunikativen Ebene über ihr Verhalten Rechenschaft ablegen. m Dem entsprechend sind sie nicht in der Lage, ihre Entscheidungen zu verantworten. Ihre Leistungen beruhen auf der rein rechnerischen Verarbeitung von Daten, die in ihr System eingespeist werden. Sie verfügen somit weder über innere Realitäten noch über die Möglichkeit, Entscheidungen zu hinterfragen. „Wer nicht in der Lage ist, sich selbst und seine früheren Entscheidungen nach einem ethischen Referenzsystem zu bewerten […], der kommt auch als Rechtsperson, als Objekt einer Zuschreibung von Verantwortung und Schuld nicht in Betracht; denn mit ihm kein ethischer Dialog möglich, er kann auf einen ethischen Vorwurf keine ‚Antwort‘ geben“ (Gleß & Weigend 2014: 575). In der Weiterentwicklung der Technik gibt es jedoch erste Regelungen im Zivilrecht im Bereich des Schadenersatzes und der Vermögensbildung analog zu „juristischen Personen“ sowie weiterführende Überlegungen zur Einführung des Status einer „elektronischen Person“ (Europäisches Parlament 2017, Abs. 59 a). Insbesondere im Entwicklungsfeld der autonomen Fahrzeuge gibt es den Gedanken, eine moralische Programmierung von Maschinen vorzunehmen. Das bekannteste Modell ist die „Moral Maschine“ des MIT. Aufbauend auf dem Grundschema des „Trolleydilemma“ (Foot 1967 o. S.; Thompson 1976: 206; BMVI 2017: 16) werden auf der Internetseite https://moralmachine.mit.edu/hl/de den Besucher*innen dreizehn Dilemmata gezeigt. Die Entscheidungsmöglichkeiten sind in Bildern visualisiert, auf denen dargestellt wird, welche der abgebildeten Figuren im Falle der jeweiligen Entscheidung zu Tode kommen. Es kann sich dabei um Fußgänger*innen handeln oder um die Nutzer*innen des Fahrzeugs, die aber hinsichtlich ihres Alters, ihres Geschlechts, ihres gesellschaftlichen Status etc. oder hinsichtlich des Einhaltens der Verkehrsregeln variieren. In einigen Bildern sind auch Tiere zu sehen. Jede der Entscheidungen führt zum Tod. Die Anzahl der Figuren, die mit einem Todessymbol versehen sind, ist in den Bildern gleich hoch. In diesen Bildern geht es direkt darum, die Wertigkeit von Personen (und Tieren) gegeneinander abzuwägen. Eine Argumentation im Sinne des absoluten Tötungsverbots von Menschen aufgrund ihrer inhärenten Würde und Gleichwertigkeit ist von vornherein ausgeschlossen (Kant 1785/2008; Brieger 2019: 11; BMVI 2017: 11). In diesem Sinn
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handelt es sich um ein „unmoralisches Spiel“, welches nur zum Verlieren führt, da es keine Wahl zwischen „richtigem“ und „falschem“ Handeln ermöglicht (Ulrich 2019: 257). Zur möglichen Moral von Maschinen kann abschließend gefragt werden, ob es möglich ist, eine „zugeschriebene“ oder „simulierte“ moralische Entscheidung mit einer tatsächlichen moralischen Entscheidung gleichzusetzen (siehe auch Rath 2019: 229, 232; Loh 2019: 97). Da die „Moral Maschine“ dazu genutzt werden soll, um Daten über moralische Entscheidungen beim Menschen zu sammeln, kann mit Hannah Arendt entgegnet werden, dass Moral nicht ausschließlich auf Mehrheitsentscheidungen oder der „Gewohnheit der Sitten“ resultieren sollte (Arendt 2012: 81; Reichmann 2019: 143/144). Selbst unter Zuhilfenahme der Argumentationsfigur des Konsequentialismus ist eine ethische Entscheidung in diesen Beispielen von vornherein ausgeschlossen, da dessen stärkstes Argument darin beruht, das „geringere Übel“ zu wählen und dadurch eine Risikominimierung für jeden einzelnen Verkehrsteilnehmer zu erreichen. Eine „Verrechenbarkeit“ von Menschenleben im Sinne des Opfers eines Menschen für andere bleibt jedoch unzulässiges Unrecht (BMVI 2017: 18). Vor dem Hintergrund dieser Argumentation sind Maschinen weder zu einer autonomen Urteilsfindung noch einer moralischen Entscheidung in der Lage (Weber 2019: 203; Wölm 2019). „Moralische Maschinen sind ein Gedankenexperiment, die Rede davon eine intellektuelle Spielerei wie die Quadratur des Kreises“ (Ulrich 2019: 250). Durchaus gibt es Szenarien, in denen eine Erweiterung dieser Feststellung möglich ist. Das bezieht sich auf die Berichte über immer komplexer werdende Aufgabenstellungen oder über Programierer*innen, die die Funktionsweise ihrer eigenen Algorithmen nicht verstehen (Saurwein 2019: 35/36; 40) sowie Beschreibungen einer „Emanzipation“ aufgrund der Techniken eigenständiger Wissensgenerierung (Thimm und Bächle 2019: 80; Hagendorff 2019: 127; Reichmann 2019: 144). Die Sicherstellung der Kontrollierbarkeit der Maschinen gilt hier als zentrales Element (Europäisches Parlament 2017, Abs. 3.). Weitere Fragen ergeben sich aus einer noch engeren körperlichen Verschmelzung von Mensch und Technik (Krotz 2019: 29) und dem Aufbau emotionaler Bindungen zu Robotern, insbesondere
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bei vulnerablen, schutzbedürftigen Zielgruppen, wie Kindern, älteren Menschen und Menschen mit Beeinträchtigungen, was wiederum dazu führt, dass die Anforderungen an die Tätigkeit, aber auch die Qualifikation der Beschäftigten, beim Einsatz der Technik höher werden und die Einrichtung von Ethikausschüssen gefordert wird (Europäisches Parlament 2017, Abs. 3., Abs. 33, Abs. 36). Die Notwendigkeit ethischer Fragestellungen reduziert sich jedoch nicht auf die Vorstellung moralischer Maschinen und Programmierungen, sondern ergibt sich aus der mediatisierten Welt und den damit verbundenen neuen Kommunikationsstrukturen, die menschliche Beziehungen charakterisieren, die sich aus den technischen Entwicklungen ergeben. Über die persönliche Ebene hinaus betrifft dieser Umstand die Neukonstruktion sozialer Rollen, die Veränderung von Institutionen und Organisationen sowie die Formierung neuer gesellschaftlicher, staatlicher und internationaler Austauschprozesse (Reichmann 2019: 143). Aus dieser Konstellation ergibt sich die Notwendigkeit der Neupositionierung im Rahmen der sich traditionell „objektiv“ und „wertneutral“ definierenden Natur- und Ingenieurwissenschaften, da insbesondere den Entwickler*innen und Programmierer*innen eine hohe Verantwortung für ihre Produkte zugeschrieben werden muss, was sich in der Entwicklung von Ethikkodizes, ethischen Leitlinien und Lizenzierungen für diese Berufsgruppen widerspiegelt (Jonas 2013: 107; Europäisches Parlament 2017, Abs. 11; Anhang; Saurwein 2019: 46). Darüber hinaus ist die Erweiterung der Verantwortung auf Herstellerfirmen und staatliche Organe gegeben, ebenso wie an die Nutzer*innen, die letztendlich über den Einsatz der Technik sowie den Dateninput bestimmen (Krotz 2019: 31; Saurwein 2019: 42). Grundlegend ist deshalb neben dem Thema Verantwortung auch die Klärung der Rollenzuständigkeit verbunden mit den Grundsatzaufgaben der „Überprüfbarkeit, Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Gerechtigkeit“ (Saurwein 2019: 45). Diese resultieren aus den Vernetzungen und Beteiligungen verschiedener Akteur*innen in der Entwicklung und Herstellung der neuen technischen Systeme, welche gleichzeitig mit einem hohen Expert*innenwissen verbunden sind (Saurwein 2019: 40). Unter den Bedingungen der globalisierten Welt stellt sich an diesem Punkt die Frage, durch welche Instanzen
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eine Kontrolle überhaupt möglich ist, wobei an dieser Stelle vier Überlegungen ineinandergreifen: a) „Die Technik, als enorm gesteigerte menschliche Macht“ (Jonas 2013: 429) impliziert eine moralische Prüfung hinsichtlich eines missbräuchlichen Einsatzes der technischen Entwicklungen zu inhumanen Zwecken und/oder der Vermehrung der eigenen Vorteile ohne Berücksichtigung anderer Interessen; b) Die unkalkulierbaren Nebenfolgen der reflexiven Moderne (Beck 1997: 298), was bedeutet, dass nicht nur der von vornherein machtmissbräuchliche Einsatz ethisch abzulehnen ist, sondern auch die Bereiche betroffen sind, in denen Technik für legitime und positiv bewertete Zwecke eingesetzt wird (Jonas 2013: 43); c) Daraus resultiert die Notwendigkeit der Einrichtung verschiedener Kontrollinstanzen mit dem Ziel der Gewaltenteilung auf nationaler und internationaler Ebene, verbunden mit der Forderung nach Schaffung staatlicher und juristischer Regelungen auf der einen Seite, dem Einbezug unabhängiger Instanzen mit der notwendigen Expertise auf der anderen Seite. Saurwein et al. (2017: 5) beschreiben ein Spektrum der Möglichkeiten zur Reduktion von Risiken von „(1) reinen Marktmechanismen, über (2) firmeninterne Selbstregulation, (3) kollektive Selbstregulierung von Branchen bis hin zur (4) Ko-Regulierung und (5) staatlicher Steuerung, z. B. in Form von ‚harter‘ hoheitlicher Regulierung am Ende des Spektrums“. Eine der Herausforderungen ist, z. B. beim Verbot bestimmter Technologien, dass Regelungen auf der staatlichen Ebene in der globalisierten Welt nur noch einen begrenzten Wirkungskreis haben. Besonders beim Thema der Algorithmen wird hier der Aspekt der „Governance“ und „Accountability“ diskutiert, also einer Kombination von einprogrammierten Kontrollmechanismen, die eine Nachvollziehbarkeit der Datenverarbeitung in Interaktion mit den Nutzer*innen sowie die Selektion von Informationen möglich machen soll, um mögliche Konsequenzen abschätzen zu können und den damit verbundenen, implementierten Regulierungsprozessen auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen gerecht zu werden (Saurwein 2019: 36–38). Die Offenlegung von Algorithmen und Software konterkariert jedoch in der Regel die Interessen der Unternehmen, ein Umstand, der als „Transparenzdilemma“ bezeichnet wird. Mit der Transparenz zu den Funktionsweisen der Programme steigt die Gefahr der Manipulation und Nachahmung.
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Im Bereich der unabhängigen Kontrollinstanzen formieren sich NGOs, wie „Alogrithm Watch“. Basis dieser Prozesse bildet jedoch die zivilgesellschaftliche Eingebundenheit von Kontroll- und Entscheidungsprozessen, welche auch mit dem Empowerment der Nutzer*innen und der damit verbundenen Medienbildung im Sinne der kritisch-mündigen (Medien-)bürger*innen verbunden ist. Besonders im Zentrum sollten hier Aspekte der Medienrezeption, der Glaubwürdigkeit von Informationen, der Kenntnis der Selektionsmechanismen von Algorithmen und ihrer Grenzen sowie eine erhöhte Sensibilität bzw. verbesserte Risikoeinschätzung über die Weitergabe persönlicher Daten stehen (Saurwein et al. 2017: 11).
9.6 Der Einfluss der Digitalisierung auf menschliche Entwicklung und Leistungsfähigkeit Unter dem Titel „Digitale Demenz“ veröffentlichte 2012 der Psychiater Manfred Spitzer ein populärwissenschaftliches Buch, in welchem er eindringlich und unter Bezugnahme auf verschiedene Ergebnisse aus Studien vor der Schädlichkeit der Mediennutzung für die Entwicklung von Kindern warnte. Im Anschluss an die vorhergehende Frage nach den wachsenden Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz ließe sich an dieser Stelle provokant die Frage formulieren: Sorgt die Digitalisierung dafür, dass die Maschinen immer leistungsfähiger werden, wohingegen sich die menschlichen Fähigkeiten zunehmend reduzieren? Seitdem sich aus pädagogischer Sicht mit dem Konsum von Medien beschäftigt wird, existiert die medienkritische Perspektive des Kulturpessimismus, welche verbunden ist mit den pädagogischen Strategien des „Bewahrens“ vor dem Medieneinfluss oder zumindest der „Kompensation“ der schädigenden Wirkungen (Süss et al. 2019: 7; 81). Diese zeichnet sich dadurch aus, dass den Medien ein negativer Einfluss auf die Moral und das Handeln von Heranwachsenden zugeschrieben
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wird, begründet dadurch, dass sie einerseits Inhalte transportieren, die als negative Verhaltensmodelle dienen können, andererseits, dass sie den Einfluss anderer Instanzen minimieren, indem sie die jungen Menschen in ihren Aktivitäten verstärkt in Anspruch nehmen, was wiederum Entwicklungsdefizite zur Folge haben kann. So kann es beispielsweise bei intensiver Mediennutzung der Kinder zu weniger Interaktionen in der Familie kommen. Für dieses Phänomen wird die Bezeichnung „Background-Medien-Effekt“ genutzt (Montag 2018: 31). Der medienkritischen Sichtweise steht eine medienoptimistische Perspektive gegenüber, deren Prognosen auf die großen Bildungspotenziale neu entwickelter Medien setzen. Diskutiert wird auf dieser Seite vor allem, wie der gezielte Einsatz von Medien zu Lernzuwächsen führen kann. Dabei ist durchaus zu unterscheiden, ob es sich um den Medieneinsatz in Bildungseinrichtungen handelt oder um die Hoffnung, dass über breit zugängliche Medien vermittelte Bildungsinhalte Kinder und Jugendliche erreichen, die ansonsten weniger Zugänge dazu haben. Diese Position ließe sich auf die Grundaussage subsumieren, dass Mediennutzung zu einer Kompetenz- und Wissenserweiterung führen kann, vorausgesetzt, es werden die entsprechenden Inhalte ansprechend präsentiert (Süss et al. 2019: 11/12). Dass die Nutzung digitaler Medien Einfluss auf die Entwicklung und das Lernen von Heranwachsenden hat, ist nicht von der Hand zu weisen. Schwieriger ist jedoch die Beantwortung der Frage, in welchem Ausmaß und mit welchen Konsequenzen für die Gesamtentwicklung das der Fall ist. Die Forschungslage ist sehr heterogen, unter anderem bezogen auf die Frage, welche Aspekte der Mediennutzung untersucht werden. • Intensive Mediennutzung hat einen negativen Einfluss auf die kognitiven und sozialen Fähigkeiten von Kindern sowie das psychische Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit bei Heranwachsenden und jungen Erwachsenen (Nathanson 2014; Nikkelen et al. 2014; Montag 2018). Hinsichtlich der besonderen Entwicklungssituation von Kindern muss jedoch festgehalten werden, dass ein hoher Medienkonsum häufig in Kombination mit anderen
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Risikofaktoren für die Entwicklung einhergeht, wie z. B. eingeschränkte Freizeitmöglichkeiten, anregungsarme Umgebung, fehlende, ausgleichende Interaktionen mit Eltern und anderen Bezugspersonen. In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Mediennutzung und psychischen Wohlbefinden wird von einem wechselseitigen Einflussverhältnis ausgegangen, was bedeutet, dass Menschen, die sich als isoliert und unzufrieden erleben, häufiger Medien nutzen. Ein Zusammenhang zwischen der Facebooknutzung und depressiver Symptome konnte nur gefunden werden, wenn durch soziale Vergleichsprozesse Selbstabwertungen stattfanden (Montag 2018: 7). • Die Nutzung von Computern im Unterricht verleitet zu mehr Ablenkung und Multitasking, was eine größere Unzufriedenheit und schlechtere Leistungen (Burak 2012; Lepp et al. 2014) zur Folge hat. Das gilt nicht nur für Nutzer*innen, sondern auch für die Peers (Sana et al. 2013). Computernutzer*innen konnten weniger richtige Antworten in einem Test über den Inhalt der Stunde geben, als andere Unterrichtsteilnehmer*innen (Burak 2012). Dass Multitasking Aufmerksamkeit und Konzentration beeinträchtigt, das Stresserleben verstärkt und zu einer höheren Fehlerhäufigkeit führt, haben Rubinstein et al. (2001) belegt. Für den Unterricht gilt jedoch, dass neben der, mit der Computernutzung zusammenhängenden Ablenkung, wiederum weitere Variablen die Ergebnisse beeinflussen können: Interesse am Stoff, Art der Vermittlung, Lernklima etc. • Eine weitere Gruppe von Studien bezieht sich auf den Vergleich der Computernutzung im Vergleich zu traditionellen Techniken und Medien, wie Handschreiben und Lesen von Texten auf Papier. Aus den Ergebnissen der Metaanalyse von Kong et al. (2018) zeigt sich eine Tendenz zu besseren Leseleistungen bei Texten, insbesondere beim Verstehen des Inhalts, wenn diese auf Papier gelesen wurden. Einbezogen wurden Ergebnisse von Studien, in denen das Lesen von Texten auf Papier und auf dem Bildschirm verglichen wurde. • Texte auf dem Bildschirm werden mit weniger Aufmerksamkeit und mit anderen Lesestrategien gelesen. Unterschiede in der Lesegeschwindigkeit ergaben sich nicht. Kinder, die Buchstaben mit der
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Hand schrieben, konnten sich besser an diese erinnern als Kinder, die diese auf der Tastatur getippt hatten. Die Autor*innen argumentieren hier mit der stärkeren Verarbeitungstiefe bei motorisch begleiteten Lernprozessen (Longcamp et al. 2005). Tan et al. (2013) zeigte die positiven Auswirkungen des Handschreibens auf die Lesekompetenz von Kindern beim Erwerb der chinesischen Schriftzeichen. Auch beim Notizenmachen zeigten sich Vorteile hinsichtlich des Schreibens mit der Hand gegenüber der Nutzung des Laptops. Darüber hinaus führte die Nutzung des Laptops zu mehr Ablenkung und größerer Unzufriedenheit (Mueller und Oppenheimer 2014). Kong et al. (2018) weisen auf den „Publikationseffekt“ hin, der die Forschungslage beeinflusst, dass Studien häufig nur dann veröffentlicht werden, wenn ein Effekt nachgewiesen wurde, während Studien, in denen die Auswirkungen nicht bestätigt werden konnten, kaum veröffentlicht werden. Bei genauerer Analyse zeigt sich durchaus ein relativierender Blick auf die „Schädlichkeit der Medien“. Auf der Gegenseite der kulturpessimistischen Perspektive findet sich der Medienoptimismus, in dessen Zentrum die Erweiterung der Möglichkeiten insbesondere in der Pädagogik und der Lerntechniken stehen. Die große Euphorie der Revolutionierung des Bildungssektors durch ein neues Medienangebot wurde zum wiederholten Male enttäuscht. Ebenso erfolgte eine Ernüchterung bei den MOOCs (Massive Open Online Courses) in den letzten Jahren. Eine direkte Kommunikation ist in der Bildung nicht zu ersetzen (Küppers 2018: 368). Zusammenfassend kann aus Stand der Forschung resümiert werden, dass sich zwar eine Wirksamkeit multimedialer Lernmedien abzeichnet, aber kein automatischer Lernerfolg durch die Nutzung von Medienangeboten garantiert ist. So erfordert ein Lernen über Medien hohe Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten und metakognitiven Strategien der Lernenden. Auch in der Konzeption und der didaktischen Ausgestaltung erweisen sich diese Lernangebote als sehr aufwendig (Trepte und Reinecke 2019: 89). Süss et al. (2019: 7, 84) formulieren als dritte Position den „Kritischen Optimismus“, in dessen Zentrum sowohl die Reflexion
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der Ressourcen als auch die Risiken der Mediennutzung stehen. Als Strategien der Medienpädagogik können hier „Aufklärung“, „Reflexion“ und „Handlungsorientierung“ genannt werden. Aufgrund der mediendurchdrungenen Alltagswelten und der zunehmenden Bedeutung in der Arbeitsweilt wird der sichere Umgang mit Medien als Grundkompetenz für Heranwachsende eingestuft (Scheer und Wachter 2018: 82). Im Zusammenhang mit der Digitalisierung und Mediennutzung von Heranwachsenden (und Erwachsenen) können folgende Fragen an die noch junge Disziplin der Medienpädagogik (Süss et al. 2019: 15) gerichtet werden: • Wie lässt sich eine gute Balance zwischen analoger und digitaler Welt herstellen? Kinder brauchen direkte Interaktionen zu Bezugspersonen, sie benötigen Möglichkeiten zum Spielen und zur Bewegung. Es stellt sich hier die Frage nach dem Einstiegsalter für die Nutzung einzelner Medien, nach der Art, Dauer und dem Umfang der Nutzung sowie den Inhalten. • Wie lässt sich die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen begleiten, d. h. welche Angebote können auf welcher Ebene zur Verfügung gestellt werden, wenn Risiken im Kontext der Mediennutzung auftreten? Wie kann präventiv gearbeitet werden? • Wie lässt sich Medienkompetenz und Computer Literacy ausbilden? Ab welchem Alter sind entsprechende Angebote sinnvoll? Wie hängen diese Kompetenzen mit anderen Fähigkeiten zusammen? Auf welche Weise können diese an der allgemeinbildenden Schule vermittelt werden? Und in welchen Bereichen ist eine Unterstützung von Lernprozessen durch Medien sinnvoll? Gerade vor dem Hintergrund der ethischen Herausforderungen und der Transparenz der neuen technischen Möglichkeiten gewinnen diese Fragen an Bedeutung. Darüber hinaus etablieren sich Wissen und die Fähigkeit des Umgangs mit Informationen als zentrale Werte der modernen Gesellschaft. „Schlimmer als denkende Maschinen sind Menschen, die nicht nachdenken“ (Natur, zit. nach Küppers 2018: 224).
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9.7 Technischer Fortschritt und gesellschaftliche Auswirkungen Bereits 1931 warnte der Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes vor erhöhter Arbeitslosigkeit, bedingt durch die Einsparungen, die durch den vermehrten Einsatz von Technik möglich werden (Schwab 2016: 56). Die neuen Technologien werden, so die Voraussagen, die Erwerbsarbeit neu definieren. Aus dem komplexen Zusammenspiel wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Akteure lassen sich, trotz der Unsicherheiten der Prognosen, bereits heute folgende Argumentationslinien skizzieren: 1. Die Substitution von Arbeitsplätzen betrifft vorrangig manuelle, mechanische und gut kontrollierbare Aufgaben. Bereits heute steigen die Qualifikations- und Leistungsanforderungen an Arbeitnehmer*innen. Die zentralen Einheiten der modernen Arbeitswelt sind Wissen und Informationen, deren Zuwachs und Schnelllebigkeit zu höheren Belastungen und Flexibilität führen können. Diese Konstellation ist ein Erklärungsmodell im Hinblick auf die Zunahme psychischer Erkrankungen von Arbeitsnehmer*innen und deren Ausscheiden aus dem Arbeitsleben (BPtK 2013: 34). 2. Anschließend an die gut gesicherte Hypothese des Verlusts traditioneller Arbeitsplätze lassen sich drei Szenarien anschließen: a) Im Sinne der Prosperitätshypothese (Dörre 2015: 270–273) entwickelt das Wirtschaftssystem eine neue Dynamik, angestoßen durch neue Produktentwicklungen und Nachfrage nach innovativen Gütern und Dienstleistungen, welche zur Entstehung neuer Berufszweige führen (Frey & Osbone 2013: 13; Schwab 2016: 57). b) Die Veränderungen des Arbeitsmarktes bedingen eine neue Gestaltung und Verlagerung von Aufgabenfeldern. Die „Gestaltungsthese“ (Dörre 2015: 276–279) besagt, dass einerseits ein Ringen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen einsetzt, andererseits die Bedeutung und der Umfang von Arbeitsplätzen im Sozial- und Gesundheitswesen und im öffentlichen Bereich zunimmt, die unter anderem auch der (Wieder-)herstellung von Arbeitskraft dienen.
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c) Parallel stellt sich die Frage, ob das Modell der Erwerbsarbeit als Grundlage des individuellen und gesellschaftlichen Lebens weiterhin Stabilität hat. Die Frage zielt einerseits auf die Tendenz der dauerhaften Exklusion von Menschen aus dem Arbeitsleben aufgrund des Nicht – (Mehr) -Erfüllen-Könnens der Anforderungen, andererseits auf das Anwachsen prekärer Beschäftigungs-verhältnisse durch eine erhöhte Flexibilisierung und fluider Beschäftigung von bezahlter und unbezahlter Arbeit. Lenzen (2018: 198) verweist jedoch darauf, dass die Einführung neuer Technologien kurzfristig zu Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt geführt haben, langfristig jedoch zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen führen werden und Chancen, die sich unter Berücksichtigung des demografischen Wandels in den Industrieländern ergeben. 3. Erwerbstätigkeit bildet für die privaten Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland die wichtigste Einkommensquelle, an die in der Regel auch die individuelle soziale Sicherung gekoppelt ist. Ebenso bilden die Einnahmen aus der Lohnsteuer und einkommensbasierte Transfers wichtige Säulen der öffentlichen Haushalte (BMAS 2013: XI; BMAS 2017: XI). Eine Verringerung der Einnahmen auf der einen Seite und eine Erweiterung der Ausgaben, bedingt durch Aufgabenverschiebungen oder anwachsende soziale Problemlagen, auf der anderen Seite führen zu neuen Herausforderungen. Diskutiert werden in diesem Zusammenhang neue Modelle der Besteuerung, z. B. in Form einer Maschinensteuer (Brynjolfsson & McAfee 2014), sowie die Entkopplung der Sozial- und Grundsicherung vom Einkommenssystem. 4. Sowohl in der Bundesrepublik als auch weltweit zeichnet sich in der in der Verteilung von Einkommen und Vermögen eine zunehmende Ungleichverteilung ab. Soziale Ungleichheit geht in der Bundesrepublik Deutschland mit einer höheren Wahrscheinlichkeit geringerer Bildungschancen für Kinder aus armen Familien und Risikokonstellationen der Gefährdung der Gesundheit der von Armut und/oder Erwerbslosigkeit betroffenen Personen einher. Über die Faktoren „Einkommen“ und „Bildung“ wirkt sich die zunehmende soziale Ungleichheit auf das Institutionsvertrauen und
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die Demokratiezufriedenheit aus (Schäfer 2010; Küppers 2014). In Verbindung mit der weltweiten Ungleichverteilung von Ressourcen und Chancen kann geschlussfolgert werden, dass die Stabilität der politischen Systeme der Welt vor der Herausforderung einer Ausbalancierung steht. Diese muss neben den bereits erwähnten technologisch-wirtschaftlichen und sozialen auch die ökologischen Risken berücksichtigen. Ausgehend von dem Szenario, dass diese Bewältigung nicht gelingt, formuliert Dörre (2015: 273–276) die Strukturthese. Kern der Aussage ist, dass bei einer Zuspitzung der Ungleichheit und Zunahme der unzufriedenen Bevölkerungsanteile eine Stabilisierung nicht mehr möglich ist und der Zusammenbruch des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems folgt. Dieser Zusammenbruch führt zu einer kompletten Neuinterpretation und -strukturierung der Systeme. Aus den Herausforderungen der Digitalisierung ergibt sich die Forderung nach der Neuregulierung des Verhältnisses der Weltwirtschaft und der Weltgesellschaft hinsichtlich der Gestaltung der Arbeitswelt und des Sozialstaates unter einer stärkeren Prämisse der Maxime der Solidarität in Verbindung mit Einungen über Regelungen der Weltwirtschaft und der Definition sowie dem Umgang mit öffentlichen Gütern, v. a. den natürlichen Ressourcen der Natur (Schwab 2016: 109–112; Jischa 2014: 234). In diesem Sinne erweitert sich auch der Kanon der Kantischen Fragen: „Was kann, soll, darf ich herstellen? Was erhoffe ich mir durch die Technik?“ (Müller 2010: 59). Wichtig ist eine interdisziplinäre Forschung, gefördert durch öffentliche Geldgeber, zu den großen grundlegenden Fragen der neuen Technologien und der damit zusammenhängenden Faktoren (Future of Life 2016; Jischa 2014: 234). Ebenso braucht es Investitionen in Bildung unter den Aspekten des Empowerments (bzw. der Mündigkeit) sowohl in der allgemeinen Bildung und insbesondere im Bereich der Medienkompetenz. Letztendlich stellt sich die uralte Frage nach dem Wesen des Menschen in all seinen Facetten. Schon dieses Nachdenken birgt Veränderungspotenzial: „Deshalb wird er [der Mensch] als einziges Seiendes durch die Erkenntnis verändert“ (Landmann 1982: 9).
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10 Der Dieselskandal Thomas Link
Zusammenfassung Im folgenden Artikel soll die Frage diskutiert werden, ob ethische Regeln eine geeignete Handlungsempfehlung im Dieselskandal gewesen wären. Dazu wird erst ein kurzer Überblick über Schadstoffe und die Schadstoffentstehung gegeben und dann werden die Möglichkeiten zur Abgasreinigung erläutert. Anschließend wird die regulatorische Seite der Emissionsmessung bei der Typzulassung von Kraftfahrzeugen beleuchtet und ein Fazit gezogen.
T. Link (*) Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_10
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Abstract The following article will discuss the question whether ethical rules would have been a suitable recommendation for action in the diesel scandal. First, a brief overview of pollutants and the generation of pollutants is given and then the possibilities for exhaust gas purification are explained. Then the regulatory side of emission measurement in the type approval of motor vehicles is examined and a conclusion is drawn. Schlüsselwörter Dieselskandal · Ethischen Grundsätze des Vereins Deutscher Ingenieure
10.1 Der Dieselskandal im Überblick Was genau unter dem Dieselskandal zu verstehen ist, hängt von Betrachter ab. In den Medien wurde das Thema präsent, als beispielsweise der Spiegel am 19.09.2015 einen Artikel mit dem Titel: „[Die US-amerikanische, der Autor] Umweltbehörde fordert Rückruf von fast 500.000 VW“ (Der Spiegel 2015a) veröffentlichte. Am darauffolgenden Montag fiel die VW-Aktie zeitweise um fast 23 %, was einem Wertverlust des Unternehmens von 15 Mrd. EUR entsprach (Der Spiegel 2015b). Die Tatsachen, die hier ans Tageslicht kamen, können durchaus als „Spitze des Eisbergs“ des Dieselskandals bezeichnet werden. VW hatte, um die Zulassung seiner Fahrzeuge in den USA zu bekommen, den Abgastest durch einen Scheintest ersetzt. Die Fahrzeuge erkannten den Testmodus und wurden durch die Motorsteuerung so eingestellt, dass die einzuhaltenden Grenzwerte erreicht wurden (Hengstenberg und Hucko 2015). Das Fehlverhalten von VW wurde in den USA bereits juristisch aufgearbeitet, wobei aber weitere Verfahren, insbesondere in Deutschland, noch anhängig sind. Der Umstand, dass ein deutsches Unternehmen in diesem Maße Verbraucher und Behörden getäuscht hatte, blieb auch für die restliche Automobilindustrie nicht ohne Folgen. Es war schon vorher bekannt, dass zwischen den für die Typzulassung von Kraftfahrzeugen ermittelten Emissionswerten und den real auftretenden Emissionen Abweichungen bestehen (Der Spiegel 2015c). Das grundsätzliche Vorgehen, bestimmte Eigenschaften von technischen Produkten mit standardisierten Tests zu überprüfen, ist eine
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durchaus dem Stand der Technik entsprechende Verfahrensweise. Die Vorteile der Methode bestehen unter anderem darin, dass vergleichbare Testbedingungen auf diesem Weg mit vertretbarem Aufwand hergestellt und die Tests nachgeprüft werden können. Eine Abweichung von der Realität kann dabei in vielen Fällen ohne Weiteres akzeptiert werden, solange die Sinnhaftigkeit der Prüfung erhalten bleibt. Beispielsweise würde man ein Hebezeug dadurch prüfen, dass in der Prüfung ein höheres Gewicht gehoben werden muss als im nachträglichen Betrieb. Dieser einfache Fall wird zwar der Komplexität einer Emissionsmessung an Fahrzeugen nicht ganz gerecht, zeigt aber, dass ein Test auch so gestaltet werden kann, dass die gewünschten Produktanforderungen überschritten werden müssen, um diesen zu bestehen. Die oben genannten Abweichungen zwischen den Emissionen im Zulassungstest und der Realität kommen allerdings nicht nur aus dem eigentlichen Testablauf zustande, sondern auch aus dem extensiven Einsatz von sogenannten Abschalteinrichtungen. Abschalteinrichtungen sind meist in der Motorsteuerung hinterlegte Prozeduren, die die Abgasreinigung nach bestimmten Kriterien außer Betrieb nehmen. Ihr Einsatz ist nicht grundsätzlich verboten, sondern unter bestimmten Umständen zulässig.
10.2 Schadstoffe und Schadstoffbildung Bei einer Verbrennung entstehen im Allgemeinen Schadstoffe. Als Schadstoffe werden Stoffe bezeichnet, die eine schädigende Wirkung auf ihre Umwelt haben. Dies gilt für fast alle Verbrennungsvorgänge, egal ob diese natürlichen oder technischen Ursprungs sind. Die Schadstoffe werden beispielsweise durch eine unvollkommene Verbrennung oder durch ungewollte, aber nicht zu vermeidende, chemische Reaktionen der beteiligten Stoffe verursacht. Da die Schadstoffbildung durch die Art und Weise, wie eine Verbrennung stattfindet, beeinflusst werden kann, emittieren natürliche Brandherde wie z. B. Waldoder Buschbrände relativ gesehen mehr Schadstoffe als technisch geführte Feuerungen in Motoren oder Kesseln. Das Emittieren von Schadstoffen führt zu Gesundheitsbeeinträchtigungen von Menschen,
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die den Emissionen ausgesetzt sind, wie im folgenden Abschnitt dargestellt wird. Emissionen von Schadstoffen sollten daher in jedem Fall reglementiert werden. Versuche von Interessenvereinigungen (Preker 2018), europaweite Grenzwerte für Schadstoffe infrage zu stellen, sind vor diesem Hintergrund fragwürdig. In Fahrzeugmotoren werden neben weniger verbreiteten Brennstoffen wie Erdgas oder Autogas Diesel und Benzin eingesetzt. Diesel und Benzin sind beides Kohlenwasserstoffe, die aus Kohlenstoffund Wasserstoffatomen bestehen. Bei einer idealen Verbrennung werden die Bestandteile des Brennstoffs vollständig oxidiert. Die Verbrennungsprodukte sind Wasserdampf und Kohlendioxid. Auch wenn sich der Kohlendioxidausstoß immer deutlicher als die wesentliche Herausforderung dieses Jahrhunderts herausstellt, wird Kohlendioxid definitionsgemäß nicht als Schadstoff betrachtet. Die Schadstoffe, die von Fahrzeugmotoren emittiert werden, ordnen sich in Gruppen. Die medizinische Wirkung der Schadstoff kann im Rahmen dieses Textes nur angerissen werden. Der interessierte Leser sei an dieser Stelle auf einschlägige Fachliteratur, zum Beispiel (Kurzweil 2016), verwiesen. Die erste Gruppe sind Kohlenwasserstoffverbindungen, die aufgrund einer unvollständigen Verbrennung im Motor entstehen. Kohlenstoffverbindungen sind vom typischen Abgasgeruch begleitet und heute eher bei Kleinmotoren, beispielsweise des Rasenmähers oder des Laubbläsers zu finden. Neben unverbrannten Kraftstoffresten, die weniger gesundheitsschädlich sind, werden aber auch giftige und krebserregende Aromaten emittiert (Borgeest 2017). Die zweite Gruppe sind die Partikel. Die Partikel bei Viertaktmotoren bestehen aus Ruß, auf deren Oberfläche polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) angelagert sind. Die PAK sind krebserregend. Bei den Partikeln spielt die Partikelgröße eine wesentliche Rolle, da kleine Partikel lungengängig sind und durch die Lunge auch in den Blutkreislauf aufgenommen werden können. Weiterhin entstehen bei der Verbrennung Kohlenmonoxid und Stickoxide. Kohlenmonoxid ist toxisch, da es die Sauerstoffaufnahme des Blutes verringert. Lebensgefährliche oder tödliche Vorfälle mit Kohlenmonoxid kommen aufgrund von schadhaften Heizungsfeuerungen oder Heizgeräten vor. Die bei der motorischen Verbrennung gebildeten
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Stickoxide sind im Wesentlichen NO und NO2. Während NO ein kurzlebiges Gas mit toxischen Eigenschaften für das Blut darstellt, reizt und schädigt NO2 die Atemwege. Darüber hinaus ist NO2 an der Entstehung von saurem Regen beteiligt (Borgeest 2017). Die motorisch gebildeten Schadstoffe machen zwar nur einen kleinen Bruchteil des Gesamtabgases eines Motors aus, werden aber durch die Vielzahl von Verbrennungsmotoren zum Problem.
10.3 Möglichkeiten der Schadstoffminimierung Die Menge der genannten Schadstoffe hängt vom Verbrennungsprozess ab und kann durch verschiedene Maßnahmen beeinflusst werden. Hierbei entsteht allerdings ein Zielkonflikt. Die Entstehung von Kohlenwasserstoffen und Kohlenmonoxid sind Zeichen einer unvollständigen Verbrennung. Diese kann beispielsweise an den Zylinderwänden des Brennraums stattfinden, da dort aufgrund der notwendigen Kühlung des Zylinders niedrigere Temperaturen vorherrschen als im Zentrum des Brennraums. Die Temperatur an der Zylinderwand darf die für das Zylindermaterial zulässigen Grenzwerte nicht überschreiten. Anderseits beeinflusst sie aber auch die Reaktionsgeschwindigkeit. Je höher die Temperatur ist, um so schneller laufen die chemischen Reaktionen der Verbrennung ab. Um eine vollständige Verbrennung zu erhalten, sind hohe Temperaturen anzustreben. Ähnliches gilt bei der Partikelentstehung. Partikel entstehen in Bereichen, in denen die Durchmischung zwischen Luft und Brennstoff nicht ausreichend ist, um den Brennstoff vollständig zu verbrennen. Bei der Entstehung von Stickoxiden gelten im Grunde genommen die gleichen Regeln. Auch hier wird die Reaktionsgeschwindigkeit durch die Temperatur beeinflusst. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass chemische Reaktionen von Stickstoffmolekülen generell unerwünscht sind, da diese eine Schadstoffproduktion zur Folge haben. Zur Minimierung der motorischen Schadstoffe stehen verschiedene technische Verfahren zur Verfügung. Als Beispiel dafür wird die Abgasnachbehandlung in modernen Dieselmotoren herangezogen. Dies zeigt, dass eine technische Lösung des Dieselabgasproblems durchaus möglich ist.
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Für die Abgasnachbehandlung, die dem derzeitigen Stand der Technik entspricht und in der Lage ist, die aktuellen Schadstoffgrenzwerte einzuhalten, werden verschiedene Teilsysteme eingesetzt. Für die Umwandlung von Kohlenmonoxid und Kohlenwasserstoffen wird ein Oxidationskatalysator verwendet. Dieser beschleunigt als Katalysator die Reaktionen zwischen den genannten Komponenten und dem im Abgas verbliebenen Sauerstoff zu Kohlendioxid. Daran anschließend folgt ein Partikelfilter. Der Partikelfilter scheidet die Partikel mechanisch durch eine Filtration aus dem Abgas ab. Während das Abscheiden unproblematisch funktioniert, ist hier eher die Frage nach einer hohen Betriebszeit des Filters von Bedeutung. Um diese zu erreichen, wird der Filter in bestimmten Abständen gereinigt. Hierzu ist es notwendig, dass eine Temperatur von etwa 600 °C im Filter vorherrscht. Die Temperatur kann sich entweder aus dem Einsatz des Motors z. B. durch eine längere Autobahnfahrt mit höherer Geschwindigkeit oder aus einem für diesen Zweck vorgesehenen Betriebszustand ergeben (Schreiner 2017). Bei der Reinigung werden die Partikel verbrannt und damit die Lebensdauer des Filters erhöht. Die letzte Stufe der Abgasnachbehandlung verringert die Stickoxide im Abgas. Eine Möglichkeit hierzu stellt die selektive katalytische Reduktion (SCR) dar. Bei der SCR wird eine als AdBlue bezeichnete wässrige Harnstofflösung in das Abgas eingespritzt. Der in der Harnstofflösung enthaltene Ammoniak reagiert im SCR-Katalysator mit den Stickoxiden zu reinem Stickstoff und Wasser. Für den Betrieb des SCR-Katalysators ist damit ein zusätzlicher Betriebsstoff für das Fahrzeug notwendig, der mitgeführt und nachgetankt werden muss. Die Reduzierung der Stickoxide beginnt allerdings schon während der Verbrennung. Durch eine Abgasrückführung wird Abgas aus dem Abgastrakt in den Motor zurückgeführt. Hiermit kann die Verbrennungstemperatur abgesenkt werden. Die Absenkung der Temperatur führt zu einer verminderten Bildung von Stickoxiden. Die Kombination der Abgasrückführung und des SCR-Katalysators ermöglicht es, bei der Auslegung von Dieselmotoren die Stickoxide soweit zu reduzieren, dass die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden können und gleichzeitig der im Betrieb eines Dieselmotors entstehende Zusatzaufwand in einem akzeptablen Rahmen bleibt. Unter Zusatzaufwand ist
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hierbei das Nachtanken des AdBlue sowie das durch den AdBlue-Tank geschmälerte Raumangebot zu verstehen. Neben der technischen und umweltrelevanten Seite des Dieselskandals spielt auch die rechtliche Seite eine wesentliche Rolle. Die zulässigen Emissionen von Diesel-PKW im betreffenden Zeitraum werden durch die EU-Verordnung 715/2007 über die Typzulassung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (EUR 5 und EUR 6) bestimmt. In ihrer Präambel sind die Ziele der Verordnung beschrieben. Ein Schwerpunkt bezieht sich auf die Luftreinhaltung in Europa und die dazu notwendigen Mittel. In Absatz 6 wird hierzu in Bezug auf Dieselmotoren festgestellt: Zur Verbesserung der Luftqualität und zur Einhaltung der Luftverschmutzungsgrenzwerte ist insbesondere eine erhebliche Minderung der Stickstoffoxidemissionen bei Dieselfahrzeugen erforderlich. Dabei ist es notwendig, in der Euro-6-Stufe ambitionierte Grenzwerte zu erreichen, ohne die Vorteile des Dieselmotors beim Kraftstoffverbrauch und bei der Kohlenwasserstoff- und Kohlenmonoxidemission aufgeben zu müssen.
Neben der klaren Stellungnahme in der Präambel lässt aber die Richtlinie auch einen gewissen Interpretationsspielraum für die Fahrzeughersteller offen, der durch die mögliche Zulässigkeit von Abschalteinrichtungen im Artikel 5, Absatz 2, gegeben ist. Dort findet sich die folgende Formulierung: „Die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist unzulässig. Dies ist nicht der Fall, wenn: a) die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten; […]“
10.4 Ethisches Fehlverhalten im Dieselskandal Die gesetzlichen Regelungen zum Einsatz von Abschalteinrichtungen können, wenn sie rein auf Basis des vorliegenden Paragrafen angewendet werden, missbräuchlich ausgelegt werden. Eine Problemstellung, auf
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die Absatz 2 angewendet werden kann, ist die Stickoxidreduzierung mittels eines Abgasrückführventils. Das Ventil befindet sich im Abgasstrom und ist daher einer hohen thermischen Belastung und Verschmutzung durch Partikel im Abgas ausgesetzt. Eine Möglichkeit, die Lebensdauer des Ventils zu erhöhen und damit den Motor vor Beschädigung zu schützen, besteht darin, das Ventil geschlossen zu halten. Dies kommt einer Abschaltung der Abgasreinigungseinrichtung gleich, die nach Absatz 2 mit dem Ziel, den Motor vor Beschädigung zu schützen, möglich ist. Sobald aber die wortwörtliche Auslegung in den Gesamtzusammenhang eingeordnet wird, ist es offensichtlich, dass das Ziel der Verordnung 715/2007 nicht darin besteht, Abgasreinigungseinrichtungen zu konstruieren, die im normalen Betrieb des Motors abgeschaltet werden. Zieht man die „Ethischen Grundsätze“ des VDI zurate, so lässt sich dort folgende Ausführung finden (VDI 2002): Ingenieurinnen und Ingenieure sind sich der Einbettung technischer Systeme in gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Zusammenhänge bewusst und berücksichtigen entsprechende Kriterien bei der Technikgestaltung, die auch die Handlungsbedingungen künftiger Generationen achtet: Funktionsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit, Wohlstand, Sicherheit, Gesundheit, Umweltqualität, Persönlichkeitsentfaltung und Gesellschaftsqualität (VDI 3780).
Ethisches Handeln ist dadurch gekennzeichnet, moralische Grundwerte zu wahren. Es schließt daher aus, Regulationslücken zum persönlichen oder unternehmerischen Vorteil auszunutzen, wenn diese gegen die oben postulierten Grundsätze verstoßen.
10.5 Fazit Der Dieselskandal wirft aber noch eine Reihe weiterer Fragen auf, die auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden sollen: • Wieso gab es keine Whistleblower? Die Entwicklung von Dieselmotoren ist komplex. Auch wenn seitens der beteiligten Automobilkonzerne die
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Verantwortung häufig bei einzelnen Personen gesehen wird, müssen zumindest größere Teams davon gewusst haben. • Wie gestaltet sich eine Unternehmenskultur, die solche Geschehnisse nicht verhindert? Betrachtet man wiederum den VW-Konzern, war der Dieselskandal für das Unternehmen existenzgefährdend. Auch wenn die Beteiligten das Unternehmenswohl über das Gemeinwohl gestellt haben, liegt es auf der Hand, dass es keine nachhaltige Unternehmensentwicklung ist, Produkte anzubieten, die nicht regelkonform sind. • Kann es wirklich sein, dass einzelne Mitarbeiter unabhängig vom Management Entscheidungen mit solcher Tragweite treffen können? Hierbei kann man sich leicht vorstellen, unter welchem persönlichen Druck solche Entscheidungen getroffen werden müssten. Aufgrund seiner Stellung wird der Betreffende die Konsequenzen seiner Handlung abschätzen können. Er weiß daher, dass eine solches Vorgehen gegen geltendes Recht verstößt und er gleichzeitig seine Tat im Unternehmen verschleiern müsste. Die Tragweite, die technische Systeme erreicht haben, ist so immens, dass die Beschränkung der Ingenieurssicht auf den technischen Sachverhalt nicht mehr ausreichend erscheint. Ethische Grundsätze sind in diesem Zusammenhang ein Leitfaden, der zu vertretbarem Handeln anleitet. Die Curricula der deutschen Hochschulen werden dieser Fragestellung nur selten gerecht und konzentrieren sich auf die ingenieurwissenschaftlichen Kernfächer. Sie lassen an dieser Stelle ihre Absolventinnen und Absolventen in einem Gebiet allein, wo ein Impuls von außen helfen könnte, in beruflichen Konfliktsituationen das Richtige zu tun.
Regelwerke Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (EUR 5 und EUR 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge, Amtsblatt der Europäischen Union (2007).
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Quellen Borgeest, K. (2017) Manipulation von Abgaswerten, Springer Fachmedien: Wiesbaden Der Spiegel (2015a) Umweltbehörde fordert Rückruf von fast 500.000 VW. https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/usa-umweltbehoerdefordert-rueckruf-von-fast-500-000-vw-autos-a-1053747.html, abgerufen am 30.12.2019 Der Spiegel (2015b) Der Absturz. https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/volkwagen-aktie-in-der-abgasaffaere-der-absturz-a-1054001.html, abgerufen am 30.12.2019 Der Spiegel (2015c) Die dreckige Wahrheit über Dieselautos. https://www. spiegel.de/auto/aktuell/abgastest-wltp-die-dreckige-wahrheit-ueberdieselautos-a-1051073.html, abgerufen am 31.12.2019 Hengstenberg, M, Hucko, M. (2015) Was wir bisher wissen – und was nicht. Der Spiegel, https://www.spiegel.de/auto/aktuell/volkswagen-wie-vw-in-denusa-abgasmessungen-manipulierte-a-1054241.html, abgerufen am 31.12.2019 Kurzweil, P. (2016) Toxikologie und Gefahrstoffe: Gifte – Wirkungen – Arbeitssicherheit, Verlag Europa-Lehrmittel: Haan Preker, A. (2018) Was hinter den Versuchen der Autokonzerne steckt. https:// www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/vw-daimler-bmw-abgastestsan-menschen-und-affen-der-ueberblick-a-1190336.html, abgerufen am 03.01.2020 Schreiner, K. (2017) Verbrennungsmotor – kurz und bündig, Springer Fachmedien: Wiesbaden VDI (2002) Ethische Grundsätze des Ingenieurberufs. Verein Deutscher Ingenieure: Düsseldorf Thomas Link ist Professor für Kraft- und Arbeitsmaschinen im Studiengang Regenerative Energietechnik und Prodekan des Fachbereiches Ingenieurwissenschaften der Hochschule Nordhausen. Zu Beginn seiner Laufbahn absolvierte Thomas Link eine Lehre als Industriemechaniker. Danach studierte er Konstruktionstechnik an der Rheinischen Fachhochschule Köln und dann Maschinenbau an der RWTH Aachen. Dort war er auch wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Strahlantriebe und Turboarbeitsmaschinen. Außerdem war er tätig für die RWE AG und die Atlas Copco Energas GmbH.
11 Grenzenlos mobil? Eine ethische Betrachtung unseres Verkehrs- und Mobilitätssystems Matthias Gather und Claudia Hille
Zusammenfassung Der Beitrag beleuchtet anhand der drei ethischen Leitlinien Gewährleistung von individueller Freiheit (1), Gerechtigkeit (2) sowie Umweltverträglichkeit und Ressourceneffizienz (3) unser Mobilitäts- und Verkehrssystem. Nach einer Einführung in die Problematik und der Definition zentraler Begrifflichkeiten zeigt der Beitrag die Herausforderungen auf mit denen eine mobile Gesellschaft konfrontiert ist. Der Beitrag dokumentiert dabei die Dilemmata zwischen individueller Bedürfnisbefriedigung und gesellschaftlichen Kosten. Abschließend wird kritisch diskutiert inwieweit individuelles ethisches Handeln zur Lösung verkehrs- wie gesellschaftspolitscher Probleme beitragen kann oder ob es vielmehr nationale oder gar supranationale Lösungen braucht.
M. Gather (*) · C. Hille Fachhochschule Erfurt, Erfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Hille E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_11
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Abstract The essay highlights our mobility and transport system along the three ethical guidelines (1) securing individual freedom, (2) justice and equality and (3) environmental sustainability. After an introduction and critical discussion of central terms and definitions of transport and mobility the challenges of a mobile society are documented and the dilemmata between individual needs and their satisfaction on the one side and societal costs on the other side are illustrated. In a conclusion the question is raised, whether individual ethical behavior can be a solution of the societal problems of current transport and mobility or – much more – national and supranational measures will be necessary for an ethical transport system. Schlüsselwörter Mobilität · Verkehrssysteme · Verkehrsangebot Umweltverträglichkeit · Ressourceneffizienz · Ethik
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11.1 Einleitung Es hat – vor allem im deutschsprachigen Raum – in der Vergangenheit nur sehr vereinzelt Beiträge gegeben, die sich explizit mit der Frage von Ethik und Verkehr auseinandergesetzt haben. So behandelt Feldhaus (1998) die negativen ökologischen und sozialen Folgen unseres Mobilitätsverhaltens unter „ethischen“ Gesichtspunkten. Zeitler (1999) versucht das bis dahin weitgehend unbekannte Forschungsfeld der „Verkehrsethik“ zu definieren. Becker (2013) widmete sich im Rahmen einer Betrachtung von Technikethik den Themen „Mobilität und Verkehr“. Neben diesen eher grundsätzlichen Veröffentlichungen sind darüber hinaus Auseinandersetzungen mit ethischen Fragen in verschiedenen praktischen Anwendungsfeldern zu finden. So häufen sich in jüngster Vergangenheit beispielsweise Veröffentlichungen, die sich mit der Frage von Ethik im Kontext des autonomen Fahrens beschäftigen. Wichtig ist zunächst die Frage nach der Definition des Betrachtungsgegenstandes „Verkehr“: Soll der Frage nachgegangen werden, ob das Verkehrssystem – also die Straßen und Flugplätze, die Fahrzeuge, die Tankstellen und Reparaturwerkstätten, die Fuß- und Radwege – ethischen Ansprüchen genügen? Geht es um das ethische Profil der
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Verkehrswissenschaften, deren Forschungsinhalte und deren Haltung? Soll der verkehrspolitische Diskurs hinsichtlich seiner ethischen Grundprinzipien durchleuchtet werden oder ist es nicht letztlich das Verkehrsverhalten jedes und jeder Einzelnen, das hinsichtlich der ethischen Grundhaltung hinterfragt werden muss? In unserem Beitrag wollen wir versuchen die Gesamtheit dieser Aspekte zu betrachten, ohne systematisch jede dieser Facetten von Verkehr im Einzelnen beleuchten zu können. Wie also ist es um die Ethik im Verkehrswesen bestellt? Wie könnten oder müssten Verkehr und Mobilität in Zukunft gestaltet sein, um ethischen Ansprüchen zu genügen? Welche Verantwortung trägt jeder und jede Einzelne von uns dabei, welche Verantwortung kann überhaupt und tatsächlich von den Einzelnen übernommen werden? Zur Beantwortung dieser Fragen wollen wir uns entlang folgender ethischer Leitlinien bewegen: • Die Gewährleistung von individueller Freiheit, die Bewegungsfreiheit, ist ein grundsätzliches Ziel von Verkehr und Mobilität. Auch in ethischer Hinsicht muss die Messlatte so skaliert sein, dass ein größtmögliches Maß an räumlicher Mobilität für alle Menschen möglich ist. Im Sinne des Utilitarismus als ethischem Prinzip darf aber die individuelle Freiheit nicht zulasten anderer gehen, wodurch eben jene individuelle Freiheit entscheidend begrenzt wird. Das gleiche gilt im Prinzip auch für den Güterverkehr. Es ist grundsätzlich ethisch nichts Verwerfliches daran zu finden, wenn Steaks aus Argentinien, Kiwis aus Südafrika oder Tafelwasser aus Südfrankreich auf unseren Märkten zu finden sind; erst wenn man die gesellschaftlich enormen Kosten für Produktion und Transport mit einbezieht wird deutlich, wie sehr einzelne Bedürfnisse zulasten der Allgemeinheit befriedigt werden. • Gerechtigkeit ist ein weiteres ethisches Grundprinzip, das als Richtschnur unserer Argumentation dienen soll. Die Frage der Gerechtigkeit bezieht sich dabei zunächst auf den Zugang zum Verkehrssystem: Wird wirklich allen Menschen – unabhängig von Einkommen, Geschlecht, Herkunft und Wohnort oder körperlichen Einschränkungen – gleichermaßen die Teilhabe am Verkehrssystem
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ermöglicht oder gibt es hier gravierende strukturelle und systematische Unterschiede hinsichtlich des Zugangs zum Verkehrssystem, hinsichtlich der Erreichbarkeit relevanter Ziele? Ebenso geht es aber auch um die Lastenverteilung: Sind die Lasten des Verkehrs wie Lärm und Staub, Bebauung der natürlichen Umwelt oder die Trennung von Siedlungen durch Verkehrswege gerecht verteilt? Und wie sieht das schließlich bei einer intergenerationalen Betrachtung aus? Leisten wir uns ein Verkehrssystem auf Kosten zukünftiger Generationen? Dies führt uns zur nächsten und letzten Leitlinie: • Die Umweltverträglichkeit und Ressourceneffizienz unseres heutigen Verkehrs ist ein weiterer und ebenso wichtiger Maßstab für unsere ethische Betrachtung. Angesprochen ist hier die klassische ökologische Nachhaltigkeit: Ist unser Verkehr so organisiert, dass wir auch in Zukunft so fortfahren können ohne die globale Umwelt aus dem Gleichgewicht zu bringen? Kann der Ressourcenverbrauch für Verkehr und Mobilität aus nachwachsenden Rohstoffen gespeist werden? Inwieweit trägt der Verkehr zu langfristigen und irreversiblen Folgen für die menschliche Gesundheit, für Flora und Fauna und die Biodiversität oder das globale Klima bei? Vor diesem sicherlich normativen Hintergrund wollen wir uns im nachfolgenden Beitrag zunächst mit der Klärung der Begriffe „Verkehr“ und „Mobilität“ befassen. Hier geht es einmal um die Frage der individuellen Freiheit, aber auch darum, wie irreführend, suggestiv und ideologisch der Mobilitätsbegriff verwendet wird. Daran anschließend wird Mobilität als Konsumgut und Distinktionsmerkmal der individuellen Freiheit thematisiert, bevor darauf aufbauend die Auseinandersetzung mit Mobilität als Milliardengeschäft zeigt, welche entscheidenden Treiber den Verkehrsmarkt jenseits individueller Bedürfnisse oder gesellschaftlichen Nutzens beeinflussen. Dem gegenüber gestellt werden die gesellschaftlichen, oft zukünftigen, Kosten des Verkehrssystems, die im Kalkül der Einzelnen – sei es die individualreisende Person, sei es das global agierende Automobilunternehmen – nicht auftauchen. Ein letzter Punkt schließlich behandelt die Frage der sozialen Gerechtigkeit, ob und inwieweit also vor allem die Nutzen aus Verkehr gleichmäßig verteilt sind.
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Zusammenfassend und zum Schluss wird versucht entlang der Leitlinien ein Fazit für den verkehrspolitischen Diskurs und die gesellschaftspolitischen Implikationen zu ziehen. Entscheidend dabei ist das Grunddilemma aller ethischen Betrachtungen, ob und inwieweit nämlich ethisches Handeln auf individueller Ebene zur Lösung beitragen kann oder ob nicht vielmehr die Lösungen weit jenseits des Individuums auf nationaler oder gar supranationaler Ebene liegen müssen.
11.2 Die mobile Gesellschaft – ein Missverständnis Verkehr und Mobilität sind ein Begriffspaar, das häufig synonym verwendet wird. Nein, nicht ganz: Die Verwendung des etwas altmodisch klingenden Begriffs „Verkehr“ verliert an Boden, während Mobilität in ihrer modernen Anmutung zunehmend auch in zusammengesetzten Wörtern an Bedeutung gewinnt. Die alte Verkehrsleitzentrale in Hessen wird heute von „Hessenmobil“ gemanagt, die ehemalige Deutsche Bundesbahn als größtes deutsches Verkehrsunternehmen präsentiert sich als Mobilitätsdienstleister, deutsche Autohersteller bieten „Mobility as a Service“ an – die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Verkehr, das klingt nach Stau und Lärm, nach Straßen, Autos, Dreck und Toten. Mobilität dagegen ist positiv konnotiert. In einer offenen Gesellschaft, in der ungewisse Lebensläufe zum Lebensentwurf gehören, in der im Global Village die Orte räumlich und kulturell immer mehr zusammenrücken, ist das Unterwegssein ein Kennzeichen maximaler Flexibilität und Ungebundenheit, der permanente Aufbruch vermittelt ein Gefühl von Freiheit und Unverzagtheit. Dem gegenüber stehen Ortsgebundenheit und Kirchturmdenken, Engstirnigkeit und mangelnder Veränderungswille als Kennzeichen einer räumlichen wie geistigen Unbeweglichkeit, die den Ansprüchen der mobilen Gesellschaft nicht mehr gewachsen ist. Und tatsächlich sind multilokale Lebensformen mit mehreren Lebensmittelpunkten, das flexible Arbeiten „von unterwegs“ oder in unverorteten und sich stetig ändernden Coworking Spaces konstitutive Merkmale moderner Lebens- und Arbeitswelten.
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Gleichwohl und neben diesen normativen Begriffssetzungen wird auch in den klassischen Verkehrswissenschaften eine wichtige Unterscheidung zwischen Verkehr und Mobilität getroffen. Mobilität kommt vom lateinischen „mobilitas“ und bedeutet im Grunde Beweglichkeit. In den Verkehrswissenschaften wird überwiegend die außerhäusige Alltagsmobilität betrachtet. Unter realisierter Mobilität werden somit Aktivitäten verstanden, die der Bedürfnisbefriedigung außerhalb der eigenen Wohnung dienen. Solche Bedürfnisse können der Weg zur Arbeit oder zur Ausbildung sein, Besuche bei Freund*Innen und Verwandten, Wege zum Einkaufen oder zur Arztpraxis, die Begleitung von Kindern oder älteren Menschen bei Wegen, die sie noch nicht oder nicht mehr selbstständig zurücklegen können. Über die Anzahl und den Zweck dieser täglichen Wege werden seit vielen Jahren umfängliche Erhebungen durchgeführt und – das mag erstaunlich sein – sowohl im internationalen Maßstab als auch im Zeitverlauf gibt es hier nur wenig gravierende Unterschiede. Die Anzahl der täglichen Wege war seit Jahren und im internationalen Vergleich, auch unabhängig vom Einkommen, nahezu konstant und lag bei etwas über drei Wegen pro Tag. Laut dem neuesten Bericht zur Mobilität in Deutschland (MiD) gab es nach Jahrzehnten von 2008 zu 2017 erstmals einen beachtlichen Rückgang von 3,4 auf 3,1 Wege pro Person und Tag. Lediglich die älteren Menschen legen heute in Deutschland mehr tägliche Wege zurück als noch vor 20 Jahren, bei allen anderen Alters- oder Personengruppen sind dagegen keine derartigen Entwicklungen erkennbar. Verkehr dagegen beschreibt den Aufwand, der betrieben wird, um die täglichen Wege zurückzulegen. Hier kommen einmal die Verkehrsmittel ins Spiel, wenn ich mich also entscheide den Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad, zu Fuß, mit dem Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen. Wir sprechen dann von Fußverkehr, von Radverkehr, von Autoverkehr oder von Bus- und Bahnverkehr. Noch entscheidender für die Verkehrsentstehung ist aber die Länge der Strecke, die für jeden täglichen Weg zurückgelegt werden muss. Hier ist seit vielen Jahren zu beobachten, dass die durchschnittliche Weglänge infolge der immer höheren Geschwindigkeiten der Verkehrsmittel kontinuierlich und deutlich zugenommen hat. Betrug die mittlere Weglänge im Jahr 1982
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noch 31 km1, so liegt diese im Jahr 2017 bei 39 km2, und Urlaubsreisen sind davon sogar ausgenommen! Was wir beobachten ist also eine konkrete kontinuierliche Zunahme vor allem des motorisierten Straßenverkehrs, die Mobilität der Menschen, das heißt also die Wahrnehmung außerhäusiger Aktivitäten, hat dagegen nicht zugenommen. Die Gesellschaft ist somit keineswegs mobiler geworden – allein der Verkehr, d. h. der Aufwand mit allen zuvor genannten negativen Implikationen, hat deutlich zugenommen. In verkehrswissenschaftlicher Sicht ist der Begriff der mobileren Gesellschaft daher irreführend, da wir heute keineswegs mobiler sind als in vergangenen Zeiten, sondern lediglich die immer höhere Raumüberwindung dahinter versteckt wird. Dient Mobilität aber der Bedürfnisbefriedigung, sollten wir uns stärker darauf besinnen, wie sich diese Bedürfnisse auch mit weniger Aufwand, also weniger Verkehr, befriedigen lassen.
11.3 Mobilität als zentrales Konsumgut unserer Zeit Mobilität, Konsum und Arbeit sind im Kapitalismus eng miteinander verknüpft und können kaum mehr losgelöst voneinander betrachtet werden. Ein Leben „on the move“ gilt als besonders erstrebenswert. Dabei gilt eine hohe Mobilität als Garant und Voraussetzung für beruflichen Erfolg wie persönliche Selbstverwirklichung. Hochmobile Eliten steigen Woche für Woche ins Flugzeug, um in global tätigen Unternehmen ihre Arbeit zu leisten. Flexibilität und Mobilität werden in der modernen Arbeitswelt als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Digitale Nomaden, die ortsunabhängig arbeiten und quasi „nebenbei“ die Welt bereisen, gelten als neues Idealbild für ein freies und selbstbestimmtes Lebensmodell. Ein möglichst mobiler Lebensstil, der sich durch Ungebundenheit und Flexibilität kennzeichnet, gilt als populär 1KONTIV
1982 zitiert nach INFAS e.a. 2010: 21. 2018.
2Infas/DLR
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sowie erstrebenswert und Mobilität wird dabei ferner zu einem der gefragtesten Konsumgüter unserer Zeit. Dabei gilt das nicht nur für die Arbeitswelt. Auch im Privaten zeigt sich, wie sehr Mobilität unser Bild von individueller Selbstverwirklichung bestimmt: Für die gemeinsam verbrachte Elternzeit nach Neuseeland, zum Shopping mit anschließendem Konzertbesuch übers Wochenende nach London oder viermal im Jahr in die Zweitwohnung nach Spanien – das alles ist in einer Zeit, in der Fliegen kaum mehr günstiger sein könnte, Alltag und prägt unser Verständnis von einem „guten Leben“. Reisen und die damit verbundenen Erlebnisse sind das Konsumgut, auf das selbst Konsumkritiker*innen nicht verzichten mögen, auch wenn die Folgen des grenzlosen Wachstum – vor allem im Luftverkehr – wohl bekannt sind. Allein zwischen 2007 und 2018 haben sich die per Flugzeug weltweit zurückgelegten Personenkilometer von 4.561,9 Mrd. auf 8.157,4 Mrd. nahezu verdoppelt. Prognosen gehen davon aus, dass sich diese Zahl bis 2038 auf rund 20.000 Mrd. Personenkilometer erhöht – und dabei sprechen wir hier nur vom reinen Passagierverkehr.3 Darüber hinaus wurden im Jahr 2018 allein im deutschen Luftraum 4.935.000 Tonnen Güter transportiert – Tendenz auch hier stetig steigend.4 Doch auch an anderen Stellen wird deutlich, dass Mobilität, Konsum und Lebensstile eng miteinander verknüpft sind. Mal eben die neue, fair produzierte und aus zertifizierter Biobaumwolle hergestellte Bluse online bestellt, aber, damit am Ende auch wirklich die perfekte Bluse im Kleiderschrank hängt, natürlich in verschiedenen Größen und Farbvariationen. So steigern wir unser Güterverkehrsaufkommen unablässig und daher lässt sich auch im Straßengüterverkehr ein konstantes Wachstum beobachten. Gleichzeitig besteht der Wunsch nach weniger Lieferverkehr in unseren Innenstädten. Lkws und Kleintransporter, die die Straßen unserer Wohngebiete „verstopfen“, Lärm verursachen und gerade im Falle von abbiegenden Lkws ein konstantes
3Boeing
2019. Bundesamt 2019c.
4Statistisches
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Sicherheitsrisiko für Radfahrende und Fußgänger*innen darstellen5, sind ein Feindbild moderner Stadt- und Verkehrsplanung. Doch hier zeigt sich in aller Deutlichkeit das Dilemma zwischen dem Wissen über ein ethisch korrektes, verantwortungsvolles Handeln und unseren täglich getroffenen und realisierten Entscheidungen. Während wir wissen, dass jeder Klick auf „Jetzt bestellen“ das Güterverkehrsaufkommen und alle damit verbunden negativen Folgen steigen lässt, lassen wir uns am Sonntagnachmittag auf der Couch dennoch verleiten und bestellen den neusten Roman unserer Lieblingsautorin im Internet – eben, weil es so bequem ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Verantwortung wir jeder und jedem Einzelnen aufbürden können. Kann vom einzelnen Konsument*innen tatsächlich erwartet werden, dass er oder sie sich dauerhaft (und freiwillig) in Verzicht übt und jede Konsumentscheidung auf ihre ökologischen wie sozialen Folgen hin überprüft? Feldhaus schrieb in diesem Zusammenhang bereits 1998 „das gegenwärtige menschliche Mobilitätsverhalten [scheint] in eine fundamentale Begründungs- und Legitimationskrise geraten zu sein.“6. Wenn wir also in das Flugzeug steigen, um in unserem alljährlichen Sommerurlaub die kalifornische Küste zu erkunden oder uns den Traum vom Tauchurlaub vor Bali zu erfüllen, rechtfertigen wir das mit Mantras wie „Das mache ich ja nur einmal im Leben.“, obwohl wir gleichsam wissen, dass selbst dieses eine Mal im Angesicht der globalen Klimakrise und der mit ihr verknüpften gesamtgesellschaftlichen Folgen zu viel ist. Würde jede*r Deutsche auf Flugreisen und CO2-verursachende Mobilitätsformen verzichten, würde der jährliche CO2-Ausstoß pro Kopf von knapp 10 Tonnen auf unter 8 Tonnen fallen. Das, soviel Ehrlichkeit muss sein, wären allerdings immer noch rund 5 Tonnen zu viel, um ein einigermaßen umweltverträgliches Maß an CO2-Emissionen pro Person zu erreichen. Würde man dazu noch den Verbrauch an Konsumgütern wie Kleidung, Haushaltsgeräten und Freizeitaktivitäten
5Allein
im Jahr 2017 wurden 38 Radfahrende in Deutschland durch abbiegende Lkws getötet. In allen Fällen war der Lkw-Fahrende schuld (ADFC 2018). 6Ebd.: 9.
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halbieren, ließen sich zusätzliche 2 Tonnen an CO2 einsparen.7 Doch es stellt sich die Frage, wie realistisch solche Modellrechnungen sind, wenn gleichsam in einer global vernetzten Arbeitswelt von den einzelnen Arbeitnehmer*innen die Bereitschaft zur Mobilität erwartet und ein „ständiges Unterwegssein“ als Zeichen für ein gelingendes (Arbeits-) Leben gewertet wird. Dabei soll dies kein Plädoyer für ein „Weiter so“ sein, sondern vielmehr die Frage aufwerfen, wie es uns als Gesellschaft gelingen kann, die oder den Einzelne*n davon zu überzeugen, dass der Wanderurlaub mit dem Zug in die Sächsischen Schweiz genauso „hipp“ und „chic“ ist wie der Städtetrip nach New York? Und wie kann das zudem gelingen, ohne dabei moralisierend zu werden und unsere Gesellschaft in zwei Klassen zu teilen (die „ethisch korrekt Handelnden“ und die „Unkorrekten“)? Oder ist es nicht vielmehr Aufgabe der Politik einen Handlungsrahmen vorzugeben, der die individuellen Entscheidungen auf ein verantwortbares Maß lenkt?
11.4 Verkehr und Mobilität als Milliardengeschäft Es gehört quasi zur deutschen DNA sich als weltweit führende Automobilnation zu sehen. Es muss ja nicht gleich jeder 7. Arbeitsplatz – wie von der Autolobby vielfach postuliert – sein, der an der deutschen Automobilindustrie hängt, aber über 800.000 Menschen arbeiten unmittelbar in der Automobilindustrie, rund eine weitere Million bei Autohäusern, Werkstätten oder vorgelagerten Zulieferbetrieben.8 Der Jahresumsatz beträgt über 400 Mrd., das sind mehr als 10 % der gesamten Wertschöpfung in Deutschland, davon werden über 2/3 im Ausland erwirtschaftet.9 Selbst grüne Ministerpräsidenten bekennen sich zu ihrem Land als Standort der Automobilindustrie und tatsächlich ist es ethisch sicherlich legitim, sich für die Sicherung von Arbeit und Beschäftigung einzusetzen. 7BMU
2018.
8ZEIT-online 9Alle
2018. Zahlen nach Statistisches Bundesamt 2019a.
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Gleichzeitig haben die Machenschaften der letzten Jahre aber gezeigt, in welchem Umfang in der Automobilindustrie in ihrem Überlebenskampf für den Verbrennungsmotor zu unlauteren, ja kriminellen Mitteln gegriffen wird. Zahlen werden gefälscht, Techniken mit hoher Kreativität und allein in krimineller Absicht zum offensichtlichen Betrug entwickelt, und immer erscheinen Staat und Politik als heimliche Mitwisser. Ähnlich den unter Staatsdoping-Verdacht stehenden Nationen, die mit unlauteren Mitteln ihren Sportlerinnen und Sportlern zu Höchstleistungen verhelfen, entsteht auch in Deutschland der Eindruck, als ob der Staat hier zwar gesetzeswidrig, aber irgendwie doch legitimerweise die heimische Industrie für den Wettbewerb auf dem Weltmarkt unterstützt. Tatsächlich ist es nicht nur die Automobilindustrie, die von Staat und Politik solche Zuwendung erfährt. Auch bei allen anderen verkehrspolitischen Entscheidungen schwingt immer die Frage mit, inwieweit die Wettbewerbssituation der heimischen Verkehrswirtschaft davon betroffen sein könnte. Dies gilt insbesondere für den Luftverkehr, wo jedes Nachtflugverbot, jeder Flughafenausbau, jede Diskussion um die Einführung einer Kerosinsteuer oder die Verpflichtung zu leisem Fluggerät durch Verweise auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit begleitet werden. Aber auch der Ausbau des Hamburger Hafens oder die fortwährende Vertiefung der Ems für die Meyer-Werft in Papenburg sind Beispiele dafür, wie sehr wirtschaftliche Interessen die Verkehrspolitik beeinflussen. Das Verkehrswachstum der vergangenen Jahrzehnte hat auch der Verkehrswirtschaft in Deutschland seit dem Krieg zu einem erheblichen und kontinuierlichen Wachstum verholfen. Jedes neu verkaufte, möglichst höherwertige Automobil, jede Flugreise, jede mit dem Lkw zusätzlich beförderte Fracht oder jeder Bahnkilometer steigern das Bruttosozialprodukt, schaffen Gewinne, bilden Anreize für ein immer weiteres Verkehrswachstum. Die Haushalte in Deutschland verwenden heute über 14 % ihres verfügbaren Einkommens für Verkehr und Mobilität.10 Verkehr erscheint dabei als superiores Gut, dessen Konsum 10IW
2019.
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mit zunehmendem Einkommen überproportional wächst. So liegen die Ausgaben für Nahrungs- und Genussmittel oder für Bekleidung vor allem bei höheren Einkommensgruppen heute deutlich unter den Ausgaben für Verkehr und Mobilität11. Es ist daher nur nachvollziehbar, wenn alle Fahrzeughersteller oder Verkehrsunternehmen versuchen die Nachfrage nach Fahrzeugen oder für Verkehrsdienstleistungen immer weiter zu steigern. Allerdings ist der Verkehrsmarkt zunehmend umkämpft und steht durch die Digitalisierung und Vernetzung vor gänzlich neuen Herausforderungen. Der geschilderte Wandel der Mobilitätsstile ist Ausdruck davon, dass künftig vor allem Mobilität als Dienstleistung gefragt sein wird: Nicht der Besitz des eigenen Autos, sondern die Verfügbarkeit eines – auch geteilten – Verkehrsmittels, das als autonomes Fahrzeug ggf. sogar die Transportleistung von A nach B erbringt, sind die Geschäftsmodelle der Zukunft. Neben den klassischen Automobilherstellern oder Verkehrsunternehmen drängen daher reine Vermittlungsplattformen wie Google oder Uber auf den Markt, die vergleichbar zu booking.com für die Hotellerie oder Amazon für zahlreiche Gebrauchsgüter lediglich einen, möglichst monopolistischen, Marktplatz für Verkehrsdienstleistungen anbieten wollen. Dabei ist es letztlich egal, ob diese Leistung von einem autonom fahrenden Fahrzeug, von einem Dienstleister, einer Mitfahrgelegenheit oder einem öffentlichen Verkehrsunternehmen erbracht wird. Die Marktmacht über diese Angebote wird aber künftig bei diesen alle Verkehrsmittel übergreifenden Plattformen liegen und alle großen Akteure der deutschen Verkehrswirtschaft versuchen daher entsprechende Angebote und Apps zu entwickeln, um nicht die Schnittstelle zu den einzelnen Kundinnen und Kunden aufzugeben. In jedem Fall werden diese auf den PreisWettbewerb gerichteten, wachstumsorientierten und rein marktgetriebenen Innovationen zukünftig die größten Veränderungen für unser Verkehrssystem mit sich bringen. Hier spielen also Wirtschaftsinteressen eine größere Rolle als die Fragen nach Klimaschutz oder sozialer Gerechtigkeit. Verkehr ist 11Ebd.
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Konsum, und je teurer und hochwertiger und – im Fall von Verkehr – weiter und schneller das jeweilige Konsumgut ist, desto attraktiver wird auch dessen Vermarktung sein. Diese kapitalistische Logik orientiert sich allein an der Gewinnmaximierung von Partikularinteressen, aber es gibt zahlreiche gesellschaftliche, externe Kosten des Verkehrs, die auf diesen Marktplätzen der Zukunft nicht angemessen abgebildet werden. Das soll uns im Folgenden beschäftigen.
11.5 Gesellschaftliche Kosten unserer Mobilität Die Frage nach der Ethik unseres Verkehrssystems kann nicht beantwortet werden ohne die negativen Folgen dessen auf Mensch, Umwelt und Gesellschaft zu betrachten. Das Ziel von Mobilität und Verkehr ist die Sicherung von individueller Bewegungsfreiheit, die Möglichkeit individuelle Bedürfnisse an verschiedenen Orten zu befriedigen, der freie Austausch von Waren und Dienstleistungen. Diese Möglichkeiten zur Ortsveränderung sind Voraussetzung einer freien Gesellschaft. Aber zu welchem Preis? Es soll hier vorrangig nicht um die direkten Kosten gehen, die jeder und jede für das eigene Auto, für die Nutzung des öffentlichen Verkehrs oder für die Anschaffung eines Fahrrades zu zahlen hat. Steht vielmehr der Preis, den wir alle – und meist unerwünscht – zu zahlen haben in einem angemessenen Verhältnis zur individuellen Bedürfnisbefriedigung? Beispielhaft für diese externen Kosten des Verkehrs, die nicht die oder der einzelne Nutzende sondern die Allgemeinheit zu tragen hat, sollen nur die Verkehrstoten, die Folgen für Städtebau und Landschaft sowie die Auswirkungen auf das globale Klima aufgeführt werden. Der Fokus liegt dabei auf dem städtischen Verkehr – die ethischen Fragen des unablässig steigenden individuellen Luftverkehrs mit seinen globalen Folgen können gerne mitgedacht werden. Im Jahr 2018 verunglückten weltweit bei Straßenverkehrsunfällen 1,35 Mio. Menschen tödlich, davon allein 500 Tsd. in China und Indien. In einigen zentralafrikanischen Staaten kommen auf 100
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zugelassene Kraftfahrzeuge jährlich 5–10 Verkehrstote.12 In Deutschland ist diese Zahl seit nunmehr fast 50 Jahren stark rückläufig, doch sind zunehmend sogenannte schwächere Verkehrsteilnehmer*innen wie Zufußgehende, Radfahrende, Kinder oder ältere Menschen davon betroffen. Ebenso verharrt die Zahl der bei Verkehrsunfällen schwer Verletzten konstant bei etwa 400.000 im Jahr13. Alle diese Zahlen sind hinlänglich bekannt, doch werden sie auch als „Kollateralschäden“ unseres Verkehrssystems weitgehend akzeptiert. Mögliche Maßnahmen zu einer weiteren Verringerung der Unfallzahlen wie eine Beschränkung des Kfz-Verkehrs, ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen oder die einheitliche Einführung von Tempo 30 innerorts werden dagegen als überzogen und mit der Freiheit der oder des Autofahrenden nicht vereinbar angesehen. Hinsichtlich der zahlreichen Umweltprobleme des Verkehrs ist derzeit zweifellos der Klimawandel die größte Herausforderung. Obwohl die Freude über den Abschluss des Pariser Klimaabkommens im Jahr 2015 weltweit groß war, sind die tatsächlich umgesetzten politischen Maßnahmen auf nationaler Ebene kaum messbar. Noch immer steigen die CO2-Emissionen weltweit an, insbesondere der Verkehrssektor ist hier ein großes Sorgenkind, der auch in Deutschland – trotz ansonsten zurückgehender CO2-Emissionen – bislang keinen Beitrag zur Reduzierung von Treibhausgasen leistet. Dabei wären Einsparungen gut möglich; doch technologisch bedingte Effizienzgewinne machen wir mit dem Trend zu größeren und vermeintlich sichereren Autos wieder zunichte („Rebound-Effekt“). Das heißt unsere Autos werden zwar immer umweltfreundlicher und sparsamer, aber eben auch immer größer, sodass am Ende die gesamte Emissions-Bilanz trotz aller technologischen Fortschritte negativ ausfällt. Dabei sind es aber nicht nur die CO2-Emissionen, die uns und unsere Städte und Dörfer belasten, sondern neben anderen Luftschadstoffen (z. B. Stickoxide) auch eine enorme Lärmbelastung, die dauerhaft krankmachen kann. Beachtlich ist dabei, mit welcher Chuzpe die deutsche Automobilindustrie sowie auch
12WHO
2018. Bundesamt (Destatis) 2019b.
13Statistisches
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Teile der Politik offensichtliche Betrügereien verteidigen, wenn nicht gar im nationalen Interesse gutheißen und wirkungsvolle Maßnahmen zur Emissionsreduzierung aktiv behindern. Das Auto und der Autoverkehr dominieren unsere Städte. Auch wenn das Leitbild der autogerechten Stadt vordergründig nicht mehr den städtischen Diskurs bestimmt, ist offensichtlich, wie sehr unser Städtebau durch Straßen und Kreuzungen, durch Parkplätze und Parkhäuser, durch fahrende, im Stau stehende oder geparkte Fahrzeuge geprägt ist. Die europäische Stadt hat durch den Autoverkehr flächendeckend Verformungen erfahren, die sich nur mit Kriegseinwirkungen und deren Folgen vergleichen lassen. Einzelne Metropolen wie Paris, London oder Kopenhagen haben die Zeichen erkannt und damit begonnen, das Auto behutsam aus den Innenstädten fernzuhalten; gleichwohl ist auch hier das Umland immer noch vom eigenen Auto dominiert und führt zu immer weiteren Umgehungsstraßen oder Parkand-Ride-Plätzen. Und doch sind sich alle einig, welche gravierenden Schäden für menschliches Wohlbefinden und Landschaft daraus resultieren. In ethischer Hinsicht belegen die enormen Kosten, die das Verkehrssystem für die Allgemeinheit und für nachfolgende Generationen verursacht, ein doppeltes Problem: zum einen fallen individuelles Handeln, individuelle Verantwortung und gemeinwirtschaftliche oder gar globale Konsequenzen auseinander. Der oder die Einzelne trägt zweifellos einen Teil der Verantwortung für sein oder ihr Tun, eine individuelle Verhaltensänderung wird aber „die Welt nicht retten“. Es setzt also schon ein hohes Maß an ethischer Verantwortungsbereitschaft voraus, wenn unter diesen Voraussetzungen die tägliche Fahrt zur Arbeit umständlich mit dem öffentlichen Verkehr unternommen oder auf die Urlaubsreise mit dem Flugzeug verzichtet werden soll. Erst wenn aber ein kollektiver Bewusstseinswandel und eine umfassende Verhaltensänderung gelingen, werden die Umweltprobleme gelöst werden können. Jede einzelne Person agiert hier nur als Teil des Ganzen. Zum anderen ist der industriell-politische Komplex nicht bereit die Herausforderungen besonders der globalen Klimakrise anzunehmen. Die gravierenden und offensichtlichen Probleme unseres auf fossilen Energieträgern beruhenden Verkehrssystems werden
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nahezu ignoriert oder kleingeredet, die Transformation hin zu neuen Antriebstechnologien wird durch nationale und internationale Abwehrkämpfe behindert – alles, um kurzfristige Besitzstände zu wahren. Verantwortliche Politik, die umweltschädlichen Verkehr verteuert, die Städte verkehrsberuhigt, die scharfe Emissionsgrenzwerte festlegt, die Straßensperrungen und Straßenrückbau betreibt, sieht anders aus.
11.6 Mobilität als Gerechtigkeitsfrage Neben der Frage, ob unser Verkehrs- und Mobilitätssystem aus ökologischer Perspektive vertretbar ist, ist in einer ganzheitlichen Betrachtung aus ethisch-moralischer Sicht die Frage nach Gerechtigkeit von zentraler Bedeutung. Dabei ist unser Verständnis von „Gerechtigkeit“ stark normativ geprägt. Gerechtigkeitsdiskurse problematisieren Missstände und bewerten anhand eines ethisch-moralischen Maßstabes was richtig ist bzw. wäre. Während im wissenschaftlichen Diskurs Gerechtigkeitsfragen hinsichtlich unserer Verkehrs- und Mobilitätssysteme bereits eine längere Tradition haben14, spielt diese Debatte im öffentlichen Diskurs bisher nur eine marginale Rolle. Es stellt sich daher die Frage, was Gerechtigkeit in Bezug auf unser Mobilitäts- und Verkehrssystems bedeutet. Es wurde bereits gezeigt, dass die Vorstellungen von einem erfolgreichen bzw. erfüllten Leben im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs gleichgesetzt werden mit dem Idealbild einer hochmobilen Elite, deren Lebensstil mit einem erheblichen Verkehrsaufwand einhergeht. In dieser Betrachtungsweise kann Mobilität oder der Zugang zu ihr als Ressource bzw. Kapital bewertet werden. D. h. nur wer mobil ist, kann erfolgreich sein bzw. Mobilität wird zum Schlüsselfaktor für Erfolg, aber auch für grundsätzliche gesellschaftliche Teilhabe. Die räumliche Entgrenzung in der Arbeitswelt zeigt sich besonders deutlich in stetig steigenden Pendlerzahlen. Derzeit arbeiten rund 60 Prozent der sozial14Dies gilt insbesondere für den angelsächsischen Raum, in dem mobilitätsbezogene Exklusion unter dem Schlagwort „transport disadvantage“ bereits seit mehr als 20 Jahren beforscht wird (Lucas 2012).
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versicherungspflichtig Beschäftigten in einer anderen Gemeinde als sie wohnen.15 Auf dem Arbeitsmarkt ist die Bereitschaft mobil zu sein also etwas Alltägliches. Das heißt aber auch, dass diejenigen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mobil sein können, mit hoher Wahrscheinlichkeit weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Mobilitätsbezogene Exklusion bestimmt allerdings nicht nur die Chancen im Berufsleben, sondern wirkt sich auf die gesamtgesellschaftlichen Teilhabe- und Partizipationschancen aus. Damit wird der (ungleiche) Zugang zum Mobilitäts- und Verkehrssystem zur modernen Gerechtigkeitsfrage, die im Kern von fünf wesentlichen Aspekten bestimmt wird: 1. Ökonomische Voraussetzungen: Der Zugang einer Person zu verschiedenen Verkehrsmitteln ist ganz wesentlich von den finanziellen Mitteln abhängig, die ihr zur Verfügung stehen. Das bedeutet Menschen, die nur über geringe finanzielle Ressourcen verfügen, sind oft von der Nutzung bestimmter Verkehrsmittel ausgeschlossen. So stehen beispielsweise Personen, die den Hartz IV-Regelsatz beziehen, rund 35 EUR monatlich für Mobilität zur Verfügung. In vielen deutschen Städten, wie z. B. Frankfurt am Main oder Hamburg, kostet bereits ein Sozialticket für den ÖPNV nahezu das Doppelte dieses Budgets.16 2. Physische Voraussetzungen: Die Nutzung bestimmter Verkehrsmittel wird zentral durch die körperlichen Voraussetzungen, die eine Person mitbringt, bestimmt. Einschränkungen wie Gehbehinderungen oder Sehstörungen können die Betroffenen zum Teil unmittelbar vom Zugang zu unserem Verkehrssystem und damit auch von Aktivitäten ausschließen. Unter dem Schlagwort „Barrierefreiheit“ wird versucht dem aktiv entgegenzuwirken, doch müssen weite Teile unseres Verkehrssystems weiterhin als keineswegs barrierefrei gelten. 3. Wissen bzw. kognitive Voraussetzungen: Neben den körperlichen Voraussetzungen bestimmt unser vorhandenes Wissen um den (potenziellen) Zugang sowie die Funktionsweise unseres Ver-
15BBSR
2017.
16MobileInclusion
2018
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kehrs- und Mobilitätssystems die Nutzung. Am Beispiel neuer Mobilitätsdienstleistungen wie dem E-Scooter-Sharing, lässt sich diese Einflussgröße erläutern. Nur wer das Angebot sowie die Buchungsmodalitäten und -abläufe kennt, kann die Scooter auch tatsächlich nutzen. Da die Buchung ausschließlich mittels einer Smartphone-App möglich ist, muss zudem Wissen über die Funktionsweise von mobilen Anwendungen (sowie der Zugang zu einem Smartphone) vorhanden sein. Ein weiteres illustratives Beispiel wären zudem die Voraussetzungen der Pkw-Nutzung. Diese wird erst durch den Erwerb eines Führerscheins legalisiert, welcher das notwendige und vorhandene Wissen für die Steuerung eines Pkws quasi bezeugt. 4. Infrastrukturelle bzw. räumliche Voraussetzungen: Die Nutzung bestimmter Verkehrsmittel wird zentral vom zur Verfügung stehenden Angebot bestimmt. Dabei muss konstatiert werden, dass in verschiedenen Raumstrukturen zumeist sehr unterschiedliche (bzw. ungleiche) infrastrukturelle Voraussetzungen vorhanden sind. So ist beispielsweise in ländlichen Räumen die Anbindung an den Öffentlichen Nahverkehr zumeist deutlich schlechter als in urbanen Gegenden. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Menschen, die in ländlichen Regionen wohnen, deutlich häufiger auf den eigenen Pkw angewiesen sind. Vor dem Hintergrund der Einflussfaktoren (1) und (2) kann dieser Umstand allerdings zu unfreiwilliger Immobilität von Menschen mit geringen finanziellen Ressourcen (1) oder körperlichen Einschränkungen (2) führen. 5. Implizite, soziale Voraussetzungen: Neben objektiv messbaren Faktoren wirken in Gesellschaften vielfach auch implizite Handlungsvoraussetzungen. Dies sind beispielsweise geltende Normen und Werte, welche sich in bestimmten erwarteten Verhaltensweisen widerspiegeln. So ist es in einigen Gesellschaften „verpönt“ (zum Teil auch per Gesetz verboten), dass Frauen Auto fahren. Darüber hinaus können insbesondere die öffentlichen Verkehrsmittel „Schauplatz“ verschiedener gesellschaftlicher Konflikte sein, die sich auf ihre Nutzung auswirken. Wenn beispielsweise aufgrund häufiger Diskriminierungserfahrung die eigene Sicherheit bei der Nutzung infrage gestellt wird, zeigen sich diese impliziten Handlungsvoraussetzungen sehr deutlich.
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Anhand dieser fünf Einflussfaktoren lässt sich die These formulieren, dass die Ressource „Zugang zu Mobilität und Verkehr“ in unserer Gesellschaft ungleich verteilt ist. Dabei liegt – wie bereits unter den gesellschaftlichen Kosten unserer Mobilität gezeigt – die Vermutung nahe, dass dies nicht nur für den Zugang, sondern auch für die Kosten von Verkehr und Mobilität gilt. So sind die Mieten in Gegenden mit einem besonders hohen Verkehrsaufkommen häufig deutlich günstiger als in Gebieten mit einer geringen Verkehrsbelastung. In der Folge kann das bedeuten, dass einkommensschwache Personen, die sich nur günstige Wohnungen leisten können, deutlich stärker von Lärm und Luftverschmutzungen betroffen sind. Hinsichtlich der Folgekosten von Verkehr und Mobilität spielen aber auch Fragen nach globaler Gerechtigkeit sowie nach Generationengerechtigkeit eine zentrale Rolle. Das lässt sich anhand der Auswirkungen, die der fortschreitende Klimawandel haben wird (und bereits hat), besonders deutlich zeigen. So werden beispielsweise Länder, die einen signifikant geringeren CO2-Ausstoß als die westlichen Industrienationen durch den Verkehr haben, überproportional oft von den Folgen der Erderwärmung betroffen sein.17 Gleiches gilt für nachfolgende Generationen, was zur Frage führt, welche Verantwortung wir auch gegenüber unseren Nachkommen haben. Hier zeigt sich aber zugleich auch, welches Dilemma die Forderung nach einer gleichen Verteilung der Ressource „Mobilität“ erzeugt und dass „gleich“ nicht automatisch auch „gerecht“ bedeutet. Dies kann mit Hilfe eines einfachen Gedankenexperiments illustriert werden: Wenn „gleich“ auch „gerecht“ bedeuten würde, würden in einem gerechten Verkehrs- und Mobilitätssystem alle Menschen Zugang zu allen Verkehrsmitteln erhalten, unabhängig von den benannten Einflussfaktoren wie Einkommen oder Wohnort. Es ist davon auszugehen, dass die Nutzungszahlen für Flugzeuge, aber auch für Pkw deutlich ansteigen würden, was wiederum die CO2-Emissionen deutlich ansteigen ließe und noch schneller zu den bereits beschriebenen
17Als
Beispiele können hier insbesondere zahlreiche afrikanische Staaten, aber auch viele Inselstaaten wie Fidji oder Tonga genannt werden. Die Weltbank hat prognostiziert, dass die Zahl der sogenannten „Klimaflüchtlinge“ bis 2050 auf 140 Mio. steigen wird (Tagesspiegel 2018).
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negativen Folgewirkungen führen würde. Aus diesem recht simplen Gedankenexperiment folgt demnach: Gleichheit führt nicht unmittelbar zu Gerechtigkeit, sondern kann die Ungerechtigkeit zwischen verschiedenen Bevölkerungsschichten (im angeführten Beispiel zwischen den unmittelbar vom Klimawandel betroffenen Menschen im globalen Süden und den weniger betroffenen Personen im Norden) im Zweifel sogar noch verstärken. Die Antwort auf die Frage nach „Mobilitätsgerechtigkeit“ kann also nicht die bloße Forderung nach gleichem Recht für alle beinhalten, auch wenn hinsichtlich des Zugangs zum Mobilitäts- und Verkehrssystem das Freiheitsprinzip – angelehnt an Rawls (1979) verstanden als das Recht auf Grundfreiheiten, so sie mit den Freiheiten anderer vereinbar sind – als unbedingt erstrebenswert angesehen werden kann. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass dieser Zugang als Ressource verstanden werden muss, der unmittelbar über gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten bestimmt. Gleichsam muss hinsichtlich der Problematiken von globaler Gerechtigkeit sowie Generationengerechtigkeit ganz offenbar ein neuer normativer Maßstab im gesellschaftlichen (Gerechtigkeits-)Diskurs ausgehandelt werden. Dabei stellt sich die Frage, ob der universalistische Ansatz der heterogenen Konstitution unserer Gesellschaft entspricht oder ob es nicht vielmehr um eine demokratische Verteilung von Ressourcen gehen muss, welche soziale Differenzen anerkennt.
11.7 Fazit: Verzicht vs. staatlicher Regulierung – Lösungen in Sicht? Es hat sich gezeigt, dass eine grundsätzliche Betrachtung unseres derzeitigen Mobilitäts- und Verkehrssystems zahlreiche ethische Fragen aufwirft. Entlang von drei ethischen Grundprinzipien (Gewährleistung individueller Freiheit (1), Gerechtigkeit (2), Umweltverträglichkeit und Ressourcenschutz (3)) haben wir im vorliegenden Beitrag schlaglichtartig aufgezeigt, wo aus ethischer Perspektive die aktuellen Problemlagen und Herausforderungen zu verorten sind. Neben der großen Frage von sozialer Gerechtigkeit ist es insbesondere die Frage
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der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes, die in jüngster Vergangenheit ins Zentrum des gesellschaftspolitischen Diskurses gerückt ist. Seitdem die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg und die sich um sie gegründete „Fridays for Future“-Bewegung mit Schulstreiks und flammenden Plädoyers für mehr Klimaschutz werben, sind deutsche Feuilletons geprägt von Schlagwörtern wie „Flugscham“ und Debatten zur Frage des individuellen Verzichts. Dabei hat sich gezeigt, dass diese Probleme keineswegs neu sind, sondern vielmehr wohlbekannt, und weiterhin in atemberaubenden Tempo wachsen. Und auch die neuen Technologien sind nicht so, als ob wir uns hiervon wirklich eine Lösung erwarten könnten. Dies führt uns zu dem ersten ethischen Problem: Wie kann es sein, dass wir seit Jahrzehnten von diesen Problemen wissen, aber gerade im Verkehrsbereich weder auf individueller Ebene nennenswerte Verhaltensänderungen noch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene politische Lösungen erkennbar sind? Grundsätzlich stellt sich uns als Gesellschaft im Angesicht eben jener feuilletonistischen Debatten sowie der skizzierten negativen Folgen, die aus unserem derzeitigen Mobilitäts- und Verkehrssystem resultieren, die Frage der Verantwortung. Als persönliche, moralische Maxime kann sicherlich der kategorische Imperativ nach Kant als Leitbild der individuellen Handlungsweisen dienen. Mit der Frage nach der Verallgemeinerbarkeit der persönlichen Entscheidungen auf alle Menschen sollte sich die Frage nach der nächsten Flugreise automatisch erledigt haben. Denn legt man den kategorischen Imperativ als Maßstab seines individuellen Handelns an, so wird klar, dass unser Mehr an Flugreisen und CO2-Ausstoß (in den Industrienationen) nur durch ein Weniger der „Anderen“ ermöglicht wird.18 Vor diesem Hintergrund und Wissen sind wir alle mit der ethischen Frage konfrontiert, inwieweit wir mit unserer individuellen Mobilität, mit unserem jeweiligen Verkehrsverhalten zu einer freien, gerechten und nachhaltigen Gesellschaft beitragen. Können wir aber tatsächlich von den Einzelnen verlangen, dass sie sich freiwillig – überspitzt formuliert – in Askese üben und aufs Auto, Flugreisen und Onlinebestellungen verzichten? Dass sie oder 18Stein
2019.
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er regional produzierte Ware kaufen und ausschließlich saisonale Produkte konsumieren, um lange Transportwege zu vermeiden? Sind auf individueller Ebene überhaupt globale Probleme lösbar? Wird das nicht vielmehr eine Utopie bleiben, die den modernen Marktmechanismen zuwiderläuft, wenn Politik und Staat nicht stärker regulierend eingreifen? Das heißt, sind Politik und Staat nicht viel mehr in der Pflicht einen neuen Handlungsrahmen für Bürgerinnen und Bürger, aber auch für Wirtschaft und Industrie vorzugeben? Globale Lösungsansätze, die über den individuellen Verzicht hinausgehen, sind allerdings kaum in Sicht. Die Antwort müsste wohl lauten: nicht „entweder oder“, sondern „sowohl als auch“. Es gilt, gesamtgesellschaftlich in einen Diskurs einzutreten, der neue moralische Regeln und Leitlinien für die „mobile Gesellschaft“ entwickelt. Ein Wertekanon, der alle Menschen als frei und gleich anerkennt, aber dennoch moralische Maßstäbe entwickelt, die diese Freiheit und Gleichheit auch in Zukunft absichern. Das Handeln der Einzelnen kann künftig nur bestimmt sein von den potenziellen Folgen, die es in Raum und Zeit auslöst.19 Dabei geht es weniger um die individuellen Folgen, sondern vielmehr um die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen. Neben diesem neuen gemeinsamen moralischen Wertekanon aber braucht es starke politische Entscheidungen in Form von neuen nationalen und supranationalen Gesetzen, Verboten, Steuern und Subventionskürzungen. Die Grenzen und der Preis des individuellen menschlichen Handelns müssen durch Gesetze und verbindliche Regeln bzw. durch Steuern und Abgaben, die unseren ethischen bzw. moralischen Leitbildern entsprechen, klar definiert werden. Im Idealfall wäre dann (mit einer teilweise schmerzhaften Lernkurve) die Gewissensfrage eines und einer jeden Einzelnen bzgl. der nächsten Flugreise, des neuen Elektro-SUV oder der Kreuzfahrt dann immer noch selbst zu beantworten, allerdings innerhalb eines gesteckten Rahmens, der einerseits durch Verbote, Gesetze und höhere Abgaben, andererseits aber auch durch Anreize, neue attraktive Mobilitätsangebote und einen darauf abgestimmten Mobilitätsstil bestimmt ist. 19Ebd.
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12 Gibt es eine ethische Stadtplanung? Christoph Breuer
Zusammenfassung Der Beitrag beleuchtet ethische Fragen in der Bautechnik und Architektur. Nach einem historischen Rückblick werden die aktuellen Ansprüche an Wohngebäude vorgestellt, insbesondere der zunehmende Raumbedarf. Vor diesem Hintergrund werden Zielstellungen und Entscheidungen zu Neu- und Umbaumaßnahmen diskutiert und problematisiert, insbesondere mit Blick auf die Dimensionen der Nachhaltigkeit und das Problem der Gentrifizierung. Darauf aufbauend werden sieben Kriterien des nachhaltigen Bauens postuliert. Nach einem Blick auf das autochthone Bauen und möglichen Lowtech-Strategien schließ der Beitrag mit der Forderung, ethische Ansprüche bereits in der Planung von Neu- und Umbaumaßnahmen zu berücksichtigen.
C. Breuer (*) Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_12
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270 C. Breuer
Abstract The article examines ethical questions in construction technology and architecture. After a historical review, the current demands on residential buildings are presented, especially the increasing space requirements. Against this background, objectives and decisions on new construction and conversion measures are discussed and problematized, especially with regard to the dimensions of sustainability and the problem of gentrification. Based on this, seven criteria of sustainable building are postulated. After a look at autochthonous building and possible low-tech strategies, the article concludes with the demand to consider ethical demands already in the planning of new and conversion measures. Schlüsselwörter Stadtplanung · Bauwesen · Nachhaltiges Bauen · Gentrifizierung · Lowtech Solutions · Autochthone Bauweisen · Ethik in den Ingenieurwissenschaften
12.1 Vorbemerkung Wenn man sich mit der Ethik im Bauwesen beschäftigen will und bereits einige Erfahrung in der Baubranche sammeln konnte, würde man sicherlich zu dem voreiligen Schluss kommen, dass es so etwas wie “Ethik” und “Moral” nur als Randgestalten im Bauwesen gibt. An jeder nur erdenklichen Stelle wird getrickst und gemogelt. Alles nur, um den Gewinn möglichst umfangreich zu maximieren. Und sei es nur eine zusätzliche Abdichtungsmaßnahme beim U-Bahnbau unter dem Kölner Stadtarchiv, welche nicht eingebaut wurde. Die gewinnbringende Baubranche boomt. Im Jahr 2012 wurden in der deutschen Baubranche 309,4 Mrd. € ausgegeben und im Jahr 2017 waren es bereits 364 Mrd. €. Zum Vergleich, die Staatsausgaben Deutschlands betrugen im gleichen Zeitraum 2012 311,6 Mrd. € und im Jahr 2017 325,4 Mrd. € (BBSR 2018, BMF 2019). Ein anderer moralischer Konflikt im Bauwesen stellt die Gewinnung bzw. Wiederverwendung von Materialien dar. Die Herstellung von Zement ist weltweit der größte CO2 Produzent, direkt nach der Verbrennung von
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fossilen Rohstoffen. Diesen enormen Wirtschaftsmotor kann (und will) niemand für seine moralischen Ideale opfern. (Oder?).
12.2 Einführung „Bauen“ ist eine der ältesten ingenieurtechnischen Leistungen der Menschheit. Bereits das Schürfen einer Höhle oder das gezielte Legen von Ästen und Blättern ist eine bautechnische Leistung. Die großartigen überlieferten Bauten der Antike, der Klassik oder aber auch der Moderne sind in der nutzungstechnischen Theorie nur geringfügige oder abgewandelte Variationen der selbstangelegten und genutzten Höhle der Urzeit. Somit könnte man diesen Bauprozess als Schaffen einer Art „dritter Haut“ bezeichnen, neben der biologischen und der textilen. „Bauen“ ist aber neben dem reinen Schutz vor den Elementen auch immer ein Ausdruck von Kultur und Zeitgeist. Neben der allumfassenden Natur bestimmt nichts anderes unsere Wahrnehmung und das Leben mehr, als die gebaute Umwelt. Nicht nur wir Menschen, sondern auch Vögel und andere Tiere vollbringen damals, wie heute, teilweise außergewöhnliche bautechnische Leistungen. Das „Bauen“ ist also ein ureigener (Schutz-) Instinkt und der Beitrag zur Ethik im Bauwesen wäre an dieser Stelle beendet. Wie könnte ein Jahrmillionen alter Instinkt unmoralisch sein? Wie könnte ein Kaninchenbau unmoralisch sein? Leider ist die Thematik nicht so einfach. Zum einen hat jeder seine eigene Moral und zum anderen lassen wir Menschen uns nicht mehr ausschließlich durch Instinkt und Intuition leiten. Wird die Ethik im kleinen, unscheinbaren, immer wiederkehrenden Tagesablauf in der Baubranche betrachtet, findet man unzählige Beispiele, die einen Architekten zu einem Juristen werden lassen. Ein Teil der Arbeit besteht nicht mehr nur im Planen eines Gebäudes, sondern darin, potenzielle Schuld abzuweisen. Gelingt dies nicht, liegt der Fokus des Handelns vor allem darauf, die Schuld auf andere zu verteilen. Aktuelle Vorschriften bieten nicht immer eine eindeutige Rechtssicherheit. Normen eröffnen teilweise Spielräume, welche moralische Grenzwerte ausloten.
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Wann ist eine Treppe zu steil? Diese Frage lässt sich leicht beantworten, dazu gibt es klar definierte Werte, welche dem menschlichen Schrittmaß entsprechen. Jedoch, ab wann ein Raum durch seine Größe nicht würdig bewohnbar ist, dazu gibt es keine einheitlichen Richtwerte. Einige Wohnungsbauunternehmen (z. B. HOWOGE Wohnungsbaugesellschaft mbH) haben eigene Merkblätter und Handbücher zur Bewertung ihrer eigenen Bestände. Diese sind aber nur in Projekten mit den jeweiligen Gesellschaften und Unternehmen anzuwenden. Die Frage nach der Größe des Wohnraumes pro Person wurde in den letzten Jahren immanent. Zum einen steigt seit Jahren die durchschnittliche Wohnfläche pro Person (siehe Abb. 12.1). Waren es im Jahr 2000 noch 39,5 m2/Person, sind es 2017 bereits 46,5 m2/Person gewesen (Statistisches Bundesamt 2018). Die Gründe dafür sind vielfältig. Teilweise ist es auf den gestiegenen Lebensstandard, auf unsere Gesellschaftsform mit immer mehr Alleinlebenden, aber auch die stetig älterwerdende Bevölkerung, welche aufgrund von gutem Gesundheitszustand, weiterhin – mittlerweile alleine – das Familienhaus bewohnen, zurückzuführen.
Abb. 12.1 Der stetige Anstieg der Wohnfläche pro Person in Deutschland: Prognose zur Entwicklung der Pro-Kopf-Wohnfläche in Deutschland bis zum Jahr 2030 nach Regionen (in m2) (Daten nach Statista 2019)
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Andererseits führt der Zuzug von tausenden Immigranten zu einer Erhöhung des Wohnungsbedarfs. Weiter sinkt zwar seit Jahrzehnten der Energiebedarf zum Heizen (Raumwärmebedarf ) pro Quadratmeter– gerade durch die immer weiter verschärften Energieeinsparverordnungen (EnEV) – jedoch blieb der Raumwärmebedarf pro Person berechnet seit Jahrzehnten nahezu konstant (Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg gGmbH 2016). Technische Entwicklungen bei Bau- und Dämmstoffen, sowie bei der technischen Gebäudeausrüstung (z. B. Heizung) und erhöhte energetische Anforderungen an den Gebäuden werden durch den steigenden Verbrauch an Wohnfläche aufgehoben. Im aktuellen Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD werden bis 2021 1,5 Mio neue Wohnungen beschrieben. Die Wohnungsbedarfe werden in den Städten weiterwachsen, während in den ländlichen Gebieten schon jetzt ein Überangebot vorhanden ist. Sowohl die vorhandenen, als auch die neu gebauten Wohnungen sollen nicht nur unserem Lebensstandard entsprechen, sie müssen auch den Ansprüchen der immer älter werdenden Bevölkerung Rechnung tragen. Nicht nur die Wohnungen der Menschen, sondern auch die Arbeitsstätten, genauso wie die öffentlichen Gebäude müssen für Menschen mit unterschiedlichsten Einschränkungen nutzbar sein. Moderne Technik (z. B. Smarthome) kann dabei eine große Hilfe sein. Große Prachtbauten, Museen und Kunsthallen sind nur ein ganz kleiner Teil der Bautätigkeit. Der Alltag der meisten Architekten und Bauingenieuren ist bestimmt von Profanbauten. Es sind diese Bauwerke, die das eigentliche „Bauen“ seit Beginn der Baugeschichte ethisch vertreten. Diese unzähligen Wohnhäuser, Schulen, und Schwimmhallen, diese Büros und Verwaltungsgebäude, die kleinen Dinge, wie zum Beispiel eine Wohnung oder gar eine Kommode fundamentieren das „Bauen“ und die ethische Grundlage.
12.3 Gentrifizierung = Unmoralisch?! Ein Bauwerk allein kann weder moralisch noch unmoralisch sein und daher auch ethisch nicht bewertet werden. Nur das Handeln, die Entscheidung und die Zielvorstellung, welche zu diesem Bauwerk führten,
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können aus bestimmten Perspektiven als richtig oder falsch eingeschätzt werden. Aus theoretischer Sicht des Kaninchens ist das Bauen einer Höhle moralisch richtig. Ein Mensch, der die Standsicherheit seines Hauses durch diese Kaninchenhöhle gefährdet sieht, könnte dieses Handeln wiederrum als unmoralisch bewerten. Andererseits bebauten Menschen in Deutschland im Jahr 2016 jeden Tag die Fläche von über 70 Fußballfelder (Umweltbundesamt 2018). neu. Darunter zählen nicht nur Gebäude, auch Verkehrsfläche und technische Infrastruktur (Strommasten, etc.) sind inkludiert. Nur selten wird bei Neubauprojekten eine tiefgreifende Debatte über einheimische Tierwelten geführt. Dieses Thema der Veränderung des Lebensraums, welches dem „Bauen“ inhärent ist, trifft jedoch nicht nur auf die Tierwelt zu, sondern auch auf humane Gesellschaftsschichten. Zu nennen ist der in den letzten Jahren fast inflationär genutzte Begriff der Gentrifizierung, welcher außerordentlich negativ besetzt und als Schlagwort für eine fehlgeleitete Entwicklung verwendet wurde, bis er vollständig an Inhalt verloren hat. Gentrifizierung bedeutet einen ökonomischen und sozialen Strukturwandel in einem definierten städtischen Gebiet und dem damit einhergehendem Verdrängungsprozess der ansässigen Bevölkerungsschicht. Der Ursprung für die Gentrifizierung kann eine bauliche Veränderung des städtischen Gebietes mit anschließender Attraktivitätssteigerung sein (z. B. die Umnutzung von Industriebauten zu Loft-Wohnungen, siehe Abb. 12.2), aber auch ein bestimmtes neues Angebot an Kultur-, Freizeit- und Konsummöglichkeiten. Ist dieser Vorgang einmal begonnen, kann er sich selbst beschleunigen. Weitere Angebote für eine neue Bevölkerungsschicht folgen, welche wiederum bauliche Veränderungen mit sich bringen. Mit dem Begriff der Gentrifizierung wurde das „Bauen“ in sozialschwachen Gebieten nun öffentlich – mehr oder weniger – einer ethischen Prüfung unterworfen und als unmoralisch bewertet. Ein gesellschaftlich geführter Diskurs über Ethik im Bauwesen ist eher selten und prinzipiell als positiv zu bewerten, wenn dieser zu konstruktiver Kritik führt. Eine allgemeingültige Ablehnung von Bauvorhaben, ohne
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Abb. 12.2 Blick auf den Karl-Heine-Kanal in Leipzig, gesäumt von ehemaligen Industriebauten mit hochpreisigen Loft-Wohnungen und Neubauten
das Problem im Kontext zu betrachten, ist weder zielführend noch hilfreich noch im Sinne der Auseinandersetzung mit der Ethik im Bauwesen. Dass eine Gentrifizierung in nahezu allen Gesellschafts- und Einkommensschichten vorkommt, wird bei Diskussionen zu diesem Thema häufig vernachlässigt oder gar bewusst nicht beleuchtet. In vielen europäischen Großstädten z. B. findet eine Art „Supergentrifizierung“ statt, also die Aufwertung eines bereits aufgewerteten Viertels. Neu hinzugezogene Gesellschaftsschichten, welche zuvor von einem Teil der dort leben- und arbeitenden Gesellschaftsschicht abgelehnt wurden, sich dennoch gerade in diesem Stadtgebiet etabliert haben, werden nun selbst wieder aus dem Gebiet verdrängt. Die Mieten/Preise zum Wohnen steigen weiter und somit wird es unumgänglich, dass ein erneuter Strukturwandel einsetzt. In den Städten scheinen die Mieten und Immobilienpreise der Maßstab zu sein, anhand dessen die Gentrifizierung gemessen wird. Selbstverständlich verändert ein solcher Verdrängungsprozess auch die (natürliche, gesellschaftliche, bauliche, strukturelle, etc.) Umwelt. Dies tut das „Bauen“ – also die Inanspruchnahme von statischem Raum und Material – an sich aber bereits, seitdem gezielt gelegte Äste und Zweige in den Anfängen der menschlichen Bautätigkeit ein Dach bilden (ein solcher Prozess ist gleichwohl nicht nur den Menschen zu
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eigen). Es deswegen als unmoralisch abzutun, ist eine fragwürdige Entscheidung. Sicher gibt es auch gesellschaftlich unverträgliche Baumaßnahmen, welche der negativen Bedeutung der Gentrifizierung entsprechen, jedoch sollte die Verwendung des Begriffs „Gentrifizierung“ und die damit verbundene Botschaft ebenso einer ethischen Prüfung unterworfen werden. Über Jahrhunderte hinweg ist unser Lebensstandard gewachsen und ein Ende ist nicht zu sehen, obwohl wir uns bereits jetzt weit über der Schwelle der Nachhaltigkeit entwickelt haben. Die Umweltverschmutzung, globale Erwärmung und Ressourcenknappheit werden in naher Zukunft eine Umstellung erfordern. Doch davon ist ebenso wenig in der gesellschaftlichen und global politischen Entwicklung zu sehen. Unsere Städte werden weiterhin einer Segregation, einer Entmischung der Bevölkerung, unterliegen. Die Ungleichheit der Lohnentwicklung zwischen Gut-Verdienenden und Schlecht-Verdienenden geht immer weiter auseinander. Zudem wird die Entmischung innerhalb von Stadtgebieten auch an religiösen, ethnischen, sozialen und demografischen Aspekten sichtbar. Betrachtet man die von Hollywood-Produzenten gemachte Zukunftsfiktion oder die Visionen der großen IT-Unternehmen (Microsoft, Apple und Co.), so ist die Zukunft urban und geprägt von Wohlstand. Jede Gesellschaftsschicht will in irgendeiner Art und Weise von dem Wohlstand und dem Fortschritt profitieren. Viele wollen gar aktiv daran teilnehmen. Aber wie sollen Städte sich den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Anforderungen anpassen, wenn nicht mehr gebaut werden darf? Wenn jede Sanierungsmaßnahme, die über das absolut notwendigste hinausgeht, verteufelt wird, kann sich eine Stadt nicht weiterentwickeln. Und die Anforderungen an unsere Städte wuchsen in den letzten Jahren durch die Immigrationsbewegung schlagartig. Wohnen wurde zu einer Existenzfrage und während unser durchschnittlicher Bedarf an Wohnraum Jahr für Jahr steigt, werden durch die o.g. Entwicklungen nun noch mehr Wohnungen benötigt. Diese doppelte Belastung wird Großstädte die nächsten Jahre – wenn nicht sogar Jahrzehnte – beschäftigen und immer neue Lösungen abfordern. Ein hoch
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kompliziertes soziales Geflecht innerhalb der Stadtviertel dabei unangetastet zu lassen ist wohl die größte Herausforderung. Dabei hat sich häufig dieses soziale Geflecht nur durch Verdrängung und Veränderung gebildet, ganz nach dem darwinistischen Evolutionsgedanken. Somit ist ein Großteil der Bevölkerung Teil der Gentrifizierung, egal ob einige von ihnen gegen Gentrifizierung sind oder nicht. Die Veränderung der Stadt in ihrer baulichen und sozialen Struktur ist ein historisch anhaltender Prozess. Eine moralische Bewertung dessen kann bei dem einzelnen Menschen negativ ausfallen, auf städtebaulicher Sicht ist der Veränderungsprozess im Sinne der zukünftigen Entwicklung moralisch vertretbar. Die Gentrifizierung sollte dabei relativiert werden. Renditegetriebene Immobilienentwicklung sollte jedoch unbedingt gebremst werden. Wohnen darf nicht zu einem Luxusgut werden. Die Vereinten Nationen haben das Recht auf Wohnen als Menschenrecht definiert. In einigen Landesverfassungen Deutschlands wurde dies aufgenommen – dort jedoch juristisch nicht einklagbar und daher nahezu belanglos. Im Deutschen Grundgesetz steht von diesem Menschenrecht nichts. Wie würde es aussehen, wenn der Sozialstaat seine soziale Verantwortung ausübt? Eine enorme Anzahl an Wohnungen müsste geschaffen werden. Diese müssten einem modernem und zukünftigen Lebensstandard genügen und dies noch zu Preisen, welche dem Standard nicht entsprechen. Grundstücke dürften kein renditemaximiertes Produkt sein, sondern es müsste eine sozialverträgliche Bodenpolitik eingeführt werden. Die Städteplaner, Architekten und Visionäre sind gerade in dieser Zeit gefordert, Lösungen zu finden, um moralisch vertretbaren Wohnraum zu schaffen. Diese Entwicklung darf nicht auf kurzfristige Erfolge abzielen, vielmehr muss es die Basis für weitere Entwicklungen sein. Eine Gentrifizierung darf unter diesen Gesichtspunkten kein Spekulationsobjekt sein. Das Wohn-(Lebens-) Viertel muss weiterhin seiner sozialen Verantwortung, der Versorgung mit Gütern und Kultur, mit Wohn- und Arbeitsstätten, gerecht werden. Erst wenn dies der Fall ist, kann auch eine Gentrifizierung moralisch richtig sein.
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12.4 Nachhaltigkeit = Moralisch!? Das „Bauen“ greift nicht nur in unsere (gebaute) Umwelt ein, sondern auch immer in den sozialen Raum – direkt oder indirekt. Somit sollte sich jeder am Bau Beteiligte dieser Verantwortung bewusst werden. Gelegte Steine und gegossener Beton werden Jahre, manchmal Generationen, überdauern. Je nach Nutzung wird das Leben von vielen Menschen beeinflusst. Die Errichtung eines menschgemachten Gebäudes bedarf in der Regel mehr Personen, als es z. B. Biber für eine Biberburg bedarf. Darüber hinaus wächst durch die fortschreitende Technisierung und Spezialisierung die Zahl der Fachmeinungen hinsichtlich des Bauens. Die Frage nach der Ethik beim „Bauen“ muss eine weitere Fachrichtung im Bauen sein. Denn die Frage nach dem moralisch Richtigen und damit dem sozialen Einfluss ist beim Bauen genauso wichtig wie die Standsicherheit, Regendichtheit, energetische Versorgung, technische Erschließung und so weiter. Im Sinne der Nachhaltigkeit, welche allgemeingültig als moralisch richtig angesehen wird, beginnt die Bewertung des Bauens nicht erst beim Gebäude, sondern umfasst den gesamten Lebenszyklus. Gebäude haben bereits als Idee eine Existenz. Während zeichnerisch eine Tür verschoben, eine energetisch hochwertige Geothermieanlage installiert oder ein der Öffentlichkeit zugänglicher Gemeinschaftsraum erstellt werden kann, ist dies bei einem vorhandenen Gebäude mit deutlich mehr Aufwand verbunden. Somit sollte bereits bei der Initiierung eines Projektes die Ethik zur Rate gezogen und die Konsequenzen daraus berücksichtigt werden (siehe Abb. 12.3).
Konkretisierung Iniierung
Projekerung
Realisierung
Betrieb
Recycling
Konzepon
Abb. 12.3 Abfallende Beeinflussbarkeit über die Projektphasen hinweg
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Leider wird mittlerweile der Begriff „Nachhaltigkeit“ genauso inhaltsleer kommuniziert, wie „Gentrifizierung“. Denn während es im Supermarkt auf jeder Milchpackung steht, jede Waschmaschine mit einer nachhaltigen „Öko-Funktion“ aufwartet und der Stromanbieter nur noch nachhaltigen Strom anbietet, fragt kaum jemand danach, was dies eigentlich bedeutet. Aus den deutschen gesetzlichen Vorgaben heraus ist jedes neugebaute Haus im Sinne dieser inhaltsleeren Betrachtung nachhaltig. Das Marketing aller Branchen nutzt diesen Umstand gnadenlos aus und verpackt diese Botschaft auf jede nur erdenkliche Weise. Aber wie nachhaltig ist unsere aktuelle Bautätigkeit wirklich? Dazu gibt es national, wie international diverse Zertifizierungssysteme für unterschiedliche Projektphasen, welche einfach verständliche Gold-, Silberoder Bronze-Siegel vergeben, z. B. Deutsche Gesellschaft für nachhaltiges Bauen (DGNB), Leadership in Energy and Environmental Design (LEED) oder Building Research Establishment Environmental Assessment Method (BREEAM). Hätte ein Prachtbauwie zum Beispiel das Schloss von Versailles auch nur ein einziges Siegel für die Nachhaltigkeit erhalten? Wahrscheinlich nicht, denn die Energiekennwerte wären wohl zu schlecht. Die Heizung wäre zu ineffizient und die Wärmedämmung vermutlich nicht vorhanden. Nichts desto trotz ist dieses Schloss ein Bauwerk, welches unsere Welt nachhaltig geprägt hat. Wie aussagekräftig sind also solche Siegel in Zeiten von Energieeinsparungsgesetz (EnEG), Energieeinsparverordnung (EnEV) und Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz (EEWärmeG). Wenn die Gesetzgebung bereits so hohe Richtwerte vorgibt, ist der Kampf der Nachhaltigkeit eigentlich ein Kampf der Luxusgüter unserer reichen Industrienationen. Wir ringen um jede Kilowattstunde und bewerfen uns gegenseitig mit Gold-Siegeln, während in anderen Ländern dieser nur augenscheinlich globalisierten Welt sich die Menschen in katastrophalen Wohnbedingungen befinden. Der Aspekt des wahren Verbrauchs von Ressourcen (z. B. virtueller Wasserverbrauch, graue Energie) wird fast niemals beleuchtet. Diese Betrachtung würde unseren hohen Lebensstandard anprangern und nahezu jede Nachhaltigkeitsbilanz relativieren. So gesehen kann ein Gebäude nur so nachhaltig sein, wie es die Nutzung und die Benutzer sind. Zudem müssten Vorketten – also die Beschaffung und Verarbeitung von Ressourcen
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– untersucht werden. Auch wäre ein suburbanes Niedrigenergiehaus gesamtenergetisch kaum besser als ein sanierter Altbau im Kerngebiet einer Stadt, da auch die induzierte Mobilität eines Gebäudes auf das Energiebudget angerechnet wird (Tab. 12.1). Die sogenannte „Graue Energie“ ist ein Ausdruck der Energie, welche indirekt den Stoffen innewohnt. Und nicht nur die Energie in Form von Strom und Wärme ist ein wichtiger Aspekt, auch die weiteren Ressourcen, die verbraucht wurden, sind wichtig, z. B. Trinkwasser. Zum Beispiel ein Passivhaus (ein „hochgelobtes“ Zertifizierungssystem für Gebäude, welche nur einen sehr geringen Energiebedarf haben, da diese die passiven Wärmegewinne aus dem Betrieb des Gebäudes und der Sonne nutzen), kann somit umweltschädlicher sein, als ein auf Graue Energie optimiertes konventionelles Gebäude. Umweltschädlicher im Sinne, dass zum Beispiel dieses Gebäude mit Styroporplatten gedämmt wurde. Dieser Stoff wird aus Erdöl, hohem Druck und enormen Temperaturen hergestellt. Auch kann der Stoff in keiner Weise der Umwelt wieder zugeführt werden, er kann nur – unter weiteren Energieaufwand – in andere Kunststoffe umgewandelt werden. Nur dieser Energieaufwand aus den Produktions- und Recyclingprozessen rückt aus dem Fokus, da er entweder noch nicht stattgefunden hat (Recycling), durch die örtliche Trennung von Produkt und Produktion nicht bewusst wahrgenommen wird und/oder einfach nicht kommuniziert wird. Moralisch ist es jedoch kaum vertretbar, dass unsere Nachhaltigkeit auf Kosten der Lebensqualität anderer Menschen weiter besteht. Die Position des Geldes wird mit zunehmender Kapitalisierung der Gesellschaft überproportional größer, sodass dies heutzutage in Deutschland – gefühlt – zur oberste Doktrin ausgerufen wurde. Diesem Umstand muss sich scheinbar alles unterordnen, auch die Ethik im Bauwesen. (Oder?). Nachhaltiges Bauen kann in sieben Punkten zusammengefasst werden: 1. Geringer Eingriff in die Natur Der Kerngedanke der Nachhaltigkeit ist jener, die Natur zu erhalten. Neben der Veränderung der Umwelt (natürlich, gesellschaftlich, etc.)
Kernstadt
0,0 292,0 25,0 317,0
Standort
Baumaßnahmen Unterhalt Induzierter Verkehr Summe 14,2 14,2 25,0 95,8
37,5 37,5 25,0 116,9
50,0 33,5 25,0 108,5
Sanierung versus Neubau: Energiebilanz nach Fuhrhop/Ewert Haustyp Altbau 1950er Jahre Abriss und Ersatzneubau Bestand Sanierung Standard Passivhaus1
50,0 15,0 25,0 90,0
50,0 15,0 47,3 112,3
50,0 15,0 75,0 140,0
Neubau Passivhaus andernorts nach strengen Maßstäben Kernstadt Stadtrand Umland
Tab. 12.1 Energiebilanz einer Altbausanierung im Vergleich mit einem Abriss und anschließendem Neubau, sowie eines Neubaus in unterschiedlichen Regionen (Fuhrhop 2015)
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282 C. Breuer
ist dem Bauen auch die Besetzung eines Ortes inhärent. Um dies im Einklang mit der Nachhaltigkeit zu gestalten, sollte die Einschränkung der Natur auf das notwendigste Maß erfolgen. Voraussetzung dafür ist selbstverständlich die Abwägung der Notwendigkeit des Gebäudes selbst. 2. Umwelt- und gesundheitsfreundliche Ressourcen Ein Gebäude – im Sinne der Bautechnik – definiert sich u. a. durch seine materielle Manifestation. Dieser Zustand kann nur durch Verwendung von physischem massewirkendem Material erzeugt werden. Die verbauten Materialien sollten über den ganzen Lebenszyklus hinweg dem nachhaltigen Zweck dienen, angefangen bei der Produktion, dem Transport über den Nutzwert des Materials bis zur Entsorgung und Recycling. In keiner Phase darf das Material summiert mehr Energie und Ressourcen beanspruchen, als es über den Lebenszyklus hinweg einsparen kann. Auch darf das Material unter keinen Umständen einen negativen Einfluss auf seine Nutzer und seine Umgebung haben. 3. Zweckmäßige Raumlösungen Der umbaute Raum, welcher prinzipiell schon immer vorhanden war, jedoch erst durch das „Bauen“ als eine Form definiert wurde, sollte dem gewünschten Zweck dienlich sein. Jede verbrauchte Ressource, materiell oder immateriell, wäre verschwendet, wenn das Gebäude nur sich selbst dient. Die Nutzer sollen aktiv den umbauten Raum nutzen können. Im Gegenzug soll das Gebäude mit seinen definierten Räumen den Nutzer bei seinen Tätigkeiten unterstützen. Nutzer und Gebäude stehen also in einer nonverbalen Kommunikation. 4. Geringer Energiebedarf Selbstverständlich sollten die Raumlösungen, die technische Ausstattung und die verwendeten Materialien dazu beitragen, den Energiebedarf des Gebäudes so gering wie möglich zu halten.
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Bei der Ermittlung des Gesamtenergiebedarfes spielt jedoch die Heizwärme im Wohnbau immer noch eine entscheidende Rolle. In Bürogebäuden wird das Thema der Lüftung und Kühlung im Sommer immer wichtiger. Nutzungsspezifische Klimatisierung ist hier eine bedeutende Aufgabe. Die raumklimatischen und zeitlichen Anforderungen an z. B. einen Schulraum sind komplett andere, als die an eine Wohnung. Während ein Schulraum kurze Aufwärmzeiten und Kühlzeiten benötigt, die Nutzungsintervalle kürzer sind, kann hingegen eine Nutzung in den Abend- und Nachtstunden fast vollständig ausgeschlossen werden. Eine Wohnung andererseits hat deutlich längere Nutzungszeiträume und den Anspruch eines gleichbleibenden Klimas. Die Aufwärm- und Kühlzeiten können länger sein. Die Nutzung zu den Abend- und Nachtstunden ist sehr häufig gegeben. Ein Gebäude und die verbaute Technik sollten diesen Anforderungen entsprechen, so kann effektiv Energie eingespart werden. 5. Regenerative Energiequellen Ein Energieverbrauch in den Gebäuden ist fast immer notwendig und eine Einsparung kann nur bis zu einem gewissen Grad erfolgen. Daher ist auch die Versorgung der Gebäude mit Energie von essenzieller Bedeutung. Diese sollte aus nachhaltigen Quellen erfolgen, somit lässt sich die Nachhaltigkeitsbilanz aufrechterhalten. Das Gebäude selbst kann dazu beitragen, indem es die umgebende Energie nutzbar macht. Als Beispiel ist solare Energie zu nennen, welche sowohl in Strom als auch in Wärme umgewandelt werden kann. 6. Qualität und Langlebigkeit Je länger ein Gebäude steht und je länger es seinen gewünschten Zweck erfüllt, desto länger ersetzt es auch den Ressourcenaufwand eines Umbaus bzw. Neubaus. Die bereits investierten Ressourcen können so bilanziell über einen längeren Zeitraum berechnet werden und verbessern die Nachhaltigkeit.
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7. Wirtschaftlicher Betrieb Nicht nur zum Schluss muss sich Nachhaltigkeit auch rechnen. Dies tut sie, wie es der Nachhaltigkeit inne ist, über den Lebenszyklus. Und genau so muss auch die Wirtschaftlichkeitsbetrachtung sein. Wurde ein Gebäude nach diesen Grundsätzen der Nachhaltigkeit geplant, so kann es einen positiven Beitrag zum Leben im Einklang mit der Natur und den moralisch-ethischen Grundsätzen sein.
12.5 Autochthone Bauweisen Das nachhaltige Bauen muss nicht erfunden werden. Ethische Grundlagen waren lange Zeit eine unausgesprochene Selbstverständlichkeit im Bauwesen. Vergangene und vergessene Bauwerke, alltägliche Profanbauten zeigen, dass Bauen der Zeit entspricht. Vielmehr als aktuelle technische Errungenschaften prägen Kultur und Zeitgeist ein Gebäude. Eine irdische Existenz findet niemals nur in den bekannten drei räumlichen Dimensionen statt, vielmehr steht sie auch im Zusammenhang mit der aktuellen Zeit. Genauso wie die Zeit kommt und geht, bewegen sich auch Bauwerke kommend und gehend durch die Zeit. Spuren davon zu finden, ist eine gesonderte wissenschaftliche Disziplin. Es werden immer wieder Reste von Bauwerken gefunden, welche fast vollständig der Natur zurückgeführt sind. Im Vergleich dazu werden unsere heutigen Gebäude, bzw. die Baustoffe davon viele Jahrhunderte bestehen bleiben oder als Sondermüll entsorgt werden (z. B. Styropordämmung). Die traditionell errichteten Gebäude entstanden in ihrer Bauform über viele Jahre hinweg und sind beeinflusst durch das örtliche Klima, die Ressourcen und die Kultur. Diese Gebäude lassen sich aus lokalen Materialien (Holz, Stein, Lehm, Stroh, o.ä.) erbauen und dahin auch wieder zurückführen. Sowohl die Beschaffung als auch die Verarbeitung ist dabei energieeffizient. In waldarmen Regionen wurde häufige auf Lehm und Stroh zurückgegriffen, ansonsten ist Holz ein häufig verwendeter Rohstoff.
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Die Wahl der Materialien richtet sich auch nach dem Klima, ebenso die geometrische Bauform z. B. Papierwände in traditionellen chinesischen Wohnhäusern, Lehmhütten in Ägypten oder das klassische Fachwerkhaus im Schwarzwald. Werden heutzutage jedoch neue Gebäude errichtet, sieht eine Wand oder ein Dach in Amerika genauso aus, wie in Südafrika. Schwarze gläserne Bürotürme stehen fast baugleich in jeder Metropole weltweit. Und dies, obwohl sowohl das Klima, die Kultur, als auch die lokalen Ressourcen immer anders sind. Diese Defizite werden mit technischen Raffinessen versucht zu kompensieren. Ein Raumklima zu erzeugen, wie es z. B. ein Wohnhaus in Damaskus durch eine clevere Luftführung hat, obliegt nur einer Klimaanlage. Das Bauen (und nicht nur das) hat also durch die Möglichkeiten der Technik selbst die Chance gewonnen, sich von der Natur losgelöst zu entwickeln. Dies kann nicht dem Sinn der Nachhaltigkeit entsprechen. Während alte traditionelle Bauwerke selbstverständlich nachhaltig waren, haben neue Bauwerke diese selbstverständliche Nachhaltigkeit verloren. Viel zu oft wird versucht, mit noch mehr technischer Raffinesse eine ähnliche Nachhaltigkeit wiederherzustellen. Obwohl die offensichtlichste Lösung eher im Verzicht liegt, ist die Lösung in der aktuellen Kultur der Wirtschaftlichkeit ein weiterer gesteigerter Konsum. Und da die Kultur ein wesentlicher Aspekt für das Bauen ist, wird es keine andere Nachhaltigkeit im Bauen geben. Die selbstverständliche Nachhaltigkeit muss der additiven Nachhaltigkeit weichen: eine Nachhaltigkeit, welche im Technikkeller gelöst wird und nicht im Konzept, eine Nachhaltigkeit, welche als „Zusatzfunktion“ zu einem Gebäude existiert. Dies ist keinesfalls nur eine Dystopie. Viele Haushaltsgeräte (Waschmaschine, Duschkopf, Heizungsanlagen etc.) haben eine zuschaltbare Öko-Funktion, Nachhaltigkeit auf Knopfdruck sozusagen. Erst die Möglichkeiten der Technik haben uns der Nachhaltigkeit entfremdet und nun wird im Bauwesen versucht, diese Nachhaltigkeit mit noch mehr Technik wiederherzustellen. Dies kann nicht der richtige Weg sein.
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„Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn es nichts mehr hinzuzufügen gibt, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann.“ (Antoine de Saint-Exupéry). In diesem Sinn ist das neue Hightech nicht die höchst mögliche Ausbaustufe eines technischen Apparats, sondern genau das Gegenteil, die geringste mögliche Ausbaustufe.
12.6 Lowtech ist das neue Hightech Die Technik wird immer komplizierter, anfälliger und auch teurer. Nicht nur Defekte können von immer weniger Fachfirmen korrekt identifiziert werden, auch die korrekte Bedienung und Nutzung von hochgerüsteten Gebäuden wird für den Nutzer kaum noch möglich. Die Folge ist eine ineffiziente Nutzung, welcher dem Kerngedanken der installierten Technik – nämlich der Senkung des Energieverbrauchs – entgegensteht. Oft ist der Energieverbrauch dadurch sogar höher als der eines konventionell gebauten Gebäudes. Erst mehrjährige intensive Schulungen des Personals des Neubaus des Bundesumweltamts in Dessau haben, laut des Architekten Matthias Sauerbruch, dazu geführt, dass das hoch energieeffiziente Gebäude auch die errechnete Energie einspart. Bei dem Projekt war genau dies im Fokus. Private Hausbesitzer, welche kein Monitoring – also die detaillierte Auswertung der Verbrauchskennzahlen – ihres Gebäudes vornehmen, sondern einzig die Stromrechnung als Indikator verwenden, werden wahrscheinlich nie die im Hochglanz-Prospekt versprochene Energieeinsparung erzielen. Die finanzielle und/oder materielle Amortisation – die Deckung der initialen Aufwendungen für ein Objekt durch Einsparungen aus diesem – findet so teilweise bis zum Ende der Obsoleszenz nie statt. Dies entspricht nicht der Nachhaltigkeit. Ein Gebäude mit einer selbstverständlichen Nachhaltigkeit ist durch den Benutzer intuitiv nutzbar. Selbstverständlich ist es mit unseren heutigen hohen Ansprüchen an die Lebensqualität nicht mehr möglich, in Fachwerkhäusern mit ausschließlichen Lehmwänden zu wohnen (es sei zu erwähnen, dass Wände aus Lehm ein hohes Potenzial der Selbstregulierung des gesunden
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Raumklimas besitzen). Zumal sich dabei die Frage nach dem „Warum“ stellt. Denn nicht nur unser Bauen hat sich von der Nachhaltigkeit entfernt, vielmehr ist das Bauen eine Reflexion unserer Lebensumstände und Kultur. Demzufolge hat sich unser aller Leben von der Nachhaltigkeit entfernt. Die Fokussierung auf das gegenwärtige „Heute“ (z. B. schneller Profit, Bequemlichkeit) überwiegt das nachhaltige „Morgen“ (z. B. lebenswerte Umwelt). Es obliegt den Planern und Architekten, den Blick über den Tellerrand hinweg schweifen zu lassen und auch das „Gestern” und das „Übermorgen“ zu sehen. Autochthone Bauweisen wurden lange Zeit von der etablierten Architektur ignoriert. Wird die alte „Technik“ adaptiert, modifiziert, kombiniert und kopiert, könnten Gebäude entwickelt werden, welche eine höhere Qualität aufweisen, als hochgerüstete Hightech-Gebäude. Der Verzicht oder ein geringer dimensionierter wie-auch-immer-effizienter Heizungskessel ist prinzipiell effizienter, als der Heizungskessel es selbst je könnte. Die Verwendung von Sonnenlicht und damit die solare Wärme ist nachhaltig und prinzipiell kostenlos (richtig dimensionierte und positionierte Fenster, Gebäudekubatur und -ausrichtung vorausgesetzt). Die Akademie Mont-Cenis bei Herne hat um die Gebäudevolumen eine Klimahülle, welche Temperaturschwankungen abschwächt, solare Wärme aufnimmt und eine natürliche Dämmschicht schafft. Selbstverständlich wurde diese Klimahülle auch sozialräumlich als Park- und Platzfläche genutzt. Geschickte Luftführung und bauliche Verschattung kann eine Klimaanlage und motorbetriebene Raffstores ersetzen. Dies alles kann ein Teil der selbstverständlichen Nachhaltigkeit sein, indem analysiert wird, warum autochthone Bauweisen nachhaltig waren.
12.7 Fazit Jedes Gebäude hat, bedingt durch seine Lebenszeit, einen nachhaltigen Fußabdruck, nur nicht immer ist diese nachhaltig gut! Um der Moral im Bauwesen Rechnung zu tragen, sollten Gebäude sowohl in ökologischer als auch aus sozialer Sicht nachhaltig konzipiert werden. Dies bedingt keinesfalls immer einen Neubau. Häufig ist der Erhalt die
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bessere und sozialverträglichere Alternative. Dies schont nicht nur die Umwelt durch Vermeidung von Neubesetzung von natürlichem Lebensraum, auch die bereits investierten Ressourcen sind nicht verloren. Eine Stadt ist geprägt durch seine Gebäude und die Bewohner. Eine Veränderung dieser im Laufe der Zeit ist unabdingbar, jedoch sollte aus moralischer Sicht auch der Erhalt dieser städtischen Struktur im Fokus stehen. Heutigen Planern und Architekten steht eine Vielzahl an Werkzeugen zur Verfügung. Die technischen Möglichkeiten sind schier unendlich. Jede haustechnische Anlage kann durch eine moderne „nachhaltige“ Anlage ersetzt werden. Während dies im Bestand durchaus eine Alternative ist, sollte ein Neubau seine Nachhaltigkeit nicht ausschließlich darauf ankern. Denn Nachhaltigkeit findet nicht im Technikkeller statt, sondern im Konzept. Die Technik wird immer komplizierter, sodass diese teilweise nicht mehr intuitiv benutzt werden kann. Dabei gibt es bereits nachhaltige Gebäude. Diese sind überall auf der Erde an Orten zu finden, an denen Menschen wohnen und arbeiten. Diese nachhaltige Architektur ist jedoch kein Neubau, es sind die alten traditionellen Bauweisen, welche sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt und sich an die lokalen Bedingungen optimal angepasst haben. Daraus zu lernen sollte die erste Antwort des moralisch nachhaltigen Bauens sein. Eine additive Nachhaltigkeit ist moralisch verwerflich, da diese kaum nachhaltig ist, sondern nur das mediale Wort der „Nachhaltigkeit“ trägt. Zu Beginn dieses Kapitels wurde die Frage aufgeworfen, ob Ethik im Bauwesen überhaupt stattfindet. Ethik war lange Zeit in der Geschichte des Bauwesens ein wesentlicher Aspekt. Mit der Entfremdung von unserer Umwelt haben wir auch den Bezug zur Ethik im Bauwesen verloren. Dieser muss nun mühsam zurückgewonnen werden. Diese Entfremdung und zugleich die zunehmende Beschleunigung der Wirtschaft hin zum kapitalgetriebenen Bauen führte zu einem öffentlichen Diskurs über die Ethik im Bauwesen, obwohl nur wenigen Menschen bewusst ist, dass diese Frage immanenter denn je ist. Weitere Spuren von Ethik im Bauwesen sind vielfach und leicht zu finden, wenn man danach sucht. Albert Speer äußerte Bedenken, dass es
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durch den Atem der Menschen in der „Großen Halle“ regnen könnte. Unabhängig, wie losgelöst von der NS-Herrschaft man die Bautätigkeit zwischen 1937 bis 1943 in Deutschland beurteilt, ist es ein Beispiel dafür, dass Bauen nicht ausschließlich eine Frage der Nutzung, sondern auch der Repräsentation ist. Eine solche Halle kann und sollte auch nie einem anderen Zweck dienen. Die bloße Maßstabslosigkeit als Maßstab der Repräsentation zieht sich ebenso durch die gesamte Baugeschichte. Es sind genau diese Versuche, welche überliefert sind (z. B. die sieben Weltwunder) und als Maß der baulichen Fähigkeiten dienen. Aus Sicht der damaligen Bauherren war die Notwendigkeit gegeben und sicherlich auch von diesen als moralisch richtig angesehen. Die Allgemeinheit hat von solchen Prachtbauten jedoch nur die Erkenntnis gewonnen, welche Person die größere Macht repräsentiert. Wertvolle Ressourcen (Zeit, Kraft, Material, etc.) wurden reichhaltig investiert, ohne einen Nutzen für die Allgemeinheit. Somit wäre dies als unmoralisch zu bewerten. Bauen ist jedoch auch immer ein Ausdruck von Kultur. Und das Bewahren von Geschichte ist eine moralische Handlung. Der ethische Grundsatz im Bauwesen sollte also als erstes lauten, die Ethik wieder fester im Bauwesen zu verankern und die Vergangenheit nicht nur zu bewahren, sondern auch damit zu leben und davon zu lernen. Somit kommen wir mit Würde, Respekt und Ethik in die Zukunft, denn da entscheidet es sich, wie würde- und respektvoll wir heute gebaut haben.
Literatur Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2018) Strukturdaten zur Produktion und Beschäftigung im Baugewerbe. BBSR-Online Publikation. Bundesministerium der Finanzen (2019) Bundeshaushalt 2014–2018. Fuhrhop, D (2015) Verbietet das Bauen! oekom Verlag, München. Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg gGmbH (2016) Energiesuffizienz - Strategien und Instrumente für eine technische, systemische und kulturelle Transformation zur nachhaltigen Begrenzung des Energiebedarfs im Konsumfeld Bauen / Wohnen.
290 C. Breuer
Statistisches Bundesamt (2018) Bautätigkeit und Wohnungen, Bestand an Wohnungen. Statistisches Bundesamt (2019) Prognose zur Entwicklung der Pro-KopfWohnfläche in Deutschland bis zum Jahr 2030 nach Regionen. Umweltbundesamt (2018) Flächensparen – Böden und Landschaften erhalten. Christoph Breuer, 1988 geboren in Leipzig, studierte Architektur an der Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur Leipzig. Nach einigen Jahren Berufstätigkeit in einem renommierten Berliner Architekturbüro studierte er neben der Arbeit „Energetisch Ökologischer Stadtumbau“ an der Hochschule Nordhausen. Nach erfolgreichem Abschluss dieses Studiums hält Christoph Breuer nun selbst Vorlesungen in diesem Studiengang und füllt es mit weiteren Themen rund um die Architektur.
13 Tag Null am Kap der Guten Hoffnung. Eine Wasserkrise als technische Herausforderung und sozialethische Aufgabe Dieter D. Genske und Ernest W. B. Hess-Lüttich
Zusammenfassung Der folgende Beitrag widmet sich der berüchtigten Wasserversorgungskrise in Kapstadt 2018. Nach einem kursorischen Rückblick auf die historische Entwicklung der Wasserversorgung seit der ersten holländischen Siedlung am Kap der Guten Hoffnung wird zunächst das Ausmaß der Katastrophe beschrieben, dann deren Kommentierung in den Medien analysiert und die Rolle der an der Krisenplanung beteiligten Fachdisziplinen diskutiert. Schließlich wird die Zukunftsplanung vorgestellt und danach gefragt, inwieweit die vorgeschlagenen Lösungen ethisch vertretbar sind. Daraus werden abschließend drei Thesen zum ethischen Verhalten von Ingenieuren in Krisensituationen abgeleitet.
D. D. Genske (*) Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Thüringen, Deutschland E-Mail: [email protected] E. W. B. Hess-Lüttich Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_13
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Abstract This article is dedicated to the notorious water supply crisis in Cape Town in 2018. After a short review of the historical development of the water supply since the first Dutch settlement at the Cape of Good Hope, the article first describes the extent of the disaster, then analyses the comments in the media and discusses the role of the disciplines involved in crisis planning. Furthermore, future planning is presented and the extent to which the proposed solutions are ethically justifiable is examined. Finally, three theses on the ethical behaviour of engineers in crisis situations are formulated. Schlüsselwörter Wasser · Wasserversorgung · Afrika · Kapstadt Klimawandel · Ethik
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Keywords Water · Water supply · Africa · Cape Town · Climate change · Ethics
13.1 Der Tag Null Anfang 2018 berichteten die Medien weltweit über eine bevorstehende Katastrophe: Zum ersten Mal drohte einer Millionenstadt das Trinkwasser auszugehen. Drei Jahre in Folge waren die üblichen Niederschläge in der Winterzeit sehr viel geringer ausgefallen als erwartet. Die Wasserstände in den Talsperren sanken auf historische Tiefstände. Die Stadtverwaltung von Kapstadt sah sich gezwungen, den Notstand auszurufen. Als wir, nebenbei bemerkt, vor über zwanzig Jahren, gestützt auf die damals verfügbaren Daten und eigene empirische Projekte in Afrika, auf drohende Wasserkrisen aufmerksam machten, die zu Katastrophen führen und Kriege auslösen könnten, ernteten wir in unserer jeweiligen Zunft noch nachsichtiges Kopfschütteln (Genske und Hess-Lüttich 1999; id. 2006). Dass die Welt ein Wasserproblem bekommen wird, ist heute nicht mehr nur unter Experten opinio communis. Das sicherste Indiz für die Verknappung der Ressource ist das lebhafte Interesse von Ökonomen und Investoren an der ethisch umstrittenen Privatisierung der Wasserversorgung. Der Fall Kapstadt hat das jetzt aller Welt noch einmal exemplarisch vor Augen geführt.
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Ihm gelten daher die folgenden technischen Beobachtungen und diskursethischen Überlegungen. Am 1. Februar trat in Kapstadt die zweihöchste Stufe des Katastrophenplans in Kraft: Ab sofort sollte der Trinkwasserverbrauch durch einen ganzen Katalog von Vorschriften und Maßnahmen noch einmal deutlich gesenkt werden. Landwirtschaftliche Betriebe mussten mit 40 % ihres Wasserverbrauchs von 2015 auskommen. Die Haushalte wurden aufgefordert, den bereits auf 89 L pro Person und Tag begrenzten Wasserverbrauch auf 50 L zu reduzieren (in Deutschland werden durchschnittlich 120–130 L pro Person/Tag verbraucht). Wer diese Einschränkungen ignorierte, musste mit hohen Geldstrafen rechnen. Es wurde empfohlen, nur noch 60 Sekunden lang zu duschen, Grauwasser für die Toilettenspülung zu sammeln, sich die Haare kurz zu schneiden. Das Waschen von Kraftfahrzeugen, auch der städtischen Busse, war bereits im Jahr zuvor untersagt worden. Swimmingpools waren abzudecken und durften nicht mehr genutzt werden. Das allseits beliebte öffentliche Schwimmbad an der Beach Road im Stadtteil Sea Point konnte zwar geöffnet bleiben, weil es nun mit Salzwasser gefüllt wurde, aber alle Wasserhähne in den Duschen und Umkleideräumen wurden abmontiert. In manchen Restaurants wurde der berühmte Wein der Kapprovinz nur noch in Plastikbechern serviert – ein bemerkenswertes Detail, da die Wasserkrise nun eine andere Krise – die Müllkrise – zu verstärken drohte. Nach der Ankündigung der zweithöchsten Stufe des Notfallplans kam es zu Hamsterkäufen, sodass die Supermärkte den Verkauf von Trinkwasser bis auf wenige Liter pro Person einschränkten. In den öffentlichen und den sozialen Medien, im Internet, auf Straßen und Plätzen wurden die Tage bis zum Day Zero gezählt, dem Tag, an dem das Wasser würde abgestellt werden müssen (Abb. 13.1).
13.2 Camissa oder der „Ort des süßen Wassers“ Weithin sichtbar schiebt sich der Nebel über das Hochplateau, ein Phänomen, das immer wieder sowohl Kapstädter als auch Touristen fasziniert (Abb. 13.2). Captonians, wie die Kapstädter sich selbst nennen, nennen dieses Wolkenspiel „the table cloth“,
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Abb. 13.1 Nur noch 68 Tage bis zum Day Zero (Installation am Church Square, Kapstadt)
Abb. 13.2 Kapstädter table cloth, die Nebelwolken, die den Tafelberg schein bar hinunterstürzen
ihre „Tischdecke“. Die spezielle Lage der Kap-Halbinsel, mit dem kalten Benguela-Strom des Südatlantiks im Westen und dem warmen Agulhas-Strom des Indischen Ozeans im Osten, schafft ein einzigartiges Klima mit üppigen Regenfällen von April bis September, dem
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südafrikanischen Winter. An den Hängen des Tafelberges stürzen dann kleine Wasserfälle in Kaskaden zu Tal, die sich in einer Vielzahl von Bächen sammeln und schließlich ins Meer münden. Über das Jahr wird zudem das Regenwasser in den Grundwasserleitern des Tafelbergs, den Tafelberg-Aquiferen, gespeichert, die etliche Quellen speisen. Schon die Ureinwohner der Kapprovinz, die Khoikhoi, ließen ihre Herden an den Hängen des Tafelberges weiden und nannten diese imposante Naturlandschaft Camissa, den „Ort des süßen Wassers“. Die Wassergeschichte des Tafelberges wurde von Petro Kotzé in zwei Aufsätzen beschrieben und anschaulich illustriert (Kotzé 2010; id. 2011). Als 1647 die niederländische Haarlem der Verenigden Oostindischen Compagnie (VOC) am Kap Schiffbruch erlitt, rettete sich die Mannschaft an die Ufer des Varsche Flusses (des „frischen“ Flusses). Sie konnten dort zur Selbstversorgung Gemüse anbauen und trafen sogar mit den Ureinwohnern zusammen, bevor sie von der Coningh van Polen 1648 wieder abgeholt wurden. Nur vier Jahre später wurde der niederländische Kaufmann Jan van Riebeeck ans Kap geschickt, um dort eine Basis für die VOC zu errichten. Hier sollten die um das Kap nach Indien segelnden Schiffen Frischwasser und Nahrung aufnehmen. Seine Versuche, Gemüsebeete zu pflanzen, schlugen zunächst fehl, aber nach den anfänglichen Rückschlägen wurden daraus florierende Gartenanlagen, aus denen schließlich der Company’s Garden werden sollte, der schönste Stadtpark im Herzen von Kapstadt. 1655 kam es zu Beschwerden über die Qualität des am Kap aufgenommenen Frischwassers. Mehrere Matrosen waren an verdorbenem Wasser erkrankt. Daraufhin wurde das erste Umweltgesetz Südafrikas erlassen und als Placaat 12 veröffentlicht: Von nun an war es verboten, flussaufwärts der Wasserentnahmestellen zu baden oder zu waschen. Außerdem wurde ein System von Entwässerungsgräben und Grachten errichtet. An einige erinnern heute noch Straßennamen wie die Buitengracht. Ein erstes Reservoir, der Waegenaer’s Dam wurde errichtet, um Trockenzeiten zu überbrücken (heute befindet sich hier das Golden Arch Building). Die kanalisierten Wasserläufe wurden auch für den Antrieb von Wassermühlen genutzt, die im 19. Jahrhundert mit Windmühlen ergänzt wurden.
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Entlang der Grachten entstanden repräsentative Straßenzüge mit schmucken Bauten, die vom wirtschaftlichen Aufschwung der jungen Kolonialstadt zeugten. Da es jedoch keine funktionierende Abfallentsorgung gab, waren die Grachten bald mit Abfällen verschmutzt. Dies zog Wildtiere wie Hyänen an, im stehenden Wasser brüteten Moskitos, und immer wieder fanden betrunkene Seeleute in den Grachten ihr Ende. Die Situation verschlimmerte sich mit dem wirtschaftlichen Niedergang der VOC. Als die Briten 1806 die Kapprovinz übernahmen, bauten sie zunächst die Wasserversorgung aus, legten ein modernes Wasserversorgungsnetz an und errichteten gleich mehrere Dämme, um Trinkwasser zu speichern. Gleichzeitig begannen sie, die Grachten zu überbauen; neue, breite Straßenzüge entstanden. So wurde zum Beispiel aus der Heerengracht die heutige Adderley Street. Als 1901 die Beulenpest in Kapstadt ausbrach, wurden die letzten noch bestehenden Grachten geschlossen und weitere Maßnahmen zur kontrollierten Abwasserentsorgung eingeleitet. Mit der Zunahme der Bevölkerung wurde in trockenen Jahren immer wieder das Wasser knapp. Die Ingenieure bauten also weitere Trinkwasserreservoirs, schließlich selbst auf dem Tafelberg (den Woodhead Dam). Etwa 100 km vom Stadtzentrum entfernt wurde 1971 den Voëlvlei Dam vollendet, nachdem die Landbesitzer bereits in den 1940er Jahren im Rahmen der Bewässerungsplanung enteignet (und kompensiert) worden waren. Die größte Trinkwassertalsperre, der ebenfalls 100 km entfernte Theewaterskloof Dam, wurde 1978 fertiggestellt und fasst 480 Mio. m3. Aus heutiger Sicht handelten die Ingenieure richtig, als sie auf den zunehmenden Wasserbedarf mit technischen Lösungen reagierten. Sie planten den Ausbau der Wasserversorgung mit soliden Baumaßnahmen – auch wenn es gelegentlich Rückschläge gab, zum Beispiel beim Bau des Molteno Dams am Ende des 19. Jahrhunderts, der sich anfangs als undicht erwies. Aber im Großen und Ganzen konnten die Ingenieure – im Rahmen ihres Auftrags – die technisch enormen Herausforderungen der Wasserversorgung zunächst noch erfolgreich bewältigen. Aber schon bald tauchte die Frage auf, ob allein durch den Bau immer neuer Trinkwassertalsperren das Problem der Wasserknappheit nachhaltig gelöst werden könne. Und es folgten weitere drängendere Fragen: Sind die
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vielen Talsperren-Projekte auch ökologisch vertretbar oder zerstören sie möglicherweise die eindrucksvolle Naturlandschaft mit ihrer einzigartigen Flora und Fauna? Wird das Trinkwasser wirklich so gerecht verteilt, dass jeder Bürger Kapstadts, sei er arm oder reich, ausreichend versorgt wird? Verleitet die scheinbar unbegrenzte Verfügbarkeit von Trinkwasser die Bürger, die Bauern und die Winzer womöglich zu einem verschwenderischen Umgang mit der eigentlich kostbaren Ressource? Wird dem prognostizierten Bevölkerungszuwachs genügend Rechnung getragen? Wird sich der Einwanderungsdruck auf die Stadt am Kap durch eine reibungslose Wasserversorgung vielleicht noch verstärken? Solche und ähnliche Fragen können die an der Wasserversorgung beteiligten Ingenieure und Geologen nicht beantworten, ohne sich mit Vertretern anderer Disziplinen, also mit Planern, Demoskopen, Soziologen, Ökologen, Politikern usw. abzustimmen. Die Frage nach dem richtigen, dem ethischen Handeln setzt also einen interdisziplinären Dialog voraus. Wie dringend geboten ein solcher Dialog ist, sollte das Jahr 2018 jedem Skeptiker eindringlich vor Augen führen.
13.3 Katastrophe mit Ansage Am Kap der Guten Hoffnung herrscht ein mediterranes Klima mit heißen, trockenen Sommern und milden, regenreichen Wintern. Infolge der saisonal also sehr unterschiedlichen Niederschlagsmenge unterliegt der Füllungsgrad der Talsperren, die die Trinkwasserversorgung Kapstadts zu über 90 % sicherstellen, erheblichen jährlichen Schwankungen. Während des südafrikanischen Sommers wird mehr Wasser verbraucht als die seltenen Regenfälle nachfüllen können, infolgedessen sinken die Wasserspiegel in den Talsperren. Im Winter füllt der Regen die Reservoirs aber in der Regel wieder auf. Seit Jahrzehnten beobachtet die Stadtverwaltung Kapstadts die jährlich schwankenden Wasserspiegel und gleicht sie mit dem Wasserbedarf ab. Seit 2015 regnete es jedoch immer weniger, die Wasserstände in den Talsperren sanken immer weiter, schließlich auf historische Tiefststände. Anfang 2018 waren die Reservoirs nur noch zu 25 % gefüllt, und die
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Prognosen zeigten, dass der Wasserspiegel bereits im April die kruziale Marke von 13,5 % unterschreiten würde. Dann müsste die 2. Phase des Katastrophenplans eingeleitet werden, weil ab einem Füllungsgrad von 10 % kein Wasser mehr entnommen werden kann. Am 1. Februar wurde der Day Zero für den 16. April angekündigt wenig, später wurde er sogar auf den 12. April vorgezogen, den Tag, an dem die Wasserversorgung endgültig eingestellt würde. Zum ersten Mal in der Geschichte wäre dann eine Millionenstadt ohne Trinkwasser. Als in dieser dramatischen Situation die Groenland Water User Association – eine Agrargenossenschaft im Landwirtschaftsgebiet Elgin Grabouw 70 km südöstlich von Kapstadt – zehn Milliarden Liter Trinkwasser aus dem Eikenhof-Damm in den Steenbras-Staudamm pumpte, ohne dafür Kosten geltend zu machen (eNCA 2018), entspannte sich die Lage buchstäblich in letzter Minute. Die dadurch bereitgestellte Wassermenge reichte zwar gerade mal für die nächsten 20 Tage aus, aber da gleichzeitig gewaltige Anstrengungen unternommen wurden, Wasser einzusparen, nicht nur von den Einwohnern, sondern auch von den Gewerben, den Landwirten und den Winzern, konnte der Day Zero zunächst verschoben, später schließlich ganz aufgehoben werden. Die Gründe für die extreme Wasserknappheit in den Jahren 2015 bis 2018 liegen zum einen in der bereits vom Weltklimarat beschriebenen globalen Erwärmung (IPCC 2015), die nun noch zusätzlich durch das El Niño-Phänomen – einer unregelmäßig auftretenden Störung der Meeres- und Windströmungen (Gerten Gerten 2018) – verstärkt wurde. Zum anderen aber stieg die Bevölkerung Kapstadts von 2,4 Mio. im Jahre 1995 auf 4,3 Mio. im Jahre 2018 an; während also die Bevölkerung um 79 % wuchs, wurde die Kapazität der Trinkwasserreservoirs nur um 15 % ausgebaut (Bohatch 2017). Es kamen demnach zwei Effekte zusammen: eine ungewöhnlich lang anhaltende Dürre, wie sie nach Priotr Wolski (2018) von der Climate System Analysis Group der Universität von Kapstadt nur alle 300 Jahre auftritt, und der in diesem Umfang nicht vorhergesehene Bevölkerungsanstieg. Die Kapstädter Planer, Ingenieure und Meteorologen beobachten das Klima seit Jahrzehnten, sie messen die Regenmengen und die Wasserstände in den Talsperren und gleichen das Trinkwasserangebot mit dem
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Trinkwasserbedarf fortlaufend ab. Sie nutzen dafür moderne Messund Prognoseverfahren und suchen damit sicherzustellen, dass der Metropole nicht das Trinkwasser ausgeht. Aufgrund ihrer Vorhersagen wurde die Stadtverwaltung rechtzeitig gewarnt, die dann ein abgestuftes Paket von Maßnahmen einleiten konnte. Die Fachleute haben also insoweit alles ‚richtig‘ gemacht, den ethischen Maßstäben ihrer Zunft gemäß.
13.4 Maßnahmen der Stadtverwaltung Die Warnungen der Wasserversorger trafen die Stadtverwaltung nicht unvorbereitet. Sie arbeitete nämlich schon seit der Jahrtausendwende am WCWDM-Programm, dem Water Conservation and Water Demand Side Management, einem konzertierten Programm zur Wassereinsparungs- und zum Wasserbedarfsmanagement (Sinclair-Smith und Winter 2019). Das WCWDM-Programm wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. 2013 von der Regierung Südafrikas sowie im Rahmen der UN-Klimakonferenz 2015 in Paris als bestes Projekt zur Anpassung an den Klimawandel. Die Laudatoren der C40 City Initiative (www.c40.org) lobten das WCWDMProgramm als innovative, mehrstufige Initiative, die technische und verhaltensbezogene Potenziale der Wassereinsparung zu verbinden suche. Das Programm umfasst die Sensibilisierung der Öffentlichkeit und die Förderung der Wassernutzungseffizienz, die Einführung eines abgestuften Wassertarifs zur Förderung von Wassereinsparungen, kostenlose Sanitärreparaturen für Haushalte mit niedrigem Einkommen, die Ausbildung von gemeindefinanzierten Sanitärfachleuten, die Förderung alternativer Wasserquellen wie Bohrlochwasser und Recyclingwasser für die Bewässerung sowie eine Reihe technischer Maßnahmen zur Minimierung von Wasserverlusten, wie verbessertes Anlagenmanagement, Wasserdruckmanagementsysteme, Rohraustausch programme, Leckagesuche und verfeinertes Messgerätemanagement (C40 2015). Tatsächlich gelang es der Stadtverwaltung damit, den Wasserverbrauch zu stabilisieren. Obwohl die Einwohnerzahl stieg, konnte der
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Wasserverbrauch ab 2000 auf einem Niveau von etwa 300 Mio. m3 pro Jahr gehalten werden. Das ist umso bemerkenswerter als nicht nur die Zahl der Einwohner, sondern auch deren Trinkwasserbedarf überlinear (exponentiell) anstieg. Eine weitere technische Herausforderung ist die komplexe Bedarfsstruktur: 2013/14 wurde in Kapstadt die Hälfte des Trinkwassers von Privathaushalten genutzt und nur zu etwa 10 % von Industrie, Gewerbe und Verwaltung. Über 7 % wurde illegal entnommen und fast 15 % gingen durch Leckagen verloren (CCT 2016). 22 % des Trinkwassers verschwanden also als „non revenue water“ ungenutzt – und unbezahlt. Noch komplizierter wird es, wenn man sich die Verbrauchsstruktur der Haushalte genauer anschaut: Während in den Armenvierteln gerade mal 25 L pro Person und Tag verbraucht werden, schnellt der Bedarf in den Vierteln der Reichen auf bis zu 583 L pro Anwesen (300–600 m2) und Tag in die Höhe (Sinclair-Smith und Winter 2019), also dem fünf- bis zehnfachen Pro-Kopf-Verbrauch in den Armenvierteln. Dass es der Stadtverwaltung vor diesem Hintergrund trotzdem gelungen ist, den Trinkwasserbedarf seit etwa 20 Jahren zu stabilisieren, verdient als technisch-logistische Leistung Respekt. Nach den drei Jahren der Dürre spitzte sich 2018 jedoch die Situation zu. Aufgrund der Warnungen der Wasserversorger startete die krisenerprobte Stadtverwaltung eine spektakuläre Aufklärungskampagne mit medienwirksamen Veranstaltungen und täglichen Pressemitteilungen (Abb. 13.3, 13.4 und 13.5). Als dann am 1. Februar die zweithöchste Stufe des Katastrophenplans ausgelöst wurde, verfügte sie, dass pro Kopf täglich nur noch 50 L verbraucht werden durften und rechnete im einzelnen vor: 10 L pro Tag zum Duschen, 2 L für’s Händewaschen und Zähneputzen, 9 L für die Toilettenspülung, 1 L zum Kochen, 3 L zum Trinken, 1 L für ein Haustier, dann alle zwei Tage 10 L zum Putzen, alle drei Tage 27 L zum Geschirrspülen, einmal in der Woche 70 L zum Wäschewaschen – pro Tag also im Durchschnitt maximal 50 L pro Person. Jede Woche wurde der Day Zero – also jener Tag, an dem wie erwähnt die Trinkwasserversorgung eingestellt werden muss – über die Krisen-Webseite der Stadtverwaltung aktualisiert. Sie ordnete an, den Wasserdruck in den Leitungen zu reduzieren. Wenn man sich
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Abb. 13.3 Ein Poster der Stadtverwaltung ruft zum Sparen von Wasser auf
die Hände wusch oder duschte, konnte man den Druckabfall kaum bemerken. Dennoch erwies sich diese Maßnahme als insofern effizient als vorher eben 15 % des Trinkwassers durch Leckagen verloren gingen. Eine spezielle Task Force begann, den Verbrauch pro Haushalt in Kapstadt und Umgebung zu kartieren und dann veröffentlichte sie diese Pläne über das Internet. Damit wurde nun jedem Nutzer graphisch vor Augen geführt, wie viel Trinkwasser der eigene Haushalt verbraucht; auch der Verbrauch des jeweiligen Nachbarn war für jeden einsehbar. Hier nun stellt sich für uns erneut die Frage, ob bis dahin all diese Maßnahmen und Vorkehrungen auch aus ethischer Sicht zu rechtfertigen waren und sind. Es trifft ja zu: Durch ein interdisziplinäres und eng abgestimmtes Zusammenspiel von Wasserfachleuten, Planern und Verwaltern war es gelungen, eine sich bedrohlich zuspitzende Situation zu stabilisieren. Den Bürgern war aufgrund der öffentlichen Aufklärungskampagnen der Ernst der Lage bewusst; entsprechend
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Abb. 13.4 Auf Flugblättern werden Anweisungen zum Wassersparen gegeben
sensibilisiert für die Dimension der sich abzeichnenden Katastrophe verhielten sie sich überwiegend kooperativ. Aber nun wurde der eigene private Wasserverbrauch plötzlich öffentlich und auf einer Webseite für alle sichtbar. Das weckte bei manchen die Sorge, aber auch das Misstrauen: Ist mein Verbrauch noch im Rahmen der Vorgaben? Haben die Nachbarn etwa mehr verbraucht? Wie viel wird in den reichen Vierteln verbraucht? Wie viel in den armen? Um der heimlichen Denunziation und sogar offener Aggression vorzubeugen, wiesen viele Hausbesitzer
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Abb. 13.5 Aufklärungsposter in einer Mall in Sea Point, Kapstadt
mit selbstgemalten Schildern an den Gartenzäunen darauf hin, dass sie ihre Gärten ausschließlich mit Regen- und Brauchwasser wässerten. Restaurants warben mit Maßnahmen zur Einsparung von Trinkwasser. Vor Geschäften wurden Hinweise angebracht, dass die Gehsteige selbstverständlich nur mit Brauchwasser gereinigt würden (Abb. 13.6). Das sich über die Krisenmonate aufbauende Misstrauen in der Bevölkerung verstärkte sich durch die Veröffentlichung des individuellen Verbrauchs. In den reichen Vierteln westlich der Innenstadt wie Clifton oder Camps Bay beteuerten die Villenbesitzer, man habe keine Wasseruhren installiert und könne deswegen den Verbrauch gar nicht messen
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Abb. 13.6 Hinweis an einem Geschäft, dass nur Grauwasser zum Reinigen des Gehsteiges genutzt werde
(was manche Kritiker als Schutzbehauptung werteten); in Bishopscourt hingen an den großzügigen Einfahrten zu den luxuriösen Anwesen Schilder mit dem Hinweis, dass für die Bewässerung der weitläufigen Grünanlagen der eigene Brunnen genutzt würde (natürlich ohne die dadurch ausgelösten Folgeprobleme zu erwähnen, wovon noch die Rede sein wird). In den armen Vierteln im Südosten Kapstadts wie Khayelitsha gab es dagegen kaum Messungen, da Wasser über öffentliche Brunnen verteilt oder an vielen Stellen auch unbefugt (und unbezahlt) entnommen wurde. Während an Baustellen damit geworben wurde,
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dass nur Grauwasser (leicht verschmutztes Abwasser) verbraucht würde, boten die Immobilienagenturen gleichzeitig weiterhin Luxuswohnungen mit großen Swimmingpools an. Es wurde eine Sondereinheit ins Leben gerufen, die sogenannte ‚Wasserpolizei‘, die den Auftrag hatte, die strikte Einhaltung der Vorgaben zum Wassersparen zu kontrollieren, also keine Autos waschen, keine Swimmingpools, keine Bewässerung der Gärten mit städtischem Trinkwasser, und bei Zuwiderhandlung hohe Geldstrafen zu verhängen. Aufgrund der extremen sozialen Spreizung der Gesellschaft wurden diese Geldstrafen in den armen Vierteln als viel zu hoch empfunden, in den reichen Vierteln dagegen verlor man darüber allenfalls ein müdes Lächeln. Es wurde allmählich klar, dass der Erfolg der gut gemeinten und bis dahin eigentlich auch durchaus wirksamen Maßnahmen aufgrund der Veröffentlichung des individuellen Verbrauchs gefährdet würde. Der Nebenaspekt des potentiellen ‚Prangers‘ im Internet barg ungeahnten Konfliktstoff und erwies sich als in dieser Form unerwartete Bedrohung des ohnehin fragilen sozialen Friedens in der urbanen Gesellschaft, die im Hinblick auf den Datenschutz längst nicht so sensibilisiert ist wie wir es aus Europa kennen. Dort hätten die strengen Datenschutzbestimmungen eine Veröffentlichung persönlicher Verbrauchsdaten gar nicht erst zugelassen. Kann Datenschutz bei der ethisch vertretbaren und sozial gerechten Bewältigung von Katastrophen eine Rolle spielen? Gegen Ende 2018 wurde auf der City Water Map (der im Netz einsehbaren Verbrauchskarte) eingeräumt, dass manche Messungen fehlerhaft gewesen seien, und betont, dass ja nicht der aktuelle Wasserverbrauch, sondern der des letzten Monats angezeigt werde. Am Ende wurde die Webseite ganz eingestellt. Als irritierend erwiesen sich auch andere Aspekte der Kampagne. Als man sich im Februar 2018 auf das worst case-Szenario vorbereitete, den Day Zero und den Zusammenbruch der Wasserversorgung, wurde jedem Bürger ein Maximum von 25 L pro Tag in Aussicht gestellt. Das sollte beruhigend wirken, aber manche rechneten nach: Wie verteilt man in einer Millionenstadt täglich 25 L an jeden Bürger? Wären von den 4 Mio. Einwohnern auch nur die Hälfte mit Trinkwasser zu versorgen – die wirklich Armen hatten ja bereits Gemeinschaftsbrunnen in ihren Hüttensiedlungen und die Reichen versorgten sich durch ihre
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eigenen Brunnen, die sie auf ihren Grundstücken bohren ließen – dann wären immer noch jeden 50 Mio. L Trinkwasser zu verteilen. Dafür würde man mindestens zwei- bis dreitausend für Trinkwasser geeignete Tanklastwagen benötigen. Wo sollte man die so kurzfristig auftreiben? Selbst wenn das gelänge, wie würden sie tagtäglich ihren Weg durch die engen Straßen von Kapstadt finden? Wo und wann würden sie das Trinkwasser tanken können? Würde es überhaupt genug Dieselkraftstoff in der Stadt geben? Wenn die logistischen Probleme der Wasserverteilung mittels Tankwagen nicht zu lösen seien, könne man, meinten einige, dafür doch auch handelsübliche Wasserflaschen nehmen. Aber wie beschafft und verteilt man täglich 10 Mio. 5-Liter-Wasserflaschen? Auch diese Variante schied also aus. Blieb der Vorschlag öffentlicher Wasserstellen, an denen sich die Menschen ihre 25-Liter-Rationen selber abholen sollten. Also plante man rund 200 Wasserstellen im Stadtgebiet. Wenn sich aber täglich (mindestens) zwei Millionen Menschen auf den Weg machen und sich im Idealfalle rechnerisch gleichmäßig auf 200 Wasserstellen verteilen, müssten bei einer unterstellten Öffnungszeit von 18 Uhr an jeder einzelnen pro Stunde 500– 600 Leute versorgt werden. Das würde zu Verkehrstaus führen und zu langen Wartezeiten. Schon bei einer Wartezeit von zwei Stunden ergäbe sich dadurch ein Parkplatzbedarf von 6’000–7’000 m2 – das entspricht etwa der Größe eines UEFA-Fußballstadions – an jeder einzelnen Wasserstelle. Kapstadt führt kein Melderegister; es leben mehr als fünf verschiedene Ethnien in der Stadt; mehr als zehn verschiedene Sprachen werden gesprochen; jeden Monat strömen zahllose (und ungezählte) Migranten aus Zimbabwe, aus Nigeria, aus dem Kongo in die Stadt, die auch irgendwie zu versorgen wären, ganz zu schweigen von den Touristen, für die die Stadt zu den beliebtesten Destinationen gehört. Es wurde schnell klar: Nach dem Day Zero würden Unruhen ausbrechen. Sollte eine Wasserausgabe an 200 Wasserstellen logistisch überhaupt durchführbar sein, dann müssten sie von Polizei oder Militär überwacht werden, die gleichzeitig die öffentliche Ordnung sicherzustellen hätten. Es drohte ein Schreckensszenario bisher nicht gekannten Ausmaßes. Hätte die landwirtschaftliche Genossenschaft von Grabouw nicht in letzter Minute die Schleusen geöffnet und hätte die
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Bevölkerung von Kapstadt die Vorgaben zum Wassersparen nicht in so disziplinierter Weise eingehalten: es wäre am Kap der Guten Hoffnung zu einer Katastrophe gekommen.
13.5 Die Rolle der Medien Die sich zuspitzende Wasserkrise wurde schnell zu einem zentralen Thema der Medien. Seit dem Ende des Apartheidregimes ist Wasser in Südafrika Gemeingut (vorher gehörte es den Besitzern der Liegenschaften und Farmen), sein Schutz ist also im nationalen Interesse. Die regelmäßigen Pressemitteilungen der Stadtverwaltungen wurden in allen Zeitungen wiedergegeben, kommentiert und illustriert. Je alarmierender die Titel wurden, desto höher stiegen die Auflagen. Die Überschriften klangen zunehmend bedrohlich. Schließlich kam es Anfang Februar sogar zu Unruhen und Panikkäufen (Abb. 13.7). In den Supermärkten waren innerhalb weniger Tage alle Trinkwasservorräte aufgekauft. Die hastig bestellten Nachlieferungen reichten nicht mehr aus, den Bedarf zu stillen. An den Kassen hingen nun Schilder, die den Kauf von Trinkwasser auf 20 L pro Kunde beschränkten (Abb. 13.8). Als dann die erste Panikwelle wieder abebbte, blieben die Supermärkte auf ihren angehäuften Wasservorräten sitzen (Abb. 13.9). „Polizisten kontrollieren öffentliche Wasserstellen. Wer zu viele Kanister dabei hat, wird nicht durchgelassen“ – so beginnt am 1. Februar 2018 die Berichterstattung der Tagesschau des Deutschen Fernsehens. Es werden Menschen gezeigt, die an einer öffentlichen Wasserstelle ihre Kanister füllen und sich lautstark über die vermeintliche Untätigkeit der Regierung beschweren. Zu diesem Zeitpunkt war der Wasserverbrauch pro Person und Tag bereits auf 50 L beschränkt worden. Die amtlichen Hinweise zum Wassersparen werden ebenso kommentiert wie die drohenden Strafen für jene, die sich nicht daran hielten. „Weil die Politiker das Problem jahrelang ignoriert haben, ist die Wut in Kapstadt groß“. Aufgebrachte Bürger mit ihren Protestplakaten rücken ins Bild. „Nun droht Mitte April der Tag Null: die Abschaltung der Wasseranschlüsse!“, sagt der Sprecher. Jemand hält ein Poster mit dem Hashtag #Open the Springs! (Öffnet die Quellen) in
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Abb. 13.7 Proteste gegen die Wasserkrise im Cape Town Press Club im Frühjahr 2018
die Kamera. „Wenn nicht bald ein Wunder passiert“, fährt der Sprecher fort, „wird ein bislang undenkbares Szenario real: Kapstadt, die erste Großstadt der Welt ohne Wasser!“ Eine Reportage, die nun auch dem Fernsehzuschauer im fernen Deutschland den Ernst der Lage eindringlich vor Augen führte. Was der anderthalbminütige Beitrag freilich verschweigt: im Bild gezeigt wurde die Newlands-Quelle. An dieser Quelle holten sich die Bürger schon immer, auch in wasserreichen Zeiten, das hier als besonders wohlschmeckend geltende Quellwasser. Da aufgrund der Wasserkrise der Andrang nun anschwoll, beschwerten sich die Anwohner und die Polizei griff ein. Der Tagesschau-Beitrag war ein typisches Beispiel für die problematische Seite einer solchen Krisenberichterstattung. Die gezeigten Bilder und zitierten Aussagen waren ja nicht falsch, sondern für sich genommen korrekt und authentisch. Aber der Kontext wird oft ausgeblendet, wenn er nicht in das übliche 1’30-Zeitraster passt. Damit
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Abb. 13.8 Hinweis an der Kasse eines Supermarktes, dass Kunden nur noch maximal 20 L Trinkwasser einkaufen dürfen
erzielen die vermeintlich authentischen Bilderfolgen und spontanen O-Töne eine Wirkung, die gleichwohl die Wirklichkeit verfälschen. Welcher Zuschauer nimmt sich schon die Zeit für eine genauere Prüfung der dargebotenen Fakten? Nur die Fachleute oder unmittelbaren Augenzeugen mögen Zweifel hegen, ob die im Sensationsmodus vorgestellten Berichte die Wirklichkeit objektiv, ausgewogen und wahrheitsgetreu abbilden. Deshalb kommt den Medien gerade in Krisensituationen eine so wichtige Funktion zu. Eine korrekte Berichterstattung kann helfen,
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Abb. 13.9 In den Supermärkten türmen sich die Wasserflaschen, nachdem die Hamsterkäufe abgeklungen sind
die Menschen zu beruhigen und zum richtigen Handeln zu bewegen. Womit wir wieder beim zentralen Ziel ethischer Maximen wären – dem ‚richtigen‘ Handeln. Komplexe Sachverhalte verständlich und in angemessenem Zusammenhang zu vermitteln, gehört zum Kernauftrag der Medien. Dafür stehen sie in direktem Kontakt mit den zuständigen Fachleuten, verantwortlichen Politikern und betroffenen Bürgern. Sie sind zugleich unabhängig und Partner dieses facettenreichen Diskurses. Nur wenn ihnen diese Freiheit und ihr Zugang zu allen Quellen garantiert ist, können sie ihrem Auftrag gemäß korrekt, kritisch und
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konstruktiv berichten, statt prioritär auf Einschaltquoten und Auflagenzahlen zu schielen und damit nicht nur ihren medienethischen Auftrag zu verfehlen, sondern womöglich dadurch gerade das zu verhindern, was aus diesem polyperspektivischen Diskurs „unter (kontrafaktisch) freien und gleichen Partnern“ an Gutem und Nützlichem entstehen könnte (zu dem hier damit assoziierten diskursethischen Hintergrund in der Traditionslinie von Apel und Habermas s. Hess-Lüttich 2020, in diesem Band).
13.6 Künftige Maßnahmen Im Zuge der Wasserkrise beschleunigte die Stadtverwaltung die Suche nach alternativen Wasserquellen, um die Versorgung durch die umliegenden Talsperren zu ergänzen. In der Tafelbergregion gibt es Grundwasserspeicher (Aquifere), die z. B. auch für die städtische Wasserversorgung genutzt werden könnten. Die oberflächennahen Grundwasserspeicher werden vielfach in den reichen Vierteln schon angezapft, in denen die Besitzer von repräsentativen Liegenschaften eigene Brunnen zur Selbstversorgung haben bohren lassen. Oft wird mit Schildern an den Zäunen darauf hingewiesen, dass kein städtisches Wasser, sondern ‚eigenes Brunnenwasser‘ genutzt werde. Aber ist das auch nachhaltig? Die Frage ist aus ökologischer wie hydrogeologischer Sicht nur zu berechtigt: In küstennahen Bereichen steht der Grundwasserspiegel in einem direkten Zusammenhang mit dem Meeresspiegel. Da Süßwasser leichter als Salzwasser ist, schwimmt es auf dem Salzwasserspiegel. Sobald Trinkwasser entnommen wird, steigt der Salzwasserspiegel an. Mit anderen Worten, je mehr Brunnen Trinkwasser fördern, desto weiter dringt das Salzwasser des Meeres in die Aquifere vor. Irgendwann versalzen dann die Brunnen. Dieses Phänomen wurde bereits in vielen Küstenregionen beobachtet, zum Beispiel in den spanischen Touristenenklaven am Mittelmeer. Die Berechnung der Menge an Trinkwasser, die entnommen werden darf, bevor der Grundwasserspeicher durch Salzwasser kontaminiert wird, ist eine anspruchsvolle hydrogeologische Aufgabe, deren Lösung zum einen von der
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hyben-Herzberg-Beziehung (der Gleichgewichtsbeziehung zwischen G Süß- und Salzwasser) abhängt (Verruijt 1968) und die zum anderen komplexe hydrogeologische Erkundungen und Modellierungen voraussetzt. Es ist also höchst bedenklich, dass Wasserbauingenieure sich haben dafür einspannen lassen, so viele Privatbrunnen zu planen und zu bohren, obwohl sie wissen (bzw. wissen müssten), dass zu hohe Wasserentnahmen durch private Brunnen die Grundwasserressourcen für das Gemeinwesen insgesamt gefährden. Zudem verursacht die extensive Brunnenförderung eine Absenkung der Erdoberfläche. Ein drastisches Beispiel dafür ist die Megacity Jakarta: Aufgrund unregulierter Trinkwasserentnahme mit privaten und nicht genehmigten Brunnen sinkt die indonesische Hauptstadt seit Jahren rapide, aktuell mit einer Geschwindigkeit von 15 cm pro Jahr. Manche Stadtviertel haben sich in der Zeit zwischen 1974 bis 2010 bereits um über 4 m gesenkt. Zur Jahreswende 2019/2020, der indonesischen Regenzeit, waren über 100’000 Rettungskräfte pausenlos im Einsatz, um Zehntausende zu evakuieren. Man kann sagen, nicht nur Venedig, sondern auch Jakarta gehöre zu den am schnellsten versinkenden Städten der Welt (cf. Abidin 2011). Der gleichzeitig infolge des Klimawandels stattfindende Meeresspiegelanstieg von jährlich 8 mm fällt demgegenüber in diesem Falle weniger ins Gewicht, verstärkt aber zusätzlich die Tendenz. Deshalb wurde ein anspruchsvoller Masterplan für den Küstenschutz entworfen, das National Capital Integrated Coastal Development Programme (NCICD), das rund 40 Mrd. Dollar kosten soll. Allerdings steht auch dieses Programm schon wieder in der Kritik, weil dafür bereitgestellte Mittel in dunklen Kanälen versickert seien (cf. Octavianti 2017). Inzwischen hat der indonesische Präsident Joko Widodo angekündigt, die Hauptstadt ganz aufgegeben zu wollen und sie an einem anderen Standort wieder aufzubauen – und zwar ausgerechnet in den heute noch fast unberührten Regionen des Regenwaldes von Borneo, ca. 1’200 km von der alten Metropole entfernt. Auch diese Idee ist nicht ganz billig: die Kosten werden nach ersten Schätzungen auf vorläufig 30 Mrd. Euro veranschlagt (Die Zeit, 26.08.2019). Die geologischen Verhältnisse und hydrogeologischen Probleme von Jakarta mögen mit denen von Kapstadt nicht zu vergleichen sein, aber
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es sollte doch zu denken geben, dass z. B. auch in Mexiko City aufgrund der ungenehmigten Förderung von Brunnenwasser ganz ähnliche Probleme auftreten. Viele Gebäude in der Innenstadt haben sich inzwischen messbar abgesenkt und sind in bedenkliche Schieflage geraten. Die Kathedrale etwa neben den Resten der alten Pyramiden der Azteken ist inzwischen bereits akut einsturzgefährdet. Trotz der illegalen Brunnenbohrungen reicht das Wasser nicht aus. Es muss zusätzlich Wasser in großen Plastikbehältern umständlich durch die verstopften Straßen gefahren werden, wo es zu überhöhten Preisen verkauft wird. Von einer geordneten und ausreichenden Wasserversorgung kann auch hier längst nicht mehr die Rede sein. Man kann zwar argumentieren, das vergleichsweise überschaubare Kapstadt sei nicht mit einer Megastadt wie Jakarta oder Mexiko City zu vergleichen, deren schiere Größe allein schon solche Probleme hervorrufen könne. Aber Megacities wie Tokio und Taipei konnten die Senkungen stoppen, indem sie die illegalen Grundwasserentnahmen systematisch unterbanden und die Nutzung von Oberflächenwasser gezielt ausbauten (cf. Octavianti 2017). In Kapstadt freilich, das zu über 90 % vom Oberflächenwasser abhängig ist, gerät eine solche Nutzung jedoch inzwischen an ihre Grenzen. Daher wäre eine weitere Option der zusätzlichen Wassergewinnung die Förderung von Trinkwasser aus Tiefbrunnen. Aber auch solche erfordern nach allen bisherigen Erfahrungen eine umsichtige und sorgfältige Planung. Derzeit scheint die Stadtverwaltung jedoch entschlossen, diese Option zu nutzen und solche Tiefbrunnen zu bohren, um (zumindest in Zeiten extremen Wassermangels) die Trinkwasserversorgung garantieren zu können. In regenreichen Zeiten könnten die Aquifere dann über sogenannte Schluckbrunnen wieder aufgefüllt werden. Das ist eine mit den Zielen einer nachhaltigen Grundwasserbewirtschaftung durchaus vereinbare Strategie. Auch die Kosten für die Tiefbrunnen scheinen vertretbar: Im sandigen Grundwasserspeicher liegen sie bei etwa sieben Rand pro tausend Litern (7 ZAR/1000 l), im Kluftwasserleiter der Tafelberggruppe bei etwa zehn Rand pro tausend Litern (10 ZAR/1000 l) (s. CCT 2018). Darüberhinaus wurden Pläne zur Meerwasserentsalzung vorangetrieben. Vorreiter in dieser Technologie ist übrigens Israel, das sich zu einem beträchtlichen Teil bereits mit entsalzenem und aufbereitetem
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Meerwasser versorgt. Für das meerumschlungene Kapstadt mit dem Südatlantik im Westen und dem Indischen Ozean im Osten gäbe es also (Salz-)Wasser im Überfluss. Die Technologie für dessen Aufbereitung stünde grundsätzlich auch schon zur Verfügung. Allerdings verbrauchen Meerwasserentsalzungsanlagen enorme Mengen von Energie. Somit stehen wir erneut vor einem ökologischen Problem: Die Nutzung fossiler Energie zur Energieerzeugung geht einher mit der Emission von Treibhausgasen. Nach dem Pariser Klimaabkommen will aber auch Südafrika die seinerzeit darin formulierten ambitionierten Klimaziele einhalten. Eine naheliegende Lösung wäre die Nutzung von Sonnenenergie, am besten über die Erzeugung von Strom mit Photovoltaikanlagen. Die photovoltaisch nutzbare Globalstrahlung in Südafrika ist mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Man könnte also z. B. Meereswasserentsalzungsanlagen mit photovoltaischen Dächern versehen. Es gibt, nota bene, auch schon Studien zu schwimmenden Entsalzungsanlagen, die von einer photovoltaischen ‚Haut‘ ummantelt sind. Allerdings sind die Kosten solcher Entsalzungsanlagen bislang noch so hoch, dass sie kaum wirtschaftlich betrieben werden könnten. Deshalb wurden Pläne für den Bau von temporären Anlagen zur Entsalzung in Notzeiten inzwischen wieder zurückgestellt. Stattdessen wird jetzt eine permanente und damit langfristig wirtschaftlichere Entsalzungsanlage geplant, die Trinkwasser zu einem Preis von etwa zwölf bis neunzehn Rand pro tausend Litern (12–19 ZAR/1000 l) zur Verfügung stellen soll. Zwar sind diese Kosten dreimal höher als die Entnahme aus den (ausgebauten) Trinkwassertalsperren (5–7 ZAR/1000 l), scheinen aber auch im Vergleich zu den Kosten für die ebenfalls geplante Aufbereitung und Wiedernutzung von Abwasser (8–11 ZAR/1000 l) noch vertretbar (CCT 2018). Insgesamt sieht die Planung also vor, zunächst die Aquifere als Trinkwasserergänzung zu nutzen, dann Abwasser aufzubereiten (ab 2020) und schließlich eine große Meereswasserentsalzungsanlage zu bauen (2020/2021). Die Förderleistung für Wasser aus Tiefbrunnen soll dabei eine Größenordnung von hundert Millionen Litern pro Tag (100 Mio l/Tag) erreichen. Dazu kämen noch 120 Mio. L pro Tag (120 Mio l/ Tag) aus der Meereswasserentsalzung, siebzig Millionen Liter pro Tag (70 Mio l/Tag) aus der Aufbereitung von Abwasser und weitere sechzig
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Millionen Liter pro Tag (60 Mio l/Tag) aus einem begrenzten Ausbau der Talsperrenkapazität (Lower Berg River Voelvlei Augmentation Scheme), was sich insgesamt zu einer Fördermenge von 350 Mio. Litern pro Tag (350 Mio l/Tag) summieren würde (CCT 2018). Alles in allem erscheint also die von der Stadtverwaltung Kapstadts vorgestellte Strategie sowohl ausgewogen als auch nachhaltig. Sie enthält technisch machbare, ökologisch sinnvolle, aber auch finanziell tragbare Lösungen, die überdies mit den Vertretern anderer Fachdisziplinen abgestimmt zu sein scheinen. Im Hinblick auf die vorsorgende Zukunftsplanung wäre den in die Planung eingebundenen Ingenieuren mithin ein aus ethischer Sicht gutes Zeugnis auszustellen. Kapstadt ist also nach bestem Wissen vorbereitet auf die im 5. Sachstandsbericht des Weltklimarats beschriebene Zuspitzung der Situation im Süden von Afrika: ihm zufolge werden dort die Durchschnittstemperaturen bis zum Ende des Jahrhunderts weiterhin deutlich ansteigen, der Winterregen wird immer knapper ausfallen und gleichzeitig werden immer mehr Menschen ans Kap der Guten Hoffnung strömen, darunter nicht zuletzt auch immer mehr Klimaflüchtlinge (IPCC 2014).
13.7 Drei Thesen Kommen wir auf unsere Ausgangsfrage zurück: Haben die Ingenieure, Techniker und Geologen während der Wasserkrise am Kap nicht nur aus ihrer fachwissenschaftlichen Perspektive, sondern auch aus ethischer Sicht richtig gehandelt? Aus den bis hierhin ausgewerteten Befunden lassen sich unseres Erachtens drei Schlussfolgerungen ziehen, die wir in knapper Form als Thesen formulieren möchten: 1. Innerhalb ihres Fachgebietes handelten die südafrikanischen Ingenieure und Naturwissenschaftler auch aus ethischer Sicht richtig Solange sich Ingenieure innerhalb der Grenzen ihres Fachgebietes bewegen, beachten sie die dort geltenden technischen Randbedingungen und Formalismen. Auch die an der Sicherstellung der
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Wasserversorgung beteiligten Naturwissenschaftler, Geologen, Hydrologen, Klimaforscher handelten innerhalb ihrer jeweiligen Fachdisziplinen korrekt. Keiner der beteiligten Experten stellte physikalische, technische oder naturräumliche Vorgaben grundsätzlich infrage. Aber können wir uns auch in Zukunft darauf verlassen? Wir beobachten mit Sorge, dass bislang unstrittige Daten und Fakten immer häufiger in Zweifel gezogen werden (Stichwort: Wissenschaftsskepsis). Problembeschreibungen komplexer Zusammenhänge sind immer öfter Gegenstand interessegeleiteter Diskurse. Vermeintlich ‚objektive‘ Daten werden subjektiv interpretiert und dabei nicht selten bewusst fehlinterpretiert. Wenn sogar der Präsident einer Großmacht den von Menschen verursachten Klimawandel in Zweifel zieht und Fachleute in seiner Administration feuert, die seine Meinung nicht teilen, dann ist das ein besorgniserregendes Symptom. Und wenn Studierende der Universität von Kapstadt eine Kampagne mit dem Slogan „Science must Fall“ vom Zaune brechen, in der fundamentale naturwissenschaftlich-technische Erkenntnisse (wie Newtons Gravitationsgesetz) in Zweifel gezogen und als kolonialistisches Erbe missverstanden werden, das durch die Erkundung der für den eigenen afrikanischen Kontinent spezifischen Naturgesetze abgelöst werden müsse, dann besorgen sie unfreiwillig genau das unselige Geschäft ihrer politischen Gegner (siehe hierzu das YouTube Video „Science must fall“ zu einer öffentlichen Sitzung der Studierenden am 12. Oktober 2016). 2. Eine auch aus ethischer Sicht ‚richtige‘ Lösung komplex vernetzter Probleme erfordert einen trans- und interdisziplinären Diskurs Die Wasserkrise am Kap der Guten Hoffnung ist ein Problem jenes komplexen Typs, dessen Lösung das Zusammenwirken einer Vielzahl von Fachdisziplinen erfordert. Jede Einzeldisziplin lieferte in diesem Falle wertvolle Beiträge, aber keine konnte das Gesamtproblem allein lösen. Einem Ingenieur mag z. B. aus der Sicht seines Faches nicht bewusst sein, welchen ökologischen Effekt die Anlage von Tiefbrunnen auf den Grundwasserspeicher hat, dazu bedarf er der wissenschaftlichen Unterstützung des Geologen; er mag vielleicht auch nicht übersehen, welche gesellschaftliche Wirkung seine technischen Vorschläge mit Blick
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auf die gerechte Wasserverteilung oder die Bevölkerungsentwicklung entfalten, dazu muss er sich der Expertise des Soziologen versichern. Multifaktoriell-komplexe Probleme, die sich hergebrachter disziplinsystematischer Rubrizierung entziehen, bedürfen der systemischen Bearbeitung im fachübergreifenden Gespräch, wenn die Lösung am Ende nicht nur im technischen Sinne ‚sachgerecht’, sondern auch im ethischen Sinne ‚gerecht‘ sein soll. 3. In diesem trans- und interdisziplinären Diskurs sind stets alle drei Säulen der Nachhaltigkeit zu berücksichtigen. Lösungen technisch komplexer Probleme, wie sie derzeit im Zusammenhang mit Klimawandel und Energiewende verhandelt werden, setzen voraus, dass sie politisch durchzusetzen sind. Bedingung dafür ist jedoch, dass sowohl ökologische als auch ökonomische und
Abb. 13.10 Der Regenbogen auf dem Church Square im Zentrum von Kapstadt ruft zum Wasser-Dialog auf
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auch gesellschaftliche Aspekte miteinander in Einklang gebracht werden. Nur im Wege des fairen Interessenausgleichs zwischen den beteiligten Akteuren wird ein Lösungspaket am Ende im Glücksfalle dann auch als ‚gerecht‘ empfunden und gesellschaftlich angenommen werden (Abb. 13.10).
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13 Tag Null am Kap der Guten Hoffnung … 319
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Ernest W. B. Hess-Lüttich, Univ.-Prof. Prof. h.c. Dr. Dr. Dr. h.c., ist Germanist mit Schwerpunkt Diskurs- und Dialogforschung, Hon. Professor an der TU Berlin (seit 2015) und der University of Stellenbosch, Südafrika (bis 2017). Er ist Autor bzw. Herausgeber von 70 Büchern und Editionen, Verfasser von ca. 380 Aufsätzen (zur sozialen, literarischen, ästhetischen, intermedialen, interkulturellen, intra-/subkulturellen, institutionellen, fachlichen, öffentlichen, politischen, urbanen Kommunikation), Herausgeber diverser Zeitschriften und Buchreihen, Präsident bzw. Vizepräsident und Ehrenmitglied diverser Fachgesellschaften und Advisory / Editorial Boards. Er wurde zu zahlreichen Gastprofessuren an Universitäten in Europa, Amerika, Afrika, Asien, Australien eingeladen.
14 Ethik in der Abfallwirtschaft Jürgen Poerschke
Zusammenfassung In diesem Beitrag wird die Abfallwirtschaft aus ethischer Perspektive betrachtet. Nach einer grundsätzlichen Reflexion zu Umwelt- und Wirtschaftsethik, sowie einer Kurzbeschreibung der Grundlagen der Abfall und Kreislaufwirtschaft werden die ökonomischen Dimensionen der Abfallwirtschaft ausgelotet. In diesem Rahmen wird die Abfallwirtschaftshierarchie von der Abfallvermeidung über die Wiederverwendung, das Recycling, die energetische Verwertung, die Verfüllung bis hin zur endgültigen Entsorgung beschrieben. Ausgehend von Beispielen des Fehlverhaltens beim Umgang mit der Ressource „Abfall“ wird die Rolle der Ethik in der Abfallwirtschaft diskutiert. Schließlich werden Wege aufgezeigt, wie eine „Wertstoffwende“ ethisch begründet eingeleitet und umgesetzt werden kann.
J. Poerschke (*) Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_14
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322 J. Poerschke
Abstrcat In this paper, waste management is considered from an ethical perspective. After a fundamental reflection on environmental and economic ethics and a short description of the basics of waste and recycling management, the economic dimensions of waste management are explored. Within this framework, the waste management hierarchy is described, from waste avoidance to reuse, recycling, energy recovery, use of filling material and final disposal. The role of ethics in waste management is discussed on the basis of examples of misconduct in dealing with the resource "waste". Finally, ways of initiating and implementing an ethically justified "recycling turnaround" are shown. Schlüsselwörter Abfälle · Abfallwirtschaft · Kreislaufwirtschaft Recycling · Wertstoffwende · Ethik
·
14.1 Einleitung Abfall ist in erster Linie etwas Unerwünschtes, die Ordnung Störendes. Er entsteht zum größten Teil bei der Produktion von Gütern, aber ebenso in Form von Siedlungsabfällen, bestehend aus Verpackungsmaterialien, Schrott, Bioabfällen, Glas, Papier, Sperrmüll, Alttextilien, Fäkalien und Klärschlamm. Er begegnet uns als Plunder, Lumpen, Unrat, Schund, Dreck, vergammelt, …. Der Begriff Abfall ist somit per se negativ besetzt und steht für etwas Schmutziges, Störendes und Nicht-Brauchbares. Im Sinne der Materialität können sich dahinter jedoch je nach Blickwinkel sehr unterschiedliche Dinge verbergen. Eine Abfalldeponie ist auch eine Fundgrube. Ein junger Inder macht sich in Michael Ondaatjes „Der englische Patient“ Gedanken (Ondaatje 1997, S. 207): Autos kamen nicht einfach auf den Schrottplatz. Ihre Teile wurden durchs Dorf getragen und Nähmaschinen oder Wasserpumpen einverleibt. Der Rücksitz eines Fords wurde neu gepolstert und zum Sofa gemacht. … Zubehörteile eines Autos gelangten so in eine Standuhr oder in den Flaschenzug einer Bewässerungsanlage oder in den Drehmechanis-
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mus eines Bürostuhls. … Was er in England sah, war eine Unmenge an Ersatzteilen, die ganz Indien 200 Jahre in Gang halten konnten.
Hier zeigt sich das Hauptproblem: Solange die Möglichkeit besteht aus dem Vollen zu schöpfen, erübrigt sich der Aufwand an Energie, Kreativität, Zeit und Geld, um Dinge oder Stoffe einer erneuten Nutzung zuzuführen. Sie werden zu Abfall. Nicht weil sie „Abfall“ sind, sondern weil sie die Umstände und der Mensch dazu machen. Erst seit Ende des vorigen Jahrhunderts befasst sich die Forschung ernsthaft mit Abfall und den damit verbundenen Problemen. Bei einem Jahresaufkommen von derzeit mehr als 400 Mio. Tonnen, davon ca. 50 Mio. Tonnen Siedlungsabfälle (BMU 2018), und in Hinblick auf sowohl begrenzte Ressourcen als auch begrenzte Deponiekapazität steht die Notwendigkeit einer Suche nach praktikablen und gesellschaftlich akzeptablen Lösungen außer Frage. Wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig steht die Abfallwirtschaft dabei unter kritischer Beobachtung und moralischer Bewertung durch die Öffentlichkeit.
14.2 Ethik Nach Bertelsmanns Universallexikon (1992) ist „Ethik ist ein Teilgebiet der praktischen Philosophie, und ist – kurz gesagt – die“ Lehre vom rechten, sittlichen Verhalten“. Schon Aristoteles betrachtete die Ethik im Kontext von Politik und Ökonomie in der Erkenntnis, dass Verhaltensnormen nicht überall und zu jeder Zeit Gültigkeit haben. Veränderungen der Lebensbedingungen, die Zugehörigkeit zu anderen Gruppen oder Kulturen bedingen auch andere Vorstellungen davon, was gut und richtig, was „sittlich“ ist. Die Ethik hat also die Aufgabe, anhand der Analyse der bestehenden Verhältnisse und in Hinblick auf zu erwartende Entwicklungen Kriterien des richtigen Handelns zu begründen und Vorschläge zu erarbeiten, die zu gültigen Wertmaßstäben und Verhaltensweisen führen. Dabei unterscheidet die lexikalische Definition noch zwischen der materialen Ethik (oder Verantwortungsethik), die die Folgen einer
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Handlung im Blick hat, und der formalen (oder Gesinnungsethik), bei der es nur auf den guten Willen ankommt. Die traditionelle Ethik befasst sich mit dem Verhalten der Menschen untereinander. Die fortschreitende Differenzierung in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft brachte es mit sich, dass sich, ergänzend zu der allgemeinen normativen Ethik auch spezifische Bereichsethiken herausbildeten. Bereichsethik ist (nach Metzlers Lexikon der Philosophie) der Teil der philosophischen Ethik, in dem solche ethischen Konflikte behandelt werden, die in einem spezifischen Handlungskontext entstehen oder entstehen können. Beispiele sind Medizinethik, Wissenschaftsethik und Wirtschaftsethik.
Umweltethik/Naturethik, Ökologische Ethik Die Umweltethik bezieht sich auf moralische Fragen beim Umgang mit der belebten und unbelebten Umwelt des Menschen. Im engeren Sinne verstanden, beschäftigt sie sich in moralischer Hinsicht mit dem Verhalten gegenüber natürlichen Dingen und dem Verbrauch von natürlichen Ressourcen (Bendel 2018). Im philosophischen Diskurs werden verschiedene Ansätze der Umweltethik herausgearbeitet und hier stark vereinfacht genannt (Lienemann 2014): • Physiozentrismus: Varianten der Auffassung eines Eigenwertes oder Eigenrechtes der Natur…. Der Physiozentrismus will die Erhaltung natürlicher Zusammenhänge zu einer maßgeblichen Norm des menschlichen Handelns und Verhaltens gegenüber der Natur machen. • Anthropozentrismus: Aneignungs- und Instrumentalisierungsrecht auf alle „Sachen“ als Eigentum. Nutzungswert „für uns“. • Anthroporelationale Schutzethik: Bestimmung und Erweiterung von Schutznormen durch Zuerkennung von „Rechten“ an die Natur und bewusster Selbstbegrenzung menschlicher Handlungsmöglichkeiten.
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Dieser Ansatz entspricht gegenwärtig am ehesten der allgemeinen Auffassung vom Wert der Natur. Der Mensch macht sie sich zu Nutze, ist sich aber ihres Eigenwertes bewusst und hält nur einen verantwortungsvollen und achtsamen Umgang mit ihr für moralisch gerechtfertigt. In seiner „Metaphysik der Sitten“ postuliert Immanuel Kant schon 1797 unter „Sachenrecht“ (Kant 1797 [1975], S. 375): „Es ist die Frage: wie weit erstreckt sich die Befugnis der Besitznehmung eines Bodens? So weit, als das Vermögen, ihn in seiner Gewalt zu haben, d. i. als der, so ihn sich zueignen will, ihn verteidigen kann; gleich als ob der Boden spräche: wenn ihr mich nicht beschützen könnt, so könnt ihr mir auch nicht gebieten.“
Er konnte noch nicht ahnen, was in den darauffolgenden Jahrhunderten mit dem „Boden“ geschehen würde, aber seine Fragestellung ist aktueller denn je. Die neuere Umweltethik beginnt mit neuartigen Erfahrungen der Naturzerstörung im 20. Jahrhundert (Lienemann 2014), zu denen zählen: Luftverschmutzung, Verpestung durch Herbizide, zunehmende Verunreinigung der Flüsse, Landschaftsverbrauch und -zerstörung durch Straßenbau, Steigerung des Energieverbrauchs und Bau von Atomkraftwerken, Einsicht in Knappheit nicht regenerierbarer Rohstoffe, Steigerung der Abfallmengen und Verlust von Pflanzen- und Tierarten.
Wirtschaftsethik und Unternehmensethik Unternehmen müssen nicht nur wirtschaftliche Entscheidungen der Investition, Produktion, Finanzierung usw. treffen, sondern häufig auch Konflikte mit ethischem Bezug lösen. Dies wird besonders deutlich an dramatischen Ereignissen, bei denen Unternehmungen in Konflikt mit den in einer Gesellschaft vertretenen Moralauffassungen geraten (Umweltverschmutzung, Fälschung von Daten usw.) (Küpper 2006, S. 54).
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Als allgemeine Normen der Unternehmensführung können die Grundsätze • der rechtlichen Zulässigkeit • der ökonomischen Zweckmäßigkeit • der sozialen und ethischen Zuträglichkeit angesehen werden (Küpper 2006, S. 162). Der Begriff Wirtschaftsethik impliziert in seiner Zusammensetzung einen Widerspruch, der zu Dilemmata bei der Entscheidungsfindung führen muss. Während sich wirtschaftliches Handeln an möglichst hohen Gewinnen orientiert, verlangt moralisches Handeln die Erfüllung von weit mehr Kriterien, die zumeist eine Schmälerung des Gewinns mit sich bringen. Die Berücksichtigung von Umweltproblemen, sozialer Gerechtigkeit, Arbeitsbedingungen – also die Art, wie Gewinne generiert werden, rückt zunehmend in den Fokus der Bewertung wirtschaftlicher Tätigkeit. Unternehmen agieren in einem gesellschaftlichen Umfeld, und in einer Zeit der schnellen und umfassenden Verfügbarkeit von Informationen ist Kritik der Öffentlichkeit an nach allgemeinem Verständnis unmoralischem Verhalten unausbleiblich. Whistleblower, Umwelt- und Menschenrechts-organisationen sorgen für die entsprechende Aufmerksamkeit. Der Rahmen für die Wirtschaft wird staatlicherseits durch Gesetze, Vorschriften und Normen gesetzt. Wie sich ein Unternehmen in diesem Rahmen bewegt, welche Unternehmenskultur es sich zu eigen macht, wie es die unterschiedlichen Anforderungen ausbalanciert, hängt letztlich von den Wertvorstellungen der Entscheidungsträger ab. Das bewusste Streben, soziale und ökonomische Ziele in Einklang zu bringen, wird Corporate Sozial Responsibility (CSR) genannt und ist Schwerpunkt der Unternehmensethik. In Deutschland gibt es seit 2009 das Nationale CSR-Forum unter Federführung des Bundes-ministeriums für Arbeit und Soziales. In der Sitzung des Nationalen CSR Forums wurde 2018 der „Berliner CSR-Konsens“ verabschiedet. Dieser beschreibt insbesondere die
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Management- und Führungsprinzipien, die für ein verantwortliches Lieferkettenmanagement notwendig sind (BMAS 2018). Die im Zuge der Globalisierung immer größer werdenden Lieferketten und die von Land zu Land verschiedenen gesetzlichen Regelungen erfordern ein wachsendes Maß an Selbstverpflichtungen der Unternehmen im Sinne der CSR (soft law) (Suchanek 2013). Die drei Bereiche, auf die dabei besonders geachtet wird, sind Menschenrechte, Arbeitsbedingungen, Umweltschutz und Kampf gegen Korruption. So sieht es das Netzwerk „Global Compact“ vor, das von den vereinten Nationen im Jahr 2000 gegründet wurde. Firmen, die hier Mitglied sind, verpflichten sich, soziale Verantwortung zu übernehmen (Bendel 2018). Das Unternehmen gewinnt damit intern (bei den Mitarbeitern) und extern (bei den Partnern und Kunden) an Wertschätzung, was letztlich auch das ökonomische Ergebnis positiv beeinflusst.
14.3 Von der Abfallbeseitigung zur Kreislaufwirtschaft Solange der Mensch im Einklang mit der Natur lebte, gab es kaum Abfall, geschweige denn Abfallprobleme. Es wurde produziert, was gebraucht wurde und was nicht mehr zu gebrauchen war, wurde der Natur wieder zugeführt. Erst mit der Industrialisierung begann der Mensch, Überfluss zu erzeugen und damit das Besitzen-Müssen durch das Besitzen-Wollen abzulösen (unterstützt durch immer aggressivere Werbung). Die Folge war die Entstehung großer Abfallmengen, deren geordnete Erfassung und sichere Deponierung im 1972 in Kraft getretenen Abfallbeseitigungsgesetz geregelt wurde. Mit dem „Gesetz zur Vermeidung und Entsorgung von Abfällen“ von 1986 wurden neue Wege der Abfallbeseitigung in den Fokus gerückt. Der Grundsatz „Vermeiden vor Verwerten vor Entsorgen“ begann im Bewusstsein (theoretisch) Fuß zu fassen, praktisch wurden mit Wirtschaftswachstum und steigendem Wohlstand die Abfallmengen
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immer größer. 1991 wurde die Verordnung über die Vermeidung und Verwertung von Verpackungsabfällen (Verpackungsverordnung) beschlossen. Es folgte das Duale System Deutschland (DSD) mit dem Grünen Punkt für recyclingfähige Verpackungen. Gelber Sack bzw. gelbe Tonne gesellten sich zur grauen Restmüll- und der braunen Biotonne. Abfalltrennung wurde zum Thema und zur Handlungsmaxime in allen Einrichtungen und Bevölkerungsschichten. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz von 1996 legt die gültige Zielhierarchie fest (§6 KrWG): • Vermeidung • Vorbereitung zur Wiederverwendung • Recycling (stoffliche Verwertung) • Sonstige Verwertung, insbesondere energetische Verwertung und Verfüllung • Beseitigung Zweck des Gesetzes ist die Förderung der Kreislaufwirtschaft zur Schonung der natürlichen Ressourcen und die Sicherung der umweltverträglichen Bewirtschaftung von Abfällen. Anfang 2019 wurde die Verpackungsordnung zum Verpackungsgesetz mit dem Ziel, die Verpackungsindustrie stärker an den Entsorgungskosten zu beteiligen und somit einen Anreiz zu schaffen, den Materialeinsatz für Verpackungen zu verringern und den Anteil an Mehrwegverpackungen zu erhöhen. Während zu Beginn des Jahrhunderts Wirtschaftswachstum und Abfallmengen in gleichem Maße zunahmen, ist mittlerweile eine Abkopplung des Abfallvolumens von der Wirtschaftsleistung deutlich erkennbar (BMU 2018).
Abfallwirtschaft und Ressourcenschonung Die Nutzung natürlicher Ressourcen ist Lebensgrundlage für Mensch und Tier. Es geht um Flächen, Rohstoffe, Wasser, biologische Vielfalt und Energie. Einzig und allein der Mensch kann dabei mit Willen und
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Bewusstsein sein Handeln steuern und Einfluss darauf nehmen, wofür und in welchem Umfang Ressourcen verbraucht werden. Nur er kann Entscheidungen treffen! In Zeiten des Mangels ist jeder bestrebt (oder gezwungen) das Vorhandene wertzuschätzen und so lange wie möglich und so vollständig wie möglich zu nutzen. Der Handlungsspielraum ist klein, die persönlichen Konsequenzen verständlich und spürbar. Etwas Brauchbares wegzuwerfen wäre widersinnig, egal ob Kleidung, Geräte, Möbel oder Lebensmittel. Anders sieht es in der Gegenwart (in den hochindustrialisierten Staaten) aus. Es wird gekauft, benutzt und entsorgt. Es werden (scheinbare) Bedürfnisse geweckt und bereitwillig (von der Industrie) befriedigt. Indirekt führt das zu einer Entwertung der Produkte. Immer öfter kursiert der Begriff Nachhaltigkeit im Kontext der Ressourcenschonung und der Abfallvermeidung. Er ist der Forstwirtschaft entlehnt und bedeutet dort, dass nur so viel Holz eingeschlagen werden darf, wie im gleichen Zeitraum nachwächst (Carlowitz 1732). Übertragen auf die gesamte Wirtschaft geht es um die Regenerationsfähigkeit aller betroffenen Systeme wie Rohstoffe, Energiequellen und Lebewesen. „Nachhaltigkeit“ ist – genau wie „Bio“ – ein verkaufsförderndes Kriterium, was hinsichtlich des Effekts jedoch eine gewisse Ambivalenz in sich birgt. Verbessert sich die Ökobilanz, wenn fahrtüchtige Autos verschrottet werden, um Biosprit einsetzen zu können, oder, wenn ich ein Gerät mit besserer Energieeffizienz oder ein Handy der neueren Generation kaufe, obwohl das alte noch funktioniert? Erweise ich der Umwelt einen Dienst, indem ich nachhaltig produzierte Kleidung trage, die Nachhaltigkeit jedoch pervertiere, indem ich jeden Modetrend aufgreife? Hier gilt es einiges zu hinterfragen und gesunden Menschenverstand einzusetzen. Mehrwegverpackungen, Second-hand Shops, Verkaufsportale im Internet, Sozialkaufhäuser, reparaturfreundliche Geräte, langlebigere Produkte, gemeinschaftliche Nutzung an Stelle von persönlichem Besitz (Geräte, Fahrzeuge.): Das alles sind nachvollziehbare Ansätze zur Ressourcenschonung (und zur Abfallvermeidung) ohne Verzicht auf
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Lebensqualität. Sie erfordern jedoch erhebliches Umdenken des Einzelnen. Der Grüne Punkt Dass die natürlichen Ressourcen nur begrenzt vorhanden sind, dringt erst in den letzten Jahren ins Bewusstsein und lässt zunächst für den Einzelnen keine unmittelbaren Auswirkungen seines Handelns erkennen. Umso wichtiger ist es, sowohl die Bevölkerung als auch die Industrie zu motivieren, Abfall zu vermeiden und – wo er nicht vermieden werden kann – im Abfall einen Wertstoff zu sehen, einen Sekundärrohstoff, der in den Kreislauf zurückgeführt werden kann und muss. Bei Metallen, Glas und Papier ist dieses Vorgehen seit Jahrzehnten etabliert. Kunststoffe werden derzeit zu etwa 26 % recycelt (BMU 2018). Der Rest wird verbrannt – und setzt dabei CO2 frei. Seit 1990 gibt es die „Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland (DSD) GmbH“. Recyclingfähige Verpackungen wurden mit dem Grünen Punkt gekennzeichnet und damit den Verbrauchern eine einfache Entscheidungshilfe für die Abfalltrennung gegeben (DSD 2019). Bis 2008 oblag die Entsorgung allein dem Dualen System Deutschland, das auch die Lizenzgebühren für das Label erhält. Diese sind abhängig vom Material und Gewicht der verwendeten Verpackungen. Vor mehr als 10 Jahren ist das Monopol der DSD aus wettbewerbsrechtlichen Gründen gefallen. Sie ist zwar immer noch Marktführer, aber acht weitere duale Systeme sind mittlerweile in Deutschland tätig. Der Grüne Punkt hat sich im Bewusstsein der Verbraucher fest verankert und ist nach wie vor das entscheidende Kriterium für die Zuordnung zur gelben Tonne/zum gelben Sack. Es gibt aber wesentlich mehr Abfälle, die recycelt werden könnten, die jedoch infolge der Fixierung auf den Grünen Punkt nicht der stofflichen Verwertung zugeführt werden. Was bei Einführung des Labels hilfreich und richtig war, steht heute in der Kritik – auch von Seiten anderer Entsorgungsunternehmen. Die Bereitschaft zur Abfalltrennung ist vorhanden, es gibt jedoch immer noch viele Unsicherheiten, welche Materialien in den gelben Sack bzw. die gelbe Tonne gehören. Die Abfallwirtschaft plant deshalb für 2020 eine große Aufklärungskampagne (Kläsgen 2018).
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Abfallwirtschaft und Ökonomie Abfallvermeidung Abfallvermeidung hat oberste Priorität in der vom Kreislaufwirtschaftsgesetz vorgegebenen Abfallhierarchie. Sie ist der effektivste Weg der Ressourcenschonung und liegt in der Verantwortung sowohl der Produzenten als auch der Konsumenten. Das neue Verpackungsgesetz (VerpackG) nimmt Hersteller von Waren und auch den Handel (inklusive Versandhandel) in die Pflicht, verwendete Verpackungen für die Zuführung zu einem dualen System zu lizensieren. Über die Kosten der Lizensierung wird ein finanzieller Anreiz geschaffen, weniger und recyclingfähige Verpackungsmaterialien einzusetzen. Die Umgehung des Gesetzes wird mit Strafen geahndet. Konsumenten werden ihrer Verantwortung am ehesten gerecht, indem sie ihre (vermeintlichen) Bedürfnisse kritisch hinterfragen und nur einkaufen, was wirklich benötigt wird, sowohl bei Lebensmitteln als auch bei Industriewaren. Unnötige Verpackungen (z. B. bei Obst und Gemüse) müssen vermieden werden. Einweggeschirr und Besteck aus Kunststoff werden überflüssig, sobald kompostierbare Alternativen aus nachwachsenden Rohstoffen ausgereift sind. Für die eigentliche Abfallwirtschaft ist die Vermeidung insofern relevant, als sie die zu verwertenden bzw. zu beseitigenden Abfallmengen und damit die Dimensionierung der Verarbeitungsanlagen beeinflusst. Wiederverwendung Wiederverwertung (für den gleichen Zweck) ist die ökonomisch und energetisch günstigste Variante der Ressourcenschonung nach der Abfallvermeidung. Dies spiegelt auch ihre Positionierung vor dem Recycling in der Abfallhierarchie wider. Wiederverwendung erhöht faktisch die Lebensdauer von Produkten, trägt somit zur Material- und Energieeinsparung bei. Es besteht jedoch noch großer Handlungsbedarf bei der Organisation der Weitergabe noch nutzbarer Produkte. Der Gebrauchtwarenhandel führt bislang ein Nischendasein. Einzig der Handel mit gebrauchten K raftfahrzeugen
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ist gut aufgestellt und zeigt, dass durchaus neue und gebrauchte Erzeugnisse auch aus einer Hand verkauft werden können, geprüfte Funktionsfähigkeit vorausgesetzt. Die Hersteller von Geräten sind angehalten, Langlebigkeit und Reparaturfähigkeit anzustreben. Ein weiterer Weg der Wiederverwendung ist der Einsatz von Mehrwegartikeln, insbesondere Getränkeverpackungen. Neben Getränkeflaschen ist es hier der vielzitierte Coffee-to-go-Becher, der als Beispiel für unnötigen Materialverbrauch steht. Bei 2,8 Mrd. Bechern pro Jahr in Deutschland (UBA 2019a) liegt hier echtes Einsparungspotenzial. Bei Getränkeflaschen ist die Einschätzung nicht ganz so einfach. Der Einsparung von Rohstoffen stehen höhere Kosten für Transport und Reinigung gegenüber, darüber hinaus (vorerst) die Akzeptanz beim Kunden, der beim Kauf von Erfrischungsgetränken PET-Flaschen und Dosen bevorzugt. Positiv ist in diesem Zusammenhang, dass durch das Pfandsystem die Rückführungsquote hoch ist und das Material sortenrein anfällt (Visable 2019). Recycling Recycling ist lt. §3 KrWG jedes Verwertungsverfahren, durch das Abfälle (inklusive organischer Materialien) zu Erzeugnissen, Materialien oder Stoffen entweder für den ursprünglichen Zweck oder für andere Zwecke aufbereitet werden (nicht für Verbrennung oder Verfüllung). Recycling verfolgt in erster Linie das Ziel, Primärrohstoffe einzusparen. Das kann mit akzeptabler Wirtschaftlichkeit jedoch nur erreicht werden, wenn • der infrage kommende Abfall möglichst gut vorsortiert (getrennt von Störstoffen) ist, • die technischen Anlagen für das Recycling effektiv arbeiten und • die Kosten des Primärrohstoffs so hoch beziehungsweise die des Rezyklats so niedrig sind, dass sie einen finanziellen Anreiz für den Einsatz von Sekundärmaterial bieten. Drei Beispiele sollen exemplarisch demonstrieren, dass trotz unbestreitbarer Sinnfälligkeit von Recycling eine Vielzahl von technischen
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Entwicklungen, organisatorischen Maßnahmen und politischen Entscheidungen notwendig sind, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Kunststoffrecycling Deutschland hat jahrelang große Mengen Kunststoffabfälle nach Asien verkauft. Der Export war sehr lukrativ, aber die potenziellen Wertstoffe wurden der deutschen Wirtschaft entzogen. Nachdem sich China (der größte Abnehmer) zurückgezogen hat (von ca. 1,5 Mio. Tonnen 2016 auf praktisch Null), staut sich trotz neuer Abnehmer der Abfall in Deutschland. Es fehlen bundesweit Anlagen für das Trennen und Recycling. Die EU-Vorschriften für die Recyclingquote bei Kunststoffverpackungen sehen jedoch bis 2022 einen Wert von 63 % vor (Steinbuch 2018). Damit ergibt sich für die Abfallwirtschaft und für die Hersteller von Verpackungen eine große Herausforderung. Mehrschichtige Verbundwerkstoffe und andere nicht sortenreine oder verunreinigte Kunststoffe sind bisher nur schwer zu trennen und werden überwiegend verbrannt. Im Jahr 2017 wurde mehr als die Hälfte der Abfälle energetisch verwertet. Nur 0,6 % mussten deponiert werden (UBA 2019b). Gipsrecycling Gips ist ein häufig vorkommender Rohstoff, aber nur scheinbar unbegrenzt verfügbar. Mit dem Ausstieg aus der Braunkohle entfällt zudem in Zukunft der REA Gips aus der Rauchgasentschwefelung, was verstärkten Gipsabbau zur Folge hat. Ein Weg, diesen im Interesse der Natur zu begrenzen, ist der Ausbau des Gipsrecyclings. Bau- und Abbruchabfälle (insbesondere Gipskartonplatten) ergeben nach bisherigen Erfahrungen einen Recyclinggips der dem Naturgips gleichwertig und dem REA Gips in einigen Punkten sogar überlegen ist, zumindest beim Einsatz im Bauwesen und in der Zementindustrie. Gegenwärtig kann jedoch Rentabilität nur erreicht werden, wenn kaum Transportkosten anfallen und wenn der Abfall bereits auf der Baustelle getrennt von anderen Baustoffen erfasst wird. Zurzeit gibt es dafür keine verbindlichen Regelungen. Auch hier steht die Ökonomie dem Umweltschutz im Weg. Darüber hinaus wird ein Großteil recyclingfähiger Gipskartonplatten durch ihren Einsatz zur Stabilisierung uranhaltiger Schlammteiche in Tschechien einer möglichen Aufarbeitung entzogen (Burchert et al. 2017).
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Recycling von Elektro- und Elektronikschrott Die Wiederverwendung ist auch in diesem Abfallsegment allen anderen Verwertungsarten vorzuziehen. Gegenwärtig werden ca. 45 % der Altgeräte (ca.700 000t) über den Wertstoffhof oder den Hersteller einer ordnungsgemäßen Verwertung zugeführt (vorgesehen sind 75–85 %). Das Elektro- und Elektronikgerätegesetz (ElektroG) von 2015 verpflichtet zwar die Händler zur Rücknahme und Zuführung zur Verwertung, aber die Bereitschaft dazu ist gering. Auch die zu geringe Zahl von Annahmestellen im Wohnumfeld verhindert bisher einen größeren Anteil an Verwertung, und Elektrogeräte landen unerlaubt im Hausmüll. Bedenklich ist die Menge von 400 000t Elektro- und Elektronikschrottschrott, die auf diversen Wegen ins Ausland, größtenteils nach Afrika gelangt. In Europa ist Recycling teuer und in Afrika extrem gesundheitsschädlich (DUH 2018). Energetische Verwertung und Verfüllung Die energetische Verwertung und Verfüllung dient der Nutzung des Heizwertes des Abfalls bzw. seines Volumens. Zur energetischen Verwertung gelangen Abfälle mit hohem Heizwert (Holzabfälle, Textilien, verunreinigte Kunststoffe, Autoreifen, Fette…). Sie ersetzen einen Teil der fossilen Brennstoffe und sind somit einer stofflichen Verwertung zuzuordnen. Bohrungen, Schächte, Gruben oder Abgrabungen werden mit vorzugsweise mineralischen Abfällen verfüllt, deren Zusammensetzung und Beschaffenheit festgelegten Kriterien entsprechen müssen (Erdaushub, Bauschutt, Schotter u. ä.). Bei Verfüllungen an der Oberfläche steht die Wiederherstellung der ursprünglichen Bodenfunktion im Vordergrund, d. h. es dürfen nur sehr geringe Mengen an Schadstoffen enthalten sein. Trockene unterirdische Räume können nach entsprechender Prüfung auch mit schadstoffhaltigen Produkten verfüllt werden (LFU 2018). Beseitigung Beseitigung kommt in Betracht, wenn keine der anderen Möglichkeiten eine schadlose Entsorgung sicherstellt. Vor der Deponierung müssen
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die Abfälle mechanisch-biologisch (mit Erzeugung von Biogas) oder thermisch vorbehandelt werden. Die thermische Behandlung von Abfällen erfolgt in Müllverbrennungsanlagen. Hauptziel ist dabei die Abfallbeseitigung. Durch die gleichzeitig praktizierte Erzeugung von Strom, Prozessdampf und/ oder Fernwärme findet jedoch auch eine energetische Verwertung statt. Die Energieeffizienz liegt bei etwa 50 %.Die entstehenden Schlacken werden weiterverwendet und/oder deponiert (UBA 2019c). Der Platzbedarf für Deponien verringert sich durch die Abfallbehandlung erheblich; Umweltrisiken durch Ausgasungen und Sickerwasser werden vermieden.
Zwischenfazit Trotz des hohen Stellenwertes, den Wiederverwendung und Recycling in der Abfallwirtschaft besitzen, ist die Entscheidung dafür nicht immer einfach. Geordnete Erfassung, aufwändige technische Einrichtungen für Stofftrennung, Reinigung und Recycling, Vorbehalte der Produzenten gegenüber dem Rezyklateinsatz und immer neue Inhaltsstoffe (besonders bei Kunststoffen und elektronischen Geräten) verursachen in einigen Fällen unvertretbar hohe Kosten. Hier suchen Produkthersteller nach neuen Produktdesigns und Materialien. Maschinenhersteller arbeiten an effektiveren, emissionsärmeren und leistungsstärkeren Recyclinganlagen (Steinbuch 2018). Nicht einbezogen ist hier die Rolle der Konsumgüterindustrie. Abfallvermeidung und Wiederverwendung betreffen im Endeffekt nicht nur Verpackungen, sondern das Konsumverhalten insgesamt. Es kann nur in den Händen der Verbraucher liegen, durch vernünftige Kaufzurückhaltung Einfluss zu nehmen.
Abfallwirtschaft – ein schmutziges Geschäft? Zwei Aspekte bedingen diese Fragestellung. Einerseits geht im es im weitesten Sinne um den Umgang mit Schmutz, andererseits geht es um die Art der Geschäfte, die teilweise mit Abfall betrieben werden.
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Kurze Geschichte der Abfallwirtschaft Wo Menschen leben, entsteht Abfall (Koppe 2012). Zunächst war das kein Problem, aber mit der Entstehung von größeren Orten und Städten kam es speziell im Mittelalter zu einer Anhäufung von Müll und Unrat auf den Straßen, die für uns heute unvorstellbar ist. Eine geordnete Abfallbeseitigung wurde unumgänglich, aber sie beschränkte sich auf das Herausbringen aus dem Ort zu dafür bestimmten Plätzen und Gruben. Erst Ende des 19. Jahrhunderts begann eine gewerbliche Abfallentsorgung im Auftrag der Kommunen. Die Arbeit war schwer und nicht nur wegen des Gestanks äußerst unangenehm. Nicht selten wurden Strafgefangene dazu herangezogen. Parallel dazu etablierten sich die Lumpensammler, die teilweise bei Verwertungsfirmen angestellt waren und diese mit Lumpen und Altpapier zur Herstellung von Reißwolle, Filz und Pappen versorgten. Bis weit ins 20. Jahrhundert gehörten sie zum Stadtbild. Die Ärmsten der Armen durchsuchten die Müllhalden nach Dingen, die man gebrauchen oder verkaufen konnte. Mit ihren Ausdünstungen und dem Sickerwasser stellten die Lagerplätze ein erhebliches Gesundheitsrisiko dar. Erst Ende der 1960er Jahre wurden mit dem Abfallbeseitigungsgesetz Grundlagen für eine geordnete unschädliche Deponierung geschaffen. Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden die ersten Müllverbrennungsanlagen und eine Vielzahl technischer Entwicklungen zur Müllabfuhr und -sortierung. Fäkalienabfuhr mit Schlauchwagen und geschlossene Kanalisation ersetzten die bis dahin offenen Kübel. Die Bemühungen, den Umgang mit Abfall sauberer und effektiver zu gestalten halten bis heute an (s.Pkt.3). Das schmutzige Geschäft mit dem Abfall Verfolgt man die Medien, so entsteht der Eindruck, die Abfallwirtschaft sei ein Sumpf aus Korruption, Kriminalität und zwielichtigen, profitgierigen Unternehmen. Begriffe wie Müllmafia, Müllskandal, Mülltourismus und entsprechend groß aufgemachte emotionale Artikel heizen eine Stimmung an, die leider noch zu oft einen realen Hintergrund hat. Neben dem Export von Kunststoffabfällen ist es häufig Elektroschrott der in der Kritik steht, enorme Gesundheits-
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und Umweltschäden in den ärmsten Ländern vor allem Afrikas und Asiens zu verursachen. Belastbare Zahlen dazu liegen nicht vor, aber erschreckende Bilder. Auch in europäischen Staaten findet sich deutscher Abfall, der eigentlich für die Verwertung vorgesehen war, stattdessen aber illegal entsorgt wird. Das deutsche Abfallverbringungsgesetz (AbfVerbrG) basiert auf dem inzwischen mehrfach überarbeiteten Basler Übereinkommen von 1993. Es wurde beschlossen, um weltweit geltende Regelungen zur Zulässigkeit und Kontrolle von Exporten gefährlicher Abfälle zu etablieren. „Insbesondere sollen hierdurch Staaten geschützt werden, die nicht über die notwendigen technischen Voraussetzungen für den Umgang mit gefährlichen Abfällen verfügen“ (UBA 2019d). In Deutschland gibt es Fälle (sehr lukrativer) illegaler Abfalltransporte. Falsch deklariert, kann dann beispielsweise eine Ladung Elektroschrott zu einer Ladung funktionsfähiger (und damit erlaubter) Elektrogeräte werden. Eine lückenlose Überwachung der Grenzen ist angesichts des Umfangs der international transportierten Güter nicht möglich. Das Risiko, dass eine Ladung bei Stichproben als illegal erkannt wird, ist gering. In vielen Fällen gelingt es jedoch den Behörden, die für die Verbringung in Deutschland verantwortlichen Betriebe und Personen festzustellen und zur Verantwortung zu ziehen. Ein Zitat von P.J. Dunning (1860) im Kapital von Karl Marx lautet (Marx 1967): „… Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher und man kann es überall anwenden; 20 %, es wird lebhaft; 50 %, positiv und waghalsig; für 100 % stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 %, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.“
Gewinne zu generieren, Werte zu schöpfen, Dienstleistungen zu erbringen und somit gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen ist die Aufgabe von Wirtschaftsunternehmen. Die soziale Marktwirtschaft hat Regeln dafür geschaffen, dass sie dabei nicht in eigenem Profitinteresse freie Hand haben, sondern Gesetze, Regeln und Verordnungen zu beachten haben. Dass mit Abfall viel Geld zu verdienen ist, ruft leider
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auch kriminelle Akteure auf den Plan, die mit ihrem verantwortungslosen Verhalten die Abfallwirtschaft insgesamt in Misskredit bringen.
14.4 Rolle der Ethik für die Abfallwirtschaft Bezogen auf ihr Tätigkeitsfeld ist die Abfallwirtschaft im Sinne der Naturethik grundsätzlich moralisch. Sie zielt auf sorgsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen und Vermeidung von Umweltschäden und dient darüber hinaus der Daseinsfürsorge, dem menschlichen Wohlbefinden. Der etablierte Grundsatz: Vermeiden, vor Verwerten, vor Beseitigen hat durchaus eine ethische Dimension im Sinne der Verhaltensethik. Damit ist aber – wie oben dargestellt – nicht automatisch verbunden, dass auch überall und auf allen Ebenen moralisch gehandelt und dass der Abfallwirtschaft generell ein positives Image zuerkannt wird. Die Richtlinien der Wirtschafts- und Unternehmensethik haben in der Abfallwirtschaft ebenso Gültigkeit wie in anderen Wirtschaftszweigen. Es geht um nicht weniger als Fairness, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und darum, ökonomische und soziale Ziele in Einklang zu bringen. Die Zahl der Akteure ist jedoch nicht auf ein Unternehmen begrenzt, sondern hat eine gesamtgesellschaftliche Relevanz. Die Verankerung richtiger Verhaltensweisen ist eine Aufgabe nicht nur der Abfallwirtschaft.
Auswirkungen der Darstellung in den Medien Hierzu eine Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Abfallwirtschaft bezogen auf ein Spiegel-Titelthema „Mogelpackung“ vom Januar 2019 (DGAW 2019): „…Die DAGW ist der Meinung, dass Emotionen und Abfallpopulismus das Problem nicht lösen, sondern vielmehr zur Resignation… beitragen. Tatsächlich herrscht aber gerade eine Aufbruchsstimmung…der Recyclingwirtschaft. Endlich setzen sich Hersteller, Handel und Ent-
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sorgungswirtschaft gemeinsam an den Tisch und suchen nach Lösungen, die weit über die Frage: stofflich Verwerten, Verbrennen oder Exportieren hinausreichen. Es gibt zahlreiche Ansätze, dass die Recyclingfähigkeit bereits bei der Gestaltung von Produkten und Verpackungen gezielt berücksichtigt wird. Es gibt Selbstverpflichtungen der Hersteller von Verpackungen und des Handels. Neue Verfahren zur Herstellung von möglichst hochwertigen Kunststoffen aus getrennt gesammelten Verpackungen werden entwickelt und eingeführt.“
Tatsächlich haben es sachliche Informationen und unspektakuläre Erfolgsgeschichten schwerer, wahrgenommen zu werden, die Menschen zu erreichen und ihre Einstellung zu beeinflussen. Deshalb muss an vielen Stellen angesetzt werden (Hobmair 1996, S. 350): „Eine Einstellungsänderung kann…dadurch erreicht werden, dass das Individuum Einsicht erhält in den entsprechenden Sachverhalt, um diesen zu erkennen und zu verstehen sowie Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge bzw. Sinn- und Bedeutungszusammenhänge zu erfassen“.
Es ist also in großem Umfang Aufklärungsarbeit zu leisten und das am besten schon beginnend bei den Kindern. Es gibt bereits Schulprojekte, die sich inhaltlich mit dem Thema befassen und in spielerischer und praktischer Form vermitteln, welche Schätze im Abfall verborgen sind und wie alle dazu beitragen können, sie zu bergen und der Natur einen Dienst zu erweisen. Das -und die Vorbildwirkung der Menschen im Umfeld führt zu einer Internalisierung von Werten.
Wege zur Wertstoffwende Die Hochschule Nordhausen hat den Begriff Wertstoffwende eingeführt und damit einen Leitfaden für den Bereich Umwelt- und Recyclingtechnik und darüber hinaus geschaffen. Überhaupt trägt die Etablierung neuer Bezeichnungen zur verbesserten Wertschätzung des Abfalls bei. Wenn die „Mülltonne“ zur „Wertstofftonne“ wird und klare Informationen darüber vorliegen, was?
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– warum? – wohin?, dann ist auch die Bereitschaft größer, sich entsprechend der Norm zu verhalten. Vorbilder, Menschen, deren Meinung man vertraut, werden gern als Botschafter für erwünschte Verhaltensweisen eingesetzt (Organspende, Darmspiegelung). Das könnte auch ein Weg für die Abfallvermeidung und die geordnete Erfassung sein. Vorausgesetzt, natürlich, überall vor Ort ist das mit wenig Aufwand möglich. Einsicht ist der erste Schritt, aber wenn für die praktische Umsetzung Hürden zu überwinden sind, siegt doch eher die Bequemlichkeit. Unser Konsumwettbewerb lässt die Abfallberge wachsen. Man will ja dazu gehören! Wenn aber Influencer mit vielen Followern es cool und trendy fänden, second-hand-Mode zu kaufen oder Kleidung durch Upcycling für die nächste Saison tragbar zu machen, dann strahlt das auch ohne Erklärungen aus, und es hilft vielleicht, Abfall zu vermeiden. Die Abfallvermeidung wird aktuell am intensivsten diskutiert in Zusammenhang mit Kunststoffabfällen („Plastikmüll“). Erste ökonomische Maßnahmen zeitigen schon Erfolge. Seit Tragetaschen nicht mehr unentgeltlich zu haben sind, hat sich ihr Verbrauch um die Hälfte reduziert. Es gibt bereits Geschäfte, die keine Kunststoffverpackungen verwenden, und Einwegerzeugnisse aus Kunststoff werden nach und nach aus dem Handel verschwinden. Was auf diesem Gebiet möglich ist, zeigt die Vorgehensweise in Ruanda. Dort existiert seit 2008 ein Gesetz, das es streng verbietet, Plastiktüten zu importieren, zu produzieren, zu verkaufen oder zu besitzen. Es wird streng kontrolliert und Zuwiderhandlungen werden streng bestraft. (29). Der Umgang mit Abfall hat auch eine soziale Komponente, spielt er doch eine große Rolle bei der moralischen Bewertung von Personen und Kulturen. Wer nicht richtig entsorgt, gehört nicht richtig dazu. Dabei steht allerdings zumeist die „Unordnung“ im Blickfeld, für die es je nach Herkunft eine unterschiedliche Wahrnehmung gibt. Mit aufgeklärten Bürgern und dem auf Wertstoffe gerichteten Fokus könnte da eine Annäherung geschehen.
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Wer allerdings meint, Deutschland sei Spitzenreiter bei der Abfalltrennung, der muss sich eines Besseren belehren lassen. In Japan wird bereits seit vielen Jahren in zehn Kategorien getrennt gesammelt (Steinbuch 2018).
Aufgaben von Industrie und Politik Für das sichtbare Image der Abfallwirtschaft müssen auch die Arbeitsplätze und Betriebsstätten eine moderne Industrie repräsentieren und die Wertigkeit dieses Wirtschaftszweiges erkennen lassen. Zu oft finden jedoch Entsorgung und Verwertung noch unter primitiven Bedingungen statt im Vergleich zu anderen Produktionsbetrieben (Mauch 2013). Ein besonders originelles Beispiel für die Demonstration der Wertigkeit ist eine künstlerisch gestaltete Müllverbrennungsanlage in Wien, die zu einer Touristenattraktion wurde und auf Wunsch des Bürgermeisters von Osaka in Japan nachgebaut wurde (Koppe 2012). Solche äußerlichen Maßnahmen führen jedoch nur dann zu einem Umdenken, wenn auch die Transport- und Entsorgungsbetriebe, die Politik und die Kommunen sich auf diesen Weg begeben. Nur mit Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit und Transparenz kann Vertrauen entstehen und die Gewissheit: Hier wird etwas Gutes getan. Es gibt zahleiche Gesetze und Verordnungen, die sich sehr detailliert mit allen Fragen der Vermeidung, Verwertung, Beseitigung und dem Export von Abfall (zur Verwertung oder Beseitigung) befassen. Es gibt internationale Abkommen, Selbstverpflichtungen und Appelle, es gibt viel bürokratischen Aufwand, aber es gibt bisher zu viel zu wenig Kontrollen der Einhaltung der Gesetze. Die beschriebenen kriminellen Machenschaften mit „unserem“ Abfall nicht nur in spektakulären Fotos zu zeigen, sondern die Schuldigen zu benennen und zu bestrafen wäre eine vertrauensbildende Maßnahme. Die beste Lösung ist natürlich, Abfälle dort zu verwerten, wo sie entstehen. Langfristiges Ziel der EU ist es, dass jeder Mitgliedsstaat seine eigenen Abfälle im eigenen Land entsorgen sollte (Grundsatz der Nähe und Entsorgungsautarkie). Dieses Ziel scheint jedoch in weite Ferne zu rücken (EUA 2009).
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Jürgen Poerschke, Jahrgang 1945, machte nach der Ausbildung als Betonfacharbeiter sein Abitur und studierte Mathematik an der Martin-LutherUniversität Halle. Er arbeitete zunächst im Kombinat Leuna-Werke als Gruppenleiter, promovierte dann an der Technischen Hochschule Merseburg und kehrte danach ins Leuna-Kombinat als Abteilungsleiter für Forschung und Entwicklung zurück. Nach der Privatisierung des Kombinates folgten zehn Jahre als Bereichsleiter Logistik der Wildgruber-Baustoffwerke Niedersachswerfen. Professor Poerschke ist seit 2002 Angehöriger der Hochschule Nordhausen und leitete zahlreiche innovative Forschungsprojekte im Rahmen der Wertstoffwende. Aufgrund seiner besonderen Verdienste wurde ihm von der Hochschule Nordhausen eine Honorarprofessur verliehen.
15 Eine Million Jahre Endlager: Zur Ethik technischer Ewigkeiten Dieter D. Genske
Zusammenfassung Der Beitrag umreist zunächst die Dimensionen der Zeitspanne von einer Million Jahren, dem Zeitraum der sicheren Endlagerung von radioaktiven Abfällen. Hierzu wird ein anthropologischer Rückblick gegeben und die Entwicklungsgeschichte des homo sapiens, des „denkenden Menschen“ im Vergleich zur Endlagerzeit gesetzt. Nach einem kurzen Überblick zur Technologie der Kernenergie wird auf die Entstehung und Lagerung von Kernabfällen eingegangen. Verschiedene Endlagerkonzepte werden vorgestellt, ihre Anforderungen definiert und kritisch reflektiert. Schließlich wird auf das Spannungsfeld zwischen Risiko und Ethik eingegangen, das abschließend vor dem Hintergrund der Endlagerung bewertet wird.
D. D. Genske (*) Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Thüringen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_15
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Abstract The contribution first focuses on the dimensions of the time span of one million years, the period of safe disposal of radioactive waste. An anthropological retrospective is given and the history of the development of homo sapiens, the “thinking man”, is compared to the time of final disposal of radioactive waste. After a brief overview of the technology of nuclear energy, the generation and storage of nuclear waste is discussed. Various repository concepts are presented, their requirements defined and critically reflected. Finally, the tension between risk and ethics is dealt with, which is evaluated in the context of final disposal. Schlüsselwörter Kernenergie · Kernabfälle · Atommüll · Endlagerung · Risiko · Ethik
15.1 Eine Million Jahre Vor 1 Mio. Jahren war es bei uns eigentlich ganz angenehm. Wir befinden uns noch im Calabrium, im Altpleistozän, in einem sogenannten Interglazial, einer Warmzeit. Genauer gesagt, wir erleben gerade die ausklingende Waal-Warmzeit (die in den Alpen auch als die Donau/Günz-Warmzeit bezeichnet wird). Noch grasen längst ausgestorbene Huftiere auf ausgedehnten Ebenen, zusammen mit Riesenhirschen, mit Mammuts und den Vorfahren der Auer- und Moschusochsen. Auch Wildtiere die heute noch existieren wie Elche, Rentiere und Pferde durchstreifen die Steppenlandschaft. Wühlmäuse, Marder und Riesenbiber treiben ihr Unwesen. Großraubtiere wie die Säbelzahnkatze, wie Pumas und Hyänen lauern auf ihre Beute. Bald wird es in Nordeuropa wieder kälter werden. Die MenapKaltzeit kündigt sich mit immer längeren und strengeren Wintern an (sie entspricht in etwa der Günz-Kaltzeit in Südeuropa). Mächtige Gletscher werden von Norden kommend das Land überfahren und gewaltige Schuttmassen vor sich her schieben, die wir heute als Endmoränen bezeichnen. Der Meeresspiegel wird sinken, um 100 m und mehr. Bald wird auch ein Polsprung stattfinden, das Erdmagnetfeld wird sich umkehren und der Nordpol wird zum Südpol werden.
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Erst in 120000 Jahre wird das erdmagnetische Muster wieder wechseln, vom Matuyama-Chron in das Brunhes-Chron und der Nordpol wird wieder dort sein wo er heute ist. Bis dahin werden die Gletscher immer wieder vorstoßen und sich zurückziehen. Immer wieder werden sie Endmoränen vor sich her schieben, die Spuren alter Eisvorstöße werden überfahren, um wieder neue Glaziallandschaften entstehen zu lassen. Etwa 12000 Jahre v. Chr. ziehen sich die Gletscher in Norddeutschland zum letzten Mal zurück. Sie reichten bis zum Kanzleramt in Berlin. Seither befinden wir uns wieder in einem Interglazial, einer Warmzeit innerhalb der sogenannten känozoischen Eiszeit. Die abschmelzenden Gletscher hinterliessen ihre Endmoränen und das Geschiebe an ihrer Basis, die Grundmoränen. Unter den sich zurückziehenden, kilometerhohen Eismassen floss das Schmelzwasser durch riesige subglaziale Rinnen. Die mitunter hunderte von Metern tiefen subglazialen Rinnen werden später zu wichtigen Grundwasserleitern. Vor den abschmelzenden Gletschern entstanden gewaltige Fließrinnen, auch Urstromtäler genannt. In einigen von ihnen werden später Flüsse fließen wie die Elbe und die Spree. Auch entstanden vor den abschmelzenden Gletschern enorme Schwemmkegel, sogenannte Sanderflächen aus Sand und Kies, ähnlich der Lüneburger Heide, die bereits früher entstand. Toteisblöcke, zurückgelassen von den Gletschern, wurden zunächst noch von den Schmelzwässern umflossen und versanken in den sich bildenden Sand- und Schotterschichten. Abgeschmolzen hinterließen sie Toteiskessel, die mit Grundwasser gefüllt zu kleinen Seen wurden. In Mecklenburg und Pommern entstanden Seenplatten. Während sich unsere Naturlandschaften formten nimmt auch eine komplexe Entwicklungsgeschichte ihren Lauf, die vor über 4 Mio. Jahren mit den Australopithecinen in Afrika begann und über den Homo habilis (dem „Fähigen“) und den Homo erectus (dem „Aufrechten“) 3,7 Mio. Jahre später zur Entstehung der Gattung Homo sapiens sapiens führte, zum „denkenden“ Menschen. In Europa teilte er sich zunächst mit anderen Menschenarten wie dem Neandertaler, dem Homo heidelbergensis oder dem sibirischen Denisova-Menschen die Jagdgründe, doch schon bald wird er dominieren und alle andere Menschenarten werden aussterben. Irgendwann wird er die Bibel
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schreiben, sich aufklären, Kriege führen. Es wird eine Epoche der Industrialisierung geben mit der er beginnen wird, das globale Klima zu verändern. Vielleicht wird er mit einer „Heißzeit“ die Warmzeit etwas verlängern, vielleicht aber auch drastisch verkürzen, da die schmelzenden Gletscher die Salzkonzentration im Nordatlantik so stark abschwächen, dass der Massen- und Wärmeaustausch zwischen den Weltmeeren, die thermohaline Zirkulation, die Europa mit Wärme versorgt, ins Stocken gerät. Derweil verfeinert der „denkende“ Mensch Technik und Ingenieurskunst, wagt sich an immer spektakulärere Herausforderungen, erkundet die Tiefen der Ozeane und fliegt bis zum Mond, entwirft Wolkenkratzer und Autos, die von selbst fahren und Maschinen, die sich selbst konstruieren. Auch eine Maschine, die aus ein paar Gramm eines speziellen Metalls enorme Mengen von Energie erzeugen kann, entwirft er. Er nutzt die radioaktive Strahlung zur Erzeugung von Energie und kann so Stadt und Land mit elektrischem Strom versorgen. Doch auch nach der Stromerzeugung strahlen die genutzten Kernbrennstoffe weiter. Sie müssen nun entsorgt werden. Endgültig entsorgt werden, in ein Endlager. Der „denkende“ Mensch traut sich das zu: 300000 Jahre nachdem er seinen Fuß auf diesen Planeten gesetzt hat will ein solches Endlager bauen, will er den strahlenden Müll sicher lagern – für einen Zeitraum von 1 Mio. Jahre.
15.2 Kernenergie Seit Ende des 19. Jahrhunderts erforscht man die Nutzung der Kernenergie. Erste Experimente wurden bereits von Antoine Henri Becquerel, Marie und Pierre Curie, Otto Hahn, Lise Meitner u. a. durchgeführt. Im Rahmen des Manhatten-Projekts gelang es während des 2. Weltkriegs schließlich auch eine nukleare Kettenreaktion auszulösen: Eine vernichtende Bombe wurde gebaut und in Japan eingesetzt, um den Krieg endgültig für die Alliierten zu entscheiden. Bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie wird, ähnlich wie bei der Atombombe, eine Kettenreaktion ausgelöst, allerdings kontrolliert und mit dem Ziel, die sich daraus ergebende Energie zu nutzen. Als
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Brennstoff dient Uran oder Plutonium, beides Metalle aus der Gruppe der Actinoide mit den Ordnungszahlen 92 und 94. Die Herstellung von Brennstäben ist kompliziert und erfordert eine Anreicherung von Isotopen mit speziellen Verfahren und Maschinen. Zuvor muss jedoch das Uran erst einmal abgebaut werden. Die Ressourcen sind ungleich über den Erdball verteilt. Besonders große Vorräte wurden in Australien, Kasachstan, Russland, Kanada und Namibia nachgewiesen (OECD 2018). Es gibt verschiedene Methoden Uran abzubauen. Traditionell wird Uran mit den beiden klassischen Bergbaumethoden, also über Tage (im Tagebau) oder unter Tage (bergmännisch) abgebaut. Inzwischen wird Uran aber auch im Lösungsbergbau gewonnen. Dieses Verfahren wird im Uranbergbau als in-situ leaching (ISL) oder auch in-situ recovery (ISR) bezeichnet. Dabei werden Wasser und Zusatzstoffe (Säuren, Chemikalien) mit hohem Druck in den Untergrund gepumpt. Die Mischung verteilt sich dort, nimmt die Mineralien auf und wird mit Brunnen wieder an die Oberfläche gepumpt um dort in Rückhaltebecken zu verdunsten. Aus dem verbleibenden Sediment wird das Uran gewonnen. Zwar kommt es bei diesem Verfahren kaum zu Bergschäden und auch sind die Gefahren für die Bergleute geringer, allerdings wird das Grundwasser kontaminiert und das für eine lange Zeit. 2017 wurden fast 50 % des Urans mit dieser Methode gewonnen (OECD 2018). Bevor Uran als Brennstoff verwendet werden kann, ist der abgebaute bzw. gelöste Rohstoff aufzubereiten. Man unterscheidet verschiedene chemische und physikalische Verfahren, mit denen das Uran aufgeschlossen wird. Der sogenannte Yellowcake stellt dabei ein Zwischenprodukt dar das, zum Beispiel mit Zentrifugen, weiter angereichert wird um schließlich die Brennstäbe zu produzieren. Bei dem Aufbereitungsprozess fallen Abfälle und Rückstände (Tailings) an, die in speziellen Auffangbecken gesammelt und, da sie radioaktiv strahlen, auch nach Beendigung des Bergbaus von der Umwelt abgeschirmt werden müssen. Dies erweist sich oft als schwierig und kostspielig, wie das Beispiel der Deutsch-Sowjetischen Aktiengesellschaft Wismut beweist. Seit Ende des 2. Weltkriegs entwickelte sich das Unternehmen mit Standorten in Sachsen und Thüringen zu einem der größten Uranproduzenten der
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Welt. Nach dem Fall der Mauer wurde das bundeseigene Nachfolgeunternehmen Wismut GmbH mit der Sanierung der Bergbaustandorte beauftragt. Neben der Verwahrung der Gruben und Schächte, der Behandlung der Grubenwässer und dem Rückbau der Anlagen mussten auch die Halden, Tagebaue und Absetzbecken saniert und abgedeckt werden. Dafür stellte die Bundesregierung ein Budget von 6,2 Mrd. € zur Verfügung (Leupold und Paul 2010). Auch nach Abschluss der Sanierung werden noch über lange Zeit die Abdeckungen kontrolliert und instand gehalten, die Flutungs- und Sickerwässer behandelt, die Gruben gesichert, die Umgebung überwacht und anfallende Bergschäden beseitigt werden müssen. Im Bergbau werden diese Art von Arbeiten auch als „Ewigkeitsaufgaben“ bezeichnet. Das Endprodukt aus Uranbergbau und Uranaufbereitung sind die Kernbrennstäbe. Aus ihnen werden in einem Kernkraftwerk mit Hilfe einer kontrollierten Kettenreaktion Wärme und Wasserdampf erzeugt um eine Turbine anzutreiben, die schließlich den gewünschten Strom produziert. Dabei liegt die Effizienz bei 30–40 %. Trotz dieser geringen Effizienz ist Uran extrem energiereich. Bei der Spaltung von nur einem Gramm U235 werden 23 MWh frei, soviel wie man theoretisch aus 3t Steinkohle erzeugen könnte (Beitz und Küttner 2013). Diese Energiemenge kann mit der Brüter-Technologie noch deutlich gesteigert werden. Die Möglichkeit, mit nur wenig Uran enorme Mengen von Energie zu erzeugen, wird von den Atomkraftbefürwortern immer wieder ins Feld geführt, wie auch die geringen CO2-Emissionen während der Stromerzeugung. Diese beiden Argumente beflügeln dann auch die NEA (OECD Nuclear Energy Agency) und die IAEA (International Atomic Energy Agency) in ihren Prognosen und lassen sie auf einen erneuten Ausbau der Kernenergie hoffen. Im günstigsten Szenario soll sich die Nettostromleistung aller Kernkraftwerke bis 2035 (verglichen mit 2016) um 45 % erhöhen (OECD 2018). Unter dem Eindruck des Klimawandel scheint das CO2-Argument immer mehr an Bedeutung zu gewinnen. Berücksichtigt man jedoch neben den CO2-Emissionen im laufenden Betrieb noch die CO2-äquivalenten Emissionen (Treibhausgase wie Methan und Lachgas) sowie die Vorketten, also die Emissionen beim Abbau des Urans, beim Transport, bei der Produktion der Kernbrennstäbe und beim Bau der Anlage,
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kommt man auf über 50 g/kWh CO2eq (IINAS 2020) (Stand 2010). Dazu addieren sich noch die Emissionen beim Rückbau der Anlagen und der Entsorgung des Abbruchmaterials und der Brennelemente. Im Vergleich zu Kohlestrom sind die Emissionen immer noch gering und etwa gleichauf mit Strom aus Photovoltaik, allerdings sind sie deutlich höher als bei Wind- und Wasserstrom. Der kumulierte Energieverbrauch (KEV), der Verluste bei der Gewinnung, Umwandlung und Verteilung berücksichtigt, ist bei Strom aus Kernkraftwerken etwa dreimal so hoch wie bei Photovoltaik, Wind- oder Wasserkraft. Die zur Erzeugung von Atomstrom genutzten Ressourcen sind dabei auch im wesentlichen nicht erneuerbar, im Gegensatz zu regenerativ erzeugtem Strom (IINAS 2020). Der Primärenergiefaktor als Verhältnis von kumuliertem Energieverbrauch zu der tatsächlich beim Verbraucher ankommenden Energie (der Endenergie) ist also bei Atomstrom entsprechend hoch, die Ökobilanz entsprechend schlecht. Bei Studien zur Umsetzung der 2000-Watt-Gesellschaft für die Städte Zürich (Bébié 2009) und Basel (Berger 2011) war die Primärenergie ein zentrales Bewertungskriterium, mit dem Resultat, dass Atomstrom in den nachhaltigen Zukunftsentwürfen der Eidgenossen nicht berücksichtigt wurde. Das stärkste Argument der Kernenergiegegner aber sind die Unfälle, die sich im Lebenszyklus eines Kernkraftwerkes ereignen können. Den ersten kerntechnischen Unfall gab es bereits am 21. August 1945 als in Los Alamos (USA) versehentlich ein Wolframcarbid-Klotz auf einen Plutonium-Kern fiel: ein Arbeiter starb. Danach gab es immer wieder spektakuläre Unfälle wie 1952 in den Chalk River Laboratories (Kanada), 1957 in Maja (Russland) und Windscale (Großbritannien), 1979 auf Three Mile Island (USA), 1982 und 1986 in Tschernobyl (Ukraine) und 2006 in Fukushima (Japan). Wikipedia hat eine eigene Liste von Unfällen kerntechnische Anlagen eingerichtet. Nicht berücksichtigt sind darin die Unfälle beim Abbau und bei der Aufbereitung von Uran. Laut Frankfurter Allgemeinen vom 31.10.2013 und anderer Quellen werden die Kosten des Reaktorunfalls von Fukushima auf 150– 250 Mrd. € geschätzt. In Deutschland investierte der Staat von 1950 bis 2010 200 Mrd. € in Form von direkten Finanzhilfen und Steuervergünstigungen in die
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Entwicklung der Kernenergie (BMU 2012). 2016 wurden in Deutschland 80 TWh Strom mit Kernkraftwerken bereitgestellt, 12 TWh weniger als 2013 (OECD 2018). Weltweit wurden 2016 gut 10 % der elektrischen Energie mit Kernkraftwerken erzeugt. In Frankreich betrug der Kernenergieanteil 73 %, in Deutschland 13 % und in China 3–4 %. Insgesamt wurden 2016 rund 2606 TWh Nuklearstrom erzeugt, gut halb so viel wie mit Wasserkraftanlagen und zweieinhalbmal so viel wie mit Windkraftanlagen. Die regenerative Energieerzeugung nimmt seit der Jahrtausendwende ständig zu und wird weiter steigen. Seit 2017 nimmt auch die Erzeugung von Kernenergie wieder zu, wenn auch in geringerem Maße (IEA 2020). In Deutschland entschloss man sich nach dem Reaktorunfall von Fukushima, aus der Kernenergie auszusteigen. Trotzdem ist die Episode der Kernenergie damit noch nicht vorbei. Mit der Abschaltung der Kernkraftwerke bleibt das Problem der Entsorgung der radioaktiven Abfälle. Mit diesem Problem werden sich noch die nächste und übernächste Generation befassen müssen. Genauer gesagt werden sich die nächsten 40000 Generationen um den Abfall kümmern müssen.
15.3 Kernabfälle Die International Atomic Energy Agency IAEA unterscheidet die folgenden Gruppen von radioaktiven Abfällen (IAEA 2018): • Abfälle aus dem Uranbergbau (Haldenmaterial, Tailings, Maschinen, etc.) • medizinische Abfälle und Abfälle aus der Forschung • militärische Abfälle • abgebrannte Kernstäbe aus Reaktoren • Abfälle aus dem Lebenszyklus der Brennstofferzeugung und -nutzung • Abfälle aus dem Rückbau kerntechnischer Anlagen. Eine weitere Möglichkeit ist die Unterteilung in
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• schwachradioaktive Abfälle • mittelradioaktive Abfälle • hochradioaktive Abfälle. Die schwachradioaktiven Abfälle werden auch als low active waste (LAW) oder auch als low-level waste (LLW) und very low level waste (VLLW) bezeichnet. Dazu zählen Abbruchmaterial, Säuberungsmittel, Arbeitskleidung und Bodenaushub. 95 % aller radioaktiven Abfälle sind LAW; sie repräsentieren weniger als 2 % der Radioaktivität des gesamten Abfallvolumens. Die mittelradioaktiven Abfälle werden auch als intermediate-level radioactive waste (MAW oder ILW) bezeichnet. Sie umfassen zum Beispiel Abfälle aus der Medizin, der Forschung und der Industrie und repräsentieren 3–5 % der Radioaktivität aller Abfälle. Die hochradioaktiven Abfälle wie die Kernbrennstäbe werden auch als highlevel radioactive waste (HAW) oder high level waste (HLW) bezeichnet. Sie stellen einen verschwindend kleinen Anteil des Gesamtvolumens aller radioaktiven Abfallstoffe dar, repräsentieren aber über 90 % ihrer Radioaktivität (IAEA 2018). Da in Deutschland grundsätzlich für alle radioaktiven Abfälle eine tiefe Endlagerung geplant ist unterscheidet das erst 2014 neu gegründete Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicherheit, aus dem inzwischen das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) gebildet wurde (www.base.bund.de) radioaktive Abfälle mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung und wärmeentwickelnde Abfälle. Dabei umfassen die Abfälle mit geringer Wärmeentwicklung im Wesentlichen die schwachradioaktiven Abfälle und Anteile der mittelradioaktiven Abfälle und die wärmeentwickelnden Abfälle den Rest. Zur Jahreswende 2013/2014 bilanzierte die IAEA, dass weltweit knapp 6 Mio. m3 schwachradioaktive, 0,5 Mio. m3 mittelradioaktive und 22000 m3 hochradioaktive feste Abfälle zwischengelagert sind. Dazu kommen noch >53 Mio. m3 schwachradioaktive, 6,3 Mio. m3 mittelradioaktive und 2,8 Mio. m3 hochradioaktive flüssige Abfälle. Endgelagert waren zu diesem Zeitpunkt bereits 28 Mio. m3 schwachradioaktive und 0,1 Mio. m3 mittelradioaktive feste Abfälle. Bislang ist kein Endlager für feste radioaktive Abfalle im Betrieb (BASE 2020). An flüssigen radioaktiven Abfällen waren >40 Mio. m3 schwachradioaktive,
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8,6 Mio. m3 mittelradioaktive und 68000 m3 hochradioaktive Abfälle endgelagert (IAEA 2018). Die erst 2016 gegründete Bundesgesellschaft für Endlagerung BGE konstatiert, dass in Deutschland bislang 120000 m3 schwach- und mittelradioaktive Abfälle angefallen sind, von denen ein Großteil bereits „endlagergerecht verarbeitet und verpackt“ ist (BGE 2020). Dazu kommen „mehrere Hundert“ Castoren (Zwischenlagerbehälter) mit hochradioaktiven Abfällen in deutschen Zwischenlagern. In Deutschland werden die abgebrannten Brennelemente größtenteils noch nicht als Abfall deklariert (BASE 2020). Bis Ende 2016 sind insgesamt 15000 t abgebrannte Brennelemente angefallen, von denen 6500 t zur Wiederaufbereitung nach Frankreich und Großbritannien geschickt wurden, wie auch der Großteil der 190 t ausgedienter Brennelemente aus den Versuchsreaktoren. Die BGE prognostiziert bis 2080 weitere 10500 t hochradioaktive Abfälle aus deutschen Brennelementen (BGE 2020). Daraus ergäben sich 27000 m3 hochradioaktive Abfälle, die endzulagern wären. Das Volumen schwankt jedoch je nach gewähltem Behälterkonzept. Dazu kämen noch 300000 m3 schwach- und mittelradioaktive Abfälle und eine noch nicht genau abzuschätzende Menge von radioaktiven Abfällen aus der havarierten Schachtanlage Asse II (im Rahmen des Nationalen Entsorgungsprogramms hat die Bundesregierung hierfür 220000 m3 ausgewiesen). Zusätzlich wären noch 100000 m3 von Rückständen aus der Urananreicherung zu entsorgen. Über das endgültige Entsorgungskonzept wurde in Deutschland noch nicht entschieden. Zurzeit befasst man sich (wieder) mit der Standortsuche. Derweilen warten die Abfälle in 13 Zwischenlagern auf ihre endgültige Entsorgung. Die Lagerung in den Zwischenlagern ist auf 40 Jahre begrenzt (BASE 2020).
15.4 Endlagerung Die Endlagerung radioaktiver Abfälle richtet sich nach ihrer Strahlungsintensität (schwach-, mittel- und hochradioaktiv) und ihrer Halbwertzeit, also der Zeit, nachdem die Hälfte der Strahlung abgeklungen ist. Die IAEA schlägt konzeptionell vor, schwachradioaktive Abfälle über
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Tage in Abklinglager und Deponien zu lagern. Mit zunehmender Strahlungsaktivität entfernt sich die Lagerung von der Tagesoberfläche: mittelradioaktive Abfälle sind in mittleren Tiefen, hochradioaktive Abfälle in großen Tiefen zu lagern (IAEA 2009). Auch andere Endlagermöglichkeiten wurden vorgeschlagen wie die Verklappung des Atommülls im Meer, die Selbstversenkung wärmeentwickelnder Abfälle in der Antarktis (Durchschmelzen) oder auch die Entsorgung hochradioaktiver Abfälle mit Raketen in den Weltraum. Diese Optionen wurden aus mithin nachvollziehbaren Gründen nicht weiter verfolgt. Für hochradioaktive flüssige Abfälle wurde jedoch die Entsorgung in tiefen Bohrlöchern (deep borehole disposal) eingehend untersucht (Brady 2009; Arnold et al. 2011). Grundsätzlich lassen sich zwei Strategien der Entsorgung unterscheiden: • die Abfälle werden im eigenen Land entsorgt • die Abfälle werden in ein anderes Land zur Entsorgung geschickt. Die zweite Option widerspricht dem Verursacherprinzip. Sie ist auch aus ethischer Sicht problematisch, obwohl einige Länder sie praktizierten und zum Teil auch heute noch praktizieren. Bei der Entsorgung ins Ausland nutzten wirtschaftlich starke Länder die wirtschaftlich schwachen aus, indem sie ein Ewigkeitsproblem einfach exportieren. Dies geht oft einher mit Bestechung und Korruption in den Empfangsländern. Außerdem verliert die Weltgemeinschaft die Kontrolle über die Kernabfälle, aus denen immer noch Kampfmittel gebaut werden könnten, wie z. B. die dirty bomb, einem konventionellen Sprengsatz angereichert mit Uranabfällen. Im weiteren wird nun die erste Option, die Entsorgung im eigenen Land, verfolgt. Die World Nuclear Association (www.world-nuclear. org), eine von den Vereinten Nationen anerkannte, internationale Lobbyorganisation für die friedliche Nutzung der Kernenergie, gibt hierzu einige Beispiele. Grundsätzlich gilt bei hochradioaktiven Abfällen das Multi-Barrieren-Konzept: Eine technische Barriere (der Container mit dem Abfall) wird ergänzt mit einer geotechnischen Barriere (dem Puffermaterial um die Container) und eingelagert in eine geologische
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Barriere (der möglichst undurchlässigen geologischen Schicht). In Belgien möchte man zum Beispiel hochradioaktive Abfällen in der aus marinem Ton (im Meer) gebildeten Boom-Formation in über 200 m Tiefe endlagern. Die relativ junge, im unteren Oligozän entstandene (also etwa 28–34 Mio. Jahre alte) Sedimentschicht besteht im wesentlichen aus plastischen Tonen der sogenannten Rupel Stufe, in die siltige, zum Teil karbonatreiche Schichten eingelagert sind. Diese Wechsellagerung wurde wahrscheinlich durch die sogenannten MilankovitchZyklen verursacht, die auf die Änderung der Neigung der Erdachse, der Schwankung der Rotationsachse der Erde (Präzession) und der Exzentrizität der Erdumlaufbahn zurückgehen, die ihrerseits Klimaschwankungen verursachten (Echelpoel und Weedon 1990). Dieses Detail ist von Bedeutung denn es zeigt, dass der als quasi undurchlässig angesprochene Ton doch durchlässigere (siltige) Schichten hat. Dazu kämen die tektonischen Störungen und Trennflächen, die durch Bewegungen oder auch infolge einer Austrocknung entstanden sein könnten. Auch die Niederlande, Frankreich und die Schweiz erforschen Tonformationen zur Endlagerung hochradioaktiver Abfälle. In der Schweiz schlägt die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (NAGRA) die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle im Opalinuston südlich von Schaffhausen (Zürich Nordost), nordwestlich von Winterthur (Nördlich Lägern) oder nördlich von Aarau (Jura Ost) vor (NAGRA 2015). Alle vorgeschlagen Endlager würden sich an der deutschen Grenze oder nahe der Grenze befinden. Nach den 13 Kriterien zur Standortwahl hinsichtlich Sicherheit und technischer Machbarkeit schneidet der Opalinuston nach Ansicht der NAGRA als „Wirtsgestein“ besonders gut ab. Zu diesen Kriterien zählen u. a. die Mächtigkeit der geologischen Barriere, seine hydraulische Durchlässigkeit, die Art möglicher Transportpfade und die Ausbildung des Porenraums, das Selbstabdichtungsvermögen, die Homogenität des Gesteinsaufbaus, die Potenziale zur Bildung neuer Wasserwegsamkeiten (in Sinne einer Verkarstung), die Langzeitstabilität des Lagers und das Vermögen, dieses Gestein umfassend zu erkunden. Der Opalinuston ist eine geologische Schicht im unteren Dogger (also im mittleren Jura) und 170–174 Mio. Jahre alt. Genannt wurde sie nach Leioceras
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opalinum, einem inzwischen ausgestorbenen Kopffüßler, der in dieser Tonschicht als Fossil vorkommt. Proben zeigen, dass dieser Ton eine sehr geringe Durchlässigkeit besitzt. Geologische Inkonsistenzen wie spezielle Sedimentationszyklen oder geologische Trennflächen und natürliche tektonische Störung könnten diese Durchlässigkeit jedoch erheblich vergrößern. In den USA wird seit Jahrzehnten daran gearbeitet, hochradioaktive Abfälle in den Yukka Mountains (Nevada) endzulagern. Geplant ist ein 300 m tiefes Endlage in vulkanischem Tuff, 300 m über dem eigentlichen Grundwasserspiegel (in 600 m Tiefe). Obwohl Präsident Obama den Betreibern die Lizenz entzog wird inzwischen weiter an dem Projekt gearbeitet. Im Bundesstaat New Mexico wurde ein Lager für mittelradioaktive Abfälle in einer Salzformation eingerichtet. Salz würde, so die Annahme, von Grundwasser nicht durchflossen und wäre somit ein ideales Wirtsgestein für radioaktive Abfälle. Auch in Deutschland wurden daher Salzstöcke für die Endlagerung erkundet und erforscht. Salzstöcke entstehen aufgrund der Dichteunterschiede zwischen dem Salz (leicht) und dem darüber lagernden Gebirge (schwer). Zunächst bildet das nach oben drängende Salz ein Salzkissen, dann bricht es durch die überlagernden Formationen und bildet einen Diapir (einen Salzdom oder Salzstock). Ein Salzstock ist somit aus geologischer Sicht eine extrem dynamische Gebirgseinheit. Ende der 1970er Jahre wurde in der BRD der Salzstock Gorleben an der Grenze zur DDR und in der DDR der Salzstock Morsleben an der Grenze zur BRD als Endlager erforscht und teilweise betrieben. Für Morsleben ist die Stilllegung beantragt, Gorleben ist, nachdem 1,5 Mrd. € investiert wurden, immer noch als Endlager für hochradioaktive Abfälle in der Diskussion (WNA 2020). Neben den Salzstöcken Gorleben und Morsleben wurden in das Kaliund Salzbergwerg Asse II bei Wolfenbüttel (Niedersachsen) von 1967 bis 1978 insgesamt 47000 m3 schwach- und mittelradioaktive Abfälle eingelagert (BGE 2020) (Abb. 15.1). 1988 wurde jedoch ein Wassereinbruch in dem als „dicht“ eingestuften Salzstock festgestellt. Die Ursachen und die Wege, die das Wasser genommen hat, sind bis heute noch nicht geklärt. Da die Langzeitsicherheit nicht mehr nachgewiesen werden konnte wurde 2013 von der Bundesregierung die sogenannte
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Abb. 15.1 Zwischen 1967 und 1978 wurden insgesamt rund 47000 m3 schwachund mittelradioaktive Abfälle in die Schachtanlage Asse II eingelagert (mit freundlicher Genehmigung © BGE Bundesgesellschaft für Endlagerung mbH 2019, all rights reserved)
Lex Asse beschlossen, das „Gesetz zur Beschleunigung der Rückholung radioaktiver Abfälle und der Stilllegung der Schachtanlage Asse II“. Es sind also alle radioaktiven Abfälle aus der Schachtanlage wieder zurückzuholen und anderswo zu entsorgen. Wie das technisch umzusetzen ist wird zurzeit geprüft. Insgesamt sollen 220000 m3 von Abfallstoffen plus radioaktiv kontaminiertem Material und Gebirge aus der Asse II zurückgeholt und endlagergerecht verpackt werden. Hierzu wird ein eigenes Rückholungsbergwerk errichtet werden. Die Kosten werden in einer Größenordnung von 10 Mrd. € liegen (KLHA 2016) und sollen vollständig aus Steuermitteln finanziert werden (BGE 2018b). 2033 sollen die Arbeiten starten. Finnland und Schweden beabsichtigen, ihre hochradioaktiven Abfälle in tiefen Endlagern im kristallinen Grundgebirge (Granit) zu lagern
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(IAEA 2018). In Finnland wird das untertägige Felslabor Onkalo in 400–500 m Tiefe unter der Insel Olkiluoto entsprechend ausgebaut. Geplant ist, hochradioaktive Abfälle in Kupferbehälter einzuschließen und dann in vertikalen Großbohrungen von unterirdischen Stollen aus einzubauen, wobei die Behälter zusätzlich in Bentonit eingebettet sind. Bentonit ist eine Mischung aus Tonmineralien die bei Wasserzutritt (wegen des Anteils an Montmorillonit) aufquillt und dann, so die Überlegung, auch langfristig quasi undurchlässig bleiben wird. Die Zugangsstollen sollen später mit Tonblöcken und Tonpellets versiegelt werden (Posiva 2020). In Deutschland wurde ein Erzbergberg bei Salzgitter in Niedersachen als radioaktives Endlager untersucht. In der 1965 bis 1976 für die Förderung von Eisenerz betriebenen Schachanlage Konrad sollen in über 1000 m Tiefe insgesamt ca. 300000 m3 schwach- und mittelradioaktive Abfallstoffe gelagert werden (BGE 2020) (Abb. 15.2).
Abb. 15.2 Das ehemalige Erzbergwerk Konrad ist das erste nach Atomrecht genehmigte Endlager Deutschlands, in dem schwach- und mittelradioaktive Abfälle eingelagert werden sollen (mit freundlicher Genehmigung von © BGE Bundesgesellschaft für Endlagerung mbH 2019, all rights reserved)
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Ein Endlager für hochradioaktive Abfälle wird in Deutschland immer noch gesucht. Bis 2031 soll die Standortwahl getroffen worden sein. Bis dahin ist es ein langer Weg: Mitte 2020 sollen in einem Zwischenbericht die ausgewählten „Teilgebiete“ vorgestellt werden, die in einer „Teilgebietekonferenz“ zu diskutieren sind. Nachdem Änderungsvorschläge berücksichtigt und eingearbeitet wurden wird es einen Bericht über mögliche Standortregionen geben. Darauf aufbauend werden Vorschläge zur übertägigen Erkundung ausgearbeitet, über die der Bundestag und der Bundesrat zu entscheiden haben werden. Danach folgt die übertägige Erkundung mit Erkundungsbohrungen und geophysikalischen Messungen. Darauf aufbauend entscheiden Bundestag und Bundesrat darüber, welche Standortregionen unter Tage weiter erkundet werden sollen. In diesem Rahmen werden untertägige Erkundungsbergwerke geplant und gebaut. Schließlich schlägt die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) einen Standort für das Endlager vor. 2031 sollen dann der Bundestag und der Bundesrat ein Gesetz zur Endlagerung und zum Endlagerungsstandort verabschieden. Ab 2050 sollen dort die radioaktiven Abfälle eingelagert werden (BGE 2018a). Oder wird am Ende doch noch der Schnelle Brüter wiederbelebt, um so das Endlagerproblem zu lösen? Deutschlands erster Schnelle Natriumgekühlte Reaktor (SNR) ist nie in Betrieb gegangen und dient heute als Freizeitpark „Wunderland Kalkar“. Er ist wahrscheinlich Deutschlands größte Investitionsruine. Dabei klang die Technik verlockend: Nicht nur das in konventionellen Kernkraftwerken genutzte Uran-235 ließe sich spalten, auch das in „abgebrannten“ Kernelementen reichlich vorhandene Uran-238 kann genutzt werden und zwar durch die sich in „Brutreaktoren“ schneller bewegenden Neutronen. So könne man mit Kernkraftwerken der Generation IV laut Rainer Klute (2019), einem Verfechter der „Nuklearen Re-Alphabetisierung“, allein aus den gebrauchten Brennelementen Deutschland 250 Jahre mit Strom versorgen. Und das klimaneutral, ohne Emission von Treibhausgasen. Als Kühlmittel diente dann allerdings flüssiges Natrium. Zwar würden letztendlich auch Abfallstoffe frei, diese würden aber nur noch 300 Jahre strahlen (Klute 2019).
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Klingt, als könnte man gleich drei Probleme gleichzeitig lösen: Die Endlagerung, die Energieversorgung und den Klimawandel. Auch der Weltklimarat schließt diese Lösung nicht mehr aus und selbst Greta Thunberg postete (zunächst) ihre Sympathie für die Kernkraft (nach Protesten sprach sie sich wieder dagegen aus). Doch es ergeben sich auch Fragen: Können die Kraftwerke der Generation IV dem Preisdruck der inzwischen überraschend günstigen regenerativen Energien überhaupt standhalten? Wie lassen sich Regierungen davon abhalten, aus dem Kernmaterial keine Bomben zu bauen (was möglich wäre)? Wären die zukünftigen SN-Reaktoren nicht ideale Terrorziele? Könnte man die Proliferation von radioaktivem Material kontrollieren, den Bau von dirty bombs ausschließen? Und dann gibt es auch noch technische Fragen: Sollte es doch zu Leckagen kommen, wie bekommt man die heftige Reaktion des Kühlmittels Natrium mit Luft oder Wasser in den Griff? Wie geht man mit frei werdendem radioaktiven Material um? Wie versorgt und wie entsorgt man sicher und zuverlässig SN-Reaktoren? Inzwischen wird auch die Kritikalitätssicherheit (die Sicherheit gegen unzulässige kritische oder überkritische Zustände) bezweifelt, gerade wenn Kernabfälle als Brennstoff genutzt werden (z. B. Darnowski und Uzunow 2015). Und: Braucht man überhaupt, nun, da die bedeutenden technischen (und wirtschaftlichen) Potenziale der regenerativen Energien bekannt sind, die SNR-Technologie? Apropos regenerative Energien: Kämen die „neuen“ Reaktoren nicht zu viel spät, um fossile Energie zu ersetzen und damit den Klimawandel zu stoppen? Selbst bei konventionellen Druckwasserreaktoren kommt es zu erheblichen Bauverzögerungen, beim finnischen Kraftwerksneubau Olkiluoto 3 beträgt sie mittlerweile zehn Jahre. Der französische Kraftwerkskonzern Areva musste bereits 2018 an den Betreiber 450 Mio. € wegen entgangener Stromerzeugung zahlen. Beglichen wurde die Rechnung schließlich vom französischen Steuerzahler, denn die französische Regierung musste das Unternehmen mit einem Milliardenzuschuss vor der Pleite bewahren (Assendorf 2020). Vor diesem Hintergrund hat Frankreich inzwischen sein ASTRIDProjekt zur SNR-Technologie (Advanced Sodium Technological Reactor for Industrial Demonstration) abgebrochen (De Clercq 2019) und auf die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts verschoben – offiziell aus
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Kostengründen (nachdem bereits knapp 750 Mio. € investiert wurden). Und in Deutschland wird kein Politiker mehr den Atomkonsens infrage stellen wollen. Es wird wohl bei der Suche nach einem Endlager bleiben.
15.5 Anforderungen Die Bundesgesellschaft für Endlagerung definiert in einer Informationsschrift die Anforderungen für ein Endlager in Deutschland (BGE 2018a). Danach gibt es Mindestanforderungen, Ausschlusskriterien und geowissenschaftliche Abwägungskriterien. So wird gefordert, dass zwischen der Erdoberfläche und dem Endlager ein Abstand von mindestens 300 m einzuhalten ist. Außerdem muss der Atommüll in einer mindestens 100 m mächtigen Schicht aus kristallinem Gestein (z. B. Granit), Salzgestein oder Tongestein liegen, die „möglichst wasserundurchlässig“ ist. Es muss möglich sein, den Atommüll wieder zu bergen, sollte irgendetwas schief gehen. In Gebieten mit vulkanischen Aktivitäten, mit der Gefahr von Erdbeben, mit geologischen Hebungen, mit aktiven Störungszonen, mit jüngeren Grundwasservorkommen und in Gebieten in denen Bergbau umgegangen ist oder Bohrungen abgeteuft wurden ist eine Endlagerung ausgeschlossen. Gerade die geologischen Anforderungen werden nicht einfach zu erfüllen sein, ist doch, wie Alfred Wegener bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner Theorie der Kontinentalverschiebungen beschrieb, auf der Erdoberfläche eigentlich alles in Bewegung – glücklicherweise, denn nur deshalb gibt es überhaupt Berge (u. a. im Bereich der Kollisionszonen der Kontinentalplatte), nur deshalb kann sich ein differenziertes Klima entwickeln, gestalten Verwitterung und Erosion unser Landschaftsbild, kann überhaupt höher organisiertes Leben entstehen (Ward und Brownlee 2000). Tektonisch stabil sind eigentlich nur die sogenannten Kratone, kontinentale Kerngebiete, die sich seit dem Präkambrium (vor mehr als 540 Mio. Jahren) nicht mehr verändert haben. Diese gibt es zum Beispiel in Nordamerika, in Afrika und in Skandinavien. Interessant sind in diesem Zusammenhang die von der
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BGE formulierten geowissenschaftlichen Abwägungskriterien zum Bau eines Endlagers (BGE 2018a): • die Gasbildung im Gebirge darf nur gering sein (in Steinkohlebergwerken bildet sich zum Beispiel das explosive Grubengas) • das Gebirge muss unempfindlich sein gegenüber Temperaturschwankungen (falls es doch zu einer Havarie kommen sollte) • die chemische Zusammensetzung der Umgebung darf die Abfallbehälter nicht angreifen • das Gebirge muss undurchlässig sein, es darf kein Grundwasser vorhanden sein, das radioaktive Stoffe transportieren könnte • falls doch etwas ausläuft muss das umgebende Gebirge (die geologische Barriere) ein möglichst hohes Rückhaltevermögen haben. Für einen Zeitraum von bis zu einer Million Jahren soll gewährleistet sein, dass möglicherweise freigesetzte radioaktive Stoffe keine heute geltenden Grenzwerte überschreiten (BGE 2020). Vor diesem Hintergrund verdienen all die genannten Anforderungen und Kriterien eine vertiefte Betrachtung. Im Folgenden möchte ich mich auf die Wasserundurchlässigkeit und das Rückhaltevermögens beschränken. Seit meiner Studienzeit befasse ich mich mit dieser Thematik. Oft lagen zehn, 15 Jahren dazwischen, bis ich mich wieder über die Problematik beugen konnte. Nun tue ich dies wahrscheinlich zum letzten Mal mit dem (sicher eitlen) Anspruch, die ethischen Dimensionen auszuloten. Irgendwie ist mir schon klar, dass ich natürlich scheitern werde. Aber ich versuche es trotzdem. Vor über 20 Jahren veröffentlichte ich einen kleinen Band zum Thema Schadstoffausbreitung (Genske 1996). Ich konzentrierte mich dabei auf geklüftete Medien, auf Gebirge also, das, wie Geologen wissen, grundsätzlich von Klüften und Störungen durchzogen ist. Dieses Thema interessierte mich besonders, denn zu der Zeit verdiente ich mir mein Studium mit gefügekundlichen Messungen. Die Gefügekunde wurde in den 1920er Jahren von Bruno Sander eingeführt (Sander 1930, 1948) und hat als Ziel, die im Gebirge verborgenen, an Böschungen jedoch aufgeschlossenen Trennflächen des Gebirges einzumessen und zu systematisieren. Es gibt eine Fülle verschiedener Arten von Trennflächen die in Schichtung,
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Schieferung, Klüftung und Störungen (auch Verwerfungen) unterschieden werden. Sie entstehen durch tektonische Beanspruchungen, Be- und Entlastungen, Austrocknung und Abkühlung und werden in einem kreisförmigen Diagramm, dem Schmidtschen Netz (einer Lambertsche, d. h. flächentreuen Azimutalprojektion) als sogenannte Polpunkte idealisiert (Schmidt 1925, 1932) und können dann mit den Mitteln der sphärischen Statistik oder einer Eigenvektoranalyse weiter charakterisiert werden (Genske 2014). Interessant ist, dass in jedem Gebirge Trennflächen auftreten und dass ihre Verteilung fast nie zufällig ist. Es gibt immer ein Muster, das sich statistisch deuten und quantifizieren lässt. Als Bauingenieur hatte ich nie gelernt, Trennflächen zu erkennen, zu unterscheiden oder einzumessen. In meinem Geologiestudium war die Gefügekunde jedoch integraler Bestandteil des Curriculums. Mir wurde klar, dass Bauingenieure über dieses Wissen gar nicht verfügen können und auch in der Praxis nicht nachvollziehen können, warum Geologen so kompromisslos auf die Aufnahme des Trennflächengefüges bestehen. So war es für mich durchaus spannend zu sehen, wie wichtig die gefügekundliche Aufnahme (auch gefügekundliche Ansprache genannt) bei der Beurteilung der Standsicherheit von Böschungen ist. Beim Bau des Zubringers zum damaligen Bundesgästehaus in Bonn Bad Godesberg war dies, nachdem etwa 2 Mio. m3 der Böschung in die Baugrube gerutscht waren, ein zentrales Thema. Aufgrund der Bedeutung des Projektes gab es genügend Mittel, um auch detailliertere Untersuchungen, zum Beispiel eine gefügekundliche Ansprache durchzuführen (Müller 1987). Auf dieser Grundlage konnten dann der Mechanismus der Rutschung rekonstruiert und wirksame Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Es überrascht übrigens, dass auch heute die gefügekundliche Aufnahme bei der Bestimmung der Standsicherheit von Felsböschungen noch nicht zur Routine geworden ist (Genske 2017). Aber auch bei der Ermittlung der Durchlässigkeit des Gebirges spielen die Trennflächen eine herausragende Rolle. Seit den 1980er Jahren wurde immer wieder gemeldet, dass Deponien undicht seien und die austretenden Schadstoffe das Grundwasser kontaminierten. Es wurde entschieden, bei neuen Deponien nicht nur die Dichtigkeit der Sohlabdichtung sondern auch die Eignung des Gebirges als geologische
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Barriere zu prüfen. Zunächst war man sich sicher, dass Tonschichten eine ideale Barriere bilden würde. So nahm man vorsichtig sogenannte ungestörte Proben aus diesen Tonschichten und überprüfte ihre Durchlässigkeit im Labor. Man maß spektakulär niedrige Durchlässigkeitsbeiwerte und folgerte, dieses Gestein sei quasi undurchlässig. Trotzdem kam es zu Leckagen: So erwies sich zum Beispiel die geologische Tonbarriere unter der Sonderabfalldeponie Münchehagen aus durchlässig. Tatsächlich konnten auch hier Trennflächen kartiert werden, die hochtoxische Lösungen einfach durchließen (Geißler 1994). Ein Schlüsselerlebnis für mich war dann die Kartierung einer Felswand unterhalb des Sierra-Elvira-Klosters bei Granada (Abb. 15.3). Das trockene Klima Spanien hatte in der entblößten Felswand die Spuren der mineralhaltigen Wässer konserviert, die das Trennflächensystem vor langer Zeit durchflossen haben mussten. Deutlich erkennbar war, wie die Wässer entlang der Verschnittlinien der (freigelegten) Schichtung und verschiedener Kluftsysteme ihre Spuren hinterlassen hatten. Es käme, so meine Folgerung, also darauf an, genau diese Verschnittlinien zu erfassen und zu charakterisieren. Genau das wäre mit einer gefügekundlichen Aufnahme möglich. Auf dieser Grundlage könnte man ein Strömungsmodell für geklüftete Medien entwickeln. Doch bevor ich diesen Gedanken vertiefe möchte ich zunächst noch einmal zurück zu den etablierten Ansätzen gehen. Der Transport von Schadstoffen im Untergrund wird auch als Massentransport bezeichnet. Er besteht aus verschiedenen Komponenten: • Die Advektion (auch Konvektion) ist die eigentliche Verfrachtung der Schadstoffe mit dem fließenden Grundwasser. Dabei bewegen sich die Schadstoffe mit der gleichen (mittleren) Geschwindigkeit wie das Fluid und nehmen den gleichen Weg. • Die Dispersion ist die Schwankung der Geschwindigkeit der einzelnen Stromfäden infolge der Heterogenität (Uneinheitlichkeit) des durchströmten Mediums (auch mechanische Dispersion). • Die Diffusion ist die Schwankung der Konzentration der Schadstoffe infolge der Konzentrationsunterschiede, also ein Vermischungseffekt (auch molekulare Diffusion).
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Abb. 15.3 Das Sierra-Elvira-Kloster bei Granada (oben), Fließspuren (unten)
• Die Reaktion ist die Veränderung der Schadstoffe infolge chemischer Prozesse. Hierzu gehören auch die Abbaurate und der Zerfall von Schadstoffen (z. B. die Halbwertzeit von Radionukliden). • Die Adsorption ist die Bindung von Schadstoffen an das durchströmte Medium. Die Schadstoffe werden also an ihrer Ausbreitung gehindert, was auch als Retardation bezeichnet wird. Durch Desorption werden diese Schadstoffe zeitverzögert wieder freigesetzt.
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• Der Kolloid-Transport ist der advektive Transport von nicht gelösten Schadstoffen mit einem Durchmesser von 1–1000 nm (Nanometer). Um all diese Phänomene in einem Transportmodell zusammenzuführen unterscheidet man klassische Verfahren und alternative Ansätze. Zu den klassischen Verfahren zählen die geschlossenen Lösungen und die numerischen Verfahren. Alternative Verfahren sind zum Beispiel stochastische Ansätze, die Perkolationstheorie, fraktale Ansätze oder das Channeling-Konzept. Zunächst zur klassischen, geschlossenen Lösung. Die auf eine stationäre (raum-zeitlich konstante) Strömung bezogene Differenzialgleichung lässt sich herleiten, indem man den Erhaltungssatz (Massenstrom) mit dem Darcyschen Gesetz, dem ersten Fickschen Diffusionsgesetz sowie Annahmen zur Dispersion, zur Retardation und zum Schadstoffabbau verbindet (Scheidegger 1961; Tang et al. 1981; Bear et al. 1993): 3 1 ∂(cvx1 ) 1 ∂ ∂c ∂c − + (Ddis,i + Dmol + c = 0 ∂t R ∂x1 R ∂x1 ∂x1 i=1
Darin sind x1 die Strömungsrichtung, x2 und x3 die Koordinaten senkrecht dazu, v die Strömungsgeschwindigkeit, c die Schadstoffkonzentration, Ddis der (mechanische) Dispersionskoeffizient, Dmol der (molekulare) Diffusionskoeffizient, R der Retardationskoeffizient, λ die Schadstoffabbaurate und t die Zeit. Die Differentialgleichung wurde inzwischen für bestimmte Randbedingungen geschlossen gelöst. Weiterhin dient sie als Grundlage für numerische Berechnungen der Schadstoffausbreitung in porösen Medien, wie z. B. Sand. Die Herleitung einer Transportgleichung für das Gebirge ist schwieriger, denn hier findet der Schadstofftransport zusätzlich, wahrscheinlich hauptsächlich im Trennflächengefüge statt. Im sogenannten Double-Porosity Modell (auch Dual-Porosity Modell) wird das geklüftete Gebirge durch zwei sich überlagernde, homogene und kontinuierliche Medien idealisiert (Barenblatt et al. 1960; Barenblatt und Zheltov 1960; Gerke und Van Genuchten 1993). Davon stellt das erste den Kluftwasserleiter und das zweite den Porenwasserleiter innerhalb der intakten
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Kluftkörper dar. Der Porenwasserleiter verfügt über eine spezifische Speicherfähigkeit, der Kluftwasserleiter zeichnet sich durch eine große Durchlässigkeit aus. Zwischen der Kluft und dem Kluftkörper kommt es zu einem diffusiven Lösungsaustausch. Es gilt (Birkhölzer und Rowé 1991). ∂c ∂c ∂ 1 ∂ cvg 1 − ng − ψ =0 + Dij − ∂t ng ∂xi ∂xi ∂xj ng mit xi bzw. xj als kluftparallele Achsen, vg als Strömungsgeschwindigkeit im (homogenisierten) Kluftgefüge, ng als Gebirgsporosität (als Anteil der Klüfte am Einheitsvolumen), Dij als hydrodynamischer Dispersionstensor und Ψ als diffusiver Lösungsaustausch zwischen Kluft und Kluftkörper (dem intakten Gebirge). Die Bedeutung dieser Gleichung für die Bewertung des Gebirges als geologische Barriere für Endlager liegt auf der Hand: Das Gebirge hat also eine Speicherfähigkeit und – falls es im Endlager zu einer Havarie kommt – würden das Gebirge die migrierenden Radionuklide (in den Kluftkörpern) vielleicht lange genug zurück halten. Andererseits sind die Parameter, die in die Berechnung eingehen, schwer zu bestimmen, mithin kann man sie nur abschätzen. Auf jeden Fall handelt es sich um statistisch streuende Größen. Eine Reihe von Autoren haben die verschiedenen Ansätze zur Modellierung der Schadstoffausbreitung in geküfteten Medien vergleichend gegenüber gestellt. So vergleicht Shlomo P. Neumann etablierte und alternative Ansätze und kommt schließlich zu dem Schluss, dass wahrscheinlich die Verschnittlinien der Trennflächen den größten Einfluss auf die Schadstoffausbreitung im geklüfteten Gebirge haben (Neuman 2005). Die Verschnittlinien bilden quasi Kanäle (Channels) und dominieren den Schadstofftransport. Die ChannelingHypothese wird inzwischen von vielen Forschergruppen unterstützt (Tsang und Neretnieks 1998; Neuman 2005) und wurde auch mit Labor- und Feldversuchen belegt, u. a. von (Hsieh und Neuman 1985; Abelin et al. 1987). Somit sind wir wieder bei meiner Beobachtung der Fließkanäle unterhalb des Sierra-Elvira-Klosters bei Granada. Nach einen halben
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Jahrhundert intensiver Forschung kommt man schließlich zu dem Schluss, dass die im Gebirge verborgenen Verschnittlinien der Trennflächen den kritische Transportmechanismus darstellen. Und man hat noch keine allgemein gültige Lösung, um diesen Transportmechanismus rechnerisch zu simulieren. Man hat nur Beobachtungen und Versuche, die diese Hypothese stützen und ein paar Rechenansätze für idealisierte Systeme. Wie diese Channels im Gebirge verteilt sein können, wurde inzwischen untersucht (z. B. Bruines und Genske 2001). Auf dieser Grundlage schien es mir angebracht, einen alternativen Ansatz zu entwickeln (Genske 1996). Was ich dabei jedoch nicht berücksichtigte war die Zeit: Zwar konnte ich die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Schadstoffe in einem System von Fließkanälen bestimmen (auf relative einfacher Art). Doch war es mir nicht möglich auch den Zeitpunkt, wann dieser Schadstoff dort auftreten würde, zu bestimmen. Für die Ermittlung der Ausbreitung von Radionukliden in einer geologischen Barriere war mein Ansatz kaum hilfreich, denn eine entscheidende Einflussgröße, die Halbwertzeit, geht gar nicht in die Berechnung ein. Mein Rechenmodell fand daher wenig Beachtung und verschwand schließlich in dicken Tagungsbänden (Genske 1991a, 1991b, 1992, Genske und Maravic 1995). Nach meiner Auffassung – und hier komme ich wieder auf die Analyse von Shlomo P. Neumann zurück – lässt sich aber das Ausbreitungsverhalten von Schadstoffen im natürlichen Gebirge gar nicht exakt berechnen. Denn die gefügekundliche Ansprache liefert nur statistische Schätzungen zur räumlichen Verteilung potenzieller Fließkanäle. Die Strömungsgeschwindigkeit, Dispersion, Diffusion und Retardation sind schwer zu messen und ebenfalls nur statistisch zu beschreiben. Somit kann das Endergebnis auch nur eine statistische Verteilung von Auftrittswahrscheinlichkeiten sein. Möglicherweise wird es in der Zukunft gelingen, auch statistische Verteilungen der Auftrittszeiten zu berechnen. Letztendlich werden wir aber einsehen müssen, dass wir allenfalls über raumzeitliche Wahrscheinlichkeiten reden – und ansonsten nichts wissen.
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15.6 Ethik und Risiko Risiko ist in den Ingenieurwissenschaften definiert als Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensumfang. Die Eintrittswahrscheinlichkeit bezieht sich auf ein bestimmtes Ereignis, zum Beispiel das Überschreiten einer kritischen Schneelast auf Gebäuden oder einer Windlast auf eine Fassade. In der Diskussion der geologischen Barriere handelt es sich dabei um die Wahrscheinlichkeit der Überwindung dieser Barriere oder auch der Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer kritischen Konzentration von Radionukliden in der natürlichen Umwelt zu einem bestimmten Zeitpunkt. Wie im vorigen Kapitel beschrieben ist die Berechnung dieser Auftrittswahrscheinlichkeit kompliziert und vielleicht gar nicht möglich. Der Schadensumfang ist als Konsequenz des Versagens des betrachteten Systems zu verstehen. So bricht zum Beispiel das Dach unter der kritischen Schneelast zusammen oder die Fassade wird durch eine kritische Windböe zerstört. Solange nur Sachschaden entsteht, lässt sich der Schadensumfang als Geldwert und damit auch das Risiko in einfacher Weise bestimmen. Kommen jedoch auch Menschen zu Schaden ist die Berechnung nicht mehr so einfach. Hier werden meist versicherungstechnische Angaben zugrunde gelegt. Dies führt bereits an dieser Stelle in eine ethische Fragestellung, die sich reduzieren lässt auf die Frage: Wie viel wert ist ein Menschenleben? Bei den überirdischen Havarien von Kernkraftwerken gibt es bislang verlässliche Zahlen nur über die entstandenen Sachschäden. Bereits weniger verlässlich sind die Angaben zu den direkt beim Störfall umgekommenen Menschen. Noch weniger verlässlich sind die Angaben über die Strahlenopfer, die Jahre oder Jahrzehnte nach der Havarie ums Leben gekommen sind oder noch sterben werden. Der Schadensumfang ist also schwer abzuschätzen. Zu havarierten Endlagern gibt es bislang kaum Angaben zum Schadensumfang. Es gibt jedoch die Causa Asse II. Wie schon angemerkt schätzt die Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ in ihrem Bericht die Kosten für die Rückholung des Atommülls aus dem havarierten Endlager Asse II mit 10 Mrd. € ab (KLHA
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2016). Das entspricht etwa einem Viertel des Verteidigungshaushaltes der Bundesrepublik, etwa der Hälfte der Bundesschuld und übertrifft die Bundesmittel für die Entwicklungszusammenarbeit (Bundeshauhalt 2018). Zu konstatieren bleibt, dass bei einem Endlager weder die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Leckage (der geologischen Barriere) noch der Schadensumfang bei einem Versagen der Barriere quantifiziert werden kann. Es ist nur logisch, dass auf dieser Grundlage auch kein Risiko quantifizierbar ist – es sei denn, man erweckt nur den Eindruck sowohl die Eintrittswahrscheinlichkeiten als auch den Schadensumfang ermitteln zu können. Doch warum sollte ein Ingenieur das tun? Nun sind wir tatsächlich mitten in der Diskussion zur Ethik in den Ingenieurwissenschaften angekommen. Die Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ geht ausführlich auf die ethischen Dimensionen der Endlagerung ein, widmet der Thematik sogar ein ganzes Kapitel (KLHA 2016). In der Präambel des Berichtes wird „Zukunftsethik“ definiert als eine Ethik, die sich heute um die Zukunft kümmert und die somit integraler Bestandteil der Arbeit der Kommission sei. Die Kommission sähe sich in der Pflicht „nach dem geordneten Ausstieg aus der Kernenergie den zweiten Großkonflikt, die Auseinandersetzungen um die radioaktiven Abfälle, die unsere Gesellschaft rund drei Jahrzehnte schwer belastet haben, zu beenden“. Vor diesem Hintergrund kritisiert sie die Wahl des Salzstocks Asse als Endlager, die auf der nicht wissenschaftlich verifizierten These beruhte, dass Salzformationen am besten für die Endlagerung geeignet seien. Es gab keine vergleichenden Betrachtungen verschiedener Wirtsgesteine, die für die Asse gesprochen hätten. Das von Geologen konstatierte Auftreten von Klüften und der darin sich ausbreitenden Laugen wäre ignoriert worden. Die Kommission zitiert aus einem internen Bericht der Asse GmbH, „dass unter dem Oberbegriff Forschung in höchstem Maße unwissenschaftlich gearbeitet wurde“ und der Fall Asse „Fragen der Ethik der Wissenschaft“ aufwerfe. Eben jene Fragen, die Lothar Hack in seinem Buch „Vor Vollendung der Tatsachen“ (Hack 1988) aufgriff, in dem er eine Wissenschaft skizzierte, die nur noch „Ware“ ist – eine frühe Kritik an der
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Drittmitteleinwerbung unserer im ständigen Wettbewerb stehenden Hochschulen. Auch Ulrich Becks‘ „Risikogesellschaft“ (Beck 2016) und Hans Jonas‘ „Prinzip der Verantwortung“ (Jonas 2003) werden von der Kommission als wichtige Impulsgeber für eine Debatte zur Zukunftsethik der Kernkraft ins Feld geführt, die letztendlich auf die Verheißungen der Ingenieure und Ingenieurinnen zurückzuführen sei, in deren Umsetzung sich „die größte Macht … mit größter Leere paart, größtes Kennen mit dem geringsten Wissen wozu“ (Jonas 2003). Die Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ kritisiert auch die fehlende Beteiligung der Öffentlichkeit an der EndlagerDebatte (KLHA 2016). Nicht nur Fachleute und Politiker, auch die Betroffenen selbst sollten an der Diskussion beteiligt werden (Nennen und Hörning 1999). Dieter Birnbacher (2013) stellt diesen Aspekt unter die Überschrift „Diskurs als Lösung?“. Also erstmal reden, dann entscheiden. Doch besteht, wie Spaemann (2003) schreibt, das moralische Problem bei der Endlagerung auch darin „dass im Interesse der gegenwärtigen Generation eine Gefahrenquelle in unserem Erdboden versenkt wird, die das Leben sehr viel später lebender künftiger Generationen bedroht“. Mit unseren Zeitgenossen können wir noch gut in einen Diskurs eintreten, doch mit den Menschen, die noch gar nicht geboren wurden, eben nicht. Für einen fiktiven Dialog mit jenen viel später lebenden künftigen Generationen fehle es an „Gegenseitigkeit“ (Spaemann 2003), ein Aspekt, der auch von der trans- und interdisziplinäre Forschungsplattform ENTRIA (Entsorgungsoptionen für radioaktive Reststoffe) betont wird (Ott 2020). Man könne allenfalls die näher liegenden künftigen Generationen gedanklich erreichen, sehr ferne hingegen nicht mehr. Vor diesem Hintergrund empfiehlt Armin Grundwald (2010) die Verstetigung der gegenseitigen Argumentation und Information. Das Ziel müsse sein, einen Zivilprozeß sowohl heute als auch in der Zukunft zu gestalten und zu gewährleisten. Ein solcher, notwendigerweise partizipativer Zivilprozeß wäre aber eigentlich nur in voll ausgebildeten Demokratien möglich. Wird es diese in den nächsten Jahrtausenden noch geben? Peter Hocke (2013) schließ aus seiner ethische Analyse zur Endlagerung hochradioaktiver Abfälle, dass dies wohl ein utopischer Ansatz ist (2013).
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15.7 Resümee Die Dimensionen des zwar Machbaren, aber nicht mehr Kalkulierbaren zeigen die Notwendigkeit der Revision der ersten europäischen Modernen, die auf den Gedanken der Aufklärung fußt und in die Industriegesellschaft mündete (Beck 1996). Die zweiten Moderne unterscheidet sich von der ersten durch unkalkulierbare Risiken mit nicht mehr zu überblickenden Konsequenzen – auch für die Zukunft. Dies erfordere eine Ergänzung des kategorischen Imperativs in dem Sinne, dass bereits jetzt auch für zukünftige Generationen geplant werden muss. Aus der Kantschen Ethik als Lehre vom „richtigen Handeln“ wird das „richtige und zukunftsgerechte Handeln“. Eben jene „Zukunftsethik“ wird so präzisiert und der Bogen zur Nachhaltigkeitsdebatte mit den sich daraus ableitenden Konsequenzen geschlagen. Eine wäre, dass vor der Kulisse der Unberechenbarkeit der Risiken die Abkehr von der Kernkraft – von diesem „endgültig entfesselten Prometheus“ (Jonas 2003) – konsequent und somit die Schließung aller Kernkraftwerke zukunftsgerecht und nachhaltig sei. Trotzdem bleiben die Altlasten aus der Kernenergie, die nun ebenfalls zukunftsgerecht und nachhaltig zu entsorgen sind. Anders ausgedrückt: Bereits aus „zukunftsethischer“ Sicht, also aus der Sicht der mit dem Konzept der Nachhaltigkeit ergänzten Kantschen Ethik, war die Einführung der Kernenergie falsch. Umso mehr muss nun die sachgerechte Entsorgung radioaktiver Abfälle von ethischen Grundsätzen geleitet werden. Dazu zählen (KLHA 2016, S. 139–142): • das verantwortungsethische Postulat der Sicherheit des Endlagers heute und in Zukunft (zukünftige Generationen) • die Reversibilität von Entscheidungen mit den Aspekten der Rückholbarkeit und Bergbarkeit der Abfälle (Fehlerkorrektur) • die vorausschauende Betrachtung aller Prozesswege einschließlich der Machbarkeit der benötigten technischen Lösungen und • die zügige Einlagerung hoch radioaktiver Abfälle, um Risiken aus der Lagerung an der Erdoberfläche zu reduzieren.
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Das Endlagerkonzept der Bundesregierung stellt den bemerkenswerten Versuch dar, unkalkulierbare technische Risiken und das Paradigma der nachhaltigen Entwicklung auf der Folie der Zukunftsethik zusammen zu führen. Doch wie schrieb schon Friedrich Dürrenmatt: „Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen“.
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16 Domänen der Klimaethik, ein neuer Blick – Domains of Climate Ethics Revisited Konrad Ott
Abstract Climate ethics (CE) has become an emerging field in applied ethics. CE is not just a sub-discipline of environmental ethics but has its own moral and ethical profile. Meanwhile, CE is not just about mitigation and future generations but has enlarged onto adaptation, climate engineering, allocation of burdens, and distributive justice. This article summarizes recent developments in CE and proposes a coherent set of yardsticks for orientation within the different domains of CE. Zusammenfassung Die Klimaethik ist zu einem wichtigen Gebiet innerhalb der angewandten Ethik geworden. Sie ist nicht nur ein Unterthema der Umweltethik, sondern hat ihr eigenes moralisches und ethisches Profil. Mittlerweile behandelt die Klimaethik nicht mehr nur This article is an updated version of Ott (2012a). The basic structure has been maintained. Recent debates and new data have been incorporated. Thanks to Christian Baatz, Margarita Berg, Michel Bourban, Frederike Neuber and Patrick Hohlwegler.
K. Ott (*) Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_16
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die CO2-Mitigation und Belange künftiger Generationen, sondern hat sich auf die Themen Anpassungsfinanzierung, Climate Engineering, Lastenaufteilung und Verteilungsgerechtigkeit ausgeweitet. Diese Artikel fast die jüngsten Entwicklungen auf dem Gebiet der Klimaethik zusammen und unterbreitet kohärente Maßstäbe zur Orientierung innerhalb der verschiedenen Domänen der Klimaethik. Schlüsselwörter Klimaethik · Vermeidung · Kohlenstoffbudget · Verteilung · Anpassung · historische Emissionen · Climate Engineering
16.1 Introduction Literature on climate change is abundant. Beside the scientific, economical, technological, and political literature there has been also an increase in ethical analysis of the many moral problems which are embedded in climate change. The term ‘climate ethics’ (CE) is taken as title for such analyses.1 This article presents a systematic approach in CE, based on distinctions between different domains (topics).2 Each topic entails specific moral problems that must be resolved on ethical grounds via arguments. A comprehensive and systematic CE will be established if well-substantiated solutions (‘positions’) in each domain can be conjoined coherently. The article gives an outline of the main building blocks of such climate ethical theory whose philosophical background theories are philosophical pragmatism and discourse ethics. At its core, CE refers to a portfolio of means and strategies by which the causal roots and the negative impacts of climate change are to be addressed. Such means are a) abatement (reduction of greenhouse gas emissions, sometimes termed ‘mitigation’), b) adaptation, and c) climate engineering. Climate engineering options (CEO) divide into
1Authors who have contributed to the emergence of CE are, among others, Henry Shue, John Broome, Steve Gardiner, Aubrey Meyer, Donald Brown, Edward Page, Michael Northcott, Simon Caney, Marco Grasso, Christoph Lumer, and Christian Baatz. Essential articles are collected in Gardiner et al. (2010). 2The idea to distinguish different domains is taken from Grasso (2007).
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Solar Radiation Management (SRM) and Carbon Dioxide Removal (CDR) (section 8). Climate policies started at the Rio summit in 1992. The decades between 1992 and 2020 are a peculiar period in history in which both awareness of climate change and GHG-emissions increased due to a rapidly globalizing economy. Therefore, debate on assets beyond abatement has become unavoidable (McNutt et al. 2015a, p. 18). The best way to manage climate change is arguably a portfolio of different strategies. All CE assets, then, might be part of a comprehensive climate policy portfolio. However, the portfolio approach to climate politics should not oversimplify the problems at stake. Since CEO and abatement might have interdependencies, and CEO might inflict a reduction in abatement efforts, a purely additive concept of a portfolio might be myopic (Gardiner 2013; Morrow 2014). A portfolio perspective also may falsely suggest that economic considerations (cost efficiency) should prevail in determining the ‘optimal’ response to climate change. Climate ethicists emphasize that moral reasoning should be intrinsic to the portfolio-debate. It might make a difference whether an asset in the portfolio only cures the symptoms or addresses the root cause of climate change, namely emissions. The global climate portfolio differs from ordinary investment portfolios since stakes are huge, moral values in dispute, risks and uncertainties pervasive and collective decisions urgent. Each specific portfolio of means and strategies must be substantiated not just in terms of economic efficiency or political feasibility, but also in terms of ethical principles. Thus, I discard the figure of a benevolent portfolio manager, but adopt a discourse ethical approach instead. Some sections of the article refer to this ethically reflected moral portfolio structure (sections 4, 7, 8). The article also refers to the ethical profile of climate change (section 2), a reflection on climate economics (section 3), distribution schemes for remaining carbon budgets (section 5), responsibility for historical emissions (section 6), and a comparison between two competing concepts in CE (‘Contraction and Convergence’ and ‘Greenhouse Development Rights’, section 9). The article supposes some familiarity with the basics of climate science and, in section 3, with mainstream economics. It has been written in a moment of time
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when a young generation worldwide becomes far more demanding in terms of climate policies. And rightly so! The article strongly supports such demands – despite some peculiar tendencies to moral hysteria.
16.2 The Ethical Profile of Climate Change: A Perfect Moral Storm There is a beneficial natural greenhouse effect and there is natural climate variability. Without CO2, temperatures on planet Earth would be far too low for human life. On geological time scales, the global climate is permanently changing. The recent interglacial Holocene range of temperature has allowed for flourishing cultures since the Neolithic age. On a very short time scale of ≈200 years, however, humans contributed (and still are) to the natural greenhouse effect by releasing CO2 and other so-called greenhouse gases (GHG) (as methane) into the atmosphere. The industrial revolution mobilized the subterranean forest of fossil fuels. Arrhenius (1896) was the first scientist recognizing a presumptive impact of the release of GHG to the global climate. As Swedish citizen, however, Arrhenius hoped for warmer skies. GHG-release is performed by burning fossil fuels (oil, coal, gas) and by land-use change (deforestation, forest fires, draining mires, grazing). Due to human release, atmospheric concentration of GHG has reached more than 400 ppmv CO2 and roughly ≈440 ppmv CO2-eq.3 The basic physical mechanism of greenhouse-effect is beyond doubt. There are many remaining uncertainties in the details of climate change4 but the ‘big picture’ of a warming world partly due to anthropogenic emissions has been scientifically established. Some climate change has become unavoidable as consequence of 200 years of emissions. More than 50% of all emissions, however, have been performed in 3GHG concentrations can be defined in terms of CO only or in terms of all GHG which 2 are calculated in CO2-equivalents (CO2-eq). In the following, I adopt the CO2-equivalents numbers. 4Ocean as carbon sinks, albedo change, cloud cover, precipitation patterns, thermohaline circulation, stability of cryosphere, ‘tipping points’ etc.
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recent decades (since 1970). Ironically, increasing knowledge about climate change has run parallel to an increase in global emissions. An extraterrestrial observer might (falsely) conclude that humans intentionally wished to bring about a warmer climate. From the perspective of a human analyst, however, it seems evident that economic forces, technological diffusion, global trade, and population growth were triggering emissions despite a growing sense of alarm since 1990. Scientific understanding of the global climate system has increased and the models are more trustworthy than they were 30 years ago. So called ‘climate skepticism’ does not deserve credit any more, even if there are some merchants of doubt who still deny anthropogenic effects on global climate. Recent scientific attention focuses on ‘tipping points’ and feed-back mechanisms in the global climate system. New literature warns against slipping planetary civilization into a ‘hothouse’ Earth (Steffen et al. 2018, see also SRU 2019, pp. 32–52). Anthropogenic climate change is not repugnant in itself. Imagine a world with low CO2-concentrations that would only allow for an Inuit-like human life in a species-poor borealis-type world. If human cultures and biodiversity could flourish if this ‘cold’ world could be warmed by means of release of some GHG, most people would not oppose such a strategy. Ceteris paribus, Northern latitudes may gain some benefits from moderate warming. Climate change is a moral problem because of its many negative impacts on human systems (and on biodiversity) in the short, middle, and long run. Not all impacts must be seen as negative. Melting of glaciers and retreat of Arctic seaice is not bad in itself because mountain forests may grow and new shipping routes may become viable. It is bad because water provision schemes are impaired and the sea level rises, putting coast lines at risk. Negative impacts of climate change are those that count as ‘bads’ according to our axiological common sense. Typhoons, malaria, droughts, and forest fires are bad. In human life, we are facing bads that either are naturally induced (natural disasters) or result from the behavior of other persons. The latter we call ‘evils’. A bad is an evil, if caused by human agency. If a human intentionally acts as to cause evils, such action is prima facie wrong as it violates the ‘no-harm’-
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principle being endorsed by most ethical theories. If an evil occurs as an unintended side effect of an action, the action is harmful to some people. Responsible agents take into account harmful side effects of their actions and may accept duties to omit such actions or to reduce (or minimize) their effects upon others. If an action is prohibited because of its side effects, it becomes permissible as far as the side effects can be avoided. Minimization is reduction coming close to omission. Abatement of emissions may have this temporal structure. Steve Gardiner (2011) has rightly argued that climate change constitutes a ‘perfect moral storm’. I wish to mention some aspects of this moral storm on which humans must learn to ride. Release of greenhouse-gases is a harmful side effect of otherwise ‘innocent’ activities (as heating, driving a car etc.). Any single activity contributes only marginal to a global evil that shows up on the aggregate, as global climate models indicate. Many people contribute to the problem, however uneven, while other people suffer, however uneven. The sets of contributors and victims may overlap to some extent and are distinct to some other extent. Climate change manifests itself in events that look like natural disasters but may be, at least in part, anthropogenic by origin. Hardly any single weather event is to be attributed to human emissions with certainty. To measure the increase in risks of climate change and to assess liability for such increase is highly complex (Allen 2003). What can be predicted with some confidence is a modification in probability, frequency, and intensity of events that cause bad impacts for humans. Such disasters are, for instance, floods, droughts, heat waves, forest fires, landslides, spread of diseases, hurricanes, hard rain, decline in local harvests, desertification, increased water stress in (semi)arid regions, conflicts over scarce resources, climate induced displacement, political instability, and the like. Biologists warn that the combination of climate change and highly intensified land-use system increases the risk of ≈25–30% on all species of going extinct (Parmesan and Yohe 2003).5 This may reduce resilience of ecosystems against
5Mass extinction of species is not exclusively triggered by climate change, but also by agriculture, deforestation, loss of habitat, neobiota, and hunting.
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disturbances. Climate change also may affect food prices for worse and reduce food security of the poor. The impacts of climate change will fall upon specific individual persons by chance but there are some ‘patterns of likeliness’. If a person will live at the coastline of Bangladesh it is more likely that she will be affected by floods than a person in the hills of, say, France or Germany. All models indicate that poor people in the global South will have to face most evils. Risks are imposed upon vulnerable people with low capabilities to cope with climatic change. Since these people don’t contribute much to the overall emissions, they are, by intuition, victimized by polluters living in other parts of the world. Emitters and affected persons do not encounter each other in a face-to-face-situation but remain anonymous to each other. Due to inertia and global nature of climate systems, evil impacts occur at different locations. Victimization across time and space is hard to localize as individual guilt. Nevertheless, decent actions and honorable lifestyles become blameworthy if their CO2 footprint is high. Since wealthy people emit more on the average, climate change allows to blame the global rich on moral grounds. This makes CE attractive to many leftist intellectuals after the collapse of socialism. Climate change becomes a media for global redistribution if the burdens are allocated to the wealthy strata. This, of course, is part of the moral storm. GHG emissions are collective actions that are not directed against single rights of single persons but create negative external effects on the environmental conditions under which people live. Since climate change already shows effect, people affected are a) contemporary adults, especially in poor strata of Southern countries, b) contemporary children and young adults whose overall life prospects are affected for worse, and c) members of future generations that will be born into an age of climatic change. Climate change clearly is a paradigm case for intergenerational responsibility since, once induced, it will continue for centuries even if global emissions peak and atmospheric greenhouse-gas concentration stabilize at some high level (see next section). The general ethical literature on responsibility towards posterity can be applied to the case of climate change. Derek Parfit’s ‘future individual paradox’ does not
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refute the widespread conviction that there is some moral responsibility against members of future generations.6 Such responsibility implies, minimally, that it is mandatory to bequeath overall environmental conditions that are not inimical to a decent human life. This implies the prima facie obligation not to change the global climate by GHG emissions in a way that dignity, decency, and safety of human life, seen as large, is impaired or threatened. Under extreme scenarios, human life becomes almost impossible in some regions of South-East Asia and Middle East at the end of the century. In any case, such instances of ‘hothouse Earth’ must be avoided on a highly crowded planet. There is no reasonable portfolio without stringent abatement (Baatz and Ott 2017a). Generally, contributing to evils of climate change should count as unintended but harmful victimization of other people in distant locations. Victimization is a kind of injury. The facets of such victimization are as manifold as the types of evils that are associated with climate change. For both Kantian and utilitarian ethicists, it seems hard to accept increases in the standard of life of wealthy persons that impose severe risks on poor people (Shue 1992). The rich should not live at the expense of the poor. Three additional aspects of the perfect moral storm should be highlighted. First, the problem occurs whether a) the overall structures of such perfect moral storm fit coherently with approaches that search for ideally (perfectly) fair solutions or whether b) CE should search for solutions that are ‘fair enough’. To me, there are no ideal solutions within perfect storms. Second, CE must reconcile the principle of normative individualism (finally, rights and interests of individual persons matter intrinsically) and the matter of facts that evils of climate change refer to collectives (populations, strata, indigenous people, generations). Right-based approaches are attractive on ethical grounds since rights are (overriding) trumps of individuals, but such approaches must demonstrate that climate change violates, impairs or compromises individual rights, as life, liberties, bodily integrity, and properties. 6Ott (2004), the famous future-individual paradox was outlined in Parfit (1983). Parfit himself downplayed the role of the paradox for long-term policymaking.
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Third, CE is always close to hyper-moralizing emissions since economic and consumerist activities come under moral attack. Since moral life is not without emotions, guilt, shame, resentment, anger, dissonance, rage etc. come into play with respect to carbon footprints. Such hypermoralizing might not be helpful for stubborn pragmatic reformism (section 10).
16.3 Ethical Suppositions in Climate Economics In a commercialized world, many elites still believe that economics might serve as guidance of how to navigate. Therefore, a critical look on climate economics is mandatory even for climate ethicists. Economists do not wish to avoid climate change at any cost. If energy input by fossil fuels increases production of commodities but has GHG emissions as unwelcome side-effects, and if the consumption of commodities fulfills preferences while the side-effects create negative external effects, the GHG emissions should be curbed to the extent only to which these external effects outweigh the utilities being created by consumption.7 Standard economic approaches even rely on the idea of maximizing net present value. The paradigm calculation is William Nordhaus’s ‘classical’ DICE-model.8 Richard Tol (2008) continues this efficiency approach (EA). Economists calculate opportunity costs of climate policies. A delay in future GDP-growth is costly by definition. If delayed growth of global GDP is presented in absolute $-numbers, costs look horrible (to lay persons). Such cost-benefit-analysis of global, unique, and long-term problems as climate change has raised skepticism even among economists.9 Prudent economists are aware that there are many ethical assumptions in EA-models and cost-benefit-analyses. Such assumptions are 7See
Schröder et al. (2002), 417 with further references. (1994). Lomborg uncritically relied on Nordhaus’ calculations in his “Skeptical Environmentalist” (2001). 9Gernot Klepper, Ulrich Hampicke, Peter Michaelis, Ottmar Edenhofer, Martin Quaas, to name but a few German economists. 8Nordhaus
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• the rate of discount, • the curving of the damage function, • aggregation of impacts in a single welfare function, • the marginal value of future consumption units, • the assumed value of a statistical life, • technological innovation as either exogenous or endogenous to climate change, • monetary value of environmental change and loss of biodiversity, • costs of displacement and migration, • insurance schemes and uninsured damages, • shifts in transaction costs, control costs, and search costs. Economic calculations are highly sensitive to these assumptions. It makes a difference whether the damage function is shaped in a linear fashion or whether it allows for non-linearity of damages. A linear damage-function models climate change as rather smooth and without unpleasant surprises. The debate on “tipping point” should count as reason in favor of non-linearity. Modeling the monetary value of a statistical life according to current salaries may downplay the death of poor humans. Such calculations may fly in the face of moral egalitarianism. The many cultural amenities of a stable natural environment are also downplayed in most economic models. The costs of aggressive abatement increase if technological innovation in carbonfree energy supply systems is modelled as exogenous. Costs decrease if innovations are modelled as endogenous (which is more likely). The Stern-Report (Stern et al. 2007) provides results on mitigation policies different from EA. One important modification of the Stern report compared to DICE is a discount rate close to zero (0.1% p. a.). Due to a low rate of discount, future evils are represented in the net present value to almost full extent. Setting the discount rate close to zero is a reasonable choice from the moral point of view, as ethical reflections on discounting indicate10, but it is not based on purely economic grounds.
10Cf.
the contributions in Hampicke and Ott (2003).
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The best available analysis on EA is given by Hampicke (2011). Utilitarian ethicists as Broome (1992) and welfare-ethicists as Lumer (2002) come to results on mitigation policies that differ significantly from those of efficiency-oriented economists. The debate on the ethical assumptions within EA motivates many (prudent) economists to adopt an alternative approach.11 This alternative is called ‘Standard Price Approach’ (SPA). This approach supposes a given standard (‘objective’) set by some legitimate authority (democratic politics, fair negotiation, international treatises, discourse based, result of scientific findings in conjunction with the precautionary principle etc.). The primary task of economics, then, is to calculate how this objective can be reached by minimizing opportunity costs. In SPA, the role of economics is less a master of rational choice than a servant to legitimate political objectives.12 In the case of climate change, the standard consists in global stabilization targets. Such stabilization target can be defined either in terms of global mean temperature or in terms of atmospheric GHG-concentrations. Climate sensitivity is the crucial factor to calculate temperatures into concentrations and vice versa. To adopt SPA implies to argue about supreme targets.
16.4 Stabilization Targets Art. 2 of the United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) defines the ultimate objective of this convention and of all related protocols to stabilize atmospheric greenhouse gas
11The
problems of EA increase if not only mitigation but adaptation and climate-engineering are addressed, too. If EA can’t calculate the efficient solution for mitigation policies only it can’t calculate a fortiori the efficient solution in the triangular affair in between mitigation, adaptation, and modes of climate-engineering. To determine the ‘efficient’ solution of mitigation, adaptation, and climate-engineering in a global welfare function over a century is, at best, an utopian ideal and, at worst, a misleading, dangerous, and chimerical myth. 12At least with respect to environmental problems SPA has several advantages over EA since it is hard to see how the ‘efficient’ pollution of air, rivers, and marine systems or the ‘efficient’ number of species on planet Earth might be calculated.
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concentration at a level that prevents a dangerous anthropogenic interference with the climate system.13 Very often, a ‘tolerable window’ approach has been specified with reference to the increase in global mean temperature (GMT). Very popular is the so called ‘2°-target’ being proposed by the WBGU (2009): GMT should not increase more than 2°C compared to pre-industrial GMT, since the overall sum of evils and risks associated with a higher increase in GMT might become too high. Some scientists, as James Hansen, argue that a 2°C-increase in GMT is still too risky since the ice shields of Greenland and Antarctica might melt down slowly but steadily (over centuries) at such a GMT. Ultimately, the justification of this 2°C-target remained unclear in the reports of WBGU. Years ago, a study on behalf of the Environmental Protection Agency (Ott et al. 2004) outlined a (meta-)ethical argument in favor of very low GHG stabilization levels. The study compared CE approaches that rely on competing ethical theories. Almost all approaches (except contractarianism) reached the conclusion that there is a collective moral commitment to curb global GHG emissions collectively in order to reach very low GHG stabilization levels. This agreement encompassed variants of utilitarianism, welfare-based consequentialism, deontological approaches, Rawlsian approaches, Aristotelian prudential approaches, physiocentric approaches, and Hans Jonas’ ethics of responsibility.14 There is, indeed, a remarkable convergence of different ethical theories. Ethical convergence counts in fields of practical philosophy, as CE. This convergence became even more robust since 2004. Clearly, the clause ‘as low as possible’ must be interpreted and specified. The camps of ideal justice and “fair-enough”-approaches (section 2) perceive feasibility differently. The (dialectical) term ‘feasibility’ obscures many economic, political, and cultural assumptions with respect to a highly non-ideal world of non-compliance, inertia, ignorance, myopia, obscuring ideologies, and perverse incentives. In
13This
objective has three normative constraints which I must leave aside here. one takes a closer look on the recent literature from religion-based ethics this convergence broadens. 14If
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ideal theory, all societal affairs are feasible that do not contradict natural laws, but, actually, some state of affairs are not feasible politically without high risks of disruption, protest of different camps (as “Gelbwesten”), dwindling cohesion, resistance, and even civil war. It is feasible to phase out German car production, but this comes at the loss of roughly 80 billion € annually. Thus, it is infeasible in the short run. Prudent climate politics should make new feasibilities more feasible (see section 10). In November 2015, the 21st Conference of the Parties (COP21) to the United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) took place in Paris. All 197 participating states mutually agreed on the danger and urgency of climate change being the foremost threat to human society. The final Paris Agreement (UNFCCC 2016) aims at reducing increase in global mean temperature to ‘well below 2°C above pre-industrial levels’ (UNFCCC 2016, p. 3). The Paris Agreement is in line with Art. 2 of UNFCCC. This objective defines a tolerable window that is not without any risks but keeps temperatures in a Holocene range that allows for adaptation, de-carbonization, and negative emissions. As a recent special report from IPCC indicates, it would be desirable not to exceed 1.5°C GMT. Thus, scientific findings, ethical analysis, and political negotiations meanwhile are in a kind of reflective equilibrium. Therefore, it seems mandatory to keep GMT well below 2°C and desirable to come close to the 1.5°C objective. The 1.5°C-target would have to mobilize a globally concerted effort to abate aggressively. Note, that some NGO redefine the 1.5°C target as the mandatory one. Under such ideal mandatory target, the remaining carbon budget becomes very small, indeed. The scientific problem remains how atmospheric GHG levels are associated with GMT. The crucial variable is climate sensitivity.15 Years ago, the IPCC has given a best guess on climate sensitivity at roughly 3°C. If this ‘best guess’ is adopted, one can assess the probabilities with which a ‘well-below-2°C’-target might be reached. If one wishes to
15Climate
sensitivity is defined as increase in GMT at a CO2-level of 560 ppmv (twice than preindustrial CO2)
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reach the ‘well-below-2°C’-target with high probability, global emissions must be curbed rigorously. There is more leeway if one regards as sufficient a 50% probability of reaching the target.16 In any case, taking the ‘well-below-2°C’-target seriously requires that GHG concentrations remain far below 500 CO2-eq. A temporal overshot over 450 CO2-eq might be tolerable if and only if it is compensated by negative emissions later (see section 9). Given all the carbon on planet Earth, especially dispersed coal resources, given economic growth, and given roughly 9.6 billion humans in 2050, it will be highly difficult to reduce GHG emissions in the required order of magnitude. The nationally intended contribution (NIC), which each country formulates individually, is a nation’s share to realizing this supreme goal. The NICs are a crucial mechanism under the Paris Agreement. Because the NIC’s will amplify every five years, it is not in a state’s interest to define ambitious NDC’s in the first instance. Existing NICs are not sufficient to reach the ‘well-below2°C’ target, but would result in a 2.5-2.8°C GMT warming. Many NIC’s made by countries of the Global South are conditional on proper adaptation financing. If conditional NIC’s fail, GMT will increase 3°C (or even more). The later the global emissions peak, the steeper the pathways will be and the higher the likeliness to miss the target. Given current GHG concentrations (440 ppmv CO2-eq) and an increase of 1.5–1.9 CO2 ppmv each year, ‘well-below-2°C’-target would imply that the net intake of GHG into the atmosphere must be stopped within two decades. Global emissions must peak in 2025 and continuously decline afterwards as steeply as possible. In order to reach this ‘well-below-2°C’goal, global GHG emissions should reach net zero by the end of the twenty-first century, asking for drastic emission cuts (= abatement) in coming decades for most countries except least developed countries, but including the BRIICS-states (Brazil, Russia, India, Indonesia, China, South Africa). To stay well below 2°C in the longer run requires 16Betz (2009) claims that the IPCC methodology of modal verificationism by which climate sensitivity is determined should be replaced by modal falsificationism. If so, there will be more reasons for concern and precaution.
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future negative emissions in most models (see section 8 on CDR). If one wishes to reach 1.5°C with certainty, global carbon budget dramatically shrinks to 400 Gt being consumed away within a decade at current speed. Other targets increase the budget up to 1000 Gt. In some scenarios, the budget is consumed away within 20–30 years. If so, negative emissions must compensate for likely overshoot (section 8). The size of the remaining carbon budget changes according to the chosen target and the probabilities associated with such target. In any case, there won’t be open access to the sink capacity of the atmosphere any more. Any stabilization level defines a remaining global carbon budget that has to be distributed ‘fairly’. The smaller the budget, the harder the case for distribution. In asking for a fair distribution of the remaining budget, the question reoccurs: ‘ideally fair’ or ‘fair enough’?
16.5 Distribution Schemes for Remaining Emission Entitlements There are many schemes of how the carbon budget under the given target structure should be distributed.17 Since emission entitlements are only one good among many it is tempting to embed the problem at stake into a more comprehensive (‘holistic’) theory of (ideal) (global) distributive justice (Caney 2006, 2009). But since such a holistic theory will be essentially contested (with respect to scope, currency, and pattern of justice, and because of the role of equality) it seems more viable to isolate emission entitlements as one specific good the distribution of which is to be determined irrespectively of how other goods are or should be distributed in a globalized world. Such an ‘isolationistic’ approach has clear advantages, at least, in terms of political viability (Baatz and Ott 2017b). Isolationism takes the remaining carbon budget, however specified in terms of Gt, as a remaining resource to be divided among claimants. 17Grandfathering,
basic needs, Rawlsian difference principles, proportionality, per-capita schemes.
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Holism distributes burdens, while isolationism distributes a resource budget. Pure holism tends to allocate almost all burdens to wealthy people while pure isolationism abstracts away the background distribution of wealth. Both purities have shortcomings. A conceptual middle-ground between holism and isolationism might be dubbed ‘connectism’. Distributive justice with respect to the shrinking carbon budget might be connected to other topics of justice, as combating absolute poverty or nature conservation, by way of argument. Under a “fair enough”-approach, I follow the maxim: Isolate first, connect later. See my proposal in section 8 of how to connect nature conservation with adaptation financing. Emission egalitarianism seems fair enough, because it is pro-poor and it does not deprive the Global North from all carbon resources. If one assumes, first, that the atmosphere has the status of a global common pool good,18 and if one, second, adopts the Rawlsian intuition on justice that all goods should be distributed equally unless an unequal distribution benefits all, egalitarian schemes deserve special attention. Therefore, I have argued in favor of an egalitarian per-capita-approach in more detail, following Aubrey Meyer (1999). The argument claims that it is fair to shift the burden of proof to those who favor unequal distribution schemes for global common pool goods. From the moral point of normative individualism, however, it seems hard to argue why, say, a German deserves a larger share of the sink than a Nigerian. Note, that this argument is made at a specific point in history (end of 20. Century). At best, it is valid since then. If so, it can’t prolonged into the past without further assumptions (see next section on historical emissions). For the time being, however, a per-capita scheme looks fair enough. Reasons in favor of unequal distribution might be that some people deserve more entitlements from a moral point of view or that unequal schemes are beneficial to all consumers in the global village. Reasons
18I changed my mind on this ontological-economic concept several times. Meanwhile, this assumption seems not as flawed as Baatz and Ott (2017a, b) argued. This assumption needs more refinement.
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to sidestep egalitarianism are claiming special needs legitimizing basic emissions. A plausible claim with respect to special needs might be the claim for heating in winter in the North. Heating needs, however, can be addressed by technological innovations and social policies in rich Northern countries and should not open the Pandora’s Box of a global debate on special needs. An egalitarian scheme is well-advised not to address too many special needs. Special needs in combination with the quest for ideal justice will result in endless, but highly moralized and politicized debates. What about special needs for cooling in (sub) tropical countries to provide children with fresh dairy products? There might be claims on special needs for personal PC’s in a digitalized information society. Is there a special need to cool mega-towers in the Arabic emirates? With respect to special needs, egalitarianism is not unfair to the Global South. An egalitarian scheme under the ‘well-below-2°C-objective’ would mean that each person has a carbon budget of roughly 1.8–2.0 tons of CO2 per year.19 ‘Well below 2°C’ and per capital emissions of 2 t/p/y are two normative building blocks of my approach in CE. This approach is known as ‘Contraction and Convergence’ (C&C, see Meyer 1999). If the global carbon budget is allocated to national states according to their populations under an egalitarian scheme, it demands emission reductions of 85% at east (Germany) or even more (U.S.). If properly implemented on a global scale, such egalitarian scheme launched via emission trading has the welcomed effect that persons with low emissions (India, Sub-Saharan Africa) would be benefited because they can sell their entitlements. Egalitarian schemes can be seen as income generators to Southern countries if such countries do not increase their domestic emissions. In any case, low-emitting countries face the choice either to sell or to use. C&C can operate on different time scales. Emission schemes might be equalized within few decades.
19This approach should be based on a benchmark to avoid incentives for pro-natalistic population policies. It is highly doubtful whether restrictive population policies, as in China, can be regarded as ‘early action’ in mitigation policies.
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Note, that C&C is highly demanding to the BRICCS states: Brazil, Russia, India, Indonesia, China, and South Africa. C&C requires deep emission cuts for China instead of a decline per unit of GDP. The argument remains that egalitarian schemes are highly unfair to newcomers since most of the sink capacity of the atmosphere has been consumed away by past emission. The sink has been occupied by countries having industrialized first. Is it fair enough to divide the remaining budget equally after a long historical period of unequal consumption? This is the problem of historical emissions.
16.6 Responsibility for Historical Emissions? Northern countries started to emit GHG in the course of industrialization. Mainly these countries filled up the common atmospheric sink until the 1960ies. Now, Southern countries claim that there is a huge historical debt of the North against the South. The problem of past emission is haunting political negotiations even after Paris. They play a role in determining the meaning of “common but differentiated responsibility” (UNFCCC). At first glance, historical responsibility seems obvious because cumulative historical emissions are decisive for climate chance. On ethical reflection, however, historical emissions are puzzling. Causal responsibility does not imply moral responsibility. In the remote past, all persons (except some readers of Arrhenius) were ignorant about the causal relation between GHG emissions and future climate change. Ignorance matters in cases of unintentional side effects. To which degree are descendants of ignorant people liable for their actions? We can’t blame our ancestors for burning coal and drilling oil. Historical emissions turn out to be harmful, but they have not been wrongful. At the end of 18th century, the medieval ice age came to its end. The collective climate memory kept long, freezing winter times in mind. There was no moral imaginary about global warming until 1990. It felt good to have a warm house in winter times. Fossil-fuel-inputs into production created an “empire of things” (Trentmann 2016), bringing about comfort, convenience, and prosperity.
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Even if historical responsibility might be agreed upon in principle, the devil is in the details: Should there be a benchmark year after which responsibility cannot be denied or is there full responsibility for all past emissions? Should historical changes in land use also be taken into account (deforestation in North America in the 19. century)? What about emissions of states that do not exist anymore (as USSR)? What about the (folly) emissions under Mao’s regime being caused by deforestation in order to produce steel in the Chinese countryside? What about the emissions caused by warfare? How can past emissions be measured? If there is a historical debt for past emissions why not add more historical debts for colonialism and for slave trade?20 Did Northern countries pay back some or all historical debts via development aid (globally 100 billion per year over decades)? Historical emissions open a can of worms. Citizens of Northern countries are, on the one hand, beneficiaries of the past creation of wealth being accompanied by GHG emissions.21 On the other hand, the historical sources of present wealth are manifold. There were wars, inventions, saving rates, labor, surplus accumulation, investments and returns, foreign trade, taxation schemes, social mobility, and many other factors influencing wealth creation since 1850. It remains doubtful, whether GHG-emissions are a good proxy for wealth generation. Socialist countries remained poor despite high GHG-emissions (GDR, USSR). It seems undeniable that GHG-emissions played some role in long-term wealth generation, but such emissions do not make current wealth simply a kind of unjust enrichment being rooted in the past. History sets some limits to morals and ethics. We should not be forgetful about the past, but we should also refrain from trying to calculate exactly how large the historical responsibility really is, because such calculations would rest on many contested and arbitrary assumptions.
20How
deep are Arab countries indebted to Sub-Saharan Africa since there was slave trade over centuries before the Europeans took part in slave trade? 21Arguments in favor of the beneficiary account are given by Gosseries (2004) and Caney (2006).
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It seems fair enough, if the GHG-legacy of the Global North becomes a reason for citizens of Northern countries 1) to recognize themselves as being beneficiaries of past emissions, 2) to recognize that cumulative past emissions turn out to be harmful in the present, 3) to agree to duties to compensate victims of more recent emissions, and 4) to adopt the attitude to assist countries in the Global South in the fields of technology transfer and adaptation generously. Thus, readiness to invest a (small) fraction of the wealth of the North into technology transfer and adaptation funding in the South is not just a noble benevolent attitude, but mandatory under a “fair enough”-approach. Yes, ‘we’ are indeed beneficiaries of the contingent matter that the industrial revolution occurred in the North, but macro-historical events, as the industrial revolution clearly is, can’t be moralized. The legacies of wealth constitute a weak, non-legal liability. The duties of compensatory justice refer mostly to our current emissions, but also to more recent historical ones. I feel responsible for the overall GHG-emission since my infancy even if I only became fully aware of climate change in my thirties.22 Compensatory justice and some redress for historical emissions paid by beneficiaries might transform politically into generous adaptation financing. Generosity is seen as virtue since ancient times. The virtue of generosity corresponds to the contrary vices to avarice and a kind of overspending which brings about poverty and misery to one’s own household. The virtuous attitude of generosity must be specified by adaptation financing schemes.
16.7 Adaptation Opportunities23 Humans are practical beings with large capacities for problem solving. They are settlers on a global scale who can cope with a great variety of environmental conditions. These capacities can be used for climate
22My parents were ignorant about climate change and simply enjoyed cars and family holidays in the prosperous Western Germany between 1965 and 1990. 23This section is deeply indebted to Christian Baatz and Michel Bourban. See Baatz (2013).
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adaptation strategies.24 Adaptation strategies may include buildings like dikes, behavioral patterns like siesta, protective strategies against forest fires, improved water supply systems in arid regions, different crops in agriculture, and the like.25 Adaptation has a broad spectrum across different dimensions of societal life. There are adaptation aspects in agriculture, forestry, freshwater supply, urban planning, transport, medicine, education, disaster management, investment decisions, gender issues, and the like. The practice of adaptation must combine personal initiative with political prudence. Rich countries can utilize scientific knowledge, financial capital, political administration, and infrastructures in order to implement adaptation strategies on their own.26 Given only modest climate change well below 2°C and proper adaptation strategies, the prospects for the temperate zones are not completely bleak. The situation is different in Southern countries were many institutional preconditions for effective adaptation are lacking despite several decades of “capacity building” and “empowerment” being financed by development assistances.27 I sidestep all politicized debates on a postcolonial situation and on the causal roots of the bad situation of many countries in the Global South.28 The emerging adaptation discourse suggests that there can be no such thing as a global master plan of how to adapt. Adaptation is literally ‘concrete’ because internal and external resources, cultural lifestyles,
24The
concept of adaptation must be secured against biological definitions of adaptation of organisms to a hostile environment. If not, adaptation to climate change might be seen as an instance of survival of the fittest. 25A conceptual framework on adaptation strategies is given by Smit et al. (2000). 26Germany has already adopted a national adaptation plan. 27It should be asked whether such assistance should be additional to ordinary development aid (ODA) as most NGO’s suppose. This problem is not addressed here since such debate relies on assumption of how good or bad the 100 billion $ ODA are spent each year. It remains doubtful whether strict emission reduction (80–90% compared to a 1990 benchmark), doubling of ODA (0.7% GDP), and additional burdens for adaptation funding gradually become somewhat overdemanding even to rich societies that have to deal with many other problems than just climate change. 28See Seitz (2018) and Menzel (1992) for critical overviews.
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and patterns of environmental practices must be rearranged within adaptation strategies. Adaptation is often small scale. There are already adaptation funding schemes for Southern countries under the UNFCCC regime. They will develop further on. Adaptation financing has three crucial dimensions. First, some countries must pay fair shares into such global funds (input). Second, money must be transferred to adaptation projects according to some criteria (output). The criteria must be ethically reflected. Third, expenditures must be controlled in order to safeguard the integrity of the overall funding scheme (control). There are some analogies between adaptation financing and development assistance on how to spend money. Some calculations indicate that even 100 billion $ per year wouldn’t be sufficient for global adaptation. Since adaptation is cross cutting and the Global South is large, calculations can be driven up to trillions. Moral concerns are catalysts of $-numbers up to trillions. A lump sum of 100 billion per year looks fair enough for the time being.29 Funding as an input-side. On this input-side, we face the problem of noncompliance. Imagine that Germany has a fair share of 10 billion and the U.S. have a fair share of 25 billion. Now the U.S. refuses to pay a single buck into adaptation funding. Does Germany and other states have a moral duty to increase their payments or might it be acceptable that the lump sum of adaptation funding becomes lower than it should be? If the moral point of view is victim-driven, decent states should compensate for non-compliance by additional payments. Noncompliance is, however, not a purely moral, but intrinsically a political problem. The intrinsic political dynamics of non-compliance is this: the less agents comply the higher the burdens for the remaining ones, the higher the likeliness of non-compliance, the higher the burdens – and so on. A victim-driven approach has to face the risk that compliance collapses.30
29This 100-billion-$-number does not entail costs for provision and resettlement of displaced persons which is a hard special case of adaptation. The case for climate-induced displaced persons is beyond the scope of this article (see Ott and Riemann 2018). 30Distributing migrants onto EU-countries seems a fair analogy.
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Fund money must be spend. How to spend it? Since adaptation funding is done under the condition of scarcity of resources, applications for such funding must be governed and controlled by criteria and procedures. Under real-world conditions, one should not expect that all applications for adaptation funding are honest ones. Even if the ‘pay’ is done out of moral reasons of compensatory justice (historical responsibility, generosity, benevolence), the ‘take’ might be strategically organized. Adaptation funding, as any funding, might be seen as opportunity to grab money. There is a peculiar ethical dialectics with assistance and aid: One the one hand, it relies on moral attitudes, while one the other it easily falls prey to strategic behavior if it is done without sobriety and prudence. If so, we need a critical look on criteria (Baatz 2018). One meta-criterion is efficiency. Efficiency is directed against wastefulness. The 100 billion $ should generate as much adaptation to climate change as possible. As matter of fact, adaptation funding might rely on capacities to write colorful proposals. States that invest in such capacities may see adaptation funding as returns of investments. As in the system of science, funding proposals will be full of catch phrases, rhetoric, hollow promises etc. Funding is open for systems based on client-patron-relations. Adaptation funding must strictly secure itself against narratives of misuse being presented in the media with strategic interests to stop payments. By moral intuition, the most vulnerable, victimized, and marginalized groups should be the first beneficiaries of adaptation funding. Vulnerability to climate change impacts is constitutive for adaptation financing (Baatz, oral communication). Grasso (2007) proposes the following vulnerability-based decision rule for spending: The lower the overall level of human security (high vulnerability), the more adaptation funds are due. It can’t be denied that vulnerability and human security are important criteria for funding priorities. If, however, these criteria remain unbalanced by other criteria an inconvenient consequence may result. Imagine countries of the South competing for adaptation money against each other under a vulnerability criterion. If so, they must present themselves in the application procedures as being more vulnerable than others. If so, vulnerability as supreme criterion
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implies a perverse incentive to present oneself as being poor, helpless, ignorant, devoid of capabilities and initiative, and so on. If such outcome is to be avoided the criterion of vulnerability should not be the only one. Vulnerability is Janus-faced. In recent literature, a ‘democracy’-criterion has been proposed. This criterion assumes that adaptation performs better if there is a public sphere of reasoning, respect for human rights, fairly elected parliaments, responsible authorities, low corruption etc. This democracy criterion, however, has major disadvantages: It allows financing political forces (NGO, even parties) even if such forces only engage for “democratization”, but won’t perform adaptation measures themselves. Success of democratization is almost impossible to control. Wastefulness of money becomes likely under this criterion. Moreover, the criterion politicizes the funding decisions, and it may serve as reason to stop payments into the fund. Governments may complain if oppositional forces are financially supported via adaptation funding. They may perceive such support as being unfair an influence in domestic affairs. The criterion also consumes contested assumptions from political science and from democracy rankings. Finally, it has to face the harsh problem that many vulnerable people live in non-democratic countries. If these people remain entitled to adaptation funding, the criterion becomes pointless. At best, the criterion opens casuistries of whether and how (not) to finance adaptation in non-democratic countries. All things considered, a democracy-criterion is flawed in many respects. My proposal takes a different route: Many poor people in the Global South do not live in abject misery but use their indigenous knowledge to reproduce a decent livelihood which is not devastating natural environments. Adaptation funding should devote a substantial fraction of money to indigenous communities that have sustained a non-miserable livelihood for long and might continue to do so even under climate change impacts. Adaptation funding should reward and stimulate activities by which adaptation is linked to other objectives of genuine sustainable development. According to the concept of strong sustainability (Ott and Döring 2008), adaptation funding should pay attention to the conservation and restoration of different stocks of natural capital. All around the world, there are many such
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activities as community based forestry in Nepal, water harvesting in the Sahel, reconstruction of traditional water storage systems in Iran, revitalizing the fertility of degraded soils by charcoal, terracing hills against landslides, bringing back moisture into landscapes, increasing local species composition by organic agriculture, and the like. Thus, global adaptation spending might support and stimulate such naturefriendly activities. Activities that combine local adaptation, biodiversity conservation, ecosystem restoration, and carbon storage should be highly welcomed. I shall say some words on so-called natural climate solutions in the following section on climate engineering.
16.8 Climate Engineering In his last publications, Edward Teller (Teller et al. 2002) proposes solar radiation management (SRM) as a technical measure against climate change. According to Teller, a doubling of CO2-concentrations (560 ppm-eq) could be compensated by a decrease of roughly 2–3% of solar radiation reaching the surface of planet Earth. Some years after Edward Teller’s rough calculations, Paul Crutzen (2006) urged for active scientific research on stratospheric aerosol injection (SAI) – a technology that might possibly reduce radiative forcing by injecting sulfate particles into the stratosphere (overview in Niemeier and Tilmes 2017, for technical details see Niemeier et al. 2011). Crutzen’s article was soon followed by Victor (2008) and Victor et al. (2009, p. 76) in the affirmative: ‘It is time to take geoengineering out of the closet’. Robock (2008) presented a list of 20 arguments why geoengineering may be a bad idea. The Royal Society launched a report in 2011. Keith (2013) proposed SAI research. “Earth Future” devoted a special volume on CEO ten years after Crutzen’s paper. CEO-Technologies can broadly be categorized into Solar Radiation Management (SRM) and Carbon Dioxide Removal (CDR), containing different assets and having highly different moral profiles (Ott and Neuber). In order to control and stabilize the global mean temperature, SRM technologies directly influence the energy balance of the earth by reflecting the incoming sunlight and thus influence the radiative
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forcing. The idea of space mirrors is not very promising due to technical and financial difficulties. Deployment costs would be in the magnitude of some trillions. The idea of ‘whitening ’ areas of land in order to change the albedo has been discarded due to lack of effectiveness. Some more promising strategies include the enhancement of cloud formation (cloud seeding) over the ocean, which alters the albedo and shields a significant amount of sunlight. However, the physics behind cloud formation is imperfectly understood which may lead to great uncertainty regarding the side effects (Royal Society 2011). Another idea to modify clouds refers to Arctic cirrus clouds (Lohmann and Gasparini 2017). Injection of sulfate aerosols (SAI) has been researched and debated at large. The latest comprehensive overview on the different aspects of this technology can be found in the National Academy of Science’s study (McNutt et al. 2015a and 2015b). SAI is the most tempting SRM technology, because it is technologically feasible, deployment costs look cheap, and it brings about quick effects in cooling the earth. SAI technologies, however, don’t address the root cause of climate change – the concentration of CO2 in the atmosphere. This is a reason for a mostly negative stance towards SAI and other SRM technologies, since a symptomatic approach towards climate change is associated with the repugnant attitude of ‘techno-fixing’ climate change. SAI seems attractive an option to many scientifically credible scholars especially in the US. The popular message is simple: If there is a quick, cost-efficient, effective technological solution to the problem of climate change by which a decline in economic growth and a change in consumerist lifestyle can be avoided, governments should not hesitate to go for such solution.31 In case of emergency, even unilateral action by technological advanced national states might be the ultima ratio. Betz and Cacean (2012) have mapped arguments pro and con of SRM with respect to theoretical research on SRM, small-scale experiments, large field test, and full deployment. An overview on the
31Sometimes it is added that the problem of global cooperation in mitigation of GHG can be easily turned into a technological joint effort problem.
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discourse on CEO is given in Ott and Neuber (2019). Here some arguments are presented in a nutshell. Some arguments use the concept of hubris: Engineering planet Earth might be an instance of such hubris. Such hubris may conjoin with moral corruption in a specific attitude of playful tinkering with the global thermostat. Under modern conditions, the concept of hubris must be secularized. Hubris means to overrate the technological, political, and moral capacities of humans to perform SAI on a planetary scale. Such hubris-argument follow Hans Jonas (1979) who has warned against such attitudes. With respect to the political economy of SRM, it might be argued that SRM should be seen as a protective measure in favor of outdated fossil fuel industries with their high-emission profiles against the global diffusion of smart ‘green’ industries with comparatively low GHG emissions (Ott 2018). SAI fits frightening well within the profile of the most questionable variant of capitalism and its military-industrial complex. Political economy of SAI rests, however, on many contested assumptions. One assumptions is about trustworthiness: Should humankind entrust states with research and deployment of SAI which didn’t contribute to abatement measures, obstructed the UNFCCC process, refused to pay into adaptation funding. The fossil fuel empire may well strike back via SAI. Moreover, there are risk-based ethical concerns against SAI. Once fully deployed, SRM can’t be easily stopped if it is not combined with stringent abatement policies (‘termination problem’). If SAI is used as a substitute for aggressive abatement, atmospheric CO2 concentration will continue to rise. Only the effect of high CO2 concentration, namely the temperature rise, will be artificially stabilized. An abrupt termination of SAI (for example, due to social and political upheavals) would lead to an accelerated heating enforced by the large volume of atmospheric CO2. This might be disastrous for the climate and the biosphere. Additionally, this situation could put future generations in a dilemmatic situation: Either they would have to decide to continue to operate SAI, with possibly fatal side effects, or they would have to accept accelerated climate change (Ott 2012b). If SAI would bring about many negative side-effects (acid rain, changing precipitation
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patterns, ozone layer) future persons might be trapped in a dilemmatic situation. The termination problem is, however, coined for a specific case: SAI deployment without adequate abatement and sudden termination. The argument must be refined if termination of SAI is performed gradual over a longer period in time in combination with strong abatement. Such strategy is close to “buying time” for abatement vial restricted SAI. Nevertheless, the termination problem still gives reasons to be concerned. It presupposes a somewhat stable political governance capacity to deploy, control, secure, assess, and terminate SAI. Abrupt termination due to political crisis remains possible. The termination problem connects to the hubris-argument: We may overrate the capacities to govern and control SAI. The risks of termination requires a robust and viable exit-strategy for any SAI deployment. In a future climate emergency, where global climate impacts happen fast and intense, SAI might serve as a back-up plan, an insurance that serves as a shield against this kind of catastrophe. Lately, the emergency framing of climate change has been challenged. Invoking an emergency situation in order to justify the deployment of a risk technology might lead to problematic political and social implications (Horton 2015; Sillmann et al. 2015). Sillmann et al. argue that the ‘emergency’- argument fails for scientific and political reasons. If tipping points have been touched and thresholds have been crossed, SAI won’t be able to stop and reverse the consequences. Timothy Lenton’s research gives credit to the scientific rejection of the ‘emergency’-argument. From a political perspective, it is not clear what would count as an (global) emergency situation and who has the power to define it. If an emergency state has been declared, power might concentrate in the hands of a few, with the associated risk of abuse (Horton 2015). Remind Carl Schmitt: ‘He is sovereign, who decides about the exceptional state’. The legal status and political background of an emergency situation might threaten deliberative and democratic structures. Additionally, as Gardiner (2010) has prominently pointed out, there is no moral obligation to prepare for an emergency-situation as long as we still have the capacity to avoid it (or at least reduce it). Note, that both SAI proponents, supporters of radical redistribution (section 9) and climate
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activists (“Klimanotstand”) are sympathetic with the dangerous idea to proclaim emergency-situations. Rebuttal of the emergency framing also gives more attractiveness to another argument: the ‘buying-time’-argument (BTA). Instead of preparing for an emergency scenario that we could arguably still avoid, CE could be used as a stopgap measure to buy time until abatement polices show effect on a global scale. The ‘buying time’-strategy represents a seemingly prudent way to benefit from CE deployment while minimizing its negative side effects. Starting from the assumption that climate change will show dire effects in the second half of the 21th century, but emissions will reach net zero earliest at the end of the century, some authors propose CE as a stopgap measure for this interim period. The discrepancy in time can be bridged by the use of some CE strategy which will cushion the effects of climate change, while buying time for effective mitigation measures. BTA applies mostly to SRM and SAI technologies. The underlying idea of the BTA is to buy more time for an effective climate policy mix that will eventually guarantee the ‘well-below-2°C’-target. This policy mix ought to ensure a noncatastrophic climate change by itself, making SAI an add-on that is deployed as needed and ramped down as quickly as possible. This is a rather strong normative framing for the use of SAI. This normative frame is expressed by the following five preconditions to the BTA: 1. The use of SAI is timely limited and will be ceased as soon as its goal is reached; 2. Aggressive mitigation strategies are undertaken parallel; 3. The use of SAI doesn’t lead to a decline in mitigation efforts; 4. The use of SAI is shaped to have no or very little negative side effects; 5. The use of SAI is not morally forbidden intrinsically. These contested points indicate that the BTA is anything but an easily achieved common ground in the debate on SAI. Rather, it is highly demanding for policy makers and scientists alike, to guarantee the fulfillment of the five prerequisites. Following Neuber (2018), the BTA
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is the last credible argument in favor of SAI. The buying-time argument has been analyzed in Neuber and Ott (2020) with a critical result. The second group of climate engineering strategies aims at removing carbon dioxide from the atmosphere (Carbon Dioxide Removal, CDR). This may happen through mechanical or technical carbon air capture, for example via artificial trees or biochar, or by enhancing natural CO2 sinks, such as enhanced weathering, ocean fertilization, restoration of mires to make peat layers grow, enhancement of oceans alkalinity, and reforestation and afforestation. Reforestation induces conflicts over competing land use. Large-scale afforestation requires large amount of freshwater and it faces a trade-off between carbon removal and albedo change (Rickels et al. 2011). Assisted reforestation that generates income to local people should have priority over large-scale afforestation. New studies indicate that restoring former natural forests can contribute substantially to CDR (Lewis et al. 2019). CDR modeling has focused on large-scale technologies that combines bioenergy with carbon capture and storage (BECCS). BECCS means that biomass is combusted for energy production while the resulting CO2 emissions are captured and, finally, stored underground. BECCS is seen as a crucial approach in climate policies. Most models that reach the Paris target (with a likeliness of more than 66%) strongly rely on negative emission technologies (NET) after 2050 being produced mainly by BECCS. BEECS, however, if performed at a Gt-scale, requires large amounts of fertile land for biomass production. Thus, it conflicts with food security of a global population of roughly 9.6 billion humans in 2050. Locations for BECCS should be the tropics and subtropics where population increase is high. It matters in terms of yields, whether biomass will be produced with or without irrigation. Yields are far higher with irrigation but this may enhance water scarcity and, thus, constitutes a harsh trade-off. BEECS can be perceived as a risk-transfer into the future. According to Anderson and Peters (2016, p. 183), outlook for large-scale BECCS are an “unjust and high-take gamble”. Some CDR-technologies have been classified as ‘natural climate solutions’ (NCS), as they offer win-win-situations with goals of biodiversity protection, ecosystem restoration, soil formation and the maintenance of different kinds of so-called ecosystem services, as
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providing, regulating, and cultural services. Important ecosystems are mires, forests, coastal zones, and soils. Mires store large stocks of carbon within peat. Enhancing peat formation in mires counts as CDR and NCS. C-enhancement of soils is also a promising strategy. Fertility of soils is crucial for global food security. Some models, however, indicate that NCS won’t bring global temperatures ‘well below 2°C’ unless reduction of emissions would be dramatically increased. NCS face limitations in scope and in effectiveness (Anderson et al. 2019). They take time to show effect and require the virtue of patience. In any case, NCS should be financed by the adaptation financing schemes (see proposal in section 8).
16.9 Contraction and Convergence versus Greenhouse Development Rights The Global South is highly demanding in terms of money in the name of postcolonial climate justice and it claims a right to escape poverty. Such demands and claims find support within CE (Moellendorf 2014). The wicked situation we are in is this: Sink capacities for GHG are becoming scarce, many people in the Global South are still absolutely poor, and cheap energy paves reliable ways out of poverty. Note, that the Sustainable Development Goals (SDG) require both eradication of absolute poverty and universal access to modern and affordable energies. Members of the political camp that supports most principles, objectives, and strategies outlined in the previous sections often split into supporters of two competing ethical concepts, namely Contraction and Convergence (C&C) and Greenhouse Development Rights (GDR)32. The GDR concept has found support by many NGO’s and some churches in recent years. It supposes a global emergency situation (see section 8) and it combines strict abatement in the North with mandatory assistance to adaptation in the global South and, moreover, with a benchmark in monetary income below which persons have no 32Baer
et al. (2008). See also the homepage of www.ecoequity.org.
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obligation to curb their GHG emissions or care about climate change.33 GDR licenses the poor to emit as they please. A supposed human right to develop is seen as a right to create monetary income. The income baseline is, in principle, open for negotiation. Proponents of GDR have set it at 7500 US-$ a year given in purchase power parity. The majority of humans lives below this monetary benchmark. Thus, all climate related duties concentrate upon a small fraction of the human population. Under the GDR criteria of responsibility and capability, the burdens of single states are calculated. As result, the burden of states as Germany, the USA, and other wealthy industrialized states becomes greater than 100% emission reduction. Even if these states might have reduced all domestic GHG emissions to zero there remains a financial burden to assist Southern countries to decarbonize and to adapt while they are relieved from any burden. The Global South becomes the beneficiary of climate change in the name of ideal global justice. Thus, GDR discards the idea of a common responsibility. GDR is a concept that redistributes global wealth far stronger than pro-poor C&C. Therefore, liberals perceive GDR as Trojan Horse of egalitarian socialism after the collapse of communism: The rich must pay for all costs of climate change while the poor have right to escape poverty by means of energy-intense growth. The poor are protected against obligations and costs by anti-poverty-principles. The anti-poverty principle holds if there ‘are’ other strategies feasible to reach the targets without SAI. If the Northern countries respect the anti-poverty-principle, and if they wish to reach a desirable 1.5°C target and, moreover, wish to avoid risky SAI, then they should be willing to finance de-carbonization in the Global South via large transfers, not via investments. Such transfers may in the magnitude of warfare (more than 1 trillion/year according to Shue’s envelope-calculation). Energy would become scarce and expensive in the North and it becomes cheap and abundant in the South as long as Southern countries remain free to choose either renewables or coal.
33The charming idea that rich persons in poor countries should contribute to mitigation and adaptation efforts is not at the heart of the GDR-concept.
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From an ethical perspective, GDR must be seen with a critical lens because it combines an emergency ethics that allows for uncommon measures with a highly conventional approach to development as being defined in terms of monetary income. If so, there are reasons to claim that a C&C-concept that must be enlarged to the domain of adaptation and CE, is, all things considered, the ‘better’ concept from a pragmatic “fair-enough”-approach.
16.10 Conclusion: Building Blocks of Climate Ethics It is mandatory for CE to provide some reasonable ethical orientation for the time being. Without common moral ground, climate negotiations will fall prey to the predicament of becoming a mere muddling through governed by strategic and tactical cleverness of the thousands of stakeholders and negotiators gathering each year at the COP/MOP conferences. Steffen et al. (2018) have argued that collective human action may, despite global warming and positive feed-backs, avoid uncontrollable ‘Hothouse Earth’ and stabilize the Earth System in a habitable interglacial state. The most important task is to push back the Earth System from the high-emission trajectory that might collapse in a basin of attraction towards ‘Hothouse Earth’. From the perspective of climate ethics as outlined in previous sections of this article, environmental ethics (Ott 2010), and a theory of strong sustainability (Ott and Döring 2008), the most attractive pathway for climate policies would be the following one: • Standard-Price-Approach in climate economics, discarding ‘efficiency’ approaches. Very low discount rates. Value of a statistical life not calculated in monetary income of working life. High monetary value on ecosystem services. • Ultimate stabilization objective at ‘well below 2°C’ GMT. 1.5°C-target as desirable utopia. Range from 1.5° to 1.8°C GMT increase. Stringent development of NIC. Liberation of LDC from burdens, but inclusion of BRIICS and other developing states in the Paris regime. Intended national contributions should become
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more ambitious over time. Single countries should take forerunner roles, as in phasing out coal and starting CDR, especially NCS. I see Germany as a candidate for such forerunner role. • Long-term egalitarian distribution at 1.8-2 tons/person/year in conjunction with global emission trading. Phasing out combustion engines in airplanes and cars over decades. • Mandatory attitude for Northern countries to assist adaptation strategies in the global South. Adaptation finance should be generous (100 billion per year). There should be multiple criteria (beyond vulnerability) to determine of how to launch the money into desirable projects. One crucial criterion should be to support natural climate solutions and strong sustainability. This would bring connectivities between UNFCCC and CBD. • Research on CDR options, support for natural climate solutions (NCS). Ban or moratorium on SAI research and deployment. No substitution strategy between abatement and SAI. The only credible SAI strategy is based on the buying-time-argument. Risks of SAI must be carefully weighed against a temporal overshoot (+2.4 °C GMT). Deployment of SAI requires the global prior informed consent within the system of the United Nations. • Change in lifestyles. A change to more vegetarian diets releases pressure on land. Developed countries should start BECCS and NCS within their territory even if there might be some protests against dumping CO2 underground. • Betterness relation: C&C over GDR. No strict anti-poverty principle, as in GDR. Concentration of climate burdens will demotivate the duty-bearers. • Consumer boycott of products being produced with high emissions. Non-compliance with the Paris regime should count as subsidizing domestic products unfairly. Boycott and taxes are appropriate counter-means. As we have argued at the beginning of this article, the triangular affair between abatement-, adaptation-, and climate-engineering-strategies should be seen as a portfolio of means and assets. Within this triangular affair, abatement deserves strong priority because it addresses
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the root cause of the problem and it is a precondition for successful adaptation and NCS. Aggressive abatement on a global scale is by no means utopian any more. Despite still rising global GHG emissions substantial change is in the making. Public awareness has increased worldwide. There is a youth movement with an iconic figure: Greta Thunberg who gives the young generation a face and a voice. Renewable energies already are going to be established. Diffusion of existing carbon-poor technologies can be accelerated by political strategies and economic incentives (Jänicke 2010). GHG emissions have been decoupled from GDP growth in advanced industrial societies. There is scientific knowledge, there is plenty of capital for carbon-low investments, there are established carbon-free energy technologies waiting for being mainstreamed, there is global civil society being aware of the problem. Interesting enough, the major achievements of modern societies (science, technology, capital, public reasoning) are available for problem-solving. If the course of action proposed here will be agreed upon and become a safely paved and reliable pathway, the speed of taking steps may be increased. After a regrettable period of stagnancy since 2008, Germany has increased efforts in 2019. Germany will phase out coal burning facilities until 2038 (hopefully, some years earlier) und combustion engines in cars will be phased out gradually. Carbon pricing shall make air traffic more expensive. The measures being proclaimed by the German government before the climate summit in New York are clearly insufficient to reach the 2020 goals but might be a preparing step towards a coming decade of strong emission decline from 2025–2035. These efforts, however, would be in vain, if they won’t be a forerunner role, but a lonely pathway.
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17 Ethik in Zeiten globaler Krisen: Die CORONA-Pandemie Ernest W. B. Hess-Lüttich, Uta Breuer und Dieter D. Genske
Zusammefassung Der folgende Beitrag widmet sich aus diskursethischem Interesse der Berichterstattung über die aktuelle CoronaPandemie und bettet sie in den größeren Zusammenhang der Krisenkommunikation ein. Im Anschluss an die derzeit bekannten biologisch-epidemiologischen Fakten wird erinnert an die wissenschaftliche, politische und moralische Verantwortung der Akteure in dieser globalen Ausnahmesituation, an ökonomische und ökologische Ursachen und Folgen und die Konsequenzen, die daraus für das Krisenmanagement im Falle multipler Katastrophen zu ziehen wären. E. Hess-Lüttich (*) Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] U. Breuer Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] D. D. Genske Hochschule Nordhausen, Nordhausen, Thüringen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Breuer und D. D. Genske (Hrsg.), Ethik in den Ingenieurwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29476-2_17
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420 E. W. B. Hess-Lüttich et al.
Abstract The following article is dedicated to reporting on the current corona pandemic out of interest in discourse ethics and embeds it in the larger context of crisis communication. Following on from the currently known biological-epidemiological facts, it recalls the scientific, political, and moral responsibility of the actors in this exceptional global situation, the economic and ecological causes and consequences, and the consequences that would have to be drawn for crisis management in the event of multiple disasters. Schlüsselwörter Corona · Pandemie · Virus · Diskurs · Ethik · Medien · Gesundheitskommunikation · Multiple Krisen · Warnzeichen · Verantwortung in Medizin · Naturwissenschaft und Technik Keywords Corona · Pandemic · Virus · Discourse · Ethics · Media · Health communication · Multiple crises · Warning signs Responsibility in medicine · Science and technology
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17.1 Die Heimsuchung – Zwischenbilanz einer epochaltypischen Krise Im ersten Quartal des Jahres 2020 wird die Welt von einer Katastrophe heimgesucht, die alsbald den von der Weltgesundheitsorganisation WHO verliehenen Namen ‚Corona-Pandemie‘ tragen und die öffentliche Kommunikation weithin bestimmen wird. Die Berichterstattung in allen Medien widmet sich viele Wochen lang ganz überwiegend einem Thema, das Menschen in fast allen Ländern in der einen oder anderen Weise betrifft. Täglich verfolgen wir in Deutschland die Wortmeldungen der Experten aus einer Pluralität von Disziplinen, deren gelehrt-besorgte Vielstimmigkeit manchen schwindeln macht. Intensivmediziner, Virologen, Epidemiologen halten die Tabellen der Todesfälle ins Bild und warnen vor exponentiell ansteigenden Infektionszahlen, sie berechnen Inkubationszeiten und Distanzgebote, Mortalitätsquoten, Letalitätsraten und Reproduktionszahlen.
17 Ethik in Zeiten globaler Krisen: Die CORONA-Pandemie 421
Sie suchen die Zahl der Menschen, die pro Tag von einer infektiösen Person angesteckt wird, unter eins zu stabilisieren (Rt 50 Mio. Tote, Letalität 450 ≥ 18.449 220.000 [25.04.20]
~ 25 Mio 5–15 Mio ~ 350.000
Römisches Reicha Europa,Vorderasiena Alte Welta Mittelamerika Frankreich, Russland-Feldzug Globalb Globala Globala Globala Globalc Globala Globald Globale Globala Globalf Globalg
Anzahl der Todesopfer Verbreitung ~ 7–10 Mio
cWorld
Süddeutsche 2019: „Als Europa die Pest besiegte“, in: sueddeutsche.de, 2. Juli 2019 health group issues alert Mexican president tries to isolate those with swine flu, Assoc. Press 25. April 2009 (Abruf: 28. Dezember 2015) dRobert Koch Institut: HIV/AIDS in Deutschland – Eckdaten der Schätzung. Stand: Ende 2012 (Memento vom 17. November 2016 im Internet Archive) eSummary of probable SARS cases with onset of illness from 1 November 2002 to 31 July 2003. World Health Organisation (WHO) (Abruf: 28. Dezember 2015) fWHO: Pandemic (H1N1) 2009 – update 112 gOperations Dashboard for ArcGIS; Worldometer COVID-19 Corona Virus Pandemic (Abruf: 25.04.2020) hZhu et al. 1998
bDie
ahttps://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Epidemien_und_Pandemien
Yersinia pestis Influenza A/H1N1 Influenza A/H2N2 Vibrio cholerae Influenza A/H3N2 Influenza A/H1N1 Humanes Immundefizienz-Virus SARS-assoziiertes Coronavirus Influenza A/H5N1 Influenza A/H1N1 SARS-CoV-2
Orthopoxvirus variolae [?] Yersinia pestis Yersinia pestis Salmonella typhimurium [?] Rickettsia prowazekii
Name der Krankheit Erreger
Antoninische Pest Justinianische Pest Pest Cocolitztli-Seuche Fleckfieber
Zeitraum
165–190 541–770 1346–1353 1545–1548 1812
Tab. 17.1 Zusammenstellung von Pandemien
17 Ethik in Zeiten globaler Krisen: Die CORONA-Pandemie 431
432 E. W. B. Hess-Lüttich et al.
Bevölkerung und lobt sie für die weitgehende Beachtung der sechs Tage zuvor verhängten Kontaktbeschränkungen. Zu diesem Zeitpunkt verdoppelt sich die Zahl der Neuinfektionen noch alle fünfeinhalb Tage. Es gelte, diese Verdoppelungsrate auf mindestens 14 Tage zu erhöhen, bevor aufgrund der begrenzten intensivstationären Kapazitäten an eine Lockerung der Kontaktbeschränkungen zu denken sei. Erst Ende April und bei einer Reproduktionszahl Rt