Menschenbilder: Eine Grundlegung 9783495813737, 9783495488799


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Table of contents :
Cover
Vorwort
Inhalt
Einleitung
Teil I: Zum Begriff
Einleitung
Begriffsgeschichtliches
Die Ursprünge
Doppelte Entsinnlichung
Subjektivierung und Verweltanschaulichung
19. Jahrhundert I: Mentalisierung, Idealisierung, Pathetisierung
19. Jahrhundert II: Konzeptualisierung und Funktionalisierung
20. Jahrhundert: Popularisierung und Politisierung
Begriffsgeschichtliches Fazit
Systematisch-begriffliche Klärungen
Allgemeine Beobachtungen zum Begriff »Menschenbild«
»Menschenbilder« – eine Definition
Menschenbildannahmen
Kategoriale und nicht-kategoriale Menschenbildannahmen
Deskriptive und normative Menschenbildannahmen
Theoretische und praktische Menschenbilder
Theoretische Menschenbilder
Praktische Menschenbilder
Teil II: Lebensweltliche Menschenbilder
Einleitung
Lebenswelt
Merkmale der Lebenswelt
Das lebensweltliche Sinn- und Überzeugungssystem
Die Pluralität der Lebenswelt
Menschenbilder als Hyper-Typisierungen
Typisierungen
Menschenbilder als Hyper-Typisierungen
Typisierungen und Menschenbilder
Menschenbilder als Hyper-Typisierungen
Zu einigen weiteren Charakteristika von Menschenbildern
Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen
Funktionen lebensweltlicher Menschenbilder
(1) Identifikation
(2) Welterschließung
(3) Stiftung von Ordnung und Zusammenhang
(4) Komplexitätsreduktion
(5) Erklärung
(6) Stabilisierung und Kontingenzbewältigung
(7) Interpretation
(8) Legitimation
(9) Orientierung
(10) Identitätsstiftung
Verflechtungen
Verflechtungen
Menschenbilder: im Zentrum des Systems
Menschenbild-Archive
Explizite und implizite subjektive Überzeugungen
Explizite und implizite objektive Größen
Zum Pluralismus lebensweltlicher Menschenbilder
Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder
Individuelle Menschenbilder
Gruppenspezifische Menschenbilder
Gesamtgesellschaftliche Menschenbilder
Weltumspannend-universelle Menschenbilder
Das eine Menschenbild der Lebenswelt
Das Problem der Binnenpluralität von Menschenbildern
Plurale lebensweltliche Menschenbilder und das eine Menschenbild der Lebenswelt
Das Menschenbild der Lebenswelt ist fundamental
Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern: eine Kategorienlehre
Methodologische Vorbemerkungen
Verkürzungen
Pluralität der Menschenbilder
Mannigfaltigkeit der Menschenbildüberzeugungen
Wichtige Menschenbildüberzeugungen
Identifikatorische Dimension
Ontologische Dimension
Funktionale Dimension
Teleologische bzw. normative Dimension
Identifikatorische Dimension
1. Überzeugungen darüber, wer überhaupt Mensch ist: partikularistische, universalistische und exotische Menschenbilder
Ontologische Dimension
2. Überzeugungen über ontologisch fundamentale Eigenschaften
3. Überzeugungen über die Stellung des Menschen im Kosmos
4. Überzeugungen über interhumane axiologische Differenzierungen
5. Überzeugungen über die menschliche Individualität
Funktionale Dimension
6. Überzeugungen über das Selbst
7. Überzeugungen über die Freiheit
8. Überzeugungen über das menschliche Verhalten
9. Überzeugungen über als wichtig angesehene menschliche Fähigkeiten
Teleologische bzw. normative Dimension
10. Überzeugungen über das richtige menschliche Leben
Zu Wirkungen und Ursachen lebensweltlicher Menschenbilder
Wirkungen lebensweltlicher Menschenbilder
(1) Wirkungen auf die Intentionalität
(2) Wirkungen auf Institutionen
(3) Wirkungen auf die menschliche Konstitution
Ursachen und Quellen lebensweltlicher Menschenbilder
Schluss
Schwierigkeiten der Wahrheits- und Richtigkeitsfrage
Kein Relativismus
Literaturverzeichnis
Personenregister
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Menschenbilder: Eine Grundlegung
 9783495813737, 9783495488799

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Michael Zichy

Menschenbilder Eine Grundlegung

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495813737

.

B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Menschenbilder sind wichtig, darüber ist sich die Wissenschaft einig. Nicht von ungefähr spielt die Berufung auf ein Menschenbild in vielen öffentlichen Debatten eine zentrale Rolle. Doch was ist überhaupt gemeint, wenn von einem »Menschenbild« die Rede ist? Was sind die Inhalte dieser Bilder? Welche Funktion haben und welche Rolle spielen sie? Vor allem aber: Welche Auswirkungen haben Menschenbilder im Alltag? Sind Menschenbilder tatsächlich, wie manche meinen, das Fundament unserer moralischen und politischen, ja selbst der existenziellsten Orientierungen im Alltag? Fragen wie diese sind bislang weitgehend unbeantwortet geblieben. Denn so beliebt und zentral der Begriff des Menschenbildes ist, so unbestimmt ist er; er besitzt kein wissenschaftliches Profil. Bis heute gibt es keine gründliche theoretische Untersuchung zum Begriff und keinen Versuch, das Phänomen Menschenbild im Allgemeinen theoretisch umfassend zu bestimmen. Selbst in manchen Nachschlagewerken sucht man den Terminus vergebens. Eben dieser längst überfälligen Forschungsarbeit nimmt sich dieses Buch an: der Klärung des Begriffs »Menschenbild« einerseits und der allgemein-theoretischen Bestimmung des Phänomens Menschenbild andererseits. Ziel ist es, damit der verbreiteten Rede vom Menschenbild endlich ein tragfähiges wissenschaftliches Fundament zu verleihen.

Der Autor: Michael Zichy, geb. 1975, ist seit 2015 Assistenzprofessor an der Universität Salzburg. Er ist Mitgründer und -herausgeber der Zeitschrift für Praktische Philosophie.

https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Michael Zichy Menschenbilder

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Michael Zichy

Menschenbilder Eine Grundlegung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Gedruckt mit Unterstützung der Förderungs- und Stiftungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg sowie des Fachbereichs Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48879-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81373-7

https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Vorwort

Manche Arbeiten verlangen eine über das normale Maß hinausgehende Widerstandsfähigkeit und Hartnäckigkeit, um überhaupt in Angriff, und mehr noch, um fertiggestellt zu werden. Die vorliegende Untersuchung ist zweifellos eine solche. Wiewohl in ihrer Bedeutung unumstritten, stehen Menschenbilder nämlich – zumal in der Philosophie – in keinem guten Ruf, war der Begriff »Menschenbild« und das mit ihm benannte Phänomen noch niemals Gegenstand einer umfassenden philosophischen Untersuchung. Zur Freude über das Glück, eine echte Forschungslücke entdeckt zu haben und wissenschaftliches Neuland betreten zu dürfen, mischte sich daher nicht selten die Sorge, sich im Unterholz der Analyse verlieren zu können oder überhaupt falsch abgezweigt zu sein, zwang dieses Unternehmen doch zu einem »Denken ohne Geländer«. Die Sorge blieb, wie dieses Buch dokumentiert, unbegründet. Wie alle riskanten Projekte wäre auch dieses ohne den Beistand von Kolleginnen und Kollegen, die es für sinnvoll und durchführbar hielten und an seiner Fertigstellung nie einen Zweifel hegten, nicht erfolgreich abzuschließen gewesen. Für seine vorbehaltlose Unterstützung und sein Vertrauen sei an erster Stelle Herrn Univ. Prof. Dr. Heinrich Schmidinger, dem langjährigen Rektor der Universität Salzburg, gedankt, der dieses Projekt stets mit Wohlwollen begleitet hat. In gleicher Weise dankbar bin ich dem Fachbereich Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg – insbesondere den Herren Univ. Prof. Dr. Rolf Darge und Ao. Univ. Prof. MMag. Dr. Emmanuel Bauer –, an dem das Buch entstanden ist. Der Fachbereich hat mir in allen Belangen wesentlich mehr Unterstützung zukommen lassen, als ich mir je hätte erträumen mögen, und er hat mir über die letzten Jahre nicht nur ein intellektuell anregendes, sondern auch ein menschlich überaus erfreuliches Zuhause geboten. Für zahllose gemeinsame Mittagessen und viele klärende Ge7 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Vorwort

spräche sei meinem Freund und Kollegen Herrn Ass. Prof. DDr. Bernhard Schwaiger gedankt, der mir mit seinem ehrlichen Interesse, seiner großen Geduld und oft mit einer zielgerichteten Frage und einem ermutigenden Wort wesentlich mehr geholfen hat, als ihm wahrscheinlich bewusst ist. Ein besonderer Dank gebührt zudem meinem Freund Herrn Jonas Lüscher M.A. für eine tiefgehende Diskussion des Manuskriptes. Zu danken habe ich des Weiteren den Freundinnen und Freunden sowie Kolleginnen und Kollegen, die mit ihrer kritischen Lektüre und ihren hellsichtigen Kommentaren manch unrunde Stelle zu verbessern geholfen haben: Frau DDr. Orsolya Friedrich, Herrn Univ. Prof. Dr. Stephan Kirste, Herr Univ. Prof. em. Dr. Theodor Köhler, Herrn Prof. em. Dr. Ekkehard Martens, Herrn Dr. Norbert Paulo und – noch einmal – Herrn Univ. Prof. Dr. Heinrich Schmidinger. Nicht unerwähnt bleiben sollen in diesem Zusammenhang auch meine Studentinnen und Studenten, mit denen ich meine Forschungsergebnisse über mehrere Semester hinweg angeregt diskutieren durfte. Frau Prof. Alice Crary Ph.D., Frau Prof. em. Dr. Ágnes Heller und Herrn Prof. Dr. Dmitri Nikulin vom Philosophie-Department der New School for Social Research in New York bin ich – ebenso wie der Universität Salzburg und der Hermann und Marianne Straniak Stiftung – dafür zu Dank verpflichtet, dass sie es möglich gemacht haben, an dieser angesehenen New Yorker Institution meine Arbeit fertigstellen zu können. Frau Sonja Ellmauthaler B.A. und insbesondere Herrn Dr. Hans Cymorek schulde ich für formale, orthographische und stilistische Korrekturen großen Dank. Und schließlich sei Herrn Lukas Trabert und dem gesamten Team des KarlAlber-Verlages für die hervorragende Zusammenarbeit der Dank ausgesprochen. New York, im Herbst 2016

Michael Zichy

8 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Teil I

Zum Begriff

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Begriffsgeschichtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ursprünge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doppelte Entsinnlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektivierung und Verweltanschaulichung . . . . . . . . . 19. Jahrhundert I: Mentalisierung, Idealisierung, Pathetisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Jahrhundert II: Konzeptualisierung und Funktionalisierung 20. Jahrhundert: Popularisierung und Politisierung . . . . . . Begriffsgeschichtliches Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . .

24 25 34 40

Systematisch-begriffliche Klärungen . . . . . . . . . . . Allgemeine Beobachtungen zum Begriff »Menschenbild« »Menschenbilder« – eine Definition . . . . . . . . . . Menschenbildannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische und praktische Menschenbilder . . . . . .

. . . . . . . . .

48 55 64 81

. 83 . 83 . 91 . 96 . 109

9 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Inhalt

Teil II

Lebensweltliche Menschenbilder

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123

Menschenbilder als Hyper-Typisierungen . . . . . . . . . . . . Typisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschenbilder als Hyper-Typisierungen . . . . . . . . . .

143 145 152

Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen Funktionen lebensweltlicher Menschenbilder . Verflechtungen . . . . . . . . . . . . . . . . Menschenbild-Archive . . . . . . . . . . . .

. . . .

172 173 190 205

Zum Pluralismus lebensweltlicher Menschenbilder . . . . . . . Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das eine Menschenbild der Lebenswelt . . . . . . . . . . . .

222

Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern: eine Kategorienlehre Methodologische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . Identifikatorische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . Ontologische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionale Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teleologische bzw. normative Dimension . . . . . . . . . .

. . . . . .

267 267 286 299 325 347

Zu Wirkungen und Ursachen lebensweltlicher Menschenbilder . Wirkungen lebensweltlicher Menschenbilder . . . . . . . . . Ursachen und Quellen lebensweltlicher Menschenbilder . . .

358 359 400

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwierigkeiten der Wahrheits- und Richtigkeitsfrage . . . . Kein Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

405 410 417

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

425

Personenregister

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

226 251

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457

10 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Einleitung

Es bedarf keiner sehr langen Beschäftigung mit dem Begriff des Menschenbildes, um Folgendes festzustellen: Erstens, der Begriff ist äußerst populär, und zwar sowohl außer- wie innerhalb der Wissenschaften. Zweitens, der Begriff besitzt eine hohe intuitive Plausibilität, was sich nicht zuletzt an der Selbstverständlichkeit zeigt, mit der er, häufig nur en passant, in allen möglichen Kontexten und Kombinationen verwendet wird. Drittens, der Begriff ist denkbar breit und unscharf. Ein tieferes gemeinsames Verständnis darüber, was Menschenbilder nun tatsächlich sind, gibt es nicht, ja bislang wurde noch nicht einmal der Versuch unternommen, eine solche Verständigung herzustellen. Viertens, Menschenbilder gelten als wichtige Phänomene. Eine gesellschaftlich weit verbreitete Intuition und ein breiter wissenschaftlicher Konsens kommen darüber überein, dass Menschenbilder ubiquitäre und einflussreiche Größen sind: Jede und jeder von uns habe ein Menschenbild, und dieses präge die Art und Weise, wie wir uns selbst, unsere Mitmenschen, unsere Gesellschaft und die Welt insgesamt wahrnehmen und beurteilen, ganz maßgeblich. Keinen Konsens gibt es jedoch dahingehend, wie dies einzuschätzen ist: Während Menschenbilder für die einen das unhintergehbare Fundament unserer Weltzugänge sind, derer sich bewusst zu werden und die zu reflektieren eine wichtige, nur leider allzu oft vernachlässigte Aufgabe sei, stehen Menschenbilder für die anderen im Verdacht, im besten Fall bloß subjektive Vorurteile, im schlimmsten Fall philosophisch verbrämte Dogmatismen religiös-ideologischer Natur mit ungedecktem Geltungsanspruch zu sein, die allesamt rational nicht einlösbar seien, von der sich jede und jeder einzelne so schnell wie möglich zu lösen habe, und um die jede seriöse Wissenschaft einen weiten Bogen machen sollte. Dessen ungeachtet gibt es, fünftens, einen unüberschaubar großen Bestand an Menschenbild-Forschungen. In der sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlichen Literatur figuriert unter diesem Begriff eine Fülle an Untersuchungen zu den 11 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Einleitung

verschiedenen Menschenbildern unterschiedlicher historischer Epochen, Kulturen, Milieus, Praktiken, wissenschaftlicher Disziplinen, geistiger Strömungen, Religionen, Theorieansätze usw. In einigen wissenschaftlichen Disziplinen hat sich regelrecht eine Tradition der Menschenbildforschung etabliert: in der Pädagogik, in der Theologie mit ihrem Topos des »christlichen Menschenbildes«, in der Philosophie der Ökonomik mit ihrer Auseinandersetzung um den homo oeconomicus, in der Philosophie der Medizin, in der Psychologie und der Psychotherapie, und schließlich in der deutschen Rechtswissenschaft mit ihren Kontroversen um das »Menschenbild des Grundgesetzes«. Umso erstaunlicher ist sechstens, dass der Begriff bis dato theoretisch völlig unterbestimmt ist; er besitzt kein wissenschaftliches Profil. Obwohl er auch in den Wissenschaften so beliebt ist und für viele Studien eine zentrale Rolle spielt, existiert bis heute nicht eine gründliche theoretische Untersuchung zum Begriff. Und wiewohl es zahllose Untersuchungen zu allen möglichen spezifischen Menschenbildern gibt, findet sich bis heute nicht ein Versuch, das Phänomen Menschenbild im Allgemeinen umfassend theoretisch zu bestimmen. Selbst in den einschlägigen Enzyklopädien und Lexika sucht man den Begriff vergebens. Bislang unklar geblieben ist demnach nicht nur, was der Begriff »Menschenbild« überhaupt genau benennt, sondern auch, wie es sich mit dem Phänomen, das damit unscharf begriffen wird und dessen Existenz und Bedeutung ja von niemandem in Abrede gestellt wird, überhaupt auf sich hat: Was ist ein Menschenbild eigentlich, woraus besteht es, welche Funktionen hat es, welche Effekte zeitigt es usw.? Eben dieser längst überfälligen Forschungsarbeit – der Klärung des Begriffs »Menschenbild« einerseits und der allgemein-theoretischen Bestimmung des Phänomens Menschenbild andererseits – nimmt sich die vorliegende Untersuchung an. Ihr Ziel ist es, damit der verbreiteten Rede vom Menschenbild endlich das wissenschaftliche Fundament zu verleihen, das sie verdient und das sie so dringend benötigt. Eine Untersuchung zu Begriff und Phänomen des Menschenbildes ist aber nicht bloß ein wissenschaftliches Desiderat, sie begründet sich nicht bloß aus forschungsimmanenten Notwendigkeiten, sondern ist auch den Erfordernissen der geistigen Situation der Zeit geschuldet. Dies lässt sich mit einem sehr holzschnittartigen Rückblick auf die einschlägige Forschungsgeschichte verdeutlichen: Die Menschenbild12 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Einleitung

forschung erlebte von den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende der 1960er Jahre ihre Hochblüte, der Begriff Menschenbild stand im Mittelpunkt der moralisch-politischen Neuorientierung nach dem Krieg und bildete das Gravitationszentrum der großen intellektuellen Auseinandersetzungen zwischen den Ideologien der Machtblöcke der Nachkriegsordnung. Das Bewusstsein von der Wichtigkeit der Vorstellungen vom Menschen war während des Kalten Krieges – gerade angesichts der unterschiedlichen, sich gegenseitig bekämpfenden politischen Systeme, die auf je unterschiedlichen Menschenbildern fußten – allgegenwärtig. Doch in dem Maße, wie die Schwächen des kommunistischen Systems unleugbar wurden und dieses schließlich ganz zusammenbrach, verstummten auch die Debatten ums Menschenbild. So begrüßenswert der Zusammenbruch des Kommunismus zweifellos gewesen ist, für das kritische Denken im Allgemeinen und die philosophische Anthropologie im Besonderen hat er eine Lücke hinterlassen. Mit den kommunistischen Regimen ging nämlich nicht nur ein menschenverachtendes System zugrunde, sondern dem Denken ging auch eine Projektionsfläche verloren, die einen anderen, besseren Menschen und ein anderes, besseres Leben in einer anderen, besseren Gesellschaft nicht als bloße Utopie, sondern als real erscheinen ließ. Es war dieses Vorhandensein einer realen und nicht bloß erdachten Alternative, das die gegenseitige Kritik beflügelte und beide Seiten in einen unerbittlichen Wettbewerb zwang, der zu enormen intellektuellen Leistungen anspornte und sie anhielt, sich ihrer anthropologischen Grundlagen stets aufs Neue und stets noch gründlicher zu vergewissern. 1 Als der kommunistische Ostblock zuerst moralisch und dann in realiter kollabierte, fiel die Notwendigkeit, die westlichen Ideen gegen ernstzunehmende ideologische Alternativen verteidigen zu müssen, weg. Das goldene Zeitalter des westlichen Individualismus, der liberalen Demokratie, der kapitalistischen Marktwirtschaft sowie der Menschenrechte schien nun endgültig angebrochen zu sein; nur noch eine Frage der Zeit, so die Erwartung, bis der geistigen Übermacht der im Westen geborenen Ideen auch deren weltweite Verbreitung und Verwirklichung folgen würde. Und so wähnte sich der Westen mit dem Der Wettbewerb zwischen den Systemen hat bekanntlich auch zu technischen Höchstleistungen Anlass gegeben, so etwa zur Mondlandung; vgl. dazu Bajohr, Stefan, Der Wettbewerb der Systeme (1945–1989), in: Ders., Kleine Weltgeschichte des demokratischen Zeitalters, Wiesbaden 2014, 417–482.

1

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Einleitung

Politologen Francis Fukuyama, der diese These, von Hegel inspiriert, am prominentesten vertreten hat, bald am »Ende der Geschichte« und stimmte Nachrufe auf das Zeitalter der Ideologien an: das reale Experiment habe gezeigt, dass das westliche System das am besten funktionierende, mithin das einzig wahre und richtige sei; über Ideologien müsse man daher nicht mehr weiter streiten. 2 Die vermeintliche Alternativlosigkeit und Richtigkeit seines Modells führte jedoch dazu, dass sich der Westen in seinem anthropologisch-menschenrechtlichen Konsens sicher zu fühlen, sich in ihm gemütlich einzurichten und träge zu werden begann. Denn die anthropologischen Grundannahmen, auf denen das westliche Modell basiert – Menschenwürde, Gleichheit, Freiheit, Menschenrecht usw. – erschienen nicht mehr als eine begründungsbedürftige Meinung unter vielen, sondern schlicht als die wissenschaftlich begründete und historisch legitimierte Wahrheit, deren weitere Reflexion, Kritik und Verteidigung nicht mehr notwendig wäre. Sie gerannen zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit, von der man – gemäß Nietzsches Rede von der Wahrheit als den »Illusionen, von denen man vergessen hat, dass es welche sind« 3 – irgendwann überhaupt zu vergessen schien, dass man sie hat. Vor dem Hintergrund dieses Grundkonsenses konnten alle verbliebenen anthropologischen Differenzen, die es ja nach wie vor gab, als ideologische Oberflächenphänomene abgetan werden, die – wie alles Religiös-Ideologische – im Privaten so lange ihren legitimen Raum finden könnten, bis sie sich dereinst – so die zukunftsfrohe Hoffnung – von selbst auflösen würden. 4 Eine weitere Diskussion um Vgl. Fukuyama, Francis, The End of History and the Last Man, New York 1992; Shtromas, Aleksandras (Hg.), The End of ›Isms‹ ? Reflections on the Fate of Ideological Politics after Communism’s Collapse, Oxford 1994. Für die kapitalistischen Länder des Westens wurde das Ende der Ideologien von Daniel Bell freilich schon 1960 diagnostiziert; vgl. Bell, Daniel, The End of Ideology: On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, New York 1960. 3 Nietzsche, Friedrich, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, Nachgelassene Schriften 1870–1873, Kritische Studienausgabe [KSA], Bd. 1, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1988, 873–890, hier 880 f. 4 Vgl. dazu etwa die frühe Auffassung von Jürgen Habermas, der in seiner Theorie des kommunikativen Handelns davon ausgeht, »[…] daß die sozialintegrativen und expressiven Funktionen, die zunächst von der rituellen Praxis erfüllt werden, auf das kommunikative Handeln übergehen, wobei die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines jeweils für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt wird.« Mithin geht es auch darum, das kommunikative Handeln »von sakral geschützten normativen Kontexten« freizusetzen, bis es dereinst gelungen sein wird, »die bannen2

14 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Einleitung

Menschenbilder erschien also schlicht als überflüssig, als wissenschaftlich unseriös und als das Residuum einer Zeit, die noch nicht sauber zwischen Wissenschaft und Ideologie zu unterscheiden wusste. Dies zeigte sich auch schon in der ersten Hälfte der 1970er Jahre am Abebben der philosophischen Menschenbildforschung und dem Verschwinden der philosophischen Anthropologie. Natürlich verstummte die Kritik an den herrschenden Verhältnissen nicht. Doch verbittert über das Ausbleiben der Revolution und enttäuscht vom Versagen des Proletariats, dem vermeintlichen Subjekt der Geschichte, wendete sie sich vom Menschen ab, ja erklärte diesen gleich für tot. 5 Man könne wetten, so Foucault in den vielzitierten letzten Worten seines Buches Die Ordnung der Dinge, »daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« 6 Die Rede vom Menschen galt fortan als unaufgeklärt: Schon allein die Pluralität inkommensurabler Perspektiven verbiete die Rede von dem Menschen, jedes Menschenbild sei daher nichts als der Versuch, einen je spezifischen Menschen als den Menschen zu installieren. Dies aber verleugne die Pluralität, sei Ausdruck eines Zwangs zur Einheit und tendenziell totalitär. Statt auf den Menschen setzte das postmoderne Paradigma seine Hoffnung daher auf die Struktur, auf die unpersönlichen Geschicke eines undurchdringlichen Geflechts subtiler Machtverhältnisse und dynamischer Systemzusammenhänge. Der Mensch, und erst recht die Menschenbilder, die er sich macht, seien nichts als das oberflächliche Kräuseln auf den Tiefen eines Meeres, dessen verde Kraft des Heiligen« in die »bindende Kraft kritisierbarer Geltungsansprüche« zu transformieren. Vgl. Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt am Main 31985, 118 f.; vgl. dazu Thomalla, Klaus, Habermas und die Religion. Über die Entwicklung eines Verhältnisses, in: Information Philosophie 2 (2009), Quelle: http://www.informationphilosophie.de/?a=1&t=2540&n=2&y=4&c=75# [17. 2. 2016]. 5 Zur Entstehung der französischen Postmoderne (deren Hauptvertreter wie Foucault, Althusser, Lyotard, – nicht aber Derrida – ja allesamt Mitglieder der französischen kommunistischen Partei waren) aus den Enttäuschungen über den Kommunismus vgl. Dosse, François, Geschichte des Strukturalismus, Bd. 1, Das Feld des Zeichens, 1945–1966, Hamburg 1996, 239–248, 447–455; Dosse, François, Geschichte des Strukturalismus, Bd. 2, Die Zeichen der Zeit, 1967–1991, Hamburg 1997, 329 ff.; ferner Angermüller, Johannes, Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld 2007, 49 f.; Suntrup, Jan Christoph, Formenwandel der französischen Intellektuellen. Eine Analyse ihrer gesellschaftlichen Debatten von der Libération bis zur Gegenwart, Berlin 2010. 6 Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 151999, 462.

15 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Einleitung

borgene Strömungen – die Diskurse, das Unbewusste, die Macht, das Begehren usw. – das eigentliche Sein der Dinge bestimmten. 7 Der als unhinterfragte Selbstverständlichkeit hingenommene westliche anthropologische Konsens, seine vermeintliche Alternativlosigkeit und die postmoderne Vernarrtheit in das System ließ den Menschen aus dem Fokus der intellektuellen Aufmerksamkeit verschwinden. Dies hatte eine vierfache Blindheit und ein Unvermögen zur Folge: Es machte erstens blind für die Macht der geistigen Bilder, d. h. für den Umstand, dass es nicht nur Machtverhältnisse, sondern auch – wenn nicht sogar in erster Linie – Ideen sind, und darunter maßgeblich Menschenbilder, anhand derer die Welt gestaltet wird. Der Mensch als das Produkt anonymer Systemzwänge – auch dies ist zunächst eine Idee, ein Menschenbild, das jemand hat und das nach Umsetzung verlangt. Es machte zweitens blind für die eigenen anthropologischen Überzeugungen. Weil diese so selbstverständlich waren, und weil sie außerhalb des Blickwinkels standen, wurde übersehen, dass man über ein Menschenbild verfügt. Erst recht blind wurde man drittens für den Umstand, dass der eigene anthropologische Konsens eben ein Bild, eine Auffassung von der Wirklichkeit und nicht schon die Wirklichkeit selbst ist. Und viertens wurde man – wieder einmal – blind für den Umstand, dass andere Völker und andere Kulturen andere Bilder vom Menschen haben, die tatsächlich anders und nicht bloß verzerrte, rückständige, oder verfälschte Versionen des eigenen Bildes sind, die sich durch ein wenig Nachhilfe, Entwicklungszusammenarbeit, Werteexport und Demokratieschulungen geradebiegen lassen. Solange man hoffnungsfroh an das Ende der Geschichte und die Wahrheit der eigenen Meinung glaubte, konnte man im Anderen nur das Falsche oder das Rückständige sehen, das irgendwann entweder in den westlichen Konsens einstimmen oder aber untergehen würde. Und schließlich führten die mangelnden Herausforderungen, die große Selbstverständlichkeit und die fehlende Sensibilität für anthropologische Themen zur Trägheit, ja zur Unfähigkeit, die eigenen anthropologischen Wurzeln zu erkennen, zu prüfen, zu verteidigen und sich ihrer stets aufs Neue zu vergewissern. Zu anthropologiekritischen Positionen vgl. die Übersicht bei Thies, Christian, Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt 2004, 15 u. 18–32; zur Geschichte der Anthropologiekritik vgl. Rölli, Marc (Hg.), Fines Hominis? Zur Geschichte der philosophischen Anthropologiekritik, Bielefeld 2015.

7

16 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Einleitung

Inzwischen wurde die These vom Ende der Geschichte von der Geschichte selbst überholt, 8 hat der Mensch die These vom Tod des Menschen ganz munter überlebt 9 und kommt der westliche anthropologische Konsens gleich von mehreren Seiten in Bedrängnis. Und so wächst erneut allerorten das Interesse am Menschen und am Thema Menschenbild: Die mit neuen wissenschaftlichen Verfahren ausgestatteten Neurowissenschaften vermelden lauthals das Ende der Freiheit und rufen nach einem neuen Menschenbild; 10 die Biowissenschaften machen – über die Präimplantationsdiagnostik, gentechEinigen gelten die Terroranschläge vom 11. September 2001 als das Datum des »Endes des Endes der Geschichte«. Vgl. Fukuyama, Francis, History Is Still Going Our Way, in: The Wall Street Journal, 5. Oktober 2001, A14. 9 Schon seit den 1980ern ist von einer »Renaissance der Anthropologie« die Rede (vgl. Barkhaus, Annette u. a., Einleitung: Zur Wiederkehr anthropologischen Denkens, in: Dies. u. a. (Hg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt am Main 21999, 11–25). Diese Hinwendung zu anthropologischen Themen ist aber janusgesichtig, erfolgt sie doch unter sehr spezifischen Gesichtspunkten und vornehmlich in der Absicht, Vorstellungen von einer »Natur des Menschen« oder eines »Wesens des Menschen« zu dekonstruieren. Erst in jüngerer Zeit »scheint der neuerliche Rekurs auf die philosophische Anthropologie von dem Wunsch getragen zu sein, eine kritische und theoretisch fundierte Begrenzung der historisch-relativistischen Denkformen zu entwickeln.« (Manzei, Alexandra/Gutmann, Mathias/Gamm, Gerhard, Vorwort, in: Dies. (Hg.), Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften, Bielefeld 2005, 7–14, hier 7.) Zur gegenwärtigen Wiederkehr der Anthropologie vgl. Özmen, Elif, The anthroplogical turn. Über das schwierige, wandelbare, gleichwohl enge Verhältnis von Philosophie und Anthropologie, in: Heilinger, Jan-Christoph/Nida-Rümelin, Julian (Hg.), Anthropologie und Ethik, Berlin/New York 2015, 19–35; dies., Ecce homo faber! Anthropologische Utopien und das Argument von der Natur des Menschen, in: Nida-Rümelin, Julian/Kufeld, Klaus (Hg.), Die Gegenwart der Utopie. Zeitkritik und Denkwende, Freiburg im Breisgau 2011, 101–124, hier 101 ff.; ferner Hügli, Anton (Hg.), Die Anthropologische Wende. Le tournant anthropologique, Basel 2014. 10 Im deutschen Sprachraum hat die Debatte um das »neue Menschenbild« vor allem nach dem »Manifest« elf renommierter Hirnforscher an Fahrt aufgenommen und großes allgemeines Interesse gefunden; vgl. Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, in: Geist & Gehirn 6 (2004), 30–37; dazu Beck, Birgit, Ein neues Menschenbild? Der Anspruch der Neurowissenschaften auf Revision unseres Selbstverständnisses, Münster 2013, die ebenfalls feststellt, dass »der Begriff des Menschenbildes bei den meisten Autoren […] gar nicht expliziert [wird]« (17) und Janich, Peter, Der Streit der Welt- und Menschenbilder in der Hirnforschung, in: Sturma, Dieter (Hg.), Philosophie und Neurowissenschaften, Frankfurt am Main 2006, 75–96. Zur Debatte vgl. ferner Engels, Eve-Marie/ Hildt, Elisabeth (Hg.), Neurowissenschaften und Menschenbild, Paderborn 2005; Janich, Peter (Hg.), Naturalismus und Menschenbild, Deutsches Jahrbuch für Philoso8

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Einleitung

nische Verfahren, Stammzellenforschung usw. – Eingriffe in das menschliche Leben möglich, die, wie Jürgen Habermas formuliert, »Fragen einer anderen Art« aufwerfen, die »das ethische Selbstverständnis der Menschheit im Ganzen« berühren. 11 Die seit der Weltwirtschaftskrise lauter werdende Kritik am herrschenden ökonomischen Paradigma des Neoliberalismus wirft diesem – neben vielem anderen – vor, den herrschenden anthropologischen Konsens nach und nach durch das Menschenbild des homo oeconomicus zu unterwandern. 12 Hinzu kommt eine ganze Reihe von krisenhaften Phänomenen, die den westlichen anthropologischen Konsens sowohl herausfordern als auch zunehmend brüchig werden lassen: islamischer Fundamentalismus, Terrorismus und »Kampf der Kulturen«, 13 die westlichen Reaktionen darauf in Form des Krieges gegen den Terror, Infragestellung des Folterverbots, Guantanamo und Abu Ghraib, das Wiederaufkeimen rassistischen Gedankenguts, das Erstarken rechtsradikaler Bewegungen, antidemokratische Tendenzen, ja offene Infragestellungen der Demokratie selbst in Europa, die zuletzt noch durch die Flüchtlingskrise verschärften Herausforderungen von Immigration, Integration, religiösem wie kulturellem Pluralismus usw., kurz: die neue Weltunordnung. Krisenzeiten sind, dies ist eine Banalität, immer auch Zeiten der Neuorientierung. Und so bedürfen wir Heutigen, die wir in solchen Zeiten leben, was sich im Wiedererwachen der philosophischen Anthropologie und im neuen Interesse am Thema Menschenbild schon andeutet: einer neuerlichen »Orientierung im Grundsätzlichen«. Dies wiederum heißt aber nichts anderes, als zu versuchen, sich von Neuem darüber klar zu werden, was es bedeutet, Mensch zu sein. Das Ziel dieser Untersuchung besteht also nicht nur darin, der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Menschenbildern endlich das ihr so nötige theoretische Fundament zu verleihen. Ihr Ziel phie, Bd. 1, Hamburg 2008; ders., Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt am Main 2009. 11 Vgl. Habermas, Jürgen, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2005, 32 f. Zur Rolle von Menschenbildern in der Bioethik vgl. Düwell, Marcus, Menschenbilder und Anthropologie in der Bioethik, in: Ethik in der Medizin 23 (2011), 25–33. 12 Vgl. etwa Brown, Wendy, Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin 2015; Mirowski, Philip, Untote leben länger. Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist, Berlin 2015. 13 Vgl. Huntington, Samuel, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 52002.

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Einleitung

liegt auch darin, den oben genannten vier Blindheiten und dem einen Unvermögen entgegenzuwirken: Erstens, das Bewusstsein für die Macht anthropologischer Überzeugungen zu schärfen, denn Menschenbilder sind nicht einfach nur Abbilder, sondern sie haben – wie Nietzsche als einer der ersten erkannt hat – eine prägende Kraft auf jene Wirklichkeit, deren Bild sie sind: Menschenbilder bilden den Menschen nicht nur ab, sondern sie formen ihn mit. Zweitens, die Augen für die eigenen, zur Selbstverständlichkeit gewordenen anthropologischen Überzeugungen zu öffnen. Drittens, das Wissen darum, dass anthropologische Annahmen eben Annahmen und nicht schon die Wirklichkeit selbst sind, zu erneuern, und viertens die Sensibilität dafür zu erhöhen, das andere Völker und Kulturen tatsächlich andere – zum Teil radikal andere – Vorstellungen vom Menschen haben, die nicht so ohne Weiteres als rückständig, falsch und irrelevant verworfen werden können. Und schließlich will die Untersuchung dabei unterstützen, die eigenen anthropologischen Überzeugungen zu reflektieren, zu kritisieren und sich ihrer zu vergewissern – eine Aufgabe, die wohl jede Generation aufs Neue zu ihrer eigenen zu machen hat. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung liegt mithin auch darin, zu einer neuen, vertieften Auseinandersetzung über Menschenbilder anzuregen. Damit soll ein Grundstein für die neuen Orientierungsarbeiten gelegt werden, die schon darauf warten, in Angriff genommen zu werden; es sind gewissermaßen Prolegomena zu der künftigen Orientierung im Grundsätzlichen, die hier geboten werden. Die Orientierungsarbeiten selbst werden hier nicht vorgenommen, eine Anthropologie wird nicht entworfen, aber das Feld, das es durch diese Arbeiten zu bestellen gilt, wird sehr wohl von dieser Untersuchung abgesteckt. Um dies zu leisten, nimmt die Untersuchung die zwei schon erwähnten Aufgaben in Angriff: Die Klärung des Begriffs »Menschenbild« einerseits und die allgemein-theoretische Bestimmung des Phänomens Menschenbild andererseits. Die Untersuchung gliedert sich dementsprechend in zwei Hauptteile: Der erste Teil ist der Arbeit am Begriff »Menschenbild« gewidmet. Er zielt darauf ab, einen hinreichend bestimmten und für weitere Analysen brauchbaren Terminus zu gewinnen. Dazu wird erstens eine begriffsgeschichtliche Untersuchung vorgenommen, die die Entwicklungen des Begriffs vom Mittelalter bis in unsere Zeit detailliert nachzeichnet. In einer systematischen Begriffsklärung wird zweitens der moderne, in den Wissenschaften gebräuchliche Menschenbildbegriff analysiert und durch 19 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Einleitung

die Einführung einiger Differenzierungen präzisiert. Für die Arbeit von zentraler Bedeutung ist dabei die Unterscheidung von wissenschaftlich-theoretischen und lebensweltlich-praktischen Menschenbildern. Letztere sind Menschenbilder im eigentlichen Sinne; sie bilden den Gegenstand der weiteren Untersuchung. Der umfangreiche zweite Teil der Untersuchung nimmt das Phänomen lebensweltlicher Menschenbilder in den Blick. Dies erfolgt in sechs großen Schritten: Erstens wird dargestellt, was unter einer Lebenswelt zu verstehen ist, zweitens untersucht, was lebensweltliche Menschenbilder überhaupt sind. Welche Funktionen sie erfüllen und wie sie in der Lebenswelt gegeben sind, wird im dritten Schritt beantwortet. Die Untersuchung kommt dabei zum Schluss, dass Menschenbilder fundamentale konstitutive Elemente, gleichsam historisch-kulturelle Apriori der Lebenswelt sind. Dass dies auch für moderne Gesellschaften, d. h. unter den Bedingungen der Pluralität von Menschenbildern gilt, wird im vierten Schritt gezeigt. Auch wenn sich die individuellen Menschenbilder, die die Mitglieder moderner Gesellschaften jeweils haben, in vielerlei Aspekten unterscheiden, gibt es doch fundamentale Überschneidungen, die ein gemeinsames soziokulturelles Menschenbild formen, das als historisch-kulturelles Apriori der gemeinsamen Lebenswelt auch strukturell differenzierter und kulturell pluralisierter Gesellschaften fungiert. Im fünften Schritt werden die Inhalte lebensweltlicher Menschenbilder einer Analyse unterzogen mit dem Ziel, diejenigen fundamentalen inhaltlichen Aussagetypen zu identifizieren, die in jedem Menschenbild enthalten sind. Die so gewonnene Menschenbild-Kategorienlehre benennt zehn Inhaltstypen, die in jedem Menschenbild zu finden sind. Mit den weitreichenden Auswirkungen von Menschenbildern auf das Wahrnehmen, Denken und Handeln von Individuen, auf die gesellschaftlichen Institutionen und auf das menschliche Selbst setzt sich die Untersuchung im sechsten Schritt auseinander. Sie kommt dabei zum Schluss, dass Menschenbilder – wenigstens zum Teil – selbsterfüllenden Prophezeiungen gleichen: Menschenbilder tragen dazu bei, dass Menschen mit der Zeit das werden, was ihnen ihre Bilder vorgeben. Im Schlusskapitel werden schließlich noch knapp die anthropologischen und ethischen Implikationen der im zweiten Teil erarbeiteten Theorie expliziert. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob es Kriterien der Wahrheit und Richtigkeit von Menschenbildern gibt und ob der ethische Relativismus, in den die erarbeitete Theorie zu führen scheint, zurückgewiesen werden kann. 20 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Teil I Zum Begriff

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Einleitung

Der Begriff des Menschenbildes ist breit und unscharf. Jede eingehendere Beschäftigung mit ihm und dem Phänomen des Menschenbildes steht daher zunächst vor der Aufgabe, ebendiesen zu präzisieren. Dies wird im Folgenden in zwei Arbeitsschritten geschehen: In einem ersten Arbeitsschritt wird eine begriffsgeschichtliche Untersuchung vorgenommen, die das Ziel hat, die Entstehung und Entwicklung des Begriffs nachzuzeichnen und seinen mitunter erstaunlichen Volten nachzuspüren. Auf diese Weise sollen die semantischen Tiefendimensionen des Begriffs freigelegt, sein enormes Bedeutungsspektrum ausgebreitet und seine verschiedenen semantischen Schichten fein säuberlich isoliert werden. Dies geschieht einerseits aus Interesse an der Sache, dient aber auch zur Klärung des Begriffs. Um ihn präzise einsetzen zu können, müssen die verschiedenen historisch gewachsenen Verwendungsweisen des Begriffs klar differenziert und zugeordnet, und die vielen Konnotationen, die dieser Begriff transportiert, erkannt und kontrolliert werden. Nur so wird es gelingen, zu einem vertieften Verständnis des philosophisch relevanten Menschenbildbegriffs zu gelangen, ihn von anderen Verwendungsweisen zu unterscheiden und ihn gezielter einzusetzen. Ist der philosophisch relevante Menschenbildbegriff einmal in seiner Genese und seiner historischen Tiefendimension verstanden, kann der zweite Arbeitsschritt in Angriff genommen werden: die systematische Analyse desselben. Deren Ziel ist es, die gegenwärtige Verwendungsweise dieses Begriffs im Detail zu durchleuchten, ihn durch eine Definition schärfer zu konturieren und durch die Einführung einiger zusätzlicher begrifflicher Unterscheidungen so weit zu präzisieren, dass er für den Fortgang der Untersuchung brauchbar wird.

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Begriffsgeschichtliches

Das folgende Kapitel stellt sich der Aufgabe, eine begriffsgeschichtliche Untersuchung der Begriffe »Menschenbild« und »Bild des Menschen« in Angriff zu nehmen. 1 Es leistet auf diese Weise einen ersten Beitrag zur bislang sträflich vernachlässigten Klärung dieses für die philosophischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen so wichtigen Begriffs. 2 Die Analyse wird sich dabei auf die deutschen Begriffe beschränken. Dies hat weniger pragmatische Gründe – eine Untersuchung vergleichbarer anderssprachiger Ausdrücke müsste den hier gegebenen Rahmen zwangsläufig sprengen –, sondern ist in erster Linie sachlich gerechtfertigt: Zum einen dadurch, dass der moderne Begriff »Menschenbild«, der uns hier interessiert, ein – worauf später noch näher einzugehen sein wird – deutsches Spezifikum zu sein scheint, das in anderen Sprachen kein vollständiges Äquivalent hat. Zum anderen dadurch, dass der Begriff bzw. seine griechischen und lateinischen Äquivalente im antiken und mittelalterlichen Denken keine Rolle spielen. Zwar kommt dem Begriff des Bildes nicht nur in der christlichen Philosophie des Mittelalters, sondern schon im Denken der griechischen und römischen Antike eine nicht unbedeutende Funktion zu. Dies nicht zuletzt auch in anthropologischen Kontexten, gilt der Mensch doch sowohl nach griechisch-platonischer als auch nach jüdisch-christlicher Auffassung jeweils als Abbild eines göttlichen Urbildes. Der Begriff »eikon anthropou« (είκών άνθρώπου) kommt in diesen Epochen allerdings ebenso wenig vor wie das lateinische »imago hominis«. Selbst bei Platon, dem Bildtheoretiker der Antike schlechthin, findet sich der Mensch kein einziges Mal als Eine Kurzversion dieses Kapitels wurde publiziert unter: Zichy, Michael, Menschenbild. Begriffsgeschichtliche Anmerkungen, in: Archiv für Begriffsgeschichte 56 (2014), 7–30. 2 Allein Graf bietet einen begriffsgeschichtlichen Aufriss. Dieser greift allerdings zu kurz und bleibt undifferenziert. Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm, Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, München 2009. 1

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Die Ursprünge

Bild bezeichnet. 3 Bei Plotin fällt der Begriff »eidolon anthropou« (έίδωλον άνθρωπου) ein einziges Mal: Er bezeichnet den Menschen als das konkrete körperliche Abbild der Seele. 4 Im Mittelalter von Bedeutung ist dann freilich der Begriff der »imago dei«, der Begriff »imago hominis« fällt demgegenüber nicht. 5 Die begriffsgeschichtliche Analyse kann sich also mit guten Gründen auf den deutschen Sprachraum beschränken. Der Begriff des »Menschenbildes«, so wie er uns heute vertraut ist, ist ein spezifisch deutscher Begriff.

Die Ursprünge Die etymologischen Wurzeln des Begriffs »Menschenbild« reichen zurück in das 8. Jahrhundert. Sie liegen in den althochdeutschen Worten manalīhha, manalīcha, manlīhha, manlīcha, manhalīhho, manalīcho (angelsächsich: manlīca; gothisch: manleika), die im Allgemeinen Bild, Menschendarstellung und Statue und im Besonderen die Darstellung des menschlichen Gesichts bedeuten. Sie stehen für das griechische eikon (είκών) und die lateinischen Ausdrücke anaglypha, imago, effigies und statua. 6 Im Mittelhochdeutschen lässt sich der Begriff bis in das 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Zum ersten Mal taucht er wahrscheinlich in dem berühmten, zwischen 1200 und 1210 entstandenen Versepos Parzival von Wolfram von Eschenbach auf. Im Vers 462 im neunten Buch des für diese Epoche bedeutendsten Epos ist von Gott, der für die Menschheit zum Menschenbild wurde, d. h. in Jesus Christus die Gestalt des Menschen annahm, die Rede; es heißt dort:

Vgl. Merki, Hubert, Homoiosis Theo. Von der platonischen Angleichung an Gott zur Gottähnlichkeit bei Gregor von Nyssa, Freiburg im Breisgau 1952, 67 ff. 4 Plotin, Enn. VI 7, 5 (Plotin, Plotins Schriften, Bd. 3, Die Schriften 30–38 der chronologischen Reihenfolge, übers. v. Richard Harder, Hamburg 1964, 258 f.) 5 Zum mittelalterlichen Bildbegriff vgl. Bauch, Kurt, Imago, in: Boehm, Gottfried (Hg.), Was ist ein Bild?, München 21995, 275–299; ferner Daut, Raimund, Imago. Untersuchungen zum Bildbegriff der Römer, Heidelberg 1975. 6 Vgl. Bild, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 2, Leipzig 1854–1961, 8–14, Quelle: http://woerterbuchnetz.de/DWB [24. 11. 2015]; Köbler, Gerhard, Althochdeutsches Wörterbuch, o. O. 62014, Quelle: http://www.koebler gerhard.de/ahdwbhin.html [24. 11. 2015]. 3

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Begriffsgeschichtliches

er hât vil durch uns getân sît sîn edel hôher art durch uns ze menschen bilde wart. Großes hat er für uns getan, ist doch sein Adel, seine Majestät für uns dem Menschen gleich geworden. 7

Etwas später findet sich der Begriff im Trojanerkrieg von Konrad von Würzburg 8 und im höfischen Epos Willehalm von Ulrich von dem Türlîn, einem vermutlich aus St. Veit im österreichischen Kärnten stammenden Epiker. Der zwischen 1261 und 1268 verfasste Willehalm stellt eine umfangreiche, ca. 10.000 Verse umfassende Vorgeschichte zum gleichnamigen Versepos Wolfram von Eschenbachs dar. Gleich dreimal, in den Versen 108, 148 und 193, fällt in diesem Werk Ulrichs der Ausdruck »menschenbilde«. 9 ich bit dich, daz iht werd verlorn so schon ein menschen bilde! min gelobe wurde wilde, wurd si von irretvm verleittet. 10 Ich bitte dich, dass nicht verloren werde so ein schönes Menschenbild! Mein Glaube ginge auf Abwege, würde sie vom Irrtum verleitet.

Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, übers. v. Peter Knecht, Berlin/New York 1998, 466. Karl Simrock übersetzt die Zeilen folgendermaßen: »Und was er that zu unserm Frommen, / Da der Allerhöchste mild / Uns zu Liebe ward zum Menschenbild.« Vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival und Titurel. Rittergedichte von Wolfram von Eschenbach, übers. u. erläutert v. Karl Simrock, Stuttgart 61883, 173. Zu Wolfram von Eschenbach vgl. Bumke, Joachim, Wolfram von Eschenbach, Stuttgart 82004. 8 Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg, hg. v. Albert von Keller, Stuttgart 1858, 90 (Vers 7478). 9 Meister Ulrich von dem Türlîn, Willehalm (Bibliothek der mittelhochdeutschen Literatur in Böhmen 4), hg. v. Samuel Singer, Prag 1893. Seit Ende des 20. Jahrhunderts figuriert das Epos unter dem Namen »Arabel«: Ulrich von dem Türlin, Arabel. Die ursprüngliche Fassung und ihre Bearbeitung kritisch herausgegeben von Werner Schröder, Stuttgart/Leipzig 1999. Eine Übersetzung des Epos liegt bislang nicht vor. Zu dem Epos und seinem Autor vgl. die Einleitungen in den beiden Ausgaben. 10 Ulrich von dem Türlin, Arabel, 100 (Vers 108, 26–29, Version A); Übersetzung von Julian Sagmeister und Katharina Zeppezauer-Wachauer. 7

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Die Ursprünge

Swen kristen gelobe hie zvhet, vnfrode den immer flvhet, div vns erbet von Adam. Menschen bilde er an sich nam, div menscheit vnser sippe wart; 11 Jeden, den der christliche Glaube hier an sich zieht, flieht für immer die Unfreude, die uns von Adam vererbt ist. Er nahm das Bild eines Menschen an, die Menschheit wurde unsere Sippe; mit lachenne sprach Arabel do: »nv enwelle der, des gotheit menschenbilde dvrch vns treit! e vergezze ich min selber gar.« 12 Lachend sprach da Arabel: »Das möge der verhüten, dessen Göttlichkeit für uns ein Menschenbildnis trug! Eher vergesse ich mich ganz.«

Nachweisbar ist der Begriff »Menschenbild« des Weiteren auch in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse), 13 der umfangreichsten deutschen Liederhandschrift des Mittelalters, sowie der Jenaer Liederhandschrift, 14 einer bedeutenden Sammlung mittelhochdeutscher Sangspruchdichtung des 13. und 14. Jahrhunderts. Im 14. Jahrhundert findet sich der Begriff dann an prominenter Stelle: In Konrad von Megenbergs um 1349/50 entstandenem Buch der Natur. 15 Dabei handelt es sich um eine allgemeine, relativ systematische Naturgeschichte, die zum Großteil eine Übertragung einer Ulrich von dem Türlin, Arabel, 140 (Vers 148, 1–5, Version A); Übersetzung von Julian Sagmeister und Katharina Zeppezauer-Wachauer. 12 Ulrich von dem Türlin, Arabel, 180 (Vers 193, 12–15, Version A); Übersetzung von Julian Sagmeister und Katharina Zeppezauer-Wachauer. 13 Vgl. menschen-bilde, in: Lexer, Matthias, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch 1, Leipzig 1872–1878, Sp. 2103, Quelle: http://www.woerterbuchnetz.de/Lexer?lemma =menschenbilde [24. 11. 2015]. 14 Vgl. Die Jenaer Liederhandschrift. Mit Unterstützung der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd. 1, hg. v. Georg Holz, Franz Saran u. Eduard Bernoulli, Leipzig 1901, 193 (1. Strophe); 195 (7. Strophe), 197 (17. Strophe) (alle im Boppe [Bl. 111va-113vb], vgl. auch Die Jenaer Liederhandschrift, Quelle: http:// www.urmel-dl.de/Projekte/JenaerLiederhandschrift.html [3. 12. 2015].) 15 Konrad von Megenberg, Das »Buch der Natur«, Bd. 2: Kritischer Text nach den Handschriften, hg. v. Robert u. Georg Steer, Tübingen 2003. 11

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Begriffsgeschichtliches

gekürzten Fassung des Liber de natura rerum von Thomas von Cantimprés darstellt. 16 Megenbergs Buch der Natur enthält aber auch Neues, insbesondere zum Phänomen des Regenbogens und zu einigen Tier- und Pflanzenarten. Im 14. und 15. Jahrhundert gehörte das Buch zu den beliebtesten und gelesensten Schriften, es war in zahlreichen Handschriften verbreitet. Davon zeugt auch, dass es zwischen den Jahren 1475 und 1499 sechs- bis siebenmal aufgelegt wurde. 17 Der Ausdruck »Menschenbild« taucht im neuen Textbestand dieses Buches auf, und zwar einmal als »menschen pild« im Kontext der drei Seiten umfassenden Abhandlung über den Regenbogen 18 und ein zweites Mal als das Kompositum »menschenpild« im Zusammenhang mit der Abhandlung über die Edelsteine, denen im Mittelalter allgemein magische Kräfte zugesprochen wurden. Hier ist von »[…] edlen stain, die menschenpild an in habent oder tierpild oder vogelgestalt […]« die Rede, also von gravierten Steinen, d. h. vor allem Gemmen und Kameen mit menschlichen oder tierlichen Motiven. 19 Auch Heinrich der Teichner, ein im 14. Jahrhundert wirkender und populärer Spruchdichter, kennt den Ausdruck und verwendet ihn mehrmals. In seinen wohl zwischen 1350 und 1370 entstandenen Versen findet sich dabei unter anderem auch die Auffassung, dass ein Mensch, der sich nicht im Griff hat, »ein viech in menschen pild« sei. 20

Thomas Cantimpratensis, Liber de natura rerum, hg. v. Helmut Boese, Berlin/New York 1971. 17 Vgl. Pfeiffer, Franz, Einleitung, in: Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur: die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache, hg. v. Franz Pfeiffer, Stuttgart 1861, V–LII. Vgl. ferner Gottschall, Dagmar, Konrad von Megenbergs Buch von den natürlichen Dingen. Ein Dokument deutschsprachiger Albertus Magnus-Rezeption im 14. Jahrhundert (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 83), Leiden 2004; Spyra, Ulrike, Das »Buch der Natur« Konrads von Megenberg. Die illustrierten Handschriften und Inkunabeln, Köln u. a. 2005; Buckl, Walter, Megenberg aus zweiter Hand. Überlieferungsgeschichtliche Studien zur Redaktion B des Buchs von den natürlichen Dingen (Germanistische Texte und Studien 42), Hildesheim/Zürich/New York 1993; Hayer, Gerold, Konrad von Megenberg »Das Buch der Natur«. Untersuchungen zu seiner Text- und Überlieferungsgeschichte (Münchner Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 110), Tübingen 1998. 18 Konrad von Megenberg, Buch der Natur, 124 (Buch II.30). 19 Ebda., 463 (Buch IV); vgl. dazu Pfeiffer, Einleitung, XXXVII; ferner Zwierlein-Diel, Erika, Antike Gemmen und ihr Nachleben, Berlin/New York 2007, insb. 249–263. 20 Die Gedichte Heinrich des Teichners (Deutsche Texte des Mittelalters 46), hg. v. 16

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Die Ursprünge

Aus diesen und anderen Textstellen geht hervor, dass der Ausdruck »Menschenbild« im Mittelalter bzw. seine mittel- und althochdeutschen Äquivalente drei Bedeutungen haben können: Menschenbild hat zum ersten, wie bei Konrad von Megenberg, die wörtliche Bedeutung einer materiellen Abbildung des Menschen. Eine gemalte oder in Stein gehauene oder sonst wie beschaffene sinnlich wahrnehmbare Darstellung des Menschen ist ebenso wie das menschliche Spiegelbild dieser Verwendung zufolge ein Menschenbild. Dieser Gebrauch hat sich bis heute erhalten und ist insbesondere in der Kunst und den Kunstwissenschaften anzutreffen. 21 Zum zweiten wird mit dem Ausdruck Menschenbild, wie bei Heinrich dem Teichner, nicht nur das Abbild, sondern direkt die materiell-körperliche Gestalt des Menschen bezeichnet. Diese Verwendungsweise tritt häufig in einem religiös-christlichen Kontext auf und weist einen Bezug zum Gedanken der Inkarnation Gottes auf. Bei der oben angeführten Stelle aus Wolfram von Eschenbachs Parzival ist dies ebenso der Fall wie im 148. Vers von Ulrichs Willehalm, in dem der Christenglaube, demzufolge Gott »Menschenbilde an sich nahm«, also in Jesus Christus die Gestalt des Menschen annimmt, besungen wird. Auch in einem mittelalterlichen geistlichen Schaubzw. Passionsspiel, das gegen Ende des 13. Jahrhunderts auf einer im Kloster Lichtenthal bei Baden-Baden aufgefundenen Pergamenthandschrift festgehalten wurde, klagt Maria, dass ihr Sohn am Kreuz nicht mehr eines Menschen Bild hat, also nicht mehr wie ein Mensch aussieht: »Daß mein kint erplichen ist, warer got und warer krist, daß muß mich immer reuen. Er hat menschen pildes niht, großes unrecht im geschieht, sie hant in verspuen.« 22 Ein auf 1230 datiertes Kirchenlied hebt mit den Worten an: »Du Got in menschen bilde erschein […]« 23 Und ein weiteres frühes Kirchenlied trägt sogar den Titel: »Got nach des menschen bilde«. 24 Heinrich Niewöhner, Bd. 2, Berlin 1954, 102. Zu Heinrich dem Teichner vgl. Bögl, Heribert, Soziale Anschauungen bei Heinrich dem Teichner, Göppingen 1975. 21 Eines der ersten Werke mit dem Begriff Menschenbild im Titel war ein – allerdings nur 12 Seiten starkes – kunstwissenschaftliches: Tiede, August, Das Menschenbild in der Kunst, Berlin 1901. 22 Wackernagel, Philipp, Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts. Mit Berücksichtigung der deutschen kirchlichen Liederdichtung im weiteren Sinne und der lateinischen von Hilarius bis Georg Fabricius und Wolfgang Ammonius, Leipzig 1867, 347. 23 Ebda. 85. 24 Ebda., 164.

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Begriffsgeschichtliches

Zum dritten kann der Begriff Menschenbild den Menschen selbst bezeichnen. Die menschliche Gestalt steht – pars pro toto – für den Menschen als Ganzen. In diesem Sinne ist im 108. Vers von Ulrichs Willehalm von einem schönen Menschenbilde, d. h. einem schönen Menschen – nämlich Arabel – die Rede, der nicht in die Irre gehen darf. Ein weiterer früher Beleg für diese synekdochische Verwendungsweise liegt in einer Anweisung Herzog Albrecht II. von Habsburg (bzw. Herzog Albrecht V. von Österreich) vor, der im Jahre 1421 im Kampf gegen die Hussiten »all menschen pilt, edl und unedl« beschreiben ließ. 25 Gleiches findet sich in der Kolmarer Liederhandschrift, einer Sammlung von Sprüchen und Liedern des 12., 13. und frühen 14. Jahrhunderts. Darin heißt es einmal: »Im Tempel auff gieng zway menschen pilt«. 26 Eine ähnliche Verwendung hat sich in den heute noch gebräuchlichen umgangssprachlichen, etwas altertümlich anmutenden Ausdrücken »Weibsbild« und »Mannsbild« erhalten. Diesem Gebrauch liegt christliches und – über dieses vermittelt – platonisches Gedankengut zugrunde. 27 Nach platonischer und neuplatonischer Auffassung ist der Mensch sinnlich-materielles Abbild seines intelligiblen Urbildes, der Idee des Menschen. Nach christlicher Auffassung ist der Mensch Abbild bzw. Ebenbild Gottes. Dies wird im Alten Testament in Gen 1,26 f., Gen 5,1, Gen 9,6 und Psalm 8,6, im Neuen Testament in den Briefen des Apostels Paulus an die Korinther (2 Kor 4,4), an die Kolosser (Kol 1,15) und an die Hebräer (Heb 1,3) ausgesagt. 28 Am locus classicus, in Gen 1, 26 und 27, spricht Gott am sechsten Tag der Schöpfung: Vgl. Maschek, Hermann (Hg.), Deutsche Chroniken (Deutsche Literatur: Reihe Realistik des Spätmittelalters 5), Darmstadt 1964, 308. 26 Meisterlieder der Kolmarer Liederhandschrift (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 68), hg. v. Karl Bartsch, Stuttgart 1862, 107; zur Handschrift vgl. die Einleitung von Bartsch im selben Werk sowie Welker, Lorenz, Kolmarer Liederhandschrift, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hg. von Ludwig Finscher, Kassel u. a. 21994 ff., Sachteil Bd. 5 (1996), Sp. 450–455. 27 Zur Übernahme der platonischen Abbildtheorie durch das christliche Denken vgl. Belting, Hans, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, 173 ff. 28 Zum paulinischen Bildbegriff vgl. Lorenzen, Stefanie, Das paulinische Eikon-Konzept, Tübingen 2008; zum Konzept der Gottesebenbildlichkeit im Alten Testament vgl. Schellenberg, Annette, Der Mensch, das Bild Gottes? Zum Gedanken einer Sonderstellung des Menschen im Alten Testament und in weiteren altorientalischen Quellen, Zürich 2011. 25

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Die Ursprünge

Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.

Ist folglich in diesem Sinne vom Menschenbild die Rede, dann ist damit der Mensch gemeint, insofern er Abbild eines (göttlichen) Urbildes ist. Ein schöner Beleg für diesen Zusammenhang findet sich bei dem 1530 geborenen und 1592 verstorbenen deutschen evangelischen Theologen, Kirchenlieddichter und -komponisten Nikolaus Selnecker. In seiner Auslegung des 15. Verses des Psalm 17 (»Ich aber will schauen dein Antlitz in Gerechtigkeyt, ich wil satt werden / wenn ich erwache nach deinem Bilde«) hält er ausdrücklich fest, dass der Mensch deswegen Menschenbild sei, weil er von Gott nach Gottes eigenem Bildnis erschaffen wurde. Indem Gott in das »tote Bild« des menschlichen Körpers den gottgleichen Geist einhauchte, schuf er ein »herrlichs, lebendigs Menschenbilde«: Adam war zum ersten nichts / dann Erde / und Gott nam von der Erde / und macht ein fleischlichen leib daraus. Das war das erste teil des ersten menschen / der noch nichts anders ist / denn ein todes bild / und formirter leyb / der noch nichts umb sich selbs weiß / noch vestehet / noch empfindet. Darnach bließ Got ein lebendigen athem in sein angesicht / da ward das fleisch und das menschliche bild recht lebendig. Das war der ander teyl des ersten menschen / der fing nun an zu sehen / hören / wissen / und sich auff Gott verstehen. Den leib aber oder das fleysch nam GOtt aus der Erden / Den Geist nam er vom himel / oder von sich selbs / Also ward auß zweyen stücken ein herrlichs / lebendigs Menschenbilde. Ehe aber GOtt den Menschen schuff / sprach er / dass er den menschen schaffen wolt nach seinem bildniß. Nun ist aber GOtt kein erde / kein riebe / kein same / sondern ist ein Geistreichs leben / und ein ewiger lebendiger Geist / Darumb ist auch der mensch nach dem fleisch nit das rechte bilde GOttes / sondern nach dem edlesten und fürnembsten teyl / der nit allein vom Himel / und von GOtt / sondern auch nach GOtt geschaffen ist. 29 Selnecker, Nikolaus, Der gantze Psalter des Königlichen Propheten Davids: außgelegt und in drey Bücher getheylt. Nemlich die ersten fünffzig Psalmen : ordenlich nach einander, dem gemeinen Mann und frommen einfeltigen Christen zu gut und in diser elenden zeit zu trost und unterricht geprediget und in Druck gegeben. Ausgelegt in 3 Büchern, Bd. 1, Nürnberg 1565 (uneinheitliche Schreibweise im Original). Zu Selnecker vgl. Egloffstein, Hermann von und zu, Selneccer, Nicolaus, in: Allgemeine Deutsche Biographie 33 (1891), 687–692, Quelle: http://www.deutsche-biographie. de/pnd118613073.html?anchor=adb [3. 12. 2015]; Kloeden, Wolfdietrich von, Seln-

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Aus diesen Ausführungen geht klar hervor, dass der Mensch deswegen Menschenbild ist, weil er nicht nur von Gott, sondern nach Gott, als Abbild Gottes, geschaffen wurde. Das Abbildtheorem spielte ja in den trinitarischen, christologischen und anthropologischen Auseinandersetzungen der christlichen Philosophie und Theologie des Mittelalters eine wichtige Rolle. Es hat zu differenzierten Überlegungen zur Bestimmung des Abbildungsverhältnisses zwischen Gott Vater und Gott Sohn auf der einen Seite und zwischen Gott und dem Menschen auf der anderen Seite Anlass gegeben und dadurch wesentlich zur Entwicklung der mittelalterlichen Bildtheorie beigetragen. Denn in der Bibel finden sich eben einerseits Aussagen, denen zufolge der Mensch Abbild Gottes sei. In Gen 5, 1–3 ist überdies davon die Rede, dass Adam seine Ähnlichkeit mit Gottes Antlitz an seine Nachkommen vererbt. Dies deckt sich auch mit der in der griechischen Hochantike verbreiteten Vorstellung, dass Söhne Abbilder ihrer Väter seien. Andererseits findet sich im Neuen Testament aber auch die Auffassung, dass Christus und nicht Adam Sohn Gottes sei, und dass der gläubige Christ Abbild Christi sei (2 Kor 4,4; Röm 8,29). Dem entspricht auch Paulus’ Ansicht, dass der Mensch nicht von Natur aus Gott ähnlich sei, sondern dies erst werden müsse, indem er Abbild Christi und dadurch zum Abbild des Vaters werde (1 Kor 15,49; 2 Kor 3,18). Gelöst wurde diese Schwierigkeit des imago-Begriffs im Mittelalter – in Anschluss an Irenäus von Lyon und maßgeblich geprägt von Augustinus – durch die Einführung einer doppelten Bestimmung: Das Abbild könne sowohl als Ausdruck (expressio) bzw. Zeichen als auch als Ähnlichkeit (similitudo) bestimmt werden. Christus wäre in diesem Sinne sowohl Ausdruck von Gott Vater als auch vollkommene Ähnlichkeit mit ihm, während der normale Mensch nur Ausdruck Gottes sei und erst durch Christus – freilich immer nur unvollkommene – Ähnlichkeit mit Gott Vater erlangen kann. 30 Im synekdochischen Menschenbildbegriff bilden sich all diese differenzierten Überlegungen freilich nicht ab. Das Theorem der Gotecker, Nikolaus, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 9, Herzberg 1995, 1376–1379. 30 Vgl. dazu Bauch, Imago, 290 ff.; Cramer, Florian, Der Begriff »Imago«, Berlin 2000, 7 f., Quelle: http://cramer.pleintekst.nl/all/imago/imago.pdf [6. 7. 2015], ferner Schwanz, Peter, Imago Dei als christologisch-anthropologisches Problem in der Geschichte der Alten Kirche von Paulus bis Clemens von Alexandrien, Göttingen 1979, 121 f. Zum Abbildtheorem vgl. Schmidinger, Heinrich/Sedmak, Clemens (Hg.), Der Mensch – ein Abbild Gottes, Darmstadt 2009.

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tesebenbildlichkeit des Menschen gibt aber den geistesgeschichtlichen Hintergrund dieser Begriffsverwendung ab. Und dieser bleibt nicht ohne Wirkung: Denn obwohl die synekdochische Verwendungsweise zunächst nur dazu dient, den Menschen in concreto zu bezeichnen, sind in ihr die erst viel später auftretende Idealisierung und Essenzialisierung des Menschenbildbegriffs, die unseren heutigen Gebrauch kennzeichnen, bereits angelegt. Denn wenn die Abbildhaftigkeit des Menschen, wie bereits Augustinus betont und wie von Selnecker exemplarisch ausgeführt, nicht in körperlichen, sondern in geistigseelischen Merkmalen begründet liegt, dann bezieht sich die Bildhaftigkeit des Menschen eben primär auf geistig-seelische, also ideelle Aspekte. 31 Diese Implikation steht den beiden anderen Begriffsverwendungen, die in erster Linie auf die körperliche Gestalt des Menschen abzielen, entgegen. Allerdings darf sie nicht überbewertet werden. Denn in der christlichen Tradition spielen bei der Deutung der Gottesebenbildlichkeit in der Regel auch körperliche Merkmale wie z. B. der aufrechte Gang eine wichtige Rolle. 32 Zudem sollte nicht übersehen werden, dass der Mensch im christlichen Denken in der Regel als körperlich-geistige Einheit begriffen wurde. Unabhängig davon, worin die Abbildhaftigkeit nun konkret begründet ist und ob bei der Bestimmung der Bildhaftigkeit des Menschen nun eher körperliche oder geistige Aspekte im Vordergrund stehen: Mit der Abbildrelation im christlichen Denken ist in jedem Fall das benannt, was den Menschen essenziell kennzeichnet. Der Mensch ist seinem Wesen nach Abbild Gottes. Wenn der Mensch folglich als Bild angesprochen wird, dann wird er damit seinem Wesen nach, d. h. in dem, was den Menschen als Menschen ausmacht, angesprochen. Der synekdochische Menschenbildbegriff beherbergt folglich einen ontologischen und metaphysischen Sinn. In den Vordergrund tritt dieser Aspekt freilich erst sehr viel später. Alle drei Verwendungsweisen des Menschenbildbegriffs, also als Bezeichnung einer bildhaften Darstellung des Menschen, als BezeichWeil sich der Mensch, der als einziger Bild Gottes ist, vom Rest der Schöpfung durch seine Geistigkeit unterscheidet, liegt in diesem einzigartigen Merkmal der Grund der Gottesebenbildlichkeit; vgl. Augustinus, De Genesi ad Litteram III, 20 (Augustinus, Aurelius, Über den Wortlaut der Genesis, übers. v. Carl Johann Perl, Bd. 1/Buch I–IV, Paderborn 1961, 101 ff.). 32 Zum aufrechten Gang vgl. Bayertz, Kurt, Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, München 2012. 31

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nung der menschlichen Gestalt und als Bezeichnung eines konkreten Menschen selbst, entsprechen sowohl der reichen Semantik des althochdeutschen bilidi, das »Bild, Darstellung, Beispiel, Vorbild, Gestalt, Form, Wesen, Vorstellung, Begriff, Urbild, Abbild, Ebenbild, Mal«, aber auch »Gleichnis, Beschaffenheit, Aussehen, Figur, Bildwerk« bedeuten kann, 33 als auch der Semantik des lateinischen imago und des griechischen είκών. Für die anthropologische Reflexion freilich wird sowohl in der Antike als auch auch im Mittelalter auf eine genauere Terminologie zurückgegriffen; die Begriffe είκών άνθρώπου und imago hominis kommen, wie schon erwähnt, nicht vor. Im Mittelalter von Bedeutung sind hingegen unter anderem die wesentlich präziseren Begriffe figura humana und forma humana. Mit dem ersten ist die körperliche Gestalt des Menschen und mit dem zweiten die aristotelisch verstandene ideelle Form des Menschen bezeichnet. So drehte sich etwa eine der mittelalterlichen anthropologischen Debatten – insbesondere angesichts extrem Missgebildeter – um die Frage, ob eine erkennbare menschliche Gestalt bereits hinreichendes Zeichen einer menschlichen Natur sei, also die figura bereits Zeichen der forma sei. 34 Der Begriff des Menschenbildes, so wie er im 13. Jahrhundert auftaucht, ist demgegenüber grob unscharf. Er bildet diese Differenzierungen nicht ab, muss dies aber auch nicht. Denn es handelt sich bei ihm um keinen wissenschaftlichen, sondern um einen religiös konnotierten umgangssprachlichen und literarischen Begriff, der lediglich alltagspraktischen und vielleicht noch ästhetischen Anforderungen zu entsprechen hat.

Doppelte Entsinnlichung Obwohl der Begriff des »Menschenbildes« zunehmende Verbreitung findet, wird er bis Ende des 18. Jahrhunderts fast ausschließlich in diesen drei Bedeutungen verwendet. Sowohl das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm als auch das Vollständigste Wörterbuch der deutschen Sprache von Wilhelm Hoffmann aus dem Jahre 1861 Vgl. Bilidi, in: Köbler, Althochdeutsches Wörterbuch. Vgl. Köhler, Theodor Wolfram, Homo animal nobilissimum: Konturen des spezifisch Menschlichen in der naturphilosophischen Aristoteleskommentierung des dreizehnten Jahrhunderts, Bd. 1, Leiden/Boston 2008, 403 ff.

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kennen nur diese. Bei den Gebrüdern Grimm ist vermerkt: »Menschenbild, n. gestalt des menschen und mensch selbst nach seiner gestalt«. 35 Bei Hoffmann heißt es ebenso kurz: »Menschenbild […] bildl. die Gestalt des Menschen, der Mensch als Geschöpf […]« 36 In dem Werk, in dem der Begriff »Bild des Menschen« wohl zum ersten Mal – und in eher randständiger Position – im Kontext der Philosophie fällt, wird dieser Bezug zur sinnlich-materiellen Gestalt des Menschen noch einmal deutlich. In seinen 1777 erschienenen Untersuchungen über den Menschen unterscheidet Dietrich Tiedemann, ein später an der Universität Marburg lehrender Philosoph und ausgewiesener Kenner der antiken Philosophiegeschichte, zwischen dem Bild des Menschen und der allgemeinen Idee des Menschen: Was ist denn nun das, was eigentlich die allgemeine Idee ausmacht, und womit sich unsere Seele beschäftigt, wenn sie eine allgemeine Idee denkt? Bey vielen ist es weiter nichts als ein gewißes Bild, von dem man sehr viele individuelle Züge getrennt hat, und das man nun als eine Abbildung des ganzen Geschlechtes ansieht. So ist die allgemeine Idee des Menschen bey den meisten nichts als eine gewiße menschliche Figur, in der man die Gesichts-Züge, die eigentliche Gestalt aller besondern Theile sich nicht bestimmt denkt, und sie als ein Bild des Menschen übehaupt ansieht. Ein solches Bild aber ist eigentlich keine allgemeine Idee, weil es nothwendig noch viele Züge haben muß, die zur allgemeinen Idee nicht gehören, als die Farbe, die Größe, einen gewißen Umriß, u. s. w., die alle von der allgemeinen Idee ausgeschloßen werden müßten. Bey andern wird die Allgemeinheit einer Idee durch eine gewiße Reihe von Bildern ausgedrückt, sie entwerfen sich nach einander verschiedene Bilder von weißen, schwarzen, großen, kleinen, Menschen u. s. w., und machen sich dadurch das Allgemeine der Idee des Menschen sichtbar. Auch dies kann noch im strengen Verstande keine allgemeine Idee seyn, weil hier die allgemeinen Charaktere des Menschen nicht auf einmahl ausgedrückt, sondern immer individuelle Bilder entworfen werden. 37

Menschenbild, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 12, Leipzig 1854–1961, 2041, Quelle: http://www.woerterbuchnetz.de/DWB [8. 7. 2015]. 36 Hoffmann, Wilhelm, Vollständigstes Wörterbuch der deutschen Sprache wie sie in der allgemeinen Literatur, der Poesie, den Wissenschaften, Künsten, Gewerben, dem Handelsverkehr, Staats- und Gerichtswesen gebräuchlich ist, Bd. 4, Leipzig 1861, 39. 37 Tiedemann, Dietrich, Untersuchungen über den Menschen, Bd. 1, Leipzig 1777, 284 f. Zu Tiedemann vgl. Liebmann, Otto, Tiedemann, Dietrich, in: Allgemeine Deutsche Biographie 38 (1894), 276 f., Quelle: http://www.deutsche-biographie.de/ ppn117376280.html?anchor=adb [8. 7. 2015]. 35

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Hieraus geht klar hervor, dass das »Bild des Menschen« an die körperliche, sinnlich wahrgenommene Erscheinung gekoppelt ist, die notwendig plural bleibt, während die Idee des Menschen eine einheitliche Abstraktion ist, die, wie der am Empirismus Lockes geschulte Tiedemann ausführt, eine Leistung der »Organe der Seele« ist. Die Idee des Menschen ist zu verstehen als, wie er sagt, »gewiße aus einzelnen Bildern gesammelte, und in eins zusammengedachte Modifikationen der Seele«, die die Seele schließlich zur »Vorstellung des Menschen überhaupt« zusammensetzt. 38 Bild und Idee unterscheiden sich also hinsichtlich ihres Verallgemeinerungs- und Abstraktheitsgrades: Das »Bild des Menschen« ist eine geistige Vorstellung, die den vielfältigen sinnlichen Wahrnehmungen verhaftet bleibt, die »Idee des Menschen« ist hingegen der von allen sinnlichen Eindrücken gereinigte, abstrakte und einheitliche Begriff des Menschen. Doch dass sich Tiedemann überhaupt veranlasst sieht, eine Unterscheidung zwischen Bild und Idee des Menschen vorzunehmen, kann auch als erstes Indiz einer sich bereits abzeichnenden Begriffsveränderung gedeutet werden – die Einträge in den eingangs zitierten Lexika sind daher streng genommen unvollständig. Denn im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, also in der von Reinhart Koselleck so genannten Sattelzeit mit ihren enormen wissenschaftlichen, technischen, sozialen und geistigen Umwälzungen, 39 sind tatsächlich auch Veränderungen im Gebrauch des Begriffs »Menschenbild« beobachtbar. So lässt sich zunächst feststellen, dass sich der Begriff von seiner Fixierung auf die Materialität der Darstellung des Menschen löst. Dies wird auf einen zweiten Blick auch schon an Tiedemanns Begriffsgebrauch klar. Denn das Bild des Menschen, von dem er spricht, ist zwar immer noch auf die körperliche Gestalt des Menschen bezogen, aber – und darin liegt die semantische Verschiebung – es handelt sich offenbar nicht um eine materielles, sondern um ein geistiges Bild, um eine Vorstellung. Das Medium der Darstellung wird vom Physischen auf das Psychische erweitert. Dem

Tiedemann, Untersuchungen, 285 f. Vgl. Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1979, XIII–XXIII; Ders., Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: Conze, Werner (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, 10–28, hier 14 f.

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entspricht, dass der Begriff zunehmend dazu dienen kann, auch sprachliche, literarische Darstellungen vom Menschen zu bezeichnen. Im Grunde nimmt der Menschenbildbegriff damit aber nur ein Merkmal auf, das im Begriff des Bildes seit jeher gegeben ist. Schon in der Antike wie im Mittelalter werden auch geistige Repräsentationen als Bilder bezeichnet. Dieser mentalistische Gebrauch, der oft in der Beschreibung des Erkenntnisprozesses zur Anwendung kommt, spielt aber neben dem ontologisch-metaphysischen Gebrauch eine nur untergeordnete Rolle. Erst in der neuzeitlichen Philosophie rückt der mentalistische Bildbegriff ins Zentrum. In erkenntnistheoretischen wie bewusstseinstheoretischen Analysen dient er nun zur Bezeichnung von Vorstellungen und Wahrnehmungen. Dabei ist die Annahme leitend, dass die Verarbeitung von geistigen Repräsentationen, d. h. Kopien bzw. Abbildern der durch Sinneswahrnehmung gegebenen Information, für geistige Prozesse insgesamt zentral ist. 40 Diese geistigen Bilder können dabei in diesem Zusammenhang eher realistisch im Sinne von Abbildern wirklicher, sinnlich erfassbarer Gegebenheiten verstanden werden, oder aber im idealistischen Sinne eher als Erscheinungen bzw. als Konstrukte der spontanen Tätigkeit des Geistes. Erstere Auffassung liegt der empirischen Erkenntnistheorie, die auch bei Tiedemann zum Tragen kommt, zugrunde, letztere der idealistischen Philosophie im Anschluss an Kant. Im Schematismus-Kapitel von Kants Kritik der reinen Vernunft etwa ist es die Einbildungskraft, die die Begriffe gemäß dem Schematismus des reinen Verstandes mit bildhaften Vorstellungen ausstattet und so anschaulich macht. 41 In Fichtes Idealismus rückt der Bildbegriff dann überhaupt ins Zentrum der Philosophie. 42 Neben der Mentalisierung des Menschenbildbegriffs lässt sich ferner feststellen, dass sich der Begriff noch in einem weiteren Sinne von der Fixierung auf das Materiell-Körperliche zu lösen beginnt. Bei Tiedemann noch klar auf materiell-körperliche Aspekte des Menschen bezogen, kann der Begriff nämlich schon bald charakterliche bzw. im weitesten Sinne geistige Aspekte des Menschen benennen. Vgl. Sachs-Hombach, Klaus, Bildbegriff und Bildwissenschaft, in: Gerhardus, Dietfried/Rompza, Sigurd (Hg.), kunst – gestaltung – design, Bd. 8, Saarbrücken 2002, 6– 26, hier 11 f. 41 Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft 1, Werkausgabe, Bd. 3, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1985, 183–194 (B 170–187/A 131–148). 42 Vgl. Janke, Wolfgang, Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes, Berlin/New York 1993. 40

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Ein erster Anklang dieser doppelten vergeistigenden Erweiterung findet sich in einer von einem unbekannten Autor verfassten Theaterkritik, die 1787 im Journal aller Journale veröffentlich wurde, einer regelmäßig erscheinenden Zusammenstellung von Artikeln aus »vaterländischen Zeit-Schriften, nebst Auszügen aus den Periodischen Schriften und besten Werken der Ausländer«. In der Besprechung des ersten Aktes eines Werkes, bei dem es sich wahrscheinlich um das Lustspiel Das Portrait einer Mutter oder Die Privatkomödie von Friedrich Ludwig Schröder handelt, heißt es: Wir müssen uns aus dem, was, der Erzälung zu Folge, sich vorher ereignet hat, und aus dem, was den ersten Akt hindurch, vor unsern Augen geschehn ist, ein moralisches Menschenbild zusammensetzen, das nun schon gewisse Hauptzüge und einige Nebenlinien haben wird, die in der folgenden Ausmalung nur ergänzt, nicht aber verfehlt und falsch schattirt seyn dürfen, wenn wir den Maler für einen Meister, und nicht für einen Sudler ansehn sollen. 43

Deutlich zu sehen ist hier, dass der Begriff Menschenbild nicht nur dazu dient, die mentale Repräsentation eines Menschen zu bezeichnen, nämlich diejenige, die der Lustspielautor in seinem Stück mit Worten malt, sondern auch auf die charakterlich-moralischen Eigenheiten dieses mental repräsentierten Menschen abzielt. Das geistige Bild stellt nicht mehr körperliche, sondern geistige Eigenschaften des Menschen dar. Der Begriff Menschenbild erfährt also eine zweifache Erweiterung, die mit einer doppelten Vergeistigung zusammenhängt. Der Begriff kann nun erstens auch geistige Vorstellungen, geistige Bilder, die sich der Mensch vom Menschen macht, bezeichnen. Und zweitens kann er zudem die charakterliche, geistige Gestalt des Menschen benennen. Dies ist, wie bereits erwähnt, im christlich-platonischen Gebrauch des Menschenbildbegriffs angelegt, kommt aber erst jetzt verstärkt zur Geltung. Im Hintergrund dieser Erweiterung dürfen die oft plastischen, narrativen Schilderungen des menschlichen Naturzustandes verHess, Jonas L. von, Journal aller Journale: oder Geist der vaterländischen und fremden Zeitschriften /Januar 1787, Hamburg 1787, 186. Zu Schröder vgl. Friedrich Ludwig Schröders dramatische Werke, hg. von Eduard von Bülow, mit einer Einleitung von Ludwig Tieck, 4 Bände, Berlin 1831; ferner Krone-Balcke, Ulrike, Schröder, Friedrich Ulrich Ludwig, in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), 555 f., Quelle: http:// www.deutsche-biographie.de/ppn118610813.html [24. 11. 2015].

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mutet werden, auf die die Anthropologie und Gesellschafts- bzw. Staatsphilosophie dieser Zeit baut und mit denen sie ihre Argumente zu untermauern sucht. Der Naturzustand des Menschen spielt ja in den sich seit dem 17. Jahrhundert entfaltenden philosophischen Debatten um die rechte Organisation der Gesellschaft und ihre Legitimation eine zentrale Rolle. Unter dem Eindruck des Englischen Bürgerkrieges 1642–1649 argumentierte Thomas Hobbes 1651 mit dem Naturzustand, der im Krieg aller gegen alle besteht (bellum omnium contra omnes), für den Leviathan, den absolutistischen Staat. Gegen Hobbes und den staatlichen Absolutismus, mit den Eindrücken der glücklich verlaufenen glorious revolution von 1688/89 im Rücken sowie mit Blick auf andere funktionierende Gesellschaftsformen – insbesondere der Ureinwohner Amerikas –, entwarfen John Locke und der dritte Earl of Shaftesbury optimistische, von natürlicher Geselligkeit und natürlichem Altruismus gezeichnete Naturzustände. Auch Samuel von Pufendorf, Richard Cumberland und der Baron de Montesquieu kamen durch andere Vorstellungen des Naturzustandes jeweils zu anderen staatsphilosophischen Schlüssen. 44 Während die Zivilisation jedoch wie bei Hobbes zur Überwindung des Naturzustandes oder wie bei seinen Gegenspielern zur sukzessiven Vervollkommnung der im Naturzustand gegebenen guten menschlichen Potentiale dient, wird die Zivilisationsgeschichte bei der berühmtesten und einflussreichsten Schilderung eines Naturzustandes als Verfallsgeschichte inszeniert. In dichten Bildern malt Jean-Jacques Rousseau in seinem berühmten Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes einen hypothetischen Urzustand, in dem die Menschen als Solitäre mit sich und der Natur im Einklang leben. »Ich sehe es [das menschliche Wesen], wie es sich unter einer Eiche satt ißt, wie es am erstbesten Bach seinen Durst löscht, wie es sein Bett am Fuße desselben Baumes findet, der ihm sein Mahl geliefert hat, und damit sind seine Bedürfnisse befriedigt.« 45 Der seit der Entdeckung Amerikas und der Kolonisation Zur sozialphilosophischen Debatte um den Naturzustand in der Philosophie der Neuzeit vgl. Nonnenmacher, Günther, Die Ordnung der Gesellschaft. Mangel und Herrschaft in der politischen Philosophie der Neuzeit: Hobbes, Locke, Adam Smith, Rousseau. Weinheim 1989; ferner Ottmann, Henning, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/1, Die Neuzeit. Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen, Stuttgart 2006. 45 Rousseau, Jean-Jacques, Diskurs über die Ungleicheit – Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen Fragementen und ergänzen44

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immer wieder aufkeimende Topos des »edlen Wilden« kommt in der Folge zu seiner romantischen Blüte. 46 Bestätigung und weitere Popularität erhalten die Thesen Rousseaus durch einen Reisebericht von Louis Antoine de Bougainville, der in seiner Description d’un voyage autour du monde die Südsee-Insulaner idealisierend als fernab jeder Zivilisation lebende, freundliche, naive und glückliche Menschen darstellt. Denis Diderot fühlt sich durch diesen Bericht gar zu seinem Essay Supplément au voyage de Bougainville, einer Verteidigungsschrift der sexuellen Freiheit, angeregt. 47 Doch wie auch immer die Schilderungen des menschlichen Naturzustandes im konkreten Falle aussehen und wodurch auch immer sie inspiriert gewesen sein mögen: Entscheidend an ihnen ist, dass die neuzeitlichen Theoretiker der Gesellschaft mit ihnen letztlich nichts anderes machen, als dass sie jeweils andere Bilder des ursprünglichen Menschen und seiner wesenhaften (und insofern ideellen) Natur zeichnen, um von diesen Bildern dann ihre staats- und gesellschaftsphilosophischen Schlüsse abzuleiten.

Subjektivierung und Verweltanschaulichung Im deutschen Sprachraum beteiligte sich unter anderem der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi an den Debatten um den Naturzustand. In seinem 1797 erschienenen, ebenfalls durch Rousseau inspirierten staatsphilosophischen Werk Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwiklung des Menschengeschlechts skizziert er einen allerdings eher pessimistisch gezeichneten Urzustand des Menschen. Der im Naturzustand von unbefriedigten Bedürfnissen und den inneren Widersprüchen zwischen niederer tierischer und höherer göttlicher Natur, zwischen den Grundtrieben der Selbstsucht und des Wohlwollens geplagte Mensch ist nach Pestalozzi auf die zivilisatoriden Materialen nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier, Paderborn u. a. 31993, 79. 46 Rousseau selbst hat die Vorstellung des »Edlen Wilden« nicht geteilt, wie insbesondere Arthur Lovejoy gezeigt hat, sondern sie wurde ihm von seinen Zeitgenossen fälschlicherweise zugeschrieben; vgl. dazu Lovejoy, Arthur, The Supposed Primitivism of Rousseau’s Discourse on Inequality, in: Ders., Essays in the History of Ideas, Baltimore 1960, 14–37. 47 Vgl. dazu Ellingson, Terry, The Myth of the Noble Savage, Berkeley/Los Angeles/ London 2001.

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sche Vergesellschaftung im Staat angewiesen. Durch sie entsteht auch erst die Möglichkeit, dass sich der Mensch in der Sittlichkeit selbst vervollkommnet. Entscheidend ist nun, dass Pestalozzi die Schilderung des ursprünglichen Naturzustandes explizit mit dem Begriff des »Bildes des Menschen« verknüpft; das entsprechende Kapitel seines Buches lautet: »Bild des Menschen, wie es sich meiner Individualität vor Augen stellt.« Es beginnt mit den Worten: Ich sehe den Menschen in seiner Höhle, er wandelt in derselben als ein Raub jeder Naturkraft dahin, das stärkere Tier zerreißt ihn, das schwächere vergiftet ihn; die Sonne trocknet seine Quelle auf, der Regen füllt seine Höhle mit Schlamm; Flüsse durchfressen den Damm seiner Wohnung, und er findet in sandigen Ebenen sein Grab; die Glut der Winde weht ihn blind; das Gift der Sümpfe raubt ihm seinen Atem, und wenn er drei Tage keinen Fisch und keine Ratte findet, so stirbt er. Dennoch erhält er unter allen Himmelsstrichen sein Dasein und siegt allenthalben über alle Übel der Erde. 48

Die Verwendung des Begriffs »Bild des Menschen« bei Pestalozzi – das Kompositum »Menschenbild« findet sich bei ihm nicht – illustriert sehr schön die neue zweifache Vergeistigung, die der Begriff erfährt. Er wird auf das in einer schriftlichen Schilderung festgehaltene geistige Bild bezogen – ein Bild, das vor allem dazu dient, die Charakterzüge, die geistigen Eigenschaften des Menschen plastisch darzustellen. Pestalozzis Gebrauch des Begriffs ist nun vor allem deswegen von Bedeutung, weil in ihm schon viele der Bedeutungsdimensionen, die den modernen Begriff des Menschenbildes kennzeichnen, anklingen: Erstens findet sich bei ihm der Begriff des »Bildes des Menschen« zum ersten Mal zentral in einem philosophisch-anthropologischen Kontext; in dem anthropologischen Werk Tiedemanns spielt er nur sehr am Rande eine Rolle. Bezeichnend für Pestalozzis Gebrauch ist zweierlei: Obzwar in dem Buch keine pädagogischen Themen angesprochen werden, ist der Autor als Pädagoge und nicht als Philosoph in die Geschichte eingegangen. Ferner ist das Buch kein streng fachphilosophisches; es ist gefühlsgetragen und persönlich gehalten, Pestalozzi, Johann Heinrich, Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts, hg. v. Arnold Stenzel, Bad Heilbronn 1993, 35.

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unsystematisch und nicht selten weitschweifig. Diese doppelte Liminalität – stets an der Grenze zwischen Philosophie und benachbarten Wissenschaften und stets an der Grenze zwischen Fachdiskurs und anderen, nicht fachwissenschaftlichen Diskursen – ist dem Begriff Menschenbild bis heute erhalten geblieben. Wesentlich bedeutender noch an Pestalozzis Begriffsgebrauch ist aber zweitens, dass er zum ersten Mal eine explizite Verknüpfung des Begriffs mit der zentralen anthropologischen Thematik der Natur des Menschen herstellt. Bei den Schilderungen des Naturzustandes handelt es sich ja um hypothetische Rekonstruktionen der ursprünglichen, von zivilisatorischen Einflüssen noch unberührten Natur des Menschen, also des eigentlichen, unverfälschten Wesens des Menschen. Ein Bild des Menschen will mithin etwas über das Wesen des Menschen aussagen. Die Vergeistigung des Begriffs geht hier folglich mit der im christlichen synekdochischen Gebrauch schon angelegten Verallgemeinerung und Essenzialisierung einher. Im Bild des Menschen werden die wesentlichen Eigenschaften des Menschen sichtbar. Der Mensch wird nun in abstracto als Allgemeiner angesprochen. Die Verbindung zwischen Bild und Idee des Menschen ist hier also wesentlich enger als noch bei Tiedemann. Der Begriff »Bild des Menschen« bleibt bei Pestalozzi zwar noch insofern seiner wörtlichen Bedeutung treu, als er auf das plastisch Bildhafte einer ausgeschmückten Darstellung bezogen bleibt. Allerdings kann das Bild nun nicht mehr einfach als Vorstufe zur Idee des Menschen angesehen, sondern muss als nachträgliche Illustration, als bildhafte Ausschmückung derselben verstanden werden. Das Bild ist zwar nicht die abstrakt verdichtete Idee des Menschen, aber wohl ihre mit Vorstellungskraft und Phantasie ausgestaltete Konkretisierung. Kants schon erwähnte Umformulierung des Bildbegriffs könnte hier eine Rolle spielen. Kant zufolge ist das »Bild […] ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft« 49. Das von der Einbildungskraft erzeugte Bild dient dazu, den Begriff anschaulich zu machen. Bedeutend an diesem Gebrauch ist aber nicht nur, dass der Begriff »Bild des Menschen« mit der Natur des Menschen in Verbindung gebracht wird, insofern als das Bild des Menschen nun ein Bild des (intelligiblen) Wesens des Menschen ist. Bedeutend daran ist drittens auch, dass mit dem Begriff das Wesen des Menschen in seiner Eigenschaft als Fundament der sozialen und politischen Ordnung ge49

Kant, Kritik der reinen Vernunft 1, 190 (B 181/A 142).

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Subjektivierung und Verweltanschaulichung

meint ist. Genau darin liegt ja der revolutionäre Gedanke der politischen Anthropologie dieser Zeit: Es ist nicht mehr – wie in den Jahrhunderten zuvor – die Entsprechung zu einer kosmischen, göttlichen Ordnung, aus der die politische Organisationsform ihre Legitimität bezieht. Es ist nun die Natur des Menschen, an der sich die politische Organisationsform zu messen hat. 50 Von daher definiert sich die Aufgabe der neuzeitlichen politischen Philosophie: Die Natur des Menschen zu beschreiben, die ihr gerecht werdende politische Organisationsform zu finden, die richtige Organisationsform durch ihre Entsprechung zu dem Wesen des Menschen zu legitimieren und die falschen Organisationsformen durch ihre mangelnde Entsprechung zu delegitimieren. Nun ist zwar schon spätestens seit der Auseinandersetzung zwischen Sokrates und den Sophisten bekannt, dass unterschiedliche Auffassungen des menschlichen Wesens zu unterschiedlichen Auffassungen der sozialen, politischen und pädagogischen Organisation führen. 51 In der Neuzeit muss dieser Zusammenhang ob der synchronen Pluralität der unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden anthropologisch-staatsphilosophischen Entwürfe aber unübersehbar werden. Mit dem Begriff des »Bildes des Menschen« werden nun – und dies ist sein viertes Merkmal –, die Auffassungen über den Menschen als Auffassungen benannt und thematisiert. Der Begriff fungiert als Reflexionsbegriff. Mit ihm wird die Natur des Menschen explizit und metareflexiv als eine (Re-)Konstruktion des erkennenden menschlichen Geistes angesprochen. Indem Pestalozzi seine Auffassung ausdrücklich als Bild – noch dazu als Bild, »wie es [s]einer Individualität vor Augen steht« – einführt, signalisiert er damit bewusst und ganz deutlich, dass er darum weiß, dass es sich dabei bloß um seine individuelle Auffassung handelt und dass es andere, konkurrierende Deutungen des Menschen gibt, mit denen man zu ganz anderen Schlüssen kommt. Wird aber angesichts der Pluralität der Meinungen über den Menschen eine Auffassung über den Menschen mit dem Begriff »Bild des Menschen« explizit als Auffassung benannt, d. h. ihr doxastischer

Vgl. Taylor, Charles, A Secular Age, Cambridge (MA)/London 2007, insb. 159– 211. 51 Vgl. hierzu insbesondere den Thrasymachos-Dialog in Platons Politeia (336a-340a) (Platon, Politeia, Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. v. Karlheinz Hülser, Frankfurt am Main/ Leipzig 1991, 51–63). 50

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Charakter betont, dann geht der Begriff fünftens mit einer gewissen Selbstrelativierung einher. Und tatsächlich gesteht Pestalozzi ein, dass seine Auffassung des Menschen »mit der ganzen Einseitigkeit« der Perspektivität des vorstellenden Individuums behaftet ist. 52 Es schwingt das Wissen darum mit, dass es andere Auffassungen vom Menschen gibt, die sich anderen Erfahrungen, Sichtweisen und Charakterzügen verdanken. Das Bild des Menschen ist stets das Bild, das sich jemand vom Menschen macht. Nicht umsonst heißt es bei Pestalozzi: »Mein Bild vom Menschen […]« Schon zu Beginn seines Buches legt Pestalozzi die Subjektivität seiner Auffassung offen: »Ich kann und soll hier eigentlich nichts wissen und nichts suchen als die Wahrheit, die in mir selbst liegt, das ist, die einfachen Resultate, zu welchen die Erfahrungen meines Lebens mich hingeführt haben […]« 53 Und auch am Ende des Kapitels über sein Bild des Menschen legt Pestalozzi noch einmal Rechenschaft ab über die Subjektivität seiner Auffassungen: Ich hätte also das Bild der Menschen und mit ihm das Bild der nahenden Auflösung der Staaten vollendet. Es ist mir ganze Wahrheit, das heißt, es steht meiner Individualität so und nicht anders vor Augen. Es trägt darum aber auch das Gepräge, das die Natur meiner individuellen Entwicklung selbst gegeben, und steht folglich mit der ganzen Einseitigkeit da, mit welcher einige Gegenstände der Welt im Gang meines Lebens mit vielem Reiz verwoben, andere mit vielem Ekel umhüllt, einige mit großen Erfahrungen belegt, andere von dem Schatten der Erfahrungslosigkeit verdunkelt vor meinen Augen erscheinen. Es soll also sein. Mein Bild vom Menschen soll wie mein Buch nichts sein als die Wahrheit, die in mir selbst liegt, sonst wäre sie ein Gewebe von Lügen wider mich selbst und wider meinen Zweck. 54

Wenn Pestalozzi in diesen und in anderen Stellen von Wahrheit spricht, dann ist damit zunächst einmal gemeint, dass er sich um eine redliche Darstellung seiner tatsächlichen Auffassungen bemüht hat; Wahrheit steht für Wahrhaftigkeit, für Ehrlichkeit. Doch darüber hinaus ist Pestalozzi auch der Ansicht, dass sein Bild den Menschen richtig beschreibt, also wahr ist. Das Bild soll, obwohl individuell und subjektiv, doch eine universelle Wahrheit ausdrücken. In diesem Sinne heißt es bei Pestalozzi zu Beginn seines Buches:

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Vgl. Pestalozzi, Nachforschungen, 46. Ebda., 6. Ebda., 46.

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Subjektivierung und Verweltanschaulichung

[…] aber eben darum werden diese Nachforschungen einem großen Teil meines Geschlechts einen ihrer Art und Weise, die Sachen dieser Welt anzusehen, nahestehenden Aufschluß über ihre wesentlichsten Angelegenheiten erteilen. […] Ich bin überzeugt, der größte Teil der lebenden Menschen trägt die Fundamente meiner Wahrheit und meiner Irrtümer, mit meinen Gefühlen belebt, in seinem Busen – und die Welt im Großen steht den Gesichtspunkten nahe, von denen meine wesentlichsten Meinungen eigentlich ausgehen. Ich bin überzeugt, meine Wahrheit ist Volkswahrheit, und mein Irrtum ist Volksirrtum. 55

An der Verwendung des Ausdrucks »Bild des Menschen« ist daher sechstens bedeutsam, dass er trotz Selbstrelativierung mit dem Anspruch auf Wahrheit verbunden ist. Wer von seinem Menschenbild spricht, weiß mithin davon, dass es viele Menschenbilder gibt und dass das seinige nur eines unter vielen ist, er ist aber gleichwohl der Überzeugung, dass das seinige das richtige ist. Die Überzeugung jedoch, dass man im Besitz des wahren Menschenbildes ist, scheint schwer mit einer Selbstrelativierung vereinbar zu sein. Wer glaubt, richtig zu liegen, relativiert sich nicht, sondern glaubt vielmehr und notwendigerweise auch noch, dass abweichende Meinungen falsch sind. Zu keinem Widerspruch führt das Zusammen von Selbstrelativierung und Wahrheitsanspruch aber dann, wenn man die Relativierung auf die Erkenntnisgenese, nicht aber auf den Erkenntnisinhalt bezieht. In Frage gestellt wird dann bloß die epistemische Dimension des Menschenbildes, nicht aber seine alethische Dimension. Und genau dies macht Pestalozzi: Er stellt sein Menschenbild – und damit Menschenbilder generell – als höchst individuell und subjektiv hin. Daraus folgt, dass Menschenbilder rational nicht einholbar sind und einen weltanschaulichen Charakter haben: Sie sind eine Sache des Glaubens. Über sie wird »im Busen« und nicht im Verstande entschieden, und sie müssen »mit Gefühlen«, nicht mit rationalen Argumenten belebt werden. Die Selbstrelativierung durch Eingeständnis der Subjektivität lässt den Wahrheitsanspruch, den das Bild des Menschen stellt, zum Bekenntnis werden. Dies wird in Pestalozzis Text nicht zuletzt durch die Formeln »Es ist mir ganze Wahrheit« und »Es soll also sein« auch deutlich bekundet. Und darin scheint nun das siebte Charakteristikum von Pestalozzis Gebrauch des Begriffs

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Ebda., 7 (Hervorhebung im Original).

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»Bild des Menschen« zu liegen: Die Rede vom Bild des Menschen hat einen bekenntnishaften, weltanschaulichen Charakter. Der Widerspruch zwischen der Betonung des Individuell-Subjektiven und der allgemeinen Wahrheit des Menschenbildes löst sich bei Pestalozzi darüber hinaus auch noch auf, wenn man in Rechnung stellt, dass er unter dem romantischen Einfluss Herders – den er gut kannte – und, über diesen vermittelt, Hamanns stand, die beide die Bedeutung des Gefühls und des Glaubens gegenüber dem Verstand hervorheben. 56 Auch die romantische Vorstellung vom Genie, in dessen Subjektivität die Wahrheit zum Ausdruck kommt, mag eine Rolle gespielt haben. Pestalozzi jedenfalls gilt (nicht nur) seiner Zeit als pädagogisches Genie – eine Einschätzung, die sicherlich auch auf Pestalozzi selbst ihre Wirkungen gehabt haben wird. 57 Die Bedeutung von Pestalozzis Verwendung des Begriffs »Bild des Menschen« darf aber trotz allem nicht überbewertet werden, zumal er zwar in seinen Nachforschungen an prominenter Stelle vorkommt, aber insgesamt gesehen keine besonders wichtige Rolle bei ihm spielt. Hinzu kommt, dass die Nachforschungen trotz des Lobes durch Herder kein großes Echo fanden – zur herben Enttäuschung ihres Autors. Pestalozzis Gebrauch dieses Begriffs bleibt in seiner Zeit einmalig und setzt sich nicht durch. Er findet sich auch nicht bei dem Philosophen des Bildes, Fichte, der Pestalozzi die kantische Philosophie näher brachte und der regen Anteil an Pestalozzis Abfassung der Nachforschungen nahm. 58 Herder hatte 1792 Pestalozzis berühmten Roman Lienhard und Gertrud gelobt. 1797 lernt er ihn in Zürich persönlich kennen. Dass Pestalozzi von Herder tief beeindruckt war, zeigt sich auch daran, dass er sich noch lange nach Herders Tod dessen Werke wünschte; vgl. Forster, Michael, Bildung bei Herder und seinen Nachfolgern: Drei Begriffe, in: Vieweg, Klaus/Winkler, Michael (Hg.), Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang, Paderborn 2012, 75–90. Herder war auch einer der wenigen, die Pestalozzis Nachforschungen für gelungen hielten; vgl. Stenzel, Arnold, Nachwort des Herausgebers, in: Pestalozzi, Nachforschungen, 142 f. 57 In seinen Reden an die Deutsche Nation preist Fichte Pestalozzis Erziehungslehre als Methode für die Nationalerziehung der Deutschen an. Pestalozzi stellt er in diesem Zusammenhang sogar als Vorbild für den deutschen Nationalcharakter hin; dieser sei – wie Luther – ein Beispiel für die »Grundzüge des deutschen Gemüthes«. Vgl. Fichte, Johann Gottlieb, Reden an die Deutsche Nation (1808), Fichtes Werke, Bd. 7, Zu Politik, Moral und Philosophie der Geschichte, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, 257–508, hier 401 ff. 58 Fichte und Pestalozzi kennen sich seit 1788. Fichte hat damals für zwei Jahre bei der Züricher Familie Ott eine Stelle als Hauslehrer inne. Als er 1793 und 1794 nach Zürich kommt, stattet er Pestalozzi Besuche ab. Zu diesem Zeitpunkt dürften die 56

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Fichte könnte aber in einem anderen Zusammenhang von Interesse sein. Es finden sich bei ihm zwar nicht die Begriffe »Bild des Menschen« oder »Menschenbild«, aber ein ihnen verwandter Terminus: der des »Weltbildes«. Dieser taucht erstmals bei Notker dem Deutschen (ca. 950–1022) auf, der mit »uuérlit-pílde« die lateinische Bezeichnung »forma ideaque mundi« aus Martianus Capellas De nuptiis Philologiae et Mercurii übersetzt. Ähnlich wie »Menschenbild« spielt auch dieser Begriff zunächst nur eine marginale Rolle. Erst im Deutschen Idealismus findet er eine weitere Verbreitung. Insbesondere verbindet er sich dort mit dem Begriff der »Weltanschauung«, wobei dieser eher die transzendentale Fähigkeit zur Erkenntnis der empirischen Welt, jener das Produkt dieses Vermögens bezeichnet. In einer seiner Vorlesungen führt Fichte einmal aus, dass »die empirisch objektive Welt und ihre Objekte« kein Ansichsein haben, sondern nur Bilder sind: »[…] nur ist die Empirie nicht an sich, sondern sie ist an der Erscheinung, und ist nicht Sein, sondern ist Bild, durch und durch Bild […]« Diese Bilder, die gemeinsam das Weltbild abgeben, sind einem »untheilbaren Ich« in seiner Anschauung der Welt bzw. Weltanschauung gegeben. 59 Fichtes »Weltbild« taugt als interpretative Folie für den Begriff des Menschenbildes allerdings nur wenig. Dieser hat im System der Fichteschen Philosophie eine zu eigenständige Funktion, als dass seine Semantik ohne weiteres auf jenen übertragen werden könnte. Aufschlussreich ist daran aber, dass es sich bei »Weltbild« ebenfalls um einen derjenigen heute so gebräuchlichen Termini handelt, die – wie der Menschenbildbegriff – erst im ausgehenden 18. Jahrhundert ihre maßgebliche Prägung erhalten.

Arbeiten an den Nachforschungen im Wesentlichen bereits abgeschlossen gewesen sein; vgl. Nienhaus, Stefan, Nationalerziehung und Revolution. Johann Heinrich Pestalozzis Fabeln als politische Allegorien, Quelle: http://www.heinrich-pestalozzi.de/ de/dokumentation/einzelbeitraege/nienhaus_stefan/level3/nationalerziehung_und_ revolution/index.htm [1. 3. 2016]; ferner Stenzel, Nachwort des Herausgebers. 59 Vgl. Fichte, Johann Gottlieb, Die Thatsachen des Bewußtseins, 12. Vortrag (1813), Fichtes Werke, Bd. 9, Nachgelassenes zur theoretischen Philosophie I, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, 518 f. Zum Begriff »Weltbild« vgl. Thomé, Horst, Weltbild, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 12 (2004), 456–463.

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19. Jahrhundert I: Mentalisierung, Idealisierung, Pathetisierung Pestalozzi, der in seiner Verwendung des Begriffs »Bild des Menschen« den modernen, heute gebräuchlichen Menschenbildbegriff vorwegnimmt, war seiner Zeit voraus; seine Begriffsverwendung bleibt daher hinsichtlich der meisten ihrer Merkmale zunächst ohne Folgen. Was sich von der neuen Begriffsverwendung jedoch durchsetzt, ist ihre doppelte Vergeistigung: Das Menschenbild kann nun auch ein geistiges Bild, eine Vorstellung bezeichnen – und ebenso die in einem geistigen Bild plastisch dargestellten wesentlichen geistigen Eigenschaften des Menschen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts liegen die Begriffe »Menschenbild« und »Bild des Menschen« folglich in vier Bedeutungen vor: Erstens – wörtlich – als Bezeichnung einer materiellen Darstellung des Menschen, zweitens als Bezeichnung der menschlichen Gestalt, drittens als Bezeichnung eines konkreten Menschen und viertens als Bezeichnung einer im weitesten Sinne mentalen Repräsentation eines Menschen. Diese mentale Repräsentation kann dabei körperliche Aspekte und bzw. oder geistige Aspekte des Menschen umfassen und in verschiedenen Abstraktionsgraden vorliegen, sich also auf einen konkreten Menschen ebenso beziehen wie auf den Menschen schlechthin. Für die Bezeichnung einer mentalen Repräsentation des Menschen im Allgemeinen trifft man zunächst aber noch einen anderen Ausdruck häufiger an: »Menschenansicht«. Dieser Ausdruck taucht in der Kombination von »Welt- und Menschenansicht« zum ersten Mal im 1811 erschienenen ersten Teil von Goethes Autobiographie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit auf. Die Kombination wird in der Folge schnell beliebt und findet sich bei vielen Autoren wieder – dabei nicht selten in Schriften über Goethe und sein Werk. Im Vorwort zu seiner Autobiographie beschreibt Goethe den Zweck der Biographie in folgenden Worten: Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht heraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. 60 Goethe, Johann Wolfgang von, Aus meinen Leben. Dichtung und Wahrheit, Berliner Ausgabe, hg. v. Michael Holzinger, Berlin 32014, 4.

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19. Jahrhundert I: Mentalisierung, Idealisierung, Pathetisierung

Später wird die Bedeutung von »Menschenansicht« zunehmend von »Menschenbild« übernommen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich eine häufigere Verwendung von »Menschenbild« als Bezeichnung einer literarischen Schilderung feststellen, in der entweder ein vorbildhafter Mensch in der vollen Entfaltung seiner guten und schönen Anlagen dargestellt oder ein für seine Zeit typischer Charakter oder Menschenschlag gezeichnet wird. Gegen Ende des Jahrhunderts tritt der Begriff gelegentlich in der Kombination »Zeit- und Menschenbild« auf. In dieser Kombination erscheint der Begriff auch das erste Mal im Titel eines Buches: in Hermann Allmers’ 1884 erschienenem Hauptmann Böse. Ein deutsches Zeit- und Menschenbild für das deutsche Volk, 61 einer Biographie des Bremer Zuckerfabrikanten, Hauptmannes des im Widerstand gegen Napoleon aktiven Freiwilligen Bremischen Jäger-Korps und späteren Abgeordneten Heinrich Böse. Das Menschenbild, das hier gegeben wird, ist das literarische Abbild eines vorbildhaften Menschen. Neben dieser Fortentwicklung des mentalistischen Begriffsgebrauchs lassen sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei weitere, mehr oder weniger parallel verlaufende Entwicklungsstränge identifizieren. Der eine betrifft den synekdochischen Gebrauch, d. h. die Verwendung von »Menschenbild« als Bezeichnung eines konkreten Menschen. Dieser Begriff bleibt von den allgemeinen Veränderungen in der Einschätzung des Menschen in Folge von Aufklärung, Neuhumanismus und Romantik nicht unberührt. Zunächst kommt es vor allem dadurch, dass der Begriff zunehmend in Prosa und Lyrik Verwendung findet, zu einer gewissen Pathetisierung. So findet sich der Ausdruck »Menschenbild« zum Beispiel in Gedichten Herders, Goethes und Heines. Die Verwendung des Begriffs in diesen Kontexten erscheint auf den ersten Blick eher traditionell, steht er doch einfach für einen konkreten Menschen oder den Menschen im Allgemeinen. So heißt es etwa in der letzten Strophe von Heines Liebesgedicht Der Abend kommt gezogen aus dem Zyklus Die Heimkehr: »Mein Herz pocht wild beweglich, / Es pocht beweglich wild, / Weil ich dich lieb unsäglich, / Du liebes Menschenbild!« 62 Mit Menschenbild ist in

Allmers, Hermann, Hauptmann Böse. Ein deutsches Zeit- und Menschenbild für das deutsche Volk, Bremen 1884. 62 Heine, Heinrich, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 1/1, Das Buch der Lieder, hg. v. Manfred Windfuhr, Hamburg 1975, 222. 61

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diesem Fall ein konkreter Mensch, nämlich ein Mann gemeint, dem eine Wasserfee mit diesen Worten ihre Liebe gesteht. Daneben allerdings wird oft genug der geistesgeschichtliche Hintergrund dieser synekdochischen Verwendungsweise explizit mitthematisiert. Der Mensch wird deswegen ausdrücklich und emphatisch als Bild angesprochen, weil er das Abbild eines göttlichen Urbildes ist. Dies kann nun vor einem eher christlichen Hintergrund wie bei Herder geschehen, der – schon im Jahre 1773 – den Ausdruck in seiner Schöpfung – ein Morgengesang gleich zweimal verwendet, und zwar in der 64. und der 68. Strophe. Beide Male wird der Ausdruck dabei direkt christologisch verwendet: »Menschenbild« ist der in Jesus Christus konkreter Mensch gewordene Gott: Gottes Bild in Wort und That, Menschenbild in Gottes Rath, Mittler, Schöpfer, Pfleger bist Du in Allem, Jesus Christ! Schöpfung und Du Menschenbild, Wirker Gottes, das sie füllt Und verwandelt! – Groß bist Du, Mittelpunkt in Gottes Ruh! 63

Es kann aber auch vor dem Hintergrund des aufklärerischen Humanismus und seiner Idealisierung des Menschen geschehen, der sich nicht selten mit romantischen pantheistischen Vorstellungen wie bei Goethe verbindet. In Goethes Künstlerlied ist z. B. der folgende Vers zu finden: »Und im Menschenbild genieße / Daß ein Gott sich hergewandt.« 64 Ob nun aber eher traditionell christlich, aufklärerisch oder romantisch-pantheistisch, immer begleitet den Begriff des Menschenbildes die Vorstellung, dass der Mensch Abbild eines göttlichen Urbildes ist. Jeder konkrete Mensch ist Träger der göttlichen Idee des Menschen, der Humanität, ja ist irdischer Repräsentant dieser Idee, die durch ihn durchscheint. Jeder konkrete Mensch trägt mithin auch die Potentiale des voll entfalteten Menschseins in sich. Geradezu paradigmatisch kommt dieser Gedanke in dem pathosgetragenen Gedicht »Höchstes Gebot« von Hebbel zum Ausdruck: Herder, Johann Gottfried, Herders Poetische Werke, Herders sämmtliche Werke, Bd. 29, hg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1889, 445. 64 Goethe, Johann Wolfgang von, Gedichte. Ausgabe letzter Hand 1827, Berliner Ausgabe, hg. v. Michael Holzinger, Berlin 2013, 409 f. 63

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Höchstes Gebot Hab Achtung vor dem Menschenbild, Und denke, daß, wie auch verborgen, Darin für irgendeinen Morgen Der Keim zu allem Höchsten schwillt! Hab Achtung vor dem Menschenbild, Und denke, daß, wie tief er stecke, Ein Hauch des Lebens, der ihn wecke, Vielleicht aus deiner Seele quillt! Hab Achtung vor dem Menschenbild! Die Ewigkeit hat eine Stunde, Wo jegliches dir eine Wunde Und, wenn nicht die, ein Sehnen stillt! 65

Erst auf einen zweiten Blick lässt sich die Verschiebung erkennen, die diese Begriffsverwendung gegenüber dem traditionellen synekdochischen Gebrauch aufweist; sie ist klein, aber nicht unerheblich. Traditionell wird der Mensch deswegen als Bild bezeichnet, weil er als Abbild Gottes gilt. Dies bleibt er auch noch als Sünder. Die Bildhaftigkeit des Menschen betont also einerseits das Besondere am Menschen, seine herausgehobene Stellung im Kosmos, andererseits erinnert sie aber zugleich daran, dass der Mensch eben nur zweitrangiges Abbild, ein Schatten des Höchsten ist. Die neue Verwendung des Begriffs Menschenbild betont demgegenüber das Göttliche am Menschen. Der Mensch ist deswegen Bild, weil in ihm das Herausragende, das Schöne, das Göttliche der Menschennatur durchscheint. Nicht umsonst bezeichnet Herder gerade Jesus Christus – den perfekten, göttlichen Menschen, den Menschen schlechthin – als das Menschenbild. Und dieses Göttliche scheint nun eher im Menschen selbst zu liegen, in der Humanität, der Idee des Menschen. Der Mensch ist also nicht mehr Abglanz eines Gottes, sondern er ist Repräsentant seiner eigenen Göttlichkeit. Der Begriff »Menschenbild« beschreibt den Menschen folglich nicht mehr wie früher in seiner Abbildhaftigkeit, sondern hinsichtlich seiner Idealität und Potentialität: Im Menschen »schwillt der Keim zu allem Höchsten«, wie Hebbel dichtet. Der konkrete Mensch ist mithin Träger der Idee des Menschen, diese

Hebbel, Friedrich, Sämtliche Werke, Bd. 6, hg. v. Richard Maria Werner, Berlin 1904, 235 f.; vgl. ferner Michelsen, Peter, Friedrich Hebbels Tagebücher. Eine Analyse, Würzburg 21995, 67 ff.

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ist in ihm und mit ihm gegeben. Während also die frühere Verwendung von »Menschenbild« den Menschen eher als inferiores, defizitbehaftetes Abbild des göttlichen Urbildes thematisiert, wird mit dem Begriff nun das Göttliche im Menschen selbst evoziert. Von dieser Evokation der göttlichen Humanität ist es nur mehr ein kleiner Schritt zum zweiten Entwicklungsstrang, der eng mit der eben beschriebenen Idealisierung zusammenhängt. Denn auch den Denkern des neuen Humanismus bleibt nicht verborgen, dass der tatsächliche Mensch nur allzu oft hinter dem Ideal der Humanität zurückbleibt. Nicht umsonst spricht Kant in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht den Gedanken in folgender berühmter Sentenz aus: »[…] aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee [eines gerechten Menschen] ist uns von der Natur auferlegt.« 66 Wenn nun aber der tatsächliche Mensch nicht dem Ideal, das er in sich trägt und das durch ihn durchscheint, gerecht wird, so scheint es naheliegend, zwischen dem konkreten Menschen und dem Bild des idealen Menschen, dessen Spuren der konkrete Mensch an sich trägt, zu unterscheiden. Ganz in diesem Sinne spricht Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit vom »reinen Bild der Menschheit«, das in jedem Menschen liegt: Bei wenigen Menschen ist die gottähnliche Humanität im reinen und weiten Umfange des Worts eigentliches Studium des Lebens; die meisten fangen nur spät an, daran zu denken, und auch bei den besten ziehen niedrige Triebe den erhabenen Menschen zum Tier hinunter. Wer unter den Sterblichen kann sagen, daß er das reine Bild der Menschheit, das in ihm liegt, erreiche oder erreicht habe? 67

Etwas später und in einem etwas anderen Sinne unterscheidet auch der romantische Philosoph Franz von Baader in seinen Schriften zur erotischen Philosophie den konkreten Menschen und das »wahre Menschenbild«. Damit ein Mensch zum »wahrhaften Menschenbild (welches Gottes Bild ist)«, werde, benötigt es die geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau. Dem in den Gestalten von Mann und Kant, Immanuel, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Werkausgabe, Bd. 11, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977, 31–50, hier 41 (A 398). 67 Herder, Johann Gottfried, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Berlin/Weimar 1965, 186 (Hervorhebung im Original). 66

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Frau existierenden Menschen ist es daher für sich allein prinzipiell unmöglich, ein »ganzes Menschenbild« abzugeben, dieses bleibt ein Ideal. 68 Im Grunde wirkt hier die alte platonische Auffassung nach, der zufolge der konkrete Mensch Abbild eines göttlichen Urbildes, der Idee des Menschen, ist. Während aber bislang immer das menschliche Abbild als »Menschenbild« bezeichnet wurde, ist es nun das Urbild, das als »Bild des Menschen« bezeichnet wird. Der Begriff »Bild des Menschen« rückt an die Stelle der »Idee des Menschen.« 69 Im direkten Vergleich wirkt diese Verschiebung besonders frappant: In seinem im Jahre 1809 in zweiter Auflage erschienenen Buch über Das Wesen und die Form der Religion schreibt der Historiker und katholische Theologe Andreas Buchner, der für seine mehrbändige Geschichte von Baiern bekannt ist, folgende Zeilen: Das Leben des Menschen in der Natur, ist nur eine vorübergehende Erscheinung, nicht länger dauernd, als die Theile der Natur in dieser bestimmten Vereinigung verharren, und die Idee des Menschen (den absoluten Menschen) durchscheinen lassen. […] Die abgefallene Natur hat alles gethan, was sie nur immer vermochte, um sich in die Idee zu restituiren: in der Menschenorganisation eine Gestalt hervorgebracht, absolut, selbstständig, sich selbst bestimmend, ein Ebenbild Gottes. Die Gestalt aber ist Erscheinung, und ihr Loos das aller Erscheinung. Sie nimmt das Einzelne zurück, wie sie es hervorruft, und schaffet immer neue Gestalten aus der unendlichen Fülle ihrer Kraft. Solche hinfällige Menschenbilder bringt daher die schaffende Natur hervor, in unendlicher Menge. Ein solches bist du, und ein solches bin ich. […] Jedes aber ist dadurch Bild des Menschen, daß die Idee des Menschen in ihm leuchtet; der Ewige – der Gott-Mensch es belebet […] 70 Vgl. Baader, Franz von, Über Ehen, Sämtliche Werke, Bd. 5, Gesammelte Schriften zur Sozietätsphilosophie 1, hg. v. Franz Hoffmann, Aalen 1963, 339 f.; ders., Sätze aus der erotischen Philosophie, Sämtliche Werke, Bd. 4, hg. v. Franz Hoffmann, Aalen 1963, 163–178, hier 173. Zu Franz von Baader vgl. Koslowski, Peter (Hg.), Die Philosophie, Theologie und Gnosis Franz von Baaders. Spekulatives Denken zwischen Aufklärung, Restauration und Romantik, Wien 1993. 69 Vgl. z. B. Ullmann, Carl, Polemisches in Betreff der Sündlosigkeit Jesu, mit besonderer Beziehung auf D. Chr. Fr. Fritzsche und D. Strauß, in: Theologische Studien und Kritiken. Eine Zeitschrift für das gesammte Gebiet der Theologie, in Verbindung mit D. Gieseler, D. Lücke und D. Nitzsch, hg. von D. C. Ullmann und D. F. W. C. Umbreit, 15/2 (Hamburg 1842), 640–710, hier 707. 70 Buchner, Andreas, Das Wesen und die Formen der Religion. Bd. 1, Von dem Wesen der Religion, Zweite ganz umgearbeitete Auflage, Landshut 1809, 174. Zu Buchner vgl. Heigel, Karl Theodor von, Buchner, Andreas in: Allgemeine Deutsche Biographie 68

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Hieraus geht ganz klar hervor, dass mit »Menschenbild« der konkrete Mensch gemeint ist, der Abbild Gottes ist und in dem die Idee des Menschen aufscheint. 74 Jahre später – im Jahre 1883 – erscheint der 17. Band der Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, des Vorgängerwerkes der Theologischen Realenencyklopädie. Darin findet sich der Artikel Vorhersehung aus der Feder des Züricher Theologen Johann Peter Lange, der den Ausdruck »Bild des Menschen« in genau entgegengesetzter Weise verwendet. Dem neuplatonischen Demiurgen gleich erzeugt Gott erst die ideenhaften Bilder des Menschen, bevor er nach diesen Bildern Menschen aus Fleisch und Blut schafft: Der Erschaffung des Menschen geht ein Rathschlagen Gottes mit sich selber voran, und bevor der Mensch in der Wirklichkeit da ist, ist das Bild des Menschen da (Genes. 1). Und zwar nicht nur das Bild des Menschen in genere, sondern auch das Bild der menschlichen Individuen. 71

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich also insgesamt drei Entwicklungen beobachten: Erstens kommt es zur Verfestigung des mentalistischen Menschenbildbegriffs; »Menschenbild« bezeichnet jemandes Auffassung von einem konkreten Menschen oder vom Menschen im Allgemeinen. Zweitens kommt es zur Pathetisierung und Idealisierung des synekdochischen Menschenbildbegriffs; »Menschenbild« meint den Menschen, insofern er Träger des Ideals der Humanität ist. Und drittens kommt es zur Essenzialisierung und Ontologisierung des Menschenbildbegriffs; »Menschenbild« meint das Ideal der Humanität, die Idee des Menschen selbst. Die Folge dieser Verschiebungen ist insgesamt, dass der Menschenbildbegriff einen normativen Charakter erhält; es ist nicht länger vom Abbild, sondern vom Ideal, vom Vorbild die Rede. Das Menschenbild meint den Menschen seiner idealen, vollkommenen Form nach, es meint das, was der Mensch seinem Potential nach sein könnte und sein sollte.

3 (1876), 485, Quelle: http://www.deutsche-biographie.de/ppn138305277.html? anchor=adb [10. 7. 2015]. 71 Lange, Johann Peter, Vorherbestimmung, in: Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 17, hg. v. Johann Jakob Herzog, Gotha 1863, 397–407, hier 398; zu Lange vgl. Zöckler, Otto, Lange, Johann Peter, in: Allgemeine Deutsche Biographie 51 (1906), 558–573, Quelle: http://www.deutsche-biographie.de/ pnd116703113.html?anchor=adb [3. 12. 2015].

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19. Jahrhundert II: Konzeptualisierung und Funktionalisierung

19. Jahrhundert II: Konzeptualisierung und Funktionalisierung In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich eine weitere Entwicklung in Bezug auf den Menschenbildbegriff registrieren, in der die großen geistesgeschichtlichen Umwälzungen dieser Zeit ihren Widerhall finden. In der Philosophie sind dies, um nur die wichtigsten zu nennen, die Abwendung vom Deutschen Idealismus und der Romantik, die Entstehung des Historismus und der für das deutsche Denken so wichtigen Konzepte der Geschichte und der Kultur, das Aufkommen des Positivismus und generell stark naturwissenschaftlich orientierter Denkströmungen, der Materialismus und die Religionskritik Feuerbachs und Marxens, später noch der Psychologismus, die Hermeneutik usw. Nicht vergessen werden sollten auch die drei großen weltanschaulichen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts, die ihre Zeit in Atem hielten: der Materialismusstreit in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in dem es um die weltanschaulichen Konsequenzen der Naturwissenschaften ging und in dessen Zentrum die Fragen standen, ob die Ergebnisse der Naturwissenschaften mit den Konzepten der immateriellen Seele, des personalen Gottes und des freien Willens vereinbar seien; der daran anschließende und die vorhergehende Auseinandersetzung zuspitzende Darwinismusstreit in den 1860er Jahren, in dem es um die Gültigkeit der Thesen Darwins und ihre Konsequenzen ging; und schließlich, ein weiteres Jahrzehnt später, der Ignorabimusstreit, in dem es im Anschluss an den berühmten Ausspruch des Physiologen Emil Heinrich du Bois-Reymond »ignoramus et ignoramibus« 72 um die prinzipiellen Grenzen des naturwissenschaftlichen Erkennens ging. 73 Insgesamt lässt sich feststellen, dass spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine vorher nicht bekannte Vielzahl miteinander unvereinbarer Perspektiven und Denkangebote entsteht, die sich nun nicht mehr hegelianisch in eine höhere Einheit aufheben Vgl. du Bois-Reymond, Emil, Über die Grenzen des Naturerkennens. In der zweiten allgemeinen Sitzung der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 1872 gehaltener Vortrag, in: Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden. Erster Band. 2. vervollständigte Auflage, hg. v. Estelle du Bois-Reymond, Leipzig 1912, 441–473, hier 464. 73 Zu den drei Debatten vgl. Bayertz, Kurt/Gerhard, Myriam/Jaeschke, Walter (Hg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, 3 Bde., Hamburg 2007. 72

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lassen. Diese Pluralität lässt im Grunde nur drei Reaktionen zu: Entweder man beharrt auf der Richtigkeit der je eigenen und der Falschheit der je anderen Perspektiven und streitet unerbittlich um die Geltungsgründe. Oder man begrenzt, wie exemplarisch du Bois-Reymond, den Geltungsbereich der Wissenschaft auf einen klar umrissenen und außer Streit gestellten Bereich, und gibt sich für den Rest mit einem sokratischen Nicht-Wissen zufrieden. Oder aber man erklärt, wie paradigmatisch Friedrich Nietzsche, gleich alles für relativ. In diesem Fall summiert sich die Unhintergehbarkeit der Pluralität zu der Auffassung, dass es keine allgemeingültigen, zeitlosen Antworten gibt, sondern nur sich widersprechende Meinungen, die allesamt historisch, kulturell und sozial determiniert sind. Im Menschenbildbegriff schlagen sich diese Umwälzungen spät, dafür aber umso nachhaltiger nieder: Der moderne Menschenbildbegriff, so wie er schon bei Pestalozzi in wesentlichen Aspekten zugrunde gelegt ist, aber zunächst noch ohne Wirkung bleibt, setzt sich nun langsam durch. Den Bedeutungen, die der Menschenbildbegriff bis dato hat, fügt sich also eine weitere hinzu: Als »Menschenbild« wird nun auch einfach jemandes Auffassung vom Wesen des Menschen bezeichnet. Es liegt auf der Hand, dass dieser Begriffsgebrauch an den mentalistischen Menschenbildbegriff anschließt: Mit Menschenbild wird ein Gedanke bzw. ein ganzer Gedankenkomplex über den Menschen bezeichnet. Allerdings nimmt dieser neue Begriffsgebrauch in gleicher Weise auch Aspekte des ontologisch-essenzialistischen Menschenbildbegriffs auf. Denn der Gedankenkomplex bezieht sich eben auf das Wesen bzw. die Natur des Menschen, d. h. auf das, was den Menschen als Menschen auszeichnet, was ihn fundamental bestimmt und was für ihn als Mensch von zentraler Bedeutung ist. Der Begriff Menschenbild meint also immer noch die »Idee des Menschen«, aber diese Idee ist nun nicht mehr eine unabhängige ontologische Größe wie bei Platon, sondern eine mentale Größe: die mentale Repräsentation des Wesens des Menschen. Es liegt in der Natur mentaler Repräsentationen von Sachverhalten, dass sie wahr oder falsch sein können. Wahr sind sie dann, wenn sie den Sachverhalt angemessen oder richtig repräsentieren, falsch sind sie dann, wenn sie den Sachverhalt unangemessen oder unrichtig repräsentieren bzw. wenn es den Sachverhalt gar nicht gibt. In diesem Fall ist eine Repräsentation illusionär. Wird nun mit dem Begriff Menschenbild die mentale Repräsentation des Wesens des Menschen bezeichnet, dann folgt daraus, dass Menschenbilder wahr, 56 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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falsch oder illusionär sein können. Da es sich bei Menschenbildern um komplexe Repräsentationsbündel handelt, können sie auch in einzelnen Aspekten und mithin gleichzeitig wahr, falsch oder illusionär sein. Wenn also vom Menschenbild im neuen Sinn die Rede ist, dann bezeichnet dieser Begriff jemandes Auffassung vom Wesen des Menschen. Es schwingt dabei – wie schon bei Pestalozzi – das Wissen mit, dass es sich eben um eine Auffassung handelt, dass diese Auffassung wahr, falsch oder illusionär sein kann, und dass diese Auffassung von individuellen, kulturellen, historischen, sozialen und anderen Faktoren nicht unabhängig ist. Im Begriff des Menschenbildes ist mithin metatheoretisch der doxastische Charakter, die Pluralität und die Relativität der Auffassungen über das Wesen des Menschen mitgedacht. Einer der ersten, die diesen neuen Begriff verwenden, ist Max Stirner. In seinem 1844 erschienenen Buch Der Einzige und sein Eigentum fällt der Begriff ein einziges Mal. Aus der Art und Weise, wie Stirner den Begriff einsetzt, geht jedoch beides klar hervor: Dass sich das Bild des Menschen auf das Wesen des Menschen bezieht, auf die überzeitliche, ewige Idee des Menschen, und dass dieses Bild des Menschen ein mentales Konstrukt, ja noch radikaler, eine fiktive Größe ist: eine Imagination. Wenn zuletzt auf den Menschen oder die Menschheit der Accent gelegt wurde, so war es wieder die Idee, die man »ewig sprach«: »Der Mensch stirbt nicht!« Man meinte nun die Realität der Idee gefunden zu haben: Der Mensch ist das Ich der Geschichte, der Weltgeschichte; er, dieser Ideale, ist es, der sich wirklich entwickelt, d. h. realisiert. Er ist der wirklich Reale, Leibhaftige, denn die Geschichte ist sein Leib, woran die Einzelnen nur die Glieder sind. Christus ist das Ich der Weltgeschichte, sogar das der vorchristlichen; in der modernen Anschauung ist es der Mensch, das Christusbild hat sich zum Menschenbilde entwickelt: es ist der Mensch als solcher, der Mensch schlechthin der »Mittelpunkt« der Geschichte. In »den Menschen« kehrt der imaginäre Anfang wieder; denn »der Mensch« ist so imaginär als Christus es ist. »Der Mensch als Ich der Weltgeschichte schließt den Zyclus christlicher Anschauungen. 74

Die von Stirner vorgenommene Gegenüberstellung von Menschenbild und Christusbild ist auch geistesgeschichtlich interessant. Denn der Mensch übernimmt im Laufe der Philosophiegeschichte tatsächStirner, Max, Der Einzige und sein Eigentum, hg. v. Bernd Knast, Freiburg im Breisgau/München 2009, 369.

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lich nach und nach die Funktionen, die Gott innehatte. Mit Descartes ersetzt das menschliche cogito die erkenntnissichernde Funktion, die Gott in der Antike und im Mittelalter hatte; es wird zum Erkenntnisgrund. 75 Mit Kant – aber im Grunde vorher schon mit Berkeley – avanciert das bewusste Ich zum transzendentalen Seinsgrund, wenn auch nur der Erscheinung, und löst Gott zumindest in dieser Hinsicht als Schöpfer ab. Und mit dem Deutschen Idealismus, auf den sich Stirner im obigen Zitat kritisch bezieht, wird das menschliche Ich nicht nur vollständig zum Erkenntnis- und Seinsgrund, sondern gleich zu einem Moment an Gott selbst. Es ist der Ort, an dem sich Gott seiner selbst bewusst wird und an dem sich die Geschichte des seiner selbst bewusst werdenden Gottes vollzieht. War es früher Christus als Gottes Sohn und Mittler, auf den hin und durch den sich die Geschichte als Heilsgeschichte vollzieht, so ist es im Deutschen Idealismus das menschliche Bewusstsein, durch und an dem die göttliche Geschichte geschieht. Doch Stirners Parallelisierung von Menschenbild und Christusbild ist darüber hinaus auch begriffsgeschichtlich erhellend. Denn bis ins beginnende 19. Jahrhundert hinein bezeichnet der Begriff Christusbild ausschließlich eine bildliche Darstellung der Gestalt Christi. 76 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fügt sich dem ein mentalistischer Bildbegriff hinzu: Christusbild bezeichnet nun auch die Vorstellung, die sich jemand von Christus macht. 77 Die Begriffe Menschenbild und Christusbild durchlaufen offenbar zur gleichen Zeit ähnliche Entwicklungen, die beide späte Nachwirkungen der Umformulierung des Bildbegriffs durch Kant sind. Auch bei Ludwig Feuerbach fällt der Begriff zwei oder dreimal. In seinen Vorlesungen über das Wesen der Religion verwendet er ihn, um mit ihm die Gottesvorstellung, die ja eine Projektion des Menschen ist, zu bezeichnen. Denn Gott ist ihm zufolge eine Einbildung Wobei Descartes letztlich Erkenntnis und Wirklichkeit natürlich schon in Gott verankert. Die erkenntnissichernde Denkoperation beginnt aber nicht bei Gott, sondern beim Ich, und findet erst über jenes zu Gott als dem letzten Garanten von Wahrheit und Wirklichkeit. 76 Siehe dazu den Eintrag: Christusbilder, in: Siegel, Carl Christian Friedrich, Handbuch der christlich-kirchlichen Alterthümer in alphabethischer Ordnung mit steter Beziehung auf das, was davon noch jetzt im christlichen Kultus übrig geblieben ist, Bd. 1, Leipzig 1836, 419–441. 77 Siehe z. B. Lange, Johann Peter, Das Leben Jesu, nach den Evangelien dargestellt, Bd. 1, Heidelberg 1844, 85, 178. Es handelt sich hierbei um eben den oben erwähnten Züricher Theologen, der auch den Begriff »Bild des Menschen« mentalistisch einsetzt. 75

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des Menschen, und zwar eine, die sich der Mensch »nach seinem eigenem Bilde« macht; Gott ist in Wirklichkeit ein Menschenbild: Denn nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, wie es in der Bibel heisst, sondern der Mensch schuf, wie ich im Wesen des Christenthums zeigte, Gott nach seinem Bilde. […] Jeder Gott ist ein Wesen der Einbildung, ein Bild, und zwar ein Bild des Menschen, aber ein Bild, das der Mensch ausser sich setzt und als ein selbständiges Wesen vorstellt. 78

Auch wenn der Begriff »Menschenbild« seinem neuen Sinn nach also schon vor Nietzsche fällt, ist es doch erst dieser, der dem Begriff seine moderne Prägung gibt. Wie sich an der Rezeptionsgeschichte zeigt, startet der moderne Menschenbildbegriff von ihm aus seine Karriere. Dabei taucht der Begriff selbst bei Nietzsche noch nicht häufig auf. Insgesamt nur neunmal finden sich die Ausdrücke »Menschenbild« und »Bild des Menschen« zusammengenommen in seinem Werk, davon lediglich viermal in seinen von ihm selbst veröffentlichten Schriften. 79 Dies mag auf den ersten Blick immer noch wenig erscheinen, allerdings muss in Rechnung gestellt werden, dass die Ausdrücke – vor allem in der Philosophie – nach wie vor kaum gebräuchlich sind. Außerdem ragt Nietzsches Gebrauch des Begriffes deswegen heraus, weil sich bei ihm der moderne Menschenbildbegriff in all seinen Schattierungen grundgelegt findet; Nietzsches Verwendung markiert gleichsam die Geburtsstunde des heutigen Menschenbildbegriffs. Seine Begriffsverwendung weist neun zentrale Charakteristika auf: Erstens lässt Nietzsches Menschenbildbegriff einen klaren Bezug zum Wesen bzw. zur Idee des Menschen erkennen. Menschenbilder beinhalten Aussagen über das Wichtige und Wesentliche am Menschen; dieser wird daher auch in abstracto angesprochen. Zweitens steht der Begriff im Kontext pluraler Auffassungen vom Menschen. Es ist für Nietzsche klar, dass es verschiedene Bilder Feuerbach, Ludwig, Vorlesungen über das Wesen der Religion. Nebst Zusätzen und Anmerkungen, Sämtliche Werke 8, hg. v. Wilhelm Bolin, Stuttgart-Bad Cannstatt 21960, 236 (Hervorhebung im Original). 79 Vgl. Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, 4, KSA 1, 368 f.; ders., Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, KSA 2, 419 f. u. 495 (Aph. 99 u. 274, hier allerdings in eher traditionell synekdochischer Bedeutung); ders., Nachgelassene Fragmente 1876, KSA 8, 412 (23 [25]); ders., Nachgelassene Fragmente 1980, KSA 9, 227 (6 [124]); ders., Nachgelassene Fragmente 1881, KSA 9, 577 (12 [7]); ders., Nachgelassene Fragmente 1883, KSA 10, 316 f. (7 [240]); ders., Nachgelassene Fragmente 1884, KSA 11, 293 u. 294 (27 [74] u. [78]). 78

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vom Menschen gibt. Im Abschnitt über Schopenhauer als Erzieher in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen, in dem der Begriff zum ersten Mal fällt, schreibt Nietzsche: Es giebt drei Bilder des Menschen, welche unsre neuere Zeit hinter einander aufgestellt hat und aus deren Anblick die Sterblichen wohl noch für lange den Antrieb zu einer Verklärung ihres eignen Lebens nehmen werden: das ist der Mensch Rousseau’s, der Mensch Goethe’s und endlich der Mensch Schopenhauer’s. 80

Ebenso klar ist für Nietzsche drittens, dass es sich bei Menschenbildern um Konstruktionen handelt. Für Nietzsche sind es darüber hinaus aber vielmehr noch Fiktionen, Erdichtungen, die keine Verankerung in der Realität haben. Hier spielt Nietzsches eigene anthropologische Überzeugung hinein, der zufolge der Mensch das »nicht festgestellte Thier« ist, das, bar jeder ontologischen Festlegung, kein Wesen, keine wie auch immer geartete feste Natur hat. Diese Auffassung vom wesenlosen Wesen des Menschen ist freilich nicht Nietzsches Erfindung. Sie findet sich bereits in der Antike. Der Renaissancehumanist Giovanni Pico della Mirandola hat ihr dann in seiner Rede über die Würde des Menschen ein berühmtes Denkmal gesetzt, später taucht sie auch in Herders Begriff des »Mängelwesen Mensch« wieder auf. Nietzsches Auffassung unterscheidet sich davon freilich in ihrer nihilistischen Radikalität, ist der Mensch bei ihm doch dazu verurteilt, sich vor dem Hintergrund eines jeden Sinns und Zwecks beraubten Kosmos ein Wesen zu geben. Handelt es sich bei Menschenbildern um Konstruktionen oder überhaupt Fiktionen, dann folgt daraus viertens ein Relativismus. Wenn Menschenbilder keinen Bezug zu einer wie auch immer gearteten realen Natur des Menschen haben und daher jedes Kriterium fehlt, nach dem man die Wahrheit oder Falschheit eines Menschenbildes beurteilen könnte, sind alle Menschenbilder gleich falsch oder gleich richtig. In Bezug auf die Menschenbilder der Moral heißt es bei Nietzsche einmal: Die Moral kann nichts thun als Bilder des Menschen aufzustellen wie die Kunst: vielleicht daß sie auf diesen und jenen wirken. Sie kann sie, streng genommen, nicht beweisen. »Höher« und »tiefer« – das sind schon Illusionen unter dem Eindruck eines moralischen Musters. 81 Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, 4, 368 f. 81 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880, KSA 9, 227 (6[124]). 80

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Menschenbilder, so schreibt Nietzsche, sind nicht nur Konstruktionen, die – von der Moral, von der Kunst – »aufgestellt« werden, sondern sie lassen sich streng genommen nicht bewerten. Denn jeder Maßstab ist seinerseits wieder nur eine illusionäre Konstruktion, die auf weitere illusionäre Konstruktionen verweist usw. Dass Menschenbilder relativ sind, schließt aber fünftens nicht aus, dennoch von einem Menschenbild überzeugt zu sein. Nietzsche selbst macht immer sehr deutlich, welche Art von Mensch ihm wünschenswert erscheint. Allerdings ist dies dann nicht mehr eine Frage des Wissens, sondern des Glaubens. Menschenbilder sind weltanschaulicher Natur; ihre Gültigkeit verdankt sich einer Setzung – und der Macht, sie durchzusetzen. Diese fünf Charakteristika des Menschenbildbegriffs lassen sich in Ansätzen allesamt schon bei Pestalozzi finden, wobei Nietzsche dessen Werk nicht gekannt haben dürfte; zumindest finden sich keine einschlägigen Hinweise in seinen Schriften. Wirklich neu an Nietzsches Verständnis von Menschenbildern ist nun aber, dass er sie zum ersten Mal ausdrücklich hinsichtlich ihrer Funktionen und ihrer Wirkungen betrachtet. Dies ist wohl eine Folge der Einschätzung von Menschenbildern als Illusionen. Denn wenn Menschenbilder Fiktionen sind und ihr Zweck folglich nicht darin liegen kann, Tatsachen zu beschreiben, dann stellt sich die Frage, welchen Zweck Menschenbilder sonst haben. Und so fällt Nietzsche – der nicht umsonst zu den Meistern des Verdachtes zählt – sechstens auf, dass Menschenbilder eine fundierende und legitimierende Funktion haben: für die Moral, für die Pädagogik, für die Politik. Menschenbilder bilden die weltanschauliche Grundlage – sozusagen das Urmeter –, mit dessen Maß erst über gut und schlecht, über richtig und falsch befunden werden kann. Wenn dem aber so ist, dann können Menschenbilder ihrerseits nicht mehr der Beurteilung unterzogen werden, denn eine solche würde ja gerade wieder ein Menschenbild voraussetzen. Das Menschenbild ist primär; »es ist schon da«, wie Nietzsche sagt. Seinen Ursprung hat es in einer weltanschaulichen Setzung, es wird einfach »im Glauben bestimmt«. In einem Nachlassfragment aus dem Jahre 1883 kommt diese fundierende und legitimierende Rolle – und darüber hinaus auch der weltanschauliche Charakter – von Menschenbildern schön zum Ausdruck: Erste Thatsache: die Gesellschaft tödtet, foltert, beraubt der Freiheit, des Vermögens: übt Gewalt durch Beschränkung der Erziehung; durch Schulen;

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lügt, trügt, stellt nach (als Polizei) – alles dies kann also nicht an sich als schlecht gelten. – Sie will ihre Erhaltung und Förderung – das ist kein heiliger Zweck: sie kämpft darum gegen andere Gesellschaften. – Also um des Nutzens willen geschieht dies Alles. Aber toll! Gerade diese Handlungen sollen mit besonderer Würde und Ehrerbietung angesehen werden: als »Recht«, Sittlichkeit, Erhaltung und Pflege des Guten. Daß hier Vieler Nutzen über den Weniger gesetzt wird, das hätte nur Sinn bei der Voraussetzung, daß der Einzelne nicht mehr Werth haben könne als die ganze Gesellschaft! Von vornherein ist aber hier die Absicht, solche Einzelne gar nicht entstehen zu machen: das Bild des Menschen ist schon da, welches man als Maaßstab für die Erhaltung des gemeinen Nutzens nimmt. Die Voraussetzung der Gesellschaft muß sein, daß sie den höchsten Typus »Mensch« repräsentire und daraus ihr Recht ableitet, alles ihr Feindliche als das an sich Feindliche zu bekämpfen. – Ohne diesen Glauben an sich ist die Gesellschaft »unmoralisch« in jedem Sinne. Im Glauben aber bestimmt sie erst, was moralisch sein soll, – so hat es Sinn! 82

Jede Gesellschaft, so überlegt Nietzsche, glaubt an sich, bejaht sich selbst und will sich erhalten. Indem sie dies tut, bejaht sie notwendigerweise implizit auch das Menschenbild, das ihr innewohnt und das durch sie repräsentiert wird. Dieses Menschenbild bildet – sei es bewusst, sei es unbewusst – den fundamentalen Maßstab für Gut und Richtig. Und als dieser Maßstab lässt es sich nicht weiter begründen, weil es seinerseits die Grundlage jeder Begründung ist. Das Menschenbild kann sich daher nur einer dogmatischen Bestimmung verdanken; es ist im Glauben der Gesellschaft an sich selbst gesetzt. Doch Menschenbilder fungieren nicht nur als Grundlage und Rechtfertigung, sondern siebtens wesentlich auch als Vorbilder. Nicht umsonst fällt der Begriff in Nietzsches Schopenhauer als Erzieher zum ersten Mal im Kontext eines Textes über pädagogische Themen. Und Nietzsche lässt achtens – auch mit seinem eigenen Plädoyer für den Übermenschen – keinen Zweifel darüber offen, dass Menschenbilder als Vorbilder Wirkungen zeitigen. »Diese Bilder [des Menschen] nämlich wirken als Reize, entzünden einen Trieb und verführen den Intellekt, ihm zu dienen.« 83 Sie bieten einen »Antrieb zu einer Verklärung« des eigenen Lebens, sie helfen durch »Erregung und Neid die Zukunft zu schaffen«:

Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1883, KSA 10, 316 f. (7[240]) (Hervorhebungen des Originals entfernt). 83 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880, KSA 9, 227 (6[124]). 82

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Vielmehr wird er [der Dichter], wie früher die Künstler an den Götterbildern fortdichteten, so an dem schönen Menschenbilde fortdichten und jene Fälle auswittern, wo mitten in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede künstliche Abwehr und Entziehung von derselben, die schöne grosse Seele noch möglich ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmässige Zustände einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt und also durch Erregung von Nachahmung und Neid die Zukunft schaffen hilft. 84

Aber so wie Menschenbilder den Menschen in lichte Höhen ziehen können, so können sie ihn auch »unter ein Mittelmaaß hinabsinken lassen«. 85 Die Wirkmächtigkeit von Menschenbildern liegt also daran, dass sie den Menschen formen. Menschenbilder leiten die Selbstgestaltung des Menschen, indem sie normativ als Vorbilder wirken, und indem sie die Moral, die Erziehung und überhaupt die Organisation des sozialen und politischen Lebens fundamental orientieren. Wenn nun aber Menschenbilder, so wie Nietzsche sie versteht, normativ wirksames Fundament von Moral, Gesellschaft und Politik sind, dann geht daraus neuntens klar hervor, dass er vor allem kollektiv geteilte, gesellschaftliche Menschenbilder im Blick hat. Menschenbilder sind für Nietzsche nicht einfach Verständnisse vom Menschen, sondern Verständnisse, die – sei es nun bewusst oder unbewusst – von einer Vielzahl von Leuten geteilt werden bzw. geteilt werden sollten. Selbstverständlich gibt es auch individuelle Menschenbilder wie z. B. solche, die, wie er oben schreibt, von den Dichtern entworfen werden. Aber in den Fokus von Nietzsches Interesse rücken Menschenbilder vor allem dann, wenn sie darauf abzielen und sich dazu eignen, zur allgemeinen geistigen Grundlage einer Gesellschaft zu werden. Wenn also von Menschenbildern die Rede ist, dann sind damit in erster Linie solche Verständnisse vom Menschen gemeint, die Teil des geistig-kulturellen Horizontes einer Gesellschaft sowie Fundament ihrer gemeinsamen Praktiken sind. Nietzsche macht aus dem Begriff »Menschenbild« folglich einen Begriff der Ideologiekritik. Bei Menschenbildern handelt es sich primär um kollektiv geteilte Annahmen über das Wesen des Menschen, die den Moral-, Rechts- und Politiksystemen einer Gesellschaft zugrunde liegen und die das kollektive Bewusstsein zutiefst prägen.

Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche, KSA 2, 419 f. (Aph. 99). 85 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1881, KSA 9, 577 (12[7]). 84

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Menschenbilder dienen gewissen Zwecken: Sie legitimieren und stabilisieren gesellschaftlich etablierte Wertesysteme und Praktiken und sie tragen zur Verschleierung der rauen (nihilistischen) Wirklichkeit ebenso bei wie zur Selbst-Verklärung und -erhebung des Menschen. Menschenbilder sind stark normativ und haben daher eine enorme Wirkkraft: Sie orientieren das gesellschaftliche Wertesystem und richten die gesellschaftliche Praxis aus, sie fungieren als kollektive Vor- und Leitbilder. Insgesamt tragen sie damit wesentlich zur Formung und Gestaltung des Menschen bei. Obwohl es sich bei Menschenbildern um rein illusionäre Konstrukte handelt, schlagen sie also voll auf die Wirklichkeit durch. Da es sich bei Menschenbildern um reine Konstruktionen, d. h. um Schein, handelt, hat es keinen Sinn, sie hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes zu befragen. Zudem beziehen sie ihre Geltungs- und Wirkkraft ohnehin nur daraus, dass sie für wahr gehalten werden, und nicht daraus, dass sie tatsächlich wahr sind; dies ist vielmehr vollkommen irrelevant. Entscheidender als die Frage, ob Menschenbilder nun wahr sind oder nicht, wird damit die Frage, was Menschenbilder bewirken und ob dies nun wünschenswert ist oder nicht.

20. Jahrhundert: Popularisierung und Politisierung Zur Jahrhundertwende liegen die Begriffe »Menschenbild« und »Bild des Menschen« in einer verwirrenden Vielzahl von Bedeutungen vor. Da wären zunächst die vier Bedeutungen aus dem 18. Jahrhundert: als Bezeichnung einer materiellen Darstellung des Menschen, als Bezeichnung der menschlichen Gestalt, als Bezeichnung eines konkreten Menschen und als Bezeichnung einer im weitesten Sinne mentalen Repräsentation eines Menschen, die sich sowohl auf körperliche als auch auf geistige Aspekte beziehen kann. Dazu treten nun weitere vier Bedeutungen hinzu, die zum Teil nur aufgrund leichter semantischer Verschiebungen zustande kommen: als Bezeichnung einer mentalen Repräsentation eines vorbildhaften Menschen, als Bezeichnung des konkreten Menschen, insofern in ihm das normative Ideal der Humanität durchscheint, als Bezeichnung des Ideals der Humanität selbst, und schließlich als Bezeichnung der – normativ wirksamen und fundierenden – Auffassung des Wesens des Menschen. Diese vier neuen Bedeutungen zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass sie einen stark normativen Charakter haben. Das Menschenbild 64 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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ist und wirkt – auch dort, wo es fiktiv ist – als Vorbild; es hat prägende Kraft. Diese acht Bedeutungen sind freilich idealtypischer Natur und verdanken sich der retrospektiven Analyse und Identifikation. In realiter liegt der Menschenbildbegriff kaum je in der Reinform einer dieser Bedeutungen vor, sondern nimmt sehr vage mal eher die eine, dann wieder eher die andere von ihnen an. Hinzu kommt, dass der Menschenbildbegriff nur sehr kurz die Bedeutung der Idee des Menschen in einem ontologischen, platonischen Sinn hatte und rasch wieder einen mentalistischen Sinn erhält: er bezeichnet die Vorstellungen, die jemand vom Menschen im Allgemeinen hat. Allerdings bleibt dem Menschenbildbegriff ein Zug ins Ontologische erhalten: Wer vom Menschenbild spricht, behauptet in der Regel auch, dass der Mensch tatsächlich so ist, wie im Bild dargestellt. Die semantische Pluralität des Menschenbildbegriffs lässt sich so auf vier Grundbedeutungen bringen: Der Begriff Menschenbild bezeichnet erstens in einem wörtlichen Sinn die materielle Darstellung der menschlichen Gestalt. In einem synekdochischen Sinn bezeichnet er zweitens den Menschen selbst. In einem mentalistisch-konkretistischen Sinne bezeichnet er drittens die geistige Darstellung eines konkreten Menschen. Und in einem mentalistisch-universalistischen Sinne bezeichnet er viertens die Auffassung vom Wesen des Menschen. Die beiden letzten Bedeutungen können dabei auch einen normativen Sinn annehmen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen sich nun vier miteinander zusammenhängende Entwicklungen beobachten. Erstens tritt der Menschenbildbegriff als Bezeichnung der Auffassung des Wesens des Menschen langsam, aber nachhaltig in den Vordergrund und beginnt, die anderen Begriffsverwendungen – allerdings nie gänzlich – zu verdrängen. Zweitens erhält im Zuge dessen auch der normative Sinn des Begriffs – das Menschenbild als prägendes Vorbild bzw. Leitbild – zunehmendes Gewicht. Drittens findet der Begriff Eingang in das Vokabular der politisch-weltanschaulichen Auseinandersetzungen. Und viertens gewinnt der Menschenbildbegriff an Popularität, bis er um die Jahrhundertmitte zu einem ubiquitären Allerweltsbegriff avanciert. Zunächst jedoch fällt der Menschenbildbegriff – insbesondere als Bezeichnung der Auffassung des Wesens des Menschen – noch sehr spärlich. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Begriff 65 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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im enorm erfolgreichen und in mehrere Sprachen übersetzten Buch Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie von Ernst Haeckel auftaucht, allerdings erst im Nachwort der im Jahre 1903 erschienenen gekürzten »Volksausgabe« des Buches. Ernst Haeckel, Biologe und Philosoph, ist eine der zentralen Figuren im damals noch tobenden Darwinismusstreit. Er macht die Arbeiten von Charles Darwin in Deutschland bekannt und trägt durch seine populären Schriften sehr zur Verbreitung des Darwinismus bei, er ist Gründer des Deutschen Monistenbundes, einer antikirchlich ausgerichteten Vereinigung zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und einer monistischen Weltanschauung, und er tritt für einen – durch Spinoza und Goethe beeinflussten – pantheistischen Monismus auf naturwissenschaftlich-darwinistischer Grundlage (»Entwicklungs-Monismus«) ein. Diesen Monismus stellt er im Jahre 1899 in dem Buch Die Welträthsel, dessen Titel sich auf die von Emil du Bois-Reymond postulierten »sieben Welträtsel« bezieht, 86 einer breiteren Öffentlichkeit vor. Im Nachwort der »Volksausgabe« spricht Haeckel – den übrigens mit Hermann Allmers, dem Verfasser des Hauptmann Böse, eine lebenslange Freundschaft verband 87 – vom durch die Erkenntnisse der Biologie zerstörten »anthropocentrischen Menschenbild des Christentums«. 88 Bemerkenswert an diesem Begriffsgebrauch ist erstens, dass er wohl ein Hinweis darauf ist, dass der Begriff langsam in den allgemeinen Wortschatz einsickert. Warum sonst sollte der Begriff in dem später hinzugefügten Nachwort einer so populären Schrift fallen? Wesentlich bedeutsamer ist aber

Vgl. du Bois-Reymond, Emil, Die sieben Welträtsel. In der Leibniz-Stiftung der Akademie der Wissenschaften am 8. Juli 1880 gehaltene Rede, in: Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden. Zweiter Band. 2. vervollständigte Auflage, hg. v. Estelle du Bois-Reymond, Leipzig 1912, 65–98. Bei den Rätseln handelt es sich um: 1. Das Wesen der Materie und Kraft, 2. Der Ursprung der Bewegung, 3. Die Entstehung der Empfindung, 4. Die Entstehung des Lebens, 5. Die zweckmäßige Einrichtung der Natur, 6. Das menschliche Denken und Sprechen, 7. Die Willensfreiheit. 87 Allmers ist derjenige, der zum ersten Mal den Begriff »Menschenbild« im Titel eines Buches nennt, vgl. S. 49, Anm. 61. Zur Freundschaft zwischen Allmers und Haeckel vgl. Allmers, Hermann/Haeckel, Ernst, Die Geschichte einer Freundschaft in Briefen der Freunde, hg. v. Rudolf Koop, Bremen 1941. 88 Vgl. Haeckel, Ernst, Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Volksausgabe mit einem Nachwort, Stuttgart 1903, 166. Zu Haeckel vgl. Richards, Robert, The Tragic Sense of Life. Ernst Haeckel and the Struggle over Evolutionary Thought, Chicago/London 2008. 86

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zweitens, dass hier – in einer antikirchlich gehaltenen Schrift 89 – zum ersten Mal vom »Menschenbild des Christentums« die Rede ist. Darin ist der Begriff des »christlichen Menschenbildes«, der später zu einem zentralen Topos christlicher – vor allem katholischer – Intellektualität wird, vorweggenommen. Ob der Begriff tatsächlich bei Haeckel aufgegriffen und – im Zuge einer geglückten Aneignung einer klar negativ gemeinten Zuschreibung – ins Positive gewendet zu dem Erkennungszeichen des »christlichen Menschenbildes« umgemünzt wurde, lässt sich aber nicht mit Sicherheit sagen. 1927 taucht der Begriff dann – in theoretisch etwas unterfütterter Weise – bei dem prominenten sozialdemokratischen Politiker, zeitweiligen deutschen Justizminister und Rechtsphilosophen Gustav Radbruch auf. In seiner einflussreichen Heidelberger Antrittsvorlesung Der Mensch im Recht veranschaulicht Radbruch an einer Tour d’Horizon der europäischen Rechtsgeschichte, dass jede Rechtsordnung auf einer bestimmten Auffassung vom Menschen beruht, ganz so, wie er es in seinen einleitenden Worten skizziert: Mein Thema ist nicht der wirkliche Mensch, sondern das Bild des Menschen, das dem Recht vorschwebt und auf das es seine Anordnungen einrichtet. Dieses Bild hat in den verschiedenen Epochen der Rechtsentwicklung gewechselt. Man darf sogar sagen: der Wechsel des vorschwebenden Bildes vom Menschen ist es, der in der Geschichte des Rechts »Epoche macht«. Nichts ist so entscheidend für den Stil eines Rechtszeitalters wie die Auffassung vom Menschen, an der es sich orientiert. 90

Ausdrücklich schließt Radbruch dabei mit seinen Ausführungen an den »so geistvollen wie stoffreichen« 91 Vortrag des Heidelberger Juristen Georg Jellinek über Adam in der Staatslehre, gehalten »im historisch-philosophischen Verein zu Heidelberg« im Jahre 1893, an. Haeckel spricht im Nachwort seiner Welträtsel über die heftigen Reaktionen auf seine Schrift. Schon vorher äußert er sich in einem Vortrag dazu: »Die Flut von Beschimpfungen und Verleumdungen aller Art, welche die frommen Blätter (– voran der lutherische ›Reichsbote‹ und die römische ›Germania‹ –) über mich ergossen, überstieg alles bisher dagewesene Maß.« (Haeckel, Ernst, Der Kampf um den Entwicklungs-Gedanken. Drei Vorträge, gehalten am 14., 16. und 19. April 1905 im Saale der Sing-Akademie zu Berlin, Berlin 1905, 112.) 90 Radbruch, Gustav, Der Mensch im Recht, in: Ders., Der Mensch im Recht. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze über Grundfragen des Rechts, Göttingen 21961, 9– 22, hier 9. 91 Vgl. Radbruch, Der Mensch im Recht, 21. 89

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Jellinek hatte darin den Grundgedanken geäußert, »[…] dass die Ansichten einer Zeit vom Staate wesentlich bedingt sind von ihrer Ansicht vom Menschen und diese hinwieder innig zusammenhängt mit ihrer Anschauung vom Ursprung des menschlichen Geschlechts.« 92 Von diesem Grundgedanken ausgehend war es ihm in dem Vortrag […] voller Ernst […] mit der Beantwortung der Frage, welche Rolle der biblische Adam in den staatswissenschaftlichen Lehren des Mittelalters und der Neuzeit gespielt und welche bleibenden Spuren diese Gestalt in der Staatslehre einerseits, in dem Bau der modernen Staaten andererseits hinterlassen habe. 93

Immer noch selten fällt der Begriff auch bei Max Scheler, dem Begründer der Philosophischen Anthropologie. In der 1928 veröffentlichten zentralen Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos taucht der Begriff beispielsweise nicht auf, dort spricht Scheler eher von den verschiedenen »Ideen des Menschen«, die er gerade als solche und in ihrer Unvereinbarkeit scharf kritisiert; denn die verschiedenen »Ideenkreise« verstellen die Frage nach dem Wesen des Menschen, das gerade nicht in einer »Idee« oder einem »Bild« fixiert werden kann. 94 In der ein Jahr später erscheinenden Abhandlung über die Philosophische Weltanschauung kommt der Begriff dann aber vor. Er nimmt hier – wiederum in kritischer Distanz – dieselbe Bedeutung an wie »Idee des Menschen«, »Ideal des Menschen«, »Zukunftsbild des Menschen« usw. Von Bedeutung an Schelers Begriffsverwendung ist dabei, dass erstens der kollektive und zweitens der normative Charakter und die prägende Kraft von Menschenbildern stark in den Vordergrund treten. Bezeichnenderweise ist es Nietzsche, der als Stichwortgeber fungiert: Alle menschliche tiefere Bestrebung, auch alle Politik, ist besonders in Zeiten tiefgehender Wandlung von solch geheimnisvollem, ich möchte sagen eschatologischem Menschenbild und -vorbild bewußt oder unbewußt ge-

Jellinek, Georg, Adam in der Staatslehre. Vortrag gehalten im historisch-philosophischen Verein zu Heidelberg, Heidelberg 1893, 3 f. Zu Jellinek und Radbruch vgl. auch Graf, Missbrauchte Götter, 158. 93 Ebda., 3. 94 Vgl. Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), Gesammelte Werke, Bd. 9, Späte Schriften, hg. v. Manfred Frings, Bern/München 1976, 7–71, hier 11. Siehe auch einen früheren Aufsatz: Ders., Zur Idee des Menschen (1914), Gesammelte Werke, Bd. 3, Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, hg. v. Maria Scheler u. Manfred Frings, Bern/München 51972, 171–195. 92

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tragen. Der letzte deutsche Genius, der ein solches Bild bewußt zu schaffen suchte und es mit dem Gedanken einer neuen europäischen Elite eng zu verbinden suchte, war Friedrich Nietzsche. Er nannte das Bild seiner Sehnsucht »Übermensch«. 95

Zwar distanziert sich Scheler von Nietzsches Übermenschen, da »dieses Bild, so erweckend es gewirkt hat, uns nicht als dasjenige erscheint, das die werdende Elite unserer Zeit zu ihrer Eschatologie des Menschen machen dürfte«, 96 aber an dem Gedanken, dass sich mithilfe eines Menschenbildes ein neuer Menschentypus heranerziehen lasse, hält er gleichwohl fest. Auch wenn der Mensch biologisch festgelegt ist, bleibt doch seine geistige Plastizität so groß, dass die Bilder vom Menschen den Menschen selbst geistig formen. Von daher erwächst dem Menschen die Aufgabe, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen und die Selbstformung durch Menschenbilder in die eigene Hand zu nehmen. »Der Mensch ist das Wesen, dessen Seinsart selbst die noch offene Entscheidung ist, was es sein und werden will.« 97 Gleichzeitig birgt jedoch jedes Menschenbild die Gefahr, den Menschen zu eng zu fassen und damit die menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten zu beschneiden. Als Beispiele für solch eingrenzende Entwürfe führt Scheler etwa das Bild des animal rationale, den homo faber, den dionysischen Menschen Nietzsches, den homo sapiens, den l’homme machine usw. an. Um diese Einengungen des menschlichen Wesens zu vermeiden, plädiert Scheler selbst für das alle menschliche Entwicklungsmöglichkeiten offen haltende Menschenbild des »Allmenschen«, die »Idee des alle seine Wesensmöglichkeiten ausgewirkt in sich enthaltenden Menschen«. 98 Stark zur Verbreitung der Begriffe »Menschenbild« und »Bild des Menschen« beigetragen haben, dürfte ein weiterer Zeitgenosse Haeckels, Radbruchs und Schelers: Rudolf Steiner, der schon zu seinen Lebzeiten enorm populäre wie umstrittene Begründer der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik. Er entfaltet eine äußerst rege Publikations- und Vortragstätigkeit, in der diese Begriffe häufig fallen. Die Begriffsverwendung ist allerdings nicht einheitlich, vielmehr finden sich die Begriffe in allen ihren BedeutungsschattierunScheler, Max, Philosophische Weltanschauung (1929), Gesammelte Werke, Bd. 9, Späte Schriften, hg. v. Manfred Frings, Bern/München 1976, 73–182, hier 147. 96 Vgl. ebda., 148 (Hervorhebung im Original). 97 Ebda., 150. 98 Vgl. ebda., 150 f. 95

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gen wieder. Nicht zufällig aber steht Steiner unter dem Einfluss Stirners und – noch viel stärker – Nietzsches, den er noch persönlich kennenlernen konnte. 99 Die zunehmende Verbreitung der Begriffe spiegelt sich auch in den Büchern, die die Ausdrücke »Menschenbild« oder »Bild des Menschen« im Titel tragen. Auffallend ist dabei, dass sich noch bis Ende der 1920er Jahre kaum ein Buch mit diesen Worten im Titel findet. Ab den 1930ern erscheint aber mit einem Schlag gleich eine ganze Reihe an philosophischen, pädagogischen und literaturwissenschaftlichen Publikationen, deren Umschlag diese Begriffe zieren. In der Philosophie zählen dazu beispielsweise Friedrich Bergers Menschenbild und Menschenbildung: Die philosophisch-pädagogische Anthropologie J. G. Herders, 100 Otto Friedrich Bollnows Das neue Bild des Menschen und die pädagogische Aufgabe, 101 Franz Heiders Der Begriff der Lebendigkeit in Diltheys Menschenbild, 102 Hans-Jörg Herkendells Die Persönlichkeitsidee Wilhelm v. Humboldts und das völkisch-politische Menschenbild, 103 Konrad Pfeiffers Das Bild des Menschen in Schopenhauers Philosophie 104, Hubert Tellenbachs Aufgabe und Entwicklung im Menschenbild des jungen Nietzsche 105 und Wilhelm Sigrids Das Bild des Menschen in der Philosophie Max Schelers. 106 Die plötzliche Popularitätszunahme dieser Begriffe ist wohl auch dem Umstand geschuldet, dass die nietzscheanische Idee eines normativ wirksamen Menschenbildes dem Gedanken und dem Begriff nach bei wichtigen Philosophen des Nationalsozialismus eine Rolle Nietzsche befand sich damals aber schon im Zustand der geistigen Umnachtung. Vgl. Steiner, Rudolf, Mein Lebensgang. Eine nicht vollendete Autobiographie, Stuttgart 21975 [1925], 177 f. 100 Berger, Friedrich, Menschenbild und Menschenbildung. Die philosophisch-pädagogische Anthropologie J. G. Herders, Stuttgart 1933. 101 Bollnow, Otto Friedrich, Das neue Bild des Menschen und die pädagogische Aufgabe, Frankfurt am Main 1934. 102 Heider, Franz, Der Begriff der Lebendigkeit in Diltheys Menschenbild, Berlin 1939. 103 Herkendell, Hans-Jörg, Die Persönlichkeitsidee Wilhelm v. Humboldts und das völkisch-politische Menschenbild, Würzburg 1938. 104 Pfeiffer, Konrad, Das Bild des Menschen in Schopenhauers Philosophie. An Hand der Texte dargestellt und erläutert, Berlin/Leipzig 1931. 105 Tellenbach, Hubert, Aufgabe und Entwicklung im Menschenbild des jungen Nietzsche, Würzburg 1938. 106 Sigrid, Wilhelm, Das Bild des Menschen in der Philosophie Max Schelers, Dresden 1937. 99

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spielt. 107 Er findet sich z. B. bei Kurt Hildebrandt, der fordert, die Bemühungen der Menschenzüchtung und Rassenhygiene mögen sich an einem »Normbild« des Menschen orientieren. 108 In seinem Nachwort zu Karl Heckels Nietzsche-Biographie kommt er zudem ausdrücklich auf Nietzsches Lehre vom »Bild des Menschen« zu sprechen. 109 Einflussreicher aber dürfte die Begriffsverwendung bei den beiden wichtigsten NS-Pädagogen und Philosophen, Alfred Baeumler und Ernst Krieck, gewesen sein. Auch bei Baeumler ist der Bezug zu Nietzsche unleugbar, schließlich geht auf ihn maßgeblich die nationalsozialistische Nietzsche-Deutung und -Vereinnahmung zurück. 110 Wohl nicht ganz zufällig schreibt dann sein Habilitand Wolfram Steinbeck eine Studie über Das Bild des Menschen in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes. 111 1944 greift Baeumler sogar noch in seiner Vgl. dazu Graf, Missbrauchte Götter, 136 ff. Vgl. Hildebrandt, Kurt, Staat und Rasse. Drei Vorträge, Breslau 1928, 32: »Ohne Maßstab, ohne Normbild haben die Bestrebungen der Menschenzüchtung und der Rassenhygiene weder Halt noch Sinn.« 109 Hildebrandt, Kurt, Nachwort, in: Heckel, Karl, Nietzsche, sein Leben und seine Lehre, hg. v. Alfred Baeumler, Leipzig 21930, 259; vgl. dazu auch Hoffmann, David Marc, Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs, Berlin/New York 1991, 106. Zur Nietzsche-Rezeption im Nationalsozialismus vgl. unter anderen Aschheim, Steven, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart 1996; Kirchhoff, Jochen, Nietzsche, Hitler und die Deutschen. Die Perversion des Neuen Zeitalters, Berlin 1990; Taureck, Bernhard, Nietzsche und der Faschismus, Hamburg 1989. 110 Vgl. Baeumler, Alfred, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931; vgl. dazu Walther, Helmut, Der Wille zur Macht: Nietzsche-Rezeption 1939. Alfred Baeumler und der Kröner-Verlag samt Ergänzung vom März 2005 zu dessen Fälschungstätigkeit im Nietzsche-Archiv, Quelle: http://www.virtusens.de/walther/ wille [31. 07. 2012]; ferner Niemeyer, Christian, Nietzsche und die völkische Bewegung, in: Information Philosophie 1 (2005), 7–15. 111 Steinbeck, Wolfram, Das Bild des Menschen in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes. Untersuchungen über Persönlichkeit und Nation, München 1939; vgl. dazu Mehring, Reinhard, Tradition und Revolution in der Berliner Universitätsphilosophie, in: vom Bruch, Rüdiger (Hg.), Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Band III: Fachbereiche und Fakultäten, Stuttgart 2005, 199–214, hier 211. Zur Philosophie im Dritten Reich vgl. die umfangreiche (und umstrittene) Studie: Tilitzki, Christian, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, 2 Bde., Berlin 2002. Ein umfangreiches Kapitel über das Thema Menschenbild findet sich auch in der 1940 eingereichten Habilitation des sich ebenfalls zum Nationalsozialismus bekennenden Soziologen Helmut Schelsky. In dieser Arbeit über Thomas Hobbes, die erst 1981 publiziert wird, unterscheidet Schelsky vier Menschenbilder: das optimistische und das pessimistische, sowie das intellektualistische und das aktivistische, welches den Menschen – im Anschluss an Nietzsche – als ein Wesen begreift, »das seine Zukunft zu schaffen hat« und das den Menschen von vornherein 107 108

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Kriegs- und Durchhaltepropaganda auf Nietzsches Menschenbild zurück: In dieser Stunde erinnern wir uns des Mannes, der aus Verwirrung und Entwürdigung heraus das reine Bild des Menschen gewonnen hat. Er hat uns den Menschen vorgelebt und vorgedacht, dessen Idee wir verteidigen, den Menschen der schenkenden Tugend, deren innerster Kern die Tapferkeit ist, die Mutter aller Tugenden, jene Tapferkeit, die auch in der stärksten Bedrängnis die Gewißheit des schöpferischen Lebens nicht verliert: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.« 112

Krieck wiederum entwickelt bereits 1922 seine aufsehenerregende Philosophie der Erziehung, die ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg einbringt. Neu an seinem Ansatz war, dass er zum ersten Mal die weitgehend unbewusst sich vollziehende Erziehung durch Sozialisation thematisiert, in der der Einzelne nach den kollektiven Leitbildern der Gemeinschaft geformt wird. 113 Durch diese »funktionalen« Erziehungsprozesse, die vereinfacht durch das Prinzip »alle erziehen alle« ausgedrückt werden können, wird der Einzelne im Normalfall an den kollektiven Typus angepasst, schöpferische Menschen können den Typus indes auch – in engen Grenzen allerdings – »umschaffen, erhöhen oder erweitern«. Später wird Krieck den Nationalsozialismus als diejenige Bewegung verstehen, die es zustande bringen wird, ein neues Menschenbild und den ihm entsprechenden Menschentypus nicht nur zu kreieren, sondern auch umzusetzen und wirksam werden zu lassen. In der kurzen programmatischen Schrift Nationalsozialistische Erziehung finden sich gleich auf der ersten Seite folgende Zeilen: Darum schaut die nationalsozialistische Erziehung bewußt zugleich zurück in ferne Vorzeit, wo der rassische Charakter reiner als Vorbild hervortrat als in der Zeit der Vermischung und Vermanschung, um dann mit Herausvon »Rasse, Volkstum, geschichtliche[r] Situation, Familie, Beruf, Landschaft, Erziehung, Aufgabenbereich usw.« her denkt. Vgl. Schelsky, Helmut, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, Berlin 1981, 19–46, hier 33 f. 112 Baeumler, Alfred, Friedrich Nietzsche. Zu seinem 100. Geburtstag am 15. Oktober, in: Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, 13. 10. 1944, 1. Vgl. dazu Pestlin, Jörn, Nietzsche im Völkischen Beobachter. Eine Bestandsaufnahme, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Bd. 8, hg. v. Renate Reschke, Berlin 2001, 235–248, hier 246. 113 Vgl. Krieck, Ernst, Philosophie der Erziehung, Jena 1922; vgl. dazu Giesecke, Hermann, Hitlers Pädagogen. Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung, Teil 1: Die pädagogischen Chefideologen, Weinheim 21999, 35 ff.

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arbeitung der Rassecharaktere und Herausgestaltung eines entsprechenden Menschenbildes dem Volk eine feste Achse der Haltung und mit dem Ziel bewußter Volkwerdung das maßgebende und verpflichtende System der Werte zu sichern. 114

Zu berücksichtigen ist freilich, dass erstens der Menschenbildbegriff insgesamt gesehen keine zentrale Rolle für die nationalsozialistische Philosophie und Pädagogik spielt, und dass zweitens der Philosophie und generell den Geisteswissenschaften innerhalb des Nationalsozialismus keine sonderlich große Bedeutung zukam. Zur Legitimation verlässt man sich lieber auf die Naturwissenschaften, das Verhältnis zur Philosophie ist weitestgehend von Desinteresse geprägt. 115 Die Kulturtheoretiker wie Baeumler oder Krieck haben gegenüber den biologistisch-sozialdarwinistisch argumentierenden Rassentheoretikern das Nachsehen. 116 Ein tendenziell selbstrelativierender Reflexionsbegriff wie derjenige des Menschenbildes hat in dessen Programmen keinen Platz. Die Verwendung der Begriffe »Menschenbild« und »Bild des Menschen« durch nationalsozialistische Intellektuelle reicht aber aus, um das – durch den Nationalsozialismus oftmals explizit herausgeforderte und bedrängte – Christentum zu aktivieren. Auf jeden Fall nimmt ein Brief Katholischer Aktion aus dem Jahre 1935 den Begriff auf, und dies sicherlich nicht zufällig. Das Christentum befand sich damals schon im Abwehrkampf nicht nur gegen die nationalsozialistische Ideologie, sondern auch gegen reale nationalsozialistische Angriffe. 1934 wurde Ministerialdirektor Erich Klausener, seit 1928 Leiter der Berliner Katholischen Aktion, in seinem Dienstzimmer im Reichsverkehrsministerium ermordet. Dies geschah im Zuge der politischen Säuberungswelle im Anschluss an den propagandistisch so genannten Röhm-Putsch. Zum Verhängnis wurde Klausener, der zuKrieck, Ernst, Nationalsozialistische Erziehung begründet aus der Philosophie der Erziehung, Osterwieck am Harz 21934, 1. Zur Erziehung im Nationalsozialismus vgl. ferner Herrmann, Ulrich (Hg.), »Die Formung des Volksgenossen«. Der »Erziehungsstaat« des Dritten Reiches, Weinheim/Basel 1985. 115 Vgl. Mehring, Tradition und Revolution, 205. 116 Dies erfuhr dann auch Krieck, dessen dezidiert anti-biologistische Völkisch-politische Anthropologie heftige Kritik seitens der NS-Rassentheoretiker erntete, was den Rückzug Kriecks aus allen politischen und akademischen Ämtern zur Folge hatte. Vgl. Krieck, Ernst, Völkisch-politische Anthropologie, 3 Bde., Leipzig 1936–1938; dazu Giesecke, Hitlers Pädagogen, 55 ff. 114

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nächst noch an ein gemeinsames Projekt von Katholizismus und Nationalsozialismus geglaubt hatte, von den Nationalsozialisten aber abgewiesen wurde, sein Engagement gegen die antikirchliche Politik Adolf Hitlers im Allgemeinen und seine leidenschaftliche Rede vor rund 60.000 Zuhörern auf dem 32. Märkischen Katholikentag am 24. Juni 1934 in Hoppegarten im Besonderen. Mit dieser Rede, und vor allem der Mobilisierung von derart vielen Gläubigen, wurde er wohl zum politischen Risiko für die Nazis. 117 In dem Brief der Katholischen Aktion werden diese Umstände natürlich mit keinem Wort erwähnt, aber sie müssen jedem Leser nur allzu gut bekannt gewesen sein. Der Brief beschränkt sich darauf, den Katholiken die christliche Lehre vom Ursprung und Ziel des Menschen in Gott in Erinnerung zu rufen und inständig zur Nachfolge Christi aufzurufen. Bemerkenswert an der Schrift ist, dass hier wohl zum ersten Mal der Ausdruck »christliches Menschenbild« fällt, und dies schon im Titel des Briefes: Vom christlichen Menschenbild. 118 1936 erscheint dann das Buch Über das christliche Menschenbild des katholischen Philosophen Josef Pieper. 119 Diese Schrift, die schnell mehrere Auflagen erlebt, prägt den Begriff »Menschenbild« maßgeblich und dürfte stark zu seiner Verbreitung beigetragen haben. Pieper war damals bereits engagiert im Kreis der katholischen Monatszeitschrift Hochland, die 1903 von Carl Muth zur »Erweiterung und Vertiefung der geistigen Urteilskraft« gegründet worden war. Zu Beginn Zu Erich Klausener vgl. Große Kracht, Klaus, Erich Klausener (1885–1934). Preußentum und Katholische Aktion zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich, in: Faber, Richard/Puschner, Uwe (Hg.), Preußische Katholiken und katholische Preußen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2011, 271–296. 118 Katholische Aktion, Briefe Katholischer Aktion: Vom christlichen Menschenbild, Graz 1935. Der Ausdruck »christliches Menschenbild« kommt zwar schon etwas früher bei dem – in das NS-System verstrickten – evangelischen Theologen Martin Redeker vor, er hat dort aber noch eher den traditionellen synekdochischen Sinn: »Der Erzieher kann nicht den Anspruch erheben, ein bestimmtes, vielleicht spezifisch christliches Menschenbild zu formen und dadurch in den Ablauf des menschlichen Lebens schöpferisch eingreifen zu können.« (Redeker, Martin, Humanität, Volkstum, Christentum in der Erziehung. Ihr Wesen und gegenseitiges Verhältnis an der Gedankenwelt des jungen Herder für die Gegenwart dargestellt, Berlin 1934, 185.) Zu Redeker vgl. Buss, Hansjörg, Ein Leben zwischen Christen-, Haken- und Verdienstkreuz. Der Kieler Theologe Martin Redeker, in: Prahl, Hans-Werner/Petersen, Hans-Christian/Zankel, Sönke (Hg.), Uni-Formierung des Geistes. Universität Kiel im Nationalsozialismus, Bd. 2, Kiel 2007, 99–132. 119 Vgl. Pieper, Josef, Über das christliche Menschenbild, Leipzig 1936. 117

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widmete sich die Zeitschrift der Vermittlung von Katholizismus und moderner Literatur, was 1911 zu ihrer Indizierung im Modernismusstreit führte. Nach dem Ersten Weltkrieg öffnete sie sich politischen Themen und bemühte sich gemäß der 1916 von Max Scheler in eben dieser Zeitschrift geforderten »soziologischen Neuorientierung« um eine Erneuerung der christlichen Auffassung des Menschen und der »Verchristlichung« der modernen Welt. Trotz einer kritischen Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime konnte die Zeitschrift bis 1941 erscheinen. 120 Von zentraler Bedeutung für den Widerstand gegen die NS-Ideologie waren dabei vor allem Beiträge zum christlichen Menschenbild; dieses »stand ja überhaupt im Mittelpunkt aller theologischen Erörterungen.« 121 Der Terminus des »christlichen Menschenbildes« avancierte so sehr rasch zu einem zentralen Topos der christlichen Identität, zu dem sich jeder christliche Intellektuelle zu verhalten hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen in rascher Folge Publikationen zum Thema, meist von katholischer Seite. 122 Doch nicht nur das »christliche Menschenbild«, das Thema Menschenbild überhaupt boomt, was sich auch an steigenden Publikationszahlen ablesen lässt. Die geistige Leere nach den Schrecken des Krieges und das Entsetzen darüber, wozu Menschen fähig sind, äußern sich in einem gesteigerten Bedürfnis nach Orientierung. Zudem tritt das Wissen darum, dass unterschiedliche Grundverständnisse vom Menschen zu sehr unterschiedlichen und in ihren Unterschieden sehr realen, sehr spürbaren gesellschaftlichen Verhältnissen führen, massiv ins Bewusstsein, wird doch das rassistisch-elitäre Menschenbild des Nationalsozialismus abgelöst durch die Zweiteilung der Welt in eine eher an einem individualistischen Menschenbild orientierten Westen und einem eher an einem kollektivistischen Menschenbild ausgerichteten kommunistischen Osten. Mit diesem Schrecken im Rücken und dieVgl. Ackermann, Konrad, Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, in: Historisches Lexikon Bayerns, Quelle: http://www. historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44729 (25. 02. 2011) [19. 09. 2012]; ferner ders., Der Widerstand der Monatsschrift Hochland gegen den Nationalsozialismus, München 1965. 121 Vgl. Ackermann, Der Widerstand der Monatsschrift, 139 f. 122 Vgl. z. B. Frick, Heinrich, Das christliche Menschenbild, Gießen 1946; Lotz, Johannes Baptist, Das christliche Menschenbild im Ringen der Zeit. 3 Vorträge, Heidelberg 1947; Müller, Max, Das christliche Menschenbild und die Weltanschauung der Neuzeit, Freiburg im Breisgau 1945; Spintzik, Josef, Zum christlichen Menschenbild, Karlsruhe 1948. 120

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sem Wissen vor Augen wächst in allen Bereichen das Interesse am Thema Menschenbild. So wird etwa in der Kunst vor dem Hintergrund der jüdisch-christlichen Tradition und humanistischer Ideale die Frage debattiert, ob eine Wiedergeburt des Menschen aus dem Geiste möglich sei. Allerorts werden Kunstausstellungen und Gespräche zum »Menschenbild unserer Zeit« organisiert. 123 In der Wissenschaft wird die Menschenbildforschung in den 1950ern beinahe zu einem »Renner«. 124 Die Folgen der Besetzung des Begriffs »Menschenbild« durch die christliche Intellektualität lassen sich also kaum überschätzen. Erstens wurde der Begriff dadurch in den Rang eines gesellschaftlichen Zentralbegriffes erhoben. Menschenbilder – verstanden als kollektiv geteilte Annahmen über den Menschen – gelten fortan als Fundament jeder gesellschaftlichen Ordnung, jedes Moral-, Recht- und Politiksystems, als zentraler Orientierungspunkt individuellen wie gesellschaftlichen Handelns, und als wichtiges Merkmal individueller wie sozialer Identität. An dem Menschenbild, das man vertritt, entscheidet sich, was für ein Mensch man ist und wo man hingehört. Um mit Karl Jaspers, der im Übrigen auch ein Nietzsche-Kenner ist, zu sprechen: Die Verwahrlosung des Menschenbildes aber führt zur Verwahrlosung des Menschen selber. Denn das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, wird selbst ein Faktor unseres Lebens. Es entscheidet über die Weisen unseres Umgangs mit uns selbst und mit den Mitmenschen, über Lebensstimmung und Wahl der Aufgaben. 125

Damit wurde der Begriff zweitens zu einem zentralen Begriff der weltanschaulichen Auseinandersetzung, so wie sie etwa zwischen Christentum und Nationalsozialismus, zwischen Christentum und Humanismus, 126 zwischen Christentum und Marxismus, 127 zwischen Vgl. Hartl, Lydia, Menschenbilder und die Bilder vom Menschen. Betrachtungen zur Frage nach dem Menschenbild in der Kunst der Gegenwart, in: Oerter, Rolf (Hg.), Menschenbilder in der modernen Gesellschaft. Konzeptionen des Menschen in Wissenschaft, Bildung, Kunst, Wirtschaft und Politik, Stuttgart 1999, 159–177, hier 162. 124 Vgl. Meinberg, Eckhard, Das Menschenbild der modernen Erziehungswissenschaft, Darmstadt 1988, 321, (Anm. 11e). 125 Jaspers, Karl, Der philosophische Glaube, München 1948, 56. 126 Vgl. Weinstock, Heinrich, Die Tragödie des Humanismus. Wahrheit und Trug im abendländischen Menschenbild, Heidelberg 1953. 127 Vgl. etwa Lacroix, Jean, Der Mensch in marxistischer und in christlicher Schau, Offenburg 1949; Tillich, Paul, Der Mensch im Christentum und im Marxismus, Düs123

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Christentum und Existenzialismus, zwischen Christentum und Atheismus 128 oder zwischen Christentum und Naturwissenschaften – wie heute noch beispielsweise im Bereich der Neurowissenschaften 129 – stattfindet. Als zentraler, identitätsstiftender Begriff der gesellschaftlichen weltanschaulichen Auseinandersetzungen ist der Begriff drittens gleichzeitig ein Begriff der politischen Auseinandersetzungen. Nicht von ungefähr berufen sich die dem Christentum nahestehenden Parteien seit jeher auf das »christliche Menschenbild«. 130 Insgesamt hat dies zur Folge, dass der Begriff viertens enorm populär und zu dem vielseitig einsetzbaren Allerweltsbegriff wird, den wir heute kennen. 131 Es ist wichtig zu erkennen, dass die Verschiebungen, die der Begriff in den Jahren nach dem Krieg erfährt, kaum seine Semantik betreffen; sie fügen dem Begriff keinen neuen Bedeutungsaspekt hinzu. Der Begriff bleibt in den schon zu Beginn des Jahrhunderts gegebenen Bedeutungen erhalten. Es kommt, wie schon oben festgehalten, lediglich zu einer Verschiebung innerhalb des bestehenden semantischen Feldes: Der bei Nietzsche grundgelegte selbstreflexive, ideologiekritische und normative Begriff des Menschenbildes als Bezeichnung für ein für kulturell-soziale Verhältnisse und Praktiken fundamentales, kollektiv geteiltes Verständnis von Wesensmerkmalen des Menschen avanciert zum Bedeutungskern des Begriffs. Einer der seltenen begrifflich einschlägigen Lexikonartikel – charakteristi-

seldorf 1953; Bienert, Walther, Über Marx hinaus zu wahrem Menschsein. Eine kritische Analyse der marxschen Anthropologie in ihrer Begegnung mit dem christlichen Menschenbild, Frankfurt am Main u. a. 1979. 128 Vgl. Lilje, Hanns, Atheismus – Humanismus – Christentum. Der Kampf um das Menschenbild unserer Zeit, Hamburg 1962; Kern, Walter, Atheismus – Marxismus – Christentum. Beiträge zur Diskussion, Innsbruck 1976. 129 Vgl. etwa Au, Christiana aus der/Jackelén, Antje (Hg.), Im Horizont der Anrede. Das theologische Menschenbild und seine Herausforderungen durch die Neurowissenschaften, Göttingen 2011; Eibach, Ulrich, Gott im Gehirn? Ich – eine Illusion? Neurobiologie, religiöses Erleben und Menschenbild aus christlicher Sicht, Witten 22008. 130 Vgl. z. B. Gauber, Jörg-Dieter/Küsters, Hanns Jürgen/Uertz, Rudolf (Hg.), Das christliche Menschenbild: Zur Geschichte, Theorie und Programmatik der CDU, Freiburg im Breisgau 2013; Holz, Marcus, Christliche Weltanschauung als Grundlage von Parteipolitik. Eine Analyse des genuin Christlichen in der frühen CDU/CSU (1945– 50) aus der Betrachtung des christlichen Menschenbildes und seiner ideengeschichtlichen Hintergründe, (Diss.) München 1992. 131 Vgl. Graf, Missbrauchte Götter, 144 ff.

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scherweise aus dem Umfeld christlich orientierter Partei- und Gesellschaftspolitik – bringt dies auf den Punkt: Die Frage nach dem M. [Menschenbild] ist in religiösweltanschaulichen Gesellschaften unausweichlich, weil den unterschiedlichen Anschauungen vom Menschen zugleich auch konkurrierende Vorstellungen von Gesellschaft und staatlicher Rechtsgemeinschaft korrespondieren und weil die politische Gestaltung von Normen, Institutionen und Ordnungen aus der Reflexion über den Menschen, seine Grundbedürfnisse und Ansprüche, normative Orientierung und Legitimation empfängt. 132

Die anderen Bedeutungen des Begriffs treten demgegenüber in den Hintergrund, bleiben aber erhalten und schwingen jeweils in ganz unterschiedlicher Weise mit. Die vielfältige Menschenbildforschung, die sich seit den 1950ern in den unterschiedlichsten Bereichen der Wissenschaft entwickelt, entfaltet im Grunde nur dieses Begriffsverständnis und spürt den so verstandenen Menschenbildern in ihren mannigfachen Gestalten und Wirkungen nach. In einigen Disziplinen entwickelt sich sogar so etwas wie eine Tradition der Menschenbildforschung im Sinne einer Reihe aufeinander Bezug nehmender und aufeinander aufbauender Untersuchungen: in der Pädagogik, 133 in der Theologie mit ihrem klassischen Topos des »christlichen Menschenbildes«, 134 in der Philosophie der Ökonomik mit ihrer AusBaumgartner, Alois, Christliches Menschenbild, in: Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, hg. v. Winfried Becker, Günter Buchstab u. a., Paderborn 2002, 676–679, hier 676. 133 Beginnend mit Bollnow, Otto Friedrich, Das neue Bild des Menschen; ders., Erziehung in anthropologischer Sicht, Zürich 1969; Hentig, Hartmut von, Menschenbilder in Bildung und Erziehung, in: Oerter, Rolf (Hg.), Menschenbilder in der modernen Gesellschaft. Konzeptionen des Menschen in Wissenschaft, Bildung, Kunst, Wirtschaft und Politik, Stuttgart 1999, 143–149; Kupffer, Heinrich, Der Faschismus und das Menschenbild in der deutschen Pädagogik, Frankfurt am Main 1984; Meinberg, Menschenbild der modernen Erziehungswissenschaft; Nash, Paul/Kazamias, Andreas/Perkinson, Henry (Hg.), The Educated Man: Studies in the History of Educational Thought, New York/London/Sidney 1965; Oelkers, Jürgen, Der Mensch als Maß des Bildungswesens?, in: Herms, Eilert (Hg.), Menschenbild und Menschenwürde, Gütersloh 2001, 118–137; Roth, Heinrich, Pädagogische Anthropologie. 1. Bildsamkeit und Erziehung, Hannover 1966. 134 Vgl. z. B. Buggle, Franz, Kritische Aspekte des biblisch-christlichen Menschenbildes, in: Weinke, Kurt/Grabner-Haider, Anton (Hg.), Menschenbilder im Diskurs. Orientierungen für die Zukunft, Graz 1993, 9–20; Brunn, Frank u. a. (Hg.), Theologie und Menschenbild. Beiträge zum interdisziplinären Gespräch, Leipzig 2007; Henning, Christian, Selbsttötung und christliches Menschenbild, in: Herms, Eilert (Hg.), Menschenbild und Menschenwürde, Gütersloh 2001, 455–470; Homa, Tomasz, Christli132

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20. Jahrhundert: Popularisierung und Politisierung

einandersetzung um den homo oeconomicus, 135 in der Psychologie und Psychotherapie, 136 in der (Philosophie bzw. Ethik der) Medi-

ches Menschenbild. Anthropologische Skizzen, in: Kaplow, Ian (Hg.), Mensch – Bild – Menschenbild. Anthropologie und Ethik in Ost-West-Perspektive, Weilerswist 2009, 97–113; Koch, Klaus, Perspektiven biblischen Menschenverständnisses im Zeitalter der Technologie, in: Herms, Menschenbild und Menschenwürde, 48–70; Kühnhardt, Ludger, Christliches Menschenbild im Prozeß der europäischen Einigung, Köln 2001; Langford, Peter, Modern Philosophies of Human Nature. Their Emergence from Christian Thought, Dordrecht 1986; Lehmann, Karl, Das christliche Menschenbild in Gesellschaft und Kirche, in: Biskup, Reinhold/Hasse, Rolf (Hg.), Das Menschenbild in Wirtschaft und Gesellschaft, Bern/Stuttgart/Wien 2000, 51–78; Lehmann, Karl, Das christliche Menschenbild und die Grenzen der Wissenschaft, in: Frühwald, Wolfgang/ Beyreuther, Konrad/Dichgans, Johannes (Hg.), Das Design des Menschen. Vom Wandel des Menschenbildes unter dem Einfluss der modernen Naturwissenschaft, Köln 2004, 147–181; Lehmann, Karl, Gibt es ein christliches Menschenbild?, in: Vossenkuhl, Wilhelm (Hg.), Ecce homo! Menschenbild – Menschenbilder, Stuttgart 2009, 121–139; Meckenstock, Günter, Zur wirtschaftsethischen Bedeutung des christlichen Menschenbildes, in: Herms, Menschenbild und Menschenwürde, 107–117; Mieth, Dietmar, Das »christliche Menschenbild« und seine Relevanz für die Ethik, in: Kraus, Wolfgang (Hg.), Bioethik und Menschenbild bei Juden und Christen. Bewährungsfeld Anthropologie, Neukirchen-Vluyn 1999, 34–56; Stock, Konrad, Das Menschenbild in der Theologie, in: Oerter, Menschenbilder in der modernen Gesellschaft, 65–76. 135 Vgl. z. B. Biervert, Bernd/Held, Martin (Hg.), Das Menschenbild der ökonomischen Theorie. Zur Natur des Menschen, Frankfurt am Main 1991; Biskup/Hasse, Das Menschenbild in Wirtschaft und Gesellschaft; Grisold, Andrea/Gubitzer, Luise/ Pirker, Reinhard (Hg.), Das Menschenbild in der Ökonomie. Eine verschwiegene Voraussetzung, Wien 2007; Häuser, Karl, Zum Menschenbild in der Nationalökonomie, in: Duncker, Hans-Rainer/Brandt, Reinhard (Hg.), Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie. Zum 100jährigen Jubiläum der Gründung der Wissenschaftlichen Gesellschaft im Jahre 1906 in Strassburg, Stuttgart 2006, 285–300; Kirchgässner, Gebhard, Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Tübingen 1991; Manstetten, Reiner, Das Menschenbild der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith, Freiburg im Breisgau 2000; Matthiesen, Kai, Kritik des Menschenbildes in der Betriebswirtschaftslehre. Auf dem Weg zu einer sozialökonomischen Betriebswirtschaftslehre, Wien 1995; Prat, Enrique (Hg.), Ökonomie, Ethik und Menschenbild, Wien 1993. 136 Vgl. z. B. Bär, Peter, Menschen-Bilder in der Psychologie und Psychotherapie. … und eine friedliche Revolution?!, in: Modarressi-Tehrani, Diana/Göthlich, Stephan (Hg.), Menschenbilder, Münster 2009, 25–40; Fahrenberg, Jochen, Annahmen über den Menschen. Menschenbilder aus psychologischer, biologischer, religiöser und interkultureller Sicht, Heidelberg/Kröning 2004; Schneewind, Klaus, Das Menschenbild der Persönlichkeitspsychologie, in: Oerter, Menschenbilder in der modernen Gesellschaft, 22–39; Vaitl, Dieter, Das Menschenbild der Psychologie, in: Duncker/ Brandt, Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie, 379–401.

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Begriffsgeschichtliches

zin 137 und schließlich in der deutschen Rechtswissenschaft mit ihrer Thematik des »Menschenbildes des Grundgesetzes«. 138 Für eine begriffsgeschichtliche Untersuchung sind diese Entwicklungen nicht weiter relevant. Sie bewegen sich innerhalb einer etablierten Semantik, ohne sie zu verändern. Von daher kann der begriffsgeschichtliche Überblick hier abgebrochen werden und nach einem begriffsgeschichtlichen Fazit zur systematischen Analyse des modernen, philosophisch relevanten Menschenbildbegriffs fortgeschritten werden.

Vgl. z. B. Borasio, Gian Domenico, Wie, wo und wann dürfen wir sterben? Das ärztliche Menschenbild am Lebensende zwischen Autonomie und Fürsorge, in: Vossenkuhl, Ecce homo, 106–120; Girke, Matthias u. a. (Hg.), Medizin und Menschenbild. Das Verständnis des Menschen in Schul- und Komplementärmedizin, Köln 2006; Maio, Giovanni, Medizin und Menschenbild. Eine Kritik anthropologischer Leitbilder der modernen Medizin, in: Maio, Giovanni/Clausen, Jens/Müller, Oliver (Hg.), Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik, Freiburg im Breisgau/München 2008, 215–229; Regener, Susanne, Visuelle Gewalt. Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2010; Schmidt, Heinz, Helfen – mit welchem Ziel? Zum diakonischen und gerontologischen Menschenbild, in: Brunn, Theologie und Menschenbild, 71–78. 138 Vgl. z. B. Auer, Karl Heinz, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, Wien 2005; Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Vom Wandel des Menschenbildes im Recht, Münster 2001; Brugger, Winfried, Das Menschenbild der Menschenrechte, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 3 (1995), 121–134; Geiger, Willi u. a., Menschenrecht und Menschenbild in den Verfassungen Schwedens, Deutschlands und Österreichs. Ethische Grundlagen und praktische Folgerungen, Heidelberg 1983; Häberle, Peter, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, Berlin 42008; Häuser, Franz, Das Menschenbild in der Rechtswissenschaft, in: Biskup/Hasse, Das Menschenbild in Wirtschaft und Gesellschaft, 161–189; Hillgruber, Christian, Das Menschenbild des Grundgesetzes und seine Anfechtungen im aktuellen Bioethik-Diskurs, in: Seubold, Günter (Hg.), Humantechnologie und Menschenbild. Mit einem Blick auf Heidegger, Bonn 2006, 87–110; Kirchhof, Paul, Menschenbild und Freiheitsrecht, in: Grote, Rainer u. a. (Hg.), Die Ordnung der Freiheit, Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2007, 275–296; Kraetzer, Jakob (Hg.), Das Menschenbild des Grundgesetzes. Philosophische, juristische und theologische Aspekte, Berlin 1996; Schünemann, Bernd/Müller, Jörg/Philipps, Lothar (Hg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, Berlin 2002; Poelchau, Harald, Das Menschenbild des Fürsorgerechts. Eine ethisch-soziologische Untersuchung, Potsdam 1932 (Poechlau war damals Assistent des evangelischen Theologen Paul Tillichs, diese Schrift ging aus seiner 1931 eingereichten interdisziplinären Dissertation hervor); Radbruch, Der Mensch im Recht; Tischler, Valentin, Menschenbilder und Menschenrechte, Frankfurt am Main u. a. 2010. 137

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Begriffsgeschichtliches Fazit

Begriffsgeschichtliches Fazit Der Blick in die Geschichte des Begriffs »Menschenbild« macht deutlich, dass er ein sehr breiter und unscharfer Begriff ist. Bei aller Bedeutungsvielfalt lassen sich aber doch vier relativ stabile Grundbedeutungen identifizieren: 1. Im wörtlichen Sinne bezeichnet der Begriff die materielle, bildhafte Darstellung der körperlichen Gestalt eines Menschen, wie sie etwa in Form einer Fotografie, eines Gemäldes oder einer Plastik gegeben sein kann. 2. In einem synekdochischen Sinne bezeichnet der Begriff einen konkreten Menschen selbst. Dieser Begriffsverwendung liegt christliches bzw. (neu-)platonisches Gedankengut zugrunde, demzufolge der Mensch Ebenbild Gottes oder aber sinnliches Abbild eines ideenhaften Urbildes ist. 3. In einem mentalistisch-konkretistischen Sinne bezeichnet der Begriff eine mentale Repräsentation eines konkreten Menschen. So kann etwa die Darstellung, die ein Schriftsteller in einem Roman von dem Helden gibt, in diesem Sinne als ein Menschenbild bezeichnet werden. 4. In einem mentalistisch-universalistischen Sinne schließlich bezeichnet der Begriff Menschenbild Annahmen über allen Menschen gemeinsame wichtige Charakteristika, d. h. also eine mentale Repräsentation des Wesens oder der Natur des Menschen. Diese Verwendungsweise ist die heute vorherrschende. Zum ersten Mal klingt sie bei Pestalozzi an, maßgeblich geprägt wird sie von Nietzsche. Ebenso interessant und aufschlussreich wie die Einsicht, wo überall der Begriff »Menschenbild« fällt, ist freilich die Erkenntnis, wo überall er nicht fällt. Das Urteil, dass es sich bei dem Begriff Menschenbild im Grunde »gar nicht um einen philosophischen Terminus« handelt, mag daher auf den ersten Blick so falsch nicht erscheinen. 139 Auf einen zweiten Blick jedoch kann die Zurückhaltung, mit der die Philosophie diesem Begriff häufig begegnet, nur erstaunen. Dies nicht nur, weil es sich um einen zweifellos wichtigen und einflussreichen Begriff handelt, sondern vor allem, weil die Intuitionen, die den moVgl. Thies, Christian, Menschenbilder und Ethik, in: Kaplow, Ian (Hg.), Mensch – Bild – Menschenbild. Anthropologie und Ethik in Ost-West-Perspektive, Weilerswist 2009, 21–34, hier 21.

139

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Begriffsgeschichtliches

dernen, philosophisch interessanten Begriff begleiten – nämlich dass es sich bei Menschenbildern um kollektiv geteilte Annahmen über den Menschen handelt, die tatsächlich für die ethische, gesellschaftliche und politische Ordnung fundamental sind – als richtig erscheinen. Dies allein sollte schon Grund genug sein, den Begriff doch endlich einmal zum Gegenstand einer präzisen philosophischen Analyse zu machen.

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Systematisch-begriffliche Klärungen

Von den vier Menschenbildbegriffen ist es der von Nietzsche geprägte mentalistisch-universalistische, der heute am gebräuchlichsten ist. Wenn gegenwärtig von Menschenbildern die Rede ist, dann sind damit in der Regel Annahmen über den Menschen im Allgemeinen gemeint. Es ist auch dieser Begriff, der von philosophischem Interesse ist. Denn wenn in der Philosophie der Begriff fällt, dann ausschließlich in diesem vierten, modernen Sinne, mit dem auf fundamentale anthropologische Annahmen rekurriert wird. Aus diesem Grund steht fortan ausschließlich dieser vierte, moderne Menschenbildbegriff im Fokus der Untersuchung. Die Untersuchung nimmt dabei folgenden Verlauf: In einem ersten Schritt werden zunächst einige allgemeine Beobachtungen zum gegenwärtigen Begriffsgebrauch festgehalten. Um dem Begriff eine etwas schärfere Kontur zu geben, wird in einem zweiten Schritt eine Definition des Begriffs erarbeitet. In einem dritten Schritt werden die Annahmen, aus denen Menschenbilder bestehen, näher in den Blick genommen. Zur weiteren Präzisierung wird im vierten Schritt schließlich die Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Menschenbildern eingeführt, wobei sich letztere noch in sektorale und lebensweltliche differenzieren lassen; die lebensweltlichen Menschenbilder werden dann Gegenstand des zweiten Teils dieser Arbeit sein.

Allgemeine Beobachtungen zum Begriff »Menschenbild« Der moderne Begriff »Menschenbild«, so wie er gegen Ende des 19. Jahrhunderts auftaucht, ist – wie schon angedeutet – ein spezifisch deutscher Begriff. Ähnlich wie die ihm verwandten Begriffe des »Weltbildes« und der »Weltanschauung« – mit beiden sind Annahmen über die Welt als Ganze bezeichnet –, die in anderen Sprachen auch häufig als Lehnwörter auftauchen, hat er in anderen Sprachen 83 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Systematisch-begriffliche Klärungen

kein vollständiges Äquivalent. Im Englischen entsprechen ihm am ehesten noch die Formulierungen »conception of human nature«, »concept of human nature«, »understanding of human nature«, »idea of human nature«, »view of human nature« oder ähnliche. Weniger gebräuchlich ist der Ausdruck »concept of man«, der etwa von Erich Fromm und Clifford Geertz verwendet wird. 1 Die wörtliche Übertragung von Menschenbild im Form des »image of man« findet sich kaum. Eine berühmte Ausnahme ist der Aufsatz Philosophy and the Scientific Image of Man von Wilfrid Sellars, in dem dieser den Begriff »image of man« verwendet, um die (natur-)wissenschaftliche Auffassung vom Menschen – das »scientific image of man« – von der vorwissenschaftlichen, am phänomenalen Erleben orientierten Auffassung des Menschen – dem »manifest image of man« – zu unterscheiden. 2 Im Französischen sind die Ausdrücke »image de l’homme« und – etwas häufiger – »idee de l’homme« in Verwendung, die beide nahe an den deutschen Begriff kommen. Anders als im Deutschen finden sich diese Ausdrücke allerdings nur selten auf den Titelseiten einschlägiger Publikationen. Und anders als im deutschen Sprachraum spielen die englischen und französischen Ausdrücke in öffentlichen Auseinandersetzungen kaum eine Rolle. Ihnen fehlen vor allem die politisch-gesellschaftlichen Konnotationen, die für den deutschen Begriff so charakteristisch sind. Der moderne deutsche Begriff »Menschenbild« jedenfalls ist ein Allerweltsbegriff, der in allen möglichen Kontexten und jeden erdenklichen Kombinationen Verwendung findet. Er erfreut sich insVgl. Fromm, Erich, Marx’s Concept of Man, New York 1961; Geertz, Clifford, The Impact of the Concept of Culture on the Concept of Man, in: Ders., The Interpretation of Cultures, London u. a. 1975, 33–54. Vgl. dazu Thies, Menschenbilder und Ethik, 21. 2 Vgl. Sellars, Wilfrid, Philosophy and the Scientific Image of Man, in: Ders., Empiricism and the Philosophy of Mind, London 1963, 1–40; weitere Ausnahmen sind Chein, Isidor, The Science of Behavior and the Image of Man, New Brunswick 2009 und Markley, O[liver]/Harman, Willis (Hg.), Changing Images of Man, Oxford u. a. 1982. Manchmal lässt sich das englische »image of man« auch auf eine etwas holprige Übersetzung aus dem Deutschen zurückführen wie z. B. bei Löwenthal, Leo, Literature and the Image of Man, New Brunswick 1986 (zur Übersetzung vgl. Löwenthal, Leo, Critical Theory and Frankfurt Theorists: Lectures, Correspondence, Conversations, New Brunswick 1989, 236). Dass »image of man« und »image de l’homme« nicht gebräuchlich sind, hat auch damit zu tun, dass das englische »man« und das französische »homme« nicht nur Mensch, sondern vor allem Mann bedeuten. »Image of man« und »image de l’homme« finden sich daher eher zur Bezeichnung von Bildern des Mannes, im übertragenen wie im wörtlichen Sinne z. B. einer künstlerischen Darstellung. 1

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Allgemeine Beobachtungen zum Begriff »Menschenbild«

besondere in der populärwissenschaftlichen Literatur, in der breiten Masse der Lebensratgeberliteratur und in den im Feuilleton geführten weltanschaulichen, ethischen und politischen Debatten großer Beliebtheit. Nicht weniger populär ist der Begriff in den Wissenschaften: In der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschung findet sich unter diesem Begriff eine Fülle an Untersuchungen zu den verschiedenen anthropologischen Vorstellungen unterschiedlicher historischer Epochen, Kulturen, Milieus, wissenschaftlicher Disziplinen, geistiger Strömungen, Religionen usw. Auffallend dabei ist, dass sich der Gebrauch des Begriffs nicht selten auf die Nennung in Titeln oder Überschriften beschränkt. Der Begriff »Menschenbild« dient in diesen Fällen sowohl als ein Klammerbegriff, mit dem inhaltlich Heterogenes zusammengespannt wird, als auch als eine Verlegenheitslösung, mit der der Anschein von Bedeutung und Tiefgründigkeit generiert werden kann. 3 Die Verwendung des Begriffs ist freilich nicht immer so substanzlos. Im Gegenteil, in einigen wissenschaftlichen Disziplinen hat sich – darauf wurde in der begriffsgeschichtlichen Analyse bereits hingewiesen – die Beschäftigung mit Menschenbildern als ein Forschungsfeld etabliert. Die allgemeine Beliebtheit des Menschenbildbegriffs lässt sich – neben seiner Unschärfe, die ihn so breit einsetzbar sein lässt – unter anderem wohl auf folgende vier Faktoren zurückführen: Erstens ist der Begriff mit enormer Bedeutungsschwere ausgestattet. Er konnotiert, dass es um Wesentliches geht; wer vom Menschenbild spricht, hat Grundsätzliches zu sagen, denn das Fundament des menschlichen Selbstverständnisses, von Gesellschaft und Kultur steht auf dem Spiel. Nicht von ungefähr lässt sich daher auch beobachten, dass der Begriff »besonders in Zeiten von Aufbruch und Wandel, Krise und Umbruch, fortschrittsbedingter Unsicherheit und

Insbesondere Sammelbänden, die zum Teil inhaltlich nur entfernt mit Menschenbildern zu tun haben, soll dadurch wohl Bedeutung verliehen werden. Als Beispiele für viele mögen folgende Bücher gelten, in deren Beiträgen das Menschenbild (zumindest als Begriff, oft aber auch als Thema) überhaupt keine Rolle spielt: FAW [Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung] (Hg.), Menschenbild und Überbevölkerung, Ulm 1992; Holderegger, Adrian u. a. (Hg.), Hirnforschung und Menschenbild. Beiträge zur interdisziplinären Verständigung, Fribourg/Basel 2007; Kroker, Eduard/Dechamps, Bruno (Hg.), Das Menschenbild der freien Gesellschaft. Globalisierung und europäische Integration, Frankfurt am Main 2000; Lukas, Elisabeth, Lehrbuch der Logotherapie. Menschenbild und Methoden, München u. a. 2 2002. 3

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Systematisch-begriffliche Klärungen

Sinnsuche Konjunktur« hat. 4 Zweitens haftet dem Begriff dadurch ein Pathos an, das ihn »in besonderer Weise festredenträchtig« macht. 5 Diese Eigenschaft teilt er mit dem freilich ungleich stärker emotional befrachteten Begriff der Menschenwürde, mit dem er oft in einem Atemzug genannt wird. Drittens ist der Begriff seit seinem Auftauchen bei Pestalozzi und später bei Nietzsche ein Reflexionsbegriff: Er zeigt das Bewusstsein davon an, dass es (a) eine Pluralität konkurrierender, sich zum Teil radikal widersprechender Annahmen über den Menschen gibt, dass es sich (b) bei den Annahmen über den Menschen eben um Annahmen handelt, und dass es (c) folglich eine Differenz zwischen den Annahmen über den Menschen und dem realen Menschen gibt. Wer sich auf das Menschenbild bezieht, bezieht sich mithin eben gerade nicht direkt auf den Menschen, sondern auf Annahmen über den Menschen. Der Begriff erlaubt so, selbst unter den Bedingungen der Pluralität anthropologischer Auffassungen auf nicht-naive Weise doch vom Menschen im Allgemeinen – oder gar vom »Wesen des Menschen« – zu sprechen. Im Begriff »Menschenbild« ist nämlich das unbestreitbare Faktum der Pluralität anthropologischer Überzeugungen, von dem moderne Gesellschaften geprägt sind, und ihr doxastischer Charakter metareflexiv stets mitthematisiert. Und viertens schließlich signalisiert der Begriff, dass es nicht nur um Fundamentales, sondern zugleich um Weltanschauliches geht, um letzte, dem rationalen Zugriff womöglich entzogene Überzeugungen, denen nur im Modus des Bekenntnisses entsprochen werden kann. Die entscheidenden Überzeugungen über den Menschen sind, so schwingt es im Begriff mit, Sache des Glaubens, nicht des Wissens. Der Begriff »Menschenbild« erlaubt es auf diese Weise, den Umstand zu artikulieren, dass viele der existenziell bedeutsamsten anthropologischen Überzeugungen wie z. B. diejenige, dass der Mensch von Gott geschaffen ist oder dass er eine unsterbliche Seele hat, tatsächlich weltanschaulicher bzw. religiöser Natur sind. Beides, die metareflexive Betonung des doxastischen Charakters der Annahmen über den Menschen und der Hinweis auf ihren weltanschaulichen Charakter, haben drei widersprüchliche Implikationen:

Vgl. Weis, Kurt, Menschenbilder – woher und wozu?, in: Ders. (Hg.), Bilder vom Menschen in Wissenschaft, Technik und Religion, München 1993, 11–38, hier 12. 5 Vgl. Wieland, Wolfgang, Medizin als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem Menschenbild, in: Girke, Medizin und Menschenbild, 9–27, hier 9. 4

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Allgemeine Beobachtungen zum Begriff »Menschenbild«

(1) Zum ersten drückt sich im Begriff »Menschenbild« das liberale Erbe im Umgang mit weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen aus: Weil anthropologische Überzeugungen häufig nicht Sache des allgemeingültigen Wissens, sondern Sache des höchstpersönlichen Glaubens sind, ist es legitim – so die Botschaft des Begriffes –, unterschiedlicher Auffassung über den Menschen zu sein. An den je eigenen Überzeugungen über den Menschen kann auch angesichts abweichender anthropologischer Deutungen festgehalten werden; einen Konsenszwang in weltanschaulich-anthropologischen Fragen darf es nicht geben. Der Begriff »Menschenbild« bringt von daher eine Haltung der Toleranz und der für pluralistische Gesellschaften unabdingbaren Differenzkompetenz zum Ausdruck. (2) Die Betonung der Annahmenhaftigkeit und Weltanschaulichkeit anthropologischer Überzeugungen geht zum zweiten auch mit Tendenzen entlastender Selbstimmunisierung einher: Wenn Menschenbilder Frage des Glaubens sind, kann dies Anlass dazu sein, sich der mühsamen Aufgabe entbunden zu fühlen, über seine je eigenen anthropologischen Überzeugungen rational Rechenschaft ablegen zu müssen. Mit anderen Worten: Der Begriff des Menschenbildes erfreut sich unter anderem deswegen so großer Beliebtheit, weil er die tiefsten anthropologischen Überzeugungen über den Menschen als religiös-weltanschauliche hinstellt und sie so vor dem Zugriff der kritischen Vernunft schützt. (3) Zum dritten kann die im Begriff »Menschenbild« gelegene Betonung der Annahmenhaftigkeit und Weltanschaulichkeit anthropologischer Annahmen von liberaler Toleranz in illiberalen Dogmatismus umschlagen. Gerade weil es sich bei Menschenbildern letztlich um Fragen des Glaubens handle, so die Konnotation, könne das je als richtig angesehene Menschenbild nur felsenfest behauptet und mit aller Macht durchgesetzt werden. Wenn anthropologische Überzeugungen rational nicht einlösbar seien, dann müssten Ungläubige nicht rational überzeugt, sondern nur – wenn nötig unter Zwang – überredet und bekehrt werden. Dass es gerade diese dogmatischen Konnotationen sind, die den Begriff des Menschenbildes für einige so attraktiv werden lassen, darüber sollte man sich keine Illusionen machen. Nietzsche, der Nationalsozialismus, aber auch so manche Formen des Christentums, die sich dieses Begriffs bedienen, haben dies hinreichend belegt. Der Begriff »Menschenbild« ist folglich beliebt, weil er Bedeutsamkeit markiert, weil er Reflexions- und Pluralitätsbewusstsein ar87 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Systematisch-begriffliche Klärungen

tikuliert, weil er Weltanschauungssensibilität zur Schau zu stellen erlaubt – und weil er notorisch unscharf ist. Doch so beliebt und zentral der Begriff des Menschenbildes – nicht zuletzt in den Wissenschaften – auch ist, und so groß der Konsens darüber ist, dass damit ein fundamentales Thema angeschnitten wird, so un- und unterbestimmt ist dieser Begriff: er besitzt kein wissenschaftliches Profil. Dies zeigt sich – wie einleitend schon bemerkt – nicht zuletzt daran, dass bis heute nicht eine gründliche theoretische Untersuchung zum Begriff »Menschenbild« vorliegt. Auch in den einschlägigen Lexika sucht man den Begriff vergebens. 6 In der Philosophie, in deren Zuständigkeit der Begriff Menschenbild nach allgemeiner Wahrnehmung fällt, hat sich der Begriff nie richtig etablieren können. 7 Wohl gibt es auch hier eine Unzahl an Untersuchungen zu den Menschenbildern unterschiedlichster Denker und Theorien, dies ändert aber nichts daran, dass dem Begriff nicht selten mit größter Skepsis begegnet wird. Obzwar die fundamentale Bedeutung anthropologischer Annahmen nicht bestritten wird, riskiert, wer vom Menschenbild spricht, in philosophischen Kreisen Kopfschütteln, Unverständnis, »Stirnrunzeln und Reservation« zu ernten. 8 Dies mag zum einen mit der verbreiteten generellen Skepsis zusammenhängen, die der philosophischen Anthropologie insgesamt innerhalb der Philosophie entgegengebracht wird. 9 Zum anderen liegt die Skepsis wohl auch darin begründet, dass der Begriff Menschenbild ein Reflexionsbegriff ist. Wer explizit vom »Menschenbild« spricht, der signalisiert damit, dass ihm bewusst ist, dass es sich bei seinen anthropologischen Annahmen eben nur um Annahmen handelt. Der Begriff teilt mit: Wir reden nicht über die Wirklichkeit, sondern von Überzeugungen, Meinungen, Glauben oder Bildern über die Wirklichkeit. Wer sich auf das Menschenbild bezieht, bezieht sich eben nicht direkt auf den Menschen, sondern auf die Deutung des Menschen. Wenn es aber um die Wirklichkeit des Menschen gehen soll, was ja das Anliegen vieler philosophischer Bemühungen ist,

Dies stellt auch Graf fest, ohne aber selbst eine solche Untersuchung durchzuführen; vgl. Graf, Missbrauchte Götter, 134. 7 Vgl. Thies, Menschenbilder und Ethik, 21. 8 Vgl. Rippe, Klaus-Peter, Brauchen wir ein Menschenbild?, in: Reichardt, Anna/Kubli, Eric (Hg.), Menschenbilder, Bern u. a. 1999, 9–33, hier 9. 9 Zu anthropologiekritischen Positionen innerhalb der Philosophie vgl. Thies, Einführung in die philosophische Anthropologie, 15 u. 18–32. 6

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Allgemeine Beobachtungen zum Begriff »Menschenbild«

dann muss der auf das Doxastische abzielende Begriff des Menschenbildes stören. 10 Auch in der philosophischen Ethik ist der Begriff nicht beliebt, und dies, obwohl er in vielen öffentlichen ethischen Auseinandersetzungen eine prominente Rolle spielt. Regelmäßig berufen sich vor allem Akteure mit einem christlichen Hintergrund in der Begründung ihrer Positionen auf das »christliche Menschenbild«. Allerdings – und hierin liegt wohl der Hauptgrund dafür, warum der Begriff für die Philosophie abschreckend wirkt – haftet dieser Berufung auf das Menschenbild etwas Dogmatisches an. Das Menschenbild sei, so wird suggeriert, nicht weiter begründungsfähig, sondern wurzele in einem religiös-weltanschaulichen Bekenntnis, das die Grundlage unserer abendländischen Zivilisation bilde und das – die Erfahrungen des Dritten Reiches hätten dies hinlänglich gezeigt – besser nicht in Frage gestellt werden sollte. Der Begriff signalisiert, dass es nun um fundamentale weltanschauliche Festlegungen geht, die dem rationalen Zugriff – und damit auch der Philosophie – entzogen sind. 11 Hinzu kommt, dass Menschenbilder als unscharfe, meist nicht klar definierte Gebilde gelten, in denen »ontologische, moralische und religiöse bzw. metaphysische Elemente auf undurchsichtige Weise vermischt« sind sowie deskriptive und normative Aspekte auf intransparente Weise zusammenfließen, so dass der Verdacht eines Verstoßes gegen das Hume’sche Gesetz immer nahe liegt. Menschenbilder stehen daher – nicht zu Unrecht – im Ruf, unsaubere, verschleiernde, oder kurz: schlechte Argumente zu sein. 12 So sieht dies beispielsweise Fischer, Johannes, Ethik und »Menschenbild«, Quelle: http://www.ethik.uzh.ch/ise/ma2/ex-ma/johannesfischer/publikationen-1/ 200906Menschenbild2.pdf [03. 07. 2013]. 11 Vgl. dazu Fischer, Ethik und »Menschenbild«, der aus genau diesem Grund vehement dafür argumentiert, den relativierenden Begriff des Menschenbildes aus der Ethik heraus zu halten. Dem Menschenbildbegriff in der Ethik steht sehr kritisch gegenüber auch Thies, Menschenbilder und Ethik, ferner Düwell, Menschenbilder und Anthropologie in der Bioethik. 12 Vgl. Thies, Menschenbilder und Ethik, 24–30 (Hervorhebungen im Original). Thies formuliert in seiner Arbeit vier scharfe Einwände gegen Menschenbilder, die einen Gutteil der philosophischen Vorbehalte einfangen dürften: Erstens seien Menschenbilder oft inkonsistente holistische Gebilde, die häufig prä-diskursiv sind und unbewusst orientierend wirken. Sie sind daher intransparent und der kritischen Analyse kaum zugänglich. Zweitens seien in Menschenbildern »ontologische, moralische und religiöse bzw. metaphysische Elemente auf undurchsichtige Weise vermischt«. Der Zusammenhang der Elemente sei weniger logisch-argumentativ denn ästhetisch oder narrativ. Das intransparente Zusammen von deskriptiven und normative Aus10

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Systematisch-begriffliche Klärungen

Es darf nicht übersehen werden, dass die philosophische Kritik sich nicht gegen Menschenbilder per se richtet, sondern nur dagegen, Menschenbilder zur Grundlage philosophischer oder ethischer Argumentationen zu machen. Diese Kritik hat zweifellos ihre Berechtigung, denn dort, wo Menschenbilder als moralisch-ethisches oder politisches Fundament ins Spiel gebracht werden, dienen sie häufig tatsächlich dazu, den rationalen Diskurs abzuwürgen, die kritische Argumentation zu unterbinden und das lästige Weiterfragen zu beenden. Dass so eingesetzten Menschenbildern der geballte philosophische Argwohn entgegenschlägt, darf daher nicht verwundern, sind doch Dogmen – auch wenn sie im seidigen Gewand schmeichelnder Anthropologien daherkommen – seit jeher die Antagonisten der Philosophie schlechthin. Die Tatsache hingegen, dass es Menschenbilder gibt und dass sie für die moralische, gesellschaftliche und politische Orientierung eine gewichtige Rolle spielen, wollen und können die philosophischen Einwände nicht im Abrede stellen. Menschenbilder mögen daher vielleicht nicht als Grundlage philosophischer Argumentationen taugen, sie sind aber gleichwohl ein der philosophischen Analyse würdiges Phänomen, ja es wäre grob fahrlässig, würde sich die Philosophie eines für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen derart wichtigen Begriffs und eines für das individuelle wie soziale Leben derart bedeutsamen Phänomens nicht annehmen. Die Unschärfe des Begriffs und seine religiös-dogmatischen Konnotationen sollten daher kein Grund sein, sich dem Begriffs und dem mit ihm bezeichneten Phänomen nicht doch einmal zuzuwenden. Um dies zu tun, ist es aber zunächst erforderlich, den Begriff des »Menschenbildes« so weit zu präzisieren, dass er für die weitere philosophische Analyse brauchbar wird.

sagen erhöhe zudem die Gefahr von Sein-Sollen-Fehlschlüssen. Die normativen Elemente seien meist unbegründet und »hängen gleichsam in der Luft«. Drittens implizierten Menschenbilder die Pluralität von Menschenbildern. Dies wiederum sei, so Thies, ein »Indiz für einen Partikularismus und einen unaufhebbaren Relativismus«. Wer sich auf Menschenbilder berufe, vertrete mithin implizit einen Nonkognitivismus und sei Relativist. Viertens handle es sich bei Menschenbildern notwendigerweise stets um unzulässige Vereinfachungen, die dem Menschen prinzipiell nicht gerecht werden und ihn dramatisch einschränken könnten: »Menschenbilder sind insofern identisch mit Vorurteilen oder ideologischen Verblendungen.«

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»Menschenbilder« – eine Definition

»Menschenbilder« – eine Definition Ein Menschenbild in dem vierten, modernen mentalistisch-universalistischen Sinne bezeichnet Annahmen über den Menschen im Allgemeinen. Im Gegensatz zum ersten, wörtlichen Sinne des Begriffs, mit dem echte Bilder vom Menschen – z. B. Fotografien, Plastiken, Ölgemälde usw. – benannt werden, haben wir es bei diesem Begriff mit einer Metapher zu tun. 13 Denn erstens handelt es sich bei Menschenbildern um geistige, mentale Größen – um traditionell so genannte »Bilder der Seele«. Und zweitens handelt es sich bei diesen geistigen Bildern in der Regel nicht um Bilder – also etwa bildhafte Vorstellungen –, sondern um allgemeine, abstrakte Gedanken. Wittgenstein hat diesen metaphorischen Gebrauch des Bildbegriffs in seinem Tractatus logico-philosophicus in vier Andeutungen auf den Punkt gebracht: 14 Das Bild bildet die Wirklichkeit ab […] 15 Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke. 16 Der Gedanke ist der sinnvolle Satz. 17 Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken. 18

Unabhängig davon, ob man nun die sprachphilosophische Abbildtheorie und den Positivismus des frühen Wittgenstein akzeptiert oder nicht, mit diesen Sätzen sind Bilder jedenfalls – und allein darauf kommt es an – als sprachliche Gebilde benannt. Und Menschenbilder sind in der Regel genau solche sprachlichen Gebilde. Sie bestehen aus in Sätzen formulierten oder zumindest in Sätzen formulierbaren Annahmen über den Menschen im Allgemeinen, d. h. über »die Wirklichkeit [des Menschen], so wie wir sie uns denken«. Da nicht auszuschließen ist, dass bei Menschenbildern bisweilen auch bildhafte Gutmann, Mathias/Rathgeber, Benjamin, Sind Menschenbilder Bilder?, in: Bölker, Michael/Gutmann, Mathias (Hg.), Menschenbilder und Metaphern im Informationszeitalter, Berlin 2010, 45–73, 45. 14 Vgl. dazu ebda. 15 Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus, Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1969, 16 (§ 2.201). 16 Ebda., 17 (§ 3). 17 Ebda., 25 (§ 4). 18 Ebda., 26 (§ 4.01). 13

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Systematisch-begriffliche Klärungen

Vorstellungen eine Rolle spielen, die sich nicht vollständig sprachlich explizieren lassen, sei es aber bei der offeneren Formulierung belassen: Menschenbilder bestehen aus Annahmen – seien sie nun sprachlich formuliert bzw. formulierbar oder nicht – über den Menschen im Allgemeinen. Nun bestehen – hier könnten Wittgensteins Bemerkungen irreführen – Menschenbilder nicht nur aus einer Annahme, sondern aus mehreren Annahmen. Dies erschließt sich auch durch die Bildmetapher, besteht doch ein Bild – zumal ein Bild von so etwas Komplexem wie dem Menschen – üblicherweise aus mehreren Elementen, die in Beziehung zueinander stehen und die gemeinsam ein Ganzes bilden. Ebenso verhält es sich bei Menschenbildern. Auch diese bestehen in der Regel nicht nur aus einer, sondern aus mehreren Annahmen, die darin ihre Gemeinsamkeit haben, dass sie allesamt Annahmen über den Menschen sind, also einen gemeinsamen Referenten haben. Menschenbilder können daher als Bündel von Annahmen über den Menschen bezeichnet werden. Sind aber Menschenbilder Bündel von mehreren Annahmen über den Menschen, dann bestehen sie nicht nur aus diesen Annahmen, sondern auch aus den Beziehungen zwischen diesen Annahmen. Aus diesem Grund sprechen Barsch und Hejl in Bezug auf Menschenbilder von Vorstellungssystemen: Menschenbilder bestehen nie aus einem einzigen Konzept oder aus einer einzigen Annahme über das, was der Mensch ›ist‹. Menschenbilder sind vielmehr konzeptuelle Netzwerke mit mehr oder weniger scharfen Grenzen. Damit können sie als Vorstellungssysteme verstanden werden. Wie alle Systeme bestehen auch Vorstellungssysteme aus Komponenten, d. h. aus einzelnen Vorstellungen, sowie aus den Beziehungen zwischen ihnen. 19

Die Rede von Vorstellungssystemen hat aber zwei Nachteile: Erstens evoziert der Begriff der »Vorstellung« wieder das wörtlich Bildhafte, das bei Menschenbildern gerade nicht im Vordergrund steht, und zweitens suggeriert der Begriff des Systems, dass es sich bei Menschenbildern um groß angelegte und systematisch ausgearbeitete Konzepte über den Menschen handelt. Dies ist aber nicht immer der Fall.

Barsch, Achim/Hejl, Peter, Zur Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes im 19. Jahrhundert: Einleitung, in: Dies. (Hg.), Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1859–1914), Frankfurt am Main 2000, 7–90, hier 7 (Hervorhebungen im Original).

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»Menschenbilder« – eine Definition

Menschenbilder bestehen also nicht nur aus mehreren Annahmen, sondern auch aus den Beziehungen zwischen diesen Annahmen. Die Annahmen werden sich nämlich gegenseitig ergänzen, stützen, aber auch einschränken und zum Teil möglicherweise auch widersprechen. Bei sehr elaborierten Menschenbildern, wie sie etwa in den Entwürfen der philosophischen Anthropologie anzutreffen sind, erreichen diese Bündel von Annahmen sicherlich ein Höchstmaß an Kohärenz, Konsistenz und Systematizität, das andere Menschenbilder dagegen nicht aufweisen werden. Aber ein bestimmtes Mindestmaß an Widerspruchsfreiheit und internem Zusammenhalt werden auch noch die primitivsten Menschenbilder haben. Von daher kann die Definition von Menschenbildern etwas präzisiert werden: Menschenbilder sind mehr oder weniger kohärente Bündel von Annahmen über den Menschen. Nun bestehen Menschenbilder nicht aus irgendwelchen Annahmen über den Menschen, sondern – in ihrem Kern zumindest – aus Annahmen über als wichtig angesehene Eigenschaften des Menschen. Aus der im Prinzip unendlichen Menge der möglichen Annahmen über den Menschen treffen Menschenbilder folglich eine Auswahl. Sie heben gewisse Annahmen über den Menschen als zentral oder wesentlich heraus. Für das christliche Menschenbild etwa sind die Annahmen zentral, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist, dass er von Gott geschaffen ist, dass er eine unsterbliche Seele hat, dass er Sünder ist usw. Für ein soziobiologisches Menschenbild hingegen ist die Annahme zentral, dass alles menschliche Verhalten letztlich ein Produkt eines darwinistisch verstandenen Selektionsprozesses, des Kampfes um evolutionäre Fitness ist. In ihrem Kern beinhalten Menschenbilder also Annahmen über Eigenschaften des Menschen, die für diesen zentral, wesentlich und besonders wichtig sein sollen. Freilich umfassen Menschenbilder neben diesen zentralen und wichtigen Annahmen noch viele andere Annahmen über all die Eigenschaften, die Menschen generell zugesprochen werden können. Bei den meisten dieser nicht-zentralen Annahmen handelt es sich um Trivialitäten über universale menschliche Eigenschaften. So dürften sich etwa die Annahmen, dass Menschen essen müssen, dass sie Schlaf benötigen, dass sie wenig behaarte Lebewesen sind, dass sie Schmerz empfinden, dass sie in der Regel vier Gliedmaßen haben, dass sie krank werden können, dass sie älter werden usw., in den meisten wenn nicht allen Menschenbildern finden lassen. Diese Annahmen stehen kaum einmal im Vordergrund und werden meistens 93 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Systematisch-begriffliche Klärungen

gar nicht explizit thematisiert, auch deswegen, weil sie als unproblematische Selbstverständlichkeiten gelten. Sie bilden das dichte Gewebe unseres stets mitschwingenden Hintergrundwissens über den Menschen im Allgemeinen. Dieses Hintergrundwissen über den Menschen ist offen und ständig in Veränderung begriffen, fügen wir doch beständig – gleichsam mit jeder Meldung über eine neue wissenschaftliche Erkenntnis über den Menschen – neues Wissen über den Menschen in unseren Bestand von anthropologischen Annahmen ein, mit dem wir diesen Bestand sowohl erweitern als auch korrigieren. Nicht übersehen werden darf, dass es einen starken Zusammenhang zwischen zentralen und nicht-zentralen Annahmen gibt. Dies in dreifacher Hinsicht: Zum ersten stecken die zentralen Annahmen die Grenzen der überhaupt gültigen Annahmen ab. Dies festzuhalten ist trivial, denn die Zentralannahmen können – sofern das Menschenbild einigermaßen konsistent ist – keine Annahmen neben sich dulden, die ihnen widersprechen. So ist etwa die zentrale Annahme des soziobiologischen Menschenbildes, dass menschliches Verhalten rein evolutionär bedingt ist, mit der Annahme unvereinbar, dass der Mensch ein das Naturgeschehen transzendierendes Wesen ist. Und die zentrale Annahme christlich-kreationistischer Menschenbilder, dass der Mensch direkt von Gott geschaffen wurde, ist mit der Annahme, dass der Mensch einen evolutionären Ursprung hat, nicht vereinbar. Zum zweiten werden die Interpretationen der nicht-zentralen Annahmen von den zentralen Annahmen bestimmt. Die Annahme über den trivialen Umstand etwa, dass Menschen schmerzempfindlich sind, wird je nach Zentralannahme eine andere Prägung haben. Im Lichte der Annahme eines christlichen Verständnisses menschlicher Sündhaftigkeit könnte die Schmerzempfindlichkeit als Folge des menschlichen Sündenfalls verstanden werden, im Lichte der Annahme der evolutionären Bedingtheit allen Lebens könnte die Schmerzempfindlichkeit hingegen als eine nützliche evolutionäre Errungenschaft gelten. Zum dritten können Verschiebungen nicht-zentraler Annahmen dazu führen, dass zentrale Annahmen ihrerseits neu gefasst werden. So haben etwa die Erkenntnisse der modernen Biologie über den evolutionären Ursprung des Menschen dazu geführt, dass in vielen christlichen Menschenbildern eine der zentralen Annahmen – dass der Mensch von Gott geschaffen ist – nicht mehr buchstäblich genommen wird. Menschenbilder bestehen also aus zwei Arten von Annahmen: 94 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

»Menschenbilder« – eine Definition

Zum einen aus einer Vielzahl an weniger wichtigen Annahmen über alle möglichen menschlichen Eigenschaften, die häufig nur als implizites Hintergrundwissen mitschwingen und die zum Teil sehr beweglich sind, und zum anderen aus einigen wichtigen Annahmen über als zentral angesehene menschliche Eigenschaften. Diese zentralen Annahmen begrenzen das Feld der möglichen peripheren Annahmen und bestimmen ihre Interpretation. Angesichts dieser zentralen systematischen Bedeutung der wichtigen Annahmen ist es durchaus sinnvoll, Menschenbilder, wie dies in der Regel geschieht, auf ihre zentralen Annahmen zu reduzieren. Von daher kann die oben gegebene Definition um einen weiteren Aspekt präzisiert werden: Menschenbilder sind mehr oder weniger kohärente Bündel von Annahmen über wichtige oder zentrale Eigenschaften des Menschen. Diese Bestimmung ist immer noch ungenau, weil sie offen lässt, aus welchen Gründen eine Eigenschaft des Menschen zu einer wichtigen oder zentralen wird. Die Offenheit dieser Bestimmung ist im Augenblick aber unvermeidbar; sie ist dem Umstand geschuldet, dass der Begriff Menschenbild alle möglichen Arten von Menschenbildern umfasst, die aus den verschiedensten Gründen bestimmte Eigenschaften des Menschen als wichtig hervorheben. So ist etwa für das christliche Menschenbild die Eigenschaft der Gottesebenbildlichkeit aus religiösen und existenziellen Gründen wichtig, für das Menschenbild der Ökonomik – den homo oeconomicus – ist hingegen die Eigenschaft des nutzenkalkulierenden Egoismus, auf den menschliches Verhalten reduziert wird, aus methodischen Gründen wichtig. Welche menschlichen Eigenschaften aus welchen Gründen als wichtig gelten, lässt sich daher nicht allgemein bestimmen. Wichtig sind, so könnte man vielleicht höchstens ergänzen, diejenigen Eigenschaften, die von den Trägern oder Vertretern eines Menschenbildes für wichtig erachtet werden und denen daher – wie oben beschrieben – eine systematisch zentrale Stellung in den jeweiligen Menschenbildern zukommt. Klar zu sein scheint, dass sich die Annahmen, die sich zu einem Menschenbild bündeln, auf den – generisch verstanden – Menschen beziehen. Menschenbilder sind demnach universalistisch, sie beziehen sich auf alle Menschen, auf den Menschen im Allgemeinen. Von daher kann die oben gegebene Definition von Menschenbildern noch weiter präzisiert werden: Menschenbilder sind mehr oder weniger kohärente Bündel von Annahmen über als wichtig angesehene Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen. Obwohl dies so klar er95 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Systematisch-begriffliche Klärungen

scheint, muss in diesem Zusammenhang zunächst offen bleiben, wer tatsächlich mit diesem »Menschen im Allgemeinen« gemeint ist. In Bezug auf die Extension des Begriffs Menschenbild kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Annahmen über den Menschen immer auf alle Angehörigen der biologischen Spezies homo sapiens beziehen. In der Regel ist dies – meist unausgesprochen – der Fall. Es sind aber auch nicht-biologische Definitionen des Menschen möglich, die den Kreis der Angehörigen der Gattung Mensch enger oder weiter ziehen, als dies bei der biologischen Definition der Fall ist. In gewissen animistischen Kulturen könnten etwa auch bestimmte Tiere oder bestimmte Arten von Geisterexistenzen zu dem Kreis der Menschen im Allgemeinen zählen. Hinreichend belegt sind Auffassungen, denen zufolge nicht alle biologischen Menschen als Menschen gelten, wie dies in rassistischen und Sklavenhalter-Gesellschaften der Fall war und ist.

Menschenbildannahmen Menschenbilder lassen sich also wie folgt definieren: es sind mehr oder weniger kohärente Bündel von Annahmen über als wichtig angesehene Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen. Diese Definition ist nach wie vor sehr breit. Sie umfasst alle möglichen Bündelvarianten von Annahmen über den Menschen im Allgemeinen. Darin bildet sie zwar den allgemeinen Begriffsgebrauch ab; um wissenschaftlich brauchbar zu werden, bedarf es allerdings noch zusätzlicher Präzisierungen. Bevor diese durch die Einführung von einigen Differenzierungen vorgenommen werden, soll aber zuvor noch ein Blick auf die Annahmen geworfen werden, die sich zu Menschenbildern bündeln. Denn obzwar die Annahmen über den Menschen inhaltlich sehr verschiedenartig sind, lassen sie sich doch einer begrenzen Anzahl von formalen Annahmen-Typen zuordnen, die für alle Menschenbilder gleich sind. Dabei kommen natürlich nicht notwendigerweise in jedem Menschenbild alle Annahmen-Typen zugleich vor. Nun lassen sich Menschenbildannahmen natürlich nach allen möglichen formalen Gesichtspunkten differenzieren. So können sie etwa danach unterschieden werden, ob sie explizit oder implizit sind: Explizite Menschenbildannahmen sind solche, wie sie in Theorien, religiösen und weltanschaulichen Bekenntnissen, politischen Grundsatzprogrammen, rechtlichen Dokumenten usw. ausdrücklich fest96 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Menschenbildannahmen

gehalten werden. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte enthält beispielsweise solch explizite Annahmen über den Menschen im Allgemeinen; gleich im Artikel 1 heißt es: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.« 20 Liegt eine Menschenbildannahme explizit vor, dann ist sie – wie gerade am Beispiel der zitierten menschenrechtlichen Annahme deutlich wird – zumeist Gegenstand der Reflexion und Bezugspunkt in der Rechtfertigung von Handlungsnormen oder Handlungen. Implizite Menschenbildannahmen hingegen sind solche Annahmen über den Menschen, die bestimmten Narrationen, Normen, Verhaltensformen, Praktiken, Handlungen, Rechtsdokumenten usw. zugrunde liegen, ohne dass sie ausdrücklich erwähnt werden. Diese Annahmen lassen sich aber – mal leichter, mal weniger leicht – durch Beobachtung und Analyse erheben und explizit machen. 21 Des Weiteren können Menschenbildannahmen danach unterschieden werden, welchen Wahrheitsanspruch sie haben. Mit Blick auf eine Menge an in Mythos, Kunst, Literatur und Film produzierten Menschenbildern ist zu sagen, dass nicht alle Menschenbildannahmen den Anspruch stellen, den Menschen in realiter zu beschreiben. Manche Annahmen – ja ganze Menschenbilder – sind schlicht fiktiv. Ein in der Literatur beliebter Kunstgriff besteht beispielsweise darin, zu beschreiben, wie der Mensch von anderen Wesen – von Engeln, Tieren, Außerirdischen usw. – wahrgenommen werden würde. Die Bilder, die diese Wesen vom Menschen haben, sind – auch wenn sie in ihren Verfremdungen und Verzerrungen häufig dazu dienen, etwas Wahres über den Mensch zu sagen – fiktive, zumindest in einigen ihrer Aspekte. In der Folge wird es ausschließlich um reale Menschenbilder gehen, d. h. um Menschenbilder, die den Anspruch stellen, den Menschen so zu beschreiben, wie er tatsächlich ist oder sein sollte. In Bezug auf die Annahmen, die sich in diesen realen Menschenbildern finden, sind nun zwei formaltypologische Differenzierungen von Bedeutung, die für die weitere Untersuchung hilfreich sein werden.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution der Generalversammlung 217 A (III). Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 10. Dezember 1948, Quelle: http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf [1. 12. 2015]. 21 Was explizite und implizite Menschenbildannahmen sind, wird später im Zusammenhang mit lebensweltlichen Menschenbildern noch detaillierter geklärt (S. 207 ff.). 20

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Systematisch-begriffliche Klärungen

Menschenbildannahmen lassen sich nämlich einerseits in kategoriale und nicht-kategoriale und andererseits in deskriptive und normative Annahmen unterscheiden.

Kategoriale und nicht-kategoriale Menschenbildannahmen Oben wurde darauf hingewiesen, dass in Bezug auf die Annahmen über den Menschen zunächst einmal offen bleiben muss, ob dieses generische »den Menschen« tatsächlich alle Menschen, verstanden als Mitglieder der biologischen Spezies homo sapiens, einschließt. Schließlich könnte der Kreis der Angehörigen der Klasse Mensch auch weiter oder aber enger gefasst werden. In diesem Zusammenhang spielt nun die Unterscheidung zwischen kategorialen und nicht-kategorialen Menschenbildannahmen eine zentrale Rolle. Da kategoriale Menschenbildannahmen dazu tendieren, auf das Menschenbild als Ganzes durchzuschlagen, kann auch von kategorialen und nicht-kategorialen Menschenbildern die Rede sein. Kategoriale Menschenbilder sind demnach solche, die eine oder mehrere explizite kategoriale Annahmen enthalten oder gar ins Zentrum stellen. Diese Menschenbilder zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Klassenbegriff Mensch zuallererst definieren. Kategoriale Menschenbilder beinhalten nämlich nicht nur einfach Annahmen über den Menschen, sondern mit mindestens einer dieser Annahmen – der kategorialen Annahme – legen sie zugleich fest, wer oder was überhaupt zu der Klasse der Menschen zählt. Sie bestimmen, wer überhaupt als Mensch gilt, sie stecken den Kreis ihrer Referenten erst ab. Mit den kategorialen Annahmen liefern sie die Kriterien, nach denen entschieden wird, welche Phänomene überhaupt unter den Begriff »Mensch« fallen und welche nicht. Und indem sie dies leisten, machen sie den Referenten – den Menschen – überhaupt erst zugänglich. 22 Kategoriale Menschenbilder sind folglich nicht nur Bündel von Annahmen, sondern liefern konstitutive Definitionen des Menschen. Sie haben die Form: »Phänomen x ist nur dann ein Mensch, wenn es die Eigenschaft yz hat.« Daraus folgt, dass kategoriale Annahmen notwendigerweise für alle Menschen gelten. Wenn beispielsweise ein Menschenbild die kategoriale Annahme enthält, dass Menschen über Rationalität verfügen, dann folgt daraus, dass nur diejenigen 22

Vgl. Gutmann/Rathgeber, Sind Menschenbilder Bilder?, 46.

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Menschenbildannahmen

Wesen Menschen sind, die über Rationalität verfügen. Bei einem Wesen, das zwar wie ein Mensch aussieht, das aber nicht rational ist, kann es sich demzufolge nicht um einen Menschen handeln. Die welterschließende Funktion von kategorialen Annahmen kann anhand eines Bildes veranschaulicht werden: Gibt man einem Kind ein stilisiertes, die entscheidenden Merkmale hervorhebendes Bild von einem, eine bestimmte Tierart repräsentierenden, Tier in die Hand mit der Aufgabe, ein Exemplar dieser Tierart in realiter zu finden, dann wird das Bild dem Kind diese Tierart erschließen. Ohne das Bild würde das Kind die Tierart nicht erkennen können. Ähnlich funktionieren manche Menschenbilder: Sie erschließen den Referenten »Mensch«. Beinhaltet das Menschenbild die kategoriale Annahme, dass Menschen weiß sind, dann kann es – wie man aus der Geschichte des Rassismus lernen muss – offensichtlich schwer fallen, schwarze Menschen als Menschen zu erkennen und anzuerkennen. 23 Ob eine Annahme eines Menschenbildes nun kategorialen Charakter hat oder nicht, ist mitunter nicht leicht festzustellen. Der kategoriale Charakter von Menschenbildannahmen erschließt sich nämlich häufig nicht per se, sondern allein aus der Anwendung und dem Kontext eines Menschenbildes. Im Grunde kann jede Menschenbildannahme kategorial oder nicht kategorial verstanden werden. Thomas Hobbes’ Aussage, dass der Mensch des Menschen Wolf ist, wird meistens nicht-kategorial gelesen: Sie bedeutet dann, dass Menschen generell eine Tendenz zum Bösen aufweisen. Kategorial (miß-)verstanden würde sie hingegen bedeuten, dass nur böse Menschen auch echte Menschen sind. In diesem Falle würde es sich bei guten Menschen um keine Menschen, sondern um etwas anderes – etwa sterbliche Engel – handeln. Kategorial ist eine Annahme jedenfalls stets dann, wenn sie dazu dient, die Grenze zwischen Mensch und Nicht-Mensch zu ziehen. Bei manchen Menschenbildern stehen diese kategorialen Annahmen im Zentrum. Dies ist stets dann der Fall, wenn Menschenbilder zur Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen zwischen Wesen diesund jenseits dieser Grenze herangezogen werden. Besonders augenscheinlich ist dies bei den bioethischen Diskussionen rund um den Lebensanfang – ab wann ist der Mensch (vollwertiger) Mensch? – und das Lebensende – ab wann ist der Mensch nicht mehr Mensch? Die welterschließende Funktion kategorialer Menschenbildannahmen wird später (S. 174 ff. und. S. 286 ff.) noch ausführlicher behandelt.

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In beiden Fällen steht die Frage nach dem sogenannten moralischen Status des Menschen im Mittelpunkt, d. h. die Frage, wann einem Menschen volles Menschsein zugeschrieben werden muss und wann nicht. Ist eine befruchtete Eizelle im Reagenzglas, ist ein drei Monate alter Embryo schon ein Mensch? D. h. haben wir diesem frühen menschlichen Leben gegenüber dieselben moralischen Rücksichtspflichten wie gegenüber einem geborenen oder erwachsenen Menschen? Ist ein schwer hirngeschädigter Mensch, ein hirntoter Mensch nicht – als Mensch – bereits tot? Von den Antworten auf diese Fragen hängt sehr viel ab, entscheiden sie doch mit über Leben und Tod: Darüber, ob gegebenenfalls der Embryo im Rahmen einer Präimplantationsdiagnostik verworfen, eine Abtreibung durchgeführt, eine lebensnotwendige medizinische Behandlung abgebrochen oder ein lebenswichtiges Spenderorgan entnommen werden darf. Wie die Antwort auf diese heiklen Fragen ausfällt, hängt jeweils von den kategorialen Menschenbildannahmen ab, die in Anschlag gebracht werden und die über die Zugehörigkeit zur Klasse der (vollwertigen) Menschen entscheiden. Gilt – wie etwa für das katholische Menschenbild – die biologische Spezies-Zugehörigkeit als das entscheidende kategoriale Kriterium, sind diese Eingriffe allesamt abzulehnen. Ein Menschenbild, das demgegenüber die zentrale kategoriale Annahme beinhaltet, dass nur Wesen, die aktuell über Selbstbewusstsein verfügen, vollwertige Menschen sind, könnte all diese Eingriffe befürworten. Denn in diesem Fall wären Embryonen, Säuglinge, geistig schwer Behinderte und Komatöse keine (vollwertigen) Menschen. Abtreibung, Kindstötung und Sterbehilfe und Organentnahme wären dann nicht nur erlaubt, sondern unter Umständen sogar moralisch geboten. 24 Nicht bei jedem Menschenbild stehen diese kategorialen Annahmen im Vordergrund. Im Gegenteil, für viele spielen sie keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. Die Frage, wer überhaupt Mensch ist, wird von diesen Menschenbildern nicht direkt adressiert. Das Menschenbild der klassischen Ökonomik, der homo oeconomicus, tangiert diese Frage beispielsweise nicht. Dieses Menschenbild trifft nur nicht-kategoriale Aussagen darüber, wie sich Menschen im Allgemeinen ökonomisch verhalten, es macht aber keine Aussagen darüber, wer nun überhaupt als Mensch gilt. Auch die expliziten Peter Singer vertritt bekanntlich derartige Ansichten; vgl. Singer, Peter, Praktische Ethik, Stuttgart 32013.

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anthropologischen Festlegungen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sind nicht-kategorialer Art. Gleiches gilt für die meisten Menschenbilder, sei es in der philosophischen Anthropologie, der Rechtsprechung oder der Politik: Sie alle sind nicht-kategorial, ihre Annahmen haben die Form: »Für alle Menschen gilt x.« Selbstverständlich wird bei nicht-kategorialen Menschenbildern die kategoriale Dimension stillschweigend stets vorausgesetzt. Jede Rede vom Menschen ist auf ein kategoriales Vorverständnis des Menschen angewiesen. Bedient wird sie dann mit einem impliziten Verweis auf die momentan selbstverständlich geltende, kulturell etablierte Definition des Menschen: »Mensch ist, wer als Mensch gilt«. Heute ist dies in der Regel die Annahme, dass alle Mitglieder der biologischen Spezies Mensch Menschen sind (mit den bekannten Unschärfen am Lebensbeginn und -ende). Wer also heute in einem nicht-kategorialen Sinne von einem Menschenbild spricht, meint damit ein Bündel von Annahmen, das sich auf alle Mitglieder der biologischen Spezies Mensch bezieht. Jede nicht-kategoriale Rede vom Menschen greift also implizit auf eine kategoriale Annahme, ja ein kategoriales Menschenbild zurück. Kategoriale Menschenbilder definieren, wer überhaupt als Mensch angesprochen werden kann. Damit liefern sie den Referenzrahmen, innerhalb dessen sich nicht-kategoriale Menschenbildannahmen, seien es deskriptive oder normative, auf den Menschen beziehen können. Deren Zugriff auf den Menschen wird orientiert durch die Annahmen, die im kategorialen Menschenbild gebündelt werden. 25 Kategoriale Menschenbildannahmen sind folglich auf einer Metaebene angesiedelt. Deutlich wird dies insbesondere im Vergleich mit nicht-kategorialen empirischen Annahmen über den Menschen. Viele empirische Aussagen sind nicht-kategorial und haben die Form: »Alle Menschen haben x.« In diesen Fällen ist nicht ausgesagt, wer überhaupt zu der Klasse der Menschen zählt. Implizit ist dies aber klar: die Mitglieder der biologischen Spezies homo sapiens. Der Klassenbegriff »Mensch«, definiert als Mitglieder der Art homo sapiens, auf den sich die empirische Aussage bezieht, ist nun aber seinerseits nicht mehr ausschließlich empirisch bestimmt. Dies gilt – trotz vieler Vgl. etwa auch Seibert, Christoph, Politische Ethik und Menschenbild. Eine Auseinandersetzung mit den Theorieentwürfen von John Rawls und Michael Walzer, Stuttgart 2004, 17.

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Bemühungen – streng genommen schon für den biologischen Artbegriff. 26 Noch viel mehr gilt dies aber für die kulturelle Festlegung, dass es die Biologie sein soll, die das bestimmende Klassenmerkmal liefert. Dass gerade der biologische Artbegriff das geeignete und gültige kategoriale Kriterium liefert, ist selbst keine empirische, sondern eine metaempirische, kulturelle Festlegung. Die Frage, wer überhaupt Mensch ist, ist demnach keine biologische, keine empirische, sondern eine metaempirische, kulturelle Frage. Freilich sind auch kategoriale Menschenbildannahmen empirisch gesättigt. Schließlich müssen sie sich im Zugriff auf reale menschliche Individuen bewähren. Bewähren sie sich nicht oder nicht mehr, müssen sie verändert werden. Von daher sind, wie nicht zuletzt auch die Geschichte zeigt, kategoriale Menschenbilder fallibel und veränderbar. 27 Dies ändert aber nichts daran, dass die Bestimmung dessen, was das Menschsein ausmacht, keine rein empirische Angelegenheit ist. 28

Deskriptive und normative Menschenbildannahmen Neben der Unterscheidung zwischen kategorialen und nicht-kategorialen Annahmen ist die Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Annahmen wichtig. Menschenbilder beinhalten in der Regel nämlich nicht nur Annahmen darüber, wie Menschen sind, Vgl. z. B. Mallet, James, Species, Concept of, in: Encyclopedia of Biodiversity, Bd. 5, hg. v. Simon Levin, San Diego 22007, 1–15. Einen Überblick über die philosophische Diskussion des Artbegriffs geben: Ereshefsky, Marc, Species, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2010 Edition), hg. v. Edward Zalta, Quelle: http:// plato.stanford.edu/archives/spr2010/entries/species/ [4. 12. 2015]; Bird, Alexander/ Tobin, Emma, Natural Kinds, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2015 Edition), hg. v. Edward Zalta, Quelle: http://plato.stanford.edu/archives/spr 2015/entries/natural-kinds/ [4. 12. 2015]. 27 Vgl. Seibert, Politische Ethik und Menschenbild, 17. 28 Aus diesem Grund kann es auch keine rein empirischen Menschenbilder geben, wie Rollka festhält: »Allerdings sind bereits die Versuche umstritten, den Menschen, seine Antriebe und sein Handeln mit Hilfe empirischer Methoden zu erfassen, denn schon der erste notwendige Schritt, die Datenerhebung, trägt ein Janusgesicht. Die Bestimmung der Frageparameter kann nur Resultat einer vorangegangenen Interpretation sein, die den zu beobachtenden Dimensionen a priori im kulturellen Kontext vorgegebene Bedeutungen zuweist.« Rollka, Bodo, Menschenbilder als Grundlage und Zielvorstellung gesellschaftlicher Kommunikation, in: Ders./Schultz, Friederike (Hg.), Kommunikationsinstrument Menschenbild. Zur Verwendung von Menschenbildern in gesellschaftlichen Diskursen, Wiesbaden 2011, 11–71, hier 68. 26

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Menschenbildannahmen

sondern auch darüber, wie Menschen sein sollen. D. h. Menschenbilder kombinieren deskriptive und normative Annahmen. Im Prinzip beanspruchen deskriptive Annahmen, den Menschen so zu beschreiben, wie er faktisch ist. Normative Annahmen bestimmen demgegenüber, wie der Mensch sein sollte. Deskriptive Menschenbildannahmen können zunächst einmal in metaempirische und empirische unterschieden werden. Die Annahme, dass der Mensch eine unsterbliche Seele hat, oder die Annahme, dass der Mensch Gottes Ebenbild ist, sind beide deskriptive Annahmen, sie sind aber nicht empirisch, sondern metaempirisch: sie lassen sich nicht durch sinnliche Erfahrung falsifizieren. Eine besondere Form der metaempirischen Deskription ist die essenzialistische: Diese geht von der Annahme aus, dass der Mensch in irgendeiner Form Träger eines Wesens ist oder über eine stabile menschliche Natur verfügt. In diesem Wesen oder dieser Natur sind all die wichtigen menschlichen Eigenschaften gegeben, und zwar auch dann, wenn sie nicht oder niemals in aktuelle Wirklichkeit gerinnen; in diesem Fall sind die Eigenschaften potentiell vorhanden. Dadurch können z. B. auch schwer Hirngeschädigte, ja unwiederbringlich Komatöse noch als Vernunftwesen gelten, weil sie die Vernunft zwar nicht in aktueller, aber auf jeden Fall in potentieller Form besitzen. In gleicher Weise könnten Menschen auch dann, wenn sie altruistisch handeln, noch als Egoisten gelten, weil sie ja ihrer Natur nach egoistisch veranlagt sind; bei ihrem Altruismus würde es sich dann um nichts anderes als einen besonders hinterhältigen, verkappten Egoismus handeln. Der essenzialistische Modus der Deskription zeichnet sich mithin dadurch aus, dass auf diese Weise auch empirische Annahmen in metaempirische Annahmen umgewandelt werden. So ist die Annahme, dass der Mensch (häufig) egoistisch agiert, eine empirische. Wird der Egoismus aber in die Natur des Menschen verlegt, wird die Annahme dadurch zu einer metaempirischen. Auch die klassische Annahme, dass sich der Mensch durch Vernunft und Sprachfähigkeit auszeichnet, ist eine empirische Annahme. Wird Vernunft und Sprachfähigkeit aber in ein metaphysisches Wesen des Menschen hineingelegt, das jeder Mensch in sich trägt, unabhängig davon, ob er tatsächlich Vernunft besitzt und sprachfähig ist, dann wird die Annahme von Vernunft und Sprachfähigkeit durch diesen Griff zu einer metaempirischen. Notwendig ist dieser Griff vor allem dann, wenn diese Annahmen einen kategorialen Status haben, d. h. wenn sich an diesen Annahmen die Zugehörigkeit zur Klasse Mensch entscheidet. 103 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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Denn in diesem Fall hat die essenzialistische Umwandlung vom Empirischen ins Metaempirische zwei Vorteile: Erstens kann dann trotz einiger menschlicher Individuen, die sich offensichtlich nicht im Besitz dieser Eigenschaften befinden, an der Universalität dieser menschlichen Eigenschaften festgehalten werden. Um dies an einem Beispiel zu veranschaulichen: Säuglinge, geistig Schwerstbehinderte und Komatöse sind Menschen, doch ganz offensichtlich nicht im Besitz von Vernunft und Sprachfähigkeit. Weil sie aber kraft ihres menschlichen Wesens oder ihrer menschlichen Natur potentiell doch im Besitz von Vernunft und Sprachfähigkeit sind, kann daran festgehalten werden, dass Vernunft und Sprachfähigkeit allgemeinmenschliche Eigenschaften sind. Und zweitens können diese Individuen, obwohl ihnen diese Eigenschaften aktuell fehlen, dennoch zu den Menschen gezählt werden. Obwohl Säuglinge, geistig Schwerstbehinderte und Komatöse – um das Beispiel fortzuführen – ganz offensichtlich nicht im Besitz von Vernunft und Sprachfähigkeit sind, können sie doch deswegen als vollwertige Menschen gelten, weil ihnen Vernunft und Sprachfähigkeit potentiell eigen ist. Nicht von ungefähr spielt das Argument der Potentialität, das genau diese Umwandlung von empirischen in metaempirische Annahmen vollzieht, gerade in den Auseinandersetzungen um den moralischen Status des Embryos eine so große Rolle. Deskriptive Annahmen können also metaempirisch oder empirisch sein. Sind sie empirisch, dann sind sie entweder universell oder aber typisch. Universelle empirische Annahmen sind solche, die Eigenschaften beschreiben, die sich bei jedem Menschen empirisch feststellen lassen müssen. Lassen sie sich nicht feststellen, kann es sich bei dem Phänomen um keinen Menschen handeln. Universelle empirische Annahmen haben folglich einen kategorialen Charakter. Kategoriale empirische Annahmen wären in unserem Kulturkreis etwa diejenigen, dass Menschen eine bestimmte DNS aufweisen, dass Menschen Säugetiere sind, dass Menschen (anders als Engel oder Götter) sterblich sind, dass Menschen aus Fleisch und Blut (und nicht wie Roboter aus Metall und Plastik) bestehen usw. 29

Hier ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass natürlich auch diese kategorialen Annahmen letztlich metaempirisch sind: Es lässt sich zwar empirisch überprüfen, ob ein Wesen eine menschliche DNS aufweist oder nicht, die Festlegung, dass Menschen notwendigerweise eine menschliche DNS (oder andere empirisch nachweisbare Kriterien) aufweisen müssen, ist aber nicht empirischer, sondern metaempirischer Natur.

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Menschenbildannahmen

Typische empirische Annahmen beanspruchen demgegenüber, dass sie für die meisten Menschen gelten, aber eben nicht für alle. Es mag Ausnahmen geben. Eine typische Annahme wäre etwa diejenige, dass Menschen zehn Finger, zwei Beine und eine Nase haben. Es mag Menschen geben, die nur neun Finger haben, die nur ein Bein haben und denen die Nase fehlt. Dennoch wird es sich bei diesen Wesen um Menschen handeln. Auch die oben genannten Eigenschaften des Egoismus sowie der Vernunft und der Sprachfähigkeit können – sofern sie nicht zu Wesenseigenschaften hochstilisiert werden – als typische empirische Annahmen verstanden werden. In diesem Fall wären Egoismus sowie Vernunft und Sprachfähigkeit eben Eigenschaften, die Menschen üblicherweise haben, die aber nicht notwendigerweise bei jedem Menschen anzutreffen sind. Typische empirische Annahmen beschreiben also Eigenschaften, die man normalerweise beim Menschen erwarten würde. Im Gegensatz zu deskriptiven Annahmen, die beanspruchen, den Menschen so zu beschreiben, wie er faktisch ist, stellen normative Annahmen den Anspruch, den Menschen so zu fassen, wie er sein sollte. Nun lassen sich deskriptive und normative Aspekte von Menschenbildern zwar theoretisch ganz gut voneinander unterscheiden, faktisch liegen sie aber oft in Mischformen vor. Erkennbar wird dies schon daran, dass insbesondere typische empirische Annahmen häufig normative Wirkungen entfalten. Der simple empirische Satz »Schwäne sind weiß« ist beispielsweise eine typische empirische Aussage: Schwäne sind typischerweise weiß. Faktisch gibt es auch Schwäne, die nicht weiß sind. Wenn aber der Satz »Schwäne sind weiß« gilt, dann wird daraus oft geschlossen, dass schwarze Schwäne eigentlich weiß sein sollten. Diese Normierung fußt streng genommen auf einem Verstoß gegen das Hume’sche Gesetz, sie basiert auf einem Sein-Sollen-Fehlschluss. Denn aus der Tatsache, dass Schwäne meistens weiß sind, folgt nicht, dass Schwäne weiß sein sollten. Dies folgt nur, wenn die typische empirische Aussage unter der Hand einen normativen Charakter erhält – was sehr leicht geschieht. In diesem Fall wird aus dem empirischen Satz »Schwäne sind meistens weiß« die typisierende Aussage »Schwäne sind normalerweise weiß« und daraus die Norm »Echte Schwäne sind weiß«. Analoges gilt von typischen empirischen Menschenbildannahmen. So sind Menschenbilder denkbar, die den Durchschnittsmenschen, den Normalmenschen, den vielzitierten »Otto Normalverbraucher« beschreiben. Damit aber setzen sie einen Maßstab für das, was als Normalität gilt. Und als dieser 105 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Systematisch-begriffliche Klärungen

Maßstab wirken sie normativ. 30 Dies gilt insbesondere für wissenschaftliche Beschreibungen des Menschen. So muss etwa die Medizin das Bild des normalen, gesunden Menschen entwickeln, um anhand dieses Maßstabes behandlungsbedürftige Normabweichungen festzustellen. 31 Auch der homo oeconomicus der Wirtschaftswissenschaften, obwohl nur eine abstrakte Modellannahme, entfaltet solche normativen Wirkungen. Wird der Mensch als nutzenkalkulierender Egoist dargestellt, dann gilt nutzenkalkulierendes egoistisches Verhalten als normal und daher zumindest als akzeptabel. 32 Neben den eher implizit normativ wirkenden Annahmen deskriptiver Natur beinhalten Menschenbilder in der Regel auch explizit normative Annahmen über den Menschen. Die Annahmen etwa, dass Menschen, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt, »sich im Geist der Brüderlichkeit begegnen sollen«, dass sie Tugenden ausbilden sollten, dass sie sich darum bemühen sollten, moralisch zu sein oder selbstbestimmt zu leben, oder dass sie danach streben sollten, sich selbst zu verwirklichen, sind solche normativen Annahmen. In Bezug auf normative Menschenbildannahmen ist es notwendig, eine weitere Unterscheidung einzuführen, auf die später noch etwas detaillierter zurückzukommen sein wird. 33 Es gibt nämlich zwei Arten von normativen Annahmen: (a) Realistische normative Annahmen sind Annahmen darüber, wie Menschen realistischerweise sein sollten. Die Annahme, dass sich Menschen darum bemühen sollten, moralischer zu sein, ist beispielsweise eine solche realistische normative Annahme. Es ist nämlich nicht zu viel verlangt, von Menschen zu fordern, sie mögen sich moralisch verhalten. Ein solches Verhalten liegt im Bereich des Könnens, die Annahme, dass sich Vgl. dazu Link, Jürgen, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 42006. Interessant ist vor allem Links Unterscheidung zwischen Protonormalismus, der Normalität normativ einengt, und flexiblem Normalismus, der Normalitätsabweichungen eher toleriert. 31 Vgl. dazu Stukenbrock, Karin, Individuum oder Gruppe. Mediziner auf der Suche nach dem normierten Menschen, in: Selzer, Stephan/Ewert, Ulf-Christian (Hg.), Menschenbilder – Menschenbildner. Individuum und Gruppe im Blick des Historikers, Berlin 2002, 53–66. 32 Vgl. etwa Hausman, Daniel/McPherson, Michael, Taking Ethics Seriously: Economics and Contemporary Moral Philosophy, in: Journal of Economic Literature 31/2 (1993), 671–731, hier 674; ferner Zichy, Michael, Der homo oeconomicus und die Moral, in: Forum TTN 14 (2005), 24–39, hier 36. 33 Vgl. S. 187 ff. und S. 349 ff. 30

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Menschenbildannahmen

Menschen moralischer verhalten können und sollten, als sie dies vielleicht gemeinhin tun, ist daher nicht unrealistisch. (b) Utopische normative Annahmen sind hingegen Annahmen darüber, wie Menschen idealerweise sein sollten oder könnten. Es sind Annahmen darüber, wie Menschen unter vollkommen idealen Bedingungen wären. So beinhaltet etwa das christliche Menschenbild die utopische Annahme, dass Menschen eigentlich Heilige sein sollten, das marxistische Menschenbild enthält die utopische Annahme, dass Menschen eigentlich nicht-entfremdet in der klassenlosen Gesellschaft leben sollten, Nietzsches Menschenbild umfasst die utopische Annahme, dass Menschen souveräne Übermenschen sein sollten usw. All diese Annahmen enthalten normative Forderungen, die über das Können des Menschen weit hinausgehen; deswegen handelt es sich bei ihnen um unrealistische bzw. utopische normative Annahmen. Gleich ob es sich um realistische oder utopische normative Annahmen handelt, die Normativität liegt dabei immer in Form von Ansprüchen an den Menschen vor, die ihm entweder aus seiner Natur oder seinem Wesen erwachsen. Das Theorem der Gottesebenbildlichkeit sagt etwa nicht nur, dass der Mensch seinem Wesen nach Gottes Ebenbild ist, sondern auch, dass er sich deswegen bemühen sollte, den aus dieser Gottesebenbildlichkeit erwachsenden Ansprüchen zu genügen, indem er danach strebt, Gott ähnlich zu werden. In säkularisierter Form finden wir Ähnliches beim Gedanken der Menschenwürde: Auch diese ist dem Menschen einerseits als unverlierbarer Besitz – als Wesensmerkmal – gegeben, gleichzeitig ist sie ein Auftrag an ihn, eben dieser Würde gerecht zu werden, indem er sie bei sich und seinen Mitmenschen respektiert. 34 Normative Menschenbildannahmen sind also nie rein normativ, sondern basieren immer auf deskriptiven Elementen. Die Normativität muss ja schließlich als zum Menschen gehörig beschrieben werden, sie wird als Faktum, als eine faktische menschliche Eigenschaft gefasst. Dies lässt sich sehr schön an der alten Definition des Menschen als »animal rationale« ablesen. Diese Definition beansprucht

Vgl. beispielsweise Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, Bd. 7, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, 68–74. (BA 78–87.): »[…] die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein.« (74 [BA 87]); ferner Wetz, Franz Josef, Illusion Menschenwürde? Aufstieg und Fall eines Grundwertes, Stuttgart 2005, 206 ff.

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Systematisch-begriffliche Klärungen

einerseits, den Menschen in seiner Faktizität zu beschreiben: als das Lebewesen, das sich von den übrigen Lebewesen durch seine Vernunftbegabung unterscheidet. Das »rationale« stellt also die differentia specifica dar. Das Verständnis des Menschen als »animal rationale« ist insofern zunächst einmal deskriptiv. Da die Rationalität aber als eine Wesenseigenschaft gilt, ist diese Deskriptivität eine metaempirische: die Annahme ist essenzialistisch. Gleichzeitig steckt in dieser Annahme eine gehörige Portion Normativität, denn mit dem »rationale« ist der Mensch nicht nur beschrieben, wie er ist und was ihn faktisch von allen anderen Lebewesen unterscheidet, sondern vor allem auch, wie er sein soll. Der Mensch soll sich, gerade weil die Rationalität sein Wesensmerkmal ist, auch dementsprechend verhalten. Er soll sein Leben der Rationalität unterwerfen, d. h. der Mensch soll das werden, was er (eigentlich, seinem Wesen nach) ist. Die Normativität ist folglich in einem Aspekt mitgegeben, der sich deskriptiv erfassen lässt. Wer die Natur des Menschen beschreibt, muss daher, so der Anspruch der klassischen Bestimmung, wenn er nur klar genug sieht, notwendigerweise erkennen, dass der Mensch faktisch rational ist, dass aber diese Rationalität gleichzeitig einen normativen Anspruch in sich trägt, der gleichursprünglich aus der Natur des Menschen erwächst. In dieser Verschränkung des Deskriptiven mit dem Normativen liegt nicht unbedingt ein Verstoß gegen das Hume’sche Gesetz vor. Denn es ist in diesem Fall – zumindest wenn sauber argumentiert wird – nicht so, dass etwas Normatives aus etwas Deskriptivem abgeleitet wird. Es ist vielmehr so, dass die Eigenschaft, die beschrieben wird – in diesem Fall die Rationalität – per se normativ sein soll. Das Normative steckt sozusagen in der Natur des Menschen, ist selbst faktisch. Ein anschauliches und philosophiegeschichtlich wirkungsmächtiges Beispiel für eine solch faktische Normativität liegt in Immanuel Kants Verständnis des moralischen Gesetzes vor. Das moralische Gesetz ist natürlich etwas Normatives, es schreibt dem Menschen vor, wie er sich zu verhalten hat. Gleichzeitig aber lässt Kant keinen Zweifel offen, dass dieses Gesetz etwas Gegebenes ist: Es ist ein mit der Vernunftnatur des Menschen mitgegebenes Faktum, das der Mensch ebenso wie den bestirnten Himmel über sich nur mit Staunen zur Kenntnis nehmen kann. »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in 108 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Theoretische und praktische Menschenbilder

mir.« 35 Und aus diesem moralischen Gesetz, das dem Menschen als Faktum in und mit seiner Vernunft gegeben ist, erwächst dem Mensch gleichursprünglich das Sollen, diesem Gesetz Genüge zu tun.

Theoretische und praktische Menschenbilder Bislang ging es zum einen darum, eine halbwegs brauchbare Definition des Begriffs »Menschenbild« zu gewinnen, und zum anderen darum, erste formale Differenzierungen einzuführen, um grundlegende Aspekte, die in Menschenbildern eine Rolle spielen, zu identifizieren. Im Folgenden geht es darum, den Begriff »Menschenbild« noch ein wenig weiter zu präzisieren. Menschenbilder lassen sich, so der Vorschlag, als mehr oder weniger kohärente Bündel von Annahmen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen bestimmen. Mit dieser Definition ist nun schon einiges, aber noch nicht allzu viel gewonnen, denn sie ist nach wie vor sehr breit. Schließlich werden alle möglichen Bündel von Annahmen über den Menschen als Menschenbilder bezeichnet: man spricht vom Menschenbild Schelers, Gehlens, Freuds oder Camus’ und meint damit mehr oder weniger elaborierte anthropologische Entwürfe, man spricht vom Menschenbild des homo oeconomicus und meint damit ein theoretisches Modell des Menschen, man spricht vom Menschenbild des Grundgesetzes und meint damit dem Recht implizite anthropologische Annahmen, man spricht vom impliziten Menschenbild einer Theorie, eines Romans, ja sogar eines Gedichtes, und man spricht von den Menschenbildern ganzer Kulturen – etwa der Mayas oder der Sumerer – und ganzer historischer Epochen – etwa vom Menschenbild des Mittelalters, der Renaissance usw. Es ist offensichtlich, dass in all diesen Fällen die Bündel von Annahmen über den Menschen in sehr unterschiedlicher Art und Weise vorliegen. Ihre Gemeinsamkeit geht kaum über den Umstand hinaus, dass es sich bei diesen Annahmenbündeln allesamt um Annahmenbündel über den Menschen im Allgemeinen handelt. Sie alle sollen hier fortan als Menschenbilder in einem weiten Sinne bezeichnet werden. Zur weiteren Präzisierung ist es sinnvoll, grob zwei Typen von Menschenbildern zu unterscheiden: theoretische und praktische Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, Werkausgabe, Bd. 7, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, 300 (A 288) (Hervorhebung im Original).

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Systematisch-begriffliche Klärungen

Menschenbilder. Auch für diese Unterscheidung gilt, dass sie eine rein theoretisch-analytische ist, die sich faktisch nicht aufrechterhalten lässt. Theoretische Menschenbilder, so wie sie Denkerinnen und Denker seit Jahrtausenden entwickeln, schlagen sich – mal in mehr, mal in weniger verwässerter Form – im praktischen Handeln nieder, werden zur Grundlage moralischer und rechtlicher Normen und sickern in das alltägliche Denken und Handeln der Menschen ein. Die anthropologischen Annahmen wiederum, die von Menschen im Alltag zur Anwendung gebracht werden und ihrem alltäglichen Handeln zugrunde liegen, prägen ihrerseits den theoretischen Zugriff auf den Menschen. Praktische Menschenbilder schlagen sich in den theoretischen Menschenbildern also ebenso nieder, wie diese in jene einfließen. Doch auch wenn die Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Menschenbildern aus diesen Gründen unscharf ist, sinnvoll und hilfreich ist sie allemal.

Theoretische Menschenbilder Theoretische Menschenbilder sind mehr oder weniger kohärente Bündel von Annahmen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen, die in den Beschreibungen und Erklärungen der Welt, so wie sie vor allem von den Wissenschaften vorgenommen werden, vorkommen. Insofern kann auch von theoretisch-wissenschaftlichen Menschenbildern die Rede sein. Da es zu dieser Thematik bereits eine Vielzahl an Untersuchungen gibt, die das Vorkommen und die Rolle von anthropologischen Annahmen in den unterschiedlichen Wissenschaftszweigen bereits in allen ihren Details ausführlich untersucht haben, sei die Beschäftigung mit theoretischen Menschenbildern hier äußerst knapp gehalten. Als Menschenbilder werden innerhalb der Wissenschaft jedenfalls drei unterschiedliche Bündel von Überzeugungen über den Menschen bezeichnet, die sich idealtypisch voneinander abgrenzen lassen: (1) Als Menschenbilder werden erstens anthropologische Entwürfe bezeichnet, also wissenschaftliche Großtheorien über den Menschen, wie sie paradigmatisch von den großen Denksystemen der Antike und des Mittelalters oder der deutschen Philosophischen Anthropologie Schelers, Plessners und Gehlens entworfen wurden. Diese Bündel an Annahmen über den Menschen zeichnen sich durch 110 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Theoretische und praktische Menschenbilder

drei Eigenschaften aus: Erstens handelt es sich dabei in der Regel um systematisch ausgearbeitete, hohen Konsistenz- und Kohärenzanforderungen gerecht werdende Aussagensysteme. Zweitens wird mit diesen Aussagen nicht bloß ein Wahrheitsanspruch, sondern ein Totalitätsanspruch gestellt. Anthropologische Entwürfe betrachten den Menschen nämlich nicht nur hinsichtlich einzelner seiner Aspekte, sondern als Ganzen, sie machen Aussagen über den Menschen als Menschen bzw. über sein Wesen oder seine Natur. Dieser Totalitätsanspruch ist entscheidend: Auch eine rein biologische Betrachtungsweise wird dann zu einem solch umfassenden anthropologischen Entwurf, wenn mit ihr der Anspruch verbunden wird, diese Betrachtungsweise sei die einzig richtige und der Mensch folglich nichts anderes als ein rein biologisches Phänomen. Drittens stellen anthropologische Entwürfe mit ihrem Totalitätsanspruch auch den Anspruch auf lebensweltliche Relevanz. Wer Aussagen über den Menschen als Ganzen macht, beansprucht nämlich, dass diese Aussagen zugleich in lebensweltliche, in soziale, ethische, politische Kontexte einfließen und zur Grundlage individueller wie sozialer Lebensentwürfe und Handlungsentscheidungen gemacht werden sollen. (2) Als Menschenbilder gelten zweitens wissenschaftliche Modelle vom Menschen, d. h. Bündel von Überzeugungen, die den Zweck haben, bestimmte Erkenntnisse über den Menschen systematisch darzustellen. 36 Im Unterschied zu anthropologischen Entwürfen stellen Modelle keinen Totalitätsanspruch, da sie den Menschen nur aus einem bestimmten Blickwinkel – dem Blickwinkel einer Disziplin, eines bestimmten theoretischen Ansatzes, eines spezifischen Erkenntnisinteresses usw. – beschreiben. Diese Menschenbilder sagen mithin nichts über den Menschen als Menschen aus, sondern lediglich etwas über den Menschen als Gegenstand einer bestimmten wissenschaftlichen Perspektive. Wird kein Totalitätsanspruch gestellt, dann folgt daraus, dass modellartige Menschenbilder mit anderen modellartigen Menschenbildern oder auch mit anthropologischen Entwürfen vereinbar sind, solange es nicht zu Widersprüchen zwischen den Menschenbildern kommt. Die evolutionsbiologische Auffassung des Menschen als ProVgl. dazu Dagenais, James, Models of Man. A Phenomenological Critique of Some Paradigms in the Human Sciences, Den Haag 1972; Chapman, Antony/Jones, Dylan (Hg.), Models of Man, Hillsdale 1980; Hampden-Turner, Charles, Modelle des Menschen. Ein Handbuch des menschlichen Bewußtseins, Weinheim 31993.

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Systematisch-begriffliche Klärungen

dukt der Evolution könnte von daher beispielsweise vereinbar sein mit der theologischen Auffassung des Menschen als Ebenbild Gottes und der betriebswirtschaftlichen Auffassung des Menschen als complex man. Die Modelle des Menschen, die in der Wissenschaft zur Anwendung kommen, lassen sich in drei Arten unterscheiden: repräsentationale, heuristische und axiomatische. 37 Repräsentationale Menschenbilder sind dadurch gekennzeichnet, dass sie den Menschen hinsichtlich bestimmter seiner Eigenschaften – etwa hinsichtlich der Funktion seiner Psyche, der Struktur seines neuronalen Systems usw. – beschreiben bzw. repräsentieren. Ihr Zweck liegt darin, Erkenntnisse über den Menschen systematisch darzustellen. Entscheidendes Kriterium für solche Menschenbilder ist, ob sie wahr sind, d. h. ob sie den Menschen im Hinblick auf die Teilaspekte, die in den Blick genommen werden, adäquat beschreiben. Repräsentationalen Modellen gehen in der Forschungspraxis in der Regel heuristische Modelle voran. Während jene einigermaßen gesicherte Erkenntnisse darstellen, haben diese einen hypothesenhaften Charakter. Sie werden versuchsweise entworfen, um vorläufige Forschungsergebnisse zu überprüfen und zu erweitern. Bei diesen Menschenbildern steht folglich der heuristische Wert und nicht ihr Wahrheitsgehalt im Vordergrund. Axiomatische Modelle des Menschen wiederum sind auf bestimmte Erkenntnisinteressen zugeschnittene Abstraktionen vom Menschen, die als Fundament weitergehender Untersuchungen fungieren. Als solche werden sie gesetzt und können von der Wissenschaft oder dem Ansatz, dem sie als Fundament dienen, weder verifiziert noch falsifiziert werden. Ihr Zweck liegt demnach auch nicht darin, den Menschen wahrheitsgetreu zu beschreiben, sondern darin, bestimmte Untersuchungen zu ermöglichen. Sehr deutlich wird dies bei einem der bekanntesten und zugleich umstrittensten axiomatischen Modelle des Menschen: dem in den Wirtschaftswissenschaften zum Einsatz kommenden homo oeconomicus. Dieser ist – zumindest nach Auffassung einiger seiner Verteidiger 38 – eine rein aus methodischen Zwecken vorgenommene Abstraktion, und wer diese mit dem Vgl. Endruweit, Günter, Soziologische Menschenbilder, in: Orter, Menschenbilder, 5–21. 38 Vgl. etwa Homann, Karl/Blome-Drees, Franz, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992. 37

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Theoretische und praktische Menschenbilder

wirklichen Menschen aus Fleisch und Blut verwechselt, bringt die Kategorien durcheinander. So schreibt etwa John Stuart Mill, bei dem sich der homo oeconomicus zwar nicht dem Begriff, sehr wohl aber dem Gedanken nach findet, folgende für das Konzept zentralen Zeilen: Die politische Oekonomie betrachtet die Menschheit als lediglich mit dem Erwerben und Verzehren von Vermögen beschäftigt und strebt darnach zu zeigen, zu welcher Handlungsweise die im Gesellschaftszustande lebenden Menschen geführt würden, wenn dieser Beweggrund […] unbedingte Gewalt über alle ihre Handlungen besäße. […] Alle diese Verrichtungen, von denen viele in Wahrheit das Ergebniß einer Vielzahl von Beweggründen sind, sieht die politische Oekonomie so an, als entstammten sie lediglich dem Verlangen nach Vermögen. […] Nicht daß je ein politischer Oekonom so thöricht war zu denken, die Menschenheit sei wirklich so beschaffen; wohl aber ist dies die Art, in der die Wissenschaft notwendig vorgehen muss. 39

Aus dieser Stelle geht dreierlei klar hervor: Erstens ist das Menschenbild auf einen klar umrissenen Bereich beschränkt, nämlich in diesem Fall das wirtschaftliche Handeln. Das Modell hat also nur für diesen Bereich Gültigkeit. Zweitens verdankt sich das Modell einem ganz spezifischen Erkenntnisinteresse, auf das es zugeschnitten ist. Der Zweck des Modells ist es daher drittens nicht, das tatsächliche wirtschaftliche Handeln wirklichkeitsgetreu darzustellen, sondern das tatsächliche wirtschaftliche Handeln für den theoretischen Zugriff handhabbar zu machen. Dazu müssen die Komplexität und die Mannigfaltigkeit des tatsächlichen wirtschaftlichen Handelns so weit wie möglich reduziert werden. Freilich muss die Abstraktion noch soweit realitätsnah bleiben, dass die auf ihr gründenden Aussagen noch wirklichkeitsgesättigt und relevant bleiben. Da sie aus methodischen bzw. erkenntnisstrategischen Gründen eingesetzt wird, bemisst sich die Qualität einer solchen Modellannahme aber nicht daran, ob sie wahrheitsgetreu ist, sondern daran, ob sie verlässliche Ergebnisse – in diesem Falle also verlässliche wirtschaftliche Prognosen – zu erstellen erlaubt. (3) Die dritte Art von theoretischen Bündeln von Überzeugungen über den Menschen, die als Menschenbilder bezeichnet werden, Mill, John Stuart, System der deduktiven und induktiven Logik, Bd. 3, Eine Darlegung der Grundsätze der Beweislehre und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, Gesammelte Werke 4, Aalen 21986 [1843], 311 f.

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Systematisch-begriffliche Klärungen

sind in Theorien implizit enthaltene anthropologische Annahmen. Jede geistes- und sozialwissenschaftliche und viele naturwissenschaftliche Theorien beinhalten nämlich – zumindest in rudimentärer Form – anthropologische Annahmen, die sich explizit machen und systematisch darstellen lassen. In diesem Sinne kann dann etwa vom Menschenbild der Systemtheorie, vom Menschenbild des politikwissenschaftlichen Idealismus, vom Menschenbild Habermas’ oder Derridas – beides Denker, die dem Anliegen der philosophischen Anthropologie zwar explizit kritisch gegenüberstehen, in ihrem Denken aber natürlich nicht ohne anthropologische Annahmen auskommen –, vom Menschenbild der Strukturgeschichte usw. die Rede sein. Im Unterschied zu anthropologischen Entwürfen stellen diese Annahmen keinen Totalitätsanspruch, und im Unterschied zu anthropologischen Entwürfen und Modellen sind sie nicht systematisch ausgearbeitet, auch wenn sie da und dort einen axiomatischen Charakter haben mögen. Die Wahrscheinlichkeit, dass implizite anthropologische Annahmen Inkonsistenzen aufweisen, ist insofern auch höher als bei den ersten beiden Arten von theoretischen Menschenbildern. Menschenbilder in den Wissenschaften kommen – so die Quintessenz dieses Abschnitts – als umfassende anthropologische Entwürfe, als repräsentationale, methodische oder axiomatische Modelle sowie als Bündel impliziter anthropologischer Annahmen vor. Die Unterscheidung zwischen diesen Typen von Menschenbildern ist freilich künstlich, sind doch die Übergänge zwischen ihnen fließend. Ist Freuds Menschenbild – sofern es dies überhaupt gibt – ein anthropologischer Entwurf, ein repräsentationales Modell oder ein heuristisches Modell? Oder ist es gar das axiomatische Modell der Psychoanalyse? Es ist wahrscheinlich alles auf einmal bzw. einmal dies und einmal jenes, je nachdem wie es von Freud und seinen Nachfolgern gerade verwendet wird. Ist der homo oeconomicus nur eine methodische Abstraktion axiomatischer Natur oder ist er vielleicht mehr? Ist er eventuell doch einer akkuraten Beschreibung der Natur des Menschen, also eines anthropologischen Entwurfes würdig? Diese Ansichten werden alle vertreten, eine Einigkeit darüber, was der homo oeconomicus nun tatsächlich ist, gibt es nicht. 40

Vgl. Kirchgässner, Homo oeconomicus, XI; ferner Manstetten, Das Menschenbild der Ökonomie.

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Theoretische und praktische Menschenbilder

Praktische Menschenbilder Während theoretische Menschenbilder Bündel von Annahmen über den Menschen sind, die im auf Erkenntnis abzielenden denkenden Zugriff auf die Welt zu Hause sind, sind praktische Menschenbilder solche Bündel von Annahmen über den Menschen, die den praktischen Umgang in und mit der Welt prägen. Diese Bündel von Annahmen haben also einen »Ort im echten Leben« und nicht nur in den zwischen zwei Buchdeckeln eingelassenen theoretischen Ausführungen einer Denkerin oder eines Denkers. Die Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Menschenbildern ist zwar, wie schon erwähnt, nicht trennscharf, sie ist aber dennoch möglich – und hilfreich. Für strukturell ausdifferenzierte Gesellschaften wie die unsrige ist es sinnvoll, praktische Menschenbilder grob in zwei Arten von Menschenbildern einzuteilen: sektorale Menschenbilder und lebensweltliche Menschenbilder. Diese Unterscheidung ist deswegen notwendig, weil wir in vielen Praxissektoren – etwa im Bereich der Medizin, der Wirtschaft oder der Politik – unser Handeln auf anthropologische Annahmen stützen, die für die jeweiligen Praxissektoren zugeschnitten sind und die wir nur in diesen Praxissektoren zur Anwendung bringen. So wird etwa eine Chirurgin, die im Krankenhaus in ihre Chirurginnenrolle schlüpft, sich möglicherweise für diese Zeit auch ein bestimmtes medizinisches Menschenbild zu eigen machen, das ihr dabei hilft, ihre berufliche Rolle gut auszufüllen. Sobald sie aber ihren Arztkittel ablegt und sich nach Hause zu ihrer Familie begibt, wird sie hoffentlich auch das medizinische Menschenbild abgelegt haben und ihren Partner sowie ihre Kinder nicht durch die Chirurginnenbrille, sondern durch die Brille ihrer alltäglichen familiären Lebenswelt betrachten. Ebenso wird ein Neurowissenschaftler in der Zeit, in der er im Labor als Neurowissenschaftler tätig ist, den Menschen durch die neurowissenschaftliche Brille betrachten und sich ein auf biologische Daten reduziertes Menschenbild anlegen. In dem Moment aber, wo er als »ganzer Mensch« auftritt, weil er sich mit seinen Kolleginnen und Kollegen beim Mittagessen über die neuesten Erkenntnisse austauscht oder am Abend mit seinen Kindern die Hausaufgaben macht, wird er die neurowissenschaftliche Sichtweise ablegen und in den »normalen« lebensweltlichen Modus, der auch ein lebensweltliches Menschenbild enthält, wechseln. Ähnlich wie wissenschaftliche Modelle – die im Übrigen häufig 115 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Systematisch-begriffliche Klärungen

die Grundlage dieser Menschenbilder sind – haben sektorale Menschenbilder nur eine auf einen spezifischen Praxissektor beschränkte Geltung. Daraus folgt, dass sektorale Menschenbilder mit anderen Menschenbildern vereinbar sind, und zwar insofern, als ein Individuum sich das eine sektorale Menschenbild aneignen kann, wenn es in dem einen Sektor tätig ist, während es sich ein anderes aneignet, wenn es in einem anderen Sektor tätig ist. Eine Pharmazeutin, die gleichzeitig eine große Abteilung in einem pharmazeutischen Unternehmen zu leiten hat, wird beständig zwischen mindestens drei Menschenbildern hin- und herwechseln. Abhängig davon, in welchem Tätigkeitsbereich sie sich gerade befindet – ob sie im Labor gerade einen neuen Wirkstoff prüft, ob sie die betriebswirtschaftlichen Daten ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kontrolliert oder ob sie sich mit Freundinnen zum Mittagessen trifft – wird sie ein medizinisch-mechanistisches, ein ökonomisch-betriebswirtschaftliches und ein lebensweltliches Menschenbild annehmen. Sektorale Menschenbilder sind also Bündel von Annahmen über den Menschen, die in spezifischen Praxissektoren zur Anwendung kommen. Unter lebensweltlichen Menschenbildern sind hingegen solche Bündel von Annahmen über den Menschen zu verstehen, die wir in unserer Lebenswelt in Anschlag bringen. Was dies bedeutet, wird im nächsten Teil der Arbeit im Detail dargelegt. Hier sei nur vorweggenommen, dass lebensweltliche Menschenbilder im Unterschied zu sektoralen Menschenbildern, die eine auf ihren Praxissektor beschränkte Gültigkeit haben, einen Anspruch auf Totalität stellen. Dies in einem dreifachen Sinne: Sie stellen erstens den Anspruch, wahr und richtig zu sein, sie stellen zweitens den Anspruch, den Menschen in existenziell wesentlicher Hinsicht zu fassen, und sie stellen drittens den Anspruch, für alle Bereiche, d. h. in letzter Instanz auch für alle Praxissektoren, zu gelten. So wie die Lebenswelt die alle Praxissektoren umfassende, sie gleichsam einbettende und zusammenhaltende Lebenswirklichkeit ist, sind lebensweltliche Menschenbilder umfassende, mit Anspruch auf höchste Wahrheit, Richtigkeit und Gültigkeit ausgestattete Bündel anthropologischer Annahmen. Es sind in erster Linie diese lebensweltlichen Menschenbilder, die ursprünglich gemeint waren, als – bei Nietzsche – von Menschenbildern die Rede war. Und es sind nach wie vor diese lebensweltlichen Menschenbilder, die gemeint sind, wenn heute in einem emphatischen Sinne von Menschenbildern gesprochen wird. Insofern können diese Menschenbilder als Menschenbilder im engen Sinne oder, 116 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Theoretische und praktische Menschenbilder

stärker noch, als die eigentlichen Menschenbilder bezeichnet werden. Ihnen jedenfalls gehört die Aufmerksamkeit der weiteren Untersuchung.

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Teil II Lebensweltliche Menschenbilder

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Einleitung

Unter all den Unterscheidungen, die im letzten Abschnitt eingeführt und diskutiert wurden, ist die Unterscheidung zwischen theoretischen Menschenbildern einerseits, die in den theoretischen Welten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beheimatet sind, und praktischen Menschenbildern andererseits, die der menschlichen Praxis innewohnen, die für den weiteren Fortgang der Untersuchung entscheidende. Praktische Menschenbilder lassen sich dabei, so die Analyse, weiter in praktisch-sektorale und in lebensweltliche Menschenbilder differenzieren. Da das Feld der Praxis ebenso wenig ein homogener Raum ist wie das Feld der Theorie, müssen innerhalb dieses Feldes nämlich unterschiedliche Sektoren unterschieden werden, in denen unter Umständen auch je eigene praktisch-sektorale Menschenbilder vorkommen. Die umfassendste und fundamentalste praktische »Sphäre« – innerhalb derer die anderen, spezifischen Praxissektoren gleichsam Inseln bilden – stellt die Lebenswelt dar. Lebensweltliche Menschenbilder sind daher Bündel von Annahmen über den Menschen, die im Unterschied zu theoretischen Menschenbildern praktisch wirksam sind, d. h. das Handeln orientieren, und die im Unterschied zu praktisch-sektoralen Menschenbildern, die nur innerhalb des jeweiligen Praxissektors Geltung haben, total sind. Ihre Geltung erstreckt sich nicht nur auf den lebensweltlichen Alltag, sondern – da die Lebenswelt das Fundament sowohl aller Praxissektoren als auch aller Wissenschaft ist – zumindest tendenziell auf alle Bereiche des menschlichen Lebens. Unter den vielen Typen von Menschenbildern sind lebensweltliche Menschenbilder folglich die wichtigsten. Aus diesem Grund – und weil sie im Unterschied zu den theoretischen Menschenbildern in der Forschung bislang vernachlässigt wurden – stehen lebensweltliche Menschenbilder im Zentrum dieses zweiten Teils der Untersuchung. In sechs Schritten werden sie dabei einer Analyse unterzogen: In einem ersten Schritt wird zunächst grundsätzlich geklärt, 121 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Einleitung

was überhaupt unter einer Lebenswelt zu verstehen ist. Der zweite Schritt nähert sich dann an das Phänomen lebensweltlicher Typisierungen an, in Analogie zu dem sich das Phänomen lebensweltlicher Menschenbilder fassen lässt: Menschenbilder sind – so die These – eine bestimmte Art von Typisierungen, nämlich Hyper-Typisierungen. In einem dritten Schritt werden die Funktionen, die Menschenbilder in der Lebenswelt haben, die vielfältigen Verflechtungen, die Menschenbild-Annahmen zu anderen Überzeugungen aufweisen, und die Art und Weise, wie Menschenbilder in der Lebenswelt gegeben sind, näher untersucht. Im Anschluss daran bemüht sich der vierte Schritt darum, das Phänomen der Pluralität lebensweltlicher Menschenbilder, so wie es für unsere Gesellschaften typisch ist, theoretisch zu durchdringen. Ein sehr umfassender fünfter Schritt widmet sich danach der Analyse der Inhalte von Menschenbildern. In einem letzten sechsten Schritt werden schließlich die Wirkungen, die Menschenbilder in der Lebenswelt zeitigen, zum Gegenstand der Untersuchung gemacht.

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Lebenswelt

Um begreifen zu können, was lebensweltliche Menschenbilder sind und wie sie funktionieren, muss zunächst einmal geklärt werden, was unter einer Lebenswelt zu verstehen ist. Dies soll im Folgenden geschehen. Ziel ist es dabei nicht, eine umfassende Theorie der Lebenswelt vorzulegen, sondern vielmehr, in groben Zügen diejenigen Aspekte dieses Phänomens zu beschreiben, die für das weitere Verständnis von lebensweltlichen Menschenbildern notwendig sind. Es ist unvermeidlich, dass dabei viele Fragen – vor allem zu sprach- und bedeutungstheoretischen, aber auch zu wissenschaftstheoretischen und ontologischen Aspekten – offen bleiben müssen. 1 Die hier gegebene Skizze des Phänomens der Lebenswelt greift vor allem auf die einschlägigen Studien von Alfred Schütz, Thomas Luckmann, Peter Berger und Jürgen Habermas zurück. 2 Der Begriff der »Lebenswelt« geht maßgeblich auf Edmund Husserl zurück. Er wurde von Husserl in seinem Spätwerk eingeführt, um damit die »wirklich anschauliche, wirklich erfahrene und erfahrbare Welt, in der sich unser ganzes Leben praktisch abspielt« zu bezeichnen und sie von den idealisierten wissenschaftlichen Auffassungen und Wahrnehmungen der Wirklichkeit zu unterscheiden. 3 Zu einigen Theorien der Lebenswelt, die auch diese Fragen adressieren vgl. Welter, Rüdiger, Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt, München 1986. 2 Vgl. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas, Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1979 u. 1984; Berger, Peter/Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 232010; Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2, 171–293. 3 Husserl, Edmund, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Husserliana, Bd. 6, hg. v. Walter Biemel, Den Haag 1954 [1936], 51. Zu Husserls Lebensweltbegriff vgl. Dilcher, Roman, Über das Verhältnis von Lebenswelt und Philosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 57/3 (2003), 373–390; Sowa, Rochus, Husserls Idee einer nicht-empirischen Wissenschaft von der Lebenswelt, in: 1

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Lebenswelt

Der Begriff löst sich alsdann relativ bald vom Husserlschen Programm der transzendentalen Fundierung aller Wissenschaft in der »naiven« lebensweltlichen Erfahrung und wird zur Bezeichnung derjenigen Lebens- und Erfahrungssphäre, in der wir uns vor allem in unseren ganz alltäglichen Verrichtungen wie essen, einkaufen, zur Arbeit gehen, sich mit Angehörigen treffen, Radio hören usw. bewegen. Im Gegensatz zum Begriff der Alltagswelt, zu dem er – wie z. B. bei Schütz, Berger und Luckmann – häufig synonym verwendet wird, der aber oft auf das Gewohnte, Habituelle eingeengt zu sein scheint, ist der Begriff der Lebenswelt breiter: Er meint einfach die Welt, so wie wir sie in unserer »natürlichen Einstellung« des »schlicht« und »geradehin Dahinlebens« 4 wahrnehmen – auch dann, wenn sich darin etwas Nicht-Alltägliches, Ungewöhnliches ereignet. Allerdings bleibt die Alltagswelt das Fundament der »natürlichen Einstellung« der Lebenswelt, erfahren wir das Ungewöhnliche und Nicht-Alltägliche doch nur vor dem Hintergrund des Gewöhnlichen und Alltäglichen als ungewöhnlich. Von daher ist die Engführung der Lebenswelt auf die Welt des (normalen, unaufgeregten) Alltags, so wie sie von Schütz, Luckmann und Berger vorgenommen wird, durchaus systematisch begründet. Entscheidend für den Begriff der Lebenswelt ist, dass er auf die Wirklichkeit, so wie sie uns in unserer »natürlichen Einstellung« erscheint, abzielt. Die Frage, ob die Wirklichkeit tatsächlich so ist, wie sie sich in unserer Lebenswelt darstellt, ist für die Analyse der Lebenswelt zweitrangig; diese Frage wird ausgeklammert, ist Gegenstand einer phänomenologischen Epoché. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: In früheren Zeiten galten Gewitter als Ausdruck des Zornes eines Gottes, der Blitze schleudert und seine Wut im Donnergrollen kundtut. Eine Analyse der Lebenswelt der in diesen Zeiten lebenden Menschen nimmt nun zur Kenntnis, dass diese Menschen in Gewittern die Gegenwart eines Gottes erfuhren; für sie war Gott im Gewitter wirklich und handlungsrelevant. Ob Gott im Gewitter nun tatsächlich wirklich war oder nicht, ist demgegenüber zweitrangig. Damit soll nicht bestritten werden, dass es von hoher Relevanz Husserl Studies 26 (2010), 49–66; ferner Ströker, Elisabeth (Hg.), Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie Edmund Husserls, Frankfurt am Main 1979. Zur frühen Geschichte des Begriffs »Lebenswelt« vgl. Bermes, Christian, Lebenswelt (1836–1936). Von der Mikroskopie des Lebens zur Inszenierung des Erlebens, in: Archiv für Begriffsgeschichte 44 (2002), 175–197. 4 Vgl. Husserl, Krisis, 153.

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Merkmale der Lebenswelt

ist, ob Gott nun tatsächlich im Gewitter ist oder nicht und ob die Menschen – wie dies im Laufe der Geschichte ja geschehen ist – nicht besser erkennen sollten, dass Gewitter natürliche und keine übernatürlichen Phänomene sind. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Menschen in früheren Zeiten daran glaubten, im Gewitter Gottes Zorn zu erfahren, und dass dies für ihr Leben bedeutsam war. Der Begriff der Lebenswelt basiert also auf der Einsicht, dass dasjenige, was wir für wahr und wirklich halten, für unser Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln und für unsere Lebensführung in der Regel entscheidender ist als das, was tatsächlich wahr und wirklich ist. 5 Schließlich können wir unsere Handlungsentscheidungen ausschließlich auf Basis unserer subjektiven Wahrnehmung der Wirklichkeit treffen. 6 Die Lebenswelt ist also die Welt, so wie sie mir in meiner natürlichen Einstellung erscheint, die Welt, in der ich mein wirkliches Leben führe, d. h. schlafe, aufwache, mich wasche, mich anziehe, frühstücke, mit dem Bus in die Arbeit fahre, mich mit Angehörigen, Freunden, Arbeitskolleginnen unterhalte, usw. Um mit Schütz und Luckmann zu sprechen: »Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet.« 7

Merkmale der Lebenswelt Die Lebenswelt ist, so lässt sich aus den Darstellungen der genannten Autoren herausarbeiten, durch sieben Merkmale charakterisierbar: (1) Selbstverständlichkeit, (2) Umfassendheit, (3) Fundamentalität, (4) Intersubjektivität, (5) Geordnetheit und Sinnhaftigkeit, (6) Zusammenhang und (7) erfahrene Objektivität.

In der Soziologie hat sich diese Einsicht in der Formulierung des sogenannten Thomas-Theorems niedergeschlagen: »If men define situations as real, they are real in their consequences.« Vgl. Thomas, William/Thomas, Dorothy, The Child in America: Behavior Problems and Programs, New York 1928, 571 f.; ferner Merton, Robert, The Thomas Theorem and the Matthew Effect, in: Social Forces 74/2 (1995), 379–424. 6 Abgesehen davon, dass dasjenige, was tatsächlich wahr und wirklich ist, ja wiederum nur etwas ist, was wir für wahr und wirklich halten. 7 Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt 1, 25. 5

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(1) Erstens ist die Lebenswelt die mir völlig selbstverständliche Welt; sie ist »fraglos« gegeben. »In der natürlichen Einstellung finde ich mich immer in einer Welt, die für mich fraglos und selbstverständlich ›wirklich‹ ist.« 8 Dies will nun gerade nicht bedeuten, dass mir alles, was mir in der Lebenswelt widerfährt, selbstverständlich ist – oft genug geschieht mir Unerklärliches, oft genug bin ich mit Sachverhalten konfrontiert, die mir überhaupt nicht selbstverständlich sind. Selbstverständlich ist mir aber die Art und Weise, wie ich sie in der Lebenswelt erfahre, wie ich also etwas als nicht-selbstverständlich wahrnehme. Mit anderen Worten: Die Lebenswelt und alles, was mir in ihr begegnet, ist mir deswegen selbstverständlich, weil mir die »natürliche Einstellung« selbstverständlich ist. (2) Zweitens ist die Lebenswelt die umfassendste meiner Erfahrungswelten: Von den anderen Erfahrungswelten, die mir gegebenenfalls offenstehen, wie etwa die Welt der wissenschaftlichen Theorie, die Welt der erzählten Fiktion in Literatur und Film, die Welt des Traums, die Welt des Spiels oder auch die Welt des Rausches, in die wir hin und wieder vor der Wirklichkeit der Lebenswelt flüchten, unterscheidet sich die Lebenswelt dadurch, dass man aus ihr nicht dauerhaft aussteigen kann. Jeder Ausflug in eine der anderen Erfahrungswelten führt unweigerlich irgendwann wieder in die Lebenswelt zurück: dann, wenn der Vorhang des Theaters fällt, der Film zu Ende ist, die Wirkung des Rauschmittels nachlässt, mich ein Telefonanruf aus meinen theoretischen Welten holt oder ich die Bürotür hinter mir schließe, um nach getaner Arbeit erschöpft nach Hause zu gehen. Meine Lebenswelt ist von daher die umfassendste Welt, in der die anderen Welten gleichsam als »Sinnprovinzen« ihren Ort haben. 9 Umfassend ist die Lebenswelt auch deswegen, weil sie in jedem Augenblick meines Erfahrens als der unthematische Horizont mitgegeben ist, vor dem meine Erfahrung stattfindet und der den Rahmen meiner Erfahrungen absteckt. Jede meiner Erfahrungen ist eingebettet in mein Wissen um die Lebenswelt, in der diese Erfahrung stattfindet. Selbst dann, wenn ich mich in einer Erfahrung »verliere«, in einem Augenblick »völlig aufgehe«, mich »vergesse«, ist diese Erfahrung von der Lebenswelt umwölbt. »Situationen wechseln, aber Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt 1, 25. Vgl. Berger/Luckmann, Konstruktion, 105; ferner Schütz, Alfred, Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971, 237–298.

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die Grenzen der Lebenswelt lassen sich nicht transzendieren. Die Lebenswelt bildet die Umgebung, in der sich Situationshorizonte verschieben, erweitern oder verengen. Sie bildet einen Kontext, der selber unbegrenzt, Grenzen zieht.« 10 Die Lebenswelt ist »[…] der unbefragte Boden aller Gegebenheiten sowie der fraglose Rahmen, in dem sich mir die Probleme stellen, die ich bewältigen muss.« 11 (3) Drittens ist die Lebenswelt die fundamentalste meiner Erfahrungswelten, weil sie sich nicht bzw. nur um den Preis meiner Lebenstauglichkeit ignorieren lässt. Die Wirklichkeit der Lebenswelt »installiert sich im Bewusstsein in der massivsten, aufdringlichsten, intensivsten Weise. In ihrer imperativen Gegenwärtigkeit ist sie unmöglich zu ignorieren, ja, auch nur abzuschwächen.« 12 Die Lebenswelt ist die Welt, in der Schmerz tatsächlich wehtut, wie das bekannte Verfahren, sich von der Wirklichkeit zu überzeugen, veranschaulicht: »Zwick mich, ich glaub’, ich träume.« Die Wirklichkeit der Lebenswelt bedarf keines Argumentes, um als wirklich anerkannt zu werden. Dies klingt etwa auch in Wittgensteins berühmtem Diktum mit, demzufolge kein noch so gefinkeltes Argument die Evidenz der lebensweltlichen Erfahrung in Zweifel ziehen kann: »Nur kein transzendentales Geschwätz, wenn alles so klar ist wie eine Watschen.« 13 Aus diesem Grund nehmen wir unsere Lebenswelt unhinterfragt als Wirklichkeit hin. Sie ist einfach da – als mit Gewissheit gegebene selbstverständliche, zwingende Faktizität, der man nicht dauerhaft ausweichen kann. 14 Wohl kann ich die Wirklichkeit, so wie sie mir in der Lebenswelt begegnet, jederzeit hinterfragen und z. B. darüber grübeln, ob diese von mir erfahrene Welt tatsächlich existiert oder nur ein Konstrukt meines solipsistischen Geistes ist. Aber in dem Moment, wo ich in der Lebenswelt agieren muss – etwa weil mich der Schaffner im Zug mit seiner Frage nach der Fahrkarte aus meinen philosophischen Überlegungen reißt –, kann ich nicht anders, als die Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2, 201. Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt 1, 26. 12 Berger/Luckmann, Konstruktion, 24. 13 Wittgenstein, Ludwig, Briefwechsel, hg. v. Brian McGuinness u. Georg Henrik von Wright, Frankfurt am Main 1980, 81 (Brief 87, Wittgenstein an Engelmann, 16. 1. 1918). Bekannter ist das Diktum in der Rückübersetzung aus dem Englischen: »Ersparen wir uns doch den transzendentalen Quatsch, wenn das Ganze so eindeutig ist wie ein Kinnhaken.« (»Only let’s cut out the transcendental twaddle when the whole thing is as plain as a sock on the jaw.«). 14 Vgl. Berger/Luckmann, Konstruktion, 26. 10 11

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von mir erfahrene Welt, inklusive des störenden Schaffners, als real an- bzw. hinzunehmen. Selbst während meiner weltfremden Grübeleien bleibt sie als Rahmen, in dem ich meine Grübeleien anstelle, im Hintergrund vorhanden. Die Lebenswelt kann – als Ganze – im Grunde gar nicht, wie Habermas betont, problematisch werden, sie kann lediglich (und ich mit ihr) zerbrechen. 15 (4) Viertens ist die Lebenswelt intersubjektiv. Ich erfahre sie nicht nur als eine fraglos gegebene, sondern vor allem als eine intersubjektiv geteilte. Meine Lebenswelt ist »unsere« Lebenswelt, ich erlebe in ihr andere Menschen, ich erlebe sie gemeinsam mit anderen Menschen und ich lebe in ihr mit anderen Menschen: »So ist meine Lebenswelt von Anfang an nicht meine Privatwelt, sondern intersubjektiv; die Grundstruktur ihrer Wirklichkeit ist uns gemeinsam.« 16 Husserl war – gemäß seines im bewusstseinstheoretischen Paradigma gefangenen Bemühens, die Phänomene auf das Erleben eines egologischen Bewusstseins zurückzuführen – noch der Ansicht, dass Intersubjektivität als Konstrukt des transzendentalen Subjekts begriffen werden müsse. Schütz zufolge gelingt es Husserl aber nicht, dadurch das Intersubjektivitätsproblem zu lösen und die Intersubjektivität alles Erkennens und Denkens tatsächlich transzendental vom Ego abzuleiten, wovon Schütz zunächst noch ausgegangen war. 17 Aus diesem Grund wendet sich Schütz später Max Scheler zu, der davon ausgeht, dass die Erfahrung der Gemeinschaft und des Wir jeder Erfahrung vom Ich vorausgeht und diese fundiert. 18 Von daher muss die Lebenswelt als eine ursprünglich intersubjektive gefasst werden. Selbstverständlich ist mir bewusst, dass die anderen die Welt aus Perspektiven wahrnehmen, die von meiner unterschieden sind. Gleichwohl haben wir eine grundlegend gemeinsame Auffassung von der Welt, und wir haben auch ein gemeinsames Wissen davon, dass wir in einer gemeinsamen Welt leben und im Großen und Ganzen die gleiche Auffassung von dieser Wirklichkeit haben. Dieses gemeinsame Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2, 198 ff. Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt 1, 26. 17 Vgl. Schütz, Sinnhafte Aufbau der Welt, 137 f. und 193 Anm. 2. 18 Vgl. Schütz, Sinnhafte Aufbau der Welt, 137 f.; Schütz, Alfred, Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl, Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, hg. v. Ilse Schütz, Den Haag 1971, 86–118; vgl. ferner Scheler, Max, Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Erkenntnis der Welt, Gesammelte Werke, Bd. 8, Die Wissensformen und die Gesellschaft, hg. v. Maria Scheler u. Manfred Frings, Bern/München 21960, 191–382, hier 374. 15 16

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Wissen um die Welt geht meinem eigenen Wissen um die Welt voraus, ist Ursprung meines eigenen Wissens und Erlebens der Welt. Diese Gemeinsamkeit der Lebenswelt ist daher in einem radikalen Sinne zu verstehen, wie Habermas betont: »[…] sie liegt jedem möglichen Dissens voraus, sie kann nicht wie ein intersubjektiv geteiltes Wissen kontrovers werden, sondern höchstens zerfallen.« 19 (5) Entscheidend für unser Thema ist nun, dass die Lebenswelt – dies ist das fünfte Charakteristikum – eine geordnete und sinnhafte ist; sie »[…] erscheint mir in zusammenhängenden Gliederungen wohlumschriebener Objekte mit bestimmten Eigenschaften«. 20 Die Welt, die ich erfahre, ist räumlich und zeitlich strukturiert, hat ein Oben und Unten, ein Links und ein Rechts sowie ein Jetzt, ein Vorher und ein Nachher. Die Sachverhalte in dieser Welt sind bestimmte Sachverhalte; sie sind Kategorien zugeordnet, sie tragen eine Bezeichnung, sie haben einen Sinn und Zweck und sie stehen in geordneten Beziehungen zueinander. Was wahr und was nicht wahr, was richtig und was falsch ist, ist größtenteils vordefiniert. Den Gegenstand etwa, den ich in die Hand nehme, nehme ich selbstverständlich als Hammer wahr, der dazu da ist, einen anderen Gegenstand, den ich selbstverständlich als Nagel wahrnehme, einzuschlagen. 21 Auch bin ich an einem bestimmten Datum in einem bestimmten Ort geboren und stehe in bestimmten Beziehungs- und Verwandschaftsstrukturen, die wiederum bestimmte Verpflichtungen – wie etwa die meiner Eltern mir gegenüber, oder meine Verpflichtungen meinen Kindern gegenüber – mit sich bringen, usw. (6) Die Sachverhalte, die mir in meiner Lebenswelt gegeben sind, erscheinen mir dabei sechstens nicht als etwas Isoliertes, sondern als miteinander zusammenhängend. Den Hammer erfahre ich nicht einfach als Hammer, sondern der Hammer verweist auf die Tätigkeit des Hämmerns, er verweist auf den Nagel, der damit eingeschlagen werden kann, er verweist auf die menschliche Hand, die den Hammer umschließen muss, er verweist auf den Werkzeugkasten, dem er entnommen werden muss usw. Nehme ich einen Baum auf einer Wiese Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2, 200. Vgl. dazu auch Searles Rede von der kollektiven Intentionalität, die er an dem Beispiel eines Orchesters veranschaulicht: »Wenn ich Geiger in einem Orchester bin, spiele ich meinen Part nur in unserer Aufführung der Symphonie.« Searle, John, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Berlin 2011, 33. 20 Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt 1, 26. 21 Zum Hammer vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 171993, 69 f. 19

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wahr, so weiß ich, dass er aus Holz ist, das das Feuer nähren oder das zu Brettern verarbeitet werden kann, der Baum verweist auf die Vögel, die in seinen Zweigen nisten, und die Früchte, von denen sich die Tiere des Waldes ernähren, er verweist auf den Wind, der in seinen Zweigen rauscht, und auf die im kommenden Herbst sich verfärbenden Blätter usw. All diese Dinge und Prozesse verweisen wieder auf weitere Dinge und Prozesse, die ihrerseits wieder auf Weiteres verweisen usw. Die Lebenswelt ist folglich ein umfassender Verweisungszusammenhang, sie ist der »Gesamtzusammenhang der Lebenssphäre«, 22 dessen einzelne Elemente auf vielfältige Weise miteinander zusammenhängen; in jedem einzelnen Element ist so stets das Ganze der Lebenswelt als unthematischer Horizont mitgegeben. Dieses Ganze ist dabei […] nicht zu verstehen als ein in seiner Gesamtheit durchsichtiger Zusammenhang, sondern vielmehr als eine Totalität der von Situation zu Situation wechselnden Selbstverständlichkeiten, jeweils abgehoben von einem Hintergrund der Unbestimmtheit. Diese Totalität ist nicht als solche erfaßbar, ist aber, als ein sicherer, vertrauter Boden jeglicher situationsbedingten Auslegung erlebt, im Erfahrungsablauf mitgegeben. 23

Meine Lebenswelt ist folglich ein umfassendes, sinnhaftes Ganzes, das ich freilich als Ganzes nie in den Blick bekommen kann. Sie bildet den Horizont, vor dessen Hintergrund ich die Sachverhalte als etwas Bestimmtes, Sinnhaltiges erfahre. (7) Als was ich die Sachverhalte erfahre, liegt dabei nicht in meiner Hand, im Gegenteil, ich erlebe die lebensweltliche Wirklichkeit in ihrer Sinnhaftigkeit und Geordnetheit als eine objektiv gegebene und intersubjektiv geteilte. Dies ist das siebte Charakteristikum der Lebenswelt: Ich erfahre die Wirklichkeit der Alltagswelt als eine Wirklichkeitsordnung. Ihre Phänomene sind vor-arrangiert nach Mustern, die unabhängig davon zu sein scheinen, wie ich sie erfahre, und die sich gewissermaßen über meine Erfahrung von ihnen legen. Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint bereits objektiviert, das heißt konstituiert durch eine Anordnung der Objekte, die schon zu Objekten deklariert worden waren, längst bevor ich auf der Bühne erschien. 24

22 23 24

Vgl. Schütz, Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, 284. Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, 31. Berger/Luckmann, Konstruktion, 24.

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Der Hammer, der Nagel, mein Geburtstag und mein Geburtsort, meine Verwandtschaft und die Verpflichtungen, die aus ihnen erfolgen: all dies sind Sachverhalte, die objektiv gegeben zu sein scheinen. Diese Welt, so jedenfalls erfahre ich sie, war bereits da, noch bevor ich da war, und sie wird auch noch da sein, wenn es mich nicht mehr gibt. Eingeführt wurde ich in diese Welt durch die Menschen, die mich erziehen, indem sie mir sagen: »Das ist ein Ball«. »Das ist dein Onkel Fritz, und dies die Tante Jolesch.« »Sag schön ›Guten Tag‹ und ›Danke‹« usw. Auf die Nachfrage, warum dies so sei, heißt es dann oft: »Weil es so ist« oder »Weil man dies so macht.« Freilich kann ich später zu der Auffassung kommen, dass manche Dinge und Prozesse nicht so objektiv gegeben und unhinterfragbar gültig sind, wie mir dies zunächst noch erschien. So könnte ich etwa zu der Auffassung kommen, dass die meisten Benimmregeln, die mir von meinen Eltern anerzogen wurden, nichts anderes sind als der Ausdruck ihres spießigen Ideals einer bürgerlichen Existenz, das ich mittlerweile zutiefst ablehne und an die ich mich daher nicht mehr zu halten bereit bin. Problematisch können allerdings nur begrenzte Ausschnitte der Lebenswelt werden, nicht – wie bereits gesagt – die Lebenswelt als solche, setzt doch jede Problematisierung einen nicht-problematisierten Horizont des Selbstverständlichen voraus. Der überwiegende Großteil meiner Lebenswelt wird daher immer seine unhinterfragte Gültigkeit behalten, schon allein deswegen, weil er mir bei der Bewältigung meines alltäglichen Lebens gar nicht in den Blick kommen kann.

Das lebensweltliche Sinn- und Überzeugungssystem Die Lebenswelt stellt sich mir also insgesamt als ein objektiv gegebenes, geordnetes, unhintergehbares System von miteinander in Verbindung stehenden sinnhaltigen Elementen dar. Nun ist aber der Sinn, den die Sachen und Prozesse haben, nichts, das diese Sachen und Prozesse als solche an sich haben, und die Ordnung, in der uns die Welt erscheint, ist keine, die der Welt als solcher eigen ist. Es handelt sich dabei vielmehr um Deutungen, die wir den Dingen und Prozessen kollektiv zuschreiben und die sich in gemeinsamen Überzeugungen festschreiben. Wir nehmen die Welt folglich durch ein System von Sinnzusammenhängen wahr, das sich wie eine Folie über die Wirklichkeit legt und uns auf diese Weise die Wirklichkeit erst zugänglich macht, indem sie sie in ein geordnetes, sinnhaltiges Gan131 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Lebenswelt

zes aufschlüsselt. Zu dieser Einsicht muss man aufgrund der Tatsache kommen, dass Menschen in sehr unterschiedlichen Lebenswelten leben und sehr unterschiedliche Dinge für wirklich halten: Die lebensweltliche Wirklichkeit eines mittelalterlichen europäischen Christen, der an die leibhaftige Gegenwart Gottes und des Teufels in der Welt glaubt, für den die Welt flach ist und die Sonne um die Erde kreist, ist ziemlich anders als die eines aufgeklärten Europäers der Gegenwart, und diese Welt ist wieder völlig anders als die eines gläubigen indischen Hindus, für den die Kuh heilig und der Himmel voller Götter ist. Früher deutete man Gewitter als Ausdruck des Zorns Gottes, heute als natürliche meteorologische Erscheinungen; bis ins 19. Jahrhundert galt das Blut – mit Goethes Mephistopheles gesprochen – noch als »ganz besonderer Saft«, dem für das Leben eine essentielle Bedeutung zugesprochen wurde, 25 heute hingegen sind es die Gene, denen wir eine zentrale Rolle im Leben zusprechen. Das, was man für wirklich hält, hängt von der Gesellschaft und der Kultur ab, in der man lebt. Durch ihre Kultur stellt eine Gesellschaft ihren Mitgliedern einen etablierten Vorrat an Deutungen, d. h. ein Sinnsystem zur Verfügung, das die Wirklichkeit zu der geordneten und sinnhaften Lebenswelt werden lässt, die die Gesellschaftsangehörigen als unhinterfragte Wirklichkeit annehmen und in deren Selbstverständlichkeit sie ihr Leben führen. Einem relativistischen Interpretationismus, wie ihn etwa Nietzsche vertritt, ist damit nicht das Wort gesprochen. Denn es mag durchaus sein, dass unsere heutigen wissenschaftsbasierten Überzeugungen wenigstens zum Teil richtiger, angemessener, ja wahrer sind, und sich die Welt durchaus um die Sonne dreht, der Mensch wirklich vom Affen abstammt und Gewitter tatsächlich nur natürliche meteorologische Phänomene sind. Es mag sein, dass wir den Sachverhalten den Sinn, den sie für uns haben, zu Recht zuschreiben. Dies ändert aber nichts daran, dass es sich dabei eben doch um Deutungen hanAus diesem Grund sorgte auch die zu dieser Zeit aufkommende Bluttransfusion für eine bioethische Diskussion avant la lettre. Dies hing mit den damals noch verbreiteten, tief im Volksglauben verankerten Vorstellungen der Säftelehre und der blutgebundenen Übertragung von individuellen, wesensverändernden Eigenschaften zusammen. Im Jahre 1492 soll dem sterbenden Papst Innozenz VIII. in der Hoffnung, dadurch seine Verjüngung zu erzielen, das Blut von drei Knaben verabreicht worden sein. Die Kinder überlebten das Experiment nicht, auch beim Papst stellte sich keine Verbesserung ein. Vgl. Ryser, Peter, Blut und Bluttransfusion. Medizingeschichtliche Randnotizen, in: Schweizerische Ärztezeitung 81 51/52 (2000), 2928–2932.

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Das lebensweltliche Sinn- und Überzeugungssystem

delt, die nicht den Sachverhalten selbst eigen sind, sondern die wir den Sachverhalten zuschreiben. Die Frage, ob diese Deutungen angemessen sind, ob wir sie den Dingen zu Recht zuschreiben, soll hier, wie oben angekündigt, ausgeklammert werden. Geht man die Frage nach der Richtigkeit bzw. Wahrheit unserer Deutungen zu früh an, dann besteht die Gefahr, dass man den Deutungscharakter – oder, wie dies hier genannt werden soll – den doxastischen Charakter unseres Weltzuganges außer Augen verliert. Entscheidend für die Lebenswelt ist nämlich – wie bereits gesagt – weniger, ob eine Deutung tatsächlich richtig ist, als vielmehr, ob sie für richtig, wahr oder wirklich gehalten wird. Wenn nun die Deutungen nicht den Dingen und Prozessen selbst anhaften, sondern etwas sind, das von uns in die Wirklichkeit hineingelegt wird, dann stellt sich die naheliegende Frage, wo und wie dieses System von Deutungen bzw. Sinnzusammenhängen gegeben ist. Nicht nur die auf Humboldt zurückgehende Tradition, sondern die Philosophie insgesamt ist seit dem linguistic turn der Ansicht, dass dieses System von Sinnzusammenhängen auf sehr grundlegende Weise zunächst einmal in und mit der Sprache gegeben ist. 26 Denn erstens ist Sprache das vorrangige Medium, in dem Sinn aufbewahrt ist und mit dem Sinn und Ordnung gestiftet wird: Indem wir eine Sache mit einem Begriff bezeichnen, ordnen wir dieser Sache eine Bedeutung zu und schreiben sie damit gleichsam in die sprachlich vorgegebene Ordnung von Sinn ein. Zweitens ist Sprache ursprünglich und fundamental intersubjektiv; es gibt, wie Wittgenstein gezeigt hat, keine Privatsprache. 27 In der Sprache als Ort der Intersubjektivität schlechthin ist mithin die Gemeinsamkeit der Lebenswelt garantiert. Drittens ist Sprache etwas, das von vielen geteilt und befolgt wird und das daher von den einzelnen Sprecherinnen und Sprechern relativ unabhängig ist. Auf diese Weise erzeugt sie Objektivität. Sie stellt einen für alle verbindlichen und verständlichen Rahmen zur Verfügung, in der sich das subjektive Sinnerleben einfügen und so für jedermann – auch für sich selbst – zugänglich machen lässt. VierVgl. Berger/Luckmann, Konstruktion, 36 ff.; Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2, 190. 27 Vgl. Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, Schriften Bd. 1, Frankfurt am Main 1969, 390 ff. (§§ 244–271); vgl. dazu Candlish, Stewart/Wrisley, George, Private Language, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2014 Edition), hg. v. Edward Zalta, Quelle: http://plato.stanford.edu/archives/fall2014/ entries/private-language/ [11. 12. 2015]. 26

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tens dient Sprache als ein Speicher von Sinn: in den Begriffen, Sprichwörtern, Maximen, Erzählungen usw. sind die Erfahrungen vieler Generationen sedimentiert und bereit gehalten für die Weitergabe an die folgenden Generationen. Fünftens ermöglicht es die Sprache, die Gegenwart des hier und jetzt Wahrgenommenen zu transzendieren und räumlich wie zeitlich nicht Präsentes präsent zu machen: Sie ermöglicht, von vergangenen und zukünftigen wie auch von räumlich sehr fernen Dingen zu sprechen. Dadurch stiftet sie einen übergeordneten Zusammenhang. Sechstens schließlich macht es die Sprache möglich, die Lebenswelt selbst zu transzendieren, indem sie andere Erfahrungswelten – etwa die der Phantasie, des Traumes usw. – greifbar macht. Indem sie aber alle Erfahrungswelten umgreift, stiftet sie einen umfassenden Gesamtzusammenhang: das Ganze der Lebenswelt. Sprache allein genügt allerdings nicht, um schon eine wirklichkeitsgesättigte Lebenswelt zu konstituieren. Sie bildet höchstens ein fundamentales Rahmengerüst – oder, wie Humboldt meinte, eine grundsätzliche Weltansicht –, das bzw. die allerdings noch mit diversen Inhalten gefüllt werden muss. Schließlich erlaubt eine Sprache, alle möglichen Aussagen – unter ihnen auch gegenteilige, falsche, sinnlose und unmögliche – zu formulieren. Für fraglos wahr halten wir allerdings nur einen Bruchteil der möglichen Aussagen. Von den Aussagen »Die Welt ist flach.« und »Die Welt ist rund.« oder »Schwere Dinge fallen auf den Boden.« und »Schwere Dinge fallen nicht auf den Boden.« halten wir beispielsweise nur jeweils eine für richtig. Aus diesem Grunde ist das Sinnsystem der Lebenswelt nicht nur in der Sprache, sondern zusätzlich in einem kollektiv geteilten System von Überzeugungen gegeben: in einem System von Deutungen, Annahmen, Vorstellungen usw., die als wahr und richtig gelten. 28 Die Sprache ist dabei die Form und das Medium, in denen diese In der Literatur ist in diesem Zusammenhang häufig von einem System von Deutungen oder von Deutungsmustern die Rede. In diesen Begriffen kommt allerdings nicht zum Ausdruck, dass diese kollektiven Deutungen eben nicht als Deutungen, sondern zumeist als die Wirklichkeit selbst erfahren werden. Zudem erweckt der Begriff der Deutung den Eindruck, als läge die Deutung in der Hand der Deutenden. Gerade dies ist aber nicht der Fall: die lebensweltliche Wirklichkeit wird ja – obwohl sie freilich eine gedeutete ist – als objektiv, notwendig und unausweichlich erfahren. Diese Aspekte der wahrgenommenen Objektivität und Wahrheit werden eher vom Begriff des »Wissens«, so wie ihn die Wissenssoziologie verwendet, transportiert. Der Begriff des Wissens hat aber in philosophischen Kontexten den Nachteil, dass er gemäß der klassischen platonischen Wissensdefinition (Wissen ist eine gerechtfertig-

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Überzeugungen in erster Linie aufbewahrt sind. Und ebenso wie die Sprache selbst ist dieses Überzeugungssystem etwas, das von vielen geteilt und daher von den einzelnen Individuen relativ unabhängig ist. Das Überzeugungssystem bildet einen objektiv gegebenen Vorrat oder Schatz, den eine Gesellschaft ihren Mitgliedern zur Verfügung stellt. Einen Teil davon hat der Einzelne internalisiert, wenn er andere Teile benötigt, kann er sich einfach an dem allgemeinen Schatz bedienen. So sind mir z. B. die großen Züge meiner Lebenswelt vertraut, wenn ich mich aber einem Ausschnitt aus meiner Lebenswelt zuwende, der mir nicht vertraut ist, so kann ich mich mit ihm vertraut machen, indem ich auf das allgemeine »Wissen« zurückgreife, das man über diesen Ausschnitt hat, etwa indem ich mich in einem Lexikon informiere oder eine anerkannte Expertin konsultiere. Für die gesamte Welt steht solches »Wissen« zur Verfügung – und sei es im Extremfall nur, dass man über einen bestimmten Ausschnitt eben nichts weiß. Es ist nun freilich verkürzt, allein die Sprache als den Ort, in dem der kollektiv geteilte Schatz an Überzeugungen gegeben ist, anzusehen, ist doch – wie insbesondere Wittgensteins Analysen gezeigt haben – die Sprache selbst verwoben in die vielfältigen auch nichtsprachlichen Praktiken einer kulturellen Lebensform. Deutlich wird dies an der Sprache selbst: Wir alle haben als Kinder unsere Muttersprache nicht dadurch gelernt, dass man uns zunächst die Regeln der Grammatik beigebracht hat, sondern wir haben sie durch Nachahmung, Übung und spielerisches Ausprobieren gelernt und uns dabei unbewusst die Regeln des richtigen Sprachgebrauchs angeeignet. D. h. das Lernen der Sprache und die Aneignung ihrer Regeln war selbst ein nichtsprachlicher Vorgang, der weitgehend unbewusst vor sich ging. Dasselbe gilt nicht nur für die Sprache, sondern für eine ganze Reihe an Kompetenzen, die man uns in unserer Gesellschaft

te wahre Überzeugung) die Wahrheit der gewussten Inhalte impliziert. Nun ist aber eben die Frage der Wahrheit eine, die bei der phänomenologischen Analyse der Lebenswelt bewusst ausgeblendet wird. Entscheidend ist, ob die Deutungen für wahr gehalten werden, nicht, ob sie tatsächlich wahr sind. Aus diesem Grund wird hier vorrangig auf den Begriff der Überzeugung zurückgegriffen, weil er genau dies ausdrückt: Wenn ich von etwas überzeugt bin, halte ich es für wahr und richtig, unabhängig davon, ob es tatsächlich wahr und richtig ist. Im Begriff der Überzeugung ist also das Moment der subjektiven Gewissheit, das im Erleben der Lebenswelt gegeben ist, enthalten.

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Lebenswelt

zu lehren versucht, wie etwa die Fähigkeit, abstrakt zu denken, soziale Kompetenzen, bestimmte Umgangsformen, usw. Das Sinnsystem, das uns die Welt aufschlüsselt, ist folglich nicht nur in der Sprache und in sprachlichen Überzeugungen, sondern auch in nicht-sprachlichen Wissensformen gegeben. Diese bestehen zum einen, wie Alfred Schütz betont, aus stillschweigenden Annahmen, die so selbstverständlich sind, dass sie uns gar nicht bewusst sind und wir gar nicht darüber reden. Sie sind in unseren alltäglichen Handlungsmustern und Praktiken mitgegeben. Zu solchen Überzeugungen zählen etwa, wie Schütz und Luckmann für den Bereich der Intersubjektivität anführen: […] a) die körperliche Existenz von anderen Menschen; b) daß diese Körper mit einem Bewußtsein ausgestattet sind, das dem meinen prinzipiell ähnlich ist; c) daß die Außenweltdinge in meiner Umwelt und der meiner Mitmenschen für uns die gleichen sind und grundsätzlich die gleiche Bedeutung haben; d) daß ich mit meinen Mitmenschen in Wechselbeziehung und Wechselwirkung treten kann; e) daß ich mich – dies folgt aus den vorangegangenen Annahmen – mit ihnen verständigen kann; f) daß eine gegliederte Sozial- und Kulturwelt als Bezugsrahmen für mich und meinen Mitmenschen historisch vorgegeben ist, und zwar in einer ebenso fraglosen Weise wie die ›Naturwelt‹ ; g) daß also die Situation, in der ich mich jeweils befinde, nur zu einem geringen Teil eine rein von mir geschaffene ist. 29

Zum anderen ist das Wissen gegeben als verkörpertes Wissen, das sich nur schwer versprachlichen lässt, das in etablierte soziale Praktiken eingewoben ist und das durch Vorbildwirkung und Nachahmung weitergegeben wird. So ist etwa das Wissen darum, wie man mit Besteck isst, wie man mit dem Fahrrad fährt oder wie man gewaltlos mit Konflikten umgeht, zum großen Teil ein solches Wissen. In der Literatur wurde dieses verkörperte Wissen bzw. bestimmte Aspekte desselben mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet: Marcel Mauss sprach beispielsweise von Körpertechniken, Schütz von Fertigkeiten und Routinen, die Ethnomethodologie von skills, Gilbert Ryle von knowing how, Michael Polanyi von tacit knowledge, Foucault von Disziplinen und Bourdieu vom Habitus. 30

Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt 1, 27. Vgl. dazu Hirschauer, Stefan, Körper macht Wissen – Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs, in: Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, 2, Frankfurt/New York 2008, 974–984, hier 977.

29 30

136 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Das lebensweltliche Sinn- und Überzeugungssystem

Das die Lebenswelt konstituierende Sinnsystem liegt also in einem dicht geknüpften Netz propositionalen wie nicht-propositionalen Wissens vor, das zutiefst mit den Institutionen, Praktiken, Gewohnheiten und Fähigkeiten, kurz: der Lebensform einer Gesellschaft verwoben ist. Habermas sieht insgesamt drei eng miteinander verzahnte strukturelle Komponenten der Lebenswelt, in denen das Sinnsystem der Lebenswelt aufbewahrt ist und durch die die Lebenswelt von Generation zu Generation weitergegeben wird: Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit. Alle drei Komponenten kombinieren dabei sprachliche und nicht-sprachliche Formen der Sinnaufbewahrung. Kultur nenne ich den Wissensvorrat, aus dem sich die Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in einer Welt verständigen, mit Interpretationen versorgen. Gesellschaft nenne ich die legitimen Ordnungen, über die die Kommunikationsteilnehmer ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern. Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Subjekt sprach- und handlungsfähig machen, also instandsetzen, an Verständigungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten. 31

Das Sinnsystem der Lebenswelt ist folglich nicht nur gegeben in der Sprache und dem sprachlich strukturierten System von Überzeugungen (Wissen), sondern auch in den gesellschaftlich etablierten Ordnungen und Praktiken mit ihren nicht nur sprachlichen, sondern oft nur gefühlten Verhaltensvorschriften und Gewohnheiten, und in unter anderem durch Vorbildwirkung und Nachahmung angeeigneten Verhaltensmustern und Handlungsfähigkeiten. Auf welche Weise und in welcher Form das die Lebenswelt konstituierende Sinnsystem aufbewahrt und weitergegeben wird, muss hier im Einzelnen nicht weiter interessieren. Einige Aspekte werden später in einem etwas spezifischeren Zusammenhang noch genauer besprochen werden. Für den Augenblick ist wichtig, dass das Sinnsystem unter anderem in einem kollektiv geteilten System von Überzeugungen gegeben ist. Aus diesem Grund wird das die Lebenswelt Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2, 209. Habermas selbst beschreibt das Ineinandergreifen der strukturellen Komponenten Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit und bestätigt damit, dass in allen drei Komponenten sprachlich gefasste Überzeugungen (»Wissen«) eine entscheidende Rolle spielen. Der Vorwurf, den er gegenüber Berger und Luckmann äußert, dass diese nämlich ein kulturalistisch verkürztes Lebensweltkonzept vertreten, weil sie die Lebenswelt vom kollektiv geteilten Wissen her zu erfassen versuchen, greift daher selbst zu kurz.

31

137 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Lebenswelt

konstituierende Sinnsystem in der Folge auch als Sinn- und Überzeugungssystem bezeichnet werden.

Die Pluralität der Lebenswelt Das Bisherige lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Lebenswelt ist die Welt, wie sie mir in meiner natürlichen Einstellung begegnet: eine objektiv gegebene, mit anderen gemeinsam geteilte, geordnete und sinnhafte Welt. Erschlossen ist mir diese Welt durch ein kollektiv geteiltes, vorrangig sprachlich gegebenes Sinnsystem, das insbesondere auch ein System von Überzeugungen einschließt. Dieses System war vor mir da, ich wachse in es hinein, ich werde durch es sozialisiert und es bestimmt meine Wahrnehmung der Welt auf fundamentale Art und Weise: Meine bzw. unsere Lebenswelt ist eine von diesem allgemeinen Überzeugungssystem konstituierte. Die Überzeugungen dieses Systems sind dabei sowohl explizit, gegeben als sprachlich artikulierter Bestand gesellschaftlichen »Wissens«, als auch implizit, gegeben in gesellschaftlichen Praktiken, Institutionen und sozial vermittelten Kompetenzen. Die Rede von der Lebenswelt bzw. dem Sinn- und Überzeugungssystem einer Gesellschaft kann nun aber aus zwei Gründen problematisch erscheinen: Erstens ist es, wie Schütz selbst ausführt, unmöglich, dass alle Gesellschaftsmitglieder über denselben Wissensbestand verfügen; 32 das eine Sinn- und Überzeugungssystem kann es daher streng genommen nicht geben. Das gesellschaftliche Wissen ist dabei nicht nur ungleichmäßig verteilt, d. h. manche Gesellschaftsmitglieder wissen faktisch anderes als andere Gesellschaftsmitglieder, auch wenn das Wissen grundsätzlich für jeden zugänglich ist, sondern das Allgemeinwissen liegt auch noch in voneinander abweichenden Varianten vor. Dies lässt sich am Beispiel der Sprache veranschaulichen: 33 Obwohl wir in unserer Gesellschaft alle eine Sprache, nämlich Deutsch sprechen, sprechen wir es doch in zum Teil sehr unterschiedlicher Art und Weise, wovon sich jeder, der einmal offenen Ohres von Wien über Salzburg, München, Nürnberg, Leipzig usw. nach Berlin fährt, leicht selbst überzeugen kann. Hier liegt das Allgemeinwissen – die deutsche Sprache – in Form von »sozial 32 33

Vgl. Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt I, 363 ff. Vgl. ebda, 373.

138 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Die Pluralität der Lebenswelt

differenzierten Versionen« – den in verschiedensten Dia-, Sozio- und Regiolekten gegebenen Varietäten des Deutschen – vor. Trotz aller Unterschiede handelt es sich dabei aber doch im Kern um die gleiche Sprache, d. h. um das gleiche Allgemeinwissen. Zweitens kann die Rede von dem einen Sinn- und Überzeugungssystem deswegen problematisch erscheinen, weil – zumal in einer so stark strukturell differenzierten und kulturell heterogenen, pluralistischen Gesellschaft wie der unsrigen – die unterschiedlichen Individuen oder Gruppen, die einer Gesellschaft angehören, zum Teil sehr unterschiedliche Dinge für wahr und richtig halten. So glauben etwa die einen, dass Gott existiert, während die anderen dies verneinen, die einen glauben, dass der Mensch vom Affen abstammt, die anderen, dass er auf eine direkte Schöpfungstat Gottes zurückgeht, die einen glauben, dass Abtreibung moralisch legitim, die anderen, dass sie moralisch illegitim ist usw. Im Vergleich zu kulturell homogeneren Gesellschaften – zu denen in der Vergangenheit auch unsere eigenen zählten – scheint es so, als wäre der allgemeine, kollektiv geteilte Bestand unhinterfragt gültiger Überzeugungen in manchen Bereichen stark eingeschränkt. Von der Einschränkung betroffen sind insbesondere religiöse, ästhetische, weltanschauliche und moralische Überzeugungen. Nun tritt an die Stelle dieser divergenten Überzeugungen im allgemeinen Sinnsystem aber nicht einfach ein ideelles Vakuum, sondern die divergenten Überzeugungen werden durch kollektiv geteilte Meta-Überzeugungen über Überzeugungen, also Überzeugungen zweiter Stufe, ersetzt: die Überzeugungen, dass es in Bezug auf bestimmte Überzeugungen eben nur abweichende Überzeugungen und keinen gesellschaftlichen Konsens gibt. So wissen wir heute, dass die Frage, ob Gott existiert, strittig ist; wir wissen, dass manche an Gott glauben, während es andere nicht tun. Wir sind heute – nach vielen Religionskriegen – der Überzeugung, dass die Frage nach Gott eine Frage des höchstpersönlichen Glaubens ist. Ebenso wissen wir, dass die Frage nach der Abstammung des Menschen immer noch strittig ist und manche den Erkenntnissen der Naturwissenschaft keinen Glauben schenken. Wir wissen, dass es unterschiedliche Ansichten zur Frage der moralischen Zulässigkeit der Abtreibung gibt, auch dann, wenn wir unsere eigene Antwort als die einzig richtige ansehen. Insgesamt bedeutet dies, dass wir heute in dem allgemeinen Wissen leben, dass manche Aspekte unseres Weltverständnisses strittig sind und dass unsere Mitmenschen unterschiedliche Perspektiven auf die Welt haben. 139 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Lebenswelt

Das Wissen darum, dass meine Mitmenschen andere Perspektiven auf die Welt haben, dass sie manche Dinge anders erfahren und beurteilen, und das Wissen darum, welche Aspekte Gegenstand solcher Differenzen sind, ist mithin in das allgemeine Überzeugungssystem eingeschrieben. »Ich weiß selbstverständlich auch, daß die anderen diese gemeinsame Welt aus Perspektiven betrachten, die mit der meinen nicht identisch sind. Mein ›Hier‹ ist ihr ›Dort‹. Mein ›Jetzt‹ deckt sich nicht ganz mit dem ihren.« 34 Jeder in unserer Gesellschaft weiß, dass die Frage der Abtreibung strittig ist, jeder weiß, dass die Frage, ob Gott existiert, eine Frage des persönlichen Glaubens ist usw. Dies bedeutet, dass ein Teil des allgemeinen Bestandes an Überzeugungen als Differenzwissen bezeichnet werden kann: dies beinhaltet sowohl das Wissen um die Bereiche, in denen Differenzen auftreten, als auch das Wissen um die Praktiken und die Kompetenz, mit diesen Differenzen umzugehen. Wenn nun das Wissen darum, dass manche Aspekte meiner Weltauffassung Aspekte sind, die meine persönliche Meinung sind und hinsichtlich derer meine Mitmenschen anderer Meinung sein können und sind, zum allgemeinen lebensweltlichen Überzeugungsvorrat zählt, dann sollte die Pluralität der Weltanschauungen und Wirklichkeitsauffassungen in einer Gesellschaft nicht den Blick dafür trüben, dass es jenseits dieser Pluralität durchaus einen nicht unbeträchtlichen Bestand an gemeinsam geteilten Überzeugungen gibt. Dies ist insbesondere deswegen von Bedeutung, da es dieser gemeinsame Bestand an Differenzwissen (dies bedeutet, das Wissen um die Pluralität der Auffassungen und die Kompetenz, damit umzugehen) ist, der Pluralität in einer Gesellschaft möglich macht. Ist dieses Wissen nicht gegeben, führt Pluralität zur Zersplitterung der Lebenswelt; eine Gesellschaft zerfällt dann in Parallelgesellschaften, zwischen denen kaum noch Verständigung möglich ist. Wir leben folglich, so kann man diesen letzten Punkt zusammenfassen, in einer gewissermaßen geschichteten Lebenswelt: Sie konstituiert sich aus einem Bestand von Überzeugungen über die Wirklichkeit, die jedes Mitglied mit allen anderen Mitgliedern seiner Gesellschaft – wenn auch in unterschiedlichen subjektiven Varianten – teilt. Zu diesem gemeinsamen Bestand an Überzeugungen zählen insbesondere auch Überzeugungen über die perspektivische Differenz zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft. Dieser gemeinsame Be34

Berger/Luckmann, Konstruktion, 26.

140 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Die Pluralität der Lebenswelt

stand an Sinnelementen und Überzeugungen sei in der Folge als allgemeines Sinn- und Überzeugungssystem oder als Sinn- und Überzeugungshorizont bezeichnet. Davon zu unterscheiden sind die gruppenspezifischen und individuellen Varianten dieses allgemeinen Sinn- und Überzeugungshorizonts. Sie seien als gruppenspezifische und individuelle Sinn- und Überzeugungssysteme bezeichnet. Sie bilden die zweite und dritte Schicht der Lebenswelt. Die Lebenswelt jedes Individuums konstituiert sich folglich (a) aus den Sinnelementen und Überzeugungen, die es mit allen oder zumindest der Mehrheit der anderen Mitgliedern seiner Gesellschaft teilt, (b) aus den Sinnelementen und Überzeugungen, die es mit den verschiedenen Gruppen, denen es angehört – einer Religionsgemeinschaft, einer politischen Partei, einer Dorfgemeinschaft usw. – teilt, und (c) aus höchstpersönlichen Sinnelementen und Überzeugungen, die es allein besitzt und mit niemanden anderen teilt. Von diesen drei Schichten ist die erste die wichtigste. Es ist der gemeinsame Sinn- und Überzeugungshorizont, der die Gemeinsamkeit der Lebenswelt herstellt und der damit sicherstellt, dass mir die Welt, in der der andere lebt, in ihren Grundzügen nachvollziehbar ist. Dies wirft die Frage nach den Grenzen der Lebenswelt auf: Wie dicht muss der gemeinsam geteilte Sinn- und Überzeugungshorizont sein, damit man noch von einer gemeinsamen Lebenswelt sprechen kann? Lebe ich mit meinem indischen Geschäftspartner, den ich zweimal im Jahr treffe, in einer gemeinsamen Lebenswelt, nur weil wir, bei aller Verschiedenheit unserer Überzeugungen, doch auch eine Reihe an gemeinsamen Überzeugungen haben wie etwa diejenigen, dass die Welt rund ist, dass auch morgen noch die Sonne aufgehen wird, dass es richtig ist, zu arbeiten, um seinen Unterhalt zu verdienen usw.? In diesem Fall würde man trotz einiger gemeinsamer Überzeugungen kaum von einer gemeinsamen Lebenswelt sprechen wollen. Von einer gemeinsamen Lebenswelt würde man aber sicherlich in einer Familie ausgehen. Aber teile ich mit meiner pubertierenden Tochter, die bei mir zu Hause wohnt und die ich jeden Tag sehe, tatsächlich eine gemeinsame Lebenswelt, auch dann, wenn mir ihre Lebensführung nicht zugänglich, mir die Orte, an denen sie sich meistens aufhält und mir die Dinge, die für sie wichtig sind, wie die Musik, die sie hört, die Zeitschriften, die sie liest, ja selbst die Sprache, die sie spricht, fremd, ja teilweise vielleicht sogar völlig unbekannt sind? Wie fremd muss mir meine Tochter werden, damit ich keine gemeinsame Lebenswelt mehr mit ihr teile? 141 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Lebenswelt

Es besteht wenig Hoffnung darauf, diese Frage klar beantworten zu können: Die Grenzen der Lebenswelt sind unscharf. Von einer gemeinsamen Lebenswelt wird man aber dort sprechen können, wo der gemeinsame Sinn- und Überzeugungshorizont so dicht ist, dass er ein grundsätzliches gemeinsames – und selbstverständliches – Verständnis des alltäglichen Lebens garantiert und er eine grundsätzliche Vertrautheit mit dem jeweiligen Alltag der anderen herstellen kann. Die alltägliche Welt meines indischen Geschäftspartners, der Hindu und kurz davor ist, eine arrangierte Ehe einzugehen, ist mir subjektiv nicht nachvollziehbar; seine Welt bleibt mir dort, wo sie für ihn am wichtigsten und am realsten ist – in ihrem Alltag – unzugänglich. Die Gedankenwelt meiner Tochter mag mir verschlossen sein, ihr Verhalten mag mir seltsam vorkommen, doch in ihrer Grundstruktur ist mir die alltägliche Lebenswelt meiner Tochter vertraut; wir teilen eine gemeinsame Welt, die uns so selbstverständlich ist, dass sie uns gar nicht in den Blick zu kommen vermag.

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Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

Unsere Ausführungen über die Lebenswelt lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Lebenswelt ist die Welt, in der wir unser wirkliches Leben führen. Diese Welt erscheint uns als eine, in der wir gemeinsam mit unseren Mitmenschen leben und die wir mit unseren Mitmenschen teilen, sie erscheint uns als geordnet und sinnhaft und in ihrer Ordnung und Sinnhaftigkeit als objektiv gegeben. Dass dem so ist, dafür sorgt ein kollektiv geteiltes, vorrangig sprachlich strukturiertes Sinn- und Überzeugungssystem, das uns die Wirklichkeit in die objektiv gegebene, geordnete und sinnhafte Lebenswelt aufschlüsselt, als die wir die Wirklichkeit erleben. Ein Teil dieses allgemeinen Sinn- und Überzeugungssystems bezieht sich nun direkt auf den Menschen: Das System enthält eine Vielzahl an Überzeugungen über den Menschen, von denen freilich viele Trivialitäten darstellen. So wissen wir etwa alle, dass Menschen im Allgemeinen Schmerz empfinden, Nahrung brauchen, Schlaf benötigen usw. Darüber hinaus kann es aber auch sein, dass das allgemeine Sinn- und Überzeugungssystem Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen beinhaltet, wie etwa Überzeugungen darüber, welche zentralen Neigungen und Handlungstendenzen der Mensch hat, welche Ziele er hat und haben sollte, worin der Sinn seines Lebens liegt usw. In diesem Fall speichert das allgemeine Sinnund Überzeugungssystem ein Bündel an Annahmen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen, d. h. ein Menschenbild. In manchen kulturell sehr homogenen Gesellschaften werden solche Menschenbilder, die einen integralen Bestandteil des allgemeinen lebensweltlichen Wissensbestandes ausmachen, tatsächlich anzutreffen sein. So glaubten etwa viele europäische Gesellschaften des Mittelalters an ein christliches Menschenbild; es war damals selbstverständlich und über jeden Zweifel erhaben, dass der Mensch von Gott geschaffen ist, dass er durch Christus von der Sünde erlöst ist, dass der Sinn seines Lebens darin besteht, ein gottgefälliges Leben zu 143 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

führen und den Willen Gottes zu erfüllen usw. In pluralistischen Gesellschaften wie der unsrigen ist dies nicht der Fall: hier scheint es eher eine verwirrende Vielzahl an zum Teil sehr divergierenden Auffassungen über wichtige Eigenschaften des Menschen zu geben, die sich kaum auf einen Nenner bringen lassen. 1 So gibt es bei uns christliche – die noch dazu erhebliche Binnendifferenzierungen aufweisen –, naturalistische, marxistische, freudianische usw. Menschenbilder. Bei all diesen Menschenbildern handelt es sich um Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen, die von manchen Gesellschaftsmitgliedern im Alltag für wahr und richtig gehalten werden, während andere Gesellschaftsmitglieder andere Bündel von Überzeugungen über den Menschen für wahr und richtig halten. Diese Menschenbilder sind daher nicht Teil des allgemeinen Sinn- und Überzeugungshorizontes, sie sind aber sehr wohl in die individuellen und gruppenspezifischen Varianten des Allgemeinwissens eingeschrieben. Die Frage, was es mit dieser Pluralität von Menschenbildern auf sich hat und in welchem Verhältnis die Pluralität der Menschenbilder mit dem einen allgemeinen Sinn- und Überzeugungshorizont steht, ist eine äußerst komplexe. Wir wollen sie daher für den Augenblick beiseite legen und erst später wieder aufgreifen. Für den Moment wollen wir uns mit der Einsicht begnügen, dass es offenbar Bündel an Annahmen über wichtige Eigenschaften des Menschen gibt, die irgendwie in das Sinn- und Überzeugungssystem eingeschrieben sind und die wir im Alltag für wahr und richtig halten. Dabei kann es sich sowohl um Bündel von Annahmen handeln, die einen integralen Bestandteil des allgemeinen Sinnsystems bilden, als auch um Bündel von Annahmen, die bloß einen Bestandteil einer subjektiven Variante des allgemeinen Sinnsystems bilden. Beide Arten von in das Sinnund Überzeugungssystem eingebetteten Bündeln von Annahmen über den Menschen im Allgemeinen bilden nun das, was hier als ein lebensweltliches Menschenbild bezeichnet wird. Ein lebensweltliches Menschenbild kann demgemäß definiert werden als ein mehr oder weniger kohärentes Bündel von Annahmen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen, das wir im Alltag mehr oder weniger unhinterfragt für wahr und richtig halten. Da wir sie mehr oder weniger unhinterfragt für wahr und richtig halten, kann man

1

Vgl. Barsch/Hejl, Menschenbilder.

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Typisierungen

lebensweltliche Menschenbilder auch als Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen bezeichnen. Im Folgenden geht es darum, diesem Phänomen der lebensweltlichen Menschenbilder etwas näherzukommen. Dazu wollen wir zunächst einen Blick auf das Phänomen lebensweltlicher Typisierungen werfen, das einige wichtige Parallelen zum Phänomen der lebensweltlichen Menschenbilder aufweist. An Typisierungen wird nämlich deutlich, wie solche Bündel von Überzeugungen, wie sie auch Menschenbilder sind, im Alltag gegeben sind und welche wichtige Rolle sie im Alltag spielen. An Typisierungen wird klar, was es konkret bedeutet, wenn ein Bündel von Überzeugungen lebensweltlich verankert ist.

Typisierungen Ein zentrales Merkmal unserer Lebenswelt ist, dass sie eine Welt ist, in der wir gemeinsam mit anderen Menschen leben; die Lebenswelt ist eine mit anderen geteilte Welt. In ihrer Mehrheit sind mir diese anderen Menschen aber unbekannt; ich weiß nur – d. h. es gibt die allgemeine Überzeugung, die ich teile –, dass Milliarden von ihnen auf der Welt leben. Unter denjenigen, die mir bekannt sind, kenne ich viele nur auf eine sehr oberflächliche Weise: die Regierungschefin und ihre Riege an Ministerinnen und Ministern kenne ich beispielsweise ebenso wie das nationale Fußballteam oder die vielen Schauspielerinnen und Schauspieler, die allabendlich aus meinem Fernseher schauen, nur aus den Medien. Den Zeitungsverkäufer, bei dem ich mich täglich mit meiner Morgenlektüre eindecke, die Busfahrerin, die regelmäßig den Bus, den ich zur Arbeit nehme, chauffiert, kenne ich wie so viele andere, die mir persönlich begegnen, auch kaum besser. Anders ist dies bei den Menschen, mit denen ich regelmäßiger zu tun habe – wie etwa meinen Arbeitskolleginnen und -kollegen, und natürlich meinen Freunden und meiner Familie – diese kenne ich besser, manchmal vielleicht sogar besser als mich selbst. Für all diese Menschen, von denen wir – uns selbst eingeschlossen – wissen und die wir erleben, stattet uns das Sinnsystem mit unzähligen Kategorien aus: die Menschen sind uns Schwestern, Brüder, Mütter, Väter, Tanten, Onkel; sie sind Tischlerinnen, Tapeziererinnen, Universitätsprofessorinnen, Verkäuferinnen, Politikerinnen; sie sind Engländer, Franzosen, Amerikaner; sie sind Kinder, Teenager, 145 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

Senioren; sie sind Beamte, Pensionisten, Selbstständige; sie sind Draufgänger, Hasenfüße, Hans-Dampf-in-allen-Gassen, Machos, Tussen, Karrieristen, Melancholiker; sie sind bereits ausgestorbene »Urvölker«, »Eingeborene«, »zukünftige Generationen« usw. Bei den meisten dieser Kategorien handelt es sich, wie Schütz, Berger und Luckmann betonen, um Typisierungen. 2 Dies bedeutet, dass die begrifflichen Kategorien mit Überzeugungen darüber verbunden sind, wie es sich mit den Menschen, die in eine dieser Kategorien passen, verhält. Nun gibt es einerseits Überzeugungen, die notwendig mit einer Kategorie in Verbindung stehen, andererseits gibt es aber auch Überzeugungen, die nicht notwendig, aber eben typischerweise mit einer Kategorie in Verbindung gebracht werden. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Als »Installateur« bezeichnen wir üblicherweise eine Person, die beruflich mit Wasserinstallationen zu tun hat und die die Kompetenz besitzt, Wasser- und Heizungsrohre, Badewannen, Boiler usw. zu verlegen, anzuschließen und zu reparieren. Diese Information steckt bereits im Begriff »Installateur«, die Aussage »Ein Installateur ist eine Person, die sich mit Wasserinstallationen auskennt« könnte von daher als ein apriorisches analytisches Urteil bezeichnet werden. Nun könnte es aber sein, dass man in einer Gesellschaft über Installateure zusätzlich »weiß«, dass sie typischerweise männlich, unfreundlich, unzuverlässig, unpünktlich, überarbeitet, kaum erreichbar und überdies immer teurer als erwartet sind. Wer also in dieser Gesellschaft mit einem Installateur zu tun hat, weiß daher, dass immer mehr Zeit und Budget einzuplanen sind, dass immer damit zu rechnen ist, dass der Installateur überhaupt

Vgl. dazu Schütz, Strukturen der Lebenswelt 1, 93 ff.; Luckmann/Berger, Konstruktion 32 ff. Andere in der Literatur – vor allem im Bereich der Kognitions- und Wissenspsychologie – anzutreffende Begriffe für Typisierungen sind Stereotype, Prototypen, Skripte, (Deutungs-)Muster, Modelle, Frames und insbesondere Schemata. In der Forschung gibt es allerdings sowohl in der Begrifflichkeit als auch in der Theorie- und Modellbildung keinen Konsens. Vgl. Wentura, Dirk/Fings, Christian, Kognitive Psychologie, Wiesbaden 2013, 125 ff.; Mandl, Heinz/Spada, Hans, Wissenspsychologie, München/Weinheim 1988, 124 ff.; Anderson, John, Kognitive Psychologie, hg. v. Joachim Funke, Heidelberg 72013, 106 ff.; Flechsig, Karl-Heinz, Kulturelle Schemata und interkulturelles Lernen, Arbeitspapier 3, Göttingen 1998, Quelle: http://wwwuser. gwdg.de/~kflechs/iikdiaps3–98.htm [19. 5. 2015]; ferner D’Andrade, Roy, The Development of Cognitive Anthropology, Cambridge/New York/Melbourne 1995; Quinn, Naomi/Holland, Dorothy, Culture and Cognition, in: Dies. (Hg.), Cultural Models in Language and Thought, Cambridge/New York/Melbourne 1987, 3–40.

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Typisierungen

nicht kommt, dass man sich in diesem Fall nicht ärgern sollte usw. Diese weitergehenden Information darüber, was Installateure sind (männlich, überarbeitet), wie sie sich verhalten (unfreundlich, unzuverlässig) und wie man sich ihnen gegenüber verhalten sollte (mehr Geld und Zeit einplanen, nicht ärgern) sind nicht notwendig; sie sind streng genommen nicht im Begriff des Installateurs selbst gegeben. Sie sind aber in der von uns imaginierten Gesellschaft doch ganz eng mit diesem Begriff verbunden: Sie sind in der Typisierung enthalten. Man könnte hier von einem quasi-apriorischen synthetischen Urteil sprechen. Jeder oder jede in dieser Gesellschaft, der bzw. die den Begriff »Installateur« vernimmt oder einem Installateur begegnet, weiß sogleich, was es mit dieser Type auf sich hat und wie man sich ihr gegenüber zu verhalten hat, auch dann, wenn er oder sie selbst noch nie zuvor einem Installateur begegnet ist. Dass diese Typisierung nicht notwendig ist, zeigt sich insbesondere dann, wenn eine begriffliche Kategorie in einer anderen Gesellschaft mit ganz anderen Überzeugungen verbunden ist. So wäre es etwa möglich, dass in einer anderen Gesellschaft der Installateur nicht als unfreundlich und unzuverlässig, sondern im Gegenteil als besonders freundlich und zuverlässig, ja als geradezu mustergültiger Handwerker gilt. Bekannt ist auch, dass hierzulande die Polizei im Ruf steht, »Freund und Helfer in der Not« zu sein, während sie anderswo als eine ebenso korrupte wie gewaltbereite, kriminelle Truppe gefürchtet wird. Nun wäre es in diesem Fall eventuell passender, von Vorurteilen, Stereotypen oder Klischees zu sprechen. Diese Begriffe sind im Gegensatz zum Begriff der Typisierung allerdings negativ konnotiert: sie bedeuten, dass die Überzeugungen, die mit einer Kategorie in Verbindung stehen, falsch oder ungerechtfertigt sind. Der Begriff der Typisierung hat demgegenüber den Vorteil, neutral zu sein. Er lässt offen, ob die Überzeugungen, die sich mit einer Kategorie verbinden, zutreffend bzw. berechtigt sind oder nicht. Bei vielen Typisierungen mag es sich tatsächlich um unberechtigte Vorurteile und problematische Stereotype handeln. Zu den bekanntesten zählen die antisemitische Typisierung von »Jude« und die antiziganistische Typisierung von »Zigeuner«. Dies ist aber bei weitem nicht immer der Fall. Oft genug bildet sich in der Typisierung die Realität ab, sind Typisierungen tatsächlich, wie Schütz schreibt, »ein in lebensweltlichen Erfahrungen ›gestifteter‹ Sinnzusammenhang« bzw. »eine in vorangegangenen Erfahrungen sedimentierte, einheitliche Bestimmungs147 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

relation.« 3 Dass beispielsweise in unserem Kulturkreis der Begriff »Vater« mit den Überzeugungen verbunden ist, dass sich ein Vater für seine Kinder interessieren, sich für sie verantwortlich fühlen und sich um sie kümmern sollte, erscheint als nicht sonderlich problematisch. Ebenso wenig erscheint als problematisch, dass an den Begriff der »zukünftigen Generationen« bei uns die Überzeugung gekoppelt ist, dass diese Generationen das Recht auf eine einigermaßen intakte Umwelt haben und es daher an unserer Generation ist, dafür zu sorgen, dass ihnen dereinst eine solche auch zur Verfügung steht. Unabhängig davon, ob Typisierungen nun berechtigt sind oder nicht: Typisierungen sind jedenfalls im allgemeinen Sinn- und Überzeugungssystem gegebene »Sinnzusammenhänge« oder »einheitliche Bestimmungsrelationen«, die meistens eine sprachliche Objektivation haben, d. h. die mit einem sprachlichen Begriff verbunden sind. 4 Anders ausgedrückt: Typisierungen sind Bündel von Überzeugungen, die, sofern die Typisierung sprachlich verobjektiviert ist, ganz eng mit einer begrifflichen Kategorie verbunden sind. Das unsere Lebenswelt konstituierende Sinn-und Überzeugungssystem stattet uns also für die Begegnung mit Menschen nicht nur einfach mit begrifflichen Kategorien, sondern mit Typisierungen aus, d. h. mit Bündeln von Überzeugungen, die mit begrifflichen Kategorien verbunden sind. Meistens handelt es sich bei diesen Überzeugungen um Überzeugungen darüber, was der oder die andere ist, welche Verhaltensformen er oder sie typischerweise an den Tag legt bzw. legen sollte, welche Präferenzen jemand hat und welche Erwartungen und Verhaltensweisen ihm oder ihr gegenüber im Allgemeinen angemessen sind. Typisierungen ermöglichen mir auf diese Weise, den anderen zu erfassen und zu behandeln: Sie ermöglichen mir erstens anhand gewisser Kriterien die Zuordnung eines Menschen zu einem Typus. Weist ein Mensch gewisse Merkmale auf, dann lässt er sich als Vertreter eines Typus identifizieren. Wenn ich auf der Straße etwa einem Menschen begegne, der eine bestimmte Uniform trägt, kann ich ihn anhand dieser Uniform als »Polizistin« erkennen. Zweitens ist mir mit dem Wissen um den Typus ein Wissen darüber mitgegeben, wie der andere ist. Wenn ich jemanden als »Polizistin« klassifiziere, dann Schütz, Strukturen der Lebenswelt 1, 278. Vgl. Schütz, Strukturen der Lebenswelt 1, 277 ff.; Berger/Luckmann, Konstruktion, 31 ff.

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Typisierungen

erwarte ich von dieser Person das für Polizisten übliche Verhalten. Bei uns ist dies eine gewisse Ernsthaftigkeit und Korrektheit, die Sorge um die öffentliche Ordnung, die Wahrnehmung und Bestrafung von Ordnungswidrigkeiten usw. Wenn ich von jemandem, die ich nur vom Sehen kenne, erfahre, dass es sich um eine Künstlerin handelt, werde ich ihr automatisch diejenigen Verhaltensweisen zuschreiben, die man Künstlern im Allgemeinen zuordnet: Dass sie sensibel und emotional ist, auch etwas exzentrisch, dass sie dazu neigt, bürgerliche Konventionen zu ver- und zu missachten usw. Drittens dienen Typisierungen oft als Erklärung von Verhaltensweisen; bestimmte Merkmale einer Erscheinung eines Menschen werden nicht selten als durch seine Typuszugehörigkeit bedingt angesehen: Die gewisse Barschheit im Ton einer Person und die Zackigkeit ihrer Bewegungen erklären sich daraus, dass die Person dem Typus »Soldat« angehört. Die wirre Haarpracht einer anderen Person lässt sich ebenso wie ihr etwas eigenwilliger Bekleidungsstil und die Art und Weise ihres Kommunizierens daraus erklären, dass diese Person eine Vertreterin des Typus »Künstlerin« ist. Und viertens schließlich geben Typisierungen meistens Aufschluss über das Verhalten, das man gegenüber Personen eines bestimmten Typus an den Tag legen sollte. Dies folgt schon alleine aus den Verhaltenserwartungen, die man mit einem bestimmten Typus verbindet. Wenn ich beispielsweise an einer Kreuzung eine Polizistin erblicke, so werde ich mein eigenes Verhalten an das Verhalten anpassen, das ich von einer Polizistin erwarte. Ich werde also diesmal nicht mit dem Fahrrad über die rote Ampel preschen, so wie ich dies normalerweise mache, weil ich davon ausgehe, dass sie mich für diese Ordnungswidrigkeit zur Rechenschaft ziehen wird. Darüber hinaus weiß ich aber auch ganz generell, dass ich einer »Polizistin« anders, nämlich mit Respekt, zu begegnen habe als etwa einem Jungen, der mir die Zunge herausstreckt, also einem »frechen Lümmel«, von dem ich mir nichts zu bieten lassen habe. Das Sinn- und Überzeugungssystem stellt uns ein engmaschiges Raster an Typisierungen, ein »Geflecht von Typisierungen von Menschen im allgemeinen, ihrer typisch-menschlichen Motivierungen, Handlungsmuster, Planhierarchien usw.« 5 zur Verfügung. Diese Typisierungen sind mit begrifflichen Kategorien verbundene Knäuel von Überzeugungen über typische Verhaltensweisen und die ihnen 5

Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt 1, 95.

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Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

angemessenen Reaktionsweisen. Die Typisierungen ermöglichen uns, mit den anderen umzugehen. »Die Wirklichkeit der Alltagswelt verfügt über Typisierungen, mit deren Hilfe ich den Anderen erfassen und behandeln kann.« 6 Sie bringen Ordnung in das Chaos der Mannigfaltigkeit der Menschen, indem sie die Zuordnung einzelner Menschen zu einem bestimmten Menschentypus ermöglichen, mit dem wir bestimmte Eigenschaften verbinden, an den wir bestimmte Erwartungen haben und demgegenüber wir bestimmte Einstellungen und Verhaltensformen an den Tag legen. Auf diese Weise prägen Typisierungen unsere Wahrnehmung und unser Verhalten. Ihre Wirkung sollte, wie Luckmann und Berger betonen, nicht unterschätzt werden. Dies gilt gerade auch für jene Typisierungen, die hochgradig abstrakt und anonym sind, wie etwa die der »Vorfahren« oder der »nachfolgenden Generationen«: Die Anonymität dieser beiden ›Sorten‹ [gemeint sind: Vorfahren und Nachfahren] von Typisierungen hindert sie jedoch nicht daran, als Elemente in die Wirklichkeit der Alltagswelt einzudringen – gelegentlich sogar recht nachdrücklich. Schließlich kann ich im Gedenken an die Gründer der Nation oder, wem das besser klingt, zum Wohle künftiger Generationen sogar mein Leben lassen. 7

Wann immer ich einem Mitmenschen begegne, wann immer ich mit jemand anderem in eine Interaktion trete, ist diese Begegnung demnach von bestimmten durch das Sinnsystem gegebenen Typen vorgeprägt. Ich nehme den anderen als Vertreter eines bestimmten Typus wahr, so wie auch mich der andere als Vertreter eines bestimmten Typus wahrnimmt; die Typisierungen sind reziprok. In der persönlichen, unmittelbaren und intensiven Begegnung mit einem anderen Menschen, also in der von Luckmann und Berger so genannten Vis-àvis-Situation, besteht freilich jederzeit die Möglichkeit, dass die Typisierungen vom tatsächlichen Verhalten durchbrochen werden und ich z. B. feststellen muss, dass der andere gar kein »typischer Konservativer« ist, weil er mich trotz seines klassischen Bekleidungsstils und seines Habitus gerade mit sehr progressiven liberalen Ansichten erstaunt hat. 8 In der persönlichen Begegnung lassen sich Berger/Luckmann, Konstruktion, 33. Berger/Luckmann, Konstruktion, 36. 8 Zu berücksichtigen ist, dass für Begegnungssituationen auch vielfache Typisierungen zur Verfügung stehen, in denen die Rahmenpunkte einer Begegnung vordefiniert sind: der Geschäftskontakt, das Kundengespräch, das Mitarbeitergespräch, das ro6 7

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Typisierungen

Typisierungen folglich nur bis zu einem gewissen Grade aufrechterhalten. »Mein Vis-à-vis-Verhalten wird von solchen Typisierungen geleitet, solange es nicht dadurch problematisch wird, daß der andere sie über den Haufen wirft.« 9 Dass ein konkretes Individuum in der persönlichen Begegnung aus den festen Schablonen einer Typisierung ausbricht, zieht in der Regel allerdings, so müsste man die Analysen von Berger und Luckmann noch ergänzen, nicht gleich die Revision der Typisierung nach sich. Vielmehr entspricht die konkrete Person dann einfach nicht dem Typus. Von so jemandem heißt es dann beispielsweise, er sei zwar »Politiker«, aber eben ein ganz und gar untypischer. Inwieweit ein Ausbrechen aus Typisierungen möglich ist, hängt aber auch davon ab, wie tiefgehend eine Typisierung ist. Es gibt Typisierungen, die eher oberflächlich sind. Dies ist dann der Fall, wenn Eigenschaften einem Typus als nicht notwendig zugehörig gelten. So gilt die Eigenschaft, unfreundlich, unzuverlässig und teuer zu sein, wohl nirgendwo als eine notwendige Eigenschaft von Installateuren. Ebenso wenig gilt es als in der Natur der Polizei liegend, dass sie korrupt und kriminell ist. Dies macht es in der unmittelbaren Begegnung leichter, den anderen als untypischen Vertreter seiner Art anzusehen. Andere Typisierungen verlegen gewisse Eigenschaften hingegen in die Natur der Menschen, die den Typus verkörpern. So besagt das antisemitische Vorurteil, dass der Jude seinem Wesen nach hinterlistig und geldgierig ist. Lange Zeit galt die Frau von Natur aus als nicht zur höheren Rationalität fähig. In diesen Fällen ist ein Ausbrechen aus der Typisierung viel schwieriger: Auch wenn der andere in der persönlichen Begegnung dem Typus nicht entspricht, wird ihm zugeschrieben werden, letztlich doch so zu sein, wie es der Typus verlangt: »Ein Jude bleibt ein Jude«, so beispielsweise die antisemitische rassistische Überzeugung. 10 Insgesamt sind Typisierungen aber keine starren, sondern dynamische Gebilde, die einem steten Wandel unterliegen. So wäre es etwa denkbar, dass eine erfolgreiche Reform des Polizeiapparates mantische Abendessen zu zweit, der (mit besonders hohen Erwartungen ausgestattete und daher sehr konfliktanfällige) Weihnachtsabend usw. Aus diesem Grund gilt: »Ich erfasse den Anderen als Typus und befinde mich mit ihm in einer Kontaktsituation, die ebenfalls typisch ist.« (Berger/Luckmann, Konstruktion, 34). 9 Luckmann/Berger, Konstruktion, 33; Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt 1, 107 f. 10 Vgl. dazu etwa Schambach, Georg, Niederdeutsche Sprichwörter der Fürstenthümer Göttingen und Grubenhagen 2, Göttingen 1863, 36.

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nicht nur mit den Missständen in der Polizei aufräumt, sondern langfristig auch die Typisierung der Polizei ändert. Galten Polizisten vor der Reform als »korrupte Schlägertypen«, so wäre es möglich, dass sich aufgrund des neuen Auftretens der Polizei die Ansicht durchsetzt, dass Polizisten tatsächlich zuverlässige »Freunde und Helfer in der Not« sind. In diesem Fall hat sich die in einer Gesellschaft bestehende Typisierung der Kategorie »Polizist« verändert. Typisierungen, so sagten wir, sind Bündel an Überzeugungen, die in das allgemeine Sinn- und Überzeugungssystem eingeschrieben sind. Dies freilich gilt nur für Typisierungen, die tatsächlich gesellschaftsweit bekannt und angewandt werden. Darüber hinaus aber gibt es auch gruppenspezifische und individuelle Typisierungen. Wenn wir in unserer Familie elegante, aber etwas hysterische ältere Damen als »Tante-Mizzi-Typen« typisieren, dann ist dies mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Typisierung, die nur in unserer Familie bekannt ist; schließlich haben nur wir die Tante Mizzi, die für die Typisierung den Anlass gegeben hat.

Menschenbilder als Hyper-Typisierungen Typisierungen sind also Bündel an Überzeugungen darüber, welche Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen Menschen, die sich einer bestimmten Kategorie zuordnen lassen, typischerweise an den Tag legen. Diese Typisierungen prägen unsere Wahrnehmung von und orientieren unseren Umgang mit Menschen eines bestimmten Typus. Die Typisierungen können dabei meine eigenen, individuellen sein, oder es können solche sein, die ich mit einigen anderen Menschen oder mit allen Mitgliedern meiner Gesellschaft teile. In letzterem Falle sind die typisierenden Bündel an Überzeugungen dem allgemeinen Sinn- und Überzeugungssystem eingeschrieben.

Typisierungen und Menschenbilder Was haben nun diese Typisierungen mit lebensweltlichen Menschenbildern, um die es hier ja gehen soll, zu tun? Auf diese Frage lässt sich eine vierfache Antwort geben: Erstens wird an Typisierungen deutlich, dass es in der Lebenswelt tatsächlich Bündel an Überzeugungen über den Menschen gibt, 152 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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und zwar in vielfältiger Form, und dass diese Bündel in der Lebenswelt eine wichtige Rolle spielen. Bündel an Überzeugungen sind allgegenwärtig in meiner Wahrnehmung der Welt und meines Agierens in ihr. Sie sind allerdings durchsichtig auf das hin, was zu erfassen, sie mir ermöglichen. In der Regel nehme ich die Typisierungen nicht als Bündel an Überzeugungen wahr, sondern ich nehme nur die lebensweltlichen Phänomene wahr, die mir mit Hilfe dieses Bündels erschlossen werden. 11 Wenn ich z. B. eine alte Dame in den Bus einsteigen sehe, so gehe ich automatisch davon aus, dass diese Dame etwas unsicher steht und froh darüber sein wird, sitzen zu können; ich biete ihr daher – so wie es mir von Kindesbeinen an gelehrt wurde – selbstverständlich meinen Platz an. Dass ich bei diesem meinem Wahrnehmen und Handeln auf ein typisierendes Bündel an Überzeugungen über »alte Menschen im Bus« zurückgreife, fällt mir dabei gar nicht auf. 12 Die Typisierung fällt mir höchstens dann auf, wenn sie fehl geht. So könnte es etwa sein, dass ich – immer noch im Bus sitzend – einen etwas schwankenden, glatzköpfigen jungen Menschen einsteigen sehe. Schon hoffe ich, dass sich dieser vermutlich nach Alkohol riechende und eventuell noch ausfällig werdende Skinhead nicht neben mich setzen wird; dementsprechend breit mache ich mich, auf die Frage nach dem freien Platz neben mir reagiere ich nicht. Doch in dem Moment muss ich feststellen, dass es sich bei der Person nicht um einen Skinhead, sondern um eine von einer Chemotherapie gezeichnete junge Patientin handelt. Augenblicklich kriecht mir die Scham ins Gesicht, und meine vorschnelle Typisierung der Person als Skinhead wird mir schlagartig als – in diesem Falle völlig unangemessene – Typisierung bewusst: schuldbewusst mache ich den Platz neben mir frei. Typisierungen, d. h. Bündel an Überzeugungen über den Menschen, so wie es auch Menschenbilder sind, sind also, dies sollte an den Beispielen deutlich geworden sein, in der Lebenswelt allgegenwärtig und spielen eine wichtige Rolle in ihr. Zweitens wird an Typisierungen klar, dass diese Bündel an Überzeugungen Teil des allgemein geteilten Sinn- und ÜberzeugungssysVgl. dazu Hutchins, Edwin, Culture and Inference: A Trobriand Case Study, Cambridge, Mass. 1980, 12. 12 In der Sozialpsychologie wird in diesem Zusammenhang vom »automatischen Stereotyp« gesprochen; vgl. Mast, Marianne/Krings, Franciska, Stereotype und Informationsverarbeitung, in: Petersen, Lars/Six, Bernd (Hg.), Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen, Weinheim/Basel 2008, 33–44, hier 33 f. 11

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tems sein können und mehr oder weniger unhinterfragt und selbstverständlich als wahr hingenommen werden können. So wachse nicht nur ich, sondern die meisten Mitglieder meiner Gesellschaft etwa mit dem Wissen auf, dass es Väter und Mütter, Beamten, Unternehmer usw. gibt, und dass all diese Typen typische Eigenschaften haben – z. B. dass sich Mütter liebevoll um ihre Kinder kümmern bzw. kümmern sollten, dass Beamte unkündbar und oft faul sind, dass Unternehmer risikobereit, schwungvoll und die Stütze der heimischen Wirtschaft sind usw. Solange mir individuelle Exemplare dieser Typen oder gesellschaftliche Problematisierungen der entsprechenden Typisierungen (etwa im Rahmen einer nationalen Aufklärungskampagne gegen negative Stereotype) keinen Anlass dazu geben, die Typisierungen zu hinterfragen, werde ich diese Bündel an Überzeugungen in meinen Begegnungen mit Menschen ohne darüber nachzudenken zur Anwendung bringen. Drittens machen Typisierungen sehr anschaulich, dass und wie Bündel an Überzeugungen über den Menschen in der Lebenswelt wirksam sind. Sie sind dies auf mehrfache Weise: (a) Die zu Typisierungen verdichteten Bündel an Überzeugungen über die verschiedenen Typen von Menschen ordnen die Welt: sie machen es möglich, Menschen bestimmten Typen zuzuordnen. Dadurch reduzieren sie die Komplexität der Wirklichkeit. (b) Die Bündel an Überzeugungen prägen unsere Wahrnehmung: sehe ich einen Menschen mit den typischen Merkmalen eines Menschentypus, werde ich diesen Menschen als Vertreter dieses Typus wahrnehmen. Ich werde viele seiner Verhaltensweisen im Lichte seiner Typuszugehörigkeit interpretieren. Wie die Forschung zu Vorurteilen und Stereotypen zeigt, kann dies nicht selten eine Verzerrung der Wahrnehmung nach sich ziehen. So kommt es manchmal vor, dass Verhaltensweisen, die dem Typus nicht entsprechen, nicht registriert werden, da sie von der Typisierung zugedeckt werden, während Verhaltensweisen wahrgenommen werden, die gar nicht vorhanden sind. (c) Die Typisierungen dienen dazu, menschliches Verhalten zu erklären: Sie ist so unzuverlässig, weil sie Künstlerin ist. Er ist so gemütlich, weil er ein Österreicher ist. Sie ist so engstirnig, weil sie Beamtin ist usw. (d) Typisierungen orientieren und legitimieren Handlungen gegenüber Menschen: Weil er Polizist ist, halte ich mich zurück und bin höflich; weil sie noch ein pubertierender Teenager ist, nehme ich sie 154 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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nicht ganz ernst; weil er ein Junge ist, bin ich strenger zu ihm als zu seiner Schwester, usw. (e) Typisierungen tragen manchmal erst zur Konstituierung (und Stabilisierung) der Phänomene bei, die mit ihnen erfasst werden. Prominente Beispiele für solche Typisierungen, die an der sozialen Konstruktion von Phänomenen einen Anteil haben sollen, sind insbesondere die geschlechtsspezifischen Typisierungen von Mann und Frau, sowie die Typisierungen von Heterosexuellen und Homosexuellen. Auch den Typisierungen »Kind« und »Teenager« werden ähnliche die Wirklichkeit konstituierende Wirkungen zugeschrieben. 13 In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird der diesem Phänomen zugrundeliegende Effekt als selbsterfüllende Prophezeiung (self-fulfilling prophecy) bezeichnet. Robert Merton, der den Begriff geprägt hat, beschreibt beispielsweise den Fall, dass die negativen Vorurteile weißer Arbeiter, ihre farbigen Kollegen seien Lohndrücker am Arbeitsmarkt und sollten daher von den Gewerkschaften ausgeschlossen werden, dazu führten, dass sich die Farbigen schließlich tatsächlich als Lohndrücker betätigen mussten, eben weil sie aus der Gewerkschaft ausgeschlossen wurden. 14 Eine ursprünglich nicht angemessene Typisierung wird durch die sozialen Wirkungen, die sie auslöst, richtig: »The self-fulfilling prophecy is, in the beginning, a false definition of the situation evoking a new behavior which makes the originally false conception come true.« 15 Ein klassisches und seither oft bestätigtes Experiment dazu wurde von Robert Rosenthal durchgeführt: Durch einen Trick überzeugte Rosenthal die Lehrer zweier US-amerikanischer Grundschulen davon, dass einige von ihm zufällig ausgewählte Schüler besonders intelligente Kinder seien – sogenannte bloomer, d. h. »Aufblüher« –, von denen in Zukunft herausragende Leistungen zu erwarten seien. Gegen Schulende zeig-

Vgl. etwa Scholz, Gerold, Die Konstruktion des Kindes. Über Kinder und Kindheit, Wiesbaden 1994; Winzen, Matthias (Hg.), Kindheit. Eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, Oberhausen 2013; Ariès, Philippe, Geschichte der Kindheit, übers. v. Caroline Neubaur u. Karin Kersten, München 162007; Savage, Jon, Teenage. Die Erfindung der Jugend (1875–1945), Frankfurt am Main 2008. 14 Vgl. Merton, Robert, The Self-Fulfilling Prophecy, in: Antioch Review 8 (1948), 193–210, hier 196 f.; ferner ders., Social Theory and Social Structure, New York 1957, 475–490. Für einen knappen Überblick zur selbsterfüllenden Prophezeiung vgl. Greitemeyer, Tobias, Sich selbst erfüllende Prophezeiungen, in: Petersen/Six, Stereotype, 80–87. 15 Merton, Self-fulfilling Prophecy, 195 (Hervorhebungen im Original). 13

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ten, wie ein Intelligenztest erwies, die meisten dieser ausgewählten Schüler tatsächlich wesentlich bessere Leistungen. 16 An Typisierungen wird also erstens deutlich, dass es lebensweltliche Bündel an Überzeugungen über Menschen gibt, zweitens, dass diese Bündel Teil des die Lebenswelt konstituierenden allgemeinen Sinn- und Überzeugungssystems sein können, und drittens, dass und wie diese Bündel an Überzeugungen in der Lebenswelt ihre Wirkungen entfalten. Aus diesen drei Feststellungen lassen sich nun Schlüsse für das Phänomen der lebensweltlichen Menschenbilder ziehen, handelt es sich doch bei Menschenbildern eben um eine bestimmte Art von Bündel von Überzeugungen über den Menschen. Schlüsse für das Phänomen lebensweltlicher Menschenbilder lassen sich aus dem Phänomen lebensweltlicher Typisierungen aber vor allem deswegen ziehen, weil Menschenbilder – und dies ist der vierte und wichtigste Grund, weswegen Typisierungen für das Thema Menschenbilder Relevanz haben – als eine besondere Art der Typisierung begriffen werden können. Dies muss etwas ausführlicher erläutert werden: Menschenbilder sind, so lautete unsere Definition, Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen. Solche Bündel an Überzeugungen sind nun in der Regel an die Kategorie »Mensch«, die uns vom allgemeinen Sinn- und Überzeugungssystem zur Verfügung gestellt wird, gekoppelt. Sobald ich den Begriff »Mensch« wahrnehme oder ein Phänomen wahrnehme, dass in die Kategorie Mensch passt, wird dieses Bündel von Überzeugungen ganz automatisch aktiviert. Dies sei an einem Beispiel veranschaulicht: Stellen wir uns vor, ich gehe im Wald spazieren und nehme im Nebel die Silhouette einer Gestalt wahr. Anhand eines bestimmten Bündels von Überzeugungen über den Menschen, d. h. einer Typisierung, die mir ganz selbstverständlich zur Hand ist und derer ich mir wahrscheinlich gar nicht bewusst bin, werde ich nun zu erkennen versuchen, ob diese Gestalt im Nebel ein Mensch ist: Hat sie menschliche Formen, macht sie menschliche Bewegungen, gibt sie menschliche Laute von sich, zeigt sie menschliche Reaktionen? Bereits zur Identifikation eines Phänomens als Menschen greife ich Vgl. Rosenthal, Robert/Jacobson, Leonore, Pygmalion in the Classroom: Teacher Expectation and Pupils’ Intellectual Development, New York 1968; ferner Rosenthal, Robert, Critiquing Pygmalion: A 25-year perspective. In: Current Directions in Psychological Science 4 (1995), 171 f.

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folglich auf eine Reihe an Überzeugungen über den Menschen zurück, die mir als Identifikationskriterien dienen. Habe ich die Gestalt im Nebel als die eines Menschen identifiziert, dann gehe ich ganz automatisch davon aus, dass dieses Wesen neben vielen trivialen Eigenschaften wie etwa, dass es Schmerz empfinden kann, hören und sehen kann usw., auch wichtige, typisch menschliche Fähigkeiten und Verhaltensweisen aufweist: So schreibe ich dem Wesen bis auf Weiteres automatisch Bewusstsein und Subjektivität, Rationalität und Sprachfähigkeit, Freiheit und Moralfähigkeit usw. zu. Ich gehe insbesondere auch davon aus, dass der oder die andere weiß, dass ich ihn oder sie als Menschen identifiziert habe und ihm typisch menschliche Eigenschaften zuschreibe. Ich gehe also davon aus, dass der oder die andere weiß, dass ich weiß, dass er oder sie ein Mensch ist, und dass er oder sie mithin weiß, dass ich ihm oder ihr bestimmte Eigenschaften zuschreibe und bestimmte Verhaltenserwartungen habe, so wie ich weiß, dass er oder sie mir bestimmte Eigenschaften zuschreibt und bestimmte Verhaltenserwartungen hat, weil er oder sie mich als Menschen erkannt hat. Wenn ich Christ bin und mithin ein sehr akzentuiertes Menschenbild vertrete, werde ich zusätzlich – und vielleicht ebenfalls ganz selbstverständlich – davon ausgehen, dass dieses Wesen eine unsterbliche Seele hat, von Gott geliebt ist, mir in ihm – gemäß dem Schriftwort »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 15,40) – Gott selbst begegnen kann usw. Darüber hinaus ist mir mit der Identifikation des Phänomens als Mensch ganz automatisch eine Reihe an Überzeugungen über angemessene Verhaltensweisen mitgegeben, die man Menschen gegenüber in der Regel zeigt: Ich weiß, dass man Menschen grundsätzlich mit Respekt und Freundlichkeit begegnen sollte, und so werde ich vielleicht grüßen, fragen, ob meine Hilfe benötigt wird, ein kleines Gespräch über das miserable Wetter beginnen usw. Welche Reaktionsweisen tatsächlich in Frage kommen, hängt dabei stark von der konkreten Situation ab: So werde ich beispielsweise als Soldat im Kriegsfall plötzlich auftauchenden Menschen im Wald anders begegnen, als wenn ich ein sonntäglicher Spaziergänger in Friedenszeiten bin. Zudem hängt mein Verhalten vor allem davon ab, wie ich den anderen weiter typisiere: Ist er Freund oder Feind, Spaziergänger oder Försterin? Unabhängig von der konkreten Situation werde ich dem Menschen aber immer als Menschen begegnen und nicht etwa so, als wäre er ein Stein oder ein wildes Tier. Freilich kann ich mich ge157 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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genüber dem Menschen auch so verhalten, als wäre er ein Gegenstand oder ein Tier. Aber in diesem Fall muss ich mich bewusst dagegen entscheiden, ihn wie einen Menschen zu behandeln – und gerade daran zeigt sich, dass ich völlig selbstverständlich weiß, wie man Menschen normalerweise zu begegnen hat.

Menschenbilder als Hyper-Typisierungen Menschenbilder funktionieren im Alltag also tatsächlich wie Typisierungen. Es sind Bündel an Überzeugungen über den Menschen, die ich gleichsam wie einen Rucksack mit mir herumschleppe und die jedes Mal, wenn ich den Begriff »Mensch« oder das Phänomen Mensch wahrnehme, aktiviert werden. Nun sind Menschenbilder aber nicht einfach Typisierungen wie die vielen anderen Typisierungen, die uns zur Einordnung unserer Mitmenschen zur Verfügung stehen, sondern es sind übergeordnete Typisierungen: Menschenbilder sind Hyper-Typisierungen. Dies lässt sich an drei Beobachtungen zeigen: (1) Dass Menschenbilder übergeordnete Typisierungen sind, zeigt sich erstens schon einmal daran, dass uns Menschenbilder – wie eben geschildert – überhaupt erst ermöglichen, ein Phänomen als einen Menschen zu identifizieren. Ich habe gewisse Überzeugungen und Vorstellungen darüber, was ein Mensch ist, und diese Überzeugungen liefern mir die Kriterien, anhand derer ich ein Phänomen als Mensch einordnen kann. Es ist nun diese anhand eines Menschenbildes vollzogene Einordnung eines Phänomens als Menschen, die mir erst den Rückgriff auf all die anderen spezifischeren Kategorien oder Typisierungen, die mir zur Erfassung meiner Mitmenschen zur Verfügung stehen, ermöglicht: Um die Gestalt im Wald als Freund oder Feind, Mann oder Frau, Spaziergänger, Bauer oder Försterin usw. zu erkennen, muss ich sie zunächst als Mensch erkannt haben. Die Kategorie Mensch ist folglich diejenige Typisierung, die es – gleich der äußersten Matrjoschka-Puppe, in deren Inneren eine Reihe an weiteren ineinandergeschachtelten Puppen wartet – zuerst zu öffnen gilt, wenn man zu den anderen, spezifischeren Kategorien, die den Menschen betreffen, vordringen will. Bevor ich also die Gestalt im Nebel als Försterin identifizieren kann, muss ich sie zunächst einmal als Menschen und nicht als Bären identifizieren. Das Menschenbild ist mithin deswegen eine Hyper-Typisierung, weil es mir den Raum 158 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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des Menschlichen erst eröffnet. Die Identifikation eines Menschen als Menschen geht in den meisten Fällen völlig automatisch von statten: Ich identifiziere jemanden als jemand Konkreten, etwa als den Installateur, den ich bestellt habe, um von ihm mein defektes Abflussrohr reparieren zu lassen, als meinen Ehepartner, auf den ich schon warte usw. Aber indem ich jemanden als Vertreter eines konkreteren menschlichen Typus identifiziere, habe ich sie oder ihn schon – gleichsam vorweg und unter der Hand, da ich ja nichts anderes erwartet habe als einen Menschen – als Menschen identifiziert. (2) Dass Menschenbilder Hyper-Typisierungen sind, wird zweitens weiterhin daran klar, dass Menschenbilder auf all die untergeordneteren Typisierungen durchschlagen. Ähnlich wie die äußerste Matrjoschka-Puppe all den in ihrem Bauch ineinandergestapelten Puppen ihre Form aufprägt, prägt auch die Menschenbild-Typisierung allen weiteren, untergeordneten Typisierungen ihre Merkmale auf. Auch wenn ich die Gestalt als Försterin oder Bauer identifiziere, schreibe ich ihr selbstverständlich weiterhin die allgemein-menschlichen Merkmale der Rationalität, Freiheit, Sprachfähigkeit, der Gottesebenbildlichkeit usw. zu. Das Menschenbild schlägt auch dann durch, wenn ich die Gestalt mittels einer Typisierung zu fassen versuche, deren Charakteristikum gerade darin liegt, darauf hinzuweisen, dass dieser Typus nicht alle allgemein-menschlichen Eigenschaften aufweist. Wenn ich die Gestalt als kleines Kind, als Behinderte, als Greisin, als Gehörlosen identifiziere, weiß ich gleichzeitig darum, dass diese Typen nicht der im Menschenbild gegebenen Norm des Allgemeinmenschlichen entsprechen. Aber gerade daher bildet das Menschenbild die normative Folie, vor deren Hintergrund sich die davon abweichenden Typen deutlich abheben. Menschenbilder stehen also auf der Skala der vielen Typisierungen und Subtypisierungen, die wir für Menschen haben, an hierarchisch oberster Stelle. 17 (3) Dass Menschenbilder Typisierungen übergeordneter Art sind, wird drittens insbesondere auch deutlich im Vergleich zu anderen allgemeinen Typisierungen des Menschen. Die Kategorie »Mensch« ist – zumindest in unserem Kulturkreis – ja nicht nur mit einer, sondern gleich mit mehreren Typisierungen verbunden. Eine dieser Typisierungen bringen wir beispielsweise dann in Anschlag, Zur hierarchischen Struktur von Typisierungen bzw. Schemata vgl. D’Andrade, Roy, Schemas and Motivation, in: Ders./Strauss, Claudia, Human Motives and Cultural Models, Cambridge/New York/Victoria 1992, 23–44, hier 30 f.

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wenn wir uns in allgemeinster und abstraktester Weise auf unsere Mitmenschen und uns selber beziehen. Sie ist die Typisierung, die uns ermöglicht, die Myriaden an menschlichen Individuen, die vor, mit und nach mir auf der Welt lebten, leben und leben werden, zu erfassen. Diese Typisierung aller Menschen in »der Mensch« oder »die Menschheit« ist hochgradig anonym, abstrakt und inhaltsleer. Ein anderes typisierendes Bündel an Überzeugungen kommt dann zum Tragen, wenn ich mit dem Rekurs auf die Kategorie »Mensch« Verständnis, Nachsicht oder Mitleid für allzumenschliche Fehler oder Schwächen einfordere, die keinem unbekannt sein dürften: »Das kann doch passieren, ich bin doch auch nur ein Mensch«. Die typisierende Überzeugung, die hier im Vordergrund steht, ist diejenige, dass Menschen fehlerhaft sind und dass wir daher Nachsicht walten lassen sollten. Auf eine wiederum ziemlich andere Typisierung rekurrieren wir dann, wenn wir etwa in Anbetracht der kriegerischen Geschichte der Menschheit, in Anbetracht all des Leids, das sich Menschen gegenseitig antun, den Menschen als unverbesserliche, blutrünstige Bestie typisieren. Im Blick auf dieselben Tatsachen können wir aber auch auf die Typisierungen des Menschen als leidendes, ohnmächtiges, getriebenes Opfer des Schicksals, als dummes, ameisengleiches Massenwesen oder – frei nach Bert Brechts »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral« – als primitives, egoistisches Untier zurückgreifen. Es fällt uns im Alltag auch gar nicht so schwer, zwischen diesen Typisierungen gleichsam hin- und herzuschalten und einmal mit Ekel und Verachtung, das andere Mal von Mitleid bewegt auf die Menschheit zu blicken. Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass die Kategorie »Mensch« tatsächlich mit mehreren, unterschiedlichen typisierenden Bündeln von Überzeugungen verbunden ist, auf die wir je nach Situation und Anforderung zurückgreifen und zwischen denen wir unter Umständen sogar bewusst hin- und herwechseln können. Zwischen diesen Bündeln an Überzeugungen gibt es sicherlich Überschneidungen, sie sind aber nicht deckungsgleich. Wer an Verständnis und Mitleid appelliert, indem er von sich sagt, auch nur ein Mensch zu sein, bringt weder das »Untier Mensch« noch »den Menschen« als anonyme Größe ins Spiel. Typisierungen wie diese bezeichnen wir in der Alltagssprache manchmal auch als Menschenbilder, dies erscheint allerdings als unangemessen: Wenn wir – in einem emphatischen Sinne – von Menschenbildern sprechen, meinen wir damit fundamentale, letzte An160 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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sichten über das Wesen des Menschen, die das Ganze des Menschen umfassen. Die zuletzt angeführten Typisierungen des Menschen erfüllen diese Kriterien nicht: Mit diesen Typisierungen verbinden wir in der Regel nicht den Anspruch, den Menschen in seinen wichtigen Eigenschaften zu erfassen. Im Gegenteil, mit diesen Typisierungen reduzieren wir den Menschen auf einige wenige, für einen spezifischen Anwendungskontext relevante Eigenschaften. Typisierungen wie die zuletzt genannten sind daher bloße Typisierungen, Menschenbilder hingegen sind eben Hyper-Typisierungen, mit denen ein wesentlich umfassenderer Geltungsanspruch einhergeht. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Arten von Typisierungen können an einem Beispiel verdeutlicht werden: Stellen wir uns vor, dass ich nach der Lektüre eines Zeitungsartikels über den Völkermord in Ruanda beginne, über das Schicksal der Menschheit zu räsonieren und dabei auf die Typisierung des Menschen als blutrünstige, dumme Bestie zurückgreife, der insgesamt eigentlich kein besseres Los zuteil werden sollte als die kollektive Selbstauslöschung, auf die er ohnehin zuzusteuern scheint. Nun könnte es sein, dass ich mich selbst bei diesem Gedanken erwische und darüber erschrecke, denn eigentlich halte ich den Menschen für ein von Gott geschaffenes, freies, mit Rationalität usw. ausgestattetes und von Gott geliebtes Wesen, das auch ich zu lieben den Auftrag habe. In diesem Fall habe ich offenbar eine Typisierung, die mir zur Hand lag, durch ein übergeordnetes Bündel an Überzeugungen über den Menschen korrigiert. Meine Selbstkorrektur zeigt, dass es offenbar Typisierungen des Menschen gibt, die ich für wichtiger, höherstufiger halte als andere Typisierungen. Deutlich wird dies beispielsweise auch dann, wenn ich bei einer Begegnung mit einem Installateur auf die Typisierung des Installateurs als fauler, unzuverlässiger Handwerker zurückgreife, dabei aber ein schlechtes Gewissen habe, weil ich weiß, dass man Menschen nicht aufgrund von Vorurteilen, sondern aufgrund ihres tatsächlichen Verhaltens beurteilen sollte. Hier betrachte ich die vorurteilsbehaftete Typisierung des Installateurs ebenfalls im Lichte einer übergeordneten Typisierung des Menschen im Allgemeinen, nämlich einer, die besagt, dass jeder Mensch einzigartig ist und es verdient, das man ein unvoreingenommenes Urteil über ihn fällt. Eine solch höherstufige Typisierung des Menschen kommt auch dann zum Tragen, wenn man von jemandem emphatisch sagt, er sei ein Mensch: »Sie ist zuallererst ein Mensch«, »Er ist zwar ein Mörder, aber er ist doch auch ein Mensch!«, »Er ist zwar ein Installateur, aber an erster Stelle 161 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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ist er ein Mensch.« Die typisierende Überzeugung, die hier im Hintergrund wirksam ist und an die appelliert wird, ist die, dass der Mensch etwas Wertvolles ist und ihm daher mit unbedingtem Respekt zu begegnen ist. Diese Typisierung stellt den Anspruch, wichtiger, richtiger und höherwertiger zu sein als die anderen Typisierungen. Wenn ich nun weiter über meine Selbstkorrektur nachdenke, dann wird mir auch auffallen, dass mir diese Typisierung des Menschen als Bestie immer dann in den Sinn kommt, wenn ich mit Nachrichten über Kriege, Völkermorde und brutalste Menschenrechtsverletzungen konfrontiert bin und wenn ich über das viele Leid, dass sich Menschen gegenseitig offenbar ohne zu zögern anzutun bereit sind, nachdenke. Wenn ich aber Erfreuliches von der Menschheit, etwa von den gemeinsamen Anstrengungen im Kampf gegen Armut und Not höre, bin ich schnell bereit, auf ganz andere, optimistischere Typisierungen zurückzugreifen. Die Typisierung des Menschen als blutrünstige Bestie ist jedenfalls keine, auf die ich immer zurückgreifen würde. Die Typisierung des Menschen als das von Gott geliebte Geschöpf hingegen halte ich für immer passend. Es gibt also offenbar Typisierungen, die ich nur in bestimmten Kontexten anzuwenden bereit bin, während es auch Typisierungen gibt, die für mich fundamentaler sind und die daher für das Ganze meiner Lebenswelt Gültigkeit haben. In meiner Reflexion fällt mir vielleicht weiter auf, dass ich mich in der Typisierung des Menschen als blutrünstige, dumme Bestie selbst gar nicht mitgedacht habe, verstehe ich mich doch selbst als von Gott geschaffen und von ihm geliebt. Jedenfalls ist die Auffassung des Menschen als blutrünstige Bestie keine, mit der ich mich selbst ernsthaft identifizieren würde. Auch hierin können sich Typisierungen offensichtlich unterscheiden: Es gibt manche, mit denen wir uns identifizieren, und andere, mit denen wir uns nicht identifizieren. Dies ist nicht der letzte Unterschied: Wenn ich nämlich weiter über diese unterschiedlichen Auffassungen vom Menschen reflektiere, werde ich zusätzlich bemerken, dass ich nicht im Traum daran denke, die Typisierung des Menschen als dumme Bestie, die mir in meinem Anflug von Misanthropie in den Sinn kam, zur Grundlage meines Handelns in der Welt zu machen – auch wenn ich dies ohne Weiteres könnte (und mir dann vieles möglicherweise wesentlich leichter fiele). Die Auffassung hingegen, dass Menschen von Gott geliebte, mit Rationalität, Sprachfähigkeit usw. ausgestattete Wesen sind, ist in der Regel – und oft ohne dass ich darüber auch nur nach162 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

denken muss – die Basis meines Umgangs mit meinen Mitmenschen; sie ist mir gleichsam – um mit Nietzsche zu sprechen – »einverleibt«, ich bringe sie ganz automatisch und selbstverständlich zur Anwendung. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Typisierungen hängen allesamt damit zusammen, dass ich die eine – die Typisierung des Menschen als blutrünstige, dumme Bestie – nicht für die wahre oder richtige Auffassung vom Menschen halte. In der Typisierung des Menschen als Bestie mag sich in überspitzter Form etwas artikulieren, das ich für wahr oder richtig halte – nämlich die Sündhaftigkeit des Menschen –, aber die Typisierung ist nicht die ganze Wahrheit über den Menschen. Sie ist bloß eine Auffassung, derer ich mich bedienen kann, die mir erlaubt, meine Verzweiflung über die Menschheit zum Ausdruck zu bringen, die ich aber, wenn ich ihrer nicht mehr bedarf, einfach wieder ablegen kann. Die Auffassung hingegen, die mich zur Korrektur meiner misanthropischen Typisierung veranlasst hat, halte ich für die eigentlich richtige und wahre. Mit dieser identifiziere ich mich, ich versuche, an ihr mein Handeln zu orientieren, und ich bin nicht bereit, sie einfach aufzugeben. Diese Unterschiede weisen uns auf die entscheidende Spur: Zum einen gibt es Bündel von Überzeugungen über den Menschen, mit denen sich kein Anspruch darauf verbindet, das richtige und maßgebliche Bündel an Überzeugungen über den Menschen zu sein. Diese Bündel an Überzeugungen sind bloße Typisierungen. Zum anderen gibt es Bündel an Überzeugungen über den Menschen, mit denen sich eben dieser Anspruch verbindet. Dies sind Hyper-Typisierungen. Genau genommen stellen Hyper-Typisierungen einen vierfachen Anspruch: Sie stellen (a) den Anspruch, den Menschen so zu erfassen, wie er eigentlich oder »an und für sich« ist. So ist etwa ein Christ der Überzeugung, dass der Mensch tatsächlich von Gott geschaffen und geliebt ist, dass er tatsächlich eine unsterbliche Seele hat, usw. Sie stellen (b) den Anspruch, den Menschen in seinen wichtigen, wesentlichen Eigenschaften zu erfassen. So glaubt der Christ beispielsweise, dass der Mensch im Kern seines Wesens Ebenbild Gottes ist, dass er von Gott geschaffen, von ihm mit Bewusstsein, Rationalität, Moralfähigkeit usw. ausgestattet wurde usw. Indem sie beanspruchen, den Menschen in seinen eigentlichen, wesentlichen Eigenschaften zu beschreiben, stellen diese Bündel an Überzeugungen aber (c) auch den Anspruch, immer, d. h. in allen möglichen Kontex163 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

ten, für die ganze Lebenswelt, zu gelten, also eine alle Praxissektoren übergreifende, das Ganze umfassende Geltung zu haben, und (d) den Anspruch, auch für den existenziellen Lebensvollzug des einzelnen der entscheidende Maßstab zu sein, d. h. sie verlangen, dass man sich mit ihnen identifiziert und sie im Handeln immer umsetzt. Fassen wir das Bisherige etwas zusammen: Die Analyse zeigt erstens, dass wir im Alltag auf eine Vielzahl unterschiedlicher typisierender Bündel an Überzeugungen über den Menschen zurückgreifen, die unsere Wahrnehmung von und unseren Umgang mit unseren Mitmenschen prägen. Die Analyse zeigt zweitens, dass es auch typisierende Bündel an Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen gibt. Unter diesen Typisierungen wiederum gibt es solche – so zeigt die Analyse drittens –, die wir für fundamental wahr und richtig halten, d. h. in Bezug auf die wir der Auffassung sind, dass sie den Menschen in seinen wichtigen, wesentlichen Eigenschaften beschreiben und dass sie für alle Kontexte Gültigkeit haben. Diese Typisierungen sind mithin in einem doppelten Sinne total: Sie beanspruchen, den Menschen als Ganzen zu erfassen, und sie beanspruchen, für das Ganze der Lebenswelt Gültigkeit zu haben. Sie beanspruchen oberste epistemische wie moralische Autorität. Diese Typisierungen können daher mit gutem Grund als Hyper-Typisierungen bezeichnet werden. Diese Art von übergeordneten typisierenden Bündeln an Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen sind nun das, dies ist das vierte Resultat der Analyse, was wir als lebensweltliche Menschenbilder bezeichnen wollen. Lebensweltliche Menschenbilder können von daher als Hyper-Typisierungen begriffen werden: Es sind Typisierungen des Menschen im Allgemeinen, die tiefer verankert sind und die eine höhere Geltung beanspruchen als alle anderen Typisierungen. Alle anderen Typisierungen – und zwar alle Typisierungen des Menschen, nicht nur die des Menschen im Allgemeinen – sind von ihnen geprägt und werden an ihnen gemessen. Lebensweltlich ist ein Menschenbild folglich – dies schließlich ist das fünfte Ergebnis der Analyse – dann, wenn es, wie an den Typisierungen illustriert, in das lebensweltliche Sinn- und Überzeugungssystem eingebettet ist und wenn es die alltägliche Wahrnehmung und den Umgang der Menschen mit sich selbst und mit ihren Mitmenschen prägt.

164 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

Zu einigen weiteren Charakteristika von Menschenbildern Bleibt noch, auf einige weitere Charakteristika lebensweltlicher Menschenbilder als Hyper-Typisierungen hinzuweisen: (1) Wie bei Typisierungen üblich sind auch lebensweltliche Menschenbilder durchsichtig auf das Phänomen hin, das zu erfassen sie ermöglichen. Wenn ich einen Menschen wahrnehme, nehme ich sie oder ihn einfach als Menschen wahr, ohne zu bemerken, dass im Hintergrund ein typisierendes Bündel an Überzeugungen wirksam ist, das mir die Wahrnehmung des Phänomens als Menschen ermöglicht und das in diese Wahrnehmung mit einfließt und sie fundamental prägt. Ich schreibe Menschen ganz automatisch und selbstverständlich bestimmte Eigenschaften zu – also etwa Freiheit, Rationalität, Subjektivität usw. –, ich werde ihre Handlungen ganz selbstverständlich im Lichte dieser Eigenschaften interpretieren, ohne dass mir bewusst ist, dass ich Menschen diese Eigenschaften zuschreibe und sie mit ihrer Hilfe interpretiere. Das Bündel von Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen, das uns im Alltag das Reich des Menschlichen erschließt, bleibt folglich in der Regel im Verborgenen. Ins Bewusstsein treten die Überzeugungen über den Menschen erst dann, wenn es zu Konflikten in der Deutung des Menschen kommt – etwa wenn ich mit einem Rassisten über die Frage streite, ob alle Menschen den gleichen moralischen Wert haben, wenn ich mich auf ein Streitgespräch über die moralische Zulässigkeit der Abtreibung einlasse, in der der moralische Status des menschlichen Embryos – ab wann ist der Mensch Mensch? – unvermeidlich zum Thema wird, oder wenn ich mit Freunden darüber debattiere, ob der Mensch im Kern seines Wesens nun gut oder schlecht, egoistisch oder doch altruistisch motiviert ist. In diesen Fällen wird mir klar, dass wir es bei der Bestimmung dessen, was der Mensch ist, mit tiefliegenden Überzeugungen zu tun haben, die wir im Alltag einfach anwenden und die uns daher kaum in den Blick geraten. (2) Unsere Überzeugungen über den Menschen kommen uns auch deswegen nicht als solche in den Blick, weil wir sie verdinglichen bzw. naturalisieren. Uns ist mit anderen Worten in der Regel nicht bewusst, dass es sich bei unseren Überzeugungen über den Menschen um (kulturelle) Zuschreibungen handelt, sondern wir sind der Meinung, dass wir unsere Überzeugungen deswegen haben, weil sie den Tatsachen entsprechen, d. h. weil sie wahr sind. Wir glauben, dass wir diese Überzeugungen deswegen haben, weil die Menschen tatsächlich 165 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

so sind, wie wir glauben, dass sie sind. Wir sind mithin der Auffassung, dass unsere Menschenbilder mentale Repräsentationen der wirklichen Natur des Menschen bzw. des wirklichen Wesens des Menschen sind. So glauben wir erstens, dass es in der Wirklichkeit tatsächlich eine Klasse von Phänomenen gibt, die wir mit Recht als »Mensch« ansprechen. Zweitens glauben wir, dass diese Menschen tatsächlich Träger derjenigen wichtigen Eigenschaften sind, die wir ihnen zuschreiben. Und drittens glauben wir, dass die Eigenschaften, die wir für wichtig halten, tatsächlich die wichtigen Eigenschaften des Menschen sind. Wir sind – zumindest im Alltag – blind dafür, dass wir mit dieser Verdinglichung bzw. Naturalisierung unserer Zuschreibungen eigentlich die Verhältnisse verkehren. Wir verkennen, dass wir das Phänomen Mensch nur deswegen so wahrnehmen können, wie wir es wahrnehmen, weil wir es zuvor schon auf gewisse Art und Weise in unseren Menschenbildern vorkonzipiert haben. Es ist das Bild, das uns die Wahrnehmung der Wirklichkeit ermöglicht. Das Bild kann daher nicht einfach ein Abbild der Wirklichkeit, sondern muss – zumindest teilweise – auch ihr Vorbild sein. 18 Allenfalls im Begriff »Menschenbild«, der explizit auf unsere Überzeugungen über den Menschen abzielt und eben nicht direkt auf den Menschen Bezug nimmt, schwingt ein Wissen um die »wahre Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Welt« mit. 19 (3) Verborgen bleibt uns im alltäglichen Leben nicht nur das Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen, mit dessen Hilfe wir den Menschen erfassen, sondern auch der Anspruch auf höchste epistemische wie moralische Geltung, mit dem dieses Bündel ausgestattet ist. Auch diese Geltung wird erst dann wahrnehmbar, wenn es zu Konflikten zwischen Überzeugungen über den Menschen kommt. Wenn ich mit anderen Menschen wie in den eben angeführten Beispielen des Rassismus und der Abtreibung über die Frage streite, was der Mensch ist, dann wird nicht nur klar, dass wir alle mit Überzeugungen über den Menschen Vgl. dazu Berger/Luckmann, Konstruktion, 95 f.: »Die wahre Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Welt wird im Bewußtsein in ihr Gegenteil verkehrt. Der Mensch, der Hervorbringer seiner Welt, wird als deren Hervorbringung gesehen, menschliches Tun nur als Epiphänomen außermenschlicher Vorgänge. Menschliche Sinnhaftigkeit wird nicht mehr als weltschöpferisch, sondern als Geschöpf der »Natur der Dinge« aufgefaßt. […] Das bedeutet: der Mensch ist paradoxerweise dazu fähig, eine Wirklichkeit hervorzubringen, die ihn verleugnet.« 19 Vgl. ebda. 18

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Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

operieren, sondern auch, dass wir unsere Überzeugungen über den Menschen für die jeweils wahren und richtigen halten. Wie ein Blick in die Geschichte der Freiheitskämpfe verrät, sind wir unter Umständen sogar bereit, für unsere Überzeugungen über den Menschen – etwa für »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« – unser Leben aufs Spiel zu setzen. (4) Dass lebensweltliche Menschenbilder oft im Verborgenen bleiben, hat auch damit zu tun, dass wir uns in der Regel selten über unsere Auffassungen vom Menschen Gedanken machen. Die autoritativen Bündel an Überzeugungen über den Menschen, die uns im Alltag leiten, sind oft unartikuliert, kaum bewusst, und bleiben unreflektiert. Nichtsdestotrotz operieren wir alle im Alltag notwendigerweise mit bestimmten Hyper-Typisierungen des Menschen: Ansonsten wäre es uns gar nicht möglich, ein Phänomen als Mensch zu identifizieren, denn dazu benötigen wir Kriterien, anhand derer wir die Identifikation vornehmen; ansonsten wäre es uns gar nicht möglich, uns über eine unserer Ansicht nach unangemessene Behandlung von Menschen – etwa über die Todesstrafe – zu echauffieren, denn dazu benötigen wir Überzeugungen darüber, was der Mensch ist und was ihm angemessen ist; ansonsten wäre es uns gar nicht möglich, andere Auffassungen über den Menschen, die von der unsrigen abweichen, falsch zu finden, denn dazu müssen wir schon wissen, welche Überzeugungen über den Menschen wir für richtig halten; ansonsten wäre es uns gar nicht möglich, Handlungen oder Regeln, von denen viele Menschen betroffen sind, zu bewerten, denn dazu benötigen wir Überzeugungen darüber, wie Menschen im Allgemeinen funktionieren und reagieren. Mit anderen Worten: Es ist in der Lebenswelt unausweichlich, ein Menschenbild zu haben. Operieren wir im Alltag nicht mit einem bewussten, reflektierten Bündel an Überzeugungen über den Menschen, dann tun wir es mit einem nicht unmittelbar bewussten und unreflektierten Bündel an Überzeugungen. (5) Zwischen dem, was wir bewusst für wahr und richtig halten, und der Art und Weise, wie wir uns (unbewusst) verhalten, können bekanntlich Diskrepanzen auftreten. 20 Dies gilt auch für Menschenbilder: Es ist dokumentiert, dass viele, die ein egalitäres Menschenbild Vgl. dazu die Ergebnisse des Impliziten Assoziationstests, der unbewusste Typisierungen abfragt und sie den Selbsteinschätzungen gegenüberstellt. Der Test ist verfügbar unter: https://implicit.harvard.edu/implicit [Zugriff am 12. 03. 2014], Er-

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Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

vertreten und sich völlig selbstverständlich und überzeugt als nichtrassistisch einschätzen, im spontanen Urteilen und Handeln doch implizite rassistische Vorurteile an den Tag legen. 21 Dies führt zu der in unserem Zusammenhang wichtigen Frage, welches Menschenbild solche Menschen nun tatsächlich vertreten: Ein egalitäres oder ein rassistisches? Welches Menschenbild ist ihr lebensweltliches? Dasjenige, das diese Menschen für wahr und richtig halten, oder dasjenige, welches in ihrem spontanen Handeln und Urteilen zur Geltung kommt? Hierzu ist zunächst zu sagen, dass diese Menschen dasjenige Menschenbild vertreten, dass sie für wahr und richtig halten und das sie zur Grundlage ihrer bewussten, reflektierten Entscheidungen und Handlungen machen. Sollten sich diese Menschen ihres Menschenbildes nicht vollständig bewusst sein, so ist ihr lebensweltliches Menschenbild dennoch jenes, das in ihren bewussten, reflektierten Entscheidungen zum Ausdruck kommt. Dass sich dieses Menschenbild in den spontanen Einschätzungen und Handlungen nicht immer spiegelt, mag bedauerlich sein, ist aber nicht weiter ungewöhnlich. Kaum jemand schafft es, all sein Handeln, Denken und Fühlen strikt an die Normen anzupassen, die sie oder er für richtig hält. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass die Menschen, die sich als nicht-rassistisch verstehen, in der Regel über den impliziten Rassismus, der in ihrem Urteilen und Handeln zum Ausdruck kommt, tief erschrecken und sich darum bemühen werden, ihr Urteilen und Handeln an das Menschenbild anzupassen, das sie für wahr und richtig halten. Dies berechtigt umso mehr dazu, ihr bewusstes Bündel an Überzeugungen über den Menschen als ihr lebensweltliches Menschenbild zu bezeichnen; dieses ist dasjenige, an dem sie sich orientieren. (6) Die mittels des Typisierungsbegriffs gewonnene Präzisierung des Begriffs des lebensweltlichen Menschenbildes erlaubt es, die gegen Ende des ersten Teils dieser Untersuchung eingeführten Differenzen zu anderen Typen von Menschenbildern schärfer zu fassen: (a) Im Unterschied zu rein theoretischen Menschenbildern haben lebensweltliche Menschenbilder einen echten »Sitz im Leben«: Sie schlagen auf das alltägliche Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln der Menschen durch und sind für die subjektive Lebensführung entscheidend. Wie genau Menschenbilder diese ihre prägende gebnisse wurden publiziert in: Banaji, Mahzarin/Greenwald, Anthony, Blindspot: Hidden Biases of Good People, New York 2013. 21 Vgl. ebda.

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Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

Wirkung entfalten, wird an den oben besprochenen Beispielen der Typisierung schon erahnbar und wird weiter unten noch im Detail besprochen. Theoretische Menschenbilder jedenfalls weisen diese lebensweltlichen Wirkungen nicht auf, sie prägen sich der Lebensführung nicht auf, auch dann nicht, wenn sie den Anspruch auf Wahrheit und Totalität stellen, d. h. beanspruchen, den Menschen in seinem Kern zu beschreiben. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert der Hirnforscher Wolf Singer, der als Wissenschaftler davon überzeugt ist, dass der Mensch von kausalen Prozessen determiniert ist. Insbesondere die Freiheit des Menschen hält er für eine von neurobiologischen Prozessen erzeugte Illusion. Singer vertritt mithin das theoretische Menschenbild eines strikten Determinismus. Im lebensweltlichen Umgang mit seinen Mitmenschen – allen voran seiner Ehefrau und seinen Kindern – schreibt er dem Menschen freilich weiterhin Freiheit und Verantwortung zu, im Wissen darum, dass er dies eigentlich für eine Illusion hält. Im alltäglichen, »echten« Leben muss er also zumindest so tun, als würde er Menschen weiterhin für frei und verantwortlich halten, selbst wenn er eigentlich der Ansicht ist, dass sie es nicht sind; sein strikt deterministisches Menschenbild bleibt mithin ein theoretisches, das sich nicht in seiner Lebensführung niederschlägt. 22 (b) Im Unterschied zu praktischen sektoralen Menschenbildern haben lebensweltliche Menschenbilder eine Bedeutung für das Ganze des menschlichen Lebens. Praktische sektorale Menschenbilder schlagen sich zwar – ähnlich wie lebensweltliche Menschenbilder – in der Wahrnehmung, im Denken, Fühlen und Handeln von Menschen nieder, allerdings nur in einem begrenzten Praxisbereich, d. h. einer Subsinnwelt. Sie stellen nicht den Anspruch auf Totalität, sind also bloße Typisierungen und keine Hyper-Typisierungen. So wäre es etwa möglich, dass eine Frau, sobald sie ihr Büro in einem börsennotierten Unternehmen betritt und in ihre Rolle als CEO dieses Unternehmens schlüpft, sich, ihre Mitarbeiter, ihre Konkurrenten und ihre Kunden als homines oeconomici, d. h. als nutzenkalkulierende Individuen betrachtet, die es mit Anreizen, d. h. mit der Aussicht auf Nutzen und Vgl. Singer, Wolf/Nida-Rümelin, Julian, Gespräch, in: Frankfurter Rundschau Magazin (3. 4. 2004), 4–5, Quelle: http://www.philosophie.uni-muenchen.de/lehrein heiten/philosophie_4/dokumente/jnr_singer.pdf [29. 5. 2015]; Singer, Wolf/Metzinger, Thomas, Ein Frontalangriff auf unser Selbstverständnis und unsere Menschenwürde, in: Gehirn & Geist 4 (2002), 32–35; ferner Singer, Wolf, Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt am Main 2003.

22

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Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

Schaden geschickt zu manövrieren gilt. Sobald sie jedoch in den direkten Kontakt mit ihren Mitmenschen tritt, sobald sie am Ende eines langen Arbeitstages erschöpft die Bürotüre hinter sich schließt und ihre Rolle der CEO wieder abstreift, legt sie (hoffentlich) auch die Perspektive ab, in der sie Menschen lediglich unter dem Aspekt ihrer Wirtschaftlichkeit betrachtet und eignet sich ein »ganzheitlicheres« Menschenbild an, von dem sie weiß, dass es das eigentlich richtige ist. Ihr Ehemann, ihre Kinder, Verwandte und Freunde würden es ihr danken. Ähnliches ist auch für die Chirurgin denkbar, die in dem Moment, wo sie im Operationssaal in ihre Chirurginnenrolle schlüpft, ihre Patientinnen und Patienten als komplizierte biologische Maschinen betrachtet. Sobald sie aber als Ärztin am Patientenbett in ein Gespräch mit ihren Patientinnen und Patienten eintritt, nimmt sie wieder eine lebensweltliche, »ganzheitliche« Sicht des Menschen an. Gelingt dieser Perspektivenwechsel nicht – der, wie die Diskussion um das Menschenbild in der Medizin zeigt, nicht ganz leicht sein dürfte – werden sich ihre Patientinnen und Patienten unverstanden und nicht ganz voll genommen fühlen; schließlich möchte niemand in einem Gespräch mit einer Ärztin oder einem Arzt auf eine biologische Maschine reduziert werden. Freilich ist es möglich, dass die Chirurgin oder auch die Unternehmenschefin aus voller Überzeugung die Ansicht vertreten, dass Menschen nichts anderes als komplizierte biologische Maschinen bzw. homines oeconomici sind. In diesem Fall hätten beide ihr praktisches sektorales Menschenbild auch zu ihrem lebensweltlichen Menschenbild gemacht. Abgesehen davon, dass sich die beiden den Vorwurf einhandeln würden, den Menschen zu einseitig zu betrachten, würde dies nichts daran ändern, dass grundsätzlich zwischen lebensweltlichen Menschenbildern, die den Anspruch stellen, für das Ganze der menschlichen Realität der letzte Maßstab zu sein, und zwischen Typisierungen des Menschen, die diesen Anspruch nicht stellen und lediglich für begrenzte Sektoren der Lebenswelt Gültigkeit beanspruchen, zu unterscheiden ist. Im Regelfall sind wir uns auch sehr wohl bewusst, dass eine für einen Sektor bzw. eine Subsinnwelt gültige Typisierung des Menschen eben nicht die letztlich gültige Typisierung ist. Im Regelfall haben wir wenig Schwierigkeiten, zwischen den Typisierungen hin- und herzuwechseln. Und im Regelfall wissen wir, dass wir, wenn wir den Menschen etwa als homo oeconomicus typisieren, eine verkürzte Sichtweise in Anschlag bringen, bei der wir nicht vergessen sollten, dass dahinter immer noch »echte Menschen mit ihren Sorgen, Ängsten und 170 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Menschenbilder als Hyper-Typisierungen

Nöten« stehen. Um dies zu wissen, greifen wir aber auf eine HyperTypisierung – unser lebensweltliches Menschenbild – zurück, mit dem wir alle anderen Typisierungen des Menschen korrigieren, relativieren und ins Verhältnis rücken.

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Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen

Menschenbilder sind, so das Ergebnis des letzten Kapitels, typisierende Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen, die den Anspruch auf lebensweltumfassende, höchste epistemische und moralische Geltung stellen. Mit dieser Erkenntnis haben wir einen ersten Schritt zur Erfassung des Phänomens lebensweltlicher Menschenbilder gemacht. Nun müssen weitere Schritte folgen: Es ist erstens zu untersuchen, welche lebensweltlichen Funktionen diese Bündel an Überzeugungen haben, zweitens, wie sich diese Bündel an Überzeugungen in die lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungssysteme einschreiben, und drittens, in welcher Form sie in der Lebenswelt gegeben sind. Es ist unvermeidlich, dass auch hier wieder die Frage auftaucht, die uns bereits zu Beginn des vorherigen Kapitels begegnet ist: die Frage nach der Pluralität der lebensweltlichen Menschenbilder. Schließlich ist davon auszugehen, dass Menschenbilder, die ein integraler Bestandteil des allgemeinen, kollektiv geteilten Wissensbestandes sind und an die alle Mitglieder einer Gesellschaft glauben, die Funktionen, die sie haben, anders ausfüllen, anders mit dem lebensweltlichen Wissensbestand verflochten sind und in anderer Form in der Lebenswelt gegeben sind als Menschenbilder, die nur von einzelnen Individuen oder nur von gesellschaftlichen Gruppen für wahr gehalten werden. So wird etwa das christliche Menschenbild einer homogenen christlichen Gesellschaft in die Kultur dieser Gesellschaft wesentlich tiefer eingebettet sein als das christliche Menschenbild einer Person in die Kultur einer pluralistischen, laizistisch organisierten Gesellschaft, der diese Person angehört. Nichtsdestotrotz sind in beiden Fällen die Menschenbilder in ein lebensweltliches Sinn- und Überzeugungssystem verflochten, sei es – wie im ersten Fall – direkt in den allgemeinen Sinn- und Überzeugungshorizont, sei es – wie im zweiten Fall – in eine individuelle oder gruppenspezifische Variante des allgemeinen Sinn- und Überzeugungshorizontes. Da uns im Au172 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Funktionen lebensweltlicher Menschenbilder

genblick interessiert, welche Funktionen Menschenbilder überhaupt erfüllen, wie diese Verflechtungen mit anderen Wissensbeständen überhaupt verfasst sind und wie Menschenbilder überhaupt gegeben sind, ist es an dieser Stelle unerheblich, ob die Überzeugungen über den Menschen nun Bestandteil des kollektiven Sinn- und Überzeugungshorizontes oder einer gruppenspezifischen oder gar individuellen Variante desselben sind. Die Frage nach der Pluralität der Menschenbilder und ihres Zusammenhangs mit dem allgemeinen Sinnund Überzeugungshorizont werden wir daher erneut aufschieben und uns für später aufbewahren. 1 Die lebensweltlichen Menschenbilder, die wir im Folgenden vor Augen haben, können also wie bisher sowohl einen integralen Bestandteil dieses allgemeinen Sinnhorizontes darstellen, als auch bloß einen Bestandteil einer mehr oder weniger ausgeprägten subjektiven Variante des allgemeinen Sinnsystems bilden.

Funktionen lebensweltlicher Menschenbilder Kommen wir zum ersten der weiteren Untersuchungsschritte: Die typisierenden Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen tragen wir nicht zum Spaß mit uns herum, sondern weil wir mit ihnen im Alltag etwas tun können; sie erfüllen gewisse lebensweltliche Funktionen, die im Folgenden beschrieben werden. Doch vorab ist es hilfreich, sich noch einmal vor Augen zu halten, wie Typisierungen funktionieren. Wie oben am Beispiel der Gestalt im Nebel dargestellt, führt die Identifikation eines Phänomens als Mensch dazu, dass ich dem Phänomen automatisch eine Reihe an Eigenschaften zuschreibe, die ich für typisch menschliche halte: Ich gehe davon aus, dass das Wesen über Bewusstsein, Rationalität, Sprachfähigkeit usw. verfügt. Ich gehe davon aus, dass es typisch menschliche Verhaltensweisen zeigen wird und auf typisch menschliche Art und Weise auf mich reagieren wird, usw. In dem Augenblick also, in dem wir einen Menschen wahrnehmen oder der Begriff »Mensch« in unserem Geist auftaucht, wird das Bündel an Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen aktiviert, das wir mit der begrifflichen Kategorie Mensch verbinden: die Hyper-Typisierung des Menschen, d. h. unser Menschenbild. Dies 1

Vgl. S. 222 ff.

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Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen

führt dazu, dass wir Menschen ganz automatisch jene wichtigen Eigenschaften zuschreiben. Wir gehen zunächst, d. h. bis auf Widerruf völlig selbstverständlich davon aus, dass der Mensch dem Bild, das wir vom Menschen haben, entspricht.

(1) Identifikation Bevor ich jedoch einem Phänomen die typischen menschlichen Eigenschaften zuschreiben kann, muss ich es zuerst als Mensch identifizieren. Dies geschieht nun ebenfalls mit Hilfe meines Menschenbildes. Denn Menschenbilder sind Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen, mit denen Menschen nicht nur beschrieben, sondern zugleich auch definiert werden. In Menschenbildern sind mithin die Kriterien festgelegt, anhand derer entschieden werden kann, ob es sich bei einem Phänomen überhaupt um einen Menschen handelt. Menschenbilder ermöglichen folglich die Identifikation eines Phänomens als Menschen. Wenn ich – um das obige Beispiel noch einmal aufzugreifen – im Nebel des Waldes eine Gestalt erblicke, werde ich anhand eines Sets von Kriterien, das mir mit meinem Menschenbild mitgegeben ist, herauszufinden versuchen, ob es sich bei dieser Gestalt um einen Menschen handelt: Hat die Gestalt menschliche Formen, zeigt sie menschliche Bewegungen, gibt sie menschliche Laute von sich usw.? Menschenbilder ermöglichen mir also, einen Menschen als Menschen zu erkennen: Ich weiß, wie Menschen aussehen, ich weiß, wie sie sich typischerweise verhalten, ich weiß, was Menschen von Tieren und Pflanzen und Maschinen usw. unterscheidet. Und nur weil ich all dies weiß, d. h. weil ich ein Bündel an Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen habe, kann ich einen Menschen im Normalfall relativ problemlos als Menschen erkennen und ihn von anderen Phänomenen wie etwa von Tieren, Pflanzen, Maschinen, Statuen und Schaufensterpuppen unterscheiden. Mein Menschenbild fungiert folglich tatsächlich wie eine Art von Bild, mit Hilfe dessen ich einen Abgleich zwischen dem in der Realität erfahrenen Phänomen und eben diesem Bild durchführen kann. Stelle ich eine grundlegende Übereinstimmung zwischen Bild und Realität fest, dann werde ich urteilen, dass es sich bei dem realen Phänomen um einen Menschen handelt. Dass es tatsächlich unsere Menschenbilder sind, anhand derer 174 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Funktionen lebensweltlicher Menschenbilder

wir Phänomene als Menschen identifizieren, wird durch einen Blick auf andersartige Menschenbilder noch deutlicher. Wenn das Menschenbild etwa die Annahmen enthält, dass Menschen Kleidung benützen, schamhaft sind und gekochtes Fleisch essen, dann werden – wie man insbesondere aus der Geschichte des Kolonialismus lernen muss – Menschen, die keine Kleidung benützen, die offensichtlich keine Scham empfinden und die rohes Fleisch verzehren, nicht als Menschen identifiziert. Wenn das Menschenbild die Annahme beinhaltet, dass nur weiße Menschen echte Menschen sind, dann werden farbige Menschen nicht als vollwertige Menschen wahrgenommen, wie die traurige Realität des Rassismus in Geschichte und Gegenwart belegt. Wenn das Menschenbild die Annahme beinhaltet, dass nur Männer vollwertige Menschen sind, werden Frauen nicht als vollwertige Menschen wahrgenommen, wie die lange Geschichte der Unterdrückung der Frau dokumentiert. All diese Beispiele zeigen, dass wir Phänomene anhand von Menschenbildern als Menschen identifizieren. Diese im Menschenbild mitgegebenen Kriterien der Identifikation sind freilich oft unscharf, dienen sie doch hauptsächlich dazu, im Alltag Menschen von anderen Phänomenen zu unterscheiden – also etwa den Menschen vom Bären, von einer Plastik, einer Schaufensterpuppe oder einem Roboter. Sie dienen weniger dazu, in selten anzutreffenden, unklaren Grenzfällen eine Zuordnung zu treffen. 2 Dies belegen die großen Unsicherheiten, mit denen etwa heute die Fragen nach dem Beginn und dem Ende des menschlichen Lebens behaftet sind. In diesen Grenzfällen lassen uns unsere Überzeugungen darüber, was nun ein Mensch ist, häufig im Stich. Natürlich gibt es Menschenbilder, die auch hier eine klare Identifikation erlauben. Das Menschenbild der katholischen Kirche etwa, das in den Debatten um den Beginn des menschlichen Lebens regelmäßig ins Spiel gebracht wird, definiert ganz klar, dass der Mensch ab dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zu existieren beginnt. Doch unabhängig davon, in welchem Maße bestimmte Menschenbilder nun eine klare Entscheidung in derartigen Grenzfällen zulassen oder nicht: Lebensweltliche Menschenbilder dienen in erster Linie dazu, im Alltag Phänomene als Menschen zu identifizieren. Dies geschieht, wie weiter Unklare Grenzfälle, die sogenannten marginal cases spielen vor allem in der Tierrechtsdebatte eine wichtige Rolle; vgl. Dombrowski, Daniel, Babies and Beasts: The Argument from Marginal Cases, Urbana 1997.

2

175 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen

oben bereits beschrieben, in der Regel völlig automatisch, selbstverständlich und oft genug gleichsam unter der Hand. Ich identifiziere jemanden häufig als jemanden bestimmten – als Kontrolleurin des öffentlichen Busses, mit dem ich täglich zur Arbeit fahre, als Schuhverkäufer usw. – und habe sie oder ihn damit zugleich schon als Menschen identifiziert. Ich muss das Wesen deswegen notwendigerweise schon als Mensch identifiziert haben, weil es mir sonst gar nicht möglich wäre, das Wesen als Kontrolleurin usw. zu identifizieren. Die Identifikation eines Menschen als Vertreter eines bestimmten menschlichen Typus setzt voraus, dass ich sie oder ihn zuvor bereits als Menschen identifiziert habe, auf die oder den diese konkreteren Typisierungen dann überhaupt zutreffen.

(2) Welterschließung Unsere Menschenbilder stellen uns, so lässt sich dieser Punkt zusammenfassen, Kriterien zur Verfügung, anhand derer wir Phänomene als Menschen erkennen können: Menschenbilder dienen folglich der Identifikation des Menschen. Indem sie dies tun, haben Menschenbilder eine welterschließende Funktion: sie machen den Referenten Mensch nämlich allererst zugänglich. 3 Dies in einer doppelten Weise: Erstens erschließt mir mein Menschenbild konkrete menschliche Individuen, ermöglicht es mir doch, ein Phänomen überhaupt als einen Menschen zu identifizieren. Ohne ein Menschenbild, ohne bestimmte Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen, die mir die Identifikation eines konkreten Phänomens ermöglichen, würde ich einen Menschen nicht als Menschen erkennen können. Zweitens aber erschließt mir das Menschenbild die konkreten Individuen eben als Exemplare eines übergeordneten allgemeinen Typus. Damit erschließt es mir die menschlichen Individuen als Entitäten, denen ich qua Typuszugehörigkeit bestimmte Eigenschaften zuschreibe. Indem ich jemanden als Menschen identifiziere, weiß ich von ihr oder ihm auch schon alles, was ich über den Typus Menschen, den Menschen im Allgemeinen weiß. So kommt es, dass ich dem Phänomen, das ich als Mensch identifiziert habe, automatisch eine ganze Reihe an Eigenschaften zuspreche. Damit aber ist mir das Phänomen nicht mehr völlig unbekannt, im Gegenteil, ich weiß ganz grundsätzlich, wie es sich 3

Vgl. Gutmann/Rathgeber, Sind Menschenbilder Bilder?, 46.

176 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Funktionen lebensweltlicher Menschenbilder

mit ihm verhält; es ist mir auf grundlegende Art und Weise erschlossen.

(3) Stiftung von Ordnung und Zusammenhang Dazu gehört auch zentral, wie weiter unten noch deutlich werden wird, dass ich dem Phänomen einen bestimmten Ort im Universum der Dinge, eine bestimmte »Stellung im Kosmos« zuschreibe. 4 Ich weiß beispielsweise, dass es moralisch wertvoller als die meisten anderen Dinge ist, ich weiß, dass es mächtiger als viele Dinge ist, vielleicht bin ich sogar – weil ich Christ bin – der Überzeugung, dass der Mensch die »Krone der Schöpfung« ist usw. Dies verweist auf eine weitere Funktion von Menschenbildern: Wie jede Kategorisierung schaffen Menschenbilder Ordnung und stiften Zusammenhänge. So ermöglichen Menschenbilder die Zuordnung individueller Phänomene (Menschen) und bestimmter Gruppen von Phänomenen (Onkeln, Tanten, Busfahrer usw.) zu einer bestimmten übergeordneten Klasse von Phänomenen (Mensch). Zudem ermöglichen sie, diese Klasse von Phänomenen von allen anderen Klassen von Phänomenen (z. B. Tieren, Maschinen, Pflanzen, usw.) zu unterscheiden und sie gleichzeitig in Beziehung zu ihnen zu setzen. Das Menschenbild ordnet dem Menschen mithin einen klaren Platz innerhalb des Gefüges der Dinge der Welt als ganzer zu.

(4) Komplexitätsreduktion Die Stiftung von Ordnung und Zusammenhang geht Hand in Hand mit einer weiteren Funktion: Wenn wir mithilfe unseres Menschenbildes ein Phänomen als Menschen identifizieren, dann ordnen wir ein individuelles Phänomen einem allgemeinen, abstrakten Typus unter. Denn die Überzeugungen über den Menschen, die sich in Menschenbildern bündeln, sind allgemeiner und abstrakter Natur, es sind Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen. Nur deswegen können sie auch den Anspruch stellen, auf alle Menschen gleichermaßen zuzutreffen. Indem wir individuelle Phänomene dem abstrakten Typus Mensch unterordnen, reduzieren 4

Vgl. S. 306 ff.

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Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen

wir – so wie wir es mit all unseren allgemeinen begrifflichen Kategorien tun – die Komplexität der Wirklichkeit. Dies in zweifacher Weise: Zum Ersten bringen Menschenbilder die Myriaden an menschlichen Individuen, die es gab, gibt und geben wird, auf einen abstrakten Typus, und zum Zweiten reduzieren Menschenbilder die unendlich vielen individuellen Eigenheiten, ihre mannigfaltigen unterschiedlichen Fähigkeiten, Charaktereigenschaften, Präferenzen, Lebensgeschichten usw. sowie das reichhaltige Verhaltensrepertoire der Menschen auf einige grundlegende allgemeine Aspekte. So wird etwa von individuellen und situationsbedingten Handlungsanreizen abgesehen und menschliches Verhalten auf einige abstrakte allgemeinmenschliche Handlungsmotivationen wie z. B. Rationalität und Egoismus zurückgeführt. Dies bedeutet aber auch »[…] Unbestimmtheiten, Unsicherheiten, Widersprüche und Paradoxien sowie zugrunde liegende Kontingenzen […] zu verschleiern.« 5 Menschenbilder bieten folglich grobe Schablonen und Deutungsmuster, mit deren Hilfe wir Menschen einordnen. Dadurch erlauben uns Menschenbilder, (a) die unendlich vielen menschlichen Individuen ganz grundsätzlich in einer Einheit zu fassen; Menschenbilder machen uns den Menschen als einigermaßen qualifizierte Größe denkbar. Sie ermöglichen uns, (b) mit uns unbekannten Menschen zu interagieren, weil wir ein grundsätzliches Wissen darüber haben, wie sie sind und wie sie sich verhalten werden. Wenn ich beispielsweise die Gestalt im Wald als Menschen identifiziere, eröffnet mir dies eine Reihe an Handlungsoptionen – grüßen und ansprechen, usw. –, während es andere Handlungsoptionen ausschließt – etwa das Wesen einfach wie einen Bären zu erschießen. Damit hängt zusammen, dass unsere Überzeugungen über den Menschen diesen grundsätzlich kalkulierbar machen. Ich weiß, wie sich Menschen im Allgemeinen verhalten und wie ich mich ihnen gegenüber im Allgemeinen zu verhalten habe. So gehe ich etwa davon aus, dass sich Menschen in der Regel rational verhalten, dass sie Gründe dafür haben, warum sie so handeln, wie sie handeln, und dass mir diese Gründe grundsätzlich auch einsehbar sind usw. Schließlich (c) ermöglichen uns unsere Menschenbilder, mit mehreren Interaktionspartnern zugleich zu interagieren, weil wir von den vielfältigen Differenzen zwischen den Interaktionsteilnehmern einfach absehen und sie auf einen grundlegenden geSchultz, Friederike, Menschenbilder in der Organisationskommunikation, in: Rollka/Schultz, Kommunikationsinstrument Menschenbild, 73–118, hier 85.

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Funktionen lebensweltlicher Menschenbilder

meinsamen Nenner bringen können. Wenn ich mir etwa meine Gitarre schnappe und mich auf den Hauptplatz einer mir fremden Stadt stelle, um mich dort als Straßenmusikant zu betätigen, so gehe ich davon aus, dass meine Darbietung sicherlich einigen der Passanten missfallen, aber anderen auch Freude machen wird – so viel Freude, dass sie mir die eine oder andere Geldmünze in meinen aufgeklappten Gitarrenkoffer werfen. Auf jeden Fall aber unterstelle ich den mir allesamt unbekannten Menschen, dass sie sich im Großen und Ganzen rational verhalten werden. Keine und keiner von ihnen wird mich aus Ärger beißen, niemand wird mich erschlagen, niemand wird sich nackt ausziehen und zu meinen Klängen tanzen und so die Sittenpolizei auf den Plan rufen. Würde ich davon ausgehen, dass sich Menschen so verhalten, hätte ich meine Gitarre zu Hause gelassen. Ich betätige mich folglich unter anderem deswegen als Straßenmusikant, weil ich ein Menschenbild habe, das mir sagt, dass sich Menschen im Großen und Ganzen rational verhalten und mir als Straßenmusikant mehr oder weniger freundlich gegenübertreten werden. Freilich spielen in all diesen Zusammenhängen spezifischere Typisierungen, die mir das Verhalten meiner Interaktionspartner präziser erschließen, viel häufiger eine Rolle. Wenn ich die Gestalt im Wald als Förster identifiziere, hilft mir das in der Abstimmung meines Verhaltens mehr, als wenn ich sie nur als Mensch typisiere. Wenn ich bei einem Vortrag mein Publikum als »interessierte Laien« typisiere, fällt die Interaktion mit ihm leichter, als wenn ich meine Zuhörer einfach nur als Menschen erfassen würde. Wenn ich davon ausgehe, dass die Passanten in der Stadt überwiegend »freigiebige Musikbegeisterte« sind, werde ich die Stadt eher als lohnendes Reiseziel ins Auge fassen, als wenn ich sie als bloße »Menschen« typisiere. Unabhängig davon aber gilt: Menschenbilder dienen, wie alle unsere allgemeinen Konzepte und Typisierungen, der Reduktion von Komplexität.

(5) Erklärung Menschenbilder dienen also der Identifikation von Phänomenen als Menschen und damit gleichzeitig der Erschließung des Phänomens »Mensch«, sie dienen der Herstellung von Ordnung und Zusammenhang und der Reduktion von Komplexität. Die Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen 179 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen

dienen darüber hinaus aber auch der Erklärung von Phänomenen. Mein Menschenbild hilft mir ja nicht nur, die Gestalt im Nebel des Waldes als Menschen zu identifizieren, sondern sie sagt mir zugleich auch, dass sich die Gestalt im Nebel so verhält, wie sie sich verhält, also etwa aufrecht geht, spricht usw., weil sie ein Mensch ist. Mein Menschenbild beinhaltet die Überzeugung, dass es für Menschen typisch ist, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen also z. B. aufrecht zu gehen und zu sprechen. Wenn die Gestalt im Nebel dieses Verhalten zeigt, dann verhält sie sich daher genau so, wie es für Menschen typisch ist. Ihr Verhalten erklärt sich folglich daraus, dass sie ein Mensch ist (und ich eben überzeugt davon bin, dass es für Menschen typisch ist, dieses Verhalten zu zeigen). Hier greift ein bekanntes Muster für Erklärungen: Ein Phänomen ist dann erklärt, wenn wir es auf etwas uns Bekanntes zurückführen können. Wenn ich die Gestalt im Nebel als einen Menschen identifizieren kann, dann ist es mir gelungen, ein Phänomen auf ein mir bekanntes Konzept – den Typus »Mensch« – zurückzuführen. Und aus der Typuszugehörigkeit lässt sich dann wiederum erklären, warum das Phänomen so ist, wie es ist. An zwei weiteren Beispielen sei dies noch verdeutlicht: Stellen wir uns vor, ich gehe auf einer Straße und mir begegnet ein Hund, der vor mir stehen bleibt und mich nach dem Weg fragt. Abgesehen davon, dass mir der sprechende Hund einen riesigen Schrecken einjagen würde, würde er vermutlich mein ganzes Weltbild auf den Kopf stellen, da in ihm kein Platz für sprechende Hunde ist. Umso erleichterter würde ich sein, wenn ich bei genauerem Hinsehen feststellen könnte, dass es sich bei dem Hund um einen raffiniert verkleideten Menschen handelt, der auf dem Weg zu einer Karnevalsveranstaltung ist. Dass Menschen sprechen und einen auf der Straße manchmal nach dem Weg fragen, ist ein für Menschen normales Verhalten. Der verkleidete Mensch taugt als beruhigende Erklärung für das Sprechen des Hundes allerdings nur deswegen, weil ich der Überzeugung bin, dass das Sprechen ein für Menschen typisches bzw. normales Verhalten ist. Es ist folglich mein Bild des Menschen (das die Überzeugung beinhaltet, dass Menschen typischerweise sprechen), das als Erklärung fungiert. Dieselbe Struktur der Erklärung liegt hier vor: Wenn wir uns wieder einmal über das Maß der Korruption in unserer politischen Klasse und generell über die moralische Verkommenheit der Welt ärgern, können wir uns diese unerfreuliche Tatsache dadurch erklären, dass der Mensch ein im Grunde seinen Herzens böses, egoistisches Wesen ist. In diesem Falle erklären wir also den moralisch 180 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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beklagenswerten Zustand der Welt durch die moralisch defiziente Natur des Menschen: Es ist typisch bzw. normal für den Menschen, egoistisch und böse zu sein. Und weil der Mensch von Natur aus egoistisch und böse ist, ist die Welt auch in dem beklagenswerten Zustand, über den wir uns echauffieren. In beiden Fällen – dem des Hundes und dem des Weltzustandes – dient »der Mensch« als Erklärung. Als Erklärung kann er aber nur deswegen funktionieren, weil wir Überzeugungen darüber haben, was typisch menschliche Eigenschaften – etwa die Fähigkeit, zu sprechen, Egoismus und Bosheit – sind. Es sind unsere Überzeugungen über die Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen, aufgrund derer der Typus »Mensch« in diesen – und vielen anderen – Fällen als Erklärung fungieren kann. Menschenbilder können also deswegen als Erklärung dienen, weil in ihnen festgelegt ist, was typisches menschliches Verhalten ist. Sie erklären, indem sie Phänomene als normal, alltäglich, üblich, als in der Faktizität bzw. der Natur des Menschen verankert erscheinen lassen. Die Erklärung lautet: Der Mensch ist so, wie er ist, weil er eben (typischerweise, von Natur aus) so ist. Darüber hinaus bieten Menschenbilder aber auch übergeordnete Erklärungen an, warum der Mensch so ist, wie er ist; sie liefern Erklärungen für die Faktizität des Menschen. So liefern uns Menschenbilder beispielsweise in der Regel übergeordnete Erklärungen dafür, warum der Mensch böse ist. Dem christlichen Menschenbild zufolge ist der Mensch etwa deswegen böse, weil er sich in einem Akt des Ungehorsams und der freien Entscheidung selbst überhöht und von Gott abgewendet hat und seither den Makel der Erbsünde an sich trägt. Biologistische Menschenbilder erzählen uns, dass Egoismus und Aggressivität evolutionär bedingt sind und notwendig aus dem Prozess der Mutation und Selektion hervorgegangen sind. Romantische und marxistische Menschenbilder wiederum erklären uns, dass das Böse des Menschen eine Folge der Entfremdung von der ursprünglichen Natur des Menschen ist. Mit all diesen Erklärungen wird der Mensch gleichsam in einen größeren, übergreifenden Zusammenhang gestellt, aus dem heraus sich die Art und Weise, wie der Mensch ist, erklärt. Die Faktizität des Menschen, sein So-Sein, d. h. sein typisches Verhalten, seine Natur, leitet sich aus der Faktizität der Welt bzw. dem So-Sein des Ganzen ab. Nichts anderes bedeutet es, wenn der Mensch im Christentum als ein Geschöpf Gottes dargestellt wird: Gott – der Inbegriff des Ganzen – hat den Menschen so geschaffen, wie er ist, und er hat die Rahmenbedingungen de181 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen

finiert, unter denen der Mensch existiert. Daher ist der Mensch so, wie er ist. Menschenbilder fungieren demnach auf eine doppelte Weise als Erklärung: Zum einen erklären sie dadurch, dass sie bestimmte Eigenschaften des Menschen im kruden So-Sein bzw. in der Natur des Menschen verankern (z. B.: der Mensch ist von Natur aus egoistisch), und zum anderen erklären sie dadurch, dass sie weitergehende Erklärungen dafür geben, weswegen diese Eigenschaften im Sein des Menschen verankert sind (z. B.: der menschliche Egoismus ist evolutionär bedingt). Indem Menschenbilder diese übergeordneten Erklärungen anbieten, leisten sie ein Zweifaches: Erstens lassen sie das So-Sein des Menschen als eine Notwendigkeit erscheinen. Dass der Mensch so ist, wie er ist – so sagen uns die Menschenbilder –, ist kein Zufall, sondern liegt in tieferen Zusammenhängen, ja letztlich in der Struktur der Welt als Ganzer begründet. Dies gilt im Übrigen auch noch für diejenigen Menschenbilder, denen zufolge der Mensch das Produkt des zufälligen Spiels von Mutation und Selektion ist. In diesem Spiel mag der Zufall seinen Platz haben, aber das Spiel selbst läuft mit naturgesetzlicher Notwendigkeit ab: Der Fittere setzt sich durch. Wer oder was der Fittere ist, das bleibt dem Zufall überlassen, aber dass es der Fittere bzw. der besser Angepasste ist, der überlebt, ist ein Gesetz der Notwendigkeit. Menschenbilder erklären also, warum der Mensch so ist, wie er ist, und damit sagen sie, dass der Mensch eben (a) nicht zufällig so ist, wie er ist, und (b) auch gar nicht anders sein kann, als so, wie er ist. Indem Menschenbilder aber erklären, dass und warum der Mensch so ist, wie er ist, begründen sie zweitens auch, warum es richtig ist, zu glauben, dass der Mensch eben so ist. Durch die weitergehenden Erklärungen legitimieren sich Menschenbilder mithin selbst. Eine bestimmte Auffassung vom Menschen wird dadurch legitimiert, dass sie in ein übergeordnetes Sinnganzes – die Auffassung von der Welt als Ganzer – eingebettet wird. 6

(6) Stabilisierung und Kontingenzbewältigung Diese Legitimierung dient nun ihrerseits der Stabilisierung und Kontingenzbewältigung. Sie dient der Stabilisierung, weil dadurch eine In Bezug auf dieses Sinnganze sprechen Berger und Luckmann von symbolischer Sinnwelt; vgl. Berger/Luckmann, Konstruktion, 102 f.

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Funktionen lebensweltlicher Menschenbilder

bestimmte Auffassung des Menschen als nicht weiter hinterfragbar, als wahr, richtig und notwendig dargestellt wird. Und dies wiederum dient der Kontingenzbewältigung, weil damit die Kontingenz der Auffassungen vom Menschen ausgeblendet wird. 7 Menschenbilder sind ja in realiter nicht notwendig, sie könnten auch völlig anders sein. Wir könnten den Menschen völlig anders auffassen und erklären. Dies wird nicht zuletzt durch das Faktum der Vielzahl sehr unterschiedlicher Menschenbilder klar dokumentiert. Diese Kontingenz ist allerdings bedrohlich: Wenn ich erlebe, dass meine Auffassung vom Menschen tatsächlich willkürlich ist und völlig anders sein könnte, erschüttert dies auch die reduzierte Komplexität und mithin die Ordnung, den Zusammenhang und die Berechenbarkeit, die durch mein Menschenbild gestiftet wird. Indem sich mein Menschenbild auf einer übergeordneten Ebene legitimiert und sich dadurch als die richtige und notwendige Auffassung vom Menschen inszeniert, wird diese Gefahr zu bannen versucht. In pluralistischen Gesellschaften, in denen unterschiedliche Menschenbilder aufeinanderprallen, sind Kontingenzerfahrungen wahrscheinlicher geworden. Abgeschwächt werden sie durch die übergeordnete Erklärung, dass Menschenbilder wenigstens zum Teil Glaubenssache, d. h. nicht Gegenstand des allgemeinen, verbindlichen Wissens sind, sondern Gegenstand privater Präferenzen, die keiner öffentlichen Legitimation bedürfen.

(7) Interpretation Menschenbilder dienen uns auch zur Interpretation menschlichen Verhaltens. Meine Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Für Niklas Luhmann ist die Kontingenz überhaupt der Grund dafür, weswegen sich soziale Systeme und – damit Hand in Hand – Sinnsysteme herausbilden. Luhmann definiert Kontingenz im Anschluss an Aristoteles folgendermaßen: »Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.« Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 41991, 152. Zur Kontingenzbewältigung vgl. ferner Lübbe, Hermann, Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung, in: Graevenitz, Gerhart von/Marquard, Odo (Hg.), Kontingenz, München 1998, 35–47. Zum Begriff der Kontingenz vgl. Vogt, Peter, Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte, Berlin 2011.

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Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen

Menschen im Allgemeinen werfen ein bestimmtes Licht auf all das, was ich an mir und meinen Mitmenschen wahrnehme. Wenn ich etwa davon überzeugt bin, dass Menschen im Kern ihres Wesens egoistisch sind und prinzipiell ihren eigenen Vorteil im Auge haben, dann werde ich dazu tendieren, egoistisches Verhalten als natürlich und authentisch, altruistisch erscheinendes Verhalten dagegen als unnatürlich und sogar als heuchlerisch wahrzunehmen. Ich werde altruistische Regungen bei mir und anderen als verkappte Egoismen zu deuten wissen. Wenn ich etwa jemanden dabei beobachte, wie er einem Bettler Geld gibt, werde ich ihm dann möglicherweise unterstellen, dass er damit nur sein schlechtes Gewissen beruhigen will, das ihm von der Gesellschaft anerzogen wurde, oder dass er dies nur macht, weil er sich von anderen beobachtet weiß, in deren Augen er als großzügig und mildtätig gelten will. Ich werde ihm seine augenscheinlich altruistischen Motive nicht abnehmen. Wenn ich hingegen der Überzeugung bin, dass Menschen in ihrem Kern gut und altruistisch veranlagt sind, werde ich altruistische Motive und Handlungen für echt halten, und egoistische Regungen gesellschaftlichen Missständen, einer unglücklich verlaufenen Kindheit, einer ungünstigen Sozialisation oder anderen äußeren Einflüssen zuschreiben. Und wenn jemand, der für seinen Egoismus bekannt ist, dennoch mildtätig ist, werde ich geneigt sein, diese Mildtätigkeit einem »im Grunde guten Kern« zuzurechnen. Menschenbilder fungieren folglich als Interpretamente, als Interpretamente freilich, die wir nicht bewusst, sondern meistens unbewusst und automatisch in Anschlag bringen. Ein Menschenbild wirkt wie eine nicht wahrnehmbare Folie, durch die hindurch wir die Menschen betrachten und die manche Aspekte heraushebt und schärfer kontrastiert, während sie gleichzeitig andere Aspekte weichzeichnet oder ganz überdeckt. Wenn ich davon überzeugt bin, dass Menschen im Kern egoistisch sind, werde ich das Verhalten meiner Mitmenschen spontan als egoistisch wahrnehmen; es ist nicht so, dass ich zuerst ihr Verhalten wahrnehme und es dann, nachträglich, als egoistisch deute, sondern ich nehme das Verhalten von Beginn an als egoistisch wahr. Mein Menschenbild prägt sich meiner Wahrnehmung fundamental auf und lenkt sie auf seinen Bahnen.

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Funktionen lebensweltlicher Menschenbilder

(8) Legitimation Unsere Überzeugungen über den Menschen dienen aber nicht nur dazu, menschliches Verhalten zu erklären und zu interpretieren, sondern auch dazu, andere Überzeugungen und die mit ihnen in Verbindung stehenden Normen, Institutionen, Praktiken und Handlungen zu legitimieren. Besonders deutlich wird dies im Bereich der Moral. Die Frage, was wir als moralisch richtig und falsch ansehen, hängt wesentlich davon ab, was wir vom Menschen glauben. Wenn wir beispielsweise der Ansicht sind, dass alle Menschen – unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, sexueller Orientierung, Religionszugehörigkeit usw. – grundsätzlich den gleichen moralischen Status haben, werden wir Praktiken wie Sklaverei, Rassismus und sexuelle Unterdrückung als unmoralisch ansehen, sind wir hingegen der Ansicht, dass Menschen nicht den gleichen moralischen Status haben, sondern nach Geschlecht, Hautfarbe, Rassenmerkmalen, Religionszugehörigkeit, Intelligenz usw. moralisch differenziert werden müssen, werden wir die grundsätzliche Gleichbehandlung von Menschen als moralisch falsch ansehen. Wenn wir – wie etwa Aristoteles, der damit einen ideologischen Grundstein für die Legitimation der Sklaverei formuliert hat – ein Menschenbild vertreten, in dem die Überzeugung vorkommt, dass es Menschen gibt, die von Natur aus Sklaven sind, so werden wir die Versklavung dieser Menschen für grundsätzlich moralisch richtig erachten. 8 Sind wir der Ansicht, dass Menschen von Dämonen oder Teufeln besessen sein können, werden wir die Praktiken der Dämonenaustreibungen und Hexenverbrennungen für grundsätzlich legitim und dann und wann auch notwendig betrachten, halten wir es hingegen für ausgeschlossen, dann werden wir Hexenverbrennungen und dergleichen als moralisches Übel verurteilen. Wenn wir der Ansicht sind, dass Menschen durch manche Aristoteles war der Ansicht, dass es Menschen gibt, die von Natur aus einen Mangel an Vernunft haben. Diese sind »belebtes Stück Besitz« und dazu bestimmt, jemand anderem als »Werkzeug« (Aristoteles, Politik I.5 1253b) zu dienen. »Wer von Natur aus nicht sich selbst, sondern als Mensch einem anderen gehört, ist von Natur Sklave.« (I.5 1254a) »Denn von Natur ist derjenige Sklave, der einem anderen gehören kann – deswegen gehört er ja auch einem anderen – und der in dem Maße an der Vernunft Anteil hat, daß er sie vernimmt, aber sie nicht (als ihn leitendes Vermögen) besitzt […]« (I.5 1254b) Ferner: »Soviel ist nun klar: Für einige gilt, daß sie von Natur entweder frei oder Sklaven sind, und für diese ist es vorteilhaft und gerecht, als Sklaven zu dienen« (I.5 1255a); Aristoteles, Politik, übers. v. Eckart Schütrumpf, Hamburg 2012, 9 ff.

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Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen

ihrer Untaten ihre Würde und ihr Recht auf Leben verwirken können, werden wir die Todesstrafe für grundsätzlich legitim erachten, sind wir hingegen der Ansicht, dass Menschen im Besitz einer unverlierbaren Würde und eines unverlierbaren Rechtes auf Leben sind, dann werden wir die Todesstrafe als prinzipiell illegitim betrachten. Es sind folglich unsere Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen, die die Basis unserer moralischen Überzeugungen bilden. Unsere moralischen Überzeugungen werden durch ein Menschenbild legitimiert. Ebenso eng wie der Zusammenhang zwischen anthropologischen und moralischen Überzeugungen ist derjenige zwischen anthropologischen und pädagogischen Überzeugungen. Je nachdem, ob ich den Menschen etwa für ein grundsätzlich gutes, einzigartiges, zu Freiheit und Selbstbestimmung berufenes Wesen halte oder aber der Ansicht bin, dass der Mensch ein im Kern egoistisch veranlagtes Individuum ist, dass sich nahtlos in die Gesellschaft einzufügen hat, werde ich andere pädagogische Konzepte für richtig halten. Das eine Mal werde ich – angelehnt an humanistisch-aufklärerisches Gedankengut – die Erziehung zum kritischen, autonomen Geist, der die in jedem Menschen schlummernden, einzigartigen Anlagen zur Entfaltung bringen soll, fördern, das andere Mal werde ich vielleicht – analog zur sogenannten »Schwarzen Pädagogik« – eine Erziehung für richtig halten, die darauf abzielt, den natürlichen egoistischen, gemeinschaftszersetzenden Willen des Einzelnen unter Umständen sogar mit Gewalt zu brechen, um ihn als ein das Gemeinwohl über sein Individualwohl stellendes Mitglied in das Ganze der Gesellschaft einzugliedern. 9 Nicht weniger klar weisen Menschenbilder enge Verflechtungen mit politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen auf. Wenn ich etwa der Ansicht bin, dass Menschen grundsätzlich gleich sind, werde ich weder eine rassistisch noch eine stark ständisch organisierte Gesellschaft gutheißen können. Bin ich der Ansicht, dass alle Menschen die grundsätzliche Fähigkeit zu Freiheit, Selbstbestimmung und Vernunft haben, dann werde ich ein demokratisches System für das richtige halten, bin ich hingegen der Überzeugung, dass Menschen nicht

Zur Schwarzen Pädagogik vgl. Rutschky, Katharina (Hg.), Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Berlin 21997; Miller, Alice, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt am Main 261983.

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Funktionen lebensweltlicher Menschenbilder

fähig sind, mit Freiheit umzugehen, werde ich Sympathien für autoritäre politische Systeme, in denen die Massen von einer starken Hand gelenkt werden, zu erkennen geben. Wenn ich der Überzeugung bin, dass Menschen grundsätzlich Herren ihrer Selbst, die Schmiede ihres Glückes und mithin für ihr Leben selbst verantwortlich sind bzw. sein sollten, werde ich verpflichtenden sozialstaatlichen Sicherungssystemen skeptisch gegenüberstehen, da ich diese als tendenziell entmündigend ansehen werde. Bin ich hingegen der Auffassung, dass der Freiheitsspielraum von Menschen klein ist, da Menschen auch das Produkt äußerer – genetischer, gesellschaftlicher, anderer kontingenter – Einflüsse sind, werde ich sozialstaatliche Sicherungssysteme für richtig halten. Denn schließlich ist dann das Elend, in das jemand gerät, nicht ausschließlich die Folge selbstbestimmter und voll zu verantwortender Entscheidungen, und der Erfolg, der einigen vergönnt ist, nicht das wohlverdiente Ergebnis der eigenen Anstrengungen, sondern – zumindest zum Teil – unverdientes Glück, das einem eigentlich nicht zusteht und das daher mit denjenigen, die weniger Glück haben, zu teilen ist.

(9) Orientierung All diese Beispiele machen eines deutlich: Unsere Überzeugungen über den Menschen fungieren als legitimatorische Basis unserer moralischen, pädagogischen, politischen usw. Überzeugungen und der darauf aufbauenden Handlungen, sozialen Ordnungen, Institutionen, Praktiken usw. Doch unsere Menschenbilder legitimieren all dies nicht nur, sie haben – dies wird an diesen Beispielen ebenfalls deutlich – auch eine Orientierungsfunktion. Dies auf dreifache Art und Weise: Unsere Menschenbilder informieren uns erstens darüber, wie Menschen faktisch bzw. typischerweise sind: sie beinhalten ein Realbild des Menschen. Dieses ist insofern orientierend, als es das Maß der Normalität definiert, an dem wir unser eigenes und das Verhalten unserer Mitmenschen messen. Wenn ich etwa der Überzeugung bin, dass Menschen im Kern homines oeconomici, also egoistisch motivierte, rationale Nutzenmaximierer sind, dann werde ich es für selbstverständlich erarchten, dass sich Menschen auf egoistische Art und Weise nutzenmaximierend verhalten, und ich werde nichts dabei finden, selbst egoistisch zu sein und rational nach der Maximierung meines Nutzens zu streben. Menschen, die ihre egoistischen Stre187 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen

bungen unterdrücken, werden mir hingegen seltsam bzw. nicht normal vorkommen. Zweitens orientieren uns Menschenbilder durch präskriptive Überzeugungen darüber, wie Menschen sein sollen. Menschenbilder kombinieren ja – darauf wurde weiter oben schon hingewiesen – in der Regel ein Real- mit einem Idealbild des Menschen. Dabei sind zweierlei Arten von präskriptiven Überzeugungen zu unterscheiden: Überzeugungen darüber, wie Menschen realistischerweise sein sollen, und Überzeugungen darüber, wie Menschen idealerweise sein sollten. Die ersteren Überzeugungen bilden ein realistisches Idealbild des Menschen, und stellen die zweite Art dar, wie Menschenbilder orientierend wirken. So könnte ich beispielsweise einerseits (a) der Überzeugung sein, dass Menschen im Kern egoistisch sind und sich normalerweise auch egoistisch verhalten (das ist mein Realbild des Menschen), andererseits aber der Überzeugung sein, dass Menschen sich eigentlich weniger egoistisch verhalten könnten und sich darum auch bemühen sollten, altruistischer zu sein (dies wäre dann mein realistisches Idealbild). Das Kennzeichen dieser Art präskriptiver anthropologischer Überzeugungen ist, dass sie für realisierbar gehalten werden; sie liegen im Bereich dessen, was Menschen erreichen können. Aus diesem Grund stellen sie eine moralische Verpflichtung dar. Manche Menschenbilder beinhalten darüber hinaus jedoch auch noch – und dies ist die dritte Art und Weise, wie Menschenbilder orientierend wirken – eine utopische Ideal- oder Zielvorstellung vom Menschen, d. h. Überzeugungen darüber, wie der Mensch unter vollkommen idealen Bedingungen wäre; dies ist das utopische Idealbild des Menschen. So könnte ich etwa der Überzeugung sein, dass Menschen faktisch egoistisch sind (Realbild), weniger egoistisch sein sollten, d. h. ihre egoistischen Regungen unterdrücken sollten (realistisches Idealbild), im Idealfall aber überhaupt keine egoistischen Regungen mehr verspüren würden (utopisches Idealbild). Viele Menschenbilder umfassen ein solch utopisches Idealbild: Das Ideal des Christentums etwa stellt der durch Gottes Gnade den Versuchungen des Bösen standhaft sich widersetzende, ein gottgefälliges Leben führende Heilige dar, das Ideal des Marxismus der der Entfremdung enthobene Mensch der klassenlosen Gesellschaft, das Ideal des Buddhismus der seiner vollkommenen Nichtigkeit bewusstgewordene Erleuchtete, das Ideal des Humanismus der all seine Anlagen gleichmäßig entfaltende und zur Blüte bringende homo universalis usw. Das Kennzeichen dieser utopischen Überzeugungen über den Menschen ist, dass bei 188 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Funktionen lebensweltlicher Menschenbilder

ihnen klar ist, dass sie utopisch sind. Für den Normalmenschen bleiben sie eine unerreichbare Zielvorstellung, die zwar leitend ist und an die man sich annähern kann, die man aber im Grunde nicht verwirklichen kann. Sie stellt daher – gemäß dem Grundsatz ultra posse nemo obligatur – keine moralische Verpflichtung dar, sondern ein Supererogativum. Realisiert wird sie, wenn überhaupt, höchstens von herausragenden Individuen – den Heiligen, den Erleuchteten, den Genies usw. Menschenbilder enthalten also – allerdings in der Regel auf vertrackte Art und Weise miteinander verbundene – Überzeugungen darüber, wie wir faktisch sind, wie wir sein sollten und wie wir unter idealen Bedingungen sein könnten. In allen diesen drei Dimensionen dienen uns Menschenbilder als Orientierung: als Ab- und Vorbilder der Normalität sowie der realistischen und utopischen Idealität.

(10) Identitätsstiftung In einer Untersuchung der Funktionen, die lebensweltliche Menschenbilder im Alltag haben, ist schließlich auch anzuführen, dass wir durch Menschenbilder unsere Identität bestimmen. Menschenbilder sagen uns ja nicht nur, wer oder was der Mensch ist, sondern dadurch zugleich auch, wer oder was wir selbst als Menschen sind. Menschenbilder werden damit zu einem Faktor in der Bestimmung dessen, was und wer wir selbst sind. Sie sind unauflöslich mit unseren individuellen Selbstbildern verflochten. Freilich gilt es hier zu differenzieren: Es gibt Menschen, für deren Identität spielt ihr Menschenbild eine wichtige Rolle. Wenn ich mich z. B. als Christ verstehe, dann verstehe ich mich möglicherweise auch im Lichte des christlichen Menschenbildes, d. h. ich glaube, dass ich selbst – wie alle anderen Menschen auch – in meiner Einzigartigkeit von Gott geschaffen und von ihm geliebt bin, dass ich eine unsterbliche Seele habe, usw. In diesem Falle ist folglich ein Menschenbild für das Selbstverständnis – neben vielem anderen wie etwa meiner Herkunft, meinem Beruf, meiner Lebensgeschichte usw. – wichtig. Es gibt sogar Menschen, für deren Identität ist ihr Menschenbild nicht nur deswegen wichtig, weil es ihnen sagt, wie sie sich als Menschen zu verstehen haben, sondern auch deswegen, weil sie sich in ihrer Selbstbestimmung direkt auf ein Menschenbild beziehen: Wenn ich mich beispielsweise emphatisch als Humanist bezeichne, dann verstehe ich mich selbst nicht nur im 189 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen

Lichte des humanistischen Menschenbildes, sondern ich verstehe mich darüber hinaus als jemand, der ein humanistisches Menschenbild vertritt. Ich beziehe meine Identität in diesem Falle auch daraus, dass ich mich zu einem bestimmten Menschenbild bekenne. Daneben wiederum gibt es Menschen, für deren Identität spielt nicht ein Menschenbild, sondern beispielsweise das Selbstverständnis der Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen, oder etwas anderes die zentrale Rolle. So kann ich mich z. B. in erster Linie dadurch definieren, dass ich ein Schotte, ein Jude oder ein Weißer bin. Doch auch diese Menschen beziehen sich zumindest implizit auf ein Menschenbild, dass zwischen Schotten und Nicht-Schotten, zwischen Juden und Nicht-Juden, zwischen Weißen und Farbigen essentielle Differenzierungen zieht. Mit anderen Worten: Unabhängig davon, was nun die primären Bezugsgrößen meiner Identität sind, mein Menschenbild ist eine für mein Selbstbild wichtige Größe. 10 Menschenbilder haben eine identitätsstiftende Funktion. Menschenbilder erfüllen, so lassen sich die Ausführungen dieses Abschnittes knapp zusammenfassen, eine ganze Reihe an lebensweltlichen Funktionen: Sie dienen (1) der Identifikation von Phänomenen als Menschen, womit (2) ein welterschließender Effekt verbunden ist, sie dienen (3) der Stiftung von Zusammenhang und Einheit, was seinerseits zur (4) Komplexitätsreduktion beiträgt. Darüber hinaus dienen sie (5) der Erklärung von Phänomenen, was unter anderem auch (6) Stabilität gewährt und Kontingenz zu vermeiden hilft. Außerdem fungieren Menschenbilder als (7) Interpretamente, als (8) Legitimatoren sowie als (9) Punkte lebensweltlicher Orientierung. Und schließlich spielen sie als (10) identitätsstiftende Faktoren eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Verflechtungen So wie unsere sprachlichen Zeichen und ihre Bedeutungen nicht isoliert für sich alleine stehen, sondern Elemente eines umfassenden Verweisungssystems – der Sprache – sind, stehen auch unsere Über-

Eine Ausnahme bilden freilich diejenigen Gesellschaften, die keinen Begriff vom »Menschen« haben.

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Verflechtungen

zeugungen nicht isoliert für sich alleine, sondern sind eingeflochten in ein dicht gesponnenes Netz von Bezügen zu anderen Überzeugungen, zu den mit ihnen verbundenen Institutionen, Praktiken usw. Von daher stehen auch unsere Menschenbilder, d. h. unsere Bündel an Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen nicht isoliert für sich alleine, sondern sind verbunden mit einer Vielzahl von anderen Überzeugungen sowie mit einer Vielzahl von Institutionen, Praktiken usw. Dass dem so ist, lässt sich schön am christlichen Menschenbild veranschaulichen: Dieses ist eingebettet in ein umfassendes Überzeugungssystem – den christlichen Glauben –, das wiederum mit Institutionen wie der christlichen Kirche, dem kirchlich strukturierten Jahr mit seinen vielen großen und kleinen Festen und mit zahllosen Praktiken wie etwa dem sonntäglichen Gottesdienst, dem täglichen persönlichen Gebet, der Beichte und Buße, dem Fasten, den mannigfaltigen Ritualen usw. in enger Verbindung steht. Freilich sind die Beziehungen zwischen den Elementen dieses Systems nicht alle gleich fest und gleich wichtig. So ist es für unsere Überzeugungen über den Menschen ziemlich unerheblich, ob wir nun der Überzeugung sind, dass Pluto ein Planet oder doch nur ein Zwergplanet ist. Ja, es ist für unser Menschenbild vermutlich unerheblich, überhaupt von Pluto zu wissen, so unerheblich, wie es für das christliche Menschenbild unerheblich ist, ob Christus nun sechs oder vier oder doch nur zwei Jahre nach unserer Zeitrechnung geboren wurde. Zu anderen Überzeugungen hingegen liegen enge Verbindungen vor. So lassen sich etwa unsere Überzeugungen über den Ursprung des Universums nur schwer von unseren Überzeugungen über den Ursprung des Menschen trennen. Wer glaubt, dass sich das Universum einem zufälligen kosmischen Ereignis verdankt, wird auch dem Menschen einen zufälligen Ursprung zuschreiben, wer hingegen an die – wie auch immer geartete – Schöpfung des Universums durch Gott glaubt, muss auch die Schöpfung des Menschen letztlich in Gottes Hand legen. Das hypertypisierende Bündel an Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen, mit dem wir im Alltag operieren, weist also, so die These, die es im Folgenden noch etwas näher zu veranschaulichen gilt, vielfache Bezüge zu anderen Überzeugungen auf, wobei manche dieser Bezüge eher lose, manche eher fest sind. Menschenbilder sind aber nicht nur einfach eingewoben in das lebensweltliche Sinn- und Überzeugungssystem, sondern sind – 191 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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wie im weiteren Verlauf der Analyse noch deutlich werden wird – zentrale Elemente desselben.

Verflechtungen Es wäre ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen, all den Verflechtungen zwischen Menschenbild und lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungssystem nachzuspüren, gibt es deren doch zu viele. Aus diesem Grund sollen hier nur einige exemplarische Verknüpfungen herausgegriffen werden: Zunächst weisen Menschenbilder, dies liegt auf der Hand, enge Verknüpfungen zu grundlegenden ontologischen Überzeugungen auf: Wenn ich beispielsweise der Überzeugung bin, dass nur existiert, was materiell gegeben ist, kann ich nicht an die Existenz einer immateriellen menschlichen Seele glauben. Wenn ich hingegen glaube, dass dem Menschen eine immaterielle Seele innewohnt, muss ich die Existenz immaterieller Entitäten grundsätzlich für möglich halten. Wenn ich der Überzeugung bin, dass sich Menschen in Tiere und umgekehrt verwandeln können, dann muss ich auch ontologische Überzeugungen haben, die eine solche Verwandlung grundsätzlich zulassen, usw. Ebenso auf der Hand liegen die engen Verknüpfungen von Überzeugungen über den Menschen mit Überzeugungen über andere Entitäten, die die Welt bevölkern, seien es nun Steine, Pflanzen, Tiere, Geister, Götter, Roboter oder was auch immer. Die Überzeugungen, dass und worin sich Menschen von Steinen, Pflanzen, Tieren, Geistern, Göttern, Robotern und sonstigen Entitäten unterscheiden und worin sie gegebenenfalls Gemeinsamkeiten haben, setzt die Überzeugungen über den Menschen mit den Überzeugungen über diese Entitäten in eine enge Beziehung. Nehmen wir die klassische Definition des Menschen als animal rationale, derzufolge sich der Mensch vom Tier durch seine Rationalität unterscheidet: Dieses Menschenbild verweist auf Überzeugungen über Eigenschaften, die Mensch und Tier gemeinsam haben, nämlich einen materiellen Körper sowie eine anima vegetativa und eine anima sensitiva, sowie auf Überzeugungen darüber, was Tiere nicht haben, nämlich eine anima rationalis. Ebenso ist dieses Menschenbild verknüpft mit Überzeugungen darüber, was die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Pflanze und Mensch, zwischen materiellen Dingen und Mensch sowie zwischen 192 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Verflechtungen

geistigen Existenzen und Mensch sind. Schön dokumentiert ist diese innere Verflochtenheit der Überzeugungen über die unterschiedlichen Entitäten insbesondere in der antiken, von Aristoteles und Platon ausgehenden und im Mittelalter weiter ausgearbeiteten und popularisierten Vorstellung der hierarchisch organisierten Stufenordnung des Seins – der scala naturae –, die, ausgehend von Gott, dem vollkommenen Sein, in vielen Stufen über die Engel, die gefallenen Engel, über Sterne und Mond, über Könige, Prinzen, Adelige und Menschen anderer Stände, über die wilden und domestizierten Tiere, über Bäume und andere Pflanzen, irgendwann schließlich bis hin zu den Steinen hinabsteigt. 11 Die Stellung einer jeden Seinsart ist in dieser Ordnung abhängig davon, was sie mit den hierarchisch ober- und untergeordneten Seinsarten verbindet und was sie von ihnen unterscheidet. Ein etwas aktuelleres Anschauungsmaterial für den Zusammenhang zwischen unseren Ansichten über den Menschen und unseren Ansichten über andere Wesen bieten die mittlerweile im allgemeinen Bewusstsein angekommenen Auseinandersetzungen um den Tierschutz und insbesondere um die Frage, ob Menschen Tiere essen dürfen. 12 Hier steht nicht nur zur Debatte, wie wir Menschen mit Tieren umgehen sollen, sondern immer auch, worin nun die Gemeinsamkeiten und vor allem die relevanten Unterschiede zwischen Mensch und Tier liegen, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten. Hier haben viele Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen direkte Auswirkungen auf die Einschätzung der moralischen Rechte der Tiere, und viele Überzeugungen über Eigenschaften der Tiere Auswirkungen auf die Einschätzung der moralischen Rechte des Menschen. Kämen wir z. B. zur Überzeugung, dass Menschenaffen über Personalität verfügten, dann hätte dies unmittelbare Auswirkungen auf die Einschätzung der Eigenschaft der Personalität beim Menschen: Diese könnte dann beispielsweise nicht mehr als exklusive Eigenschaft des Menschen angesehen werden, die den herausragenden moralischen Status des Menschen, der z. B. auch das Recht dazu verleiht, Menschenaffen für medizinische Experimente heranzuziehen, legitimiert. 13 Vgl. dazu Lovejoy, Arthur, The Great Chain of Being. The Study of the History of an Idea, Cambridge (MA) 1964. 12 Vgl. Foer, Jonathan Safran, Tiere essen, Köln 32012. 13 Vgl. Cavalieri, Paola/Singer, Peter, Menschenrechte für die Großen Menschenaffen! Das Great Ape Project, München 1994; vgl. ferner Singer, Peter, Animal Liberation, updated edition, New York 2009. 11

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Dass unsere Überzeugungen über den Menschen zentral mit moralischen, pädagogischen und politischen Überzeugungen zusammenhängen, wurde oben bereits dargestellt und benötigt kaum einer weiteren Erläuterung: Unsere Menschenbilder sind eng verflochten mit unseren Vorstellungen darüber, was moralisch richtig und was moralisch falsch ist, mit unseren Vorstellungen darüber, welche Art der Pädagogik angemessen und zielführend ist, und mit unseren Vorstellungen darüber, wie eine Gesellschaft organisiert sein sollte. Dass Menschenbilder vielfältige Verknüpfungen zu religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen über die Welt als Ganze aufweisen, benötigt im Grunde ebenso wenig der Erläuterung. Alle religiösen wie weltanschaulichen Überzeugungssysteme beinhalten nicht nur Überzeugungen über Ursprung, Sinn und Ziel der Welt als Ganzen, über Gut und Böse, die richtige Ordnung der Welt und der Gesellschaft usw., sondern immer auch Überzeugungen über den Menschen, die dicht in das Gewebe all der anderen Annahmen eingebunden sind. »Zwischen dem Menschenbild, das jemand sich macht, und seinem Weltbild wie seinem Gottesbild bestehen positiv wie negativ enge wechselseitige Bedingungszusammenhänge.« 14 Wenn ich etwa der Ansicht bin, dass das Universum ein durch reinen Zufall entstandener Ort ist, der letztlich keinen Sinn hat und der irgendwann ebenso wieder verschwindet, wie er entstanden ist, werde ich höchstwahrscheinlich auch das menschliche Leben als letztlich sinn- und ziellos verstehen. Bin ich hingegen der Auffassung, dass hinter der Entstehung des Universums eine göttliche Macht steht, die alles durchwirkt, werde ich auch der Überzeugung sein, dass des Menschen Anfang, Sinn und Ziel in dieser göttlichen Macht liegt. Wenn ich der Überzeugung bin, dass die Weltgeschichte ein nach ewigen Gesetzmäßigkeiten ablaufendes Geschehen ist, das mit Notwendigkeit auf ein endgültiges Ziel – etwa die klassenlose Gesellschaft – zusteuert, werde ich den Menschen als ein Wesen denken, das ebenfalls diesem übergeordneten Geschehen unterworfen ist, usw. Die lange Reihe der religiösen und ideologischen Glaubenssysteme, deren Lehren immer auch eine Anthropologie einschließen, bezeugt diese Zusammenhänge. Es ist wichtig zu sehen, dass die Bündel an Überzeugungen über den Menschen, die wir haben, nicht nur in diese großen, orientierenLeder, Gottfried, Das Menschenbild des Grundgesetzes und die Zukunft unserer Verfassung, in: Kraetzer, Jakob (Hg.), Das Menschenbild des Grundgesetzes. Philosophische, juristische und theologische Aspekte, Berlin 1996, 68–88, hier 68.

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den, moralischen, pädagogischen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungszusammenhänge, derer wir uns im Alltag mal mehr, mal weniger bedienen, eingewoben sind, sondern auch in die vielen alltäglichen Selbstverständlichkeiten, die wir unhinterfragt als gegeben hinnehmen. Dies wird bereits ersichtlich an den vielen Typisierungen, die wir zur Erfassung und Einordnung unserer Mitmenschen verwenden. All diese Typisierungen sind mit Menschenbild-HyperTypisierungen verbunden, die sich den Typisierungen in unterschiedlicher Weise aufprägen. Die Typisierungen gleichen, wie oben beschrieben, den im Bauch einer Matrjoschka-Puppe befindlichen Puppen, die alle die Form der äußersten Puppe haben müssen, da sie sonst nicht in ihren Bauch passen würden. Gleich, ob ich jemanden als Installateur, als Ausländerin, als Bettler, als Industrielle, als Politiker oder als Soldatin typisiere, ich typisiere sie oder ihn immer zugleich als Menschen und schreibe ihr oder ihm daher automatisch jene Eigenschaften zu, die ich Menschen im Allgemeinen zuschreibe. Darüber hinaus fließt mein Menschenbild in viele meiner alltäglichen Urteile ein: Wenn ich etwa die Bemühungen der Regierung um barrierefreie Zugänge in öffentlichen Gebäuden begrüße, dann spielt in mein Urteil höchstwahrscheinlich ein Menschenbild hinein, das besagt, dass alle Menschen ein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen haben. Wenn ich mich über einen gesund und kräftig wirkenden Bettler, der am Rand einer Fußgängerzone um Almosen bittet, ärgere und ihm an den Kopf werfe, er solle doch gefälligst arbeiten gehen, dann spielt höchstwahrscheinlich die Überzeugung mit, dass Menschen generell versuchen sollten, so weit wie möglich von ihrer Hände Arbeit zu leben und erst dann auf Mitleid hoffen dürfen, wenn dies aus gesundheitlichen Gründen tatsächlich nicht mehr geht. Wenn ich am Straßenrand einen mir unbekannten Gegenstand finde, den ich zweifelsfrei als ein menschliches Artefakt identifiziere, dann werde ich mich fragen, wozu dieser Gegenstand dient. Damit unterstelle ich aber automatisch, dass Menschen Gegenstände herstellen, die zu etwas dienen. Meine anthropologische Überzeugung, dass Menschen im Allgemeinen zweckrational sind, bildet also den unausgesprochenen Hintergrund meiner Deutung des Artefakts. Drastisch sichtbar wird die Vernetzung von Menschenbildern mit anderen Überzeugungen, Normen, Praktiken und Institutionen des Alltags in jenen Gesellschaften, die von anderen Menschenbildern als dem uns hier im Westen vertrauten ausgehen. Im Südafrika 195 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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der Apartheid wurde in jedem öffentlichen Bus, in dem Farbige auf anderen Plätzen sitzen mussten als Weiße, auf jeder Parkbank, die für entweder die eine oder die andere Bevölkerungsgruppe reserviert war, an jedem Strand, auf jeder Toilette und an jedem Waschbecken, in jedem Restaurant, das für Farbige oder für Weiße reserviert war, ja in den vielfältigen diskriminierenden Gesten und Verhaltensmustern, die man sich gegenseitig zu zeigen hatte, klar, dass das rassistische Menschenbild bis tief in die kleinsten Verästelungen ganz alltäglicher Überzeugungen, Einrichtungen und Praktiken hinein verwoben ist. So manifestiert sich etwa allein in dem abwertenden Blick, den Weiße ohne einen Funken schlechten Gewissens millionenfach ganz automatisch auf Nicht-Weiße geworfen haben und immer noch werfen, nicht nur die Typisierung der Farbigen als Menschen zweiter Klasse, sondern eben auch ein rassistisches Menschenbild, das die Menschen in Menschen zweier oder mehrerer Klassen unterschiedlicher Dignität einordnet. 15 Für diese Ubiquität der Bündel von Überzeugungen über den Menschen ist man blind, wenn man sie als gegebene Selbstverständlichkeit hinnimmt. So tritt in unseren Breitengraden deswegen kaum ins Bewusstsein, dass das so selbstverständliche Fehlen diskriminierender Einrichtungen und Praktiken sowie die so selbstverständliche Kritik an Resten diskriminierender Überzeugungen und Praktiken zutiefst mit einem egalitären Menschenbild verflochten ist. Dieses Menschenbild ist uns – sicherlich nicht durchgängig, wie der auch hier noch auftretende Rassismus belegt – so vertraut und so selbstverständlich geworden, dass wir es gar nicht wahrzunehmen imstande sind. Besonders deutlich zeigt sich die Vernetzung von Menschenbildern in Sinn- und Überzeugungssystemen auch dort, wo es zu Änderungen oder Verschiebungen zentraler Überzeugungen eines solchen Systems kommt. In diesem Falle zieht nämlich die Veränderung einer Überzeugung die Veränderung anderer Überzeugungen nach sich. Zu Südafrika vgl. Lapping, Brian, Apartheid: A History, New York 1989; Beinart, William/Dubow, Saul (Hg.), Segregation and Apartheid in Twentieth-Century South Africa, London 1995; du Pré, Roy, Separate but Unequal: The ›Coloured‹ People of South Africa: A Political History, Johannesburg 1994. Zum Alltagsrassismus vgl. Essed, Philomena, Understanding Everyday Racism. An Interdisciplinary Theory, Newbury Park/London/Delhi 1991; vgl. ferner Goldberg, David, The Racial State, Malden/Oxford 2002; Ders., Racist Culture: Philosophy and the Politics of Meaning, Malden/Oxford 1993.

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Deutlich wird dies beispielsweise an der von Jacob Burckhardt erstmalig beschriebenen Entdeckung der Individualität in der Renaissance. 16 Der Wandel des Menschenbildes, der sich in der Renaissance vollzieht, steht im Kontext umfassender Verschiebungen des Wissens in allen Bereichen des Lebens: in der Kunst mit ihren neuartigen Portraits und der Entdeckung der Zentralperspektive durch Filippo Brunelleschi, mit der der Blickwinkel des Betrachtenden als konstitutive Größe in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt; in der in republikanischen Stadtstaaten organisierten Gesellschaft mit ihren bürgerlichen Freiheiten; in der Wissenschaft und ihrem Interesse an naturwissenschaftlichen Fragestellungen und ihrer Orientierung an mathematischer Klarheit, die dann das beherrschende Thema der Neuzeit werden, usw. 17 Die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Annahmen über den Menschen und einer Reihe von anderen Annahmen zeigen sich auch eindrucksvoll in den Studien von Michel Foucault und Charles Taylor, die je auf ihre Weise diesen Vernetzungen und ihren Veränderungen in der europäischen Neuzeit und Moderne gefolgt sind. In Wahnsinn und Gesellschaft analysiert Foucault etwa die Zusammenhänge zwischen dem Verständnis von Mensch, Rationalität, Wahnsinn und dem gesellschaftlichen Umgang mit den Irren, die sich vom Ende der Renaissance bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem in Frankreich zu erkennen geben. 18 In Die Ordnung der Dinge zeichnet er die Brüche und in untergründigen Strukturen verankerten wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Menschenbild und Wissenschaftsverständnis nach. 19 Und in ÜberVgl. Burckhardt, Jacob, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Frankfurt am Main 22012 [1859], 134–168. Burckhardts starke These, die das geläufige Bild des Mittelalters stark geprägt hat, ist sowohl von der mediävistischen als auch der Renaissance-Forschung mittlerweile abgeschwächt worden. So hat etwa Morris versucht, die Entdeckung des Individuums bereits im 12. Jahrhundert nachzuweisen (vgl. Morris, Collin, The Discovery of the Individual. 1050–1200, London 1972), auch Gurjewitsch hat im Mittelalter eine Individualität nachgewiesen, die zwar nicht fremd, aber doch sehr anders ist als die neuzeitlich-moderne (vgl. Gurjewitsch, Aaron, Das Individuum im europäischen Mittelalter, München 1994); vgl. ferner Aertsen, Jan/ Speer, Andreas (Hg.), Individuum und Individualität im Mittelalter, Berlin/New York 1996. 17 Vgl. dazu auch Ariès, Philippe/Duby, Georges (Hg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3, Von der Renaissance zur Aufklärung, Augsburg 1999; Meuthen, Erich, Das 15. Jahrhundert, überarbeitet v. Claudia Märtl, München 42006; ferner Greenblatt, Stephen, Die Wende. Wie die Renaissance begann, München 2012. 18 Vgl. Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1973. 19 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge. 16

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wachen und Strafen untersucht er die Entwicklung der Strafformen in der westlichen Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert, die sich ebenfalls im Kontext miteinander verflochtener Verschiebungen des Verständnisses des Menschen, der Gesellschaft, der Gefängnisarchitektur, der Praktiken der Bestrafung und Disziplinierung usw. vollziehen. 20 Charles Taylor wiederum hat vor allem in seiner umfassenden Studie über die Entwicklung des modernen Selbst den vielfältigen Verbindungen zwischen Menschenbild, Moral, Religion, Theologie und Wissenschaft nachgespürt. 21 Nicht zuletzt markieren auch die drei berühmten Kränkungen, die Sigmund Freud zufolge allesamt »starke Gefühle der Menschheit verletzt« hätten, solche in größere Zusammenhänge eingebettete Verschiebungen des Menschenbildes. Die jeweilige Veränderung des bis dato in einer Gesellschaft gültigen Menschenbildes ist kein isoliertes Geschehen, sondern steht jeweils im Kontext umgreifender Umbrüche der gesellschaftlichen Wissensbestände. Die kopernikanische Kränkung, mit der der Mensch aus dem Mittelpunkt des Kosmos vertrieben wurde, die aber im Übrigen, anders als Freud vermutete, zunächst gar nicht als Revolution oder auch nur als Kränkung erfahren wurde, auch weil sie als Hirngespinst abgetan wurde, 22 Vgl. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994. 21 Vgl. Taylor, Charles, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 21996. Die Tatsache, dass Foucaults Darstellungen und Rekonstruktionen in vielerlei Hinsicht Ziel heftiger – und mitunter berechtigter – Kritik waren, ändert nichts daran, dass es ihm gelingt, das komplexe Zusammenspiel unterschiedlichster Faktoren – wenn im Detail auch nicht immer zutreffend – begreiflich zu machen. Für eine Fundamentalkritik an Foucault vgl. etwa Wehler, Hans-Ulrich, Die Herausforderung der Kulturgeschichte. München 1998, 45–95; ferner Habermas, Jürgen, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985, 313–341; Honneth, Axel, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt am Main 1985, 168–224. Zur Kritik an Wahnsinn und Gesellschaft sowie Überwachen und Strafen vgl. auch Joas, Hans, Strafe und Respekt, in: Leviathan 34/1 (2006), 15–29, hier 22 ff. 22 So z. B. von Martin Luther, der in einer seiner Tischreden Folgendes über Kopernikus’ Behauptung gesagt haben soll: »Es wurde ein neuer Astrologe erwähnt, der beweisen soll, daß die Erde bewegt werde und nicht der Himmel, die Sonne und der Mond, also ob jemand auf einem Wagen oder Schiff bewegt würde und meinte, er befände sich in Ruhe und die Erde und die Bäume bewegten sich. ›Aber es geht jtzunder also: wer do will klug sein, der sol ihme nichts lassen gefallen, was andere achten; er muß ihme etwas eigen machen‹, so wie jener es macht, der die ganze Astrologie verdrehen will. Auch nachdem jene (die Astrologie) verwirrt wurde, glaube ich dennoch der Heiligen Schrift, denn Josua befahl der Sonne stillzustehen, nicht der Erde.« 20

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Verflechtungen

war eine Verschiebung nicht nur des Menschen-, sondern des gesamten Weltbildes, die im Kontext der Revolutionen und Neuerungen, die die Neuzeit mit sich brachte, stand. Die darwinsche Kränkung mit der für damals skandalösen Behauptung: »Der Mensch ist nichts anders und nichts besseres als die Tiere, er ist selbst aus der Tierreihe hervorgegangen, einigen Arten näher, anderen ferner verwandt« 23 hat nicht nur das Bild des Menschen fundamental verändert, sondern diese Veränderung steht ihrerseits im Zusammenhang wesentlich umfassenderer Verschiebungen, die das Verhältnis und die Erkenntnisansprüche von Religion und Wissenschaft, das Verständnis des Lebens, der Gesellschaft, der Politik usw. betreffen. Von den enormen weltanschaulichen Auseinandersetzungen, in die sich die darwinsche Kränkung einbettet, künden die drei großen weltanschaulichen Debatten des 19. Jahrhunderts: der Materialismusstreit, der Darwinismusstreit und der Ignorabimusstreit. 24 Und schließlich kann die von Freud selbst verursachte Kränkung, dass das »Ich nicht Herr im eigenen Hause ist« – hier lag er mit seiner Selbsteinschätzung richtig – tatsächlich als die wohl kulturell nachhaltigste anthropologische Behauptung des 20. Jahrhunderts gelten, auch wenn sie in ihrem wissenschaftlichen Anspruch nach wie vor umstritten ist. 25 Auch sie steht im Zusammenhang mit den vielfachen Veränderungen des »Geistes« einer Epoche, die im Fin de siècle und der Wiener Moderne ihren kulturellen Ausdruck gefunden haben. 26 Dass Menschenbilder so stark mit anderen Überzeugungen verflochten sind, hat zur Folge, dass sie sich nur schwer von diesen anderen Überzeugungen isolieren lassen. Dies wiederum bedeutet erstens, dass lebensweltliche Menschenbilder unscharfe Gebilde darstellen, die keine klaren Grenzziehungen erlauben, sondern nach außen hin (Nicolaus Copernicus Gesamtausgabe, Bd. 6/2, Documenta Copernicana. Urkunden, Akten und Nachrichten. Texte und Übersetzungen, hg. v. Heribert Nobis u. Menso Folkerts, Berlin 1996, 372 [Nr. 234].) 23 Freud, Sigmund, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften 5 (1917), 1–7, hier 4. 24 Vgl. dazu Bayertz/Gerhardt/Jaeschke, Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. 25 Vgl. Brumlik, Micha, Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts, Weinheim/Basel 2006. 26 Zum gesellschaftlichen Kontext der Entstehung der Psychoanalyse vgl. Erdheim, Mario, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess, Frankfurt am Main 1982, 41–199.

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offen sind. 27 Wenn aber Menschenbilder sich stark mit anderen Überzeugungen verflechten, dann bedeutet dies zweitens, dass Menschenbilder ständigen Veränderungen unterworfen sind, da jede Veränderung einer Überzeugung, die mit einer Überzeugung über den Menschen in Verbindung steht, eben diese Überzeugung über den Menschen mitverändert. Freilich sind diese Verbindungen oft lose. Auch sitzen viele Überzeugungen über den Menschen relativ locker im System des Überzeugungsbündels, das ein Menschenbild darstellt. Diese Überzeugungen lassen sich daher leichter herauslösen und durch andere ersetzen. So war es etwa für viele Varianten des europäischen Christentums möglich, den Gedanken, dass der Mensch auf einen direkten Schöpfungsakt Gottes zurückgeht, durch den Gedanken, dass der Mensch das Produkt eines – letztlich freilich auf Gott zurückgehenden – evolutionären Prozesses ist, zu ersetzen. Andere Elemente sind hingegen fest mit den übrigen Systemelementen verwoben; sie zu verändern würde bedeuten, das System als Ganzes zu verändern. Die Verflechtungen, in denen Menschenbilder stehen, haben drittens zur Folge, dass man sich von dem Begriff »Menschenbild« nicht dazu verleiten lassen sollte, sich unter einem Menschenbild ein ganzheitliches, homogenes Gebilde vorzustellen. Menschenbilder sind – wie die hier erarbeitete Definition besagt – Bündel von Überzeugungen über den Menschen. Diese Überzeugungen können in einem Sinn- und Überzeugungssystem auch in sehr verstreuter und möglicherweise auch versteckter Art und Weise vorliegen. Es gibt sicherlich in jedem Sinn- und Überzeugungssystem einige explizite, zentrale Annahmen über den Menschen, die den Kern eines Menschenbildes ausmachen. Aber es wird auch Überzeugungen über den Menschen geben, die eher implizit etwa in der sozialen Organisation, in Normen, in Mythen bzw. Narrationen und in gesellschaftlichen Praktiken mitgegeben sind. Das hat viertens zur Folge, dass man nicht davon ausgehen kann, dass lebensweltliche Menschenbilder hohen Kohärenzanforderungen genügen. 28 Sie sind so wenig kohärent wie die Sinn- und Überzeugungssysteme, in die sie eingebettet sind. 29 Es

Vgl. Wiegerling, Klaus, Mediatisierte Menschenbilder, in: Grimm, Petra/Capurro, Rafael (Hg.), Menschenbilder in den Medien – ethische Vorbilder?, Stuttgart 2002, 13–25, hier 13; vgl. ferner Barsch/Hejl, Verweltlichung und Pluralisierung, 11. 28 Vgl. Gutmann/Rathgeber, Sind Menschenbilder Bilder?, 67. 29 Vgl. Barsch/Hejl, Verweltlichung und Pluralisierung, 13. 27

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Verflechtungen

ist, wie in unserer Definition bereits festgehalten, nur davon auszugehen, dass Menschenbilder »mehr oder weniger« kohärent sind. Angesichts all dieser Schwierigkeiten, das Bündel von Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen zu erfassen, erweist sich die Beschränkung auf die wichtigen Überzeugungen über den Menschen als sehr hilfreich, auch wenn im Folgenden noch zu klären sein wird, was unter »wichtig« in diesem Zusammenhang zu verstehen ist. 30

Menschenbilder: im Zentrum des Systems Lebensweltliche Menschenbilder sind, dies sollten diese kursorischen Anmerkungen zu exemplarischen Verknüpfungen veranschaulichen, auf vielfältige Weise eingesponnen in größere Überzeugungszusammenhänge. Unsere Menschenbilder sind integrale Bestandteile der Sinn- und Überzeugungssysteme, mit deren Hilfe wir uns in der Welt und in unserem Leben zurechtzufinden versuchen, und als solche sind sie verwoben mit dem Sinn- und Überzeugungshorizont bzw. den individuellen und gruppenspezifischen Varianten desselben, die unsere Lebenswelt konstituieren. Doch Menschenbilder sind, dies dürfte sich in den angeführten Beispielen schon abzeichnen, nicht einfach nur Bestandteile von umfassenderen Sinn- und Überzeugungssystemen, sondern sie sind systematisch zentrale Elemente derselben. 31 Die Bündel an Überzeugungen über den Menschen spielen eine herausragende Rolle in diesen Verweisungssystemen. Dies aus mindestens vier Gründen: Weil sie (1) Überzeugungen über den zentralen Akteur bündeln, weil es (2) im Menschen eine direkte Verbindung zwischen Überzeugung und Wirklichkeit gibt, weil sie (3) Bedeutung für den Menschen generieren, und weil sie (4) als legitimatorisches Fundament vieler anderer Überzeugungen dienen. (1) Die Überzeugungen über den Menschen sind erstens deswegen zentral, weil sie eben Überzeugungen über den Menschen sind, d. h. es sind Überzeugungen über den zentralen Akteur und den TräDie Bestimmung dessen, was wichtige Menschenbildüberzeugungen sind, erfolgt ab S. 280 ff. 31 Dass Menschenbilder in dem lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungssystem eine systematisch zentrale Position innehaben, darf nicht verwechselt werden mit der Überzeugung, dass der Mensch eine zentrale Stellung innerhalb der Welt innehat. Die Überzeugung darf nicht mit dem Inhalt der Überzeugung vermengt werden. 30

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ger der Sinn- und Überzeugungssysteme. Diese sind ja für den Menschen da, sie existieren nur, weil es Menschen gibt, die sie benützen, sie sind nur da, damit sich der Mensch mit ihrer Hilfe einen Reim auf die Welt machen, sich mit ihre Hilfe in der Welt zurechtfinden kann. Das Bündel an Überzeugungen über den Menschen ist nun dasjenige Elemente eines solchen Systems, anhand dessen sich der Mensch in das Sinn- und Überzeugungssystem einbindet: Meine Eltern und die Gesellschaft, in der ich aufwachse, lehren mich, dass ich ein Mensch bin. Dadurch lerne ich mich selbst als Mensch zu erfassen. Indem ich dies mache, schreibe ich mir einen Sinn zu und gewinne Überzeugungen über mich, die in dem Sinn- und Überzeugungssystem, mit dem ich aufwachse, vordefiniert sind. Ich nehme gleichsam einen für mich als Menschen vorgesehenen Platz in diesem System ein. Und es ist dieser Platz, durch den alles andere dann seinen Sinn für mich erhält. Es ist dieser Platz, durch den mir das Sinn- und Überzeugungssystem dann die Welt aufschlüsselt. Denn indem ich mich selbst als Menschen deute, schreibe ich mir all den Sinn und die Überzeugungen zu, die damit verbunden sind. Dazu gehören zum einen die wichtigen Menschenbildüberzeugungen: Wachse ich etwa in einer christlichen Umgebung auf, so lerne ich, dass ich als Mensch eine unsterbliche Seele habe, ich lerne, dass ich als Mensch die Krone der Schöpfung und damit wertvoller als Dinge, Pflanzen und Tiere bin, ich lerne, dass ich als Mensch meine Leidenschaften zu zügeln und mich der Vernunft zu unterwerfen habe, ich lerne, dass ich als Mensch von Gott geliebt, aber sündhaft bin und mich um ein gottgefälliges Leben bemühen muss usw. Zum anderen gehört dazu aber auch schlechthin alles, was mit der Sinn-Kategorie des Menschen verknüpft ist. So lerne ich, noch bevor ich es aus eigener Erfahrung weiß, dass ich als Mensch weder fliegen wie die Vögel noch tauchen wie Fische kann. Ich lerne, dass ich als Mensch Messer und Gabel, Hammer und Nagel usw. verwenden, dass ich Häuser und Straßen bauen kann usw. Indem ich mich also selbst als Mensch erfasse, ordne ich mich einem im Sinn- und Überzeugungssystem gegebenen Element mit all seinen Verweisungen zu und klinke mich so in dieses umfassende System ein. (2) Das Menschenbild ist aber nicht nur der Ort, an dem sich der Mensch in das Sinn- und Überzeugungssystem einschreibt, sondern es ist zugleich der Ort, an dem sich umgekehrt auch das Sinn- und Überzeugungssystem in die Wirklichkeit einschreibt. Dies ist der zweite Grund, weswegen das Menschenbild zentrales Element dieses 202 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Verflechtungen

Systems ist. In ihm verbinden sich die Wirklichkeit des Menschen mit dem Sinn und den Überzeugungen, die wir dem Menschen zuschreiben. Um dies zu präzisieren: Wenn ich eine Überzeugung über einen Stein habe, so lässt dies den Stein unberührt. Es betrifft den Stein nur insofern, als ich – aufgrund meiner Überzeugungen über den Stein – dazu kommen kann, ihn z. B. zu bearbeiten. Meine Überzeugungen über den Stein haben aber keinen direkten Einfluss auf den Stein. Dasselbe gilt für meine Überzeugungen über Tiere. Auch diese Überzeugungen haben nur dann einen Einfluss auf das Tier, wenn ich mich aufgrund meiner Überzeugungen dem Tier gegenüber verhalte und es z. B. töte, um es zu essen. Bei den meisten Überzeugungen, die wir haben, verhält es sich genau so: Die Überzeugungen haben keinen direkten Einfluss auf die Sachverhalte, über die sie Überzeugungen sind. Bei den Überzeugungen über den Menschen ist dies hingegen anders. Diese haben eine direkte Auswirkung auf die Wirklichkeit, über die sie Überzeugungen sind. Denn die Überzeugungen, die ich über den Menschen habe, sind nicht nur einfach Überzeugungen über den Menschen, sondern es sind zugleich immer auch Überzeugungen über mich selbst – sofern ich mich als einen Menschen verstehe. Mein Selbstbild ist, wie weiter oben bereits dargestellt wurde, aufs innigste mit meinem Menschenbild verwoben. Dies bedeutet, dass ich mich selbst im Lichte der Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen interpretiere. Mein Menschenbild schlägt sich in der Art und Weise, wie ich mich selbst wahrnehme, wie ich denke, fühle und handle, nieder. Menschenbilder sind mithin Bündel von Überzeugungen, die sich direkt auf ihren Referenten niederschlagen; es sind Überzeugungen, die direkt in die Wirklichkeit eingreifen. Das Bündel an Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen ist folglich derjenige Punkt des Sinn- und Überzeugungssystems, an dem der Sinn die Wirklichkeit direkt überformt. In Menschenbildern haben Sinn- und Überzeugungssysteme gleichsam einen Kristallisationspunkt: hier gerinnt der Sinn zur Wirklichkeit. 32 (3) Drittens ist das Menschenbild deswegen ein zentrales Element lebensweltlicher Sinn- und Überzeugungssysteme, weil es die

Vgl. Rollka, Bodo/Schultz, Friederike, Menschenbild – Kommunikation – Gesellschaft. Zur Schlüsselrolle von Menschenbildern in gesellschaftlicher, organisationaler und interpersonaler Kommunikation, in: Dies., Kommunikationsinstrument Menschenbild, 7–10, hier 7. Wie Menschenbilder im Menschen zur Wirklichkeit gerinnen, wird später (S. 359 ff.) noch im Detail beschrieben.

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Überzeugungen über den Menschen sind, die vielen anderen Überzeugungen überhaupt erst Bedeutung für den Menschen verleihen. Was damit gemeint ist, sei an einigen Beispielen erläutert: Die Überzeugung, dass Gott existiert, ist für sich allein genommen für den Menschen ziemlich belanglos. Relevant wird diese Überzeugung für den Menschen erst dann, wenn zu dieser Überzeugung über Gottes Existenz Überzeugungen über den Menschen hinzutreten wie etwa, dass der Mensch unter besonderer Beobachtung dieses Gottes steht, dass der Mensch von Gott Gebote vorgeschrieben bekommen hat, dass der Mensch von Gott bestraft werden kann usw. Dasselbe gilt für die Überzeugung, dass sich das Leben auf der Erde einem Jahrmillionen währenden Prozess der Evolution verdankt. Diese Überzeugung wird für den Menschen erst dann relevant, wenn wir gleichzeitig der Überzeugung sind, dass der Mensch ein biologisches Lebewesen ist und als solches eben auch den Prozessen der Biologie inklusive der Evolution unterworfen ist. Im Grunde ist dies ziemlich trivial: Alles, was in der subjektiven Wahrnehmung als für den Menschen relevant angesehen wird, wird nur deswegen als relevant wahrgenommen, weil es mit bestimmen Überzeugungen über den Menschen verbunden ist. Dass wir beispielsweise Feuer für gefährlich halten, liegt daran, dass wir wissen, dass dem Menschen übergroße Hitze abträglich ist. Dass wir hingegen die Strahlung, die von Mobiltelefonen und anderen elektrischen Geräten ausgeht, für ungefährlich halten, liegt daran, dass wir der Überzeugung sind, dass diese Strahlung keinen Einfluss auf den Menschen haben kann. Kurz: All unsere Überzeugungen darüber, ob und in welcher Weise der Mensch von irgendetwas betroffen ist, hängen immer auch von unseren Überzeugungen über den Menschen ab. Es sind die Überzeugungen über den Menschen, durch die etwas als für den Menschen bedeutungsvoll wahrgenommen wird. Dieser Umstand macht die Überzeugungen über den Menschen zu zentralen Elementen von Sinn- und Überzeugungssystemen. (4) Viertens schließlich ist das Menschenbild deswegen ein zentrales Element jedes Sinn- und Überzeugungssystems, weil es, wie an einigen Beispielen oben schon deutlich geworden ist, als das legitimatorische Fundament vieler Überzeugungen fungiert. Die meisten unserer moralischen, pädagogischen, gesellschaftlichen und politischen Überzeugungen sind – nicht ausschließlich, aber doch immer unter anderem – durch Überzeugungen über den Menschen legitimiert. So ist etwa unsere Überzeugung, dass die Demokratie eine gute Regie204 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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rungsform ist, durch die anthropologische Überzeugung legitimiert, dass der Mensch ein Wesen ist, das ein Recht auf Freiheit hat und das sich unter den Bedingungen der Freiheit am besten entfalten kann. Das indische Kastenwesen legitimiert sich unter anderem durch die Annahme, dass Menschen von Geburt an streng nach Aufgaben, Rechten, Pflichten und Fähigkeiten getrennt sind, und es eine Folge der Lebensführung vorangegangener Leben ist, in welche der Kasten man geboren ist. Das System des Nationalsozialismus wurde unter anderem durch die anthropologische Überzeugung legitimiert, dass Menschen nach Rassen unterschiedlicher Wertigkeit aufgegliedert werden müssen, unter denen die Arier als die wertvollere menschliche Rasse galten. Usw. Menschenbilder sind, so lassen sich die Überlegungen der letzten Seiten zusammenfassen, erstens auf das Engste verflochten in die lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungssysteme, mit denen wir uns die Welt zurechtlegen und uns in ihr orientieren, und zweitens systematisch zentrale Bestandteile dieser Systeme. Unsere lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungssysteme sind strukturell anthropozentrisch verfasst, auch dann, wenn sie es inhaltlich – weil nicht der Mensch, sondern Gott oder die Geschichte oder eine andere Größe im Zentrum steht – nicht sind. Menschenbilder sind mithin tatsächlich so etwas wie »zentrale Protagonisten der Wirklichkeit«; 33 sie sind der Angelpunkt jeder lebensweltlichen Wirklichkeitskonstruktion.

Menschenbild-Archive Bislang haben wir in diesem Kapitel die Funktionen, die lebensweltliche Menschenbilder erfüllen, und die Verflechtungen, die lebensweltliche Menschenbilder mit den lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungssystemen sowie mit den mit ihnen in Verbindung stehenden Normen, Praktiken, sozialen Strukturen und Institutionen aufweisen, untersucht. Bleibt noch, als Drittes, die Art und Weise, wie Vgl. Schultz, Menschenbilder in der Organisationskommunikation, 86 f.: »Menschenbilder lassen sich daher zusammenfassend als zentrale Protagonisten der Wirklichkeit beschreiben, die Komplexität und Unsicherheit reduzieren, Handeln ermöglichen und – indem sie gesellschaftliche Erzählungen weitgehend mitbestimmen – von deren Charaktereigenschaften gut und böse, oben und unten und damit auch das Ende von Geschichten abhängen.« (Hervorhebung im Original).

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diese Bündel an Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen in der Lebenswelt gegeben sind, etwas näher in Augenschein zu nehmen. In Anbetracht der Tatsache, dass Menschenbilder, wie dargestellt, zutiefst in die lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungssysteme eingewoben sind, ja zentrale Elemente derselben bilden, muss ein solches Unterfangen als aussichtslos erscheinen. Es würde nämlich letztlich darauf hinauslaufen, die Gegebenheit lebensweltlicher Sinn- und Überzeugungssysteme bzw. überhaupt von Kultur als solcher zu untersuchen, stecken doch in beinahe jedem Sinnelement, in beinahe jeder Überzeugung und in beinahe jedem menschlichen Artefakt irgendwie auch Aspekte eines Menschenbildes. »Jede Kulturschöpfung schließt eine heimliche, eine Kryptoanthropologie, ein.« 34 Die Frage danach, wo und wie lebensweltliche Menschenbilder gegeben sind, läuft damit letztlich auf die Antwort hinaus, dass sie mit den lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungssystemen mitgegeben sind und genauso wie diese gegeben sind, nämlich, in Habermas’ schon zitierten Worten: in der Kultur, der Gesellschaft und der Persönlichkeit. Diese Antwort ist nun doch allzu verkürzt. Aus diesem Grund sollen im Folgenden einige wichtige Formen, in denen Menschenbilder in der Lebenswelt gegeben sind, näher untersucht werden. Es verbindet sich damit aber kein Anspruch auf Vollständigkeit. Führen wir uns, bevor wir in die Analyse gehen, noch einmal unsere Definition von lebensweltlichen Menschenbildern vor Augen: Lebensweltliche Menschenbilder sind solche Bündel an Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen, an denen wir uns im Alltag orientieren und die mit dem höchsten Anspruch auf Richtigkeit und Wahrheit ausgestattet sind; sie prägen unser alltägliches Fühlen, Denken und Handeln. Diese Menschenbilder können nun – darauf ist hier erneut hinzuweisen – solche sein, die nur ein Individuum hat, es können solche sein, die eine Gruppe an Menschen teilt, oder solche, die zum kollektiven Überzeugungsbestand einer Gesellschaft gehören. Die Art und Weise, wie diese unterschiedlichen Menschenbilder in der Lebenswelt gegeben sind, wird daher stark voneinander abweichen. Wie ein Menschenbild in der Lebenswelt gegeben ist, hängt sehr stark davon ab, wie viele MenLandmann, Michael, Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdeutung in Geschichte und Gegenwart, Berlin/New York 51982, 10.

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schen sich in ihrem Alltagshandeln an ihm orientieren, und davon, wie mächtig diese Menschen sind. Ein Menschenbild, das nur von einem einzelnen Individuum für maßgeblich gehalten wird, wird sich beispielsweise nicht in gemeinsam geteilten Handlungsnormen oder in gemeinsamen Narrationen niederschlagen – es sei denn, bei dem Individuum handelt es sich um einen Tyrannen, der die Macht besitzt, seine Anschauungen anderen Menschen aufzuzwingen. Ein Menschenbild, dass nur von einer kleinen Gruppe von Menschen als maßgeblich angesehen wird, wird sich nicht im Rechtssystem der Gesellschaft, der diese kleine Gruppe angehört, niederschlagen – es sei denn, die kleine Gruppe ist im Besitz der Macht und kann ihre Anschauungen der Gesellschaft als Ganzer aufdrücken. Die Formen der Gegebenheit, die im Folgenden untersucht werden, sind daher Formen, in denen lebensweltliche Menschenbilder gegeben sein können und oft auch gegeben sind, in denen sie aber nicht unbedingt gegeben sein müssen. In welchen Formen ein lebensweltliches Menschenbild im konkreten Fall tatsächlich gegeben ist, hängt nämlich, wie gesagt, von der Anzahl und der Macht derjenigen Menschen ab, die sich an diesem Menschenbild orientieren.

Explizite und implizite subjektive Überzeugungen Unabhängig davon, ob ein Menschenbild nun von einem, von einigen oder von vielen Menschen für maßgeblich gehalten wird, ein lebensweltliches Menschenbild existiert notwendigerweise immer in Form eines subjektiv gegebenen Bündels an Überzeugungen. Dies ist gleichsam die Urform von Menschenbildern: Jemand glaubt, dass der Mensch so und so beschaffen ist, dass er diese und jene wichtigen Eigenschaften hat. Dies bedeutet, dass es lebensweltliche Menschenbilder nur dann gibt, wenn es jemanden gibt, dessen Menschenbilder sie sind. Ein Menschenbild, das nur in verschriftlichter Form zwischen zwei Buchdeckeln existiert, ist zwar ein Menschenbild, aber eben kein lebensweltliches Menschenbild. Vielleicht war es einmal ein lebensweltliches Menschenbild, weil es einmal Menschen gab, die es für richtig gehalten und sich in ihrem Leben an ihm orientiert haben, und es kann auch wieder zu einem solchen werden, nämlich dann, wenn das Buch Leser findet, die es nicht nur von der Richtigkeit des niedergeschriebenen Menschenbildes überzeugen kann, sondern auch davon, sich fortan von diesem Menschenbild leiten zu lassen. 207 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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Solange es aber nicht ein Individuum gibt, das das Menschenbild für richtig hält und seine Praxis an ihm ausrichtet, kann es kein lebensweltliches Menschenbild sein. Lebensweltliche Menschenbilder sind also immer in Form subjektiver Überzeugungen gegeben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat wohl jede und jeder von uns ein solches Menschenbild, hat jede und jeder von uns handlungsleitende Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen. 35 Diese Überzeugungen können nun bewusst oder implizit, d. h. nicht bewusst, aber leicht bewusst zu machen, sein. Bewusst sind sie dann, wenn ich weiß, dass ich diese Überzeugungen habe, wenn ich sie auf Aufforderung ohne längeres Nachdenken nennen kann und wenn ich mich in meiner lebensweltlichen Praxis bewusst an ihnen orientiere. Wenn ich mich etwa dabei erwische, dass ich über jemanden, der des mehrfachen schweren sexuellen Missbrauchs und Mordes von Minderjährigen überführt wurde, denke, dass man ihn »am besten erschießen sollte« und mich sogleich erschreckt selber zurechtweise, weil ich der Ansicht bin, dass auch dieses Individuum ein Mensch und als solcher Träger von Menschenwürde und Menschenrechten ist, so habe ich mich im Lichte meiner bewussten Überzeugungen über den Menschen korrigiert. Wenn ich mich hingegen selbst korrigiere, indem ich mir das für mich verbindliche Gebot »Du sollst nicht töten!« in Erinnerung rufe, dann habe ich mich im Lichte einer moralischen Überzeugung korrigiert, die implizit ein Menschenbild beinhaltet bzw. auf eines verweist. Wenn mich jemand darauf hinweisen würde, dass ich dann offenbar davon ausgehe, dass der Delinquent ein Mensch ist und er, eben weil er ein Mensch ist, nicht getötet werden darf, würde ich dem zustimmen (müssen). Überzeugungen über den Menschen können folglich auch implizit sein: Sie sind mir dann nicht unmittelbar bewusst, ich weiß also gar nicht, dass ich sie habe, und es ist mir daher nicht ohne weiteres möglich, sie zu nennen. Sie stecken aber in anderen Überzeugungen, etwa moralischer, religiöser, weltanschaulicher, pädagogischer usw. Art, die ich habe, von denen ich weiß, dass ich sie habe, und an denen ich mich orientiere. Aus diesen Überzeugungen lassen sich meine impliziten Annahmen über den Menschen logisch rekonstruieren, d. h. mit ein wenig Nachdenken herausarbeiten. Implizite Überzeugungen über den Menschen sind also solche, die mir nicht Eine Ausnahme sind Menschen, die kognitiv dazu nicht in der Lage sind, und Menschen, die nicht über den Begriff »Mensch« oder »Menschheit« verfügen.

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direkt bewusst sind, die aber in meinen anderen mir bewussten Überzeugungen mitgegeben sind. Diese Art der impliziten und daher nicht-bewussten Überzeugungen ist zu unterscheiden von im strengen freudianischen Sinne unbewussten »Überzeugungen« über den Menschen. Was mit letzteren gemeint ist, sei an einem Beispiel illustriert: Nehmen wir an, dass ich aufgrund schlimmer verdrängter Kindheitserfahrungen Menschen gegenüber sehr misstrauisch bin. Ich gehe meinen Mitmenschen aus dem Weg und führe eine Einzelgängerexistenz, ich bin bei Begegnungen mit Menschen äußerst vorsichtig und werde schnell aggressiv. Unbewusst sehe ich, so sagt meine Analytikerin, in jedem Menschen jemanden, der mich vernichten will. Könnte man in diesem Falle davon sprechen, dass ich ein unbewusstes Menschenbild habe, nämlich eines, das den Menschen als ein bedrohliches, böses Wesen zeichnet? So plausibel die Rede von einem unbewussten Menschenbild auf den ersten Blick erscheinen mag, gänzlich passend ist sie nicht. Zunächst einmal ist unklar, ob man im Falle unbewusster Inhalte tatsächlich von »Überzeugungen« sprechen kann. Dies würde voraussetzen, dass die Inhalte des Unbewussten propositional sind, was allerdings zweifelhaft ist. 36 Bei einer »unbewussten Überzeugung« handelt es sich doch eher um eine – meist vom Analytiker vorgenommene – metaphorische sprachliche Deutung eines komplexen Knotens an psychischen (und physischen) Vorgängen, die nichtpropositional sind. Diese metaphorische Deutung könnte freilich angemessen sein. Doch selbst wenn man eine solche metaphorische Rede vom Menschenbild für angemessen halten würde, ja selbst wenn man tatsächlich von unbewussten propositionalen Inhalten und mithin von so etwas wie einem unbewussten Menschenbild sprechen könnte: Für richtig kann ich dieses Menschenbild auf keinen Fall halten, denn dazu müsste ich zumindest implizite Kenntnis von ihm haben. Mein »unbewusstes Menschenbild« kann daher kein lebensweltliches Menschenbild sein, denn lebensweltliche Menschenbilder bestehen aus propositionalen Inhalten, an denen ich mich in meinem Handeln – mehr oder weniger bewusst – ausrichte. Zweifellos kann mich mein Unbewusstes stark beeinflussen, es kann mich aber nicht in meiner Lebensführung, die ja immer eine bewusste ist, orientieren. Mein Unbewusstes kann allerdings – und dies ist sogar wahrscheinlich – dazu führen, dass ich gewisse bewusste oder implizite Überzeu36

Vgl. dazu Lear, Jonathan, Freud, London/New York 22015, 29–56.

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gungen über den Menschen habe. So könnten meine verdrängten schlimmen Kindheitserfahrungen der Grund dafür sein, weswegen ich ein pessimistisches Menschenbild vertrete. Mein Unbewusstes kann mithin die Ursache meiner anthropologischen Überzeugungen sein und sich insofern in den propositionalen Inhalten, die ich für richtig halte, niederschlagen, aber mein Unbewusstes kann nicht direkt ihr Inhalt sein. Dies bedeutet: Selbst wenn es so etwas wie ein unbewusstes Menschenbild gäbe – was zweifelhaft ist –, könnte dieses Menschenbild nicht ein lebensweltliches Menschenbild sein, denn dazu müsste es zumindest implizit in bewussten Überzeugungen mitgegeben sein. Wenn es aber implizit in anderen Überzeugungen mitgegeben wäre und ich mir seiner relativ unkompliziert bewusst werden könnte, dann würde es sich eben nicht mehr um etwas Unbewusstes im strengen freudianischen Sinne handeln. Lebensweltliche Menschenbilder sind also, so können wir diesen Gedanken abschließen, notwendigerweise immer in Form von Bündeln an Überzeugungen gegeben, die jemand hat, d. h. die jemand für richtig hält und an denen er oder sie sich im Alltagshandeln orientiert. Diese Überzeugungen können dabei entweder bewusst gegeben oder implizit in anderen bewussten Überzeugungen mitgegeben sein.

Explizite und implizite objektive Größen Die Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen, die jede und jeder von uns hat, haben wir meistens nicht alleine, sondern wir teilen zumindest die meisten dieser Überzeugungen mit einigen, manchmal mit vielen unserer Mitmenschen. Zudem haben wir uns die meisten dieser Überzeugungen nicht selbst ausgedacht, sondern wir haben sie übernommen. Sie wurden uns von der Gesellschaft, in der wir sozialisiert wurden – von unseren Eltern, Lehrern, anderen Einflusspersonen – gelehrt, die sie ihrerseits wieder von ihren Eltern, Lehrern usw. erhalten haben. Wie die Sprache, die ja auch von Generation zu Generation weitergegeben wird, können Menschenbilder folglich als Institutionen gelten: als Einrichtungen, die von vielen Individuen geteilt werden; als Einrichtungen, die, weil sie von vielen Individuen geteilt werden, von den einzelnen Individuen unabhängig sind – wenn ich aufhöre, ein bestimmtes Menschenbild zu vertreten, gibt es noch genug andere, die es vertreten und die sicherstellen, dass es an die nächste Generation weitergereicht wird; 210 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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und als Einrichtungen, die die vielen Individuen in ihrem Verhalten binden und orientieren. Lebensweltliche Menschenbilder sind somit nicht nur Bündel subjektiv gegebener Überzeugungen, sondern sind kraft der Tatsache, dass sie intersubjektiv geteilt werden, auch objektive Größen. Sie sind Teil der kollektiv geteilten Sinn- und Überzeugungssysteme, die eine über das einzelne Individuum hinausragende, von ihm unabhängige Existenz haben. Als solch objektive Größen sind Menschenbilder in unterschiedlichster, sprachlicher wie nicht-sprachlicher Form gegeben. In expliziter versprachlichter Form sind Menschenbilder beispielsweise in den anthropologischen Theorien und Modellen gegeben, die in Weltanschauungen und religiösen Glaubenssystemen enthalten sind. Diese Menschenbilder sind zum Teil sehr detailliert ausgearbeitet und weisen einen hohen Grad an Differenziertheit auf. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf die verschiedenen christlichen Anthropologien hingewiesen, die sich in unzähligen Bänden wissenschaftlicher, semi-wissenschaftlicher und populärer Arbeiten niedergeschlagen haben. Das Gleiche gilt für Anthropologien buddhistischer, hinduistischer, islamischer, jüdischer, taoistischer, konfuzianistischer usw. Provenienz: Auch diese liegen nicht nur in einer unüberschaubaren Vielfalt, sondern in bis in die kleinsten Einzelheiten raffiniert zergliederten Lehren vor. Ebenso zu nennen sind hier die verschiedenen materialistischen, darwinistischen, marxistischen, humanistischen, romantischen, existenzialistischen usw. sowie die Fülle an lebensweisheitlichen und esoterischen Anthropologien. Freilich können diese Theorien nicht alle einfach den lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungssystemen zugerechnet werden – dafür sind sie oft viel zu komplex. Sie gehören in der Regel vielmehr einer speziellen »Sinnprovinz« bzw. Erfahrungswelt an, etwa der Sinnprovinz der Wissenschaft oder der Sinnprovinz der Religion, sie sind aber gleichwohl nicht unabhängig von der Lebenswelt. 37 Dies allein schon deswegen, weil die Proponenten dieser Theorien erstens selbst in der Lebenswelt verankert sind und aus ihr schöpfen, weil ihnen zweitens in der Regel daran gelegen ist, ihr jeweiliges theoretisch ausgearbeitetes Menschenbild auch in ihrer Lebenswelt praktisch umzusetzen, und weil sie sich drittens mit unterschiedlichem Erfolg darum bemühen, ihre Anschauungen in der Gesellschaft zu verbreiten und ihnen zu lebensweltlicher Wirksamkeit zu verhelfen. Zwischen an37

Vgl. hierzu Berger/Luckmann, Konstruktion, 102.

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thropologischer Theorie und lebensweltlichem Menschenbild bestehen daher vielerlei wechselseitige Beziehungen. So ist es beispielsweise dem Existenzialismus gelungen, das Lebensgefühl einer Generation einerseits zu artikulieren, in Theorien zu gießen und in unzählige Feinheiten zu verästeln, andererseits dieses Lebensgefühl über viele Kanäle und Multiplikatoren durch die Artikulation und Theoriebildung zu prägen und ihm griffige Formulierungen zur Verfügung zu stellen, wie etwa »Der Mensch ist seine Existenz«, »Die Existenz geht der Essenz voraus.« »Der Mensch ist verantwortlich für das, was er ist.«, »Der Mensch ist sein Entwurf.« usw. 38 Auch die Evolutionstheorie ist bekanntlich nicht lange eine rein wissenschaftliche Theorie geblieben, sondern wurde auf unterschiedlichste Weise in umfassendere weltanschauliche Systeme eingebettet, die ihrerseits wiederum um gesellschaftlichen Einfluss kämpften und mit der Zeit hier stärker, dort schwächer in die allgemein geteilten lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungssysteme einsickerten. In expliziter Form finden sich Menschenbilder bzw. Aspekte derselben jedoch nicht nur in den anthropologischen Theorien und Lehren der Weltanschauungen und Religionen, sondern auch, in wesentlich kompakterer Form, in weltanschaulichen oder religiösen Bekenntnissen, in grundlegenden Rechtsdokumenten, in den Grundsatzerklärungen weltanschaulicher Gruppierungen und politischer Parteien sowie in sonstigen weltanschaulichen Erklärungen, Darstellungen und Leitbildern aller Art. So beinhalten beispielsweise viele christliche Glaubensbekenntnisse explizite anthropologische Aussagen. 39 Explizite anthropologische Aussagen finden sich etwa auch im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, dessen Artikel 1 Absatz 1 lautet: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« 40 Und natürlich beinhaltet die Allgemeine Vgl. dazu Sartre, Jean-Paul, Der Existentialismus ist ein Humanismus. Und andere philosophische Essays 1943–1948, Reinbek 62012. 39 Das von allen westlichen christlichen Kirchen anerkannte Apostolische Glaubensbekenntnis trifft allerdings keine expliziten anthropologischen Aussagen. Die meisten protestantischen Bekenntnisse machen jedoch explizite Aussagen über den Menschen. Zu den Glaubensbekenntnissen der christlichen Kirchen vgl. Pelikan, Jaroslav/Hotchkiss, Valerie (Hg.), Creeds and Confessions of Faith in the Christian Tradition, 4 Bde., New Haven 2003. 40 Viele grundlegende Rechtsdokumente wie z. B. Verfassungen machen allerdings keine expliziten Aussagen über den Menschen als solchen, vor allem deswegen, weil sie sich auf die jeweiligen Staatsbürger und nicht auf den Menschen beziehen. 38

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Erklärung der Menschenrechte explizite Aussagen über den Menschen, ja die Erklärung kann als Ganze als eine Sammlung solcher Aussagen verstanden werden. 41 In hochkonzentrierter Form sind Aspekte von Menschenbildern darüber hinaus explizit in religiösen, weltanschaulichen oder politischen Formeln und Schlagwörtern gegeben, wie etwa in der Rede von der christlichen »Gottesebenbildlichkeit«, der »Menschenwürde«, der revolutionären Trias der »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, der sozialistischen »Solidarität« usw. Explizit sind Aspekte von Menschenbildern oft auch in Narrationen gegeben. So beinhalten beispielsweise die meisten Schöpfungsmythen ausdrückliche Aussagen über den Menschen. Sie erzählen davon, dass und wie der Mensch von Urwesen, sei es nun von Gott oder mehreren Göttern oder anderen urzeitlichen Gestalten geschaffen wurde, sie beschreiben den Menschen, wie etwa in der griechischen Mythologie, als ein im Kern unvollständiges Wesen, sie schildern ihn als ein Wesen, das die Fähigkeit hat, zwischen gut und böse zu unterscheiden, und in dessen Herzen sowohl das Gute wie auch das Böse wohnt, sie stellen dar, in welcher Beziehung der Mensch zu dem Urwesen – als Untertan, als Ebenbürtiger, als Rebell – und in welcher Beziehung der Mensch zu den Tieren, zu den Dingen und zum Kosmos insgesamt steht usw. 42 Als objektive, intersubjektiv geteilte Größen sind Menschenbilder jedoch nicht nur explizit, sondern auch – und vor allem – implizit gegeben, und zwar sowohl in sprachlichen wie auch in nicht-sprachlichen Objektivationen menschlichen Sinns. Sie finden sich implizit natürlich in allen weltanschaulichen und religiösen Lehren, Bekenntnissen und Erklärungen ebenso wie in den moralischen, rechtlichen, sozialen, pädagogischen usw. Dar- und Festlegungen. Sie finden sich in den vielfältigen Narrativen, in den Mythen und Epen sowie in den Geschichten, die wir uns tagtäglich erzählen, in Sprichwörtern, Alltagsweisheiten, Redensarten und im Liedgut. So dokumentieren etwa Zur Anthropologie der Menschenrechte vgl. Krenberger, Verena, Anthropologie der Menschenrechte. Hermeneutische Untersuchungen rechtlicher Quellen, Würzburg 2008; kritisch hingegen Höffe, Otfried, Anthropologie und Menschenrechte, in: Jörke, Dirk (Hg.), Politische Anthropologie, Baden-Baden 2009, 231–244; ders., Sieben Thesen zur Anthropologie der Menschenrechte, in: Ders. (Hg.), Der Mensch – ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie, Stuttgart 1992, 188–211. 42 Vgl. dazu Koslowski, Peter (Hg.), Gottesbegriff, Weltursprung und Menschenbild in den Weltreligionen, Diskurs der Weltreligionen, Bd. 1, Paderborn 2000. 41

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die Spirituals, die Lieder afroamerikanischer Sklaven, in denen, oft in codierter Form, die Ungerechtigkeit der Sklaverei angeprangert wird und sich der Wunsch nach Freiheit artikuliert, ein egalitaristisches Menschenbild. Der amerikanische Sozialreformer, Redner, Schriftsteller, Abolitionist und Staatsmann Frederick Douglass, selbst ein entflohener Sklave, schildert in einer seiner autobiographischen Schriften, wie sich in den kaum entzifferbaren Gesängen der Sklaven der Zorn über die entmenschlichenden Lebensbedingungen und der Wunsch nach Freiheit äußert. Implizit kommt hier ein Menschenbild zum Ausdruck, demzufolge auch Schwarze vollwertige Menschen sind, denen das Recht auf Freiheit und ein gutes Leben ebenso zukommt wie den Weißen. I did not, when a slave, understand the deep meanings of those rude, and apparently incoherent songs. I was myself within the circle, so that I neither saw or heard as those without might see and hear. They told a tale which was then altogether beyond my feeble comprehension; they were tones, loud, long and deep, breathing the prayer and complaint of souls boiling over with the bitterest anguish. Every tone was a testimony against slavery, and a prayer to God for deliverance from chains. The hearing of those wild notes always depressed my spirits, and filled my heart with ineffable sadness. The mere recurrence, even now, afflicts my spirit, and while I am writing these lines, my tears are falling. To those songs I trace my first glimmering conceptions of the dehumanizing character of slavery. I can never get rid of that conception. Those songs still follow me, to deepen my hatred of slavery, and quicken my sympathies for my brethren in bonds. 43

Mehr oder weniger implizit finden sich Menschenbilder des Weiteren in vielfacher Form in den Darstellungen der bildenden Künste, in Film, Fotografie, Literatur und generell in den Medien. 44 Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang etwa auf das Werk von Leni RieDouglass, Frederick, My Bondage and My Freedom, New York 1855, 99; vgl. ferner Levine, Lawrence, Slave Songs and Slave Consciousness. An Exploration in Neglected Sources, in: Fulop, Timothy/Raboteau, Albert (Hg.), African American Religion. Interpretive Essays in History and Culture, New York/London 1997, 58–87; Levine, Lawrence, Black Culture and Black Consciousness: Afro-American Folk Thought from Slavery to Freedom, New York 1977. 44 Zu den Menschenbildern in den Medien vgl. Eder, Jens/Imorde, Joseph/Reinerth, Maike (Hg.), Medialität und Menschenbild, Berlin/Boston 2013; Grimm/Capurro, Menschenbilder in den Medien; ferner auch kritische berichte. Zeitschrift für Kunstund Kulturwissenschaften 41/1 (2013): Menschenbilder in der Populärkultur. Kunst-, Bild-, Medienwissenschaften. Zu Forschungen zu Menschenbildern in Kunst, Medien und Wissenschaft. 43

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fenstahl verwiesen, die vor allem in ihrer Reichsparteitagstrilogie dem Menschenbild der Nationalsozialisten einen filmischen Ausdruck verliehen hat. 45 Ein weiteres geradezu paradigmatisches Beispiel ist die berühmte und enorm einflussreiche Fotoausstellung The Family of Man, die Edward Steichen für das Museum of Modern Art in New York zusammenstellte und die dort ab 1955 zu sehen war, bevor sie in unterschiedlichen Wanderversionen auf Welttournee ging. Das Ziel der Ausstellung, die ein umfassendes Portrait der Menschheit in 37 Themen wie z. B. Liebe, Glaube, Geburt, Arbeit, Familie, Kinder, Krieg Frieden usw. zeigt, bestand darin, nach den Gräuel des Zweiten Weltkrieges und der Bedrohung durch den Atomkrieg ein Bewusstsein für die fundamentale Würde, Gleichheit und Zusammengehörigkeit aller Menschen zu schaffen. 46 Zu nennen ist ferner die berühmte Erzählung Der Fremde von Albert Camus, der in diesem Text der existenzialistischen Auffassung von der Absurdität der menschlichen Existenz ein literarisches Denkmal gesetzt hat. 47 Auch in der Architektur kommen Menschenbilder zum Ausdruck, so etwa in der faschistischen Monumentalarchitektur, die darauf abzielt, den Menschen klein zu machen, ihn seiner Stellung in der Hierarchie bewusst werden zu lassen und ihn als anonymes, im Körper des Volkes aufgehendes Massenwesen sieht. 48 Implizit finden sich Menschenbilder auch in den Verhaltensvorschriften und etablierten Praktiken – wie z. B. in den in sämtlichen Kulturen verankerten Praktiken der Begrüßung und Entschuldigung mit ihren zum Teil sehr differenzierten Vorschriften, 49 oder in der Vgl. Mayer, Tilman »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns« – Das Menschenbild im Nationalsozialismus, in: Becker, Manuel/Studt, Christoph (Hg.), Der Umgang des Dritten Reiches mit den Feinden des Regimes. XII. Königswinterer Tagung (Februar 2009), Berlin 2010, 13–24, hier 21; ferner Schmidt, Franziska, Zur Visualisierung der Macht: Vor- und Fremdbilder, in: Blask, Falk/Friedrich, Thomas (Hg.), Menschenbild und Volksgesicht. Positionen zur Portraitfotographie im Nationalsozialismus, Münster 2005, 179–193. 46 Vgl. Steichen, Edward (Hg.), The Family of Man, New York 1996; vgl. ferner Sandeen, Eric, Picturing an Exhibition: The Family of Man and 1950s America, New Mexico 2010; Philipp, Claudia Gabriele, Die Ausstellung »The Family of Man« (1955). Fotografie als Weltsprache, in: Fotogeschichte 23/7 (1987), 45–62. 47 Camus, Albert, Der Fremde, Reinbek 701997. 48 Tilman, »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, 21 f. Vgl. ferner Borsi, Franco, Die monumentale Ordnung. Architektur in Europa 1929–1939, Stuttgart 1987. 49 Vgl. Michaels, Axel, Göttern schüttelt man nicht die Hände. Grußgesten im hinduistischen Ritual, in: Wulf, Christoph/Fischer-Lichte, Erika (Hg), Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, München 2010, 91–103. Zur Entschuldigung vgl. Zirfas, 45

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Praxis der Gastfreundschaft, in der der Respekt vor dem anderen, fremden Menschen zum Ausdruck kommt. 50 Abhängig von den Regeln, die diese Praktiken konstituieren und in denen zum Teil genau festgelegt ist, welche Menschen unter welchen Umständen wie zu begrüßen, zu entschuldigen und gastfreundlich aufzunehmen sind, kommt in diesen Praktiken eher ein egalitaristisches oder ein nichtegalitaristisches, hierarchisches z. B. ständisches oder rassistisches Menschenbild zum Ausdruck. Und schließlich stecken Menschenbilder – darauf wurde oben schon hingewiesen – in der Organisation der Gesellschaft selbst, in ihren Institutionen, in der Art und Weise, wie die Beziehungen zwischen den Individuen, den unterschiedlichen Gruppen, Klassen und Schichten verfasst und wie die offiziellen und inoffiziellen Zugänge zu gesellschaftlichen Gütern wie Bildung, Information, sozialer Status usw. geregelt sind. In einer egalitaristischen Gesellschaft, in der die Überzeugung vorherrscht, dass alle Menschen gleichwertig sind, sind die Beziehungen zwischen den Menschen und die Zugänge zu Gütern anders geregelt als etwa in ständischen oder rassistischen Gesellschaften. Doch Menschenbilder stecken nicht nur in der sozialen Struktur von Gesellschaften – also dem, was Habermas Gesellschaft nennt –, sondern auch in dem, was Habermas Persönlichkeit nennt, also in den Menschen selbst: In den durch Sozialisation erworbenen und antrainierten Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch in Haltungen, Gefühlslagen und Denkweisen, in der Körperhaltung, in den Gesten, in den Bewegungen, kurz: in Habitus und Hexis. 51 Eine stark Jörg, Die Geste der Entschuldigung, in: Wulf, Christoph/Fischer-Lichte, Erika (Hg.), Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, München 2010, 78–90, hier v. a. 87 ff.; ferner Crespo, Mariano, Das Verzeihen. Eine philosophische Untersuchung, Heidelberg 2002. 50 Zur Gastfreundschaft vgl. die interdisziplinären Standardwerke von Lashley, Conrad/Morrison, Alison (Hg): In Search of Hospitality: Theoretical Perspectives and Debates, New York 2000 und Lashley, Conrad/Lynch, Paul/Morrison, Alison (Hg), Hospitality: A Social Lens, Amsterdam 2007. Vgl. ferner Reiterer, Friedrich/Udeani, Chibueze/Zapotoczki, Klaus (Hg.), Hospitality – A Paradigm of Interreligious and Intercultural Encounter – Gastfreundschaft als Paradigma interreligiöser und interkultureller Begegnung, Amsterdam/New York 2012. 51 Vgl. dazu Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982, 171–210. Zum Begriff des Habitus vgl. Krais, Beate/Gebauer, Gunter, Habitus, Bielefeld 2002; Lenger, Alexander/Schneickert, Christian/Schumacher, Florian (Hg.), Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2013.

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autoritär und kollektivistisch verfasste Gesellschaft etwa, die an die Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze der Gesellschaft glaubt, wird kaum selbstbewusste, ihre individuellen Anlagen entfaltende, starke, kritische Persönlichkeiten hervorbringen, sondern wird die Fähigkeiten zu Unterordnung, zur Anpassung, zu Gehorsam und Selbstverleugnung fordern, fördern und so ihren Mitgliedern einprägen. Das Menschenbild dieser Gesellschaft wird sich in diesen Menschen gleichsam dauerhaft einverleiben und in ihren Kompetenzen, Körperhaltungen, Gestik usw. zum Ausdruck kommen. 52 Freilich lassen sich gesellschaftliche Praktiken und Institutionen sowie Habitus und Hexis nicht einfach als direkter Ausdruck eines spezifischen Menschenbildes interpretieren, sind hier doch zu viele Faktoren gleichzeitig im Spiel. Im konkreten Fall wird es sich wohl kaum klären lassen, ob eine gewisse gesellschaftliche Praxis oder ein bestimmtes wiederkehrendes Ensemble an Verhaltensmustern und Kompetenzen nun auf ein bestimmtes Menschenbild, eine Gruppenidentität, kollektive Ängste und Erfahrungen oder sonst einen Faktor zurückzuführen sind. Aus den Praktiken, Institutionen, gesellschaftlichen Arrangements, aus Gewohnheiten, Körperhaltungen, Habitus und Hexis usw. lässt sich daher nicht ohne weiteres ein Menschenbild – oder überhaupt irgendeinen Inhalt – herauslesen. Von diesen Schwierigkeiten künden die großen Auseinandersetzungen in der Ethnologie um die Interpretation des Verhaltens fremder Völker. So hat beispielsweise Clifford Geertz aufgrund seiner Beobachtungen der Balinesischen Gesellschaft darauf geschlossen, dass diese eine »depersonalizing conception of personhood« hätten. 53 Unni Wikan hingegen kommt aufgrund ihrer Untersuchungen derselben Volksgruppe zum Schluss, dass diese ein sehr lebendiges Empfinden des Personseins ihrer selbst und ihrer Mitmenschen haben, sie diese Empfindungen aber – aus Gründen der Höflichkeit und des Respekts – unter einer Oberfläche von Ästhetizismus, Würde und Fröhlichkeit verbergen. 54 In diesem Fall wurde den Verhaltensweisen ein sehr unVgl. hierzu etwa das Gemeinschaftswerk von Horkheimer, Max/Fromm, Erich/ Marcuse, Ludwig u. a., Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, hg. v. Max Horkheimer, Paris 1936. Die Frage, inwieweit Menschenbilder auch in der Persönlichkeit und im Körper von Individuen stecken, wird später (S. 373 ff.) noch ausführlicher behandelt. 53 Vgl. Geertz, Clifford, Person, Time, and Conduct in Bali. The social Nature of Thought, in: Ders., Interpretation of Cultures, 360–411, hier 391. 54 Vgl. Wikan, Unni, Public Grace and Private Fears: Gaiety, Offense, and Sorcery in 52

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Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen

terschiedlicher Sinn zugeschrieben. Roy D’Andrade hat die Schwierigkeiten, die bei der Interpretation verkörperten Sinnes auftreten, treffend so beschrieben: The physical embodiments of most cultural models [z. B. Menschenbilder] do not lie in the perceptible world in a clump like Crown jewels in the Tower. What the ethnographer sees and hears at different times and places are little bits of that and that, all of which must be put together into a coherent framework. And, given the impressive ability of humans to construct something out of almost anything, the question of psychological reality immediately arises – how do we know that the model constructed by the ethnographer is, in fact, a model for the native? 55

Glücklicherweise müssen wir uns hier nicht weiter mit diesen Fragen der Interpretation befassen, wir können sie getrost den Ethnologen überlassen. Für uns wichtig ist lediglich die Feststellung, dass Menschenbilder auch in sozial institutionalisierter und in individuell verkörperter Form, d. h. in Gesellschaft und Persönlichkeit gegeben sein können und wohl oft auch gegeben sind. Der Umstand, dass Menschenbilder in dieser Form gegeben sein können, wirft aber eine andere Frage auf, der wir uns nicht entziehen können: Wenn es Menschenbilder in diesen Formen geben kann, wäre es dann nicht möglich, dass Menschen bewusst ein Menschenbild vertreten, während sie – mehr oder weniger unbewusst – durch die sozialen Praktiken, an denen sie teilnehmen, und durch Habitus und Hexis ein anderes Menschenbild ausdrücken? Die Antwort auf diese Frage muss lauten: Ja, es ist durchaus möglich und nicht einmal ungewöhnlich, dass Differenzen zwischen einerseits dem bestehen, was Individuen bewusst für richtig halten, und andererseits dem, was sie durch ihre Teilnahme an sozialen Praktiken sowie dem, was sie verkörpert haben, ausdrücken. So ist etwa das Leben des Sklaven zutiefst von rassistischen Praktiken geprägt, ist sein geschundener Körper sichtbares Zeichen eines rassistischen Menschenbildes, und dennoch kann der Sklave zutiefst von einem egalitaristischen Menschenbild überzeugt sein. Die Lebenswelt des Sklaven ist in diesem Fall von zwei Menschenbildern geprägt: Von seinem egalitaristischen, das er Northern Bali, in: Ethos 15/4 (1987), 294–312; dies., Managing the Heart to Brighten Face and Soul: Emotions in Balinese Mortality and Health Care, in: American Ethnologist 16/2 (1989), 294–312; dies., Managing Turbulent Hearts: A Balinese Formula for Living, London 1990. 55 D’Andrade, Roy, Development of Cognitive Anthropology, 157 (Hervorhebung im Original).

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vielleicht mit seinen Leidensgenossen und -genossinnen teilt und das sich unter anderem in den Liedern, die sie gemeinsam anstimmen, und dem Widerwillen, mit dem sie ihren Sklavendienst versehen, artikuliert, und von dem rassistischen seines Herren bzw. der Sklavenhaltergesellschaft, dem er sich zu unterwerfen hat. Beide Menschenbilder sind in diesem Falle lebensweltliche Menschenbilder, weil sich der Sklave in seinem Alltaghandeln an beiden orientieren wird: An das eine, egalitaristische, hat sich der Sklave freiwillig gebunden und er wird sich an ihm im Alltag orientieren, soweit ihm dies möglich ist; an dem anderen, rassistischen, muss er sich im Alltag über weite Strecken gezwungenermaßen orientieren – zumindest implizit –, er muss so tun, als ob er das rassistische Menschenbild für richtig halten würde, auch wenn er es de facto nicht tut. Letztlich ist es freilich der Sklavenhalter, der das rassistische Menschenbild zu einem lebensweltlichen macht: Dieser hält ja das rassistische Menschenbild für richtig, orientiert freiwillig sein Handeln an ihm und ist im Besitz der Macht, es dem Sklaven aufzuzwingen. Das Problem, das sich hier auftut, ist das Problem der Pluralität von Menschenbildern. Dieses können wir für den Augenblick noch beiseite schieben, wir werden es im nächsten Kapitel aufgreifen. Entscheidend ist momentan, dass das als objektive Größe gegebene Menschenbild, das in sozialen Praktiken und institutionalisierten Beziehungen, in Gesten, Körperhaltung usw. zum Ausdruck kommt, nur dann ein lebensweltliches Menschenbild ist, wenn es – zumindest implizit – in der bewussten Lebensführung verankert und insofern lebendig ist. Dies bedeutet, dass Menschenbilder, die ich in meinem sozial antrainierten Verhalten, meinen Gesten, meiner Körperhaltung usw. zum Ausdruck bringe, nicht unbedingt lebensweltliche Menschenbilder sind. So könnte es etwa sein, dass ich mich bewusst an einem liberalen, egalitären Menschenbild orientiere, in meiner Körperhaltung und meinem Verhalten aber immer noch das konservative, autoritäre Menschenbild der Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, durchbricht. Wenn man mich nun darüber aufklären würde, dass ich mit meinem ganzen Habitus ein Menschenbild zum Ausdruck bringe, das diametral von dem verschieden ist, welches ich bewusst vertrete, dann würde ich mich doch darum bemühen, meinen Habitus abzulegen und mir einen, der meinen Überzeugungen eher entspricht, anzueignen? Freilich, ich könnte auch dazu kommen, mein liberales, egalitäres Menschenbild zu verwerfen und mich von nun an an dem konservativen, autoritären Menschenbild zu orientie219 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Funktionen, Verflechtungen und Archivierungen

ren, das mir offenbar ohnehin »in den Knochen steckt«. Doch gleich, wie ich mich entscheide, auch in diesem Fall gilt: Mein lebensweltliches Menschenbild kann nur dasjenige sein, an dem ich mich – sei es bewusst, sei es implizit in anderen bewussten Überzeugungen – orientiere. Lebensweltliche Menschenbilder können folglich nicht nur in objektiver, verkörperter Form vorliegen; sie können nur auch in objektiver, verkörperter Form vorliegen. Dass Menschenbilder in objektivierter Form vorliegen, bedeutet daher nicht, dass sie allesamt noch lebendig sind. Wir sind umgeben von Zeugen vergangener Zeiten und ihren Überzeugungen. Sie stecken in den alten Schriften und Dokumenten, sie stecken in den alten Gebäuden, 56 sie stecken in den alten Bräuchen, Ritualen und Redewendungen. Selbst wenn wir diese Schriften noch lesen, wenn wir die Gebäude noch benützen und uns an die Bräuche, Rituale und Redewendungen noch halten, lebendig – und lebensweltlich – sind die in ihnen archivierten Menschenbilder nur dann, wenn sie von jemandem – zumindest implizit – für richtig gehalten werden und zur Orientierung im alltäglichen Handeln dienen. Doch selbst dann, wenn wir den Glauben an die so archivierten Menschenbilder verloren haben: ihre Wirkung sollte man nicht unterschätzen. So ähnlich wie mein Unbewusstes die Ursache mancher meiner Überzeugungen sein kann, so können die archivierten Menschenbilder subtilen Einfluss auf das nehmen, was wir bewusst für richtig halten. Wenn ich mich beispielsweise länger in einer großen gotischen Kathedrale aufhalte und das ästhetische Zusammen an hochaufstrebender, luftiger Architektur, filigraner Plastik und farbenprächtiger Glasmalerei auf mich einwirken lasse, werden mir, wenn ich nicht gänzlich unempfänglich dafür bin, unweigerlich Gefühle der Kleinheit des Menschen, der in der Unendlichkeit Gottes auf- und emporgehoben ist, aufsteigen. Wenn ich mir Riefenstahls Filme über die Reichsparteitage der Nationalsozialisten ansehe, kann ich womöglich nachempfinden, wie einen das Monumentale der Architektur niederdrückt, die Gewalt der Inszenierung mitreißt und das Tosen der Massen umfängt, und man sich dann gerne dazu verführen lässt, seine Individualität aufzugeben und sich als kleines Element dem großen Volkskörper, der unaufhaltsam dem Sieg entgegenVgl. dazu etwa Poppelreuter, Tanja, Das Neue Bauen für den Neuen Menschen: Zur Wandlung und Wirkung des Menschenbildes in der Architektur der 1920er Jahre in Deutschland, Hildesheim/Zürich/New York 2007.

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rauscht, einzufügen. Wenn nun schon die Artikulationen von Menschenbildern, die wir nicht (mehr) teilen, ihre Wirkung auf uns nicht verfehlen, lässt sich vielleicht ermessen, wie stark ihre Wirkung dann sein wird, wenn wir das artikulierte Menschenbild für richtig halten, wenn also subjektive Überzeugung und objektivierte Überzeugung zur Deckung kommen.

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Zum Pluralismus lebensweltlicher Menschenbilder

Die bisherigen Analysen könnte man grob auf zwei zentrale Ergebnisse reduzieren: Erstens, ein lebensweltliches Menschenbild ist ein integraler Bestandteil des Sinn- und Überzeugungssystems, das uns die Lebenswelt konstituiert. Zweitens, ein Menschenbild ist ein systematisch zentraler Bestandteil des Sinn- und Überzeugungssystems, das uns die Lebenswelt konstituiert. Mit anderen Worten: Menschenbilder sind für die Lebenswelt fundamental. Das Problem bei diesen beiden Ergebnissen ist allerdings, dass sie nur plausibel sind, solange es in einer Lebenswelt nur ein Menschenbild gibt. Die Lebenswelt vieler europäischer Gesellschaften des Mittelalters wird beispielsweise eine solche gewesen sein: Nahezu alle Mitglieder dieser Gesellschaften (bis auf ein paar Ketzer und Heiden) teilten ein christliches Menschenbild und glaubten daran, dass der Mensch von Gott geschaffen ist, dass der Mensch Sünder ist usw. Ihre Lebenswelt war zweifellos eine, in der das christliche Menschenbild ein integrales, zentrales Moment des allgemeinen Sinn- und Überzeugungshorizontes war und die daher vom christlichen Menschenbild fundamental durchwirkt war. Was aber, wenn die Mitglieder einer Gesellschaft nicht mehr nur ein lebensweltliches Menschenbild, sondern, wie es heute in vielen Gesellschaften üblich ist, jeweils sehr unterschiedliche Bilder vom Menschen haben? In unseren Analysen sind wir mehr als einmal dieser Frage ausgewichen, die aufzugreifen nun der Zeitpunkt gekommen ist: der Frage nach dem Pluralismus von Menschenbildern. Damit ist freilich nicht das gemeint, was man als Außenpluralität von Menschenbildern bezeichnen könnte, also die Tatsache, dass unterschiedliche Gesellschaften, Volksgruppen usw. ihre je eigenen Menschenbilder haben. Von außen betrachtet gibt es auf der Welt schon seit jeher eine Vielzahl von Menschenbildern: Das Volk der Hopi hatte ein anderes Menschenbild als das Volk der Maya, die australischen Aborigines ein anderes als die neuseeländischen Maori, die Gesellschaft des antiken 222 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Zum Pluralismus lebensweltlicher Menschenbilder

Athen ein anderes als die Gesellschaft des antiken Rom usw. Aber diese Menschenbilder stehen in der Regel in keinem direkten Konkurrenzverhältnis zueinander, handelt es sich dabei doch um Menschenbilder, die in jeweils anderen Lebenswelten vorkommen: Das Menschenbild der Hopi gehörte der Lebenswelt der Hopi an, das Menschenbild der Maya der Lebenswelt der Maya usw. In all diesen Lebenswelten gab es jeweils ein Menschenbild. Auf diese Vielheit nebeneinander stehender Menschenbilder zielt die Frage nach der Pluralität von Menschenbildern nicht ab. Die Frage zielt vielmehr auf die Binnenpluralität von Menschenbildern ab, also auf den Umstand, dass es Lebenswelten gibt – was heute der Normalfall ist –, in denen nicht nur ein, sondern mehrere, oftmals sogar eine unüberschaubare Mannigfaltigkeit miteinander konkurrierender Menschenbilder zugleich gegeben sind. In den Lebenswelten westlicher Gesellschaften etwa begegnen uns darwinistische, naturalistische, christliche, islamische, buddhistische, esoterische, marxistische usw. Menschenbilder, und dies jeweils in einem enormen Variantenreichtum. Freilich sind diese Menschenbilder für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder nicht allesamt gleichermaßen autoritativ. In der Regel anerkennen die einzelnen Gesellschaftsmitglieder explizit oder implizit ein einziges, nämlich ihr eigenes Menschenbild als wahr und richtig an, während sie die anderen Menschenbilder explizit oder implizit für falsch halten. Dennoch existieren diese pluralen Menschenbilder nicht einfach nur nebeneinander, sondern sie existieren miteinander, weil sie bei aller Verschiedenheit doch einer gemeinsam geteilten Lebenswelt angehören. So teile ich beispielsweise mit meinem Nachbarn, mit dem ich mich allabendlich über das politische Tagesgeschehen, über das Schulsystem und die neuesten Fußballergebnisse austausche, zweifellos eine gemeinsame Lebenswelt, und dies, obwohl ich als reger Buddhist ein buddhistisches Menschenbild vertrete, während mein Nachbar als eines der selten gewordenen Exemplare eines strammen Marxisten ein marxistisches Menschenbild vertritt. Nun ist es nichts Ungewöhnliches, dass, obwohl wir in einer gemeinsam geteilten Welt leben, Auffassungsunterschiede auftreten. Dem einen schmeckt Vanilleeis, der anderen Erdbeereis, die eine schätzt Regenwetter, der andere Sonnenschein, die eine hält Katzen für liebenswürdige, der andere für abstoßende Tiere. Im Kapitel über die Lebenswelt wurde bereits darauf hingewiesen, dass jeder von uns eine je eigene Perspektive auf die gemeinsam geteilte Welt hat. 223 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Zum Pluralismus lebensweltlicher Menschenbilder

Solange ein gemeinsam geteiltes Grundverständnis der Welt gegeben ist, zu dem auch das Meta-Wissen zählt, dass wir je eigene Perspektiven auf die Welt haben und unsere Weltverständnisse daher nie vollständig zur Deckung zu bringen sind, führen Auffassungsunterschiede nicht zum Zerbrechen der gemeinsam geteilten Lebenswelt. Die Schwierigkeit, die sich bei der Pluralität der Menschenbilder auftut, besteht jedoch darin, dass sich Auffassungsunterschiede in Bezug auf den Menschen nicht so einfach als solche gleichsam oberflächliche Differenzen abtun lassen. Menschenbilder sind systematisch zentrale Elemente der Sinn- und Überzeugungssysteme, die uns die Lebenswelt konstituieren; sie sitzen an deren Wurzel. Ein Menschenbild hat deswegen Einfluss auf die Totalität der Überzeugungen, die wir haben. Wenn dem tatsächlich so ist, wenn Menschenbilder tatsächlich so fundamental für unsere Sinn- und Überzeugungssysteme sind, dann folgt daraus, dass eine gemeinsame Lebenswelt eigentlich nur dann möglich ist, wenn die an dieser Lebenswelt Teilnehmenden auch über ein gemeinsames Menschenbild verfügen. Eine gemeinsame Lebenswelt scheint, so die Konsequenz, ein gemeinsames lebensweltliches Menschenbild vorauszusetzen. Dieses gemeinsame, die Lebenswelt fundierende Menschenbild könnte man als das Menschenbild der Lebenswelt bezeichnen. Die Tatsache, dass ich mich als Buddhist ohne weiteres mit meinem marxistischen Nachbarn über Fussball, Politik und Pädagogik, und darüber hinaus auch über Gott und die Welt unterhalten kann, obwohl wir sehr verschiedenen Menschenbildern anhängen, ist von daher erklärungsbedürftig: Wie ist die Binnenpluralität von Menschenbildern in einer gemeinsam geteilten Lebenswelt möglich? Drei Antworten scheinen diskutierbar: (a) Menschenbilder sind für den die Lebenswelt konstituierenden Sinn- und Überzeugungshorizont gar nicht so fundamental, wie hier behauptet. Differenzen in den Auffassungen über den Menschen sind unterschiedlichen Auffassungen in Bezug auf Geschmack oder Wetter strukturell ähnlich, d. h. sie sind oberflächlich und rühren nicht an die gemeinsamen Grundüberzeugungen. (b) Unterschiedliche Menschenbilder bedingen unterschiedliche Sinn- und Überzeugungssysteme und konstituieren daher unterschiedliche Lebenswelten. Mein Nachbar und ich leben daher gar nicht in einer gemeinsamen Lebenswelt, sondern wir haben nur die Illusion einer solchen. (c) Jenseits der pluralen Menschenbilder gibt es doch ein ge224 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Zum Pluralismus lebensweltlicher Menschenbilder

meinsames Menschenbild, an das alle an einer Lebenswelt Teilnehmenden explizit oder implizit glauben. Auch wenn mein Nachbar und ich unterschiedliche lebensweltliche Menschenbilder haben, so glauben wir im Kern doch beide an das eine Menschenbild unserer gemeinsamen Lebenswelt. Dieser Antwort zufolge sind Menschenbilder sehr wohl fundamentale Elemente der die Lebenswelt konstituierenden Sinn- und Überzeugungssysteme, die Differenzen in Bezug auf Menschenbilder sind aber derart oberflächlich, dass sie die gemeinsame Lebenswelt nicht zerstören. Die pluralen lebensweltlichen Menschenbilder enthalten in ihrem Kern nämlich das eine Menschenbild der gemeinsamen Lebenswelt. Die ersten beiden Antworten sind nicht besonders plausibel. Dass Menschenbilder tatsächlich von grundlegender Bedeutung sind, haben die vorherigen Abschnitte hoffentlich deutlich machen können. Dass die Gemeinsamkeit unserer Lebenswelt eine Illusion darstellt, ist angesichts der Tatsache, dass unser gemeinsames Leben trotz der Pluralität und Heterogenität unserer Auffassungen ganz gut funktioniert, unwahrscheinlich. Wie sollte soziale Interaktion gelingen, wenn wir völlig unterschiedliche Auffassungen von der Welt als Ganzer haben und davon nicht einmal wissen? Es ist folglich die dritte Antwort, die noch am ehesten als richtig erscheint: Eine gemeinsame Lebenswelt ist deswegen möglich, weil wir jenseits unserer pluralen Menschenbilder doch gemeinsam an das eine Menschenbild der Lebenswelt glauben. Es wird Aufgabe der nun folgenden Abschnitte sein, diese Antwort zu plausibilisieren. Dazu wird eine strukturelle Differenzierung zwischen verschiedenen Typen von Menschenbildern eingeführt. Es gilt nämlich, individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder zu unterscheiden. Mit dieser Unterscheidung wird den beiden Größen Menschenbild und Lebenswelt, die bislang im Fokus der Untersuchung standen, eine dritte Größe an die Seite gestellt, die bisher nur im Hintergrund mitthematisiert wurde: die Größe der sozialen Entität, und zwar in den Formen des Individuums, der Gruppe und der Gesellschaft. Die Einführung dieser Größe ist notwendig, weil Lebenswelten und Menschenbilder wie alle Überzeugungen nun einmal einen Träger benötigen, und dies sind menschliche Individuen, die sich zu Gruppen und ganzen Gesellschaften zusammenfügen, aber auch – in einem radikalen Sinne – Einzelgänger bleiben können. Mit der Einführung dieser dritten Bezugsgröße wird die soziale 225 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

und politische Dimension, die das Thema des Menschenbildes hat, sichtbarer: Eine Gesellschaft kann dauerhaft nur dann funktionieren, wenn sie eine gemeinsame Lebenswelt hat, d. h. wenn es in dieser Gesellschaft einen hinreichend dichten gemeinsamen Sinn- und Überzeugungshorizont gibt, der einen Konsens in grundlegenden Fragen des Welt- und Selbstverständnisses sowie des gemeinsamen Zusammenlebens sicherstellt. Man stelle sich nur eine Gesellschaft vor, in der es völlig unterschiedliche Wahrnehmungen darüber gibt, was wirklich und was nicht wirklich, was richtig und was falsch ist, was die richtige Organisationsform der Gesellschaft ist, wer welche Rechte und wer welche Kompetenzen hat, usw. Eine solche Gesellschaft läge – abgesehen davon, dass ein solches Gebilde kaum noch als Gesellschaft bezeichnet werden könnte – im beständigen Streit mit sich und würde sich wohl im Zustande des permanenten Bürgerkrieges befinden. Ohne einen grundlegenden gemeinsamen Sinnund Überzeugungshorizont, der eine gemeinsame Lebenswelt konstituiert, geht es nicht. Wenn aber zu dieser gemeinsamen Lebenswelt notwendigerweise ein gemeinsames Menschenbild gehört, dann kann eine Gesellschaft nur dann dauerhaft funktionieren, wenn sie auch ein gemeinsames lebensweltliches Menschenbild teilt.

Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass Lebenswelten nicht homogen sind. Selbst die einfach strukturierten, archaischen Gesellschaften, die vor allem die englische Sozialanthropologie in Afrika, Südostasien und Australien untersucht hat, entsprechen nicht vollends dem von Durkheim konstruierten Idealtypus einer homogenen Urgesellschaft, die tatsächlich in einer gemeinsamen Lebenswelt lebt, die durch ein kollektiv vollständig geteiltes Sinn- und Überzeugungssystem konstituierten ist. 1 Die Lebenswelt ist vielmehr, zumal in so pluralen Gesellschaften wie der unsrigen, inhomogen; und je komplexer, je strukturell differenzierter, je pluralistischer eine Gesellschaft wird, desto uneinheitlicher wird auch ihre Lebenswelt. Das einzelne Gesellschaftsmitglied teilt nicht alle seine die Lebens-

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Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2, 233 ff.

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Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

welt konstituierenden Überzeugungen mit allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Es gibt, wie oben bereits beschrieben, in der Regel einen Bestand an basalen Überzeugungen, den es mit allen Mitgliedern der Gesellschaft teilt, während es andere Überzeugungen nur mit einigen Mitgliedern der Gesellschaft – etwa mit den Mitgliedern seiner sozialen Gruppe oder Klasse, seiner Religionsgemeinschaft oder seiner politischen Gruppierung – und einige Überzeugungen mit niemandem anderen teilt. Seine Lebenswelt ist folglich eine geschichtete: zu einem Teil ist sie eine gesamtgesellschaftliche, zu einem anderen Teil ist sie eine nur gruppenspezifische, und zu einem wieder anderen Teil ist sie gar nur seine eigene. Diese Schichtung von lebensweltlich relevanten Überzeugungen liegt nun auch bei den Überzeugungen über den Menschen vor: Manche Überzeugungen über den Menschen teilt man mit allen Mitgliedern der Gesellschaft – manche vielleicht sogar mit allen Menschen –, manche Überzeugungen über den Menschen teilt man nur mit einigen, manche dieser Überzeugungen hat man eventuell nur selbst. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, diesen Schichten entsprechend vier strukturelle Typen von lebensweltlichen Menschenbildern zu unterscheiden: Individuelle, gruppenspezifische, gesamtgesellschaftliche und – zumindest theoretisch – weltumspannend-universelle. Die gesamtgesellschaftlichen Menschenbilder müssen dabei noch in soziokulturelle und hegemoniale unterschieden werden. 2 Diese typologische Unterscheidung ist freilich eine rein theoretische; realiter lassen sich Menschenbilder wohl nur schwer sauber einem Typus zuordnen.

Individuelle Menschenbilder Individuelle Menschenbilder sind solche Bündel an Überzeugungen über den Menschen, die nur von einem Individuum für wahr und richtig gehalten werden. Streng genommen sind freilich alle Menschenbilder stets individuelle Menschenbilder, da jedes Menschenbild Spuren der Individualität des Individuums trägt, dessen Menschen-

Streng genommen müssten auch gruppenspezifische und weltumspannend-universale Menschenbilder noch in soziokulturelle und hegemoniale unterschieden werden. Da uns hier aber vor allem die gesamtgesellschaftlichen Menschenbilder interessieren, belassen wir es bei der Unterscheidung auf dieser Ebene (zumal die Unterscheidung auf den anderen Ebenen mit ihr strukturell verwandt ist).

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Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

bild es ist. Auch wenn ich ein Menschenbild vertrete, das von vielen anderen geteilt wird, wird mein Menschenbild – obwohl es ein mit anderen geteiltes ist – unweigerlich individuelle Schattierungen haben, sei es, dass ich mit den Überzeugungen Erfahrungen und Vorstellungen verbinde, die nur ich habe, sei es, dass mein Bündel an Überzeugungen eine zusätzliche besondere Überzeugung beinhaltet – wie etwa diejenige, dass Menschen mit langen Nasen besonders charakterfest sind –, die nur ich für wahr halte. Menschenbilder mit einer solcherart schwach ausgebildeten individuellen Note sollen hier als schwache individuelle Menschenbilder bezeichnet werden. Die individuelle Note trifft hier nämlich nicht die Zentralannahmen über wichtige Eigenschaften des Menschen. In diesem Zusammenhang sei auf eine Parallele zur Sprache hingewiesen: Auch wenn unser individueller Sprachgebrauch stets die Spuren unserer Individualität trägt und man in diesem Sinne durchaus die Ansicht vertreten könnte, dass jeder seine eigene, individuelle Sprache spricht, gehen wir aufgrund großer Überschneidungen im Sprachgebrauch doch davon aus, dass wir in einem Sprachraum eine gemeinsame Sprache sprechen. Ähnliches gilt auch für Menschenbilder: Wenn ich also wie viele in meiner Religionsgruppe der Überzeugung bin, dass der Mensch von Gott geschaffen ist usw., ich aber – wie niemand sonst – zusätzlich glaube, dass Menschen mit langen Nasen besonders charakterfest sind, dann handelt es sich bei meinem Menschenbild um kein individuelles Menschenbild im strengen Sinne, da ich die Zentralannahmen eines spezifisch religiösen Menschenbildes mit anderen Mitgliedern meiner Religionsgruppe teile. Bei echten, d. h. starken individuellen Menschenbildern handelt es sich hingegen um Bündel von Überzeugungen über zentrale Eigenschaften des Menschen, die von nur einem Individuum für wahr und richtig gehalten werden. Wenn etwa Franz der Ansicht ist, dass der Mensch im Kern ein Wesen ist, das von hochintelligenten Außerirdischen auf die Welt gebracht wurde, die ihn demnächst wieder abholen werden, und dass es daher die Aufgabe des Menschen ist, sich auf diese Wiederkunft der Außerirdischen vorzubereiten, dann handelt es sich – wenn Franz tatsächlich der einzige ist, der dies glaubt – um ein stark individuelles Menschenbild: die Zentralannahmen dieses Menschenbildes hält nur Franz für wahr und richtig. Es sind nicht nur die Wahnsinnigen, sondern vor allem auch die – nicht selten an der Grenze zum Wahnsinn wandelnden – großen Einzelgänger in der Geschichte des Denkens, wie etwa Friedrich 228 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

Nietzsche 3 oder Emil Cioran, die eindrücklich dafür Zeugnis ablegen, dass es solch starke individuelle Menschenbilder, die nicht nur theoretisch entworfen, sondern auch praktisch-lebensweltlich umgesetzt werden, tatsächlich gibt. Außer Frage steht daher, dass starke individuelle Menschenbilder lebensweltliche Menschenbilder sein können. Sie sind es dann, wenn sie für das Individuum, das an sein Menschenbild glaubt, zur Grundlage seines lebensweltlichen Denkens, Fühlens, Entscheidens und Handelns, also seiner Lebensführung werden. Wenn Franz daran glaubt, dass der Mensch von Außerirdischen, die ihn bald wieder holen kommen, abstammt und er sein Leben darauf einrichtet, indem er sich z. B. jeden Tag in bestimmte spirituelle Übungen vertieft, kaum noch außer Haus geht, um sich seelisch nicht zu verunreinigen, er seine Mitmenschen prinzipiell danach beurteilt, ob sie »spirituell offen« für die Wahrheit sind, die er ihnen zu verkünden hat oder nicht, und wenn er andere davon zu überzeugen versucht, sich ebenfalls vorzubereiten, dann prägt sein Menschenbild seine Lebensführung und Lebenswelt auf dramatische Art und Weise. Sein Menschenbild und – so müsste man ergänzen – die damit verbundene Weltanschauung wird nach und nach dazu führen, dass sich die Bande zur gemeinsamen Lebenswelt, die er mit seinen Mitmenschen teilt, lösen und er sich in seine ganz »eigene Welt« zurückzieht. Individuelle Menschenbilder sind also, so können wir zusammenfassen, Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen, die nur von einem Individuum für wahr und richtig gehalten werden und die nur für dieses Individuum orientierend und handlungsleitend sind.

Gruppenspezifische Menschenbilder Gruppenspezifische Menschenbilder sind demgegenüber Bündel von Überzeugungen über als wichtig angesehene Eigenschaften des Menschen, die von mehreren Menschen, d. h. einer Gruppe von Menschen für wahr und richtig gehalten werden. In pluralistischen Gesellschaften wie der unsrigen sind Menschenbilder typischerweise solch gruppenspezifische. Der Begriff der Gruppe ist dabei sehr weit zu verstehen, nämlich einfach als Sammlung von mindestens zwei Menschen, Dessen idiosynkratisches Menschenbild aber später – v. a. im Nationalsozialismus – viele Anhänger hatte.

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Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

aber weniger als alle Mitglieder einer Gesellschaft; Gruppen sind damit als gesellschaftliche Sub-Einheiten definiert. Ob sich die Mitglieder der Gruppe persönlich kennen, ist dabei unerheblich. Um eine Gruppe zu bilden, benötigen die Gruppenmitglieder nur ein vages Wissen darum, dass sie einer Gruppe zugehören. Zwei Individuen, die unabhängig voneinander zufällig dieselben individuellen Menschenbilder haben und nichts voneinander wissen, konstituieren also noch kein gruppenspezifisches Menschenbild. In unserem Fall bedeutet das, dass die Mitglieder einer Gruppe wissen, dass sie mit ihren Überzeugungen über den Menschen nicht alleine sind, sondern dass es andere Menschen gibt, die ihre Überzeugungen teilen. Dieses Wissen geht notwendigerweise Hand in Hand mit dem Wissen, dass nicht alle Mitglieder der Gesellschaft diese Überzeugungen teilen. Gruppenspezifische Menschenbilder beinhalten somit ein Zugehörigkeitswie ein Differenzwissen: das Wissen darum, dass noch andere, aber eben nicht alle Gesellschaftsmitglieder die Überzeugungen über den Menschen teilen. 4 Unter diese Definition der Gruppe fallen sowohl innige Dyaden als auch große Religions- und Glaubensgemeinschaften, politische Gesinnungsgemeinschaften, gesellschaftliche Klassen usw. Gruppenspezifische Menschenbilder sind demnach Bündel von Überzeugungen über als wichtig angesehene Eigenschaften des Menschen, die von mehreren Menschen für wahr und richtig gehalten werden. Die Übereinstimmung der Überzeugungen in solchen Gruppen ist dabei kaum je vollkommen. Menschenbilder sind, wie eben bemerkt, bis zu einem gewissen Grade immer individuell. Das gruppenspezifische Menschenbild setzt sich daher aus den sich überlappenden Überzeugungen der Gruppenmitglieder zusammen. Besonders groß sind die Überlappungen dann, wenn sich Gruppen über gemeinsam geteilte Überzeugungen – etwa einen religiösen Glauben oder eine Weltanschauung, die auch ein Menschenbild beinhalten – identifizieren. Durch die Orientierung an einem gemeinsamen Set an Überzeugungen ist sichergestellt, dass die Übereinstimmungen in den Überzeugungen tatsächlich weitgehend gegeben sind. Typische Beispiele für solche Menschenbilder sind die verschiedenen christliDer denkbare Sonderfall, dass eine Gruppe nicht erkennt, dass nicht alle Mitglieder der Gesellschaft dieselben anthropologischen Überzeugungen haben, sondern davon ausgeht, dass alle Menschen das Gleiche vom Menschen denken, wird hier nicht behandelt.

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Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

chen, islamischen, esoterischen, sozialistischen, konservativen, darwinistischen usw. Auffassungen vom Menschen. Freilich gibt es diese Menschenbilder nicht in einer Form: das christliche Menschenbild existiert ebenso wenig wie das marxistische oder das konservative Menschenbild, vielmehr existieren unterschiedlichste christliche, marxistische, konservative usw. Menschenbilder. 5 Allerdings lassen sich Menschenbilder trotz Binnendifferenzen zwischen Splittergruppen doch zu größeren Einheiten zusammenfassen, in denen die Mitglieder dieser Gruppen – wenn auch mit Abstrichen – ihre Überzeugungen noch wiedererkennen können. Die Überlappungen werden in einem solchen Fall freilich weniger zahlreich sein. Um dies an einem Beispiel zu veranschaulichen: Es gibt einerseits Christen, die die biblische Schöpfungsgeschichte wörtlich nehmen und ein kreationistisches Menschenbild vertreten, d. h. der Auffassung sind, dass der Mensch – in Form von Adam und Eva – direkt durch einen historischen Schöpfungsakt Gottes geschaffen wurde. Andererseits gibt es Christen, die – etwa im Sinne der Theorie des intelligent design – glauben, dass Gott den Menschen indirekt, auf dem Wege der Evolution, geschaffen hat. Darüber hinaus gibt es Christen, die einfach daran glauben, dass Gott die Menschen geschaffen hat, ohne genau angeben zu können oder zu wollen, wie er dies nun vollzogen hat. Trotz dieser Differenzen werden sich diese Arten von Christen mit einem christlichen Menschenbild identifizieren können, das die Überzeugung beinhaltet, dass der Mensch von Gott geschaffen ist, ohne zu spezifizieren, wie dieser Schöpfungsakt nun konkret vorzustellen ist. Dies lässt die Rede von dem christlichen und, analog dazu, von dem marxistischen, dem konservativen usw. Menschenbild durchaus wieder gerechtfertigt sein. Die Identifikation mit solcherart abstrakteren Menschenbildüberzeugungen wird nur dann nicht gelingen, wenn für die eine Splittergruppe die konkrete Überzeugung, also etwa die direkte Kreation des Menschen, von so zentraler Bedeutung ist, dass sie durch keine abstraktere, allgemeinere Überzeugung, hier also die Schöpfung durch Gott, ersetzt werden kann. Wie die Geschichte religiöser und weltanschaulicher Spaltungen – und unter ihnen vor allem die Geschichte der christlichen Denominationen – lehrt, ist eine solch kleingeistige Glaubenskrämerei durchaus verbreitet. Darauf, dass es das eine christliche Menschenbild nicht gibt, sondern nur eine Pluralität christlicher Menschenbilder, hat insbesondere Graf mit Vehemenz hingewiesen; vgl. Graf, Missbrauchte Götter.

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Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

Die Rede von gruppenspezifischen Menschenbildern ist also in mehrfacher Hinsicht unscharf: Die Definition der Gruppe ist unscharf, und damit zusammenhängend ist ebenso unscharf, unter welchen Bedingungen ein Menschenbild ein bestimmtes Menschenbild ist – hängt es doch, wie eben dargestellt, von dem Grade der Abstraktheit der Überzeugungen über den Menschen ab, ob ein gruppenspezifisches Menschenbild das Menschenbild einer kleinen Splittergruppe oder einer größeren, mehrere Splittergruppen umfassenden Übergruppe ist. In dieser Unschärfe spiegelt sich aber bloß die Tatsache, dass unsere Gruppenzugehörigkeiten oft ineinandergeschachtelt sind. Als Angehöriger einer christlichen Kreationistengruppe werde ich mich, mit abnehmender Intensität, auch der übergeordneten Gruppe der Protestanten, der Gruppe der Christen und vielleicht auch der Gruppe der religiösen Menschen zugehörig fühlen. Dementsprechend werde ich mich, ebenfalls mit abnehmender Intensität, einem christlich-kreationistischen, einem protestantischen, einem christlichen und einem religiösen Menschenbild verpflichtet fühlen, wobei die Abstraktheit der Menschenbilder mit jedem Schritt in eine übergeordnetere Gruppe zunimmt. Zur Unschärfe trägt zudem bei, dass wir in der Regel mehreren Gruppen gleichzeitig angehören; daher kommt es auch zwischen Menschenbildern, die grundsätzlich Schnittmengen und Kompatibilitäten aufweisen, häufig zu Überschneidungen. So ist es durchaus möglich, etwa ein christliches und sozialistisches Menschenbild oder ein christliches und darwinistisches Menschenbild zu verschmelzen. Diese Unschärfe des gruppenspezifischen Menschenbildbegriffs braucht aber nicht weiter zu stören. In diesem Zusammenhang genügt es festzuhalten, dass gruppenspezifische Menschenbilder Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen sind, die von mehreren Menschen für wahr und richtig gehalten und zur Grundlage ihrer Lebensführung gemacht werden. Diese Definition ist hinlänglich präzise, um sie von den individuellen Menschenbildern einerseits und den gesellschaftlichen Menschenbildern, die im Folgenden besprochen werden, andererseits zu unterscheiden. Auch für diese gruppenspezifischen Menschenbilder gilt: sie sind dann lebensweltlich, wenn sie die Lebensführung, d. h. das lebensweltliche Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Entscheiden und Handeln prägen. Dass sie dies tun, steht – dazu genügt ein Blick auf christliche, marxistische und sozialdarwinistische Auffassungen vom Menschen – außer Zweifel. 232 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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Gesamtgesellschaftliche Menschenbilder Gesamtgesellschaftliche Menschenbilder sind demgegenüber jene Bündel an Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen, die von allen Mitgliedern oder zumindest der überwiegenden Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft geteilt werden. Ebenso wie der Gruppenbegriff ist auch der Gesellschaftsbegriff sehr unscharf. Hier meint er eine Sammlung von Menschen, die einen gemeinsamen geographischen Raum, gemeinsame Regeln des Zusammenlebens und gemeinsame Institutionen, die über diese Regeln wachen, teilen, und die keiner übergeordneten sozialen Größe mehr untergeordnet sind. Die heute typische Organisationsform der Gesellschaft ist der Staat. Angesichts der strukturell differenzierten, kulturell pluralen und daher inhomogenen Verfasstheit heutiger Gesellschaften stellt sich die Frage, ob – und wenn ja, wann – die Rede von einem gesamtgesellschaftlichen Menschenbild überhaupt noch gerechtfertigt sein kann. Relativ problemlos lässt sich von einem gesamtgesellschaftlichen Menschenbild dann sprechen, wenn sich die Gesellschaft – wie paradigmatisch die oben erwähnten archaischen Gesellschaften – durch eine große kulturelle Homogenität auszeichnet. In diesem Falle ist tatsächlich ein relativ dichtes gemeinsames Sinn- und Überzeugungssystem gegeben, das eine homogene gemeinsame Lebenswelt konstituiert. Dieses kollektiv geteilte Sinn- und Überzeugungssystem enthält in der Regel auch ein Bündel an Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen, das als ein gesamtgesellschaftlich-kulturelles bzw. soziokulturelles Menschenbild bezeichnet werden kann. Diese Menschenbilder sind durch ein hohes Maß an Übereinstimmung hinsichtlich der Überzeugungen über die wichtigen Eigenschaften des Menschen gekennzeichnet: das Menschenbild wird tatsächlich von allen Mitgliedern der Gesellschaft geteilt, die Menge der überlappenden Annahmen ist sehr groß und die Annahmen sind inhaltlich dicht. Je stärker eine Gesellschaft jedoch strukturell ausdifferenziert ist, je kulturell pluraler sie ist, je größer die individuellen und gruppenspezifischen Unterschiedlichkeiten der Ansichten über den Menschen sind, desto schwieriger erscheint es, noch von einem gesamtgesellschaftlichen Menschenbild zu sprechen. Dass die Pluralisierung der anthropologischen Überzeugungen mit einem Verlust eines so-

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ziokulturellen Menschenbildes einhergeht, ist allerdings nicht zwingend notwendig. Dies aus zwei Gründen: 6 (a) Wie oben am Beispiel des christlichen Menschenbildes, auf das sich sowohl Kreationisten als auch Anhänger der These vom intelligent design einigen können, könnten die gemeinsamen Annahmen über den Menschen einfach abstrakter und inhaltlich dünner werden. An die Stelle konkreter Vorstellungen vom Menschen würden inhaltlich vage Überzeugungen treten, die auf unterschiedliche Art und Weise spezifiziert werden können und die mit einer ganzen Bandbreite an konkreteren Überzeugungen kompatibel sind. Geradezu ein Paradebeispiel für eine solche abstrakte anthropologische Annahme bietet die Überzeugung, dass der Mensch Träger von Menschenwürde ist und daher grundsätzlichen Respekt verdient. Diese Überzeugung ist in vielen Gesellschaften tief verankert und wird breit geteilt. In dieser allgemeinen und abstrakten Überzeugung, dass Menschen im Besitz von Menschenwürde sind, ist allerdings nicht konkretisiert, worin diese Würde gründet, was sie genau bedeutet und was im Einzelfall aus ihr folgt. Denn genau darüber gehen die Ansichten auseinander: Für die einen gründet die Menschenwürde in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, für die anderen in der Autonomie und Rationalität des Menschen, für wieder andere in der biologischen Komplexität, für wieder andere ist sie eine nicht begründbare, historisch und kulturell bedingte Setzung, und wieder andere verschwenden auf die Frage der Begründung der Menschenwürde keine Gedanken, sie halten das Konzept für intuitiv überzeugend und akzeptieren es einfach. Für die einen sind menschliche Embryonen nicht, für die anderen sehr wohl Träger von Menschenwürde. Für die einen ist die Menschenwürde unter Umständen mit Todesstrafe und Folter vereinbar, für die anderen unter keinen Umständen, für die einen ist Prostitution ein Verstoß gegen die Menschenwürde, für die anderen nicht, für die einen ist die Ermöglichung aktiver Sterbehilfe eine aus der Menschenwürde abgeleitete Pflicht, für die anderen eine schwere Menschenwürdeverletzung usw. Ein gesellschaftlicher Konsens scheint folglich nur für einen relativ schmalen Minimal-

Die folgenden Überlegungen sind natürlich inspiriert durch John Rawls’ Konzept des overlapping consensus; vgl. dazu Rawls, John, Political Liberalism, New York 1993, 134–149; ders., The Idea of an Overlapping Consensus, in: Oxford Journal of Legal Studies 7/1 (1987), 1–25.

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bestand an Überzeugungen zu bestehen. Dieter Birnbacher hat ihn wie folgt umschrieben: Die Menschenwürde eines Menschen zu respektieren bedeutet, ein bestimmtes Minimum von Rechten zu respektieren, die ihm unabhängig von allen Leistungen, Verdiensten und Qualitäten zukommen und die selbst denen gewährt werden müssen, die diese Rechte bei anderen mißachten. Welche Rechte sind das? Vier Elemente scheinen unabdingbar: 1. Versorgung mit den biologisch notwendigen Existenzmitteln, 2. Freiheit von starkem und fortdauerndem Schmerz, 3. Minimale Freiheit, 4. Minimale Selbstachtung. 7

Die gemeinsame Überzeugung, dass Menschen Träger von Menschenwürde sind, ist folglich sehr abstrakt und inhaltlich relativ dünn. Sie ist dadurch aber »interpretationsoffen«, d. h. sie ist offen dafür, mit den jeweiligen gruppenspezifischen oder individuellen Ansichten über die Menschenwürde angereichert zu werden. Freilich führt diese Interpretationsoffenheit regelmäßig dazu, dass die unterschiedlichen Interpretationen dann aufeinanderprallen, wenn geklärt werden muss, was Menschenwürde in einer konkreten Situation oder für eine konkrete Fragestellung bedeutet. Dies lässt sich schön an den gesellschaftlichen Debatten über bioethische Themenstellungen wie Präimplantationsdiagnostik, Abtreibung, Stammzellenforschung, Sterbehilfe usw. ablesen. In all diesen Debatten geraten divergierende Verständnisse von Menschenwürde aneinander, und für jede dieser Problemstellung muss gesellschaftlich ausgehandelt werden, in welche konkreten bindenden (Rechts-)Normen diese abstrakte, von allen geteilte Überzeugung von der Menschenwürde überführt werden soll. Das Beispiel der Menschenwürde veranschaulicht, dass es auch dann, wenn in einer Gesellschaft ein Pluralismus anthropologischer Ansichten herrscht, durchaus möglich ist, in abstrakten, inhaltlich relativ offenen Überzeugungen eine gruppenübergreifende, gesamtgesellschaftliche Einigkeit zu finden. In kulturell heterogenen Gesellschaften wird das soziokulturelle Menschenbild, sofern es überhaupt noch eines gibt, daher insbesondere solch abstrakte, inhaltlich dünne, interpretationsoffene Überzeugungen aufweisen. Birnbacher, Dieter, Mehrdeutigkeiten im Begriff der Menschenwürde, in: Aufklärung und Kritik, Sonderheft 1 (1995), 4–13, hier 6; vgl. auch Dreier, Horst, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann, Kurt (Hg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, Stuttgart 2004, 33–48, hier 35 f.

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(b) Im Zuge der kulturellen Diversifizierung werden die gesamtgesellschaftlichen Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen aber nicht nur abstrakter, sondern sie werden auch weniger, ihre Anzahl geringer: anthropologische Überzeugungen, über die kein gesellschaftlicher Konsens besteht, fallen einfach aus dem soziokulturellen Menschenbild heraus. Menschenbilder westlicher Gesellschaften enthalten beispielsweise keine religiösen Überzeugungen mehr. Sie umfassen auch keine Überzeugungen über den letzten Ursprung, den Sinn und das Ziel des menschlichen Lebens mehr. Wohl gibt es in diesen Gesellschaften eine Vielzahl an individuellen und gruppenspezifischen Menschenbildern, die solche Überzeugungen bewahren. Diese Überzeugungen sind aber so unterschiedlich, dass sie in keiner gemeinsamen Überzeugung einen abstrakt formulierten kleinsten gemeinsamen Nenner finden könnten. Die abstrakten und inhaltlich dünnen gemeinsamen Menschenbilder kulturell heterogener Gesellschaften haben daher im Vergleich zu den konkreteren und inhaltlich dichteren individuellen und gruppenspezifischen Menschenbildern eine Reihe an Leerstellen. Es ist aber wichtig zu sehen, dass diese Leerstellen ein besonderes Charakteristikum aufweisen: es sind bewusste Leerstellen. Die anthropologischen Überzeugungen, über die kein gesellschaftlicher Konsens herrscht, verschwinden nicht einfach aus dem soziokulturellen Menschenbild, sondern sie werden durch die negativen Überzeugungen, dass es in Hinblick auf diese Aspekte des Menschen eben keinen gesellschaftlichen Konsens gibt, ersetzt: Die Leerstelle im soziokulturellen Menschenbild ist somit als Leerstelle gekennzeichnet. So »wissen« wir – im Sinne des gesellschaftlich geteilten, im gesellschaftlichen Sinn- und Überzeugungssystem mitgegebenen Bestandes an Wissen – in unseren Breitengraden etwa, dass es in Bezug auf die Fragen, ob der Mensch von Gott geschaffen wurde oder nicht, ob er eine unsterbliche Seele hat oder nicht, ob er eher altruistisch oder eher egoistisch veranlagt ist, ab welchem Zeitpunkt der Mensch als vollwertiger Mensch zu existieren beginnt, worin der Sinn des menschlichen Lebens liegt usw., stark divergierende Ansichten gibt. Wir wissen, dass es in Bezug auf manche anthropologischen Fragen keinen Konsens gibt, und wir wissen in der Regel auch, um welche Fragen es sich dabei handelt. Doch damit nicht genug: Wir wissen nämlich in unseren Breitengraden nicht nur, dass es in Bezug auf gewisse Fragen keinen Konsens gibt, sondern wir wissen in der Regel auch, warum dies so ist und dass es richtig ist, dass es so ist. So sind wir etwa der Überzeugung, dass die Frage, ob 236 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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der Mensch eine unsterbliche Seele hat, keine Frage eines für alle verbindlichen, rational einholbaren Wissens, sondern eine Frage des rational nicht einholbaren, höchstpersönlichen Glaubens ist. Diese Frage darf und muss daher jeder für sich selbst im Privaten beantworten, wie er will. Ein Streit über diese Frage wird damit als letztlich sinnlos, weil nicht für alle verbindlich entscheidbar, ausgewiesen. Diese Leerstellen im gesellschaftlichen Menschenbild sind somit nicht einfach nur Leerstellen, die uns als Leerstellen bewusst sind, sondern sie erscheinen uns – im Rahmen unseres kulturellen Wissens, unseres Sinn- und Überzeugungshorizontes – als legitimierte, begründete Leerstellen. Sie sind mit unserer Unterscheidung zwischen Wissen und Glauben einerseits und zwischen Öffentlichem und Privatem andererseits verknüpft. Eine derartige Legitimation stabilisiert den Konsens über diese Lücken. In anderen Kulturen mag diese Legitimation anders ausfallen, sei es, dass diese Kulturen eine andere oder keine Differenzierung von Glauben und Wissen und – damit zusammenhängend – des Öffentlichen und des Privaten kennen, sei es, dass sie auf ganz andere Begründungsmuster – z. B. religiöse oder ethnische 8 – Bezug nehmen. Denkbar ist auch, dass diese Lücken gar nicht erklärt oder legitimiert, sondern einfach – mit mehr oder weniger großem Bedauern – konstatiert und gewusst werden. Die Frage, ob und auf welche Weise der fehlende gesellschaftliche Konsens in Bezug auf manche anthropologische Überzeugungen in einer Gesellschaft nun als legitim erscheint oder nicht, muss uns hier nicht weiter interessieren. Entscheidend ist, dass der fehlende gesellschaftliche Konsens in Bezug auf gewisse anthropologische Aspekte ersetzt werden kann durch die konsensuelle gesellschaftliche Überzeugung, dass es in Bezug auf diese anthropologischen Aspekte eben keinen Konsens gibt. Zusammenfassend lässt sich für den Punkt der soziokulturellen Menschenbilder folglich festhalten: Auch kulturell heterogene, von starken individuellen wie gruppenspezifischen Unterschieden gekennzeichnete Gesellschaften können unter Umständen noch ein so-

Eine religiöse Begründung könnte etwa lauten, dass die Differenzen über anthropologische Ansichten sich darauf zurückführen lassen, dass manche Menschen eben noch nicht religiös erleuchtet sind und daher falschen Ansichten über den Menschen anhängen. Eine ethnische Begründung könnte die Differenzen darauf zurückführen, dass andere Ethnien deswegen andere Überzeugungen über den Menschen haben, weil sie – biologisch begründet – anders denken und wahrnehmen.

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ziokulturelles Menschenbild aufweisen. Ein solches Menschenbild wird aber durch zwei Merkmale gekennzeichnet sein: einerseits durch eine hohe Abstraktheit und inhaltliche Dünne – durch die damit einhergehende Interpretationsoffenheit ist die Kompatibilität des soziokulturellen Menschenbildes mit den divergierenden konkreteren und inhaltlich dichteren individuellen und gruppenspezifischen Menschenbildern hergestellt; und andererseits durch eine Ersetzung jener positiver Überzeugungen, in Bezug auf die kein Minimalkonsens hergestellt werden kann, durch die ihrerseits konsensuelle Überzeugung, dass in Bezug auf diese Überzeugungen eben kein gesellschaftlicher Konsens herrscht. Natürlich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie dünn so ein Bündel an Überzeugungen werden kann, ohne sich als Menschenbild aufzulösen. Ein Bündel an Überzeugungen, das nur noch aus den kollektiv geteilten negativen Überzeugungen darüber besteht, über welche anthropologischen Aspekte es keinen gesellschaftlichen Konsens gibt, wird man nicht als Menschenbild bezeichnen können. Von einem Menschenbild wird man nur dort sprechen können, wo es zumindest einige positive Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen gibt, und wo diese Überzeugungen dann auch tatsächlich lebensweltlich wirksam sind, weil sie z. B. den gesellschaftlichen Interaktionen, Praktiken und Institutionen, dem Moral-, Rechts- oder Erziehungssystem zugrunde liegen. In den europäischen Gesellschaften wären etwa die Überzeugungen, dass der Mensch über Menschenwürde, Freiheit, Individualität usw. verfügt, aussichtsreiche Kandidaten für solche gemeinsam geteilten positiven Überzeugungen. Gegen einen solchen Begriff des soziokulturellen Menschenbildes wird man nun einwenden können, dass es in allen etwas heterogener verfassten Gesellschaften immer Menschen gibt, die so eigene Ansichten über den Menschen haben, dass sich die Rede von gesamtgesellschaftlich geteilten Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen verbietet. So ist etwa auch die in westlichen Gesellschaften dominierende Auffassung, dass alle Menschen über Menschenwürde verfügen, nicht unwidersprochen. Sie wird insbesondere von Gruppierungen mit rassistischen Ansichten nicht geteilt. Wenn es sich bei diesen Gruppierungen um kleine Minderheiten handelt, könnte man freilich mit einer gewissen Großzügigkeit über sie hinweggehen und solange von einem soziokulturellen Menschenbild sprechen, wie sich die überwiegende Mehrheit einer Gesellschaft mit 238 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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diesem Menschenbild identifizieren kann. Das soziokulturelle Menschenbild würde man dann definieren als Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen, das von allen oder zumindest der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder geteilt wird. Ein solches Menschenbild wird von der abweichenden Minderheit freilich als heteronom empfunden. Was aber, wenn es sich bei den von der Mehrheitsmeinung abweichenden Minderheiten um große Minderheiten handelt bzw. wenn es in einer Gesellschaft überhaupt keine Mehrheitsmeinung in Bezug auf anthropologische Ansichten gibt? Was, wenn es keinen Konsens in Bezug auf positive Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen gibt? In manchen pluralistischen, multiethnischen und multikulturellen Gesellschaften, wie etwa den USA, die von tiefen kulturellen Unterschieden zerklüftet und wiederkehrenden Kulturkämpfen, gerade auch in Fragen der Evolutionstheorie, der Abtreibung und der Rassenfrage, die allesamt anthropologische Aspekte betreffen, gezeichnet sind, 9 scheint genau dies der Fall zu sein. In Fällen solch starker kultureller Heterogenität lässt sich daher nicht mehr davon sprechen, dass einer so verfassten Gesellschaft noch ein soziokulturelles Menschenbild eigen ist. Aber verfügen solche Gesellschaften dann vielleicht über ein anders geartetes gesamtgesellschaftliches Menschenbild? Diese Frage lässt sich beantworten, wenn man ein weiteres Phänomen in den Blick nimmt, das bislang noch nicht behandelt wurde: In jeder Gesellschaft gibt es basale Regeln des Zusammenlebens, die die gesellschaftlichen Interaktionen steuern. Damit sich die Gesell-

Vgl. etwa König, Jens, Politische Kultur in den USA und Deutschland. Nationale Identität am Anfang des 21. Jahrhunderts, Berlin 2010, 156 f.; ferner Vorländer, Hans, Der Kampf um Deutungshoheit. Nationale Identität und Multikulturalismus in den USA, in: Ders./Herrmann, Dietrich, Nationale Identität und Staatsbürgerschaft in den USA. Der Kampf um Einwanderung, Bürgerrechte und Bildung in einer multikulturellen Gesellschaft, Wiesbaden 2001, 15–54. In Bezug auf die USA könnte man geneigt sein, trotz aller kultureller Heterogenitäten doch eine starke und auf einem breiten Konsens beruhende anthropologische Grundüberzeugung auszumachen: Die Überzeugung, dass der Mensch in erster Linie ein freies, selbstverantwortliches Individuum ist. Berücksichtigt man allerdings die großen – kulturell eher kollektivistisch orientierten – Minderheiten und den in den USA immer noch verbreiteten Rassismus, muss auch dieser Konsens brüchig erscheinen. Wenn diese Befunde stimmen, kann von einem gesamtgesellschaftlich-kulturellen Menschenbild in den USA folglich nicht die Rede sein.

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schaftsmitglieder an diese Regeln halten, sind sie sanktionsbewehrt, d. h. ein Verstoß gegen sie wird gesellschaftlich geahndet. In jeder Gesellschaft gibt es mithin jemanden, der die Macht hat, die Regeln durchzusetzen und Regelverstöße zu ahnden: die herrschende Gruppe, sei es eine kleine Elite wie in Autokratien, sei es die Mehrheit, sei es der Staat. In diesen basalen Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind nun notwendigerweise gewisse anthropologische Annahmen impliziert. Daraus folgt, dass eine Gesellschaft ihren Mitgliedern notwendigerweise auch gewisse anthropologische Annahmen vorschreibt, sei es implizit in eben diesen grundlegenden Regeln der gesellschaftlichen Interaktion, sei es explizit in den – oftmals in Narrationen verpackten – anthropologischen Überzeugungen, die diese Regeln legitimieren. Schön zeigen lässt sich dies bereits am Codex Ur-Nammu, der ältesten schriftlich überlieferten Rechtssammlung, am Codex Hammurabi, der bekanntesten der alten Rechtssammlungen, wie auch an den alttestamentarischen Zehn Geboten, in denen der Mensch als Wesen, das unter dem Anspruch Gottes steht, eingeführt wird. All diese Texte machen explizite anthropologische Aussagen, mit denen die Geltung der Rechtsnormen legitimiert wird. Ihre bislang vollkommenste Form hat die Verquickung von anthropologischen Überzeugungen mit verhaltensregulierenden Normen sicherlich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefunden, in der jedes einzelne Menschenrecht zugleich als intrinsische Eigenschaft des Menschen gilt. Sind nun in einer Gesellschaft bestimmte Regeln sanktionsbewehrt, dann sind auch die in diesen Regeln implizierten anthropologischen Überzeugungen sanktionsbewehrt; ein Verstoß gegen sie wird bestraft. Dies geschieht dabei entweder indirekt, indem Handlungen bestraft werden, in denen sich implizit abweichende Überzeugungen über den Menschen artikulieren. Oder es geschieht direkt, indem die Abweichung, Infragestellung oder Leugnung von geltenden Überzeugungen über den Menschen bestraft wird. Dass vor allem letzteres tatsächlich gegeben ist, lässt sich anhand einiger Beispiele illustrieren: So muss man heute etwa in vielen Gesellschaften mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen, wenn man öffentlich für ein rassistisches Menschenbild einsteht. In den in vielen Ländern üblichen Einbürgerungstests werden oft auch anthropologische Überzeugungen etwa bezüglich der Gleichstellung von Mann und Frau oder bezüglich rassistischer Diskriminierungen abgefragt; falsche Antworten können Nachteile mit sich bringen. Im Deutschland des 240 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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Nationalsozialismus war es äußerst gefährlich, seine nationalsozialistische Gesinnung, die das Bekenntnis zu einem rassistischen Menschenbild und den Glauben an die Überlegenheit der arischen Rasse umfasste, nicht ausreichend unter Beweis zu stellen. Wer im damaligen Deutschland dieser ständigen Gefahr entgehen wollte, musste so tun, als würde er den ideologisch fixierten Ansichten zustimmen – auch wenn er es im Stillen nicht tat. Es sind aber insbesondere die Umerziehungslager in autokratisch verfassten Gesellschaften, die eindrücklich Zeugnis dafür ablegen, wie weit die Sanktionierung »falscher« anthropologischer Überzeugungen gehen kann. Diese Bündel an Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen, die den Mitgliedern einer Gesellschaft von der herrschenden Gruppe vorgeschrieben werden, sollen als hegemoniale Menschenbilder bezeichnet werden. Gesamtgesellschaftliche Menschenbilder gibt es folglich in zwei Formen: als soziokulturelle Menschenbilder einerseits und als hegemoniale Menschenbilder andererseits. Ihr Unterschied liegt darin, dass es in einer Gesellschaft ein soziokulturelles Menschenbild nur dann gibt, wenn ein impliziter oder expliziter gesellschaftlicher Konsens in Bezug auf zumindest einige positive Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen besteht. Hegemoniale Menschenbilder benötigen demgegenüber keinen gesellschaftlichen Konsens. Es genügt, dass jemand – ein Tyrann, die herrschende Klasse, der Staat – über die Macht verfügt, der Gesellschaft ein Menschenbild aufzuzwingen. Während die Geltung soziokultureller Menschenbilder also auf der freiwilligen, überzeugten Zustimmung der Gesellschaftsmitglieder beruht, basiert die Geltung hegemonialer Menschenbilder auf Herrschaft. Von ihrem soziokulturellen Menschenbild sind die Gesellschaftsmitglieder überzeugt, sie halten es – sei es explizit, sei es implizit – für wahr und richtig. Und nur weil sie es für wahr und richtig halten, ist dieses Menschenbild bindend. Hegemoniale Menschenbilder sind hingegen nicht darauf angewiesen, dass sie jemand für wahr und richtig hält. Sie sind allein deswegen bindend, weil sie mit Macht durchgesetzt werden. Es wäre sogar denkbar, dass niemand an das hegemoniale Menschenbild glaubt: So könnte eine herrschende Clique der Gesellschaft ein bestimmtes Menschenbild nicht aus Überzeugung, sondern aus bloßem politischen Kalkül aufoktroyieren. Im Extremfall könnte ein hegemoniales Menschenbild daher ein Bündel von Annahmen über den Menschen sein, das zwar niemand für wahr und richtig hält, das aber die Lebensführung der Gesellschaftsmitglieder fundamental 241 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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prägt; diese werden in ihrem Alltag so tun müssen, als ob sie das Menschenbild für wahr und richtig hielten. In diesem Falle wird das hegemoniale Menschenbild freilich als heteronom, als von außen aufgezwungen empfunden werden. Hegemoniale Menschenbilder können also dann, wenn sie mit den soziokulturellen Menschenbildern nicht übereinstimmen, den Mitgliedern der Gesellschaft fremd und äußerlich, ja sogar fundamental falsch vorkommen. Dass Gesellschaftsmitglieder das hegemoniale Menschenbild ihrer Gesellschaft als falsch und mithin heteronom empfinden, muss aber nicht automatisch dazu führen, dass sie es rundheraus ablehnen. So könnte es durchaus sein, dass sie dem hegemonialen Menschenbild bzw. den sozialen Regeln, die sich durch dieses Menschenbild begründet finden, nicht aus Überzeugung, sondern aus Kalkül zustimmen – weil sie sich von der Zustimmung etwa politische Stabilität, Sicherheit oder andere Vorteile erhoffen. So werden etwa Rassisten einem egalitaristischen Menschenbild immer dann zustimmen, wenn dieses Menschenbild die Voraussetzung dafür ist – etwa weil darin die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit grundgelegt sind –, dass sie weiterhin ihr rassistisches Gedankengut pflegen und ihre rassistischen Vereinigungen weiterführen können. Dies kann dazu führen, dass ein hegemoniales Menschenbild unter Umständen auch bei denjenigen Zustimmung erfährt, die dieses Menschenbild im Grunde für falsch erachten. Selbstverständlich können sich kulturelles und hegemoniales Menschenbild auch decken. In diesem Fall wird das hegemoniale Menschenbild als eigenes erfahren, die Durchsetzung dieses Menschenbildes wird von den Mitgliedern der Gesellschaft als legitim und richtig empfunden. Die oben gestellte Frage, ob Gesellschaften, die über kein soziokulturelles Menschenbild verfügen, dennoch ein gesamtgesellschaftliches Menschenbild haben können, lässt sich also wie folgt beantworten: Jede Gesellschaft, und sei sie kulturell noch so heterogen, verfügt notwendigerweise über ein gesamtgesellschaftliches, nämlich ein hegemoniales Menschenbild. Dieses ist den sanktionsbewehrten Regeln der sozialen Interaktion eingeschrieben. Darüber hinaus kann jede Gesellschaft auch noch über ein soziokulturelles Menschenbild verfügen. Zwischen gesamtgesellschaftlich-kulturellen bzw. soziokulturellen und gesamtgesellschaftlich-hegemonialen Menschenbildern sind nun folgende Beziehungen möglich: 242 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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(a) Die Menschenbilder sind miteinander kompatibel bzw. in Teilen deckungsgleich, d. h. zwischen den Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen gibt es mehr oder weniger große Überlappungen. In diesem Fall können sich alle oder zumindest die überwiegende Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft auch mit dem hegemonialen Menschenbild identifizieren; sie werden es als eigenes anerkennen. Für kulturelle Minderheiten wird das hegemoniale Menschenbild freilich ein heteronomes sein. Eine solche Identität zwischen soziokulturellem und hegemonialem Menschenbild ist typischerweise in den kulturell homogenen archaischen Gesellschaften oder auch in jenen einigermaßen homogenen, demokratisch verfassten Gesellschaften gegeben, in denen die überwiegende Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder hinter dem Staat und seinem Rechtssystem steht. In diesem Fall sind in der Herrschaft bzw. im hegemonialen System die soziokulturellen Überzeugungen repräsentiert. (b) Es könnte, wie oben beschrieben, vorkommen, dass es in einer Gesellschaft aufgrund großer kultureller Differenzen und dem Fehlen einer kulturellen Mehrheit kein soziokulturelles Menschenbild gibt. In diesem Falle ist das hegemoniale Menschenbild das einzige gesamtgesellschaftliche Menschenbild. Dieses Menschenbild wird in der Gesellschaft von der herrschenden Gruppe bzw. dem Staat durchgesetzt. Manche Individuen und Gruppen werden sich mit dem hegemonialen Menschenbild identifizieren können, weil es mit ihrem individuellen oder gruppenspezifischen Menschenbild kompatibel ist. Andere Individuen und Gruppen, die ein davon abweichendes Menschenbild vertreten, werden das hegemoniale Menschenbild dagegen als heteronom empfinden, was aber, wie oben beschrieben, nicht damit einhergehen muss, dass sie es direkt ablehnen; unter Umständen stimmen diese Individuen und Gruppen dem hegemonialen Menschenbild aus politischem Kalkül zu. (c) In der Gesellschaft gibt es zwar ein soziokulturelles Menschenbild, es steht aber zu dem hegemonialen Menschenbild im Widerspruch; d. h. zwischen den jeweiligen Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen gibt es keine bzw. kaum Überlappungen. Dies ist in jenen Gesellschaften der Fall, in denen die herrschende Gruppe der kulturellen Mehrheit der Gesellschaft ein Menschenbild aufzwingt. In diesem Fall wird das hegemoniale Menschenbild von einer überwiegenden Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder als heteronom empfunden. In der Sowjetunion und in der Volksrepublik China etwa hat jeweils die herrschende kommunisti243 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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sche Elite der Mehrheitsgesellschaft ihr Bild des »neuen Menschen« aufgezwungen, das stark von den religiös geprägten soziokulturellen Menschenbildern abwich bzw. ihnen zum Teil direkt widersprach. Auch in den meisten Kolonien wurden den autochthonen Völkern die Menschenbilder der Kolonialisten mit Gewalt aufgezwungen. Und im Südafrika der Apartheid musste sich die große Mehrheit der Bevölkerung einem rassistischen Menschenbild unterordnen, das sie nicht teilte. Ebenso wie die Unterscheidung zwischen individuellen, gruppenspezifischen und gesamtgesellschaftlichen Menschenbildern ist die Unterscheidung zwischen soziokulturellen und hegemonialen Menschenbildern und den Arten der Beziehung zwischen ihnen eine vorrangig theoretische. Realiter ist der Übergang zwischen diesen Menschenbildern oft fließend, sind die Beziehungen zwischen ihnen unscharf. So wird etwa ein soziokulturelles Menschenbild in der Regel auch eine hegemoniale Dimension aufweisen, weil soziale Entitäten auf ihre Mitglieder Druck ausüben, sich auch in den Überzeugungen anzupassen. Die Zustimmung zu einem soziokulturellen Menschenbild erfolgt in den seltensten Fällen nach ausgiebiger Reflexion aus überlegter Einsicht, sondern erwächst meistens aus dem Umstand, dass man in eine Gesellschaft hineingeboren ist und ihr lebensweltliches Sinn- und Überzeugungssystem, zu dem auch ein Menschenbild gehört, einfach übernimmt und als Selbstverständlichkeit anzunehmen lernt. Dies bedeutet aber, dass auch soziokulturelle Menschenbilder auf Macht beruhen: Auf der Macht einer Generation, die nachfolgende Generation zu lehren und zu prägen. Freilich unterscheidet sich diese Art der Macht von der Macht, mit der hegemoniale Menschenbilder durchgesetzt werden. Die Macht, mit der soziokulturelle Menschenbilder verknüpft sind, ist eine Macht, die bewirken kann, dass die Mitglieder der Gesellschaft einem Menschenbild aus Überzeugung zustimmen. Hegemoniale Menschenbilder sind hingegen an die Macht gekoppelt, auch Andersdenkenden das Menschenbild aufzuzwingen, sie dazu zu bringen, zumindest so tun zu müssen, als würden sie das Menschenbild teilen. Diese Macht, sich Andersdenkenden von Außen aufzuzwingen, steht soziokulturellen Menschenbildern per definitionem nicht offen. Unscharf ist die Differenzierung zwischen soziokulturellen und hegemonialen Menschenbildern auch deswegen, weil Menschenbilder, ebenso wie Gesellschaften und ihre Herrschaftsverhältnisse, dy244 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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namische Gebilde sind, die keine starren Festschreibungen erlauben. So wäre es etwa möglich, dass das hegemoniale Menschenbild, das einer Gesellschaft durch eine kleine herrschende Elite aufgezwungen wird, durch jahrelange Indoktrinationsmaßnahmen zur Herausbildung eines entsprechenden kulturellen Menschenbildes führt. Andersherum wäre es möglich, dass eine zunächst kulturell homogene Gesellschaft, in der es eine Übereinstimmung zwischen soziokulturellem und hegemonialem Menschenbild gibt, mit der Zeit – durch Immigration und Inkulturation, durch die Erosion der Verbindlichkeit traditioneller kultureller Autoritäten, durch kulturelle Pluralisierungsprozesse – ihr soziokulturelles Menschenbild verliert, aber das dem ursprünglichen soziokulturellen Menschenbild verwandte hegemoniale Menschenbild behält. Unabhängig davon, wie unscharf der Unterschied zwischen soziokulturellen und hegemonialen Menschenbildern in der Realität sein mag, theoretisch lässt er sich jedenfalls so auf den Punkt bringen: Soziokulturelle Menschenbilder sind Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen, die von der überwiegenden Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft implizit oder explizit für wahr und richtig gehalten werden und freiwillig sowie völlig selbstverständlich in der lebensweltlichen Praxis umgesetzt werden, während hegemoniale Menschenbilder solche Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen sind, die den Mitgliedern einer Gesellschaft von der herrschenden Gruppe vorgeschrieben werden und die in der lebensweltlichen Praxis umgesetzt werden müssen, da sonst Sanktionen zu befürchten sind. Offen muss dabei bleiben, mit welcher Tiefe hegemoniale Menschenbilder von der herrschenden Gruppe vorgeschrieben werden. Als Minimum erscheint, dass das hegemoniale Menschenbild von den Repräsentanten der herrschenden Macht geteilt wird. So dürfen etwa in liberalen Demokratien die Angestellten der öffentlichen Hand, die Richter, Beamten, Lehrer usw. keine rassistischen Menschenbilder vertreten, sondern sind – sowohl in ihrer Gesinnung als auch in ihrem Handeln – auf ein egalitäres Menschenbild verpflichtet. Darüber hinaus lassen sich theoretisch drei Ebenen der Durchsetzung hegemonialer Menschenbilder unterscheiden: (a) Es werden nur Handlungen, die aus einem »falschen« Menschenbild erfolgen bzw. ein solches zu erkennen geben und die zu einem unmittelbaren Schaden bei jemandem anderen führen oder führen könnten, geahndet, nicht aber die Äußerung dieser Überzeu245 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

gungen bzw. das Haben dieser Überzeugungen. In diesem Fall legt die herrschende Gruppe keinen Wert darauf, dass die hegemonialen Überzeugungen über den Menschen tatsächlich geglaubt werden. Entscheidend ist, dass das Handeln der Gesellschaftsmitglieder nicht im Widerspruch zum hegemonialen Menschenbild und den daraus abgeleiteten bzw. es repräsentierenden Regeln der gesellschaftlichen Interaktion steht. Aus welchen Motivationen heraus sich die Mitglieder an die Regeln halten, ist für die herrschende Gruppe irrelevant. Eine solche Art der Durchsetzung eines hegemonialen Menschenbildes findet man tendenziell in den USA mit ihrer sehr weitgehenden Auffassung der Meinungsfreiheit, derzufolge die Bürger frei sind zu glauben und weitestgehend frei sind, öffentlich zu äußern, was sie wollen. So werden in den USA zwar die sogenannten hate crimes oder bias crimes, also durch rassistischen Hass oder Vorurteile verursachte Straftaten, verfolgt, aber die hate speech, die rassistische verhetzende Rede, in der Regel nicht. (b) Es werden nicht nur Handlungen, die zu einem unmittelbaren Schaden für Dritte führen, sondern auch die öffentliche Äußerung falscher Überzeugungen über den Menschen geahndet. Äußerungen im privaten Rahmen sowie das Haben dieser Überzeugungen werden hingegen nicht sanktioniert. Diese Praxis ist beispielsweise in der Europäischen Union gängig, in der etwa die öffentliche Bekundung rassistischer Überzeugungen eine Straftat darstellt. (c) Es werden nicht nur Handlungen und öffentliche Äußerungen falscher Überzeugungen, sondern auch Äußerungen im privaten Rahmen sowie überhaupt das Haben dieser Überzeugungen geahndet. Um festzustellen, dass jemand verbotene Überzeugungen hat, muss – da es ja nicht möglich ist, direkt jemandes Gedanken zu lesen – auf äußere Hinweise (Lügendetektor, Zeugenaussagen) sowie auf Gesinnungs- und Gewissensprüfungen zurückgegriffen werden. Diese Praxis war und ist häufig in autoritären Regimen anzutreffen. Einen geradezu paradigmatischen, literarischen Ausdruck hat diese Art der Durchsetzung in dem dystopischen Roman 1984 von George Orwell gefunden. In diesem Roman herrscht eine vom »Großen Bruder« geführte Parteielite über eine Gesellschaft, die der permanenten und allgegenwärtigen Kontrolle durch eine »Gedankenpolizei« ausgesetzt ist. Selbst das Haben falscher Gedanken, also »Gedankenverbrechen«, werden mit äußerster Härte verfolgt, durch raffinierte Methoden der Umerziehung und Gehirnwäsche werden abtrünnige

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Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

Mitglieder auf Linie gebracht. Gelingt dies nicht, werden sie in letzter Konsequenz exekutiert. 10 Die Durchsetzungstiefe von hegemonialen Menschenbildern kann also von der Sanktionierung von Handlungen bis zur Sanktionierung falscher privater Überzeugungen reichen. Auch hier verhält es sich realiter so, dass diese Ebenen ineinanderfließen und keine einheitliche Durchsetzungstiefe besteht, d. h. manche Aspekte tiefer und andere weniger tief durchgesetzt werden. Um das Beispiel der USA wieder aufzugreifen: Der Umgang mit der sogenannten hate speech ist nicht einheitlich geregelt, und während sie generell durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt ist, ist sie unter manchen Umständen doch strafbar. 11 Darüber hinaus muss noch darauf hingewiesen werden, dass die von der herrschenden Gruppe angestrebte Durchsetzungstiefe von der faktischen Durchsetzungstiefe abweichen kann. Nehmen wir an, die herrschende Elite einer autokratisch verfassten Gesellschaft strebt die totale Gedankenkontrolle der Gesellschaftsmitglieder an, es fehlen ihr aber die Mittel, um diese Kontrolle durchzusetzen. In diesem Fall klafft zwischen erwünschter (und vielleicht auch gesetzlich vorgeschriebener) und tatsächlich vollzogener Durchsetzung des hegemonialen Menschenbildes ein breiter Spalt. Doch auch dort, wo die Ziele der herrschenden Gruppe bescheidener und die Mittel den Zielen angemessen sind, wird es kaum je zur vollkommenen Realisierung der angestrebten Durchsetzung kommen. Doch unabhängig davon, wie tief die Durchsetzung eines hegemonialen Menschenbildes nun reicht, die herrschende Gruppe definiert jedenfalls immer einen theoretischen und besetzt einen – davon mehr oder weniger abweichenden – faktischen Raum, in dem das hegemoniale Menschenbild durchgesetzt werden soll bzw. wird. In diesem Raum haben die Gesellschaftsmitglieder dieses Menschenbild in ihren Handlungen um-

Vgl. Orwell, George, 1984, übers. v. Michael Walter, Frankfurt am Main 1994 [1949]. 11 Zum Begriff der hate speech vgl.: Walker, Samuel, Hate Speech. The History of an American Controversy, London 1994; Zimmer, Anja, Hate Speech im Völkerrecht. Rassendiskriminierende Äußerungen im Spannungsfeld zwischen Rassendiskriminierungsverbot und Meinungsfreiheit, Frankfurt am Main 2001; Haupt, Claudia, Hate Speech in den USA: Eine Betrachtung des juristischen Diskurses und darüber hinaus, in: sozial.geschichte.extra 2006–04–19, Quelle: http://stiftung-sozialgeschichte. de/Themenredaktionen/5/Hassrede in den USA 30. 11. 05.pdf [22. 01. 2014]. 10

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Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

zusetzen und müssen sie zumindest so tun, als wären sie von ihm überzeugt. Zusammenfassend können wir festhalten, dass es neben individuellen und gruppenspezifischen Menschenbildern auch gesamtgesellschaftliche Menschenbilder gibt, und zwar in zweierlei Form: als soziokulturelle und als hegemoniale Menschenbilder. Bei ersteren handelt es sich um Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen, die von allen oder der überwiegenden Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft für wahr und richtig gehalten werden, bei letzteren um Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen, die den Mitgliedern einer Gesellschaft von der herrschenden Gruppe vorgeschrieben werden. Kein Zweifel kann daran bestehen, dass beide Typen gesamtgesellschaftlicher Menschenbilder lebensweltliche Wirkungen entfalten. Sie tun dies allerdings auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Kulturelle Menschenbilder wirken gleichsam von innen her, sie prägen das alltägliche Fühlen, Denken, Wahrnehmen und Handeln der Menschen deswegen, weil diese die Menschenbilder für wahr halten bzw. als völlig selbstverständlich hinnehmen. Hegemoniale Menschenbilder hingegen wirken von außen, als äußere Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Sie sind eingelassen in den von der herrschenden Gruppe kontrollierten gesellschaftlichen Raum und in die in diesem Raum geltenden Normen, Institutionen und Praktiken. Dass ein Menschenbild hegemonial ist bzw. von außen Grenzen setzt, wird freilich nur dann wahrgenommen, wenn es sich von dem individuellen Menschenbild, das jeder einzelne hat, hinreichend unterscheidet. Das hegemoniale Menschenbild wird in der Regel als hegemoniales nur dann bewusst, wenn es als heteronom empfunden wird.

Weltumspannend-universelle Menschenbilder Bislang wurden individuelle, gruppenspezifische und gesamtgesellschaftliche Menschenbilder als Typen lebensweltlicher Menschenbilder besprochen. Jenseits dieser Menschenbilder könnte nun auch noch ein weltumspannend-universelles Menschenbild angesetzt werden, das kulturübergreifende, weltweite Gültigkeit besitzt. Die Rede von einem solchen Menschenbild mag aus konzeptionellen Gründen gerechtfertigt sein, sie entbehrt aber derzeit jeder Grundlage in der 248 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

Realität. Es gibt zwar Versuche, ein solch kulturübergreifendes, universelles Menschenbild nachzuweisen bzw. theoretisch zu konstruieren. 12 Doch abgesehen davon, dass diese Menschenbilder weit davon entfernt sind, lebensweltlich zu sein, stehen diese Versuche zudem allesamt auf recht tönernen theoretischen Füßen. 13 Die Menschenrechte könnten noch als der bislang erfolgreichste Versuch gedeutet werden, zumindest ein universelles hegemoniales Menschenbild zu etablieren. Bislang allerdings fehlt den Menschenrechten der Hegemon, der sie tatsächlich weltweit zur Durchsetzung bringen könnte. Allenfalls Überzeugungen über relativ triviale Eigenschaften des Menschen wie z. B., dass Menschen üblicherweise auf zwei Beinen gehen, sterblich sind, Wasser und Schlaf benötigen und dergleichen mehr, könnten als universell anerkannte Eigenschaften des Menschen durchgehen. Solange es jedoch keinen universellen Konsens über Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen gibt, oder solange es keine Weltmacht (wie z. B. die UNO) gibt, die ein bestimmtes Bündel von Annahmen über den Menschen weltweit durchsetzt, solange wird sich kein lebensweltliches weltumspannend-universelles Menschenbild etablieren. Ein solch universelles Menschenbild kann es daher vorläufig nur als ein theoretisches Konstrukt, als ein weltpolitisches Ziel und allenfalls als ein Phänomen geben, das – im Zuge der Entstehung einer Weltgesellschaft – im Werden begriffen ist, nicht aber als ein gegebenes Faktum. Da hier lebensweltliche Menschenbilder, d. h. solche Bündel an Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen, die Teil eines gemeinsamen Sinn- und Überzeugungshorizontes sind, untersucht

Vgl. etwa Nussbaum, Martha, Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt am Main 1999; Antweiler, Christoph, Was ist dem Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen, Darmstadt 2007; ders., Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung, Bielefeld 2011; ferner die verschiedenen Bemühungen um einen »neuen Humanismus«, so z. B. Humanism: A New Idea: The UNESCO Courier 64/4 (2011); Rebane, Gala/Bendels, Katja/Riedler, Nina (Hg.), Humanismus polyphon. Menschlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Bielefeld 2009; Rüsen, Jörn/Laass, Henner (Hg.), Humanism in Intercultural Perspective. Experiences and Expectations, Bielefeld 2009; Rüsen, Jörn (Hg.), Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen, Bielefeld 2010; Longxi, Zhang (Hg.), The Concept of Humanity in an Age of Globalization, Göttingen/Taipei 2012. 13 Für eine knappe Übersicht über die Kritik an solchen Versuchen vgl. Thies, Einführung in die Anthropologie, 22 ff.; ferner Jörke, Dirk, Politische Anthropologie. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, 48 ff. u. – speziell zu Martha Nussbaum – 97 ff. 12

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Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

werden sollen, kann die Ebene der Weltgesellschaft folglich ausgeblendet bleiben. Greifen wir zum Abschluss noch einmal den Faden, mit dem wir in das Kapitel eingestiegen sind, auf: In den meisten Gesellschaften und ihren Lebenswelten existiert nicht nur ein Menschenbild, sondern eine Pluralität an Menschenbildern. Diese Pluralität sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Schnittmengen zwischen den unterschiedlichen Auffassungen vom Menschen geben kann. Schließlich verhält es sich in der Regel so, dass die einzelnen Gesellschaftsmitglieder manche ihrer Überzeugungen über den Menschen mit allen Mitgliedern der Gesellschaft – manche vielleicht sogar mit allen Menschen – teilen, dass sie manche ihrer Überzeugungen über den Menschen nur mit einigen und manche ihrer Überzeugungen mit niemand anderem teilen. Die unterschiedlichen Schnittmengen dieser Überzeugungen konstituieren nun unterschiedliche Typen von Menschenbildern: Starke individuelle Menschenbilder weisen keine bzw. kaum Schnittmengen im Hinblick auf Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen auf, gruppenspezifische Menschenbilder bestehen aus der Schnittmenge der Überzeugungen einer Gruppe von Menschen, und gesamtgesellschaftliche Menschenbilder aus der Schnittmenge der Überzeugungen der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder. Letztere können dabei als soziokulturelle Menschenbilder, die sich aus den kollektiv geteilten Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen konstituieren, und bzw. oder als hegemoniale Menschenbilder, die aus den der Gesellschaft mit Macht aufgezwungenen Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen bestehen, vorliegen. Mit dieser strukturellen Differenzierung von Typen von Menschenbildern sind zwar die Fragen, die die Pluralität der lebensweltlichen Menschenbilder aufwirft, nicht annähernd beantwortet, aber sie erlaubt, zumindest den groben Rahmen abzustecken, innerhalb dessen die Antworten zu suchen sind. Sie macht deutlich, dass bei der Analyse der Pluralität der Menschenbilder und bei der Beantwortung der Frage, in welchem Verhältnis die pluralen Menschenbilder zur Lebenswelt stehen, die unterschiedlichen strukturellen Ebenen, auf denen Menschenbilder angesiedelt sind, zu berücksichtigen sind: So könnte etwa die Pluralität individueller und gruppenspezifischer Menschenbilder ohne Weiteres mit einem gesellschaftsweit geteilten soziokulturellen Menschenbild einhergehen. 250 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Das eine Menschenbild der Lebenswelt

Das eine Menschenbild der Lebenswelt Lebensweltliche Menschenbilder können, so wurde im vorherigen Kapitel gezeigt, in unterschiedliche Typen struktureller Art differenziert werden: Individuelle Menschenbilder, gruppenspezifische Menschenbilder und gesellschaftliche Menschenbilder. Nun ist die Rede von Individuen und Gruppen ambivalent. Denn unter beiden können sowohl Entitäten verstanden werden, die jeweils einer größeren sozialen Entität – das Individuum der Gesellschaft und der Gruppe, die Gruppe der Gesellschaft – untergeordnet sind, als auch Entitäten, die keiner übergeordneten Entität mehr zuzuordnen sind. Das Individuum kann auch ein jenseits aller Gesellschaft stehender Einzelgänger sein, die Gruppe ein von allen sozialen Banden gelöstes Kollektiv, etwa eine zurückgezogen in einer Wüste hausende Sekte. Und so liegt es auf der Hand, dass es neben gesellschaftlichen nicht nur individuelle und gruppenspezifische Menschenbilder geben kann, sondern dass es – in einem starken Sinne – neben gesellschaftlichen auch individuelle und gruppenspezifische Lebenswelten geben kann. Stellen wir uns einen Wahnsinnigen vor, der in seiner ganz eigenen illusionären Welt lebt, die offensichtlich für ihn, aber für niemanden anderen Sinn ergibt und die daher niemandem außer ihm zugänglich ist. Hier würde man mit Recht davon sprechen, dass dieser Mensch in seiner ganz eigenen, individuellen Lebenswelt lebt, die durch ein von seinem kranken Hirn ersonnenes Sinn- und Überzeugungssystem konstituiert ist. Von gruppenspezifischen Lebenswelten wiederum würde man beispielsweise im Falle einer Sekte sprechen, die in ihrer Weltabgewandtheit eine Art von Sub- oder Parallelgesellschaft ohne Kontakt zur Außenwelt bildet und auf deren kollektives Sinn- und Überzeugungssystem sich offenbar die Sektenmitglieder, aber sonst kaum jemand einen Reim machen kann. Der Umstand, dass es neben gesellschaftlichen auch individuelle und gruppenspezifische Lebenswelten geben kann, hat zur Folge, dass sowohl individuelle als auch gruppenspezifische Menschenbilder nicht einfach nur lebensweltliche Menschenbilder, sondern das konstitutive Menschenbild einer Lebenswelt sein können: Wenn zur ganz eigenen Gedankenwelt eines einzelgängerischen Wahnsinnigen ein Bündel an Überzeugungen über den Menschen gehört, das nur er für wahr und richtig hält, dann liegt hier in einer Lebenswelt genau ein Menschenbild vor, das diese Lebenswelt fundamental prägt. Dasselbe gilt für gruppenspezifische Lebenswelten: Wenn es in dem die 251 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

Lebenswelt konstituierenden Sinn- und Überzeugungshorizont der weltabgewandten Sekte ein Menschenbild gibt, das ausschließlich für die Sektenmitglieder Gültigkeit besitzt, dann ist dieses Menschenbild das fundamentale Menschenbild dieser Lebenswelt. Mit solch einzelgängerischen, jeder Gesellschaft entfremdeten Individuen und weltabgewandten Gruppen, mit im starken Sinne individuellen und gruppenspezifischen Lebenswelten und ihren Menschenbildern wollen wir uns hier nicht weiter auseinandersetzen. Erstens handelt es sich um Sonderfälle, die nicht allzu oft vorkommen. Zweitens weisen sie viele strukturelle Ähnlichkeiten zu den gesellschaftlichen Lebenswelten auf – eine gruppenspezifische und mit Abstrichen auch noch eine individuelle Lebenswelt könnte etwa als eine intimer gestaltete, gesellschaftliche Lebenswelt im verkleinerten Maßstab gefasst werden. Drittens aber kommt in ihnen das Phänomen, das uns hier interessiert – die Binnenpluralität von Menschenbildern – nicht vor. Diese speziellen Lebenswelten sollten daher nur erwähnt und kurz behandelt werden, um sie im Folgenden ausblenden zu können. Das, was hier interessiert, sind solche Gesellschaften, die je eine gemeinsame gesellschaftliche Lebenswelt aufweisen, in der mehrere Menschenbilder vorkommen. Das Individuum wird also – wie von der Begrifflichkeit ohnehin nahegelegt – fortan als Teil gesellschaftlicher Gruppen und als Teil der Gesellschaft, und die Gruppe als aus Individuen bestehend und ebenfalls als Teil der Gesellschaft betrachtet.

Das Problem der Binnenpluralität von Menschenbildern Rufen wir uns noch einmal die Ausgangsfrage dieses Kapitels in Erinnerung: Wie ist die Binnenpluralität von Menschenbildern in einer gemeinsam geteilten Lebenswelt möglich? Die Frage stellt sich deswegen, weil eine gemeinsame Lebenswelt einerseits ein gemeinsam geteiltes Menschenbild als das Fundament dieser Lebenswelt voraussetzt. Eine gemeinsame Lebenswelt, in der mehrere Menschenbilder vorkommen, scheint von daher ein Ding der Unmöglichkeit. Andererseits stellt die Existenz einer solch gemeinsamen Lebenswelt, in der eine Pluralität unterschiedlicher und sich zum Teil auch widersprechender Menschenbilder vorkommt, ein schwer zu leugnendes Faktum dar. Die meisten von uns leben schließlich in Lebenswelten, die kulturell und ideologisch pluralisiert sind, in denen also auch eine 252 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Das eine Menschenbild der Lebenswelt

unübersichtliche Vielzahl an sehr unterschiedlichen Menschenbildern anzutreffen ist. Zusätzliche Brisanz erhält die Frage schließlich noch dadurch, dass eine nicht auf Unterdrückung basierende, freie, halbwegs funktionierende Gesellschaft auf eine gemeinsame Lebenswelt angewiesen ist. Wie soll ohne einen gewissen Grundbestand an gemeinsamen Überzeugungen der für eine Gesellschaft notwendige Bestand an gemeinsamen Institutionen, Normen und Praktiken bestehen? Das Problem, für das wir eine Lösung suchen, lautet also folgendermaßen: Eine halbwegs funktionierende freie Gesellschaft ist auf eine gemeinsame Lebenswelt angewiesen, eine gemeinsame Lebenswelt hat ein gemeinsam geteiltes Menschenbild zur Voraussetzung. Nun stellen aber die meisten liberalen Demokratien solche halbwegs funktionierenden freien Gesellschaften dar, die zwar über eine gemeinsame Lebenswelt, nicht jedoch über ein gemeinsames Menschenbild zu verfügen scheinen. Als Lösung für dieses scheinbare Paradox haben wir eingangs folgende Antwort in Aussicht gestellt: Die Binnenpluralität von Menschenbildern innerhalb einer gemeinsamen Lebenswelt ist deswegen möglich, weil es jenseits der pluralen individuellen und gruppenspezifischen Menschenbilder doch ein gemeinsam geteiltes Menschenbild gibt, das alle an einer Lebenswelt Teilnehmenden explizit oder implizit für wahr und richtig halten. Aufgrund der im letzten Abschnitt eingeführten Differenzierung können wir die Antwort nun ein wenig präzisieren: Gesetzt, dass wir von der Lebenswelt einer Gesellschaft sprechen, ist das Menschenbild der gemeinsamen gesellschaftlichen Lebenswelt das soziokulturelle Menschenbild. Auch ideologisch und kulturell heterogene Gesellschaften, in denen es eine Pluralität an divergierenden Auffassungen über den Menschen gibt, haben demnach nicht nur eine gemeinsame Lebenswelt und ein diese Lebenswelt konstituierendes gemeinsames Sinn- und Überzeugungssystem, sondern teilen auch ein diesem Sinn- und Überzeugungssystem eingeschriebenes Bündel an Überzeugungen über den Menschen: ein gemeinsames Menschenbild. Dieses Menschenbild besteht aus den Überlappungen der individuellen und gruppenspezifischen Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen. Es setzt sich einerseits aus einer Reihe an gemeinsam geteilten – abstrakten – positiven Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen und andererseits aus einer Reihe an gemeinsam geteilten negativen Überzeugungen darüber zusammen, über welche wichtige Eigenschaften des Menschen aus guten Gründen keine Einigkeit 253 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

herrscht. Die Abstraktheit und inhaltliche Dünne des gemeinsamen Menschenbildes sorgen für die Kompatibilität mit den konkreteren und inhaltlich dichteren individuellen und gruppenspezifischen Menschenbildern. Auch Lebenswelten, in denen eine Pluralität lebensweltlicher Menschenbilder vorkommt, haben also ein Menschenbild der Lebenswelt, das ein integraler, zentraler und fundamentaler Bestandteil des die Lebenswelt konstituierenden Sinn- und Überzeugungshorizontes ist. Dieses Menschenbild ist nun nicht ein lebensweltliches Menschenbild neben den vielen individuellen und gruppenspezifischen Menschenbildern, sondern es ist das – auf einer anderen fundamentaleren Ebene – angesiedelte Meta-Menschenbild der pluralen Lebenswelt. Im Folgenden soll diese Antwort noch etwas expliziert werden, auch auf die Gefahr von Redundanzen hin. Um die Sache nicht allzu sehr zu verkomplizieren, gehen wir dabei von einer Gesellschaft aus, die (a) eine gemeinsame Lebenswelt aufweist und deren (b) soziokulturelles und hegemoniales Menschenbild mehr oder weniger übereinstimmen. Wir diskutieren also nicht eine Gesellschaft, in der eine kulturelle Minderheit einer kulturellen Mehrheit ihr Menschenbild aufoktroyiert, sondern eine Gesellschaft, in der die überwiegende Mehrheit dem Menschenbild, das dem Herrschaftssystem der Gesellschaft – z. B. dem Recht, den staatlichen Institutionen usw. – zugrundeliegt, grundsätzlich zustimmt. Unsere liberalen Demokratien sind in der Regel Gesellschaften genau diesen Zuschnitts. Diese Übereinstimmung zwischen soziokulturellem und hegemonialem Menschenbild soll in der Folge auch begrifflich dadurch markiert werden, dass einfach vom gesellschaftlichen Menschenbild die Rede ist; dieses weist sowohl eine soziokulturelle als auch eine hegemoniale Dimension auf. Des Weiteren wird auch nicht mehr durchgängig zwischen individuellen und gruppenspezifischen Menschenbildern differenziert, sondern einfach von individuellen, auf die sich die gruppenspezifischen ja zurückführen lassen, oder gar nur den pluralen Menschenbildern gesprochen.

Plurale lebensweltliche Menschenbilder und das eine Menschenbild der Lebenswelt Stellen wir uns also eine so wie eben definierte Gesellschaft vor, deren Mitglieder eine gemeinsame Lebenswelt teilen. Die Lebenswelt einer 254 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Das eine Menschenbild der Lebenswelt

solchen Gesellschaft könnte, dies wurde im vorigen Abschnitt schon skizziert, sehr homogen sein. In diesem Fall wären die individuellen und gruppenspezifischen Abweichungen im Sinn- und Überzeugungssystem sehr gering; die Gesellschaft würde tatsächlich eine gemeinsame, mehr oder weniger einheitliche Lebenswelt teilen. Da in dieses die Lebenswelt konstituierende Sinn- und Überzeugungssystem auch ein Bündel an Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen eingebettet wäre, würde diese Gesellschaft ein gemeinsames einheitliches Menschenbild teilen. Eine Gesellschaft dieses kulturell homogenen Zuschnitts würde folglich über ein lebensweltliches Menschenbild verfügen, das dann auch das eine, fundamentale Menschenbild dieser Lebenswelt wäre. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Gesellschaften wie die unsrige, die strukturell differenziert und kulturell wie ideologisch pluralisiert sind, Gesellschaften also, deren Mitglieder sehr unterschiedliche und sich zum Teil widersprechende Überzeugungen über den Menschen haben. In diesen Gesellschaften existiert eine Vielzahl unterschiedlicher individueller und gruppenspezifischer Menschenbilder. Nichtsdestotrotz gibt es in einer solch pluralistischen Gesellschaft in der Regel doch eine gemeinsame, wenn auch nicht mehr einheitliche Lebenswelt. Solange es einen den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichernden Bestand an gemeinsamen Institutionen, Normen und Praktiken gibt, die in den Alltag hineinragen, die die Lebensführung prägen und die subjektiv Sinn ergeben, muss es auch ein gemeinsames Sinn- und Überzeugungssystem geben, das ein grundlegendes gemeinsames Verständnis dieses Bestandes an Institutionen, Normen und Praktiken ermöglicht. Auch in dieses Sinn- und Überzeugungssystem ist ein gemeinsames Menschenbild eingeschrieben. Im Vergleich zu dem Menschenbild kulturell homogener Gesellschaften und im Vergleich zu den Menschenbildern der Individuen und der Gruppen, die der Gesellschaft angehören, ist es, wie oben beschrieben, abstrakter, inhaltlich dünner und enthält neben gemeinsamen positiven Überzeugungen eine Reihe an gemeinsamen negativen Überzeugungen darüber, welche Aspekte nicht konsensuell sind. Dennoch: Auch strukturell ausdifferenzierte, kulturell und ideologisch pluralisierte Gesellschaften verfügen daher, sofern es sich noch um Gesellschaften im substanziellen Sinne und nicht bloß um mit Macht zusammengehaltene heterogene Gruppierungen handelt, über ein lebensweltliches Menschenbild, das das eine, fundamentale Menschenbild der Lebenswelt dieser Gesellschaft ist. 255 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

Der Unterschied zwischen den Lebenswelten kulturell homogener und kulturell heterogener Gesellschaften lässt sich mittels eines Bildes veranschaulichen: Der Sinn- und Überzeugungshorizont kulturell homogener Gesellschaften gleicht einer Landkarte, auf der sehr viele Details verzeichnet sind. Jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft verfügt über eine ziemlich exakte Kopie dieser allgemeinen Landkarte. Das Bild, das sich das Mitglied anhand der Karte von der Welt macht, gleicht daher großteils dem Bild, das sich die anderen Mitglieder der Gesellschaft auf Basis ihrer Kopien der Landkarte machen. In kulturell heterogenen Gesellschaften gibt es auch eine allgemeine Landkarte. Auf ihr sind allerdings wesentlich weniger Details eingezeichnet. In groben Strichen sind auf ihr bloß die wichtigsten Orte, Wege und Orientierungspunkte eingezeichnet, die für alle verbindlich sind und die für eine funktionierende gesellschaftliche Interaktion sorgen. Jedes Mitglied der Gesellschaft verfügt auch hier über eine Kopie dieser allgemeinen Landkarte, allerdings sind auf diesen individuellen Kopien viele zusätzliche Details – Orte, Wege und Orientierungspunkte, die persönlich oder für die Gruppen, denen man sich zugehörig fühlt, wichtig sind – verzeichnet. Die individuelle Landkartenkopie jedes Mitgliedes weicht daher sowohl von der allgemeinen Landkarte als auch von den Landkarten jedes anderen Mitgliedes in vielen Details ab, aber die Karten gleichen sich in den grundsätzlichen, für alle verbindlichen großen Linien. Die individuellen Landkarten sind also die mit vielen individuellen Details angereicherten Varianten der allgemeinen Landkarte. Das Besondere an den individuellen Landkarten ist aber, dass die über die allgemeinen, für alle verbindlichen Angaben hinausgehenden Details als solche gekennzeichnet sind (weil sie etwa, um in dem Bild zu bleiben, auf der Landkarte mit einem farbigen Stift eingezeichnet wurden). Dies bedeutet, dass jedes Mitglied der Gesellschaft weiß, (a) was die allgemein verbindlichen Linien sind, weiß, (b) dass die persönlichen Details eben persönliche Details sind, weiß, (c) dass dort, wo die eigenen persönlichen Details verzeichnet sind, auf der allgemeinen Landkarte etwas anderes, nämlich in der Regel nichts, d. h. weiße Flecken verzeichnet sind, weiß, (d) dass andere Mitglieder auf ihren Landkarten andere Details vermerkt haben. Oft, aber nicht immer weiß das Mitglied (e) sogar um einige Details auf den Landkarten der anderen. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ein sich zum Christentum bekennendes Mitglied einer europäischen Gesellschaft weiß (a) in der 256 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Das eine Menschenbild der Lebenswelt

Regel um die grundlegenden, für alle verbindlichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, weiß, (b) dass die christlichen Glaubensinhalte faktisch nur für es selbst bzw. all diejenigen, die sich zum Christentum bekennen, verbindlich sind (auch wenn es vielleicht der Ansicht ist, dass sie für alle verbindlich sein sollten), weiß (c) um die weltanschauliche Neutralität des Staates bzw. weiß, dass der säkulare Staat seinen Mitgliedern die Glaubensinhalte des Christentums ebensowenig wie die Glaubensinhalte anderer Religionen oder Weltanschauungen vorschreibt, weiß, (d) dass andere Mitglieder andere weltanschauliche oder religiöse Überzeugungen haben, und weiß (e) um manche dieser Überzeugungen, etwa weil sie in den Medien thematisiert wurden, weil es Familienangehörige, Freunde oder Bekannte mit anderem weltanschaulichen Hintergrund hat oder weil es schlicht zur Allgemeinbildung zählt und es im schulischen Religionsund Ethikunterricht davon erfahren hat. Wenn das eben verwendete Bild der Landkarte angemessen ist, dann lassen sich die Beziehungen zwischen den pluralen lebensweltlichen Menschenbildern auf der einen Seite und dem Menschenbild der Lebenswelt, d. h. dem gesellschaftlichen Menschenbild, auf der anderen Seite folgendermaßen fassen: (1) Die allgemeine, von allen geteilte und für alle verbindliche Landkarte enthält auch ein Bündel an Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen: ein Menschenbild. Dieses Menschenbild ist sowohl ein soziokulturelles – es wird von allen geteilt, ist in den allgemeinen Sinn- und Überzeugungshorizont eingeschrieben – als auch ein hegemoniales. Wir waren ja von einer Herrschaftsform ausgegangen, in der sich der Sinn- und Überzeugungshorizont der Gesellschaft spiegelt. Als hegemoniales ist das soziokulturelle Menschenbild sanktionsbewehrt; wer von ihm abweicht, hat mit gesellschaftlicher Ächtung und Zurechtweisung zu rechnen. (2) Von dieser allgemeinen Landkarte fertigen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen ihre Kopien an, in denen das allgemeine Menschenbild mit gruppenspezifischen Details angereichert wird und die weißen Flecken übermalt werden. (3) Ebenso fertigt sich jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft eine Kopie der allgemeinen Landkarte an, auf der die individuellen Markierungen und eventuell die Markierungen der Gruppen, denen man sich zugehörig fühlt, angebracht werden. Die pluralen, d. h. die individuellen und gruppenspezifischen Menschenbilder sind dem gesellschaftlichen Menschenbild folglich 257 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

gleichsam aufgepfropft. 14 Das gesellschaftliche Menschenbild bildet einen wichtigen Bestandteil der gruppenspezifischen und der individuellen Menschenbilder, einen Bestandteil allerdings, der ausgemalt, konkretisiert und ergänzt werden muss. Die abstrakten Überzeugungen des gesellschaftlichen Menschenbildes werden durch dichtere, aber nicht mehr konsensfähige Überzeugungen konkretisiert, die allgemein geteilten negativen Überzeugungen des gesellschaftlichen Menschenbildes werden ersetzt durch bestimmte positive Überzeugungen über den Menschen, die allerdings nicht mehr von allen, sondern nur von den Mitgliedern einer Gruppe oder nur von Einzelnen für wahr und richtig gehalten werden. Um das oben verwendete Beispiel noch einmal aufzugreifen: Das gesellschaftliche Menschenbild der europäischen Gesellschaften bewahrt die abstrakte Überzeugung, dass Menschen im Besitz von Menschenwürde sind. Was Menschenwürde jedoch in vielen Fällen konkret bedeutet und worin sie begründet ist, dies zu beantworten, bleibt den spezifischeren pluralen Menschenbildern überlassen. Auch bietet das gesellschaftliche Menschenbild europäischer Gesellschaften keine Überzeugungen über den letzten Ursprung, den Sinn und das Ziel des menschlichen Lebens. Auch diese für die persönliche Orientierung wichtige Leerstelle muss von den pluralen Menschenbildern erst auf je ihre Art und Weise gefüllt werden. Im Vergleich zu den individuellen und gruppenspezifischen Menschenbildern ist das gesellschaftliche Menschenbild folglich defizient; es ist ein Torso, der im Extremfall nur die für die gesellschaftliche Interaktion wichtigen anthropologischen Überzeugungen beinhaltet, nicht aber Überzeugungen, die für die persönliche Lebensführung ausschlaggebend sind. Es ist nun wichtig zu sehen, dass das gesellschaftliche Menschenbild nicht einfach in den gruppenspezifischen und individuellen aufgeht. Das Verhältnis zwischen dem gesellschaftlichen und den pluralen Menschenbildern ist komplexer: Einerseits ist das gesellschaftliche Menschenbild in den meisten individuellen und gruppenspezifischen Menschenbildern mitgemeint. Es bildet schließlich einen Historisch gesehen ist dies natürlich nicht immer richtig, wurde das gesellschaftliche Menschenbild den individuellen und gruppenspezifischen Menschenbildern doch oft in langen Auseinandersetzungen abgerungen. So ist z. B. das säkular-humanistische Menschenbild vieler europäischer Gesellschaften das Ergebnis Jahrhunderte währender, zum Teil sehr blutiger kultureller Konflikte. Vgl. dazu etwa Joas, Hans, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, 108–146.

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Das eine Menschenbild der Lebenswelt

wichtigen Bestandteil derselben. Die grundlegenden, für alle verbindlichen Orientierungslinien sind den detaillierten persönlichen Landkarten vom Menschen eingeschrieben. Das gesellschaftliche Menschenbild ist in den pluralen Menschenbildern folglich in unterschiedlichen Varianten gegeben. Gleichzeitig aber bleibt die Differenz zwischen dem gesellschaftlichen und den pluralen Menschenbilder bestehen – eine Differenz, die uns in der Regel bewusst ist: Ich kann sehr gut zwischen meinem Menschenbild und unserer bzw. der herrschenden gesellschaftlichen Auffassung vom Menschen unterscheiden. So weiß ich etwa, dass ich zwar daran glaube, dass Gott den Menschen geschaffen hat, diese Überzeugung aber keine allgemein geteilte ist. Ich weiß hingegen, dass vielmehr die Überzeugung allgemein geteilt ist, dass es über den letzten Ursprung des Menschen keine allgemeine, für alle verpflichtende Überzeugung gibt. Ich weiß auch, dass der Grundsatz der Menschenwürde ein allgemein geteilter ist, aber ich weiß ebenso, dass nicht alle meiner Ansicht sind, dass die Menschenwürde in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen begründet liegt. Der Glaube an die Gottesebenbildlichkeit ist – und das weiß ich in der Regel – mein persönlicher Grund dafür, dass ich den allgemeinen Grundsatz der Menschenwürde für richtig halte und dass ich motiviert bin, für ihn praktisch einzustehen. Er ist aber – und auch dies ist mir wohl bewusst – nicht der Grund dafür, dass der Grundsatz der Menschenwürde eine in unserer Gesellschaft allgemein anerkannte Norm ist. Ich weiß, dass die Menschen sehr unterschiedliche Gründe dafür haben, den Grundsatz der Menschenwürde für richtig zu halten, und aus sehr unterschiedlichen Motivationen bereit sind, für ihn einzustehen (oder auch nicht einzustehen). Die Differenz zwischen meinem und unserem Menschenbild schlägt sich beispielsweise auch in der subjektiv empfundenen Empörung nieder. Wenn mir gegenüber jemand abstreitet, dass der Mensch von Gott geschaffen ist, so werde ich dies – auch als überzeugter Jude, Christ oder Muslim – kaum als empörend empfinden. Ich werde ihr entgegenhalten, dass sie in dieser Hinsicht glauben kann, was sie will, schließlich leben wir – zum Glück – in einer Gesellschaft, in der die Religions- und die Meinungsfreiheit ein hohes Gut ist. Wenn sie mir gegenüber aber ernsthaft abstreitet, dass alle Menschen moralisch gleichwertig sind, dann werde ich – sofern ich nicht schön völlig abgebrüht bin – nicht nur empört sein, sondern mich in meiner Empörung nicht nur meinen, sondern unseren gemeinsamen gesellschaftlichen Standards verpflichtet wissen. Ich weiß, dass sie damit nicht nur eine 259 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

Überzeugung, die ich als richtig empfinde, sondern eine Überzeugung, die in unserer Gesellschaft allgemein als richtig anerkannt wird, leugnet. Ich fühle mich in meiner Empörung daher im Recht und weiß die Gesellschaft in meinem Rücken. Dass wir um die Differenz zwischen den pluralen Menschenbildern und dem einen gesellschaftlichen Menschenbild wissen, liegt natürlich vor allem auch daran, dass sich diese Differenz zwischen den pluralen Menschenbildern und dem gesellschaftlichen Menschenbild in den gesellschaftlichen Praktiken, Normen und Institutionen abbildet. Diese sind schließlich dem gemeinsamen gesellschaftlichen Menschenbild und nicht einem partikularen Menschenbild verpflichtet. Ebenso ist das gemeinsame gesellschaftliche Menschenbild durch gesellschaftliche Sanktionen geschützt, während die pluralen dies nicht sind. Wenn ich bestreite, dass der Mensch von Gott geschaffen ist, habe ich keine gesellschaftlichen Sanktionen zu befürchten, wenn ich hingegen bestreite, dass alle Menschen moralisch gleichwertig sind, schon. Freilich ist die Beziehung zwischen dem gesellschaftlichen Menschenbild und den pluralen Menschenbildern einer Gesellschaft kaum einmal spannungsfrei. Im Gegenteil, gruppenspezifische und individuelle Menschenbilder, die ja in ihrem Wahrheitsanspruch in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, kämpfen oft darum, ihre spezifischen Überzeugungen in das allgemeine Menschenbild einzuschreiben. Dies zeigt sich besonders deutlich an den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um den Beginn und das Ende des menschlichen Lebens. Das gesellschaftliche Menschenbild weist in diesen beiden Punkten weiße Flecken auf, diese sind aber stark umkämpft, ringen gruppenspezifische Menschenbilder doch darum, ihre jeweilige Auffassung von Beginn und Ende allgemeinverbindlich in diese Flecken einzutragen. Das allgemeine Menschenbild hat also seine konsensuellen Überzeugungen, aber es hat auch solche, die Gegenstand eines fortwährenden gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses sind. Und schließlich gibt es einzelne Überzeugungen des allgemeinen gesellschaftlichen Menschenbildes, von dem einzelne partikulare Menschenbilder abweichen. So widersprechen etwa Kreationisten der herrschenden – und auch in Schulen gelehrten – evolutionsbiologischen Auffassung, dass der Mensch vom Affen abstammt. Entfernt sich ein partikulares Menschenbild zu sehr von dem gesellschaftlichen Menschenbild, dann bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder wird das partikulare Menschenbild zu einem theoretischen 260 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Das eine Menschenbild der Lebenswelt

Konstrukt, das nicht länger in der Lebenswelt wirkt, oder aber das Individuum bzw. die Gruppe spaltet sich – wie dies etwa bei Sekten häufig der Fall ist – von der Mehrheitsgesellschaft ab und bildet am Rande der Gesellschaft eine eigene Lebensform, die kaum noch Berührungen mit der »Außenwelt« erlaubt, da sie mit ihr nicht kompatibel ist. Zwischen den pluralen und dem gemeinsamen Menschenbild bestehen jedoch nicht nur Spannungen, sondern auch dynamische Wechselwirkungen: Individuelle und gruppenspezifische Menschenbilder können im Kampf um Deutungshoheit erfolgreich sein und zu Verschiebungen im gesellschaftlichen Menschenbild führen, die sich dann ihrerseits wieder den gruppenspezifischen und individuellen Menschenbildern aufprägen. Von der wechselvollen Geschichte dieser Spannungen und Verschiebungen kündet nicht zuletzt die Entwicklung des europäischen Denkens über den Menschen mit ihren vielen großen und kleinen anthropologischen Revolutionen, die nicht selten ihren Ursprung in den revolutionären Auffassungen prägender Individuen hatten. Stellvertretend sei hier nur auf Darwin und Freud verwiesen, deren anthropologische Auffassungen zunächst im Widerspruch zum gesellschaftlichen Menschenbild standen, im Laufe der Zeit und infolge heftiger intellektueller Auseinandersetzungen aber – in freilich verwässerter Form – langsam dem gesellschaftlichen Menschenbild eingefügt wurden. Die Überzeugung, dass der Mensch »vom Tier abstammt« ist heute ebenso breit anerkannt und geläufig wie diejenige, dass der Mensch über ein Unbewusstes verfügt, das auf sein Handeln, Fühlen und Denken Einfluss ausübt.

Das Menschenbild der Lebenswelt ist fundamental Wie auch immer sich die Beziehungen zwischen den vielen unterschiedlichen lebensweltlichen Menschenbildern gestalten mögen, das allgemeine gesellschaftliche Menschenbild, das sich aus den sich überlappenden Überzeugungen der pluralen Menschenbilder zusammensetzt, ist das eine (Meta-)Menschenbild der gemeinsamen Lebenswelt. Im Unterschied zu den pluralen Menschenbildern ist dieses Menschenbild lebensweltlich fundamental, weil es die Grundlage der gemeinsamen lebensweltlichen Erfahrung bildet. Deutlich wird dies daran, dass ich – um in dem Bild zu bleiben –, auch wenn ich alle meine individuellen und gruppenspezifischen Markierungen aus der 261 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

Landkarte lösche, mich mit Hilfe der so bereinigten Karte immer noch in der gesellschaftlichen Lebenswelt zu orientieren vermag, weil ich mich an die allgemein verbindlichen Linien halten kann. Wenn ich allerdings die allgemein verbindlichen Linien daraus lösche, dann werde ich mich nicht mehr in der Lebenswelt zurechtfinden können; ich falle dann aus ihr heraus, das gemeinsame Band zerreißt. Da aber diese allgemein verbindlichen Linien auch einen wichtigen Teil der gruppenspezifischen oder individuellen Varianten der Karte darstellen, werde ich mich, wenn ich die allgemein verbindlichen Linien lösche, auch nicht mehr in meinen gruppenspezifischen oder individuellen Welten orientieren können. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Nehmen wir an, ich bin überzeugter Katholik. In diesem Fall teile ich mit den meisten anderen Angehörigen meiner Gesellschaft eine Reihe an grundlegenden Überzeugungen wie etwa diejenige, dass der Mensch im Besitz von Menschenwürde ist, dass alle Menschen moralisch gleichwertig sind, dass Menschen frei und für ihre Handlungen verantwortlich sind usw. Darüber hinaus habe ich eine Reihe an anthropologischen Überzeugungen, die ich vorrangig mit meinen Glaubensschwestern und -brüdern teile, wie etwa diejenige, dass der Mensch ein Geschöpf Gottes ist, dass er eine unsterbliche Seele hat, dass er Sünder ist usw. Diese spezifischen Überzeugungen sind nun für die Institutionen, Normen und Praktiken innerhalb meines katholischen Universums – etwa für die Praxis der regelmäßigen Beichte, des täglichen Gebets, oder die Praxis des sonntäglichen Gottesdienstbesuchs – konstitutiv. Die Überzeugungen erschließen mir die Welt des Katholizismus. Darüber hinaus prägen meine katholischen Überzeugungen meine individuelle Wahrnehmung der gesamtgesellschaftlichen Normen und Praktiken, und ich kann die gesellschaftlichen Normen und Praktiken im Lichte meiner katholischen Überzeugungen für mich legitimieren (indem ich beispielsweise die Menschenwürde auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen zurückführe). Meine katholischen Überzeugungen färben also meine Variante der gesamtgesellschaftlichen Lebenswelt ein. Sie sind aber nicht für das Bestehen dieser gemeinsamen Lebenswelt notwendig. Dies zeigt sich dann, wenn ich – aus welchen Gründen auch immer – meinen katholischen Glauben verliere und meine katholischen Überzeugungen ablege. Dies mag für mich mit einer schmerzlichen Identitätskrise einhergehen, aber ich werde mich dennoch ohne weiteres in unserer Gesellschaft zurechtfinden können. Wenn ich meinen Glauben daran verliere, dass der Mensch von Gott er262 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Das eine Menschenbild der Lebenswelt

schaffen wurde oder dass der Mensch eine unsterbliche Seele hat, breche ich deswegen noch nicht aus der gesellschaftlich geteilten Lebenswelt aus. Und selbst wenn ich damit den Zugang zu den katholischen Praktiken meiner ehemaligen Glaubensschwestern und -brüder verliere, so bleiben sie mir doch als die Mitglieder einer gemeinsamen Gesellschaft, die eine gemeinsame Lebenswelt teilt, in ihrem alltäglichen Agieren zugänglich. Wenn ich hingegen aufhöre, an die gesellschaftlich geteilten Überzeugungen über den Menschen zu glauben, dann wird mir die geteilte gesellschaftliche Praxis nicht mehr zugänglich sein. Wenn ich beispielsweise den Glauben daran verliere, dass Menschen frei und für ihre Handlungen verantwortlich sind, dann verlieren die gesellschaftlichen Moralvorstellungen, das Rechts- und Strafsystem, das Erziehungssystem und ein Großteil der alltäglichen zwischenmenschlichen Kommunikation für mich ihren etablierten Sinn. Ich werde die gesellschaftliche Praxis, die Äußerungen und Verhaltensweisen meiner Mitmenschen nicht mehr als das nehmen können, als was sie gemeinhin gelten – nämlich in vielen Fällen als selbstverantwortete Akte der Freiheit. Wenn ich dies tatsächlich praktisch und nicht nur theoretisch umsetze – was äußerst schwierig sein dürfte –, dann muss die gemeinsame Lebenswelt zerbrechen. Es zerbricht dann aber nicht nur die gemeinsame Lebenswelt, sondern mit ihr auch mein katholisches Universum, das ja auch mit auf der Idee basiert, dass Menschen frei und für das, was sie tun, verantwortlich sind. Der fundamentale Status, den das gesellschaftliche Menschenbild im Unterschied zu den pluralen Menschenbildern innehat, macht sich mithin daran bemerkbar, dass die Überzeugungen des ersteren nicht leicht ablegbar sind. Die Überzeugungen des gesellschaftlichen Menschenbildes der Lebenswelt sind nämlich erstens durch Sanktionen bewehrt. Wer an anthropologischen Überzeugungen rüttelt, die zum gesellschaftlichen common sense zählen und die als Fundament von als gültig angesehenen Normen, Praktiken und Institutionen fungieren, muss mit Widerspruch und Gegenwehr rechnen. Wer in unserer Gesellschaft beispielsweise öffentlich bezweifelt, dass der Mensch eine unsterbliche Seele hat, muss nicht (mehr) mit gesellschaftlichem Protest rechnen. Allenfalls wird dem Zweifler seitens mancher religiöser Gruppierungen Kritik entgegengebracht. Wer allerdings öffentlich an der moralischen Gleichheit der Menschen zweifelt, dem schlägt breite gesellschaftliche Ächtung entgegen. Das gesellschaftliche Menschenbild hat nicht nur den Anspruch, das 263 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

wahre und richtige zu sein, es gilt weithin als das wahre und richtige: es ist autoritativ. Wer es bezweifelt, muss Sanktionen in Kauf nehmen. Manche Überzeugungen des Menschenbildes der Lebenswelt sind jedoch nicht nur sanktionsbewehrt, sie lassen sich zudem – zweitens – praktisch gar nicht leugnen. Es gibt Überzeugungen, die zwar sanktionsbewehrt sind, die man aber ohne weiteres leugnen und praktisch umsetzen kann. So kann ich beispielsweise in unserer Gesellschaft leugnen, dass alle Menschen gleichwertig sind. Ich kann dies auch praktisch umsetzen – indem ich mich etwa rassistisch betätige – und dennoch weiterhin an der gemeinsamen Lebenswelt teilhaben. Andere anthropologische Überzeugungen lassen sich demgegenüber zwar haben, nicht aber praktisch umsetzen. So kann ich etwa der Überzeugung sein, dass Menschen eigentlich Maschinen und nicht frei sind; Menschen können daher für ihre Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden. Diese Überzeugung kann ich ohne weiteres haben, aber ich werde sie kaum praktisch durchhalten können. So wird etwa ein Richter meiner Beteuerung, ich hätte den Mord an meiner Ehefrau zwar minutiös geplant und durchgeführt, könne dafür aber aus prinzipiellen Gründen nicht verantwortlich gemacht werden, weil ich eine Maschine sei, entweder nur ein müdes Lächeln schenken oder aber mich in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einweisen lassen. Auch werden es mir meine Mitmenschen sehr verübeln, wenn ich sie als komplexe Maschinen und nicht als selbstverantwortliche, freie Individuen betrachte. Ich werde also, um weiterhin an der gemeinsamen Lebenswelt teilhaben zu können, zumindest so tun müssen, als ob die Menschen frei und für ihre Handlungen verantwortlich wären, auch wenn ich vom Gegenteil überzeugt bin. Ich kann mein Leben in unserer gemeinsamen Lebenswelt nicht führen, wenn ich ernsthaft daran glauben würde, dass der Mensch eine Maschine ist. Ich würde dann aus der gemeinsam geteilten Lebenswelt herausfallen. Neben Überzeugungen, die sich theoretisch glauben, praktisch umsetzen lassen und die nur sanktionsbewehrt sind, und Überzeugungen, die nur theoretisch zu glauben sind, sich aber nicht praktisch umsetzen lassen, gibt es Überzeugungen, die sich nicht einmal ernsthaft glauben lassen. So können wir uns nicht ernsthaft vorstellen, dass Menschen – wie dies manche archaische Gesellschaften glauben – aus mehreren Personen bestehen oder dass die Existenz des Menschen im Hier und Jetzt nur ein Splitter einer umfassenderen Exis264 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Das eine Menschenbild der Lebenswelt

tenz in einer anderen Raum-Zeit-Dimension ist, wie dies die Aborigines zu tun scheinen. Wir können uns auch nicht vorstellen, dass Menschen über kein Selbst oder Ich verfügen, oder dass Menschen über keine transtemporale Identität verfügen, also dass Menschen (mich selbst eingeschlossen) gestern nicht dieselben sind wie heute. Solche Gedanken lassen sich vielleicht noch theoretisch durchspielen, aber ernsthaft von ihnen überzeugt zu sein dürfte uns kaum gelingen. Wenn uns dies doch gelingen sollte, dann aber um den Preis, dass wir uns damit aus der gemeinsamen Lebenswelt, die wir dann ja als fundamental falsch empfinden müssen, ein Stück weit verabschieden und uns in unsere »eigene Welt«, die für andere kaum noch nachvollziehbar ist, zurückziehen. Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage lässt sich also so zusammenfassen: Die Binnenpluralität von Menschenbildern in einer gemeinsam geteilten Lebenswelt ist deswegen möglich, weil es in dieser Lebenswelt jenseits der vielen partikularen, individuellen wie gruppenspezifischen lebensweltlichen Menschenbilder das eine gemeinsame gesellschaftliche Menschenbild dieser Lebenswelt gibt. Dieses Menschenbild ist integraler Bestandteil des gemeinsamen Sinn- und Überzeugungshorizontes, der die gemeinsame Lebenswelt konstituiert. Dadurch ist es auch fundamentaler Bestandteil der vielen gruppenspezifischen und individuellen Varianten, der vielen Sinn- und Überzeugungssysteme, in denen der eine gemeinsame Sinn- und Überzeugungshorizont vorliegt. Im Vergleich zu den pluralen lebensweltlichen Menschenbildern ist das Menschenbild der Lebenswelt (a) abstrakter und inhaltlich dünner: es verfügt über eine Reihe an abstrakten Überzeugungen, die mit einer Vielzahl konkreterer Überzeugungen kompatibel sind, und es besitzt eine Reihe an negativen Überzeugungen darüber, welche Inhalte nicht Teil des allgemeinen, verpflichtenden Menschenbildes sind. Das Menschenbild der Lebenswelt ist (b) lebensweltlich fundamentaler: wer es nicht teilt, fällt aus der gemeinsamen Lebenswelt hinaus. Das Menschenbild der Lebenswelt ist (c) Voraussetzung, d. h. Bedingung der Möglichkeit der pluralen lebensweltlichen Menschenbilder, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Nur weil es das Menschenbild der Lebenswelt gibt, gibt es überhaupt eine gemeinsame Lebenswelt. Nur weil es das abstrakte und inhaltlich dünne Menschenbild der Lebenswelt gibt, kann es die vielen partikularen Menschenbilder geben, die dieses abstrakte und inhaltlich dünne Menschenbild auf je 265 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Individuelle, gruppenspezifische und gesellschaftliche Menschenbilder

ihre Art und Weise konkretisieren und erweitern. Nur weil es das gemeinsame Menschenbild der Lebenswelt gibt, ist es möglich, dass in der Lebenswelt eine Pluralität von Menschenbildern vorkommt, die nicht nur neben-, sondern miteinander existieren. Kurz: Die Binnenpluralität von Menschenbildern in einer gemeinsamen Lebenswelt ist deswegen möglich, weil es jenseits dieser pluralen Menschenbilder ein gemeinsames (rudimentäres) (Meta-)Menschenbild dieser Lebenswelt gibt. Wenn wir jetzt noch in Betracht ziehen, was wir im vorherigen Abschnitt über Menschenbilder festgestellt haben, nämlich dass sie nicht nur integrale, eng eingeflochtene Bestandteile des lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungshorizontes, sondern darüber hinaus systematisch zentrale Elemente desselben sind, so können wir nun – gleichsam als Konzentrat all dieser Ausführungen – Folgendes festhalten: Als zentrales und fundamentales Element der Sinn- und Überzeugungshorizonte, mit deren Hilfe sich Menschen die Wirklichkeit in die Wirklichkeit ihrer Lebenswelt zurechtlegen, sind Menschenbilder das historisch-kulturelle Apriori jeder lebensweltlichen Wirklichkeitskonstruktion schlechthin. 15

Der streng genommen oxymoronische Begriff des historischen Apriori wurde von Foucault eingeführt, um damit die vorgeordneten Muster der Erfahrung der Welt, die gleichwohl historisch bedingt und wandelbar sind, zu bezeichnen. Vgl. Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981, 183–190. Den Begriff übernimmt Foucault von Husserl, der vom »konkreten historischen Apriori« spricht (vgl. Husserl, Krisis, 380 ff. [Beilage III]). In der Krisis schreibt Husserl auch vom »lebensweltlichen Apriori« als »subjektiv-relativem Apriori«, in der die »objektiven«, d. h. wissenschaftlichen Apriori ihre »Sinn- und Rechtsquelle« haben (143 f.). Vgl. dazu Hyder, David, Foucault, Cavaillès, and Husserl on the Historical Epistemology of the Sciences, in: Perspectives on Science 11/1 (2003), 107–129, insb. 125–128.

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern: eine Kategorienlehre

Die Analysen, die wir bis jetzt zum Phänomen der lebensweltlichen Menschenbilder vorgenommen haben, waren weitgehend formal. Sie haben sich darauf beschränkt, das Phänomen unter Absehung inhaltlicher Gesichtspunkte in seiner grundlegenden Struktur zu erfassen, seinen Leistungen, Relationen und Manifestationen nachzuspüren und seine Funktionsweise zu beschreiben. Es war zwar unvermeidlich, dabei punktuell auch inhaltliche Aspekte zur Geltung kommen zu lassen, ihre Rolle beschränkte sich aber darauf, die formalen Analysen zu veranschaulichen und zu plausibilisieren. Auch die Definition des Menschenbildes, die eingangs erarbeitet wurde und die diese Analysen orientiert hat, ist eine formale: Ein Menschenbild ist ein Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen. Was die Inhalte dieser Überzeugungen sind und was unter den wichtigen Eigenschaften zu verstehen ist, wurde dabei offen gelassen. Im Folgenden wird es darum gehen, diese Lücke zu schließen. Dazu sind jedoch zunächst einige methodische Aspekte zu klären; die Frage, wie mit der inhaltlichen Pluralität, der Unterschiedlichkeit und der Vielgestaltigkeit von Menschenbildern umzugehen ist, ist nämlich alles andere als trivial. Erst im Anschluss daran können die Inhalte von Menschenbildern in den Blick genommen werden.

Methodologische Vorbemerkungen Eine Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Gesichtspunkten von lebensweltlichen Menschenbildern steht vor drei Herausforderungen, die das Unterfangen auf den ersten Blick als ein ziemlich hoffnungsloses erscheinen lassen müssen: die Herausforderung reduktionistischer und eurozentrischer Verkürzungen, die Herausforderung der Pluralität der Menschenbilder und die Herausforderung der Mannigfaltigkeit der Menschenbildüberzeugungen. 267 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

Verkürzungen Erstens gilt es, sich die Sicht auf das Phänomen des Menschenbildes nicht durch einen verkürzten Begriff des Menschenbildes vernebeln zu lassen. Menschenbilder werden ja gerne als Vorstellungen über die »Natur des Menschen« oder als Vorstellungen über »Ursprung, Sinn, Ziel und Wesen des Menschen« eingeführt, 1 als Vorstellungen zumal, denen oft ein weltanschaulich-religiöser Charakter nachgesagt wird. 2 Solche Menschenbildbegriffe suggerieren zum einen, dass Menschenbilder nur einige wenige Überzeugungen bündeln, dass es sich bei Menschenbildern also um relativ einfache Gebilde handle. Zum anderen erwecken diese Begriffe den Eindruck, als würde es sich bei Menschenbildern – zumindest in aufgeklärten, säkularen Gesellschaften – um etwas ziemlich Belangloses handeln, und zwar deswegen, weil sie, wie alles Weltanschaulich-Religiöse, rein privater Natur und zudem rational nicht verhandelbar seien. Menschenbilder spielten daher in säkularen Gesellschaften wie der unsrigen faktisch keine Rolle, und dies sei auch gut so. Denn bei Menschenbildern handle es sich letztlich um nichts anderes als um völlig verzichtbare weltanschauliche Überbauten. Dies zeige sich nicht zuletzt auch daran, dass viele Zeitgenossen über Fragen nach Ursprung, Sinn, Ziel und Wesen des Menschen gar nicht so genau Auskunft zu geben vermöchten, Menschenbilder in ihrem Leben also gar keine Bedeutung hätten. Einer solchen Betrachtungsweise von Menschenbildern ist dreierlei vorzuwerfen: Vgl. dazu beispielsweise Hesch, Gerhard, Das Menschenbild neuer Organisationsformen. Mitarbeiter und Manager im Unternehmen der Zukunft, Wiesbaden 1997, 12: »Diese Begriffsfassung zeigt, daß Menschenbilder in der Psychologie, ähnlich wie in der Philosophie, im Kern Annahmen enthalten, die der Mensch über das Wesen des Menschen trifft.« Vgl. ferner Düwell, Marcus/Harnacke, Caroline, Normativität der Menschenbilder, in: Interdisziplinäre Anthropologie 1 (2013), 105–123, hier 106 u. 109; Süer, Aydin, Menschenbilder der Moderne, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 63/34–36 (2013), 10–15. Auch ein Blick in die Begriffsgeschichte verrät, dass der Begriff des »Menschenbildes« in engster Verbindung mit den Konzepten des »Wesens des Menschen« oder der »Natur des Menschen« steht. 2 So z. B. bei Düwell, Menschenbilder und Anthropologie in der Bioethik; ders., Bioethik. Methoden, Theorien und Bereiche, Stuttgart/Weimar 2008, 136 f.; Fischer, Ethik und »Menschenbild«; Thies, Menschenbilder und Ethik; Höffe, Otfried, Ein transzendentaler Tausch: Zur Anthropologie der Menschenrechte, in: Philosophisches Jahrbuch 99/1 (1992), 1–28, hier 6 f. 1

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Methodologische Vorbemerkungen

(a) Sie ist im schlechten Sinne reduktionistisch, da sie Menschenbilder auf religiös-weltanschauliche Fragen verkürzt und daher verkennen muss, dass Menschenbilder wesentlich mehr, nämlich im Grunde alles anthropologische Wissen, welches einem Individuum, einer Gruppe oder einer Gesellschaft zur Verfügung steht, umfassen; Menschenbilder enthalten das Gesamt der jeweiligen Überzeugungen über den Menschen. 3 Zu diesen Überzeugungen zählen Trivialitäten wie die Überzeugungen, dass Menschen normalerweise Haare am Kopf wachsen und dass sie Schlaf benötigen, ebenso wie die nichttrivialen Überzeugungen, dass Menschen normalerweise Zeit ihres Lebens mit sich selbst identisch sind oder dass alle Menschen einen gleichen moralischen Status haben. Versteht man Menschenbilder in einem solch umfassenden Sinn, können sie nicht mehr als belanglos und verzichtbar abgetan werden. Außerdem dürfte dann klar sein, dass die meisten Menschen – mit Ausnahme von Säuglingen, Kleinkindern und kognitiv sehr Eingeschränkten – zumindest implizit über ein Menschenbild verfügen. (b) Die gängige Betrachtungsweise ist nicht nur reduktionistisch, sie ist darüber hinaus auch eurozentrisch. Die Reduktion von Menschenbildern auf einen religiös-weltanschaulichen Überbau ist nämlich nur deswegen möglich, weil zugleich unterstellt wird, dass es unter diesem Überbau eine völlig unproblematische und selbstverständliche – und durch die Wissenschaft gesicherte – Basis-Auffassung über den Menschen gibt. 4 Als diese Basis-Auffassung gilt in der Regel das abendländische Verständnis vom Menschen, so wie es den westlichen Gesellschaften, ihrer Rechtsprechung, ihrem politischen System und ihrer Moral zugrunde liegt. Von dieser Basis-AufDiesen Reduktionismus kritisiert beispielsweise auch Fahrenberg, Jochen, Die Funktion von Menschenbildern – Forschungsaufgaben der empirischen Psychologie, in: Petzold, Hilarion (Hg.), Die Menschenbilder in der Psychotherapie. Interdisziplinäre Perspektiven und die Modelle der Therapieschulen, Wien 2012, 91–131, hier 95. Allerdings bilden auch für ihn religiöse Überzeugungen das Zentrum von Menschenbildern (vgl. ebda. 104, 108). 4 Johannes Fischer geht beispielsweise explizit davon aus, dass es eine basale Stufe von Überzeugungen über den Menschen gibt, die sich aus der (wissenschaftlichen) »Erkenntnis der Wirklichkeit des Menschen« speist, die ihrem Anspruch nach »aperspektivisch« ist und die sich direkt »auf die Wirklichkeit des Menschen« bezieht. Über diese basale Stufe stülpt sich eine zweite Stufe von Aussagen über den Menschen, die »Reflexionsstufe« weltanschaulicher Menschenbilder, die aber auf die basale Stufe bezogen und durch sie korrigiert werden kann. Vgl. Fischer, Ethik und »Menschenbild«, 1 ff. Ähnlich Thies, Menschenbilder und Ethik, 29. 3

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

fassung wird nicht nur angenommen, dass sie wahr ist, sondern auch, dass sie im Grunde universell ist. Die Völker der Welt hätten diese Auffassung entweder bereits als richtig akzeptiert oder aber würden sie als richtig akzeptieren, sobald sie von ihren falschen, verzerrenden weltanschaulich-religiösen Vorstellungen ablassen. Die gängige Betrachtungsweise geht also davon aus, dass alle Menschen weltweit eigentlich, bewusst oder unbewusst, die gleiche grundlegende Auffassung vom Menschen haben. 5 Die unbestreitbaren Unterschiede in den Auffassungen über den Menschen gelten dieser Basis-Auffassung gegenüber als sekundär, da oberflächlich und vorläufig. Eine solche Betrachtungsweise aber ist falsch, naiv und gefährlich. Falsch ist sie, weil die Unterschiede zwischen den Auffassungen vom Menschen wesentlich tiefer reichen, als unterstellt: Eine gemeinsame Basis-Auffassung über den Menschen gibt es – zumindest bis heute – nicht. Naiv ist sie, weil sie davon ausgeht, dass es nur wenig benötigt, um Menschen von der richtigen Auffassung – die Auffassung, die sie ja im Grunde unbewusst schon haben – zu überzeugen. Und gefährlich ist sie, weil sie dazu verleitet, anderen Völkern und Kulturen allzu unbekümmert und ungeschickt die richtige Auffassung über den Menschen lehren zu wollen. Unter den vielen missglückten Missionierungsversuchen, durch die die aufgeklärte Welt den unaufgeklärten Rest in eine hellere Zukunft zu führen versuchte, waren es jüngst die brachial-optimistischen Demokratisierungsversuche, mit denen die Administration des amerikanischen Präsidenten George W. Bush einen Teil der Welt überzogen hat, und ihr dramatisches Scheitern, die eindrücklich Zeugnis von der Naivität und der Gefährlichkeit einer derartigen Betrachtungsweise ablegen. (c) Die gängige Betrachtungsweise ist also nicht nur reduktionistisch und eurozentrisch, sondern auch oberflächlich. Sie verkennt, wie unterschiedlich die Auffassungen über den Menschen weltweit gesehen immer noch sind, und sie verkennt, wie tiefgehend und wie subtil diese Unterschiede sind. Sie verkennt aber vor allem, wie tief Menschenbilder in der Lebenswelt einer Gesellschaft, in einer Kultur Eine derartige Auffassung liegt beispielsweise auch Nussbaums Versuch zu Grunde, aus universell anzutreffenden empirischen und historischen Erfahrungen eine Liste menschlicher Grundbefähigungen abzuleiten, die kulturübergreifend – zumindest implizit – als für den Menschen wesentlich angesehen werden. Vgl. Nussbaum, Martha, Human Capabilities, Female Human Beings, in: Dies./Glover, Jonathan (Hg.), Women, Culture, and Development. A Study of Human Capabilities, Oxford 1995, 61–104, hier 74 f.; ferner Nussbaum, Gerechtigkeit oder das gute Leben.

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Methodologische Vorbemerkungen

verankert sind und wie fundamental sie das Leben derjenigen Menschen, die an sie glauben, prägen. Ein Menschenbild zu ändern heißt, eine Kultur, heißt, eine Art zu leben zu ändern. Aus diesem Grund müssen Menschenbilder, auch wenn sie uns völlig fremd und falsch, ja »primitiv« oder »unaufgeklärt« erscheinen mögen, dennoch ernst genommen werden. Auch wenn solche Menschenbilder tatsächlich viel enthalten mögen, was falsch und moralisch verwerflich ist, ist zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass es Menschen gibt, die diese Menschenbilder für wahr halten, die sich an ihnen orientieren und ihr Leben darauf aufgebaut haben. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn Menschen daran glauben, dass sich Menschen in Tiere verwandeln können, dann ist dies zunächst einmal so zu akzeptieren. Nicht nur glauben diese Menschen, wie uns Ethnologen versichern, tatsächlich und nicht nur in einem übertragenen Sinne, dass Menschen in Tiergestalt auftreten können, sondern sie organisieren ihr Leben rund um diesen Glauben; der Glaube an die Fähigkeit des Menschen, sich in ein Tier zu verwandeln, prägt ihr Dasein. Es kommt eben, daran sei hier abermals erinnert, weniger darauf an, ob eine Auffassung vom Menschen wahr ist, als vielmehr darauf, ob sie für wahr gehalten wird. Dies ist freilich kein Argument dafür, Menschenbilder einfach auf sich beruhen zu lassen. Im Gegenteil, es kann mitunter sehr notwendig sein, Menschenbilder – man denke nur an rassistische Menschenbilder – zu korrigieren, dies sollte allerdings im Wissen um die großen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, geschehen. Wie entgeht man nun den Verkürzungen eines eurozentrischen Blicks? Ganz vermeiden werden sie sich freilich auch hier nicht lassen, zumal die ganze Untersuchung ja in der abendländischen Wissenschaftstradition steht – und auch stehen will. Die schlimmsten Verzerrungen lassen sich aber dadurch verhindern, dass man zunächst einmal auf die traditionellen Konzepte der »Natur des Menschen«, des »Wesens des Menschen«, und ähnliche, mit deren Hilfe der Begriff des Menschenbildes üblicherweise definiert wird, verzichtet. Eine Reduktion von Menschenbildern auf diese Konzepte ist undifferenziert, steckt doch in jedem dieser Konzepte implizit ohnehin wieder nur eine Vielzahl an Überzeugungen, die ihrerseits explizit gemacht werden müssten. In diesem Fall ist es aber sinnvoller, die vielen Überzeugungen direkt zu adressieren und den Umweg über die Konzepte zu vermeiden. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass diese Konzepte manchen Kulturen – und zunehmend auch unse271 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

rer eigenen – fremd sind. Eine Interpretation von Menschenbildern mit Hilfe dieser Konzepte läuft daher stets Gefahr, daneben zu greifen. Korrigieren lassen sich die Verzerrungen auch dadurch, dass man die Vielzahl der Überzeugungen, die Menschenbilder umfassen, im Blick hält. Auf diese Weise kann man versuchen, gleichsam »von unten her« zu definieren, welche dieser Überzeugungen nun tatsächlich wichtig sind, ohne sich dabei allzu stark von vorgefertigten Meinungen leiten zu lassen. Auch hier ist der Verzicht auf die genannten Konzepte hilfreich: Wer Menschenbilder auf Überzeugungen über die »Natur des Menschen« oder das »Wesen des Menschen« reduziert, hat bereits vordefiniert, welche der vielen Menschenbildüberzeugungen wichtig und einer Betrachtung würdig sind. Der Verzicht auf solch verengende Konzepte macht demgegenüber die Sicht auf die Vielzahl der Überzeugungen, die sich zu Menschenbildern bündeln, frei. Den eurozentrischen Verzerrungen lässt sich aber insbesondere dadurch entgegenwirken, dass man kulturell fremde Menschenbilder berücksichtigt. Dies heilt nicht nur von allzu voreiligen Unterstellungen universeller Annahmen über den Menschen, sondern hilft vor allem auch, eine Sensibilität für jene inhaltlichen Aspekte von Menschenbildern zu entwickeln, derer man sich nur schwer bewusst wird. Im grellen Licht des Vergleiches mit fremden Menschenbildern werden Annahmen, die man aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit kaum in den Blick zu bekommen vermag, schlagartig sichtbar. Aus diesem Grunde wird im Folgenden häufig auf ethnologisches Material zurückgegriffen. Die Verwendung dieses Materials bleibt dabei sehr eklektisch, der Fokus liegt auf den teilweise extremen Differenzen zwischen den Menschenbildern. Dies dient hauptsächlich vier Zwecken: Erstens soll das Material eben die Blindheiten, die aus der Kulturabhängigkeit des eigenen Standpunktes resultieren, ein Stück weit überwinden helfen. Zweitens soll es die inhaltlichen Aspekte von Menschenbildern veranschaulichen und plausibilisieren, drittens soll es einen Eindruck von der enormen Bandbreite der Anschauungen über den Menschen vermitteln, und viertens soll es – gleichsam als Vorgriff auf das nächste Kapitel – eine leise Ahnung von der ungeheuren Wirkmächtigkeit unserer Vorstellungen vom Menschen geben.

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Methodologische Vorbemerkungen

Pluralität der Menschenbilder Der ersten Herausforderung, die aus einer Behandlung inhaltlicher Aspekte von lebensweltlichen Menschenbildern aus der Verengung eines eurozentrischen Blickwinkels erwächst, lässt sich also, so können wir zusammenfassen, durch eine möglichst breite und umfassende Untersuchungsperspektive ein Stück weit begegnen. Dies allerdings führt geradewegs zur nächsten Schwierigkeit. Eine so breit und umfassend angelegte Auseinandersetzung steht nämlich zweitens vor der Herausforderung der Pluralität und Unterschiedlichkeit der Menschenbilder. Es gibt unzählige verschiedenartige Menschenbilder. Dies verrät allein schon ein Blick auf die pluralistischen Kulturen westlicher Gesellschaften, in denen ein völlig unübersichtliches Neben- und Miteinander säkularer, christlicher, muslimischer, buddhistischer, hinduistischer, humanistischer, naturalistischer usw. Menschenbilder herrscht, die zudem jeweils noch in einer Vielzahl an Variationen vorliegen. Hebt sich der Blick auf andere Gegenden der Welt und ihre Kulturen, von deren Reichtum uns die Ethnologie erzählt, verschärft sich die Diagnose noch, nicht nur, weil sich damit die Zahl der Menschenbilder potenziert, sondern weil wir dadurch auch auf Menschenbilder treffen, die sich so stark von den uns vertrauten Auffassungen über den Menschen unterscheiden, die uns so fremd und rätselhaft erscheinen, dass wir sie kaum zu erfassen vermögen; oft bleibt nur, sie mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis zu nehmen. In der Forschung begegnet man dieser zweiten Herausforderung in der Regel durch zwei Strategien, die oft auch miteinander kombiniert werden: (a) Man grenzt den Untersuchungsgegenstand ein, indem man die Untersuchung entweder auf ein spezifisches Menschenbild fokussiert, dessen Inhalte dann nach allen Regeln der Kunst analysiert werden, oder indem man einen bestimmten – etwa historischen, geographischen, kulturellen, gesellschaftlichen – Ausschnitt definiert, auf den man seine Analysen beschränkt. Der offensichtliche Vorteil einer solchen Herangehensweise ist, dass damit eine große inhaltliche Dichte bewahrt werden kann, d. h. viele unterschiedliche inhaltliche Aspekte von Menschenbildern beleuchtet werden können. Der Nachteil ist allerdings, dass die Ergebnisse eben nur eine klar begrenzte Gültigkeit haben: Es sind Ergebnisse über ein oder mehrere bestimmte Menschenbilder, aber nicht über das Phänomen des Menschenbildes im Allgemeinen. Da hier Aussagen über das Phänomen 273 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

des Menschenbildes im Allgemeinen intendiert sind, scheidet diese Strategie aus. (b) Man verengt die Untersuchungsperspektive, indem man ein oder zwei Gesichtspunkte definiert, auf die hin Menschenbilder befragt werden und die es erlauben, unterschiedlichste Menschenbilder in eine grobe Typologie zu zwängen. Auffassungen über den Menschen werden in diesen Fall dann – je nach Untersuchungskriterium – beispielsweise in dualistische und nicht-dualistische, deterministische und nicht-deterministische, individualistische und kollektivistische, optimistische und pessimistische, essenzialistische und nicht-essenzialistische usw. differenziert. 6 Der Vorteil dieser Herangehensweise liegt darin, dass auf diese Weise tatsächlich Aussagen gemacht werden können, die für alle Menschenbilder Gültigkeit haben, dies allerdings um den Preis einer inhaltlichen Verarmung, die dem Phänomen nicht gerecht wird. Menschenbilder bestehen schließlich aus mehr als nur aus ein oder zwei Überzeugungen über den Menschen. Da hier der Anspruch besteht, nahe am Phänomen zu bleiben, was wiederum bedeutet, Menschenbilder eben in ihrer inhaltlichen Vieldimensionalität zu erfassen und nicht den Fehler eines So definieren etwa Bottenberg und Schade nur zwei inhaltliche Dimensionen, nämlich diejenigen der Transzendenz und der Immanenz; vgl. Bottenberg, Ernst/Schade, Franz-Dieter, Darstellung alltags-philosophischer Konzeptionen in einem Bereich selbst- und weltbezogener subjektiver Theorien, Bewertungen, in: Psychologie und Praxis 26 (1982), 127–130. Auf Grundlage der entwicklungspsychologischen Arbeiten von Piaget und Kohlberg sowie einiger empirischer Untersuchungen entwirft Oerter ein Menschenbild-Schema, das vier entwicklungspsychologische Niveaus und drei relativ grobe inhaltliche Dimensionen unterscheidet. Die entwicklungspsychologischen Stufen sind: 1. der Mensch wird als Akteur aufgefasst, 2. der Mensch wird als Träger psychischer Eigenschaften aufgefasst, 3. der Mensch wird als autonome oder mutuelle (durch andere Personen bestimmte) Identität aufgefasst, 4. der Mensch wird als gesellschaftliche Identität, d. h. als Element eines größeren sozialen Systems aufgefasst. Auf jeder dieser Entwicklungsstufen beinhalten Menschenbilder inhaltliche Überzeugungen in Bezug auf die Persönlichkeit, in Bezug auf die Beziehung zwischen Menschen und in Bezug auf Handlungen, d. h. eine Persönlichkeits-, eine Sozial- und eine Handlungstheorie; vgl. Oerter, Rolf, Menschenbilder im Kulturvergleich, in: Trommsdorff, Gisela/Kornath, Hans-Joachim (Hg.), Kulturvergleichende Psychologie, Bd. 1, Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie, Göttingen 2007, 487–530; für eine philosophische Diskussion des Ansatzes vgl. Janich, Peter/Oerter, Rolf, Der Mensch zwischen Natur und Kultur, Göttingen 2012, 121–138. Schon Max Scheler versuchte sich in dem Aufsatz Mensch und Geschichte von 1926 an einer Typologie der Menschenbilder, er beschränkt sich allerdings auf den abendländischen Denk- und Kulturraum; vgl. Scheler, Max, Mensch und Geschichte (1926), in: Ders., Späte Schriften, Gesammelte Werke, Bd. 9, Späte Schriften, hg. v. Manfred Frings, Bern/München 1976, 120–144.

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Methodologische Vorbemerkungen

allzu brachialen Reduktionismus zu begehen, ist auch diese Strategie keine Option. Hier soll demgegenüber eine dritte Strategie eingeschlagen werden, die ebenso etabliert ist wie die anderen beiden, aber im Unterschied zu ihnen auf den Gegenstand »Menschenbild« bislang noch nicht in Anschlag gebracht wurde. 7 Anders als die erste Strategie hat sie – zumindest prinzipiell – die gesamte Menschenbildvielfalt im Blick und zielt daher auf Ergebnisse, die für alle Menschenbilder gelten. Anders als die zweite Strategie versucht sie der Tatsache gerecht zu werden, dass Menschenbilder nicht nur auf einen oder zwei inhaltliche Gesichtspunkte reduziert werden können, sondern viele unterschiedliche Überzeugungen über den Menschen vereinen. Die dritte Strategie besteht nun darin, die unterschiedlichen inhaltlichen Aspekte, die von Menschenbildern in der Regel abgedeckt werden, herauszuschälen. Wenn Menschenbilder Bündel von Überzeugungen über Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen sind, dann zielt die Analyse folglich darauf ab, die inhaltlichen Arten von Eigenschaften zu identifizieren, über die in Menschenbildern Überzeugungen vorliegen. 8 Die Antwort auf die Herausforderung der MenschenbildEine Ausnahme bildet vielleicht die Aufstellung von Fahrenberg, die aber erstens nicht ausgearbeitet und zweitens derart grob und undifferenziert ist, dass sich nicht an sie anknüpfen lässt. Nach Fahrenberg beinhalten Menschenbilder Überzeugungen zu folgenden Themengruppen: Beschaffenheit des Menschen; Wesenszüge des Menschen; Werte und Moral, Familie, Gemeinschaft, Beruf; Gesellschaft und Staat; Herkunft und Schicksal, Metaphysik; Abgrenzung von anderen Wesen. Vgl. Fahrenberg, Annahmen über den Menschen, 281. 8 Eine gewisse Verwandtschaft mit dieser Herangehensweise haben die Versuche, die inhaltlichen Dimensionen von Persönlichkeitstheorien zu definieren. Hjelle und Ziegler definieren beispielsweise neun grundlegende inhaltliche Dimensionen von Annahmen über die menschliche Natur (verstanden in einem engen Sinne als Verhalten des Menschen), die Persönlichkeitstheorien zugrundeliegen. Die Dimensionen lassen sich als Polaritäten formulieren: Freedom – Determinism, Rationality – Irrationality, Holism – Elementalism, Constitutionalism – Environmentalism, Changeability – Unchangeability, Subjectivity – Objectivity, Proactivity – Reactivity, Homeostasis – Heterostasis, Knowability – Unknowability; vgl. Hjelle, Larry/Ziegler, Daniel, Personality Theories: Basic Assumptions, Research and Applications, New York 31992, 20–29. Wrightsman wiederum leitet aus den Werken von Philosophen, Theologen und Sozialwissenschaftlern sowie aus den Ergebnissen von Befragungen sechs Dimensionen von Annahmen über die menschliche Natur ab: Trustworthiness, Strength of Will and Rationality, Altruism, Independence, Complexity and Variability; vgl. Wrightsman, Lawrence, Assumptions about Human Nature. Implications for Researchers and Practitioners, London 21992, 80–111. Diese Aufstellungen haben für die vorliegende Untersuchung nur sehr begrenzte Relevanz. Erstens beschränken sich 7

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

Vielfalt ist also eine formalistische: Da die Inhalte von Menschenbilder so mannigfach und so unterschiedlich sind, können allgemeine Aussagen über diese Inhalte nur über die allen Menschenbildern gemeinsamen Formen, in denen diese Inhalte vorliegen, getroffen werden. Es geht mit anderen Worten im Folgenden darum, die gemeinsame inhaltliche Struktur aller lebensweltlichen Menschenbilder, in der ihre konkreten Inhalte gegeben sind, freizulegen.

Mannigfaltigkeit der Menschenbildüberzeugungen Auch wenn sich mit einer formalen Analyse vielleicht die Vielheit und die Unterschiedlichkeit der Menschenbilder in den Griff bekommen lassen, so steht die Analyse freilich noch immer vor der dritten Herausforderung. Es gibt nämlich nicht nur viele unterschiedliche Menschenbilder, sondern jedes einzelne dieser Menschenbilder umfasst unüberschaubar viele unterschiedliche inhaltliche Aspekte. Dies liegt einmal schon an dem Umstand, dass lebensweltliche Menschenbilder in den lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungshorizont eingewoben und somit nur schwer isolierbar sind. Von daher lässt sich gar nicht so klar bestimmen, was überhaupt alles zu einem Menschenbild zu zählen ist. Gehören beispielsweise nicht auch Weltbilder oder Vorstellungen über die richtige Gesellschaftsordnung, die ja zweifellos in engen Beziehungen zu Menschenbildern stehen, irgendwie zu Menschenbildern? Dass Menschenbilder unüberschaubar viele Inhalte umfassen liegt darüber hinaus aber hauptsächlich daran, dass zu einem Menschenbild streng genommen das gesamte Wissen, das jemand – sei es nun ein Individuum, eine Gruppe oder eine Gesellschaft – über den Menschen hat, zu zählen ist. Gehören nicht Überzeugungen wie diejenigen, dass Menschen Schlaf benötigen, dass Menschen Schmerzen empfinden können, dass Menschen Durst und die Analysen auf wissenschaftliche Theorien und mithin westliche Auffassungen vom Menschen. Zweitens bildet die Persönlichkeit bzw. das menschliche Verhalten nur einen inhaltlichen Aspekt unter vielen, die Menschenbilder in dem hier verstandenen Sinne umfassen. Etwas breiter – aber für unsere Zwecke immer noch zu eng – angelegt sind die an Wrightsman anschließenden psychologischen Untersuchungen zum Phänomen der Dehumanisierung, die stets auch Erkenntnisse über die jeder Dehumanisierung zugrundeliegenden Verständnisse von Humanität bereitstellen; für einen Überblick vgl. den Band von Bain, Paul/Vaes, Jeroen/Leyens, Jacques-Philippe (Hg.), Humanness and Dehumanization, New York/London 2013.

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Methodologische Vorbemerkungen

Hunger haben, dass Menschen unter Alkoholeinfluss ihre Zurechnungsfähigkeit verlieren, dass Menschen Zähne wachsen, die noch im Kindesalter ausfallen und durch zweite Zähne ersetzt werden usw. zum Menschenbild? Müssten einem Menschenbild nicht auch – gleichsam als untergeordnete Überzeugungsbündel – das Bild der Frau und das Bild des Mannes, das Bild des Kindes, das Bild des Teenagers, das Bild des »alten Menschen«, das Bild des Älterwerdens usw. zugerechnet werden? Kurz: Sind nicht alle Überzeugungen, die wir über den Menschen im Allgemeinen haben, Teil unseres Menschenbildes? Wenn dem so ist, dann muss auch eine formale Analyse der inhaltlichen Aspekte von Menschenbildern aussichtslos erscheinen. Denn durch die Reduktion auf die Form ließe sich vielleicht noch die Pluralität der Menschenbilder in den Griff bekommen, nicht aber die Binnenpluralität der Überzeugungen der einzelnen Menschenbilder. Mit dieser Herausforderung haben wir uns bereits beim Versuch, den Begriff des Menschenbildes zu definieren, auseinandergesetzt. Dort wurden die vielen weniger wichtigen bzw. trivialen Annahmen über alle möglichen Eigenschaften des Menschen von den wichtigen Annahmen über zentrale Eigenschaften des Menschen unterschieden. Menschenbilder wurden dementsprechend definiert als Bündel von Überzeugungen über eben diese zentralen oder wichtigen Eigenschaften des Menschen. Wenn man Menschenbilder auf diese Weise reduziert, schränkt man die Arten von Eigenschaften, die in einer Analyse berücksichtigt werden müssen, ein. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist dann allerdings, wodurch Eigenschaften zu wichtigen Eigenschaften bzw. wodurch Überzeugungen zu wichtigen Überzeugungen werden. Was rechtfertigt es, von den unzählbar vielen Überzeugungen über menschliche Eigenschaften bestimmte als wichtig herauszugreifen und sie von den nicht-wichtigen zu unterscheiden? Auf diese Frage lassen sich folgende drei Antworten geben: 1. Wichtig sind solche Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen, die für das Menschenbild systematisch zentral bzw. fundamental sind. Systematisch zentral ist eine Überzeugung dann, wenn sie auf alle oder zumindest viele andere Überzeugungen eines Überzeugungsbündels Einfluss hat. So hat etwa die Überzeugung, dass der Mensch eine unantastbare Würde hat, auf die meisten anderen Überzeugungen eines Menschenbildes Einfluss. Es ist eine Überzeugung über den Menschen als Ganzen. Die Überzeugung hingegen, dass die Augenfarbe des Menschen erblich bedingt ist, ist nicht syste277 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

matisch zentral. Diese Überzeugung hat keinen Einfluss auf alle anderen Überzeugungen über den Menschen. Die systematische Stellung von Überzeugungen wird auch an den Auswirkungen deutlich, die eine Veränderung einer Überzeugung hat. Kämen wir beispielsweise zur Überzeugung, dass der Mensch keine unantastbare Würde hat, würde dies unser Menschenbild insgesamt (radikal) verändern. Kämen wir hingegen zur Überzeugung, dass die Farbe des menschlichen Auges von der Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft abhängt, wäre dies zwar relativ spektakulär, bliebe aber doch ohne Auswirkungen auf die meisten anderen unserer Überzeugungen über den Menschen. Dieses Kriterium von Wichtigkeit ist ein objektivistisches. Die systematische Zentralität hängt von der objektiven Struktur eines Menschenbildes und nicht davon ab, ob die Träger eines Menschenbildes eine Überzeugung als wichtig erachten. So ist beispielsweise die Überzeugung, dass der Mensch ein Lebewesen ist, das über die Zeit seines Lebens trotz aller Veränderungen irgendwie dasselbe bleibt, eine systematisch fundamentale. Sie hat eine Auswirkung auf viele andere Überzeugungen. Gleichwohl ist sie eine, die die Menschen subjektiv möglicherweise nicht als wichtig erachten, und zwar allein schon deswegen, weil diese Annahme so selbstverständlich ist, dass sie vielen gar nicht bewusst sein dürfte. Damit freilich ist nicht gesagt, dass systematisch fundamentale Überzeugungen nicht zugleich solche sein können, die von den Trägern auch als wichtige Überzeugungen angesehen werden. Im Gegenteil, solche Überschneidungen dürften häufig der Fall sein. 2. Wichtig sind solche Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen, die für die lebensweltliche Praxis fundamental sind. Für die lebensweltliche Praxis fundamental ist eine Überzeugung dann, wenn sie unseren Umgang mit dem Menschen grundsätzlich orientiert. So ist etwa die Annahme, dass der Mensch Menschenwürde hat und ihm daher mit Respekt und Achtung zu begegnen ist, für unsere Praxis fundamental. Demgegenüber ist etwa die Überzeugung, dass Menschen Fernweh empfinden können, nicht fundamental. In der Regel ist noch nicht einmal die Überzeugung, dass Menschen Schmerz empfinden können, fundamental. Damit ist nicht gesagt, dass die Annahme der menschlichen Schmerzempfindlichkeit für unsere Praxis unbedeutend ist, aber grundsätzlich orientierend ist sie in der Regel nicht. Denn das Schmerzempfinden des Menschen wird erst im Lichte der Annahme, dass der Mensch wertvoll bzw. mora278 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Methodologische Vorbemerkungen

lisch berücksichtigungswürdig ist, für uns handlungsrelevant. 9 Dies lässt sich an zwei Phänomenen erkennen: Erstens behandeln wir Tiere auch dann, wenn wir von ihnen annehmen, dass sie Schmerzen empfinden, anders (bzw. schlechter) als Menschen. Dies legt nahe, dass es nicht die Schmerzempfindlichkeit per se sein kann, die orientierend ist, sondern eine fundamentalere Annahme wie z. B. diejenige, dass Menschen wertvoller als Tiere sind; dies erst macht den menschlichen Schmerz für uns relevanter als den Schmerz der Tiere. Zweitens ist festzustellen, dass dort, wo Menschen nicht als grundsätzlich wertvoll angesehen werden, in der Regel auch auf die Leidensfähigkeit des Menschen keine Rücksicht genommen wird. Dies zeigt ebenfalls, dass die Überzeugung, dass der Mensch schmerzempfindlich ist, erst im Lichte einer fundamentaleren Überzeugung – nämlich derjenigen vom moralischen Wert des Menschen – zu einer relevanten Überzeugung wird. Auch das Kriterium der Fundamentalität für die lebensweltliche Praxis ist objektivistisch, schließlich hängt die lebensweltliche Relevanz einer Überzeugung von den objektiven Zusammenhängen zwischen Menschenbild und lebensweltlicher Praxis und nicht davon ab, ob diese Überzeugung für wichtig gehalten wird. Natürlich kann eine Überzeugung deswegen an lebensweltlicher Relevanz gewinnen, weil sie für wichtig erachtet wird, aber daneben kann es auch Überzeugungen geben, die lebensweltlich zentral sind, obwohl sie nicht für wichtig erachtet werden. So ist die Überzeugung, dass nicht alle Menschen gleichwertig sind, auch dann praktisch-lebensweltlich fundamental, Pathozentrische ethische Ansätze sehen dies bekanntlich anders: Ihnen zufolge ist es gerade die Leidensfähigkeit, die moralischen Eigenwert verleiht. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass auch hier die Annahme, dass Menschen Schmerz empfinden können, für sich genommen noch nicht orientierend ist. Orientierend wird diese Annahme nämlich erst durch eben die normative Grundannahme, dass Leidensfähigkeit moralischen Eigenwert verleiht. Abgesehen davon ändert dies aber nichts daran, dass in westlichen Gesellschaften mehrheitlich immer noch ein axiologischer Anthropozentrismus vertreten wird, demzufolge die Eigenschaft des Menschseins bzw. der damit untrennbar verbundenen Menschenwürde den höchsten moralischen Eigenwert verleiht. Der Pathozentrismus lehnt diesen Anthropozentrismus freilich als falsch ab und fordert, ihn durch eine pathozentristische Sichtweise zu ersetzen. Doch wie immer man den moralischen Eigenwert des Menschen auch begründet, am Wichtigkeits-Kriterium der lebensweltlich-praktischen Fundamentalität ändert sich dadurch nichts: Für jemanden, der einen Pathozentrismus vertritt, wäre dann eben einfach die Überzeugung, dass Menschen Schmerz empfinden können, lebensweltlich-praktisch fundamental und als solche eine wichtige Menschenbildüberzeugung.

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

wenn sie von den Trägern eines solchen Menschenbildes als eine wenig wichtige, nicht zentrale Überzeugung abgetan wird. Desgleichen kann eine Überzeugung auch praktisch-lebensweltlich fundamental sein, obwohl sie keinen systematisch zentralen Stellenwert hat. So war etwa die Annahme, dass es Menschen gibt, die von Natur aus zur Sklaverei geboren sind, für das antike griechische Menschenbild sicherlich nicht systematisch zentral. Systematisch zentral war vielmehr die Annahme, das der Mensch mit Vernunft ausgestattet ist. Die Überzeugung, dass es Sklaven von Natur aus gibt, ist vielmehr eine (vermeintliche) Folge dieser systematisch zentralen Annahme. Gleichwohl ist die Überzeugung, dass es Sklaven von Natur aus gibt, eine praktisch-lebensweltlich äußerst relevante. 3. Wichtig sind solche Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen, die von den Trägern eines Menschenbildes als zentral oder wesentlich angesehen werden. Dies ist ein Kriterium, das auf die subjektive Wichtigkeit abzielt. Wenn Franz, um ein etwas abstruses Beispiel heranzuziehen, davon überzeugt ist, dass das Heil jedes Menschen davon abhängt, dass der Mensch jeden Tag Zähne putzt, dann ist diese Überzeugung für Franz’ Menschenbild subjektiv wichtig. In der Regel führt der Umstand, dass eine bestimmte Menschenbildüberzeugung von ihren Trägern als wichtig angesehen wird, dazu, dass diese Überzeugung sowohl systematisch fundamental als auch für die lebensweltliche Praxis fundamental wird. Für Christen beispielsweise ist die Annahme, dass der Mensch Ebenbild Gottes ist, subjektiv zentral. Dies führte dazu, dass diese Annahme für das christliche Menschenbild systematisch fundamental wurde, und in der Folge zudem dazu, dass diese Annahme – zumindest indirekt – auch lebensweltlich fundamental wurde, da sie für Christen die Grundlage der unbestreitbar lebensweltlich relevanten Überzeugung ist, dass alle Menschen im Besitz von Menschenwürde sind. Eine derartige Überschneidung zwischen diesen drei Kriterien von Wichtigkeit kann, muss aber nicht der Fall sein.

Wichtige Menschenbildüberzeugungen Die drei Herausforderungen der eurozentrischen Verkürzung, der Pluralität und Verschiedenartigkeit der Menschenbilder sowie der Binnenpluralität der Menschenbildüberzeugungen scheinen also allesamt bewältigbar. Wir stehen jetzt daher vor der Aufgabe, die wichti280 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Methodologische Vorbemerkungen

gen Arten von Überzeugungen bzw. die wichtigen inhaltlichen Aspekte von Menschenbildern aufzudecken. Um dabei der Gefahr, willkürlich vorzugehen, vorzubeugen, bedarf es einer nachvollziehbaren Kriteriologie, anhand derer sich bestimmen lässt, warum eine inhaltliche Dimension nun eine wichtige ist. Ansonsten würde man sich den Vorwurf zuziehen, den sich Aristoteles von Kant in Bezug auf seine Kategorienlehre hat gefallen lassen müssen: dass sie willkürlich, nicht aus einem Prinzip abgeleitet und unsystematisch sei. 10 Unsere drei Kriterien der Wichtigkeit geben uns nun zwar kein Prinzip, aber immerhin doch ein plausibles grobes Raster für die Identifikation der wichtigen inhaltlichen Aspekte von Menschenbildern an die Hand. Um zu den inhaltlichen Aspekten, die von lebensweltlichen Menschenbildern abgedeckt werden, vorzudringen, halten wir uns zunächst vor Augen, was Menschenbilder in der Lebenswelt leisten müssen. Menschenbilder sind, so sagten wir im vorigen Kapitel, Typisierungen. Wie alle lebensweltlichen Typisierungen dienen Menschenbilder dazu, das Handeln bzw. den Umgang mit einem »Gegenstand« bzw. Ding zu ermöglichen. 11 Damit eine Typisierung dies kann, muss sie wiederum zweierlei leisten: Sie muss es ermöglichen, ein Ding als Exemplar eines bestimmten Typus zu erkennen, und sie muss ausreichend Informationen über das Ding zur Verfügung stellen. Im Grunde muss eine Typisierung zwei Fragen beantworten: »Wie erkenne ich das Ding?« und »Was ist das Ding?« Freilich hängen diese Fragen auf das engste miteinander zusammen, da ich mit dem Wissen, was ein Ding ist, in der Regel zugleich auch weiß, wie ich so ein Ding erkenne. Dennoch ist es, wie sich gleich zeigen wird, wichtig, diese beiden Fragen auseinanderzuhalten. Die Frage »Was ist das Ding?« ist zudem vielschichtiger, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Es ist daher sinnvoll, zusätzlich die grundlegenden Kant kritisiert, dass Aristoteles seine Kategorien nicht aus einem Prinzip abgeleitet hat: »Es war ein eines scharfsinnigen Mannes würdiger Anschlag des Aristoteles, diese Grundbegriffe aufzusuchen. Da er aber kein Principium hatte, so raffte er sie auf, wie sie ihm aufstießen, und trieb deren zuerst zehn auf, die er Kategorien (Prädikamente) nannte.« (Kant, Kritik der reinen Vernunft 1, 119 (B 107/A 81) (Hervorhebungen im Original). Ironischerweise musste sich dann Kant selbst auch diesen Vorwurf gefallen lassen, so etwa von Trendelenburg, [Friedrich] Adolf, Logische Untersuchungen, Bd. 1, Leipzig 31870, 333 f. 11 Der Umstand, dass die Rede von einem »Gegenstand« oder »Ding« im Zusammenhang mit Menschen unangemessen ist, sei hier um des Argumentes willen zunächst ausgeblendet. Die Rede vom »Ding« dient nur dazu, universelle Funktionen von Typisierungen sichtbar zu machen. 10

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

Schichten der Bestimmung dessen, was ein Ding ist, zu unterscheiden. Zu wissen, was ein Ding ist, bedeutet in der Regel mindestens dreierlei: Zu wissen, aus was bzw. welchen »Stoffen« es besteht, zu wissen, wie es funktioniert (zumindest soweit, dass ich mit ihm im Alltag umgehen kann), 12 und zu wissen, wozu es dient. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Meine Typisierung, d. h. mein geistiges Bild vom Fahrrad muss mir, damit sie bzw. es lebensweltlich tauglich ist, das Wissen darüber zur Verfügung stellen (a) wie bzw. woran ich ein Fahrrad erkennen kann, dass es (b) aus einem festen materiellen Stoff ist und nicht etwa über Seele, Subjektivität oder Empfindsamkeit verfügt, dass es (c) einen Lenker zum Lenken, einen Sattel zum Sitzen und Pedale zum Treten, zwei Reifen zum Rollen usw. hat, und dass es (d) dazu dient, schneller als zu Fuß von A nach B zu kommen. Dass diese vier Typen von Inhalten aufs Engste miteinander verwoben sind, liegt dabei auf der Hand, bilden sie doch gemeinsam mein Bild vom Fahrrad. Damit eine auf einen Gegenstand anwendbare Typisierung praktisch-lebensweltlich brauchbar ist, muss sie folglich auf vier Fragen Antworten parat haben: a) Wie identifiziere ich das Ding? – Dies ist die identifikatorische Dimension. b) Woraus besteht das Ding? – Dies ist die ontologische Dimension c) Wie funktioniert das Ding? – Dies ist die funktionale Dimension. d) Wozu dient das Ding? – Dies ist die teleologische oder normative Dimension. Wie alle Typisierungen geben auch Menschenbilder Antworten auf diese vier fundamentalen Fragen. Menschenbilder geben Auskunft darüber, a) wer überhaupt Mensch ist, b) was der Mensch ontologisch ist, c) wie der Mensch funktioniert und d) wozu der Mensch dient bzw. – dies ist im Falle des Menschen die angemessenere Frage – wie der Mensch sein sollte. Der große Unterschied zu gegenständlichen Typisierungen liegt freilich erstens darin, dass der Mensch ein wesentlich komplexeres »Ding« ist als etwa ein Fahrrad, und zweitens darin, dass ein Menschenbild nicht nur Auskunft über einen einfachen Gegenstand gibt, sondern über einen Gegenstand, der ich Ich muss, um beispielsweise ein Auto zu bedienen, nicht im Detail wissen, wie es funktioniert. Aber ich muss zumindest ein Wissen um ein paar grundlegende Funktionen haben – so z. B. dass ich mit dem Lenkrad lenken muss, dass ich mit dem Fuß Gas- und Bremspedal bedienen muss, dass das Auto Treibstoff braucht usw.

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Methodologische Vorbemerkungen

selbst bin. Die Antworten, die das Menschenbild auf die Frage »Was ist der Mensch?« gibt, sind immer auch Antworten auf die Frage »Wer bin ich?«. Aus diesem Grund müssen Menschenbilder nicht nur dazu in die Lage versetzen, mit Mitmenschen umzugehen, sondern auch dazu, mit einem selbst umzugehen. Diese Besonderheit von Menschenbildern ändert jedoch nichts daran, dass auch Menschenbilder Antworten in Bezug auf diese vier grundlegenden inhaltlichen Dimensionen zur Verfügung zu stellen haben. Im Folgenden werden wir versuchen, die wichtigen, d. h. die systematisch zentralen, die lebensweltlich fundamentalen und subjektiv wichtigen Aspekte jeder dieser vier Dimensionen herauszuarbeiten. Auf diese Weise soll es gelingen, die grundlegenden inhaltlichen Aspekte von Menschenbildern zu identifizieren; Ziel ist also eine Aufstellung, die man als Menschenbild-Kategorienlehre bezeichnen könnte. Wiewohl bei dieser Analyse wiederum formale Aspekte im Vordergrund stehen, kommen inhaltliche Gesichtspunkte nicht zu kurz. Insbesondere soll, wie bereits gesagt, auf ethnologisches Material zurückgegriffen werden. Die zu entwerfende Kategorienlehre stellt ja – auch wenn sie in der abendländischen Wissenschaftstradition steht – den Anspruch, für alle und nicht nur für abendländische Menschenbilder zu gelten. Sie muss sich also auch auf kulturell fremde Menschenbilder anwenden lassen. Die Bezugnahme auf ethnologisches Material soll außerdem, dies wurde oben erläutert, die Verzerrungen eines Eurozentrismus zu vermeiden helfen. Dies vorausgeschickt, können wir uns den wichtigen inhaltlichen Dimensionen von Menschenbildern zuwenden. Eine Analyse von Menschenbildern unter diesen vier heuristischen Fragerichtungen »Wer ist überhaupt Mensch?«, »Was ist der Mensch?« »Wie funktioniert bzw. verhält sich der Mensch?« und »Wozu dient der Mensch bzw. wie soll der Mensch sein?« ergibt eine Liste von zehn inhaltlichen Kategorien von Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen, die in jedem Menschenbild zu finden sind und die, wie jeweils zu zeigen sein wird, eine fundamentale systematische, lebensweltliche oder subjektive Bedeutung haben. Im zusammenfassenden, vorgreifenden Überblick – die Details dazu, aus denen auch hervorgeht, weswegen gerade diese Überzeugungen in die Liste aufgenommen wurden, finden sich auf den folgenden Seiten – bedeutet dies, dass jedes Menschenbild immer folgende Kategorien von Überzeugungen beinhaltet: 283 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

Identifikatorische Dimension 1.

Überzeugungen darüber, wer überhaupt Mensch ist.

Ontologische Dimension 2. 3. 4. 5.

Überzeugungen über ontologisch fundamentale Eigenschaften des Menschen Überzeugungen über die Stellung des Menschen im Kosmos Überzeugungen über intrahumane ontologische und axiologische Differenzierungen Überzeugungen über die menschliche Individualität

Funktionale Dimension 6. 7. 8. 9.

Überzeugungen über das Selbst des Menschen Überzeugungen über die menschliche Freiheit Überzeugungen über das menschliche Verhalten Überzeugungen über wichtige menschliche Fähigkeiten

Teleologische bzw. normative Dimension 10. Überzeugungen über das richtige menschliche Leben Zu dieser Liste ist dreierlei anzumerken: Erstens ist klar, dass man die vielen wichtigen Überzeugungen eines Menschenbildes auch in eine ganz andere Ordnung hätte bringen können. Man hätte sie in wesentlich weniger oder in wesentlich mehr Kategorien unterteilen können. Die vorliegende Liste ist das Ergebnis eines Kompromisses: Sie soll differenziert genug sein, um allen wichtigen inhaltlichen Typen von Überzeugungen einen Raum zu bieten, dabei soll sie aber gleichzeitig noch übersichtlich und handhabbar bleiben. Zweitens ist auf den Umstand hinzuweisen, dass es zwischen den Kategorien häufig Überschneidungen gibt, da sich Überzeugungen über den Menschen oft mehreren Kategorien bzw. nicht sauber einer Kategorie zuordnen lassen. Dies liegt auch daran, dass Überzeugungen über den Menschen nicht selten mehrfach codiert sind. So beinhaltet etwa das traditionel284 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Methodologische Vorbemerkungen

le abendländische Menschenbild die Überzeugung, dass das Wesen des Menschen in seiner Vernunft liegt. Diese Überzeugung ist nun häufig eine ontologische – der Mensch ist seinem Sein nach vernünftig, er verfügt über eine Vernunftseele –, sie ist eine funktionale – die Vernunft ist eine wichtige Fähigkeit des Menschen, der Mensch verfügt normalerweise über Vernunft und handelt vernünftig –, und sie ist eine teleologisch-normative: der Mensch sollte seine Vernunft ausbilden und sollte sich darum bemühen, sein Leben von der Vernunft leiten zu lassen. Drittens ist hier noch einmal daran zu erinnern, dass diese Liste bloß die wichtigen und nicht alle Überzeugungen von Menschenbildern erfasst. Menschenbilder enthalten eine unüberschaubar große Menge an Überzeugungen, von denen die meisten entweder nicht so wichtig oder triviale Selbstverständlichkeiten oder beides sind. Nun ist sicherlich richtig, dass einige von diesen Eigenschaften von Theoretikern in den Rang wichtiger oder wesentlicher Eigenschaften gehoben wurden. So spielt etwa der aufrechte Gang im traditionellen anthropologischen Denken eine prominente Rolle, auch die Sterblichkeit – präziser: das Wissen um die eigene Sterblichkeit – wurde zu einem der zentralen menschlichen Charakteristika erklärt, ebenso das Lachen oder das Spielen. Angesichts der langen Liste der vermeintlichen fundamentalen menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten stellt sich beinahe die Frage, welche der vielen Eigenschaften des Menschen noch nicht in den Rang eines essentiellen Wesenszuges erhoben wurde. 13 Abgesehen davon, dass es sich bei diesen Menschenbildern immer um theoretische und selten um lebensweltliche handelt (was jedoch nicht ausgeschlossen werden kann) – Überzeugungen über ganz normale menschliche Eigenschaften, die von einem Träger eines Menschenbildes jedoch als wichtig empfunden werden, finden sich jedenfalls in der 9. Kategorie, den Überzeugungen über wichtige menschliche Fähigkeiten.

Dies bildet sich auch in der Vielzahl der Homo-Epitheta ab. Eine Liste dieser Bestimmungen des Menschen findet sich in Lenk, Hans, Kreative Aufstiege. Zur Philosophie und Psychologie der Kreativität. Frankfurt am Main 2000, 13–44. Noch umfassender – da nicht auf philosophisch-anthropologische Bestimmungen beschränkt – ist die Auflistung in Romeo, Luigi, Ecce Homo! A Lexicon of Man, Amsterdam 1979.

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

Identifikatorische Dimension Menschenbilder lassen sich als Antworten auf vier fundamentale Fragen verstehen. Die erste dieser Fragen betrifft den Umfang der Klasse »Mensch«: Welche Entitäten fallen überhaupt in diese Klasse? Antworten auf diese Frage geben Menschenbilder mit einer bestimmten Art von Überzeugungen, die im Folgenden behandelt wird:

1.

Überzeugungen darüber, wer überhaupt Mensch ist: partikularistische, universalistische und exotische Menschenbilder

Menschenbilder beinhalten immer bzw. notwendigerweise Überzeugungen darüber, wer überhaupt Mensch ist. Dass diese Überzeugungen von höchster praktisch-lebensweltlicher Relevanz sind, muss nicht weiter erläutert werden, hängt von diesen Überzeugungen doch ab, ob ein Wesen als ein Mensch erkannt, anerkannt und infolgedessen auch als Mensch und nicht etwa als Tier behandelt wird. Um zu klären, was mit den »Überzeugungen darüber, wer überhaupt Mensch ist«, gemeint ist, sei an die Unterscheidung zwischen nicht-kategorialen und kategorialen Menschenbildern erinnert, die im Abschnitt zur systematischen Begriffsklärung eingeführt wurde. Nicht-kategoriale Menschenbilder machen einfach Aussagen über den Menschen, ohne festzulegen, wer oder was Mensch ist. Sie haben die Form »Für alle Menschen gilt x.« Kategoriale Menschenbilder hingegen legen fest, wer überhaupt zur Klasse der Menschen zählt. Sie liefern eine konstitutive Definition des Menschen, die die Form hat: »Phänomen x ist dann und nur dann ein Mensch, wenn es die Eigenschaften yz hat.« Bei lebensweltlichen Menschenbildern handelt es sich nun – implizit oder explizit – auch um solch kategoriale Menschenbilder. Lebensweltliche Menschenbilder legen mithin nicht nur fest, was der Mensch ist, sondern immer auch, wer überhaupt Mensch ist. Neben vielen nicht-kategorialen Überzeugungen darüber, welche Eigenschaften der Mensch hat, umfassen sie folglich immer auch kategoriale Überzeugungen darüber, wer Mensch ist und wer nicht. Freilich hängen die Bestimmung dessen, was der Mensch ist, und die Bestimmung dessen, wer zum Kreis der Menschen zählt, aufs engste miteinander zusammen, schließlich bestimmt die Intension 286 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Identifikatorische Dimension

eines Begriffs maßgeblich dessen Extension. Allerdings ist das Verhältnis von Intension und Extension im Falle von Menschenbildern etwas komplexer, als es diese einfache Gleichsetzung suggeriert. Denn erstens reichen die Bestimmungen dessen, was der Mensch ist, oftmals nicht aus, um auch erkennen zu lassen, wer Mensch ist. So ist etwa – wie auch die vielen Diskussionen innerhalb der abendländischen Anthropologie dokumentieren – das traditionelle Kriterium der Vernunft nicht hinreichend, um zu bestimmen, wer nun Mensch ist, gibt es da doch einerseits Wesen – etwa Embryonen, Säuglinge, Komatöse – die als menschlich gelten, aber augenscheinlich nicht über Vernunft verfügen, während es andererseits Wesen gibt – wie etwa Menschenaffen, Delfine, bestimmte Vögel – die über so etwas wie Vernunft zu verfügen scheinen, bei denen es sich aber zweifellos nicht um Menschen handelt. Die Bestimmung dessen, wer Mensch ist, benötigt daher in der Regel zusätzliche kategoriale Kriterien, die aber bei der Bestimmung dessen, was der Mensch (seinem Wesen nach) ist, nicht unbedingt eine Rolle spielen. Zweitens werden zur Identifikation eines Wesens als Mensch häufig oberflächliche körperliche Kriterien herangezogen. So wurden etwa Schwarze, Frauen oder auch die autochthonen Völker Amerikas nicht als (vollwertige) Menschen angesehen. Natürlich hieß es in den Begründungen immer, diese Wesen seien deswegen keine (vollwertigen) Menschen, weil sie nicht über das zentrale menschliche Wesensmerkmal – die Vernunft – verfügten, de facto dürfte es sich aber genau andersherum verhalten haben. Weil man diesen Wesen von vornherein aufgrund von oberflächlichen Merkmalen wie Hautfarbe, Geschlecht usw. die Menschlichkeit absprach, konnte oder wollte man bei ihnen das Wesenskriterium gar nicht feststellen. Ähnlich verhielt es sich im Übrigen auch bei den Sklaven: Die Legitimität der Sklavenhaltung wurde seit Aristoteles damit begründet, dass es menschenartige Wesen gibt, die deswegen von Natur aus Sklaven sind, weil ihnen von Natur aus die Vernunft fehlt. Die Tatsache, dass es Sklaven gab, die mit Erziehungsund Verwaltungsaufgaben betraut wurden, belegt jedoch genau das Gegenteil: Man erkannte sehr wohl die Vernunft im Sklaven. 14 Sie galten nicht deswegen als minderwertig, weil ihnen die Vernunft So kennen etwa auch die griechischen Komödien Menanders und die römischen Komödien Terenz’ und Plautus’ die Figur des seinem Herren intellektuell weit überlegenen Sklaven. Vgl. dazu Fernández-Armesto, Felipe, So You Think You’re Human? A Brief History of Humankind, Oxford 2004, 72.

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fehlte, sondern weil sie Sklaven waren. Es war das Sklavensein und nicht der Mangel an Vernunft, das als tatsächliches kategoriales Kriterium fungierte. Hinzu kommt, dass den meisten Menschen die theoretischen Legitimationen für den Ausschluss von Schwarzen, Frauen, Indianern, Sklaven usw. aus der Klasse der (vollwertigen) Menschen gar nicht bekannt sein dürften. Ihnen war allein das oberflächliche kategoriale Kriterium bekannt: (Vollwertiger) Mensch ist der weiße, zivilisierte Mann. Heute gehen wir mehrheitlich völlig selbstverständlich davon aus, dass alle Wesen, die in einem biologischen Sinne Menschen sind, Menschen sind; unser Menschenbild beinhaltet die kategoriale Überzeugung, dass alle Mitglieder der Spezies homo sapiens Menschen sind. Wir haben uns darauf geeinigt, dass es die Biologie ist, die die Autorität hat, die kategoriale Zugehörigkeit eines Wesens zu bestimmen. Unser Blick auf den Menschen ist daher von einem zweifachen biologischen Wissen geprägt: (a) Wir wissen, dass alle Wesen mit einem menschlichen Körper tatsächlich Menschen sind. Dies wissen wir, weil wir (b) zugleich auch wissen, dass außer dem Menschen kein Wesen mit einem menschlichen Körper existiert. So haben wir gelernt, den Menschen von seinen Verwandten, den Affen, die früher zum Teil noch als Menschen angesehen wurden, 15 sauber zu unterscheiden. Auch glauben wir heute nicht mehr an die Existenz von Werwölfen, Vampiren oder sonstigen Wesen, die sich mit menschlichen Körpern verkleiden können, und auch nicht mehr an die Existenz noch unbekannter menschenähnlicher biologischer Arten. 16 Wir erkennen Wesen mit einem menschenartigen Körper folglich deswegen als Menschen, weil wir der Überzeugung sind, dass alle Wesen, die auf diesem Planeten einen menschenartigen Körper haben, nur Menschen sein können. Im Zweifelsfall – etwa wenn ein neues menschenartiges Wesen in den Wäldern Amazoniens entdeckt werden würde – ist es die Biologie, die feststellt, ob dieses Wesen menschlich oder nicht-menschlich ist; anhand biologischer Kriterien wird letztlich entschieden, ob ein Wesen zur Klasse der Menschen zählt oder nicht. Vgl. Fernández-Armesto, Human, 96; vgl. dazu die klassische Studie von Janson, Horst Woldemar, Apes and Ape Lore in the Middle Ages and Renaissance, London 1952. 16 Ausnahmen, da von manchen für real gehalten, sind vielleicht der Yeti des Himalayas, der Yeren der chinesischen Bergwälder und der Bigfoot der nordamerikanischen Wälder. 15

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Die Selbstverständlichkeit, mit der wir heute diese Ansicht vertreten, sollte uns aber nicht vergessen lassen, dass es Zeiten gab und wohl auch heute noch Kulturen gibt, die diese Auffassung nicht teilen, schon allein deswegen, weil ihnen die Erkenntnisse der modernen Biologie unbekannt sind. Dass aber dort, wo dieses biologische Hintergrundwissen fehlt, der Blick auf den Menschen anders ausfallen kann, ist nachvollziehbar. Denn ohne dieses biologische Wissen ist mitunter schwer zu entscheiden, ob ein Wesen, dass einerseits zwar irgendwie vertraute menschliche Züge aufweist, gleichzeitig aber doch auch anders ist, nun ein menschliches Wesen ist oder nicht. Selbst die Möglichkeit, sich mit so einem anderen Wesen erfolgreich zu paaren – das zentrale Kriterium des biologischen Artbegriffs –, kann nicht als Kriterium für dessen Menschlichkeit gelten, da auch dazu biologisches Wissen notwendig ist. Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein war beispielsweise die Frage ungeklärt, ob sich Mensch und Affe erfolgreich paaren können. 17 Dies erklärt auch, wie es möglich war, dass beispielsweise den Indianern auch dann noch ihre Menschlichkeit abgesprochen werden konnte, als klar war, dass eine sexuelle Verbindung zwischen (europäischem) Mensch und indigenem Wesen in der Regel Nachwuchs zur Folge hat. Im Jahre 1512 intervenierte König Ferdinand II. von Spanien daher auch, um seine Landsleute daran zu hindern, sich mit südamerikanischen Eingeborenen, »die weit davon entfernt sind, vernunftbegabte Wesen zu sein«, einzulassen. 18 Zu bedenken ist auch, dass das biologische Kriterium, anhand dessen wir heute die Frage klären, ob ein Wesen nun ein Mensch ist oder nicht, ein (relativ) klares Kriterium ist, das eine (ziemlich) eindeutige Zuordnung erlaubt. 19 Anderen Epochen und Kulturen steht so ein klares Kriterium nicht zur Verfügung, sie müssen sich mit Kriterien begnügen, die erhebliche Unsicherheiten mit sich bringen. Vgl. Fernández-Armesto, Human, 81. Vgl. Lévi-Strauss, Claude, Traurige Tropen, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1978, 65. 19 In der Biologie gibt es heute keine Zweifel mehr über die Identität des homo sapiens, d. h. die Biologie kann den Menschen eindeutig von anderen heute lebenden Tieren unterscheiden. Nach wie vor Schwierigkeiten macht allerdings die eindeutige Zuordnung von homininen Fossilien: »Our species Homo sapiens has never been subject to a formal morphological definition, of that sort that would help us in any practical way to recognize our conspecifics in the fossil record.« Schwartz, Jeffrey/ Tattersall, Ian, Fossil Evidence for the Origin of Homo Sapiens, in: American Journal of Physical Anthropology 143, Supplement 51 (2010), 94–121, hier 94. 17 18

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Dies lässt sich schön an den beiden kategorialen Kriterien, die das traditionelle abendländische Menschenbild enthält, veranschaulichen. Gemäß diesem Menschenbild zeichnet sich ein Mensch aus durch seine menschliche Gestalt einerseits und durch den Besitz von Vernunft und Sprache – die ihrerseits wieder Anzeichen einer unsterblichen Seele sind – andererseits. Die meisten Mitglieder der Spezies homo sapiens lassen sich mit diesen beiden Kriterien sicherlich ohne weiteres als Menschen identifizieren, es gibt aber, wie insbesondere die mittelalterlichen anthropologischen Diskussionen illustrieren, auch eine Reihe von Fällen, deren Zuordnung unsicher ist. 20 So lässt sich etwa anhand dieser Kriterien nicht feststellen, ob ein Mensch mit einer schweren geistigen Behinderung, d. h. ein Wesen mit menschlicher Gestalt, dem aber offensichtlich jede Vernunft und Sprache fehlt, tatsächlich ein Mensch ist. Noch schwieriger ist die Zuordnung, wenn zur geistigen Behinderung auch eine körperliche Deformation tritt: Ist ein solches Wesen, das weder über eine richtige menschliche Gestalt noch über Vernunft und Sprache verfügt, ein Mensch? Und wie verhält es sich mit Wesen, die eine menschliche Gestalt haben und denen auch nicht jede Form von Vernunft und Sprache abgesprochen werden kann, die im Unterschied zum normalen Menschen aber am Großteil ihres Körper behaart sind? Müsste, mit anderen Worten, nach diesen Kriterien nicht ein Affe als Mensch gelten? Und wie sind jene Wesen einzuordnen, die zwar unzweifelhaft eine menschliche Gestalt haben, deren angeblich völlig unzivilisiertes Betragen aber auf das Fehlen einer menschlichen Vernunft hinweist? Handelt es sich, wie man sich in Europa lange Zeit fragte, bei den Pygmäen, bei den Indianern, bei den Hottentotten oder den Aborigines um Menschen? 21 Auch wenn diese Fragestellungen hauptsächlich im Zuge der Konfrontation mit menschenartigen Wesen auftreten, die bislang unbekannt waren: All diese Fragestellungen und die Diskussionen, die um sie geführt wurden, zeigen deutlich, dass die beiden kategorialen Kriterien der menschlichen Gestalt und

Vgl. dazu Köhler, Homo animal nobilissimum, 348–443. Zu den mittelalterlichen Schwierigkeiten insbesondere mit der Einordnung von körperlich missgebildeten Menschen, den sogenannten monstra, vgl. ferner auch Scior, Volker, Monströse Körper: Zur Deutung und Wahrnehmung von monstra im Mittelalter, in: Antunes, Gabriela/Reich, Björn (Hg.), (De)formierte Körper – Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter, Göttingen 2012, 31–49. 21 Vgl. Fernández-Armesto, Human, 55 ff. u. 78 ff. 20

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der menschlichen Vernunft und Sprache unscharf sind und bisweilen keine eindeutige Klassifizierung erlauben. Die Klassifizierung eines Wesens als Mensch wird überdies, wie schon erwähnt, erschwert durch die Annahme, dass es eine Vielzahl an Kreaturen gibt – wie etwa Werwölfe, Incubi und Succubi, Hexen, Vampire usw. –, die in menschlicher Gestalt auftreten können und mitunter sogar über Vernunft und Sprache verfügen, die aber keine Menschen, sondern eben nur similitudines hominis, so wie sie in Europa ab dem 13. Jahrhundert genannt wurden, sind. 22 Dass es ohne klares biologisches Kriterium schwer fallen kann, die Grenze zwischen Mensch und Nicht-Mensch zu ziehen, ist also ebenso nachvollziehbar wie der Umstand, dass es ohne klare biologische Kriterien dazu kommen kann, dass die Grenze zwischen Mensch und Nicht-Mensch eben anders gezogen wird, als wir das heute tun. 23 Zu der Unschärfe der Kriterien kommt noch hinzu, dass die kategoriale Zuordnung eines Wesens in vielen Kulturen nicht stabil ist. Wir sind heute der Überzeugung, dass die Klassenzugehörigkeit eines Wesens fix ist. Ein Wesen ist entweder ein Mensch oder ist kein Mensch. Andere Menschenbilder gehen im Unterschied dazu davon aus, dass Wesen die Klassifizierungen wechseln können. So gibt es etwa in nicht wenigen Kulturen die Vorstellung, dass sich Menschen in Tiere verwandeln können und umgekehrt. Und auch das europäische Mittelalter ging davon aus, dass Menschen, abhängig vom Grad der Vernunft und Zivilisiertheit, ihr Menschsein verlieren und wiedergewinnen können: »Nor were the known categories fixed. Humankind was a class you could slip in or out of […]« 24 Die Grenze zwischen Mensch und Nicht-Mensch ist manchen Menschenbildern zufolge demnach nicht nur verschwommen, sie ist auch durchlässig. Vor dem Hintergrund all dieser Unschärfen ist es nachvollziehbar, dass die Bestimmungen dessen, wer zum Kreis der Menschen zählt, sehr unterschiedlich sein können. Wenn man die biologische Definition des Menschen als Mitglied der Spezies homo sapiens zur Referenz nimmt, dann lassen sich Menschenbilder grundsätzlich in (a) partikularistische, (b) universalistische und (c) exotische unterscheiden. Vgl. Fernández-Armesto, Human, 65 f.; vgl. dazu ferner Janson, Apes and Ape Lore, 73–106. 23 Vgl. Fernández-Armesto, Human, 55 ff. 24 Fernández-Armesto, Human, 96. 22

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(a) Partikularistische Menschenbilder sind solche Menschenbilder, bei denen das für das Menschsein konstitutive Kriterium so gewählt ist, dass nicht alle, sondern bloß einige Mitglieder der Spezies homo sapiens als Menschen gelten. Beispiele für solche Menschenbilder gibt es zuhauf: Typischerweise sind sie in denjenigen Gesellschaften anzutreffen, die über gar keinen an die moderne Biologie angelehnten Begriff der »Menschheit« oder des Menschengeschlechts verfügen. In vielen Kulturen werden daher diejenigen biologischen Menschen, die nicht den Standards der eigenen Kultur entsprechen, oft nicht als zur eigenen »Art« zugehörig angesehen, sondern als fremder, minderwertiger und eben oft gar als nicht-menschlicher Art. Dies spiegelt sich beispielsweise in den Eigenbezeichnungen vieler Völker, die sich selbst »Menschen« bzw. »echte Menschen« nennen, während Fremde als andersartige, bloße »Geschöpfe« bezeichnet werden. 25 Der Stamm der Caribe-Indianer soll sich überhaupt für die einzig existierenden Menschen gehalten haben. 26 Ihrem Menschenbild zufolge wäre es die Zugehörigkeit zum Stamm der Caribe-Indiander, die ein homo-sapiens-Individuum zu einem Menschen macht. Auch jenseits dieser schwierig zu interpretierenden ethnozentrischen Menschenbilder gibt es Beispiele für partikularistische Menschenbilder: So hielt etwa die Mehrzahl der spanischen Conquistadoren die autochthone Bevölkerung Amerikas nicht für menschlich. Während Kolumbus, wie aus seinen Logbüchern hervorgeht, noch davon ausging, dass die Indianer grundsätzlich getauft werden können, d. h. eine Seele, also das Kriterium der Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht, haben, 27 wurde ihnen genau dies bald abgestritten. Zahlreiche Dokumente aus dem 16. und 17. Jahrhundert belegen, dass Indianer von Europäern häufig tatsächlich als tierische Wesen

Vgl. Antweiler, Mensch und Weltkultur, 153 f. Antweiler weist allerdings darauf hin, dass die ethnozentrische Interpretation von Eigenbezeichnungen nicht unproblematisch ist. 26 Vgl. dazu Sumner, William Graham, Folkways. A Study of the Sociological Importance of Usages, Manners, Costums, Mores, and Morals, Boston 1906, 14; ferner Antweiler, Christoph, Mensch und Weltkultur, 152 ff. 27 Vgl. den berühmten Eintrag in das Bordbuch (das allerdings nur in einer von Bartolomé de las Casas überarbeiteten Form vorliegt) von Donnerstag und Freitag, den 11. und 12. Oktober 1492, wobei der 12. Oktober der Tag der »Entdeckung Amerikas« ist; Kolumbus, Christoph, Bordbuch, Frankfurt am Main 1992, 42–48, insb. 46: »In der Erkenntnis, daß es sich um Leute handle, die man weit besser durch Liebe als mit dem Schwerte retten und zu unserem Heiligen Glauben bekehren könne […]« 25

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betrachtet wurden. 28 Auch der berühmte Disput von Valladolid in den Jahren 1550/51 drehte sich um genau diese Frage. Während der Dominikaner Bartolomé de Las Casas, der »Anwalt der Indios«, dafür argumentierte, dass die Indianer über Vernunft, Sprache sowie eine Seele verfügten und daher als Menschen anerkannt und behandelt werden müssten, hielt sein Gegenpart, Juan Ginés de Sepúlveda, dagegen, dass es sich bei den Indios um eine sub-humane Art handle, die versklavt werden müsse. Eine ähnliche Unsicherheit über die Zugehörigkeit zur menschlichen Art gab es im Übrigen auch auf der anderen Seite. Die autochthone Bevölkerung Südamerikas hielt die spanischen Eindringlinge zunächst für Götter, wie auch Kolumbus selbst bemerkte. 29 Lévi-Strauss hat darauf hingewiesen, dass aus diesem Grund die südamerikanischen Indianer die toten Körper der spanischen Konquistadoren über Wochen beobachteten, um herauszufinden, ob sie – wie dies für Menschen typisch ist – dem Verwesungsprozess unterworfen seien. Anders als die Konquistadoren, für die sich an der Frage, ob die Indianer eine Seele besitzen, die Menschlichkeit der Indianer entschied, war für die Indianer die Menschlichkeit des Körpers das entscheidende Kriterium für die Menschlichkeit der aus einer anderen Welt stammenden Eindringlinge. Zur gleichen Zeit pflegten im übrigen die Indianer auf einer benachbarten Insel […] Weiße zu fangen und zu ertränken, um dann wochenlang bei den Ertrunkenen Wache zu halten, um festzustellen, ob sie verwesten oder nicht. […] während die Weißen verkündeten, daß die Indianer Tiere seien, begnügten sich die Indianer lediglich mit der Vermutung, daß die Weißen Götter sein könnten. 30

In gewisser Weise näher als die Frage, ob nun Angehörige fremder Ethnien Menschen sind oder nicht, ist uns die Frage, ob Frauen Menschen sind. Diese Frage wurde, so absurd sie uns heute erscheinen mag, am Rande der wesentlich umfassenderen querelle des femmes über die Stellung der Frau und die Geschlechterordnung, die ab dem Vgl. Prien, Hans-Jürgen, Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika, Göttingen 1978, 165–172; Eggensperger, Thomas/Engel, Ulrich, Bartolomé de Las Casas. Dominikaner, Bischof, Verteidiger der Indios, Mainz 1992, 95 f.; Mires, Fernando, Im Namen des Kreuzes. Der Genozid an den Indianern während der spanischen Eroberung: theologische und politische Diskussionen, Fribourg/Brig 1989, 45–80. 29 Vgl. beispielsweise den Eintrag vom Sonntag, den 14. Oktober 1492 in Kolumbus, Bordbuch, 51–54. 30 Lévi-Strauss, Traurige Tropen, 66. 28

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14. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution andauerte, allen Ernstes diskutiert. 31 So erscheint 1595 eine Valens Acidadius zugeschriebene, allerdings ohne Verfasser-, Drucker- und Ortsangabe publizierte Schrift unter dem Titel »Disputatia nova contra Mulieres, Qua probatur eas Homines non esse« (»Neue Disputation gegen die Frauen, in der bewiesen wird, dass sie keine Menschen sind«), die durch Beweisführung zum Schluss kommt, das Frauen keine Menschen sind. Als nicht-repräsentatives Randphänomen lässt sich diese Schrift keinesfalls abtun, wurde sie doch bis ins 18. Jahrhundert in viele Sprachen übersetzt und mehrmals neu aufgelegt. 32 Noch 1910 hat der Schriftsteller Max Funke in Anknüpfung an den biblischen Schöpfungsbericht, die Philosophie Aristoteles’ und die Evolutionstheorie im vollen Ernst eine ähnliche frauenfeindliche Sicht vertreten. 33 Und auch heute noch scheint es partikularistische Menschenbilder zu geben. So werden etwa die Pygmäen, deren Menschlichkeit bereits im Mittelalter und der Renaissance Gegenstand ausgiebiger Debatten war, von ihren Nachbarstämmen mit der gleichen moralischen Indifferenz als Nahrungsmittel gejagt wie Schimpansen, Paviane oder Stummelaffen. Im Jahre 2003 haben kongolesische Pygmäen verzweifelte Appelle an die Vereinten Nationen gerichtet, man möge sie vor der Verfolgung durch kannibalische Nachbarn bewahren, die sie deswegen straflos bejagen könnten, weil Pygmäen sowohl von der Regierung als auch von den kongolesischen Rebellen als subhuman betrachtet würden. 34 Darüber hinaus darf nicht übersehen Zur querelle vgl. Opitz-Belakhal, Claudia, Geschlechtergeschichte, Frankfurt am Main 2010, 130 ff.; Hassauer, Friederike (Hg.), Heißer Streit und kalte Ordnung. Epochen der Querelle des femmes zwischen Mittelalter und Gegenwart, Göttingen 2008; Bock, Gisela/Zimmermann, Margarete (Hg.), Die europäische Querelle des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert (Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 2), Stuttgart/Weimar 1997; Drexl, Magdalena, Weiberfeinde – Weiberfreunde? Die Querelles des Femmes im Kontext konfessioneller Konflikte um 1600, Frankfurt am Main 2006; Engel, Gisela u. a. (Hg.), Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne. Die Querelle des Femmes, Königstein im Taunus 2004. 32 Vgl. dazu Bock, Frauen, 14 ff.; ferner Gössmann, Elisabeth (Hg.), Ob die Weiber Menschen seyn, oder nicht?, Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung, Bd. 4, München 1988. 33 Funke, Max, Sind Weiber Menschen? Mulieres homines non sunt. Studien und Darlegungen auf Grund wissenschaftlicher Quellen, Halle (Saale) 1910 (2. Auflage: Baden-Baden 1911). 34 Vgl. Clayton, Jonathan, Pygmies struggle to survive in war zone where abuse is routine, in: The Times, 16. 12. 2004; DR Congo Pygmies »exterminated«, in: BBC 31

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werden, dass es vor allem in bewaffneten Konflikten regelmäßig dazu kommt, dass sich die Gegner gegenseitig das Menschsein absprechen und den jeweils anderen zum subhumanen »Abschaum«, »Ungeziefer«, »Parasiten« dehumanisieren. 35 Partikularistische Menschenbilder wählen also das konstitutive Kriterium der Zugehörigkeit zur Klasse der Menschen so aus, dass nicht alle Mitglieder der Spezies homo sapiens zu dieser Klasse zählen. Die angeführten Beispiele illustrieren, dass es solch partikularistische Menschenbilder tatsächlich gegeben hat und möglicherweise immer noch gibt, auch wenn dies schwer vorstellbar erscheint. Wesentlich häufiger als partikularistische Menschenbilder dürften freilich Menschenbilder sein, die die »anderen Menschen« zwar sehr wohl als Menschen, aber eben als Menschen anderer – meistens minderer – Art betrachten. Der Übergang zwischen partikularistischen und solch universalistisch-stratifizierenden Menschenbildern ist dabei sicherlich fließend. Denn ob ein Mensch nun als Nicht-Mensch oder als eine mindere Art Mensch betrachtet wird, dürfte letztlich wohl, wie die traurige Geschichte des Rassismus zeigt, keinen großen Unterschied machen. (b) Menschenbilder, denen zufolge alle Mitglieder der biologischen Spezies homo sapiens Menschen sind, sollen als universalistische Menschenbilder bezeichnet werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass universalistisch noch nicht egalitaristisch bedeutet. Universalistische Menschenbilder behaupten lediglich, dass alle Mitglieder der biologischen Spezies homo sapiens Menschen sind. Damit ist aber noch nicht ausgesagt, dass all diese Menschen auch schon gleichartig oder gleichwertig sind. Aus diesem Grunde müssen universalistische Menschenbilder noch in egalitaristische und nicht-egalitaristische bzw. stratifizierende Menschenbilder unterschieden werden. 36 Egalitaristische universalistische Menschenbilder behaupten, News, 6. 6. 2004, Quelle: http://news.bbc.co.uk/2/hi/africa/3869489.stm [30. 10. 2014]; DR Congo Pygmies appeal to UN, in: BBC News, 23. 5. 2003, Quelle: http:// news.bbc.co.uk/2/hi/africa/2933524.stm [30. 10. 2014]; Peta, Basildon, Rebels »eating Pygmies« as mass slaughter continues in Congo despite peace agreement, in: The Independent, 9. 1. 2003. Siehe ferner Shoup, John, Ethnic Groups of Africa and the Middle East: An Encyclopedia, Santa Barbara 2011, 193–196. 35 Vgl. dazu Haslam, Nick, Dehumanization: An Integrative Review, in: Personality and Social Psychology Review 10/3 (2006), 252–264; ferner Bain/Vaes/Leyens, Humanness and Dehumanization. 36 Streng genommen müssten auch partikularistische Menschenbilder noch in egalitaristische und nicht-egalitaristische eingeteilt werden. Da dieser Unterschied aber

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dass alle Mitglieder der Spezies homo sapiens nicht nur Menschen, sondern auch prinzipiell gleichartige und daher auch gleichwertige Menschen sind. Nicht-egalitaristische oder stratifizierende universalistische Menschenbilder beinhalten demgegenüber die Überzeugung, dass zwar alle biologischen Menschen Menschen sind, dass aber deswegen noch nicht alle Menschen prinzipiell gleichartig oder gleichwertig sind. Die Menschen lassen sich vielmehr in unterschiedliche Arten bzw. Strata einteilen, die sich ihrem Wesen nach prinzipiell unterscheiden, denen daher oft auch eine unterschiedliche Wertigkeit zukommt und die daher auch prinzipiell anders zu behandeln sind. Nicht-egalitaristische universalistische Menschenbilder verfügen daher über mindestens ein weiteres Kriterium – sei es das der Haut- oder Haarfarbe, der Rasse, der Geschlechtszugehörigkeit, der ethnischen Zugehörigkeit, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer Kaste, der Religionszugehörigkeit, der sexuellen Orientierung usw. –, anhand dessen über die Wertigkeit von Menschen befunden werden kann; dieses Kriterium steht dabei im engen Zusammenhang mit den Überzeugungen über intrahumane ontologische und axiologische Differenzierungen, die später noch eigens behandelt werden. Nicht-egalitaristische universalistische Menschenbilder waren vor der Durchsetzung des egalitaristischen Menschenbildes der Menschenrechte der Normalfall und sind auch heute nach wie vor sehr verbreitet. Sie liegen überall dort vor, wo die Menschheit in Klassen unterschiedlicher Dignität eingeordnet wird. Beispiele dafür sind zahllos: Die von Gott Auserwählten stehen den von Gott nicht Auserwählten gegenüber, die Gläubigen den Ungläubigen, die Griechen den Barbaren, die Zivilisierten den Wilden, die Herrenmenschen den Sklavenmenschen, der Mann der Frau, die Arier den Nicht-Ariern, die höheren den niedrigeren Rassen usw. Die Kombination mehrerer solcher Kriterien und die Einteilung in mehrere Klassen unterschiedlicher Dignität ist dabei üblich: So teilt etwa das hinduistische Kastenwesen die Menschheit in vier Hauptkasten, die Varnas, ein, die ihrerseits wieder in eine Vielzahl an Unterkasten, die Jatis, verteilt sind. Auch rassistische Menschenbilder, so wie sie sich in Europa seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zunehmend verbreiteten, unterscheiden – nun nicht mehr anhand religiöser oder philosophischer, mit dem Unterschied zwischen egalitaristischen universalistischen und nicht-egalitaristischen universalistischen Menschenbildern strukturell identisch ist, soll er hier nicht weiter ausgeführt werden.

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sondern anhand pseudo-naturwissenschaftlicher Kriterien wie der Kopfgröße 37 – zwischen mehreren höheren und niederen menschlichen Rassen. Egalitaristische universalistische Menschenbilder sind demgegenüber Menschenbilder, für die nicht nur alle Mitglieder der biologischen Spezies homo sapiens Menschen sind, sondern für die auch alle Mitglieder der Spezies homo sapiens prinzipiell gleichartig und gleichwertig sind. Die vielen unbestreitbaren Differenzen zwischen den Menschen werden als nicht wesentlich, sondern als oberflächlich angesehen; sie rechtfertigen keine grundsätzliche Andersbehandlung von Menschen. Dieses Menschenbild ist heute – zumindest in den meisten westlichen Gesellschaften – etabliert und verbreitet. Es ist auch dasjenige, das den meisten modernen Rechtsordnungen und ihren Dokumenten zugrunde liegt, allen voran der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in deren Artikel 1 es heißt: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Unausgesprochen – weil als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt – ist in dieser Bestimmung, wer Mensch ist. Mensch ist, so ist zu ergänzen, jedes Individuum der Spezies homo sapiens (mit den bekannten Unschärfen zu Beginn und Ende des Lebens). Die historischen Wurzeln dieser Auffassung reichen zurück bis in die römische Antike, wo im Scipionenkreis und im stoischen Humanismus zum ersten Mal die Idee einer gemeinsamen, gleichwertigen Menschennatur aufkeimte, die dann im Renaissancehumanismus aufgegriffen und ausgebaut wurde. Näher durchdacht und präzisiert wurde sie im Naturrechtsdenken des 17., 18. und 19. Jahrhunderts, doch bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und der unter den Eindrücken der im Krieg begangenen Gräueltaten verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fristete die Idee eine eher marginale Existenz, die unter den vielfältigen Rassismen und Nationalismen begraben blieb. Der Gedanke, dass die Menschheit eine Einheit jenseits von ethnischen, religiösen, nationalen, sexuellen usw. Orientierungen ist, erweist sich von daher als eine Frucht des 20. Jahrhunderts. Erst da gedeiht die Vorstellung, dass alle Menschen durch das gemeinsame Band der biologischen Abstammung miteinander verbunden sind und sie – bei all der Verschiedenheit ihrer Erscheinungsformen – eine in Würde und Rechten gleiche Einheit bilden, eine gemeinsame Siehe hierzu Gould, Stephen, Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt am Main 1988.

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

Familie, nämlich die human family, wie es in der englischen Version der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt. 38 (c) Universalistische und partikularistische Menschenbilder sind Menschenbilder, die sich an den biologischen Artgrenzen zwischen Mensch und Nicht-Mensch orientieren. Für beide Arten von Menschenbildern ist die Zugehörigkeit zur biologischen Art notwendiges Kriterium für die Zuerkennung des Menschseins. Während es für universalistische Menschenbilder notwendiges und hinreichendes Kriterium ist, ist es für partikularistische Menschenbilder nur notwendig. Ein Blick in die ethnologische Literatur verrät nun, dass es auch Menschenbilder gibt, die sich nicht an den biologischen Artgrenzen orientieren; diese sollen exotische Menschenbilder genannt werden. Solche Menschenbilder finden sich vor allem bei solchen Kulturen oder Völkern, die das Universum der Dinge völlig anders einteilen, als dies uns vertraut ist, deren Ontologien und Taxonomien sich radikal von den unsrigen unterscheiden und in denen daher auch die Grenzen zwischen den Dingen, und mithin auch zwischen dem, was Mensch und was nicht Mensch ist, anders gezogen werden. So wäre es etwa möglich, dass ein Volk nur einige Menschen, z. B. die Mitglieder des eigenen Volksstammes, darüber hinaus aber auch einige Tiere, die zum Volksstamm gezählt werden, als »wahre Menschen« betrachtet, während es die Mitglieder eines benachbarten Volksstammes samt deren Tieren als eine andere Art ansieht. In seiner umfassenden Studie über die Unterscheidung von Natur und Kultur, die einen augenöffnenden Einblick in die unendliche Variabilität und radikale Heterogenität von Ontologien und Taxonomien gewährt, beschreibt Philippe Descola – als ein Beispiel unter vielen – die Überzeugungen einer kleinen malaysischen Ethnie, die ein solches fremdes »Menschenbild« zu erkennen geben: Die Chewong-Gesellschaft beschränkt sich nicht auf die zweihundertsechzig Individuen, aus denen sie besteht, sie reicht weit über die ontologischen Grenzen der Menschheit hinaus und umfasst eine Myriade von Geistern, Pflanzen, Tieren und Gegenständen, von denen angenommen wird, daß sie dieselben Attribute besitzen wie die Chewong, und die von ihnen als »unsere Leute« (bi he) bezeichnet werden. Trotz der Vielfalt der äußeren ErIn der deutschen Version ist von der »Gemeinschaft der Menschen« die Rede. Zur Geschichte des Konzeptes der »Menschheit« vgl. Mazlish, Bruce, The Idea of Humanity in a Global Era, New York u. a. 2009; Headley, John, The Europeanization of the World. On the Origins of Human Rights and Democracy, Princeton 2008; ferner Joas, Sakralität der Person.

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Ontologische Dimension

scheinungen sind alle Entitäten dieses Waldkosmos in einer engen egalitären Gemeinschaft vereint, die als Ganzes der bedrohlichen und unbegreiflichen äußeren Welt entgegensteht, in der die »andersartigen Leute« (bi masign) leben: Malaien, Chinesen, Abendlandbewohner und andere indigene Völker. […] Wenn bestimmte Pflanzen und Tiere für die Chewong »Leute« (beri) sind, so deshalb, weil sie sich der gleichen kognitiven und moralischen Fähigkeiten erfreuen wie sie, aber auch, weil ihre Körper bei bestimmten Gelegenheiten mit denen der Menschen identisch sein können. 39

Es mag schwer fallen, solche Bündel an Überzeugungen überhaupt noch als Menschenbilder zu bezeichnen, ist der Begriff des Menschen doch zu sehr an die biologische Art des homo sapiens gebunden. Es ist aber gleichwohl anzuerkennen, dass es Auffassungen von Menschen gab und wohl immer noch gibt, für die die Grenze zwischen Mensch und Nicht-Mensch nicht nur durchlässig ist, sondern einfach anders verläuft. Doch unabhängig davon, wie die kategorialen Überzeugungen eines Menschenbildes nun im Konkreten genau aussehen mögen, und welche Wesen aufgrund dieser Überzeugungen als Menschen er- und anerkannt werden: Der für uns entscheidende Punkt besteht in dem Umstand, dass Menschenbilder tatsächlich kategoriale Überzeugungen darüber enthalten, wer überhaupt Mensch ist; sie definieren, wer in die Klasse »Mensch« fällt, und legen damit im konkreten Fall fest, ob ein Wesen nun als Mensch gilt oder nicht.

Ontologische Dimension Menschenbilder beantworten nicht nur die Frage, wer Mensch ist, sondern vor allem, was der Mensch ist. Weil sie so vielschichtig ist, lässt sich diese Frage wiederum, so sagten wir oben, in drei Fragen aufschlüsseln: in die Frage nach den ontologischen Elementen, aus

Descola, Philippe, Jenseits von Natur und Kultur, Berlin 2013, 48. Descola bezieht sich auf die Studien von: Howell, Signe, Society and Kosmos. Chewong of Peninsular Malaysia, Chicago/London 21989; ders., Nature in Culture or Culture in Nature? Chewong Ideas of »Human« and Other Species, in: Descola, Philippe/Pálsson, Gísli (Hg.), Nature and Society: Anthropological Perspectives, London 1996, 127–144. Manche Völker sehen es daher auch als grundsätzlich schlecht an, Pflanzen und Tiere als Nahrungsressourcen zu verwenden, da dies letztlich darauf hinausläuft, Menschen zu essen. Vgl. Descola, Natur und Kultur, 50.

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

denen der Mensch besteht, in die Frage nach seinem Funktionieren und in die Frage nach seinem Telos. Im Folgenden wenden wir uns der ersten dieser Fragen zu; sie betrifft die ontologische Dimension. Da der Mensch eine komplexe Entität ist, über den eine Menge an sehr unterschiedlichen ontologischen Überzeugungen vorliegen, ist es sinnvoll, diese Überzeugungen weiter zu differenzieren, nämlich in Überzeugungen über ontologisch fundamentale Eigenschaften (2.) 40, in Überzeugungen über die Stellung des Menschen im Kosmos (3.), in Überzeugungen über intrahumane ontologische und axiologische Differenzierungen (4.) und in Überzeugungen über die menschliche Individualität (5.).

2.

Überzeugungen über ontologisch fundamentale Eigenschaften

Lebensweltliche Menschenbilder sind, wie weiter oben gezeigt wurde, tief in umfassende Sinn- und Überzeugungssysteme eingewoben. Eine der wichtigsten Schnittstellen ist dabei die Ontologie, d. h. grundlegende Auffassungen über die Ordnung des Seins, die jedes Sinn- und Überzeugungssystem zur Verfügung stellt. In Abhängigkeit von der Ontologie des Sinn- und Überzeugungssystems, in die ein Menschenbild eingebettet ist, enthält jedes Menschenbild Überzeugungen über fundamentale ontologische Eigenschaften des Menschen. Diese Überzeugungen dürften teilweise sehr schwammig sein – wie viele unserer Zeitgenossen haben etwa, sofern sie überhaupt an sie glauben, noch eine klare Auffassung von der »Seele«? –, gleichwohl sind sie, sei es explizit, sei es implizit, in Menschenbildern immer mitgegeben. Jedes Menschenbild trifft immer Aussagen darüber, (a) aus welchen ontologisch fundamentalen Elementen der Mensch besteht, (b) welche Qualitäten diese Elemente haben, (c) in welcher Relation sie zueinander stehen und (d) welchen Gesetzmäßigkeiten diese Elemente unterworfen sind. Die Ansichten darüber gehen dabei bekanntlich sehr weit auseinander, ja die Realität scheint, wie uns die Ethnologie und die Religionswissenschaften lehren können, auch in diesem Feld die Möglichkeiten der Phantasie bei weitem zu überflügeln. Die Zählung orientiert sich an der Liste der Kategorien von Überzeugungen und schließt daher an die 1. Kategorie – Überzeugungen darüber, wer überhaupt Mensch ist – an.

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Ontologische Dimension

(a) Dies gilt schon einmal für die Frage, aus welchen Elementen der Mensch besteht: So gibt es bekanntlich Menschen, die darauf beharren, dass der Mensch nur aus einem materiellen, vergänglichen Körper besteht, andere wiederum glauben, dass er aus zwei Elementen besteht – einem vergänglichen materiellen Leib und einer unvergänglichen immateriellen Seele. Manche Hinduisten wie auch manche Buddhisten, die ihren Idealismus im Gegensatz zu den idealistischen Denkern des Abendlandes tatsächlich lebensweltlich umzusetzen versuchen, sind wiederum der Überzeugung, dass der Mensch – wie alles andere auch – nur ein Gedanke Gottes ist und seine Materialität eigentlich eine zu überwindende Illusion. 41 Wieder andere glauben, dass der Mensch nicht nur aus einem Element oder zwei, sondern aus drei oder mehr Elementen besteht. Die afrikanischen Dogon, die dies sicherlich auf die Spitze getrieben haben, sind beispielsweise der Ansicht, dass jeder Mensch aus einem Körper, acht »Seelen«, acht »Schlüsselbeinsamen« und vielen »Lebenskräften« und zudem einem tierischen Doppelgänger besteht. 42 Auch für das Volk der Samo aus Burkina besteht der Mensch aus einer Vielzahl unterschiedlicher Bestandteile. Descola hat eine diesbezügliche Untersuchung von Françoise Héritier so zusammengefasst: Françoise Héritier zufolge besteht [bei den Samo aus Burkina] jeder Mensch aus einem Körper, mε, dessen Fleisch von der Mutter stammt; aus dem vom Vater erhaltenen Blut, miya; aus dem vom »Blut des Herzens« transportierten Atem, sisi; aus der Lebenskraft, nyìni, die vom »Blut des Körpers« verbreitet wird und von der jedes Lebewesen einen kleinen Teil besitzt, der sich in der Wärme und im Schweiß äußert (tàtáre); aus einer psychischen Persönlichkeit, yí:ri (Verstand, Selbstbewußtsein, Gedächtnis, Imagination), die völlig idiosynkratisch ist, jedoch bisweilen die Reinkarnation derjenigen eines Vorfahren sein kann; aus einem »Doppelgänger«, mεrε, einer unsterblichen Weisheit, die für jedes Individuum spezifisch ist, zum Teil erkennbar an den Merkmalen des Schlagschattens, nysilε, den auch die Pflanzen, die Tiere und einige anorganische Elemente wie der Lehm oder das Eisen besitzen; aus einem »individuellen Schicksal«, lεpεrε, das zum Teil von dem der Mutter bestimmt ist und das die Lebensdauer festlegt; und Vgl. Dasgupta, Surendranath, Indian Idealism, London u. a. 1933. Vgl. Descola, Natur und Kultur, 332 ff.; Descola bezieht sich auf Dieterlen, Germaine, L’image du corps et les composants de la personne chez les Dogon, in: Dies./Bastide, Roger (Hg.), La Notion de personne en Afrique Noire, Paris 1973, 205–229. Für die Tzeltal-Indianer von Cancun besteht der Mensch sogar aus bis zu siebzehn verschiedenen »Seelen«, vgl. Pitarch, Pedro, Ch’ulel. Una etnografia de las almas tzeltales, Mexico 1996.

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

schließlich aus besonderen Attributen wie dem Namen oder auch dem »überrealen Homonym«, tõma, das sich von der Zustimmung eines Buschgeistes herleitet und bei der Geburt des Kindes von einem Wahrsager identifiziert wird. Jedes Existierende zeigt sich also als eine besondere Ansammlung ganz verschiedener materieller und immaterieller Elemente, die ihm eine originale Identität verleihen, denn die Menschen sind das Ergebnis einer komplexeren Kombination als die anderen Entitäten der Welt, was Héritier veranlaßt, das Samo-Individuum als eine »Blätterung« aus elementaren Komponenten zu definieren. 43

Dass ein solch »geblättertes« Verständnis des Menschen für uns, die wir in der Tradition des abendländischen anthropologischen Denkens stehen, kaum nachvollziehbar ist, muss hier nicht weiter stören. 44 Es geht hier nicht darum, diese fremdartigen Vorstellungen detaillierter kennenzulernen oder gar zu verstehen, sondern allein darum, zu sehen, dass Menschenbilder fundamentale ontologische Festlegungen treffen, die sehr stark differieren können. (b) Dies betrifft, wie auch aus dem Zitat hervorgeht, nicht nur die Anzahl der ontologisch fundamentalen Elemente, sondern insbesondere ihre Qualität: Die Elemente können materiell und dabei stofflich sehr verschiedenartig – etwa fest oder weniger fest – konzipiert sein, sie können immateriell sein, sie können sterblich oder unsterblich, präexistent oder nicht präexistent sein, sie können eher aktiv oder eher passiv sein, und sie unterscheiden sich im Hinblick auf die menschlichen Fähigkeiten oder Eigenschaften, die ihnen zugeschrieben werden. Während im Abendland etwa dem Körper neben der bloßen Materie auch die Leidenschaften und der Seele das Denken und das Bewusstsein zugeschrieben wurden, teilen sich bei dem Volk der Nahua zwei eher immaterielle seelenartige Elemente die Funktionen des Bewusstseins, des Denkens, der Sensibilität sowie der inDescola, Natur und Kultur, 332; die Studie von Héritier findet sich in: Héritier, Françoise, Die Samo-Identität, in: Benoist, Jean-Marie (Hg.), Identität. Ein interdisziplinäres Seminar unter der Leitung von Claude Lévi-Strauss, übers. v. Gottfried Pfeffer, Stuttgart 1980, 48–75. 44 Wobei hier darauf hinzuweisen ist, dass beispielsweise das antike Griechenland auch davon ausging, dass der Mensch von mehreren grundlegenden Elementen bewohnt ist. Homer etwa nennt die psychē, den thymós und den nóos; vgl. dazu Bremmer, Jan, The Early Greek Concept of the Soul, Princeton 1983; Schwabl, Hans, Frühgriechische Seelenvorstellungen, in: Klein, Hans-Dieter (Hg.), Der Begriff der Seele in der Philosophiegeschichte, Würzburg 2005, 29–64; Meyer, Martin, Der Wandel des Psyche-Begriffs im frühgriechischen Denken von Homer bis Heraklit, in: Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008), 9–28. 43

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Ontologische Dimension

dividuellen Wesensart und zwei eher materielle Elemente die körperlichen Aspekte des Menschen, wobei das eine das Fleisch und das andere eine Art Aura bzw. Ausdünstung darstellt. 45 Die Elemente können darüber hinaus als substantiell und stabil oder aber als weniger substantiell und stabil, vielmehr als veränderlich und ephemer gelten, und außerdem kann es sich dabei um individualisierte Entitäten – wie paradigmatisch die christliche Seele – handeln oder aber um individuelle Manifestationen einer umfassenden Entität – wie etwa das individuelle Bewusstsein im Buddhismus, das Teil des All-Bewusstseins ist, oder wie das atman im Hinduismus. Auch werden die Elemente – vor allem die seelenartigen – sehr unterschiedlich lokalisiert, zum Teil innerhalb des Körpers, zum Teil aber auch außerhalb des Körpers. In vielen Kulturen existiert beispielsweise die Idee einer »Schattenseele«, d. h. eines Seelenteils, der im oder als Schatten, den ein Körper wirft, existiert. Häufig ist auch die Vorstellung eines Doppelgängers anzutreffen, d. h. eines Tieres, Geistes oder auch Dinges, in dem ein Seelenteil des mit diesem Doppelgänger verbundenen Menschen haust. Auch in diesem Falle liegt ein wesentliches ontologisches Element des Menschen außerhalb der Grenzen des eigenen Körpers. 46 Und schließlich wird den Elementen oft auch eine bestimmte moralische Qualität zugesprochen. So werden in vielen Kulturen die körperlich-materiellen Elemente als moralisch minderwertig, die seelisch-geistigen Elemente hingegen als moralisch hochwertig betrachtet. (c) In Menschenbildern sind nicht nur die einzelnen, ontologisch fundamentalen Elemente des Menschen festgelegt, sondern auch – sofern es mehr als ein Element gibt – die Art ihrer Beziehung. Entscheidend erscheinen dabei grundsätzliche Festlegungen im Hinblick auf folgende zwei zusammenhängende Fragen: Ist der Mensch eher mit einem der Elemente identisch oder ist er eher die Summe der Elemente? In vielen dualistischen Kulturen und Religionen gilt bekanntlich ein Element, nämlich die Seele, als der eigentliche Wesenskern des Menschen, was oft mit einer Abwertung des anderen Elementes, des Körpers, einhergeht. Dies kommt beispielsweise auch in Vgl. Descola, Natur und Kultur, 315 f. Zu verschiedenen Seelenvorstellungen vgl. Hasenfratz, Hans-Peter, Die Seele. Einführung in ein religiöses Grundphänomen, Zürich 1996; Figl, Johann/Klein, HansDieter (Hg.), Der Begriff der Seele in der Religionswissenschaft, Würzburg 2002; Krasber, Ulrike/Kosack, Godula, »… und was ist mit der Seele?« Seelenvorstellungen im Kulturvergleich, Frankfurt am Main 2009.

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

der berühmten Aussage Platons, der Körper sei das Gefängnis der Seele, zum Ausdruck. Kulturen, die mehr als zwei ontologisch fundamentale Elemente annehmen, tun sich mit der eindeutigen Zuordnung weniger leicht, obwohl auch hier oft Elemente angenommen werden, die – bei allen Unterschiedlichkeiten – der christlichen Individualseele ähneln. Bei den Samo etwa, die wir eben kennengelernt haben, […] lässt der Tod eines Menschen seine konstitutiven Elemente vergehen, mit Ausnahme des mεrε, das im Dorf der Toten ein zweites Leben beginnen wird, indem es aus neuen Bestandteilen wieder eine vollwertige Person erschafft; am Ende dieser Existenz in der Welt der Dahingeschiedenen wiederholt sich der Vorgang in einem zweiten ›Totenleben‹, nach dessen Ende das mεrε des Verstorbenen in einen großen Baum übergeht, der selbst ein mεrε besitzt. 47

Nicht selten wird der Mensch aber auch einfach als das Produkt der Kombination der Elemente gesehen und weniger mit einem einzelnen Element identifiziert. An erster Stelle ist hier der Buddhismus zu nennen, demzufolge das menschliche Individuum nur ein vergängliches Bündel von Faktoren darstellt, hinter dem sich kein substanzieller Wesenskern verbirgt. Eng mit der Fragestellung, ob der Mensch eher mit einem der Elemente oder mit dem Bündel an Elementen identifiziert wird, hängt die zweite Frage zusammen, ob der Mensch eine stabile Einheit oder eher ein loses Konglomerat ist. Diese Frage hat wiederum zwei Aspekte, geht es doch zum einen darum, ob der Mensch eine synchrone Einheit bildet, also ein integrales Gebilde ist, und zum anderen darum, ob der Mensch eine diachrone Einheit bildet, d. h. durch die Zeit hindurch mit sich identisch bleibt – ein Thema, das in der philosophischen Forschung unter dem Schlagwort der »personalen Identität« verhandelt wird. Westlichen Vorstellungen zufolge, in denen der aristotelische Substanzbegriff nachwirkt, bildet der Mensch eine relativ stabile, kompakte Einheit, bestehe sie nun nur aus dem Körper oder aus Leib und Seele. Diese Einheit bleibt durch die Zeit hindurch stabil und hält sich durch alle Veränderungen durch. In vielen Kulturen gibt es aber die Vorstellung, die Seele oder eine der Seelen könne den Körper verlassen, auf Wanderschaft gehen und sich zeitweilig woanders – in einem Tier, in einem Ding – niederlassen.

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Ontologische Dimension

Bekannt sind auch die Vorstellungen, dass sich Menschen in Tiere verwandeln können 48 oder dass der Mensch von anderen Seelen besetzt werden kann – Vorstellungen von »Besessenheit«, die sich zum Teil auch in unserem Kulturkreis bis heute halten. In all diesen Kulturen ist die Einheit des Menschen – sowohl synchron als auch diachron – eine tendenziell instabile. In manchen Kulturen wird diese doppelte Instabilität auf die Spitze getrieben. Das, was bei uns die Postmoderne mit dem Schlagwort des »Verschwindens des Menschen« vor einiger Zeit als theoretische Losung ausgegeben hat, wird woanders schon seit langem gelebt. So scheint sich etwa bei den bereits erwähnten Dogon der Mensch in ein loses Konglomerat verschiedenster Elemente aufzulösen, wie Descola schreibt: Kurzum, jeder Dogon bildet eine absolut einmalige Mischung aus einer außerordentlichen Menge an materiellen und immateriellen Bestandteilen, eine wahrhafte Welt im Kleinen mit ihrer eigenen Ökologie und ihren Gesetzen der Vereinbarkeit und Unvereinbarkeit, doch die ständige Mobilität seiner konstitutiven Teile macht ihn jeden Tag zu einem anderen Wesen. 49

(d) Nicht vergessen werden sollte, dass Menschenbilder den Menschen über seine ontologisch fundamentalen Elemente in kosmische Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten einschreiben. Je nach Auffassung gehen unsterbliche Seelenelemente nach dem Tod auf Wanderschaft, verschmelzen mit Gott, müssen wiedergeboren werden oder treten vor den Richterstuhl Gottes. Körperliche Elemente zerfallen zu Staub oder werden am Ende der Zeiten wieder hergestellt. Und ohne Zweifel durchwirken den Menschen jene Kräfte, die auch den Kosmos beherrschen: Die unerbittlich kausal wirkenden Naturgesetze der naturalistisch aufgefassten Welt, das Qi und die Pole von Yin und Yang im traditionellen chinesischen Denken, 50 die Entsprechun-

Dieses Phänomen wird in der Literatur im Anschluss an den in Zentralamerika und insbesondere in Mexiko verbreiteten Glauben als Nagualismus bezeichnet; vgl. hierzu Brinton, Daniel, Nagualism. A Study in Native-American Folklore and History, Philadelphia 1894; Dürr, Eveline, Zapotekische Alter-Ego Vorstellungen und Nagualismus in Oaxaca, Mexiko, in: Dies./Seitz, Stefan (Hg.), Religionsethnologische Beiträge zur Amerikanistik, Münster 1997, 83–103; Foster, George, Nagualism in Mexico and Guatemala, in: Acta Americana 2/1 u. 2 (1944), 85–103. 49 Vgl. Descola, Natur und Kultur, 334. 50 Vgl. Granet, Marcel, Das chinesische Denken. Inhalt – Form – Charakter, Frankfurt am Main 1985 [1934]; Linck, Gudula, Yin und Yang. Auf der Suche nach Ganzheit im chinesischen Denken, München 32006. 48

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

gen von Mikro- und Makrokosmos in Europas Mittelalter und Renaissance 51 usw. Es ist völlig aussichtslos, die vielen unterschiedlichen Vorstellungen über die Elemente, aus denen der Mensch zusammengesetzt ist, in einen Überblick oder eine Systematik bringen zu wollen. Glücklicherweise ist dies für unseren Zusammenhang nicht weiter wichtig. Entscheidend ist vielmehr – und so lässt sich dieser inhaltliche Aspekt zusammenfassen –, dass Menschenbilder Überzeugungen über die grundlegenden ontologischen Elemente des Menschen umfassen. Diese Überzeugungen legen fest, aus welchen Elementen der Mensch besteht, welche Qualitäten diese Elemente haben, wie das Verhältnis der Elemente beschaffen ist und welchen Gesetzen der Mensch bzw. die Elemente, aus denen er besteht, unterworfen ist. Dass diese Überzeugungen sowohl systematisch als auch lebensweltlich-praktisch relevant sind, liegt auf der Hand, fällt hier doch die systematisch zentrale Entscheidung, aus welchen Elementen der Mensch überhaupt besteht, und die Entscheidung darüber, worauf sich der Einzelne in seinem Leben einzustellen hat. Aus diesem Grund sind diese Überzeugungen häufig auch subjektiv wichtig, macht es doch für mein Leben einen ziemlichen Unterschied, ob ich daran glaube, dass mich nach dem Tod das strenge Gericht Gottes erwartet, das mich in den Himmel, aber auch in die Hölle bringen kann, oder ob ich daran glaube, dass ich mit meinem letzten Atemzug für immer vergehe.

3.

Überzeugungen über die Stellung des Menschen im Kosmos

Menschenbilder beinhalten nicht nur Überzeugungen über ontologisch fundamentale Eigenschaften des Menschen, sondern immer auch Überzeugungen über die Stellung des Menschen im Kosmos. Denn der Mensch ist bekanntlich nicht allein im Kosmos; er teilt sich diesen vielmehr mit einer Vielzahl unterschiedlichster Entitäten, mit Steinen, Flüssen, Bergen, Büschen, Bäumen, Gräsern, Pflanzen, Vögeln, Schlangen, Löwen usw. Für viele Vorstellungswelten ist der Zur europäischen mittelalterlichen und Renaissance-Vorstellung der Entsprechungen von Mikro- und Makrokosmos vgl. Finckh, Ruth, Minor Mundus Homo: Studien zur Mikrokosmos-Idee in der mittelalterlichen Literatur, Göttingen 1999; vgl. ferner den ersten Teil von Foucault, Ordnung der Dinge.

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Ontologische Dimension

Kosmos zudem noch von einer Unzahl an weiteren, oft schwer fassbaren Wesen bevölkert – von Göttern, Engeln, Geistern, Dämonen, Ahnen, Kobolden, Zwergen und dergleichen mehr. Um in diesem so vielfältigen Kosmos agieren zu können, muss der Mensch wissen, wo er steht. Menschenbilder legen daher fest, welche Position dem Menschen innerhalb dieser Vielzahl an Seiendem zukommt. Wie die Überzeugungen über ontologisch fundamentale Eigenschaften liegen dabei auch diese Überzeugungen am Schnittpunkt der vielfältigen Verflechtungen zwischen Menschen- und Weltbild, hängt die Stellung des Menschen im Kosmos doch nicht allein vom Menschen und den ihm zugeschriebenen Eigenschaften ab, sondern gleichermaßen auch davon, wie der Kosmos beschaffen ist und welche Entitäten mit welchen Eigenschaften diesen Kosmos sonst noch bewohnen. So ist etwa die Stellung des Menschen im hierarchisch durchstrukturierten Kosmos des Mittelalters und der Renaissance, an dessen Spitze Gott, das seinsvollste und würdigste aller Wesen, thront, eine ziemlich andere als im sinnentleerten, rein materiellen Kosmos einer modernen, säkular-naturalistischen Weltsicht. Doch ganz gleich, wie der Kosmos gemäß den verschiedenen Vorstellungswelten auch immer beschaffen sein mag, die Überzeugungen über die Stellung des Menschen in dem jeweiligen Kosmos sind in erster Linie stets Überzeugungen über die axiologische Stellung des Menschen, d. h. Überzeugungen über den Wert oder den moralischen Status des Menschen. Menschenbilder legen fest, welcher Wert dem Menschen im Vergleich zu den unterschiedlichen nicht-menschlichen Entitäten zukommt: Ist der Mensch mehr, weniger oder gleich viel Wert wie anderes Seiendes? Ihren Niederschlag wie auch ihre Konkretisierung findet diese Festlegung in den moralischen Regeln, unter deren Schutz der Mensch als Mensch steht. An den in einer Kultur geltenden basalen moralischen Regeln lässt sich mithin, sofern sich diese Regeln tatsächlich auf den Menschen als Menschen (und nicht etwa auf eine bestimmte privilegierte Klasse von Menschen) beziehen, der moralische Wert, der dem Menschen als Menschen zugesprochen wird, ablesen. So drückt sich etwa in dem in den meisten Kulturen verankerten Verbot der Tötung unschuldiger Menschen ein dem Menschen als Menschen zuerkannter moralischer Status aus: dieser ist dann zumindest höher als der moralische Status von Tieren und Pflanzen, für die das Tötungsverbot in der Regel nicht in dem Maße gilt. In vielen Gesellschaften ist die axiologische Stellung des Menschen im Kosmos heute im Konzept 307 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

der Menschenwürde gefasst. Dieses besagt, dass der Mensch das würdigste und wertvollste unter den die Erde bevölkernden Wesen ist; der Mensch hat unter ihnen den höchsten moralischen Status. Auch hier bildet sich diese axiologische Stellung in den moralischen Rechten ab, die dem Menschen als Menschen zugesprochen werden: Der Mensch gilt hier als Träger von Menschenrechten. Die Überzeugungen über die axiologische Stellung sind in der Regel gekoppelt an Überzeugungen über die kratologische Stellung des Menschen im Kosmos. In Menschenbildern ist nämlich nicht nur festgelegt, welchen Wert der Mensch als Mensch hat, sondern auch, welche legitimen Befugnisse bzw. welche prinzipielle Macht dem Menschen als Menschen zukommt. So darf der Mensch normalerweise über all jene Entitäten verfügen, die ihm in Wert und Rang nachgeordnet sind, während er jenen Entitäten, die wertvoller sind als er, mit Achtung und Respekt zu begegnen hat. Dies lässt sich gut am traditionellen christlichen Menschenbild veranschaulichen: Diesem zufolge ist der Mensch die »Krone der Schöpfung«, d. h. das edelste und würdigste der Geschöpfe. Aus diesem Grunde ist der Mensch auch – von Gott selbst – explizit dazu aufgerufen, zu herrschen und sich »die Erde untertan zu machen« (Gen 1,28). Die Herrschaft umfasst allerdings nur die Erde und alles, was auf ihr wohnt, nicht aber die überirdischen Existenzen, die dem Menschen allesamt axiologisch übergeordnet sind. Hinzu kommt, dass die Herrschaft in diesem Modell keine Willkürherrschaft sein kann. Der Mensch ist in seiner Herrschaft über die Erde nämlich der axiologisch und kratologisch höchsten Instanz – Gott selbst – verpflichtet. Die Aufgabe des Menschen besteht folglich letztlich darin, in seiner Herrschaft den Willen Gottes umzusetzen. Axiologische und kratologische Stellung gehen hier Hand in Hand: Weil der Mensch als wertvoller gilt als die übrigen Geschöpfe, darf er diese unterwerfen, weil aber Gott wertvoller ist als der Mensch, ist der Mensch Gott unterworfen. Die Verknüpfung von Axiologie und Kratologie lässt sich auch bei manchen säkularen westlichen Menschenbildern nachweisen: Weil der Mensch über Menschenwürde verfügt und damit, wie nicht wenige meinen, als das würdigste aller Wesen gilt, darf er sich alle anderen Entitäten der Welt zu Nutze machen. Da der Mensch aber im Gegensatz zum traditionellen christlichen Modell keiner übergeordneten Instanz mehr untersteht, sondern selbst als das höchste Wesen gilt, wird seine Unterwerfung der Welt tendenziell total. Auf diesen Zusammenhang zwischen westlichem axiologischen Anthropozentrismus einerseits 308 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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und instrumentellem Weltverhältnis andererseits hat insbesondere die Umwelt- und Tierrechtsbewegung aufmerksam gemacht. 52 Der axiologische Anthropozentrismus, der den Menschen als das einzig wertvolle Wesen betrachtet, sei, so die Kritik, nicht nur unbegründet, wie insbesondere Singer mit seinem Vorwurf des »Speziezismus« deutlich zu machen versucht, sondern sei verantwortlich für Umweltzerstörung, hemmungslosen Raubbau an der Natur und ein völlig falsches, moralisch verwerfliches Verhältnis zu Tier- und Umwelt. Doch unabhängig davon, welche Folgen ein konkretes Verständnis des prinzipiellen Wertes und der legitimen Macht des Menschen auch immer haben mag, Menschenbilder beinhalten jedenfalls Überzeugungen über die axiologische Stellung des Menschen, die in einem engen Zusammenhang mit Überzeugungen über die kratologische Stellung des Menschen stehen. Beide Arten von Überzeugungen weisen nun häufig eine Verbindung zu einer dritten Art von Überzeugungen auf: zu Überzeugungen über die ontologische Stellung des Menschen im Kosmos. Gerne werden dabei erstere mit Bezug auf letztere legitimiert. Die Überzeugungen über die ontologische Stellung stehen dabei naturgemäß in engster Verbindung mit den Überzeugungen über die ontologisch fundamentalen Eigenschaften des Menschen, ja sind Folge dieser Überzeugungen. So begründet sich etwa gemäß dem traditionellen christlichen Verständnis die herausragende axiologische und kratologische Position des Menschen mit seiner ontologischen Position innerhalb der hierarchischen Seinsstruktur des Kosmos – eine Position, die ihm Kraft der ontologischen Unterschiede zu den anderen Wesenheiten zukommt. Die herausragende Stellung im Kosmos kommt dem Menschen nämlich deswegen zu, weil er im Unterschied zu den anderen irdischen Wesen über eine unsterbliche Seele (als ontologisch fundamentale Eigenschaft) verfügt und im Unterschied zu diesen mit Vernunft begabt ist. Der Mensch steht deswegen seinem Sein nach höher als diese anderen Geschöpfe. Und aus dieser ontologischen Position leitet sich dann erst seine axiologische und kratologische Stellung ab. Dieser enge Zusammenhang zwischen Axiologie, Kratologie und Ontologie ist allerdings nicht zwingend. Im Gegenteil, oft sind die Vgl. z. B. Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1984; Singer, Animal Liberation; Drewermann, Eugen, Der tödliche Fortschritt. Von der Zerstörung der Erde und des Menschen im Erbe des Christentums, Regensburg 61990.

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Verknüpfungen zwischen axiologischer, kratologischer und ontologischer Stellung wesentlich loser als etwa in dem erwähnten christlichen Modell. Und nicht zuletzt hängt es auch von den ontologischen Grundkategorien ab, die das Überzeugungssystem, in das ein Menschenbild eingeflochten ist, vorsieht, ob und in welchem Maße ein solcher Zusammenhang möglich ist. So kennen beispielsweise die meisten säkularen westlichen Menschenbilder zwar auch eine ontologische Position des Menschen – der Mensch gilt hier als der vorläufige Endpunkt der evolutionären Entwicklung –, aus dieser ontologischen Position kann aber nicht direkt auf die Axiologie geschlossen werden. Dies deswegen, weil nach verbreiteter säkularer Auffassung das biologische Sein wertfrei ist. Anders als das traditionelle christliche Modell, das von einer Einheit von Sein und Wert ausgeht, sind für die meisten säkularen Verständnisse Sein und Wert zwei unterschiedliche Kategorien, die einen einfachen Übergang vom Sein zum Sollen unmöglich machen. Wer beispielsweise – wie dies in der Renaissance, allerdings noch unter mittelalterlichen Vorzeichen, durchaus üblich war 53 – die Menschenwürde direkt durch den Umstand zu begründen versuchen würde, dass der Mensch das komplexeste und entwickelteste aller Lebewesen ist, 54 würde sich daher rasch – und zu Recht – den Vorwurf eines Sein-Sollen-Fehlschlusses zuziehen. Unabhängig davon, ob die axiologischen und kratologischen Überzeugungen nun in ontologischen Überzeugungen verankert sind oder nicht, in der Regel gilt, dass die Stellung des Menschen im Kosmos sich von den als relevant empfundenen Unterschieden zwischen Mensch und Nicht-Mensch ableitet. 55 So wird im Abendland die Stellung des Menschen eben seit jeher mit dessen Vernunftbegabung erklärt: Die Vernunft sei diejenige herausragende Eigenschaft, die den Menschen vom Tier, von der Pflanze und den unbelebten Dingen unterscheide, und in der daher auch seine herausragende Stellung gegründet sei. Doch selbst wenn es häufig einen solch engen ZusamVgl. z. B. das erste Buch von Manetti, Giannozzo, Über die Würde und Erhabenheit des Menschen, übers. v. Hartmut Leppin, hg. v. August Buck, Hamburg 1990. 54 Ein solcher Versuch liegt möglicherweise Francis Fukuyamas Begründung der Menschenwürde zugrunde, die er von der Komplexität des Menschen abzuleiten scheint; vgl. Fukuyama, Francis, Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution, New York 2002, 179. 55 Diese Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen werden unter der 9. Kategorie »Überzeugungen über wichtige menschliche Fähigkeiten« eigens behandelt. 53

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menhang zwischen den Überzeugungen über die Stellung des Menschen im Kosmos und den Überzeugungen über die relevanten Unterschiede zwischen Mensch und all den anderen den Kosmos bewohnenden Wesenheiten gibt, diese beiden Arten von Überzeugungen gilt es auseinanderzuhalten: die einen beantworten nämlich die Frage, welche Stellung der Mensch im Kosmos einnimmt, und die anderen die Frage, warum er eine bestimmte Stellung einnimmt. Lebensweltliche Menschenbilder geben auf die erste dieser Fragen – zumindest implizit – immer eine Antwort. Ob sie allerdings auch immer eine Antwort auf die zweite Frage haben, darf bezweifelt werden; dies schon allein deswegen, weil Begründungsfragen in der lebensweltlichen Praxis selten eine Rolle spielen. Im Alltag ist es beispielsweise wichtiger zu wissen, dass dem Menschen mit Respekt zu begegnen ist, als zu wissen, warum dies so ist. Nicht selten sind alltägliche Begründungen, sofern sie denn überhaupt eingefordert werden, daher auch zirkulär. Auf die Frage, warum Menschen mit Respekt zu behandeln seien, heißt es dann oft einfach nur: Weil sie eben Menschen seien. Menschenbilder, so können wir diese kurzen Erläuterungen zusammenfassen, enthalten Überzeugungen über die Stellung des Menschen im Kosmos. Diese Überzeugungen lassen sich dabei unterscheiden in Überzeugungen über die axiologische, die kratologische und die ontologische Stellung des Menschen. Zwischen diesen Überzeugungen liegen häufig, aber nicht zwingend, Verbindungen und Überschneidungen vor. Unter diesen Überzeugungen sind diejenigen über die axiologische Stellung des Menschen zweifellos die wichtigsten. Sie sind lebensweltlich-praktisch hochrelevant, entscheidet sich an ihnen doch, welchen Wert der Mensch hat. Es sind diese Überzeugungen, die den Menschen als Gegenstand moralischer Rücksichtnahme konstituieren. Von ihnen hängt ab, welches Maß an moralischem Respekt gegenüber dem Menschen als Menschen grundsätzlich angemessen ist und welches Verhalten ihm gegenüber als prinzipiell richtig betrachtet wird. Und nicht zuletzt hängt von diesen Überzeugungen auch ab, welches Maß an moralischem Respekt gegenüber nicht-menschlichen Entitäten als grundsätzlich angemessen gilt und welches Verhalten ihnen gegenüber als prinzipiell richtig betrachtet wird. Es dürfte kaum notwendig sein, darauf hinzuweisen, dass die Auffassungen auch in der Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos weltweit stark differieren. Die westlichen Kulturen hängen 311 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

beispielsweise mit ihrem axiologischen Anthropozentrismus mehrheitlich einem menschlichen Exzeptionalismus an und sprechen dem Menschen Menschenwürde und damit den höchstmöglichen moralischen Status zu. Während aber manche westliche Menschenbilder – in der Tradition der jüdisch-christlichen Auffassung vom Menschen als »Krone der Schöpfung« – zwischen Mensch und Nicht-Mensch einen radikalen Wesensunterschied sehen, der den Menschen von allem Nicht-Menschlichen weit abhebt, fassen andere Menschenbilder – unter dem Einfluss biologischer Erkenntnisse und dem Eindruck der modernen Tierrechtsbewegung – den Menschen eher in Kontinuität zum Nicht-Menschlichen; der Unterschied zwischen Mensch und Nicht-Mensch ist dann nicht mehr kategorialer, sondern nur mehr gradueller Natur. Wiewohl dem Menschen auch hier noch Menschenwürde zugesprochen wird, werden zumindest manche Tierarten – etwa Menschenaffen, Delphine, Elstern – als von diesem Status nicht allzu weit entfernt angesehen. In anderen Kulturen wird dem Menschen zwar ein hoher axiologischer Status zugebilligt, aber nicht nur der Himmel, sondern auch die Erde ist bevölkert von Wesenheiten, die über dem Menschen stehen. Hier ist der Mensch zwar ein edles, aber nicht das edelste Wesen unter der Sonne. Über ihm tummelt sich eine Vielzahl an göttlichen und halbgöttlichen Wesen, die sich bisweilen auch in sehr irdischen Gestalten wie etwa derjenigen eines heiligen Tieres, einer heiligen Pflanze, eines heiligen Gegenstandes oder eines heiligen Ortes inkarnieren können oder zumindest mit ihnen in Verbindung stehen. Bekanntestes Beispiel dafür ist sicherlich die heilige Kuh im Hinduismus, die in enger Verbindung mit Krishna, der wichtigsten Inkarnation des Gottes Vishnu steht, die als »Mutter allen Lebens« eine besondere Verehrung erfährt und die unter besonderen Schutzgeboten steht. 56 Animistische Kulturen wiederum gehen überhaupt davon aus, dass alle Tiere und Pflanzen und bisweilen auch unbelebte Gegenstände wie Steine, Blasrohre usw. mit einer dem Menschen ähnlichen Geistseele ausgestattet sind, d. h. wahrnehmen, fühlen, denken usw. können. In diesen Kulturen sind inwendig gleiche Wesenheiten allein durch die äußere, letztlich unbedeutende Hülle des Körpers voneinander unterschieden. Konsequenterweise gibt es in diesen KulZur heiligen Kuh in Indien vgl. Jaeggi, Peter, Die heilige Kuh. Eine kleine indische Kulturgeschichte, Fribourg 2009; Jha, Dwijendra Narayan, The Myth of the Holy Cow, London/New York 2002.

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Ontologische Dimension

turen auch keine wirklichen axiologischen, kratologischen oder ontologischen Unterschiede zwischen Mensch und Nicht-Mensch. Die Natur ist in all ihren Ausprägungen gleich achtungswürdig, der Mensch hat keinen herausragenden Wert. Wenn der Mensch in solchen Kulturen zu Nahrungszwecken Tiere tötet, ist dies daher oft mit Vergebungs-, Dankes- und Wiedergutmachungs-Riten verbunden, mit denen das begangene Unrecht beglichen werden muss. So bietet etwa der Volksstamm der Ma’Batisék aus Malaysia »[…] den Tierund Pflanzenarten, von denen sie sich ernähren, Nahrung an, ›weil man sie als Menschen wahrnimmt, denen man Unrecht getan hat‹ […]«. 57 Von daher ist es auch nachvollziehbar, dass in manchen dieser animistischen Kulturen der Kannibalismus Platz findet: Die Tötung und der Verzehr eines Menschen unterscheidet sich dann ja nicht grundsätzlich von der Tötung und dem Verzehr eines Tieres oder einer Pflanze. 58

4.

Überzeugungen über interhumane axiologische Differenzierungen

Unter den vielen Unterschieden, die im Hinblick auf die Überzeugungen über die Stellung des Menschen im Kosmos vorliegen, ist einer besonders hervorzuheben, da er von außerordentlich großer lebensweltlich-praktischer Relevanz ist; er ist daher auch als eine eigene Überzeugungskategorie anzuführen: Überzeugungen über interhumane axiologische Differenzierungen. Menschenbilder beinhalten nämlich nicht nur Überzeugungen über die axiologische Stellung des Menschen im Kosmos, sondern sie lassen auch Überzeugungen über prinzipielle axiologische (und gleichermaßen kratologische und ontologische) Unterschiede zwischen den Menschen erkennen. Es sind diese unterschiedlichen Zuschreibungen axiologischer Status, die den nicht-egalitaristischen Menschenbildern zugrunde liegen. Es gibt ja, wie oben besprochen, egalitaristische und nicht-egalitaristische Menschenbilder. Egalitaristische Menschenbilder gehen davon aus, dass keine solchen interhumanen axiologischen Differenzen bestehen. Sie schreiben allen Menschen grundsätzlich die gleiche axiologische Stellung zu; ihnen zufolge sind alle Menschen prinzipiell 57 58

Descola, Natur und Kultur, 418 f. Vgl. Descola, Natur und Kultur, 422.

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

gleichwertig. Die zweifellos bestehenden Unterschiede zwischen den Menschen sind gleichsam oberflächlicher Natur und reichen nicht aus, um einen prinzipiellen Unterschied im axiologischen Status zu begründen. Nicht-egalitaristische Menschenbilder gehen demgegenüber davon aus, dass die zwischen den Menschen bestehenden Unterschiede sehr wohl auch axiologische (und mithin oft auch kratologische und ontologische) Differenzen begründen und Menschen daher in Klassen unterschiedlicher Dignität eingeteilt werden müssen; ihnen zufolge sind Menschen prinzipiell nicht gleichwertig. 59 Die Merkmale, anhand derer sich entscheidet, ob ein Mensch zu einer höheren oder einer niedrigeren Klasse zählt, fallen dabei bekanntlich sehr unterschiedlich aus. Grundsätzlich können sie in angeborene oder erworbene unterschieden werden. Menschenbilder, die Menschen anhand angeborener Merkmale, wie etwa Geschlecht oder Hautfarbe, in wertvolle und weniger wertvolle Menschen einordnen sind dabei ebenso gut und zahlreich dokumentiert wie Menschenbilder, die Menschen anhand von erworbenen Merkmalen klassifizieren. So herrscht etwa in vielen traditionellen Gesellschaften die Auffassung vor, dass Menschen nicht per se vollwertige Menschen sind, sondern erst durch einen stufenweise sich vollziehenden Prozess der sozialen Integration zu solchen werden: Erst dann, wenn ein Mensch den von der Gemeinschaft auferlegten Pflichten gemäß der für ihn vorgeseheEs gibt auch Menschenbilder, die Menschen in ontologisch unterschiedliche Klassen – z. B. in Rassen, Völker (mit ihrem je eigenen Volkscharakter) oder Nationen – einteilen, die diese Stratifizierung der Menschheit aber nicht, wie sonst üblich, mit einer Abwertung verbinden. In diesem Fall gäbe es zwar ontologische Unterschiede zwischen den Menschen, aber eben keine axiologischen, da die Menschen bei allen Wesensunterschieden dennoch als gleichwertig angesehen werden würden. So vertritt etwa Herder im Unterschied zu den damals in der britischen und französischen Tradition üblichen Einteilung der Welt in Rassen und der Hierarchisierung von Völkern gemäß ihren zivilisatorischen Errungenschaften die Ansicht, dass es zwar wesensmäßige Unterschiede zwischen den Völkern gebe, die Völker aber dennoch gleichwertig seien, da jede Nation eine Manifestation der menschlichen Fähigkeit zur Bildung darstelle. Vgl. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit; dazu Wimmer, Andreas, Ethnische Grenzziehungen in der Immigrationsgesellschaft. Jenseits des Herder’schen Commonsense, in: Kalter, Frank (Hg.), Migration und Integration, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48, Wiesbaden 2008, 57–80, hier 59. Derartige Auffassungen scheint es auch in den totemistischen Kulturen Australiens zu geben, die Menschen nach ihren Stammeszugehörigkeiten, die als gleichwertige »ontologische Rassen« verstanden werden, einteilen; vgl. Descola, Natur und Kultur, 434 f.

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nen Rolle nachkommt, gilt er als vollwertig. 60 Eine sehr unrühmliche Rolle unter diesen Menschenbildern spielen vor allem diejenigen religiösen, die Menschen in Gläubige, die es zu achten, und Ungläubige, die es zu verachten und manchmal zu vernichten gilt, einteilen. Menschen wurden und werden nach wie vor anhand von Geschlecht, Hautfarbe, Abstammung, sexueller Orientierung, Nationalität, Religionszugehörigkeit, gesellschaftlicher Klasse, Fähigkeiten usw. in ihrer grundsätzlichen Wertigkeit beurteilt. Diese Kriterien gelten dabei häufig als äußere Zeichen einer inneren ontologischen Wesensdifferenz, d. h. die axiologischen Differenzen werden oft durch ontologische Differenzen legitimiert. Für viele Jahrhunderte wies beispielsweise Weiblichkeit in Europa auf die Abwesenheit des ontologisch entscheidenden Merkmals der Vernunft hin – was im Übrigen auch die kratologische Unterordnung der Frau unter den Mann begründete. Ebenso galt die schwarze Hautfarbe über lange Zeit als äußeres Merkmal einer ontologisch niedrigeren, zum Sklavendasein bestimmten Wesensart. In gleicher Weise gilt die Tatsache der Geburt in eine niedrige Kaste in Indien als Folge eines (ontologisch) schlechten Karmas usw. Die vielfältigen Fratzen, in denen Rassismus und Sexismus ihr Gesicht zeigen, sollen hier nicht weiter ausgebreitet werden. Für unsere Zwecke genügt es festzuhalten, dass Menschenbilder Überzeugungen über prinzipielle interhumane axiologische sowie – damit in der Regel einhergehend – kratologische und ontologische Differenzen aufweisen. Egalitaristische Menschenbilder kennzeichnen sich dadurch, dass sie solche Differenzen explizit ablehnen. Insofern enthalten sie die Überzeugung, dass es solche Differenzen nicht gibt. Nicht-egalitaristische Menschenbilder hingegen umfassen demgegenüber in verschiedensten Variationen die Überzeugung, dass es solche axiologische Differenzen zwischen Menschen gibt.

Vgl. Sutter, Alex, Ist das Personenkonzept der Menschenrechte kulturell voreingenommen?, in: Wolf, Jean-Claude (Hg.), Menschenrechte interkulturell, Freiburg im Üechtland 2000, 226–241, hier 6 f.; vgl. auch Shweder, Richard/Bourne, Edmund, Does the Concept of the Person Vary Cross-Culturally?, in: Shweder, Richard, Thinking Through Cultures. Expeditions in Cultural Psychology, Cambridge u. a. 1991, 113–155, hier 121 ff. Dieses Konzept, das zwischen Menschen und vollwertigem Menschen bzw. dem Menschen als Person unterscheidet kennt man allerdings auch aus den westlichen Debatten um den moralischen Status des menschlichen Lebens an Lebensbeginn und Lebensende.

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

5.

Überzeugungen über die menschliche Individualität

Neben Überzeugungen über die axiologische, kratologische und ontologische Stellung des Menschen im Kosmos und Überzeugungen über interhumane axiologische, kratologische und ontologische Differenzierungen transportieren Menschenbilder auch Überzeugungen über den ontologischen und axiologischen Status menschlicher Individualität. Unter Individualität sind dabei zwei eng miteinander zusammenhängende Phänomene zu verstehen, die der Mensch als Individuum in sich vereint: Erstens die Tatsache, dass Menschen – quantitativ gesehen – Individuen, also Einzelwesen, sind; dies sei im Folgenden als quantitative Individualität bezeichnet. Zweitens die Tatsache, dass sich Menschen in vielerlei Hinsicht voneinander unterscheiden, also etwa in ihrer Persönlichkeit, ihrem Aussehen, den Meinungen, die sie haben usw., dass Menschen also einzigartig sind; dies sei im Folgenden als qualitative Individualität bezeichnet. Wie diese simplen Tatsachen zu interpretieren sind, darüber liegen in Menschenbildern sehr unterschiedliche Überzeugungen vor. Sie betreffen fünf Aspekte: Zum Ersten geht es darum, (a) wie quantitative Individualität ontologisch zu deuten ist, zum Zweiten darum, (b) wie qualitative Individualität ontologisch aufzufassen ist, zum Dritten darum, (c) wie formbar qualitative Individualität ist, zum Vierten darum, (d) wie qualitative Individualität axiologisch zu verstehen ist, und zum Fünften schließlich darum, (e) wie das Verhältnis von menschlichem Individuum und Gesellschaft zu fassen ist. (a) Der erste Aspekt betrifft die ontologische Qualität der quantitativen Individualität. Es geht also um die Frage, wie die Tatsache, dass Menschen Einzelwesen sind, ontologisch gedeutet wird. Die Antworten, die Menschenbilder auf diese Frage geben, hängen natürlich in hohem Maße von den ontologischen Grundannahmen eines Menschenbildes ab und weisen auch den entsprechenden Variantenreichtum auf, der hier nicht noch einmal ausgebreitet werden soll. Zur Veranschaulichung sei hier daher lediglich auf zwei Beispiele zurückgegriffen: Sieht ein Menschenbild wie etwa das christliche eine Individualseele, die den Wesenskern des Menschen bildet, vor, dann ist die quantitative Individualität des Menschen ontologisch robust grundgelegt; der Mensch ist hier nämlich seinem Wesen nach und dauerhaft ein Einzelner. Geht ein Menschenbild wie etwa das buddhistische demgegenüber davon aus, dass der Kern bzw. die »Seele« des Menschen der Bruchteil einer All-Seele ist, dann stellt die 316 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Ontologische Dimension

Individualität ein oberflächliches und letztlich illusionäres Epiphänomen dar: der Mensch ist hier im Kern seines Wesens gerade kein Einzelner, sondern Bestandteil eines größeren Ganzen; seine quantitative Individualität ist ephemer. (b) Davon zu unterscheiden ist der zweite Aspekt, die Frage nach der ontologischen Verankerung der qualitativen Individualität. Diese Frage stellt sich freilich nur dann, wenn die quantitative Individualität ontologisch robust grundgelegt wird. Nur wenn es eine ontologisch fundamentale Größe gibt, die als Träger der vielen Eigenschaften, die einen Menschen von anderen Menschen unterscheidet, fungiert, können auch diese Eigenschaften im Individuum ontologisch robust fundiert werden. Das ontologisch ephemere buddhistische Individuum hat auch ontologisch ephemere Eigenschaften: löst sich das Individuum auf, lösen sich auch seine individuellen Eigenschaften auf. 61 Ist das Individuum hingegen ontologisch robust, dann stellt sich die Frage, wie ontologisch robust seine individuellen Eigenschaften sind: Ist die qualitative Individualität nur das oberflächliche Kräuseln über den Tiefen einer im Wesentlichen gleichen menschlichen Natur, oder reicht die Individualität in die Tiefen des menschlichen Wesens hinein? Ist die Individualseele, um beim abendländischen Beispiel zu bleiben, einfach nur eine je einzelne, d. h. quantitativ von allen anderen verschiedene, wie man tendenziell in Antike und Mittelalter denkt, oder ist sie auch eine je einzigartige, von allen anderen Seelen qualitativ verschiedene, wie man ab der Neuzeit zu denken beginnt? Ist das menschliche Individuum mit anderen Worten nur ein individuelles Exemplar einer übergeordneten, allgemeinen Gattung, oder ist es darüber hinaus auch ein seinem Wesen nach je einzigartiges Individuum? Diese zweite Auffassung ist historisch bekanntlich einigermaßen jung und geographisch eingeschränkt. Sie entwickelt sich als Folge nominalistischer Positionen im Universalienstreit des ausgehenden europäischen Mittelalters, die sich von den bis dahin gültigen universalienrealistischen Ansätzen platonischer oder aristotelischer Provenienz absetzen und das InDies gilt auch dann, wenn manche Eigenschaften – etwa weil sie, wie bei den bereits erwähnten Dogon, als je eigene »Seelen« gedacht werden – als eigene robuste ontologische Größen gelten. In diesem Falle sind dann zwar diese Seelen oder Eigenschaften dauerhaft, aber eben nicht als Bestandteile eines spezifischen menschlichen Individuums. Wenn sich das Individuum als quantitative Individualität auflöst, löst sich auch seine qualitative Individualität auf, unabhängig davon, wie ontologisch robust die Eigenschaften dieses Individuums für sich genommen sein mögen.

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dividuelle als primärer und wirklicher als das Allgemeine fassen. Und dies wiederum eröffnet erst den gedanklichen Raum für die Möglichkeit, qualitative Individualität auch beim Menschen als ontologisch fundamental zu betrachten – eine Möglichkeit, die, so Jacob Burckhardt, in der Renaissance Realität zu werden beginnt. 62 Es sollte hier nicht der Eindruck entstehen, als würden sich diese ontologischen Festlegungen auf religiöse oder metaphysische Menschenbilder beschränken. Jedes Menschenbild nimmt notwendigerweise solche Festlegungen vor. Die üblichen säkularen Menschenbilder gehen beispielsweise nicht nur davon aus, dass der Mensch ein biologisches »Einzelding« ist – was gemäß der Ontologie der meisten säkularen Weltanschauungen einer ontologisch robusten Verankerung der quantitativen Individualität entspricht –, sondern enthalten auch Überzeugungen über die ontologische Qualität der qualitativen Individualität. Die Frage stellt sich hier nur in einer anderen Begrifflichkeit: Sind die individuellen Unterschiede zwischen den Menschen eher angeboren und damit in der biologischen, stärker unverfügbaren Natur des Menschen, d. h. ontologisch robust verankert, oder sind sie eher erworben und damit tendenziell im Bereich des Verfügbaren, Veränderbaren, d. h. des ontologisch Fragilen angesiedelt? Die Ansichten darüber gehen bekanntlich weit auseinander; ihren wissenschaftlichen Ausdruck haben diese Differenzen in der schon seit langem und mit großer Leidenschaft geführten Naturalismus-Kulturalismus-Debatte gefunden. 63 (c) Die Frage, ob individuelle Unterschiede angeboren oder erworben sind, verweist auf den dritten Aspekt, den die Überzeugungen über die menschliche Individualität abdecken: den Aspekt der Formbarkeit des Menschen. Menschenbilder beinhalten Überzeugungen darüber, ob und in welchem Maße der Mensch – etwa durch Erziehung oder andere Formen der sozialen Einflussnahme – formbar ist; diese Überzeugungen hängen dabei eng mit den Überzeugungen zusammen, ob qualitative Individualität nun ontologisch robust ist oder nicht: Wer beispielsweise daran glaubt, dass Verhaltens- und PersönVgl. Burckhardt, Kultur der Renaissance; Dülmen, Richard van, Die Entdeckung des Individuums 1500–1800, Frankfurt am Main 1997; ders. (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u. a. 2001. 63 Zu der Debatte vgl. Ceci, Stephen/Williams, Wendy (Hg.), The Nature–Nurture Debate: The Essential Readings, Malden 1999; Goldhaber, Dale, The Nature-Nurture Debates: Bridging the Gap, Cambridge u. a. 2012. 62

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Ontologische Dimension

lichkeitsmerkmale des Menschen überwiegend angeboren sind, wird Erziehungsmaßnahmen nur eine sehr eingeschränkte Wirkung zugestehen können. Wer hingegen davon ausgeht, dass qualitative individuelle Aspekte nicht angeboren sind, wird zugleich davon ausgehen, dass sie durch Erziehungsmaßnahmen beeinflusst werden können. (d) Der vierte Aspekt, den die Überzeugungen über die menschliche Individualität umfassen, liegt in der axiologischen Einordnung der qualitativen Individualität. Manche Menschenbilder sehen in qualitativer Individualität, d. h. in der Einzigartigkeit menschlicher Individuen, einen Wert, andere nicht. Dies ist im Übrigen unabhängig davon, ob qualitative Individualität nun als ontologisch robust gilt oder nicht. Der Existenzialismus beispielsweise hat qualitative Individualität nicht ontologisch verankert, ist ihm zufolge doch die Essenz etwas, das der bloßen Existenz erst nachfolgt. Gleichwohl hält er qualitative Individualität als etwas, das sich jede und jeder Einzelne erst schaffen muss, hoch. Andererseits muss die Idee einer ontologisch verankerten qualitativen Individualität noch nicht mit ihrer Wertschätzung einhergehen; individuelle Eigenheiten können im Gegenteil, wie etwa in der Schwarzen Pädagogik, auch als ein im Wesen des Menschen verankertes Übel gelten, das es durch rigide Erziehungsmaßnahmen abzuschleifen und auf ein sozial verträgliches Maß zu reduzieren gilt. 64 Die von der Renaissance ausgehende Idee der Individualität, die uns bis heute prägt und in den im Westen vorherrschenden Idealen der Authentizität und des künstlerischen Expressivismus nachwirkt, ist dagegen äußerst positiv besetzt. 65 Dieser Idee zufolge ist der Mensch nicht nur ein je einzigartiges Individuum, sondern jeder Mensch soll diese seine einzigartige Individualität auch auf je einzigartige Weise in seinem Leben zum Ausdruck bringen. Denn das, was den einzelnen Menschen wertvoll macht, ist gerade auch dasjenige – seine Talente, Gaben, Perspektiven usw. –, was ihn von allen anderen Menschen unterscheidet. Die Überzeugungen, die sich in lebensweltlichen Menschenbildern zu diesen vier Aspekten der menschlichen Individualität finden – der ontologische Aspekt quantitativer Individualität, der ontologische und der axiologische Aspekt qualitativer Individualität sowie der Zur Schwarzen Pädagogik vgl. Rutschky, Schwarze Pädagogik; Miller, Alice, Am Anfang war Erziehung. 65 Vgl. Taylor, Charles, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt am Main 21995. 64

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Aspekt der Formbarkeit –, dürften großteils unscharf, vage und oft sicherlich irgendwo in der Mitte der hier geschilderten Extreme angesiedelt sein. Sie sind zweifellos allesamt von großer praktisch-lebensweltlicher Relevanz. An diesen Überzeugungen entscheidet sich schließlich, ob beispielsweise die Pädagogik auf die ganz individuellen Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes eingehen soll, weil diese individuellen Bedürfnisse (ontologisch) fundamental sind, oder ob sie die Kinder über einen Kamm scheren kann, weil alle Kinder im Grunde gleich funktionieren und die individuellen Bedürfnisse nur oberflächlicher Natur sind. Es entscheidet sich, ob die Pädagogik darauf abzielen sollte, die individuellen Talente, Stärken und Anlagen jedes Kindes zu fördern, um so die Individualität jedes Kindes zu stärken und zur Geltung zu bringen, oder ob sie sich im Gegenteil darum bemühen sollte, die Individualität zu brechen, um sie bestimmten allgemeinen Zielen unterzuordnen. Und es entscheidet sich, ob und in welchem Maße es für die Pädagogik – oder beispielsweise auch den Strafvollzug – überhaupt sinnvoll ist, den Menschen formen und bessern zu wollen. Um es an einem drastischen Bild deutlich zu machen: An den Überzeugungen zur Formbarkeit des Menschen entscheidet sich, ob ein autoritäres Regime Vernichtungs- oder aber Besserungsbzw. Umerziehungslager einrichtet – unabhängig davon, dass beides letztlich oft auf dasselbe hinausläuft. Im Lichte der biologistischen Ideologie der Nationalsozialisten war es nur konsequent, abweichlerische Individuen zu eliminieren, wurde das Abweichlertum im Lichte dieser Ideologie doch als Ausdruck einer angeborenen, »falschen« Natur, die per definitionem nicht gebessert werden kann, interpretiert. Im Lichte der kommunistischen Ideologie, die von einer fundamentalen Formbarkeit des Menschen ausgeht, ergeben dagegen Umerziehungslager Sinn, gilt hier das »Falsche« doch nicht als angeboren, sondern eben als erworben. Es besteht daher – zumindest prinzipiell, wenn auch praktisch nicht immer – die Möglichkeit, dieses Falsche zu korrigieren. 66 Vgl. hierzu Zimmermann, Verena, Den neuen Menschen schaffen. Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (1945–1990), Köln 2004, 52 f. Zu aufschlussreichen Analysen zur Annahme der Formbarkeit des Menschen im Menschenbild des maoistisch-kommunistischen Chinas vgl. Munro, Donald, The Concept of Man in Contemporary China, Ann Arbor 1977, 19 ff. und insbesondere 57–83; ferner Bracey, Dorothy, The System of Justice and the Concept of Human Nature in the People’s Republic of China, in: Justice Quarterly 2/1 (1985), 139–144. Zum biologistisch-rassenhygienischen Menschenbild des Nationalsozialis-

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Uns Heutigen, die wir in der Tradition des abendländischen Individualismus stehen und gleichsam vom »Apriori« der wertvollen Einzigartigkeit jedes menschlichen Individuums aus denken, für uns, die wir also gar nicht anders können, als die Einzigartigkeit jedes Menschen erstens zu sehen und zweitens für wichtig zu halten, ist kaum vorstellbar, was es tatsächlich bedeutet, mit einem Menschenbild zu leben, in dem die qualitative Individualität keine besonders relevante Kategorie ist. Eine leise Ahnung davon, was es bedeuten kann, sich und seine Mitmenschen nicht als Individuen in dem uns vertrauten starken Sinne zu sehen, kann vielleicht die Art und Weise vermitteln, wie im Mittelalter mit Individualität umgegangen wurde. Qualitative Individualität, die gemäß der mittelalterlichen Ontologie nicht im allgemeinen Wesen des Menschen verankert ist und außerdem keinen Eigenwert besitzt, d. h. ontologisch nicht robust verankert wird und als axiologisch unbedeutend gilt, bleibt für diese Zeit unfassbar. Wenn überhaupt, scheinen individuelle Aspekte nur im Medium des Allgemeinen, in dem sie ihrer Einzigartigkeit aber gerade verloren gehen, auf. Aaron Gurjewitsch hat etwa gezeigt, dass mittelalterliche Individuen selbst in autobiographischen Schriften – dem Medium der Darstellung von Individualität schlechthin – nicht anders können, als ihre Individualität hinter allgemeinen Formeln und der Bezugnahme auf Autoritäten verschwinden zu lassen. Besonders deutlich wird dies in den autobiographischen Schriften von Ratherius (um 890–974), einst Bischof von Verona, über den Gurjewitch schreibt: Dieser hochgebildete Kirchenmann [Ratherius], dessen Leben voller Knicke und Brüche war, hat uns mehrere Bekenntnis- und Bußschriften hinterlassen. Ihre Analyse aber bringt uns bei unserem Versuch einer Annäherung an seine Individualität keinen Schritt voran, weil sie von dem Wust literarischer Formeln buchstäblich zugedeckt wird. Natürlich ist Ratherius ein Extremfall, aber immerhin doch einer, an dem die allgemeine Regel erkennbar wird. Um seine Gefühle auszudrücken oder eine von ihm erfahrene konkrete Lebenssituation zu schildern, nimmt dieser Autor Zuflucht zur Anähnelung seiner eigenen Person an Gestalten aus antiker, alttestamentlicher und christlicher Vorzeit. Dabei stellt diese Anähnelung keinen einfachen Vermus und seinen Folgen vgl. Wendt, Bernd Jürgen, Moderner Machbarkeitswahn. Zum Menschenbild des Nationalsozialismus, seinen Wurzeln und Konsequenzen, in: Schmidt, Burghart (Hg.), Menschenrechte und Menschenbilder von der Antike bis zur Gegenwart, Hamburg 2006, 156–176.

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gleich dar, sondern etwas Bedeutenderes und Wesentlicheres: Er identifiziert sein eigenes Ich mit dem Gegenstand seines Vergleichs und löst sich gewissermaßen in dieser Gestalt auf. In dem Bemühen, seinen eigenen Charakter aus »Bruchstücken der Autoritäten« zu rekonstruieren, »erinnert sich ein Subjekt seiner selbst in einem anderen.« 67

Ähnliches lässt sich auch bei vielen traditionellen Gesellschaften beobachten, in denen das Individuum vollständig durch die ihm zugeschriebenen sozialen Rollen und Funktionen, die es einnimmt, definiert wird. In diesen Fällen gehen die Einzelnen in den Rollen, die für sie vorgesehen sind, mehr oder weniger auf; eine Individualität jenseits dieser Rollen scheint es nicht zu geben. So hält Clifford Geertz beispielsweise für einen Volksstamm in Bali fest: Physically men come and go – mere incidents in a happenstance history of no genuine importance, even to themselves. But the masks they wear, the stage they occupy, the parts they play, and, most important, the spectacle they mount remain and comprise not the facade but the substance of things, not least the self. 68

(e) Die Überzeugungen über diese vier Aspekte der Individualität sind nicht zuletzt deswegen lebensweltlich-praktisch relevant, weil sich an ihnen auch der fünfte Aspekt, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, mitentscheidet. Und dieser Aspekt wiederum ist von kaum zu überschätzender sozialer und politischer Bedeutung, steht er doch in unmittelbarem Zusammenhang mit den Differenzen zwischen individualistischen und kollektivistischen Gesellschaften. 69 Gurjewitsch, Das Individuum im europäischen Mittelalter, 146. Vgl. dazu auch, was Greenblatt – mit unübersehbaren Anleihen bei Burckhardt – über das beginnende 15. Jahrhundert festhält: »Der Hausstand, das Netzwerk der Verwandten, Zunft und Gilde, Handelsgesellschaft und Gemeinde – das waren die Zeichen, die Bausteine, aus denen eine Person gemacht wurde. Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein waren kulturell noch keine Werte, ja, sie waren kaum wahrzunehmen, woher also sollte ihre Wertschätzung kommen? Identität erhielt man durch einen genau umrissenen, ausgemachten Platz in der Kette von Befehl und Gehorsam.« (Greenblatt, Die Wende, 25.) 68 Geertz, Clifford, »From the Native’s Point of View«: On the Nature of Anthropological Understanding, in: Bulletin of the American Academy of Arts and Sciences 28/1 (1974), 26–45, hier 35; vgl. auch Shweder/Bourne, Concept of the Person, 122 f.; Mauss, Marcel, A Category of the Human Mind: The Notion of Person; The Notion of Self (übers. v. W. D. Halls), in: Carrithers, Michael/Collins, Stephen/Lukes, Steven (Hg.), The Category of the Person. Anthropology, Philosophy, History, Cambridge u. a. 1985, 1–25. 69 Um den Unterschied zwischen individualistischen und kollektivistischen Kulturen hat sich mittlerweile eine breite Forschung etabliert. In die kulturvergleichende For67

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Der Zusammenhang drückt sich darin aus, dass lebensweltliche Menschenbilder immer auch Überzeugungen darüber beinhalten, ob das Individuum der Gesellschaft nun über- oder untergeordnet ist. Auch hier sind die Überzeugungen freilich oft nicht scharf und häufig nicht einfach einem der beiden Pole zuzuordnen, sondern befinden sich irgendwo in dem breiten Spektrum zwischen diesen Polen. Die beiden Pole werden von kollektivistischen Menschenbildern einerseits und individualistischen Menschenbildern andererseits gebildet. Kollektivistische Menschenbilder sind dadurch gekennzeichnet, dass sie qualitativer Individualität keinen großen Wert beimessen und sie dem Allgemeinen unterordnen: Das Wir zählt mehr als das Ich, der Einzelne hat sich dem Kollektiv zu fügen. Kollektivistische Menschenbilder gehen folglich davon aus, dass das menschliche Individuum seine individuellen Interessen hinter den Interessen des Kollektivs zurückzustellen hat; das Individuum ist daher oft auch eher mit Pflichten belegt, deren Erfüllung es seinen Mitmenschen schuldet, denn mit Rechten ausgestattet, dessen Respektierung es von seinen Mitmenschen erwarten kann. Dies lässt sich unter anderem an der Kritik ablesen, die gerne von kollektivistischen Gesellschaften an den Menschenrechten formuliert wird. Die Menschenrechte, so der Vorwurf, entstammten der westlich-individualistischen Kultur, förderten liberalistisch-egoistische Werte und ihr »[…] Grundrechtsprinzip vernachlässige oder verkenne gar die Notwendigkeit von Tugenden und von Pflichten und Verantwortlichkeiten des Einzelnen gegenüber der Familie, der Gemeinde, der Gesellschaft und dem Staat.« 70 Der nigerianische Politologe Claude Ake etwa formuliert schung wurde das Konzept eingeführt von Hofstede, Geert, Culture’s Consequences – Comparing Values, Behaviors, Institutions and Organizations Across Nations, London/Neu Delhi 22001 [1980]. Die Dimension Individualismus/Kollektivismus bildet dabei eine von fünf fundamentalen Kulturdimensionen. Vgl. ferner Triandis, Harry, Individualism and Collectivism, Boulder 1995; Kim, Uichol u. a. (Hg.), Individualism and Collectivism. Theory, Method, and Applications, Thousand Oaks/London/New Delhi 1994. 70 Vgl. Schmidt, Helmut, Zeit, von den Pflichten zu sprechen!, in: Die Zeit Nr. 41, 3. 10. 1997, 17. Zum spannungsreichen Verhältnis von individualistischen Menschenrechten und kollektivistischen, v. a. asiatischen Kulturen vgl. Bell, Daniel, East Meets West: Human Rights and Democracy in East Asia, Princeton 2000; ferner Habermas, Jürgen, Der interkulturelle Diskurs über Menschenrechte, in: Brunkhorst, Hauke/ Köhler, Wolfgang/Lutz-Bachmann, Matthias (Hg.), Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankfurt am Main 1999, 216– 227.

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

die Kritik an den Menschenrechten mit Blick auf die traditionellen afrikanischen Stammeskulturen so: The idea of human rights, or legal rights in general, presupposes a society which is atomized and individualistic, a society of endemic conflict. It presupposes a society of people conscious of their separateness and their particular interests and anxious to realize them. The legal right is a claim which the individual may make against other members of society, and simultaneously an obligation on the part of society to uphold this claim. The values implicit in all this are clearly alien to those of our traditional societies. We put less emphasis on the individual and more on the collectivity, we do not allow that the individual has any claims which may override that of the society. We assume harmony, not divergence of interests, competition and conflict; we are more inclined to think of our obligations to other members of our society than our claims against them. 71

In der Regel gehen kollektivistische Menschenbilder zudem – aber nicht notwendigerweise – davon aus, dass der Mensch eine soziale Natur hat, d. h. wesenhaft auf das Kollektiv hin angelegt ist. 72 Das Individuum gilt dann als eingeflochten in ein Netz von Beziehungen zu anderen – zur Familie, zur Gemeinde, zur Gemeinschaft, zum Staat und bisweilen auch zum Kosmos. Ein schönes Beispiel für letzteres bildet die mittelalterliche europäische Vorstellung, dass jeder Mensch einen von Gott durch Geburt zugewiesenen klaren Platz in einer hierarchisch strukturierten kosmischen Ordnung hat, in der alles mit allem zusammenhängt, und in dem Handlungen im Kleinen, auch im intimsten Raum, unweigerlich Auswirkungen haben auf das Größere, z. B. die Gesellschaft, und das Größte, den Kosmos. Ein Vergehen im Kleinen, wie etwa eine Frau, die ihrem Mann nicht gehorcht, kann daher, da sie die Ordnung des Ganzen verletzt, negative Effekte für die ganze Gemeinschaft, wie beispielsweise eine Missernte, nach sich ziehen. 73 Ake, Claude, The African Context of Human Rights, in: Africa Today 34 (1987), 5– 12, hier 5. 72 So setzt z. B. das kollektivistische chinesische Menschenbild an der sozialen Natur des Menschen an; vgl. dazu Munro, Conception of Man, 16 f. 73 Vgl. Schmitz, Gerhard, Schuld und Strafe. Eine unbekannte Stellungnahme des Rathramnus von Corbie zur Kindestötung, in: Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters 38 (1982), 363–387, hier 379–383, v. a. 382: »Die […] durch die begangene Missetat eingetretene ›Entordnung‹ der Welt verlangt nach Heilung, die Tat muss gesühnt werden.« Vgl. dazu auch Foucaults drastische Schilderungen der Folterungen im Eingang seines Buches Überwachen und Strafen. Die entsetzlichen Strafen, die dem Delinquenten zugefügt wurden, waren nach damaliger Auffassung not71

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Funktionale Dimension

Individualistische Menschenbilder, die – mit Ausnahme vielleicht des chinesischen Daoismus 74 – eine westliche Besonderheit zu sein scheinen, ordnen hingegen die individuellen Interessen den Interessen des Kollektivs vor, d. h. sie schätzen qualitative Individualität axiologisch hoch ein. Das Individuum wird dann im Extremfall als eines imaginiert, das in sich selbst steht und sich selbst genug ist, von anderen unabhängig ist und letztlich nur sich selbst, aber niemandem sonst verpflichtet ist. Oder, wie es John Galt, der Protagonist des einflussreichen Bestsellers der Libertären Ayn Rand, ausdrückt: »I swear – by my life and my love of it – that I will never live for the sake of another man, nor ask another man to live for mine.« 75

Funktionale Dimension Menschenbilder, so sagten wir eingangs, geben Antworten auf vier Fragen, nämlich auf die Fragen danach a) wer überhaupt Mensch ist, b) was der Mensch ontologisch ist, c) wie der Mensch funktioniert und d) wozu der Mensch dient bzw. wie der Mensch sein sollte. Bislang haben wir uns mit den ersten beiden Fragen und den Überzeugungen, die Menschenbilder als Antworten auf sie bereitstellen, auseinandergesetzt. Nun wollen wir uns der dritten dieser Fragen, der Frage nach dem Funktionieren des Menschen, zuwenden. Auch diese funktionale Dimension lässt sich in mehrere Typen von Überzeugungen differenzieren: in Überzeugungen über das Selbst des Menschen (6.) 76, Überwendig, um das metaphysische Gleichgewicht des Kosmos wieder herzustellen. Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, 9–90. 74 Vgl Luh, Jing-Jong, Menschenrechte in asiatischen Traditionen, in: Yousefi, Hamid Reza (Hg.), Menschenrechte im Weltkontext, Geschichten – Erscheinungsformen – Neuere Entwicklungen, Wiesbaden 2013, 29–36, hier 34. Zum Daoistischen Individualismus vgl. Brindley, Erica, Individualism in Early China: Human Agency and the Self in Thought and Politics, Honolulu 2010. 75 Rand, Ayn, Atlas Shrugged, New York 351992, 731. Der Roman gilt in den USA als einer der einflussreichsten politischen Bücher des 20. Jahrhunderts; vgl. McGrath, Charles, Ayn Rand, in: The New York Times 09. 13. 2007, Quelle: http://topics.ny times.com/top/reference/timestopics/people/r/ayn_rand/index.html [02. 12. 2014]. In zwei Umfragen, die 1991 und 1995/96 von der US-amerikanischen Library of Congress und The Center for The Book durchgeführt wurden, rangiert das Buch unter den in den USA einflussreichsten Büchern überhaupt (vgl. http://web.archive.org/web/ 20050405203828/http://www.loc.gov/loc/cfbook/booklists.html [02. 12. 2014]). 76 Die Zählung orientiert sich an der Liste der Kategorien von Überzeugungen und

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zeugungen über menschliche Freiheit (7.), Überzeugungen über das menschliche Verhalten (8.) und Überzeugungen über wichtige menschliche Fähigkeiten (9.). Wie an den bisher behandelten Typen von Überzeugungen schon deutlich geworden sein dürfte und wie sich insbesondere an den Überzeugungen über das Selbst des Menschen gleich noch einmal zeigen wird, lässt sich die Unterscheidung von Überzeugungen in unterschiedliche Dimensionen ontologischer, funktionaler usw. Art nicht sauber durchhalten, da die Überzeugungen vielfache Überschneidungen aufweisen. Von daher soll nicht erstaunen, wenn auch in der funktionalen Dimension, in der wir uns jetzt bewegen, da und dort ontologische und axiologische Gesichtspunkte wieder auftauchen.

6.

Überzeugungen über das Selbst

Es scheint eine universelle Tatsache zu sein, dass sich Menschen, wie scharf oder unscharf auch immer, irgendwie selbst wahrnehmen und um sich selbst wissen. Menschen haben eine Art von Selbstgefühl bzw. Selbstbewusstsein, weisen ein ichhaft strukturiertes Bewusstsein auf und wissen um sich selbst als Existierende, Wahrnehmende, Handelnde und von anderen Unterschiedene. 77 Der Einfachheit halber sei dieses Phänomen als das Selbst bezeichnet, im Wissen darum, dass dieser der abendländischen Tradition entspringende Begriff erstens vieldeutig und zweitens möglicherweise unangemessen ist, weil schließt daher an die 5. Kategorie – Überzeugungen über die menschliche Individualität – an. 77 Die Universalität des Selbstgefühls hat bereits Marcel Mauss postuliert (vgl. Mauss, A Category of the Human Mind). Vgl. dazu Markus, Hazel/Kitayama, Shinobu, Culture and the Self: Implications for Cognition, Emotion, and Motivation, in: Psychological Review 98/2 (1991), 224–253, hier 225 und die dort angegebene Literatur. Die Forschungen zum Selbst sind mittlerweile uferlos. Einen Überblick über empirisch-sozialwissenschaftliche Zugänge vermitteln Leary, Mark/Tangney, June (Hg.), Handbook of Self and Identity, New York 2005; eher konzeptionell ausgerichtet ist der Überblick von Elliot, Anthony, Concepts of the Self, Cambridge/Malden (MA) 32014; aus psychologischer Sicht vgl. Mummendey, Hans, Psychologie des »Selbst«. Theorien, Methoden und Ergebnisse der Selbstkonzeptforschung, Göttingen 2006; zu kulturvergleichenden Aspekten vgl. LeVine, Robert (Hg.), Psychological Anthropology. A Reader of Self in Culture, Malden (MA)/Oxford 2010. Zu Selbstkonzepten in kulturellen Kontexten vgl. Neisser, Ulric/Jopling, David (Hg.), The Conceptual Self in Context. Culture, Experience, Self-Understanding, Cambridge/New York/Melbourne 1997.

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er bereits eine bestimmte Interpretation dieses Phänomens nahelegt. Die Auffassungen über das so verstandene Selbst – die sogenannten Selbstkonzepte – gehen nämlich, wie ethnologische Studien bezeugen, weit auseinander. Im Westen imaginieren wir uns das Selbst, um Geertz’ vielzitierte Worte aufzugreifen, […] as a bounded, unique, more or less integrated motivational and cognitive universe, a dynamic center of awareness, emotion, judgment, and action organized into a distinctive whole and set contrastively both against other such wholes and against its social and natural background […] 78

In anderen Regionen der Welt wird das Selbst dagegen völlig anders konzipiert – so anders, dass Geertz zum Schluss kommt, die westliche Auffassung des Selbst sei überhaupt, »[…] however incorrigible it may seem to us, a rather peculiar idea within the context of the world’s cultures.« 79 Wie unterschiedlich die Selbstkonzepte im Einzelnen auch sein mögen, sie bilden jedenfalls einen integralen Bestandteil von Menschenbildern. Dies aus einem einfachen Grund: Wenn wir einen Menschen wahrnehmen, gehen wir ganz automatisch und selbstverständlich davon aus, dass dieser Mensch zumindest grundsätzlich ähnlich funktioniert wie wir. Und einer der wichtigsten Aspekte, die ich an mir wahrnehme und anderen zuschreibe, ist eben, dass wir alle ein Selbst haben. Menschenbilder enthalten folglich immer die Überzeugung, dass Menschen ein Selbst haben bzw. sind. Und sie beinhalten darüber hinaus weitere grundlegende Überzeugungen darüber, wie dieses Selbst beschaffen ist. Die Überzeugungen über das Selbst können mithin unterschieden werden in Überzeugungen (a) darüber, dass Menschen ein Selbst haben, (b) über die ontologische Struktur des Selbst, (c) über die Identität des Selbst, (d) über die Durch- bzw. Undurchlässigkeit des Selbst, (e) über die Lokalisierung des Selbst und (f) schließlich über die Isoliertheit bzw. Verbundenheit des Selbst. (a) Menschenbilder umfassen die Überzeugung, dass Menschen ein Selbst haben. In der Forschung gibt es zwar Stimmen, denen zufolge manche Völker über gar kein Selbstkonzept verfügen; dies ist allerdings umstritten. 80 In diesem Fall würde jedenfalls auch das Menschenbild dieser Völker keine Überzeugungen über ein Selbst Geertz, Native’s Point of View, 31. Ebda. 80 Der Ansicht, dass es Völker ohne Selbst gibt, ist etwa Geertz, Native’s Point of View. Eine Gegenposition dazu vertritt: Spiro, Melford, Is the Western Conception 78 79

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enthalten können. Nicht umstritten ist hingegen, dass es Völker gibt, die keine oder kaum sprachlich gefasste Überzeugungen über ein Selbst haben. Dies bedeutet aber nicht, dass diese Völker über gar keine Selbstkonzepte verfügen, schließlich können Selbstkonzepte auch nicht-sprachlich verfasst sein. 81 So meint etwa Fredrik Barth, bei dem Volk der Baktaman in Neu-Guinea, denen offenbar sprachliche Selbst-Konzepte fehlen, an einer ganzen Reihe von rituellen und symbolisch beladenen Praktiken die Konturen eines nichtsprachlichen Selbstkonzeptes entziffern zu können: Having been initiated and having gone through some of these rituals myself, I have a strong sense that they serve profoundly to affect and shape the novices’ self-concepts. But they are all very impoverished in verbal concepts and exegesis; their power derives from the elaboration and fitness of symbolic objects and actions, as well as the hightened intensity of secret enactment. 82

Doch selbst wenn es tatsächlich Völker geben sollte, die über gar kein Selbstkonzept verfügen, so bedeutet dies noch keinesfalls, dass diese Menschen über kein Selbst im Sinne eines Selbstgefühls verfügen. Wenn das Selbst im Sinne eines Selbstgefühls ein universelles Phänomen ist, dann liegt es nahe, dass Menschen anderen Menschen immer auch Selbstgefühle zuschreiben. Folglich ist davon auszugehen, dass jedes Menschenbild die – wie implizit, unartikuliert und rudimentär sie auch immer sein mag – Überzeugung beinhaltet, dass der Mensch ein Selbst zumindest in dem Sinne ist, dass er über irgendwelche Selbstgefühle verfügt. Da das vollständige Fehlen von Selbstkonzepten eher die Ausnahme sein dürfte, umfassen Menschenbilder in der Regel nicht nur die vage Überzeugung, dass der Mensch ein Selbst hat bzw. ein Selbst ist, sondern zugleich auch Überzeugungen darüber, wie es um dieses Selbst bestellt ist.

of the Self »Peculiar« Within the Context of the World’s Cultures?, in: Ethos 21 (1993), 107–153. 81 Es wurde weiter oben schon erwähnt, dass etwa Geertz meinte, bei den Balinesen eine »depersonalizing conception of personhood«, d. h. ein Menschenbild ohne Selbst entdeckt zu haben, während Unni Wikan im Gegenteil feststellte, dass die Balinesen, obwohl sie tatsächlich kaum von ihrem Selbst sprechen, sehr wohl sehr lebendige Selbstgefühle aufweisen; vgl. Geertz, Person, Time, and Conduct in Bali; Wikan, Managing Turbulent Hearts. 82 Barth, Fredrik, How is the Self Conceptualized? Variations Among Cultures, in: Neisser/Jopling, Conceptual Self, 75–91, hier 80.

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(b) Zu diesen weitergehenden Überzeugungen über das Selbst gehören Überzeugungen zu dessen ontologischer Struktur. Diese Überzeugungen hängen dabei, dies liegt auf der Hand, auf das Engste mit den Überzeugungen über die ontologisch fundamentalen Elemente des Menschen und den Überzeugungen über die Individualität zusammen. So wird das Selbst in manchen Menschenbildern als eigenständige Größe imaginiert, die mit einem der ontologisch fundamentalen Elemente identisch oder zumindest ein wesentlicher Bestandteil desselben ist. In den meisten dualistischen Menschenbildern des Westens zählt das Selbst beispielsweise zum Kernbereich eines der beiden ontologischen Grundelemente, nämlich der Seele bzw. des Geistes. Anderen Auffassungen zufolge entbehrt das Selbst hingegen jeder ontologisch robusten Grundlage. So ist etwa der Buddhismus der Auffassung, dass das Selbst letztlich eine Illusion darstellt, da es nur der ephemere Splitter eines allumfassenden Bewusstseins ist: »[…] da es, wie der Buddhismus sagt, nichts gibt, das beständig ist, und da das, was wir üblicherweise als Selbst bezeichnen, vollkommen aus Nicht-Selbst-Elementen besteht, gibt es in Wirklichkeit keine Entität, die Selbst genannt werden könnte.« 83 Es kann daher auch nicht erstaunen, dass es Buddhisten, wie etwa Barth in Butan beobachtete, nicht gelingt, das Selbst einem der fünf ontologisch fundamentalen Elementen, aus denen ihrer Ansicht nach der Mensch besteht, zuzuordnen. 84 (c) Unabhängig davon, ob das »Selbst« nun in einem der ontologisch fundamentalen Elemente verankert wird oder nicht, oder ob darüber überhaupt Unklarheit herrscht, was vermutlich oft der Fall sein dürfte, klarere Überzeugungen dürften jedenfalls in Bezug auf einen weiteren Aspekt vorliegen: die Einheitlichkeit, d. h. die synchrone und diachrone Identität des Selbst. Im Westen gehen wir beispielsweise ganz selbstverständlich davon aus, dass jeder Mensch ein Selbst hat, das ein einheitliches ist und das Zeit seines Lebens im Kern auch dasselbe Selbst bleibt. Wir sind von der synchronen und diachronen Identität des menschlichen Selbst überzeugt. Angesichts der kulturell fremdartigen Anthropologien, die hier bereits eingeführt wurden und denen zufolge der Mensch aus einer Vielzahl bisweilen Thich Nhat Hanh, Das Diamant-Sutra. Der Diamant, der die Illusion durchschneidet, Berlin 1993, 24. 84 Es gelang ihnen auch nicht, anzugeben, welche dieser Elemente im Falle einer Wiedergeburt nun wiedergeboren würden. Vgl. Barth, Self, 82 f. 83

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sehr flüchtiger Grundelemente besteht, wird es aber nicht mehr verwundern, dass in anderen Regionen der Welt diesbezüglich völlig andere Auffassungen anzutreffen sind. Der Mensch scheint dort mitunter von mehreren, ja einer Vielzahl von Selbsten bewohnt zu werden und bleibt demnach auch Zeit seines Lebens nicht derselbe. Der malische Anthropologe Amadou Hampaté Ba beschreibt beispielsweise, dass das Volk der Bambara ebenso wie das Volk der Peul für die Person jeweils zwei Termini hat: Die (Behälter-)Person (Maa bzw. Neddo; la Personne-réceptacle), d. h. das körperliche Individuum, das als Behälter für die Selbste gilt, und »die Personen der Person« (Maaya bzw. Neddaku; les personnes de la personne), d. h. die vielen unterschiedlichen in der Behälter-Person wohnenden Personen, d. h. Selbste. 85 In diesem Zusammenhang schildert er auch folgende Erinnerung: […] ma propre mère, chaque fois qu’elle désirait me parler, faisait tout d’abord venir ma femme ou ma soeur et leur disait: »J’ai le désir de parler à mon fils Amadou, mais je voudrais, auparavant, savoir lequel des Amadou qui l’habitent est là en ce moment.« 86

Es ist für uns im Augenblick unerheblich und außerdem nicht entscheidbar, ob nicht auch die Bambare und Peul, obwohl sie den Menschen als eine Pluralität von Selbsten denken, sich in Wirklichkeit doch irgendwie als eine Einheit fühlen (müssen), zumal sie ja zumindest in der Behälter-Person offenbar doch eine Art einheitsstiftendes Prinzip zu kennen scheinen. Doch selbst wenn sie sich tatsächlich als ein einheitliches Selbst fühlen würden, bleibt, dass sie sich offenbar nicht als ein solches imaginieren und dass sie auch ihre sozialen Praktiken auf eine Pluralität von Selbsten eingerichtet haben; darauf kommt es im Augenblick an. Festzuhalten ist daher, dass es offenbar Menschenbilder gibt und diese auch lebensweltlich-praktisch umgesetzt werden, in denen das menschliche Selbst nicht als eine stabile, dauerhafte Einheit gedacht wird, sondern als ein mehr oder weniger Vgl. Hampaté Ba, Amadou, Aspects de la civilisation africaine, Paris 1972, Kap. 1. Quelle: http://www.webpulaaku.net/defte/ahb/aspects/personne.html [15. 12. 2014]; ders., La notion de personne en afrique noire, in: Bastide/Dieterlen, La Notion de personne en afrique noire, 181–192. 86 Hampaté Ba, La notion de personne, 182. »[…] jedesmal, wenn meine Mutter mit mir sprechen wollte, ließ sie zuerst meine Frau oder meine Schwester kommen und sagte zu ihnen: ›Ich habe den Wunsch, mit meinem Sohn Amadou zu sprechen, aber vorher möchte ich wissen, welcher der Amadous, die in ihm wohnen, im Augenblick da ist.‹« (Übersetzung nach Descola, Natur und Kultur, 331.) 85

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loses Konglomerat instabiler, flüchtiger Elemente; ein Konglomerat, in dem das eine Selbst mitunter den Platz frei macht für deren viele. (d) Die Überzeugungen über das Selbst beziehen sich nicht nur auf dessen diachrone und synchrone Einheit, sondern auch auf dessen »Dichte« bzw. Durch- oder Undurchlässigkeit. Was damit gemeint ist, wird an einer Unterscheidung klar, die Charles Taylor in seinem monumentalen Werk A Secular Age einführt: die Unterscheidung zwischen einem gepufferten und einem porösen Selbst. 87 Wir im Westen sind heute nicht nur der Überzeugung, dass wir je ein Selbst sind, das sich im Laufe des Lebens zwar verändert, aber untergründig doch dasselbe bleibt, sondern auch, dass dieses Selbst letztlich unberührbar ist. Unser Selbst ist eine Monade, die klare Grenzen zur Außenwelt und den in ihr vorkommenden anderen monadischen Selbsten aufweist. Wir verstehen uns selbst in unserem Kern als etwas Kompaktes, Undurchdringliches, von allem Abgeschiedenes, zu dem allein wir den Schlüssel haben und das daher nur uns selbst zugänglich ist. In uns selbst tragen wir einen abgeschotteten Raum, der nur uns gehört und in dem wir Herren unserer selbst sind. 88 Und weil wir uns selbst so verstehen und auch so anfühlen, gehen wir davon aus, dass dies bei allen Menschen so sei; wir schreiben allen Menschen ein gepuffertes Selbst zu. Anders, so Taylor, war es in früheren Zeiten und – so muss man ergänzen – war und ist es in vielen anderen Kulturen. Dort wird das Selbst als ein durchlässiges, poröses imaginiert, als eines, das von Teufeln, Dämonen, anderen Seelen, geheimnisvollen Kräften, kosmischen Mächten usw. in Besitz genommen werden kann. Mehr noch, das vormoderne Selbst ist ein Selbst, das nicht von der Welt abgeschieden, sondern im Gegenteil der Welt völlig ausgesetzt ist; es ist ein Selbst, durch das die Welt hindurchgeht. Das, was in mir geschieht – die Emotionen, die mir hochsteigen, die Gedanken, die mir durch den Kopf jagen – sind nicht meine inneren Reaktionen auf das, was in einer von mir streng geschiedenen Außenwelt geschieht – so würden wir es heute im Westen deuten –, sondern sind die unmittelVgl. Taylor, Secular Age, 29–41, v. a. 37 f. Im beliebten deutschen Volkslied »Die Gedanken sind frei« hat diese Vorstellung einen künstlerischen Ausdruck gefunden; vgl. Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich, Unsere volkstümlichen Lieder, hg. v. Karl Hermann Prahl, Leipzig 41900, 54 f.; zum historischen Kontext des Liedes vgl. Emmrich, Brigitte, Muth, Muth! Franken … Die kursächsische Liedverbotsliste von 1802. Ein Beitrag zu den Liedverboten nach der Französischen Revolution, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 21 (1978), 77–107.

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baren Wirkungen dieser Außenwelt, die mich durchdringt und in mir wirkt. Taylor verdeutlicht diese Differenz am Beispiel der Melancholie, die heute als subjektive Reaktion auf bestimmte körperliche Prozesse gilt, während sie ehemals als unmittelbare Wirkung einer eigenen Realität, der schwarzen Galle, galt: Modern Westerners have a clear boundary between mind and world, even mind and body. Moral and other meanings are »in the mind.« They cannot reside outside, and thus the boundary is firm. But formerly it was not so. Let us take a well-known example of influence inhering in an inanimate substance, as this was understood in earlier times. Consider melancholy: black bile was not the cause of melancholy, it embodied, it was melancholy. The emotional life was porous here; it didn’t simply exist in an inner, mental space. Our vulnerability to the evil, the inwardly destructive, extended to more than just spirits that are malevolent. It went beyond them to things that have no wills, but are nevertheless redolent with the evil meanings. See the contrast. A modern is feeling depressed, melancholy. He is told: it’s just your body chemistry, you’re hungry, or there is a hormone malfunction, or whatever. Straightaway, he feels relieved. He can take a distance from this feeling, which is ipso facto declared not justified. Things don’t really have this meaning; it just feels this way, which is the result of a causal action utterly unrelated to the meanings of things. This step of disengagement depends on our modern mind/body distinction, and the relegation of the physical to being »just« a contingent cause of the psychic. But a pre-modern may not be helped by learning that his mood comes from black bile, because this doesn’t permit a distancing. Black bile is melancholy. Now he just knows that he’s in the grips of the real thing. 89

Während das Selbst also das eine Mal als eine klar abgegrenzte innere Entität imaginiert wird, die eine Distanznahme gestattet und so eine gewisse Unabhängigkeit garantiert, ist es das andere Mal ein Spielball äußerer Mächte, der mit den Kräften, denen er ausgeliefert ist, tendenziell verschmilzt. Menschenbilder, so lässt sich dieser mit Taylors Darstellung ausgeschmückte Punkt zusammenfassen, bergen Überzeugungen über die »Dichte« sowie die Durch- bzw. Undurchlässigkeit des menschlichen Selbst in sich. (e) In Menschenbildern stecken in Bezug auf das Selbst des Weiteren Überzeugungen zu dessen Lokalisierung. Wir im Westen gehen heute ganz selbstverständlich davon aus, dass unser Selbst – unsere

Taylor, Charles, A Secular Age: Buffered and Porous Selves, Quelle: http://blogs. ssrc.org/tif/2008/09/02/buffered-and-porous-selves [10. 2. 2015]; vgl. ders., Secular Age, 37.

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Gedanken, Gefühle usw., kurzum, all das, was uns im Kern ausmacht – in unserem Körper ist. Wir lokalisieren unser Selbst bzw. den Geist als das Medium dieses Selbst in der Regel in der Brust oder im Kopf. Andere Völker sind hier andere Wege gegangen. Ihnen gemeinsam ist, wie Descola eine Reihe an einschlägigen Studien zusammenfasst, dass sie sich »[…] nicht vorstellen, daß der Körper eine absolute Grenze der Person bilden kann, da diese in vielfältige konstitutive Einheiten zerfällt, von denen ein Teil in menschlichen oder nichtmenschlichen Elementen ihrer Umgebung verteilt ist oder von ihnen bestimmt wird.« 90 Paradigmatisch zeigt sich dies an manchen totemistischen Völkern, die glauben, dass ein Teil des menschlichen Selbst außerhalb des Körper in dem Totem gegeben ist, handle es sich dabei nun um ein Tier, einen Gegenstand oder einen heiligen Ort. So gehen manche Völker davon aus, dass jeder Mensch einen nichtmenschlichen Doppelgänger hat, ein tierisches oder pflanzliches alter ego, mit dem ihn eine durch ein metaphysisches Band gestiftete Schicksalsgemeinschaft verbindet: Denn die Schicksalsgemeinschaft, die sie [den Menschen und seinen Doppelgänger] unabhängig von ihrem jeweiligen Willen vereint, beruht auf der Tatsache, daß von Geburt an ein Teil des Menschen […] in seinem tierischen Alter ego wohnt, um bis zum Tod dort zu bleiben. 91

Die Aborigines, bei denen der Totemismus vielleicht seine stärkste Ausprägung gefunden hat, gehen überhaupt davon aus, dass das menschliche Individuum nur ein Aspekt der wesentlich umfassenderen Identität eines bestimmten Wesens der Traumzeit ist, d. h. jener metaphysischen Wirklichkeit, die die Welt umfasst, strukturiert und gleichzeitig beständig schöpferisch durchdringt. 92 Die Wesen der Traumzeit manifestieren sich wiederum nicht nur in menschlichen Individuen, sondern insbesondere auch in Landschaften und Wegen, in Pflanzen und Tieren. Gemeinsam bilden diese menschlichen und nicht-menschlichen Erscheinungsformen ein durch ein inneres Band verbundenes totemistisches Kollektiv. Die Identifikation mit dem ToDescola, Natur und Kultur, 182 f. Descola bezieht sich auf die Bände von Lambek, Michael/Strathern, Andrew (Hg.), Bodies and Persons. Comparative Perspectives from Africa and Melanesia, Cambridge 1998; Godelier, Maurice/Panoff, Michel (Hg.), La production du corps. Approches anthropologiques et historiques, Amsterdam 1998. 91 Descola, Natur und Kultur, 321. Descola bezieht sich auf López Austin, Alfredo, The Human Body and Ideology. Concepts of the Ancient Nahuas, Salt Lake City 1988. 92 Vgl. dazu Descola, Natur und Kultur, 426 ff. 90

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tem geht dabei in der Regel sehr weit: »The totem of any man is regarded«, so halten William Spencer und Francis Gillen für die Aranda-Aborigines fest, »as the same thing as himself.« 93 Max Scheler greift in seiner Analyse der Formen des Mitgefühls auf ähnliche Beobachtungen, die der Ethnologe Karl von den Steinen bei den Bororo in Brasilien gemacht hat, zurück: Die Boroso [sic] geben […] zu verstehen, daß sie wirklich identisch mit den roten Papageien seien (Araras) und je ein Glied des Totems mit je einem roten Papagei. Nicht etwa nur sind die Schicksale (Geburt, Krankheit, Tod) des Totemisten mit seinem Totemtier geheimnisvoll verknüpft – diese Verknüpfung ist vielmehr nur eine Folge wahrhafter Identität. Selbst mit (objektiv) totem Material, z. B. mit bestimmten Steinen […] gibt es dieses Identifizieren. Auch die strenge Identifikation des Menschen mit seinem Ahnen gehört hierher: er ist nicht nur seinem Ahnen ähnlich oder wird von ihm gelenkt und beherrscht, sonder er ist als jetzt und hier Lebender zugleich einer seiner Ahnen. 94

In all diesen Fällen, und darauf kommt es hier im Augenblick an, wird das Selbst nicht im eigenen Körper, sondern zumindest zum Teil außerhalb von diesem verortet, ja das Selbst kann zu einem Fraktal einer größeren, umfassenderen Identität werden. (f) Der Umstand, dass das Selbst in manchen Völkern als durchlässig konzipiert wird, und der Umstand, dass das individuelle Selbst in manchen Völkern als ein Splitter einer größeren Einheit gedacht wird, verweist auf den sechsten Aspekt, den Menschenbildüberzeugungen hinsichtlich des Selbst abdecken. Dieser Aspekt steht in enger Verbindung mit den Überzeugungen über menschliche Individualität und betrifft die Frage, ob das menschliche Selbst als etwas Isoliertes, Individuelles oder ob es als ein Teil eines größeren Ganzen vorgestellt (und erfahren) wird. In individualistischen Kulturen gilt das Selbst als eine einzelne, unabhängige, monadenartige Größe, in andern – kollektivistischen – Kulturen wird das Selbst hingegen als etwas begriffen und erfahren, das in tiefen Abhängigkeitsbeziehungen zu anderen Menschen, aber auch zu nicht-menschlichen Entitäten steht. Hazel Markus und Shinobu Kitayama haben in diesem Sinne etwa Spencer, William/Gillen, Francis, The Native Tribes of Central Australia, London 1899, 202. 94 Scheler, Max, Wesen und Formen der Sympathie, Gesammelte Werke, Bd. 7, Bern/ München 1973, 30; vgl. Steinen, Karl von den, Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens, Berlin 21897, 306 ff., 397 ff.; vgl. dazu ferner Smith, Jonathan, I am a Parrot (Red), in: History of Religions 11/4 (1972), 391–413. 93

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die im Westen vorherrschende Auffassung eines unabhängigen Selbst (independent self) der in vielen nicht-westlichen Kulturen üblichen Auffassung eines abhängigen Selbst (interdependent self) gegenübergestellt: In many Western cultures, there is a faith in the inherent separateness of distinct persons. The normative imperative of this culture is to become independent from others and to discover and express one’s unique attributes. […] Achieving the cultural goal of independence requires constructing oneself as an individual whose behavior is organized and made meaningful primarily by reference to one’s own internal repertoire of thoughts, feelings, and action, rather than by reference to the thoughts, feelings, and actions of others. 95 In contrast, many non-Western cultures insist […] on the fundamental connectedness of human beings to each other. A normative imperative of these cultures is to maintain this interdepencende among individuals […] Experiencing interdependence entails seeing oneself as part of an encompassing social relationship and recognizing that one’s behavior is determined, contingent on, and, to a large extent organized by what the actor perceives to be the thoughts, feelings, and actions of others in the relationship. […] Within such a construal, the self becomes most meaningful and complete when it is cast in the appropriate social relationship. According to Lebra (1976) the Japanese are most fully human in the context of others. 96

Dass die Unterscheidung zwischen independent und interdependent selfs sehr grob ist, und dass Markus und Kitayama den weitreichenden Anspruch aufstellen, damit Typen realer Selbste und nicht bloß Typen von Überzeugungen über das Selbst zu erfassen, muss uns hier nicht weiter beschäftigen. Die Unterscheidung genügt, um zu illustrieren, dass es sehr unterschiedliche Überzeugungen über den Zusammenhang zwischen Selbst und Umwelt gibt – Überzeugungen, die in jedem Menschenbild eine wichtige Rolle spielen. Markus/Kitayama, Culture and the Self, 226. Für die interkulturelle Psychologie haben Triandis u. a. die auf der Kulturebene übliche Unterscheidung zwischen Individualismus/Kollektivismus aufgegriffen und auf die Individualebene übertragen. An der Gesellschaft orientierte Personen nennen sie allozentristisch, an sich selbst und ihrer Individualität orientierte Personen bezeichnen sie als idiozentrisch; vgl. Triandis, Harry u. a., Allocentric vs. Idiocentric Tendencies: Convergent and Discriminant Validation, in: Journal of Research in Personality 19 (1985), 395–415; Triandis, Harry, Individualism-Collectivism and Personality, in: Journal of Personality 69 (2001), 907– 924. 96 Markus/Kitayama. Culture and the Self, 227. Zum Selbst in Japan vgl. ferner Rosenberger, Nancy (Hg.), Japanese Sense of Self, Cambridge u. a. 1994. 95

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

Menschenbilder umfassen – so wollen wir diesen Typus von Überzeugungen zusammenfassend beschreiben – Überzeugungen über das menschliche Selbst. Diese Überzeugungen betreffen die Frage, ob es überhaupt ein Selbst gibt, und die Beschaffenheit dieses Selbst, d. h. seine ontologische Struktur, seine Einheitlichkeit, seine »Dichte«, seine Lokalisierung und seine Unabhängigkeit von der bzw. Verwobenheit in die Welt. Dass es sich hierbei um wichtige Überzeugungen handelt, ist offensichtlich. Lebensweltlich-praktisch kann es wohl kaum wichtigere und einflussreichere Überzeugungen geben als diejenigen, wie ich mich selbst in meinem Kern zu verstehen habe. Auch subjektiv sind diese Überzeugungen von großer Bedeutung, geht es hier doch um dasjenige, was der Selbstwahrnehmung nach meinen und den Kern jedes Menschen ausmacht. Und systematisch sind diese Überzeugungen von ebensolcher Relevanz. Denn die Frage, wie der Kern des Menschen gefasst wird, hat unweigerlich Auswirkungen auf das gesamte Überzeugungsgeflecht eines Menschenbildes.

7.

Überzeugungen über die Freiheit

Neben Überzeugungen darüber, ob der Mensch ein Selbst hat, und darüber, wie dieses Selbst beschaffen ist, beinhalten Menschenbilder Überzeugungen über den Entscheidungsraum, der diesem Selbst zukommt: Menschenbilder enthalten Überzeugungen über die Freiheit des Menschen. 97 Diese Überzeugungen sind zweifellos von zentraler Bedeutung. Sie sind lebensweltlich-praktisch fundamental, da sie jedem Moralsystem und jeglicher Praxis der Verantwortungszuschreibung zugrunde liegen, und sie sind systematisch fundamental, da von ihnen wesentlich die innere Architektur eines Menschenbildes bestimmt ist; die Art und Weise, wie Freiheit konzipiert ist, hat, da sie in der Regel den zentralen Punkt des Selbst betrifft, Einfluss auf das Ganze eines Menschenbildes. Für moderne westliche Menschenbilder Zu den sogenannten Volks-Intuitionen über Freiheit vgl. Nahmias, Eddy u. a., Surveying Freedom: Folk Intuitions about free will and moral responsibility, in: Philosophical Psychology 18/5 (2005), 561–584; Nichols, Shaun, Folk intuitions on free will, in: Journal of Cognition and Culture 6 (2006), 57–86; vgl. ferner auch Deery, Oisín/ Davis, Taylor/Carey, Jasmine, The Free-Will Intuitions Scale and the Question of Natural Compatibilism, in: Philosophical Psychology (2014), Quelle: http://dx.doi. org/10.1080/09515089.2014.893868 [16. 12. 2014] und die dort angegebene Literatur.

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Funktionale Dimension

gilt zudem, dass die Überzeugungen über die Freiheit des Menschen einen hohen subjektiven Stellenwert haben: Freiheit gilt hier schließlich als einer der Grundwerte schlechthin. Unter Freiheit ist dabei Willensfreiheit zu verstehen, d. h. Menschenbilder beinhalten Überzeugungen darüber, ob und in welchem Maße der Mensch grundsätzlich über das Vermögen verfügt, frei seinen Willen zu bestimmen, frei zu entscheiden und dadurch sein Verhalten bewusst selbst steuern zu können. Diese Überzeugungen sind mithin immer auch Überzeugungen darüber, ob und in welchem Maße der Mensch prinzipiell für sein Verhalten moralisch verantwortlich ist. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Überzeugungen über das Selbst als derjenigen Instanz, die frei ist und die Kontrolle ausübt. Es hängt demnach auch stark von der Konzeption des Selbst ab, wie die Freiheit des Menschen gedacht wird. Zu berücksichtigen ist hier freilich, dass manche Menschenbilder gerade in diesem Punkt – zumindest aus einer westlichen Perspektive – zum Teil schwer nachvollziehbar oder sogar inkonsistent erscheinen. So ist z. B. auch der Buddhismus der Auffassung, dass der Mensch frei und für seine Handlungen moralisch verantwortlich ist, und dies, obwohl das menschliche Selbst im Buddhismus als eine Illusion gilt und daher auch die Vorstellung eines Akteurs verworfen wird. 98 In Bezug auf die Willensfreiheit bieten Menschenbilder zwei Arten von Überzeugungen: (a) Überzeugungen darüber, ob der Mensch überhaupt über Willensfreiheit verfügt, und – wenn dies der Fall sein sollte – (b) Überzeugungen darüber, über welchen Freiheitsspielraum der Mensch prinzipiell verfügen kann. (a) Menschenbilder umfassen erstens Überzeugungen darüber, ob der Mensch überhaupt frei ist oder nicht. Da es in allen Kulturen moralische und religiöse Vorstellungen darüber gibt, was richtiges und was falsches Verhalten ist, liegt es nahe, davon auszugehen, dass dem Menschen auch in allen Kulturen zumindest ein gewisser Freiheitsspielraum beigemessen wird. Und tatsächlich scheint die Annahme der Freiheit des Menschen ein pankulturelles Universal zu sein. 99 Es hat zwar zu allen Zeiten Menschenbilder gegeben, die den Vgl. Gier, Nicholas/Kjellberg, Paul, Buddhism and the Freedom of the Will: Pali and Mahayanist Responses, in: Campbell, Joseph/O’Rourke, Michael/Shier, David (Hg.), Freedom and Determinism, Cambridge (MA)/London 2004, 277–304. 99 Vgl. z. B. Sarkissian, Hagop u. a., Is Belief in Free Will a Cultural Universal?, in: Mind & Language 25/3 (2010), 346–358, die davon ausgehen, dass der Glaube an die Willensfreiheit universell ist. 98

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

Menschen nicht für frei, sondern für streng determiniert gehalten haben. Es sei hier nur an gewisse Varianten des christlichen Prädestinationismus oder an Formen des buddhistischen, daoistischen und hinduistischen Schicksalglaubens erinnert. Fraglich ist bei diesen Menschenbildern allerdings, ob sie je lebensweltlich umgesetzt wurden oder ob sie – wie manch postmoderne und neurowissenschaftliche Theorien, denen zufolge Willensfreiheit eine Illusion ist – nur theoretische Spekulation geblieben sind. Zu berücksichtigen ist zudem, dass lebensweltliche Menschenbilder gerade in diesem Zusammenhang häufig Unschärfen zeigen. So ist sich die Forschung insbesondere uneinig darüber, ob lebensweltliche Vorstellungen von Freiheit nun kompatibilistisch oder inkompatibilistisch sind, d. h. mit der Idee, dass Menschen – durch was auch immer – determiniert sind, konform gehen können oder nicht. 100 (b) Diejenigen Menschenbilder, denen zufolge der Mensch grundsätzlich willensfrei ist, beinhalten jedenfalls zweitens Überzeugungen darüber, in welchem Maße der Mensch frei ist. Besitzt der Mensch lediglich die Fähigkeit, situational zwischen zwei oder mehreren einfachen Handlungsoptionen zu wählen, oder besitzt er auch die Fähigkeit, sich selbst – etwa durch Selbsterziehung – zu formen, oder besitzt er darüber hinaus gar die Fähigkeit, über die Grundsätze, nach denen er sich und sein Leben gestalten will, zu entscheiden? Die Überzeugungen über das Maß der Freiheit hängen dabei unmittelbar mit den Überzeugungen über andere verhaltens- und lebensbestimmende Faktoren wie etwa das Schicksal oder den Einfluss des Unbewussten zusammen. Es handelt sich hierbei gleichsam um kommunizierende Gefäße: Je größer die Rolle ist, die dem freien Selbst bei der Bestimmung seines Verhaltens zugestanden wird, desto geringer muss die Rolle der anderen verhaltensbestimmenden Faktoren ausfallen, und als je größer die Rolle dieser anderen Faktoren angesehen wird, desto kleiner muss der Einfluss des freien Selbst bemessen werden. In Bezug auf diese Fragen gibt es bekanntlich ein breites Spektrum an Meinungen: Auf der einen Seite stehen hauptsächlich westlich-individualistische Menschenbilder, unter denen beispielsweise das existenzialistische sicherlich als eines der radikalsten hervorsticht, Vgl. dazu Deery/Davis/Carey, Free-Will Intuitions Scale; ferner Kuverà, Consuelo, Experimental Philosophy: Testing Folk Intuitions about Free Will and Moral Responsibility, in: Reti, Saperi, Linguaggi 4/1 (2012), 72–76.

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Funktionale Dimension

die von einem sehr großen Freiheits- und Verantwortungsraum des Menschen ausgehen; dem Individuum wird die Fähigkeit zugesprochen, sich selbst in sehr hohem Maße zu bestimmen. Der Mensch wird hier als autonomes Wesen gedacht, das Herr über sich selbst ist. In diesem Falle gilt das freie Selbst nicht mehr nur als ein verhaltensbestimmender Faktor unter vielen, sondern in seiner Dominanz als der wichtigste verhaltensbestimmende Faktor. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Menschenbilder, die davon ausgehen, dass dem Menschen nur ein sehr kleiner Raum der Freiheit zur Verfügung steht. Sie sprechen dem Menschen zwar eine gewisse Wahlfreiheit, aber keine Autonomie zu. Insbesondere kollektivistische Menschenbilder tendieren dazu, das menschliche Verhalten eher als Ergebnis äußerer Umstände denn als Folge freier Entscheidungen eines Individuums zu betrachten. 101 Als besonders klein wird der Freiheitsspielraum freilich dort konzipiert, wo der individuelle Mensch nur als Manifestation eines größeren Ganzen gedacht wird. Bei den Aborigines beispielsweise, denen zufolge jedes menschliche Individuum als Splitter einer umfassenderen Existenzform vorgestellt wird, ist eben dies der Fall. Hier wird auch der enge Zusammenhang zwischen Selbstkonzeption und Freiheitsvorstellung deutlich: Das fraktale, durchlässige, mit vielen anderen Entitäten verwobene Selbst der Aborigines kann nur ein rudimentär freies sein. Dies wir klar, […] wenn wir an den geringen Spielraum an Unabhängigkeit der Aborigines gegenüber den diversen totemistischen Entitäten denken, die sich ihres Körpers bedienen, um fortzudauern. Erinnern wir daran, daß die Filiationstotems, die Empfängnistotems, die Kinderseelen, sogar die totemistischen Stätten die Menschen instrumentalisieren, indem sie ihre Dynamik und ihre Vitalität nutzen, um die große segmentierte Anordnung Generation für Generation zu reproduzieren, deren Schöpfer, Garanten oder konkrete Ausdrucksformen diese stets wirkenden Kräfte sind. Zwar werden die Menschen deshalb keine von bauchrednerischen Totems manipulierte Marionetten, doch scheint ihre Subjektivität zum großen Teil von den in den unzähligen realen und potentiellen Objekten verkörperten Eigenschaften herzurühren, die von den Wesen der Traumzeit in der Welt hinterlegt wurden, als sie ihr Form und Sinn verliehen. 102 Vgl. hierzu Morris, Michael/Menon, Tanya/Ames, Daniel, Culturally Conferred Conceptions of Agency: A Key to Social Perception of Persons, Groups, and Other Actors, in: Personality and Social Psychology Review 5/2 (2001), 169–182, hier 173 f. 102 Vgl. Descola, Kultur und Natur, 427 f.; Descola bezieht sich auf die Studie von 101

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

8.

Überzeugungen über das menschliche Verhalten

Überzeugungen über den freien Willen des Menschen sind Überzeugungen darüber, dass der Mensch bewusst und kontrolliert sein Verhalten steuern kann. Nun weisen Menschenbilder darüber hinaus eine ganze Reihe an weiteren Überzeugungen über das menschliche Verhalten auf. Dazu zählen freilich auch Überzeugungen über Trivialitäten wie z. B. dass Menschen manchmal schlafen, dass sie sich ärgern können, dass sie Fehler machen, dass sie überlegen, bevor sie handeln, dass Intentionen und Wünsche in ihre Entscheidungen einfließen usw. 103 Menschenbilder enthalten aber auch – und dies ist der Grund, weswegen diese Überzeugungen in die Liste der wichtigen Überzeugungen aufgenommen werden – Überzeugungen über grundlegende Aspekte des menschlichen Verhaltens, d. h. Überzeugungen, die vor allem in der angelsächsischen Literatur gerne als Überzeugungen über die »menschliche Natur« bezeichnet werden. 104 Dabei handelt es sich zum ersten (a) um Überzeugungen darüber, inwiefern menschliches Verhalten angeboren oder erworben und wie formbar es ist, zum zweiten (b) um Überzeugungen über zentrale verhaltensbestimmende Faktoren und zum dritten (c) um Überzeugungen über fundamentale Verhaltensmotivationen und -dispositionen. (a) Menschenbilder bieten – in der Regel sehr unscharfe – Überzeugungen darüber, ob das menschliche Verhalten angeboren oder ob es erworben ist, und darüber, ob das menschliche Verhalten veränderbar bzw. formbar ist oder nicht. Die Überzeugungen überschneiden Munn, Nancy, The Transformation of Subjects into Objects in Walbiri and Pitjantjatjara Myth, in: Berndt, Ronald (Hg.), Australian Aboriginal Anthropology: Modern Studies in the Social Anthropology of the Australian Aborigines, Nedlands 1970, 141–163. 103 Zu dem weiten Feld der lebensweltlichen Überzeugungen über das menschliche Verhalten vgl. Malle, Bertram, How the Mind Explains Behaviour. Folk Explanations, Meaning, and Social Interaction, Cambridge (MA)/London 2006; Churchland, Paul/ Haldane, John, Folk Psychology and the Explanation of Human Behaviour, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volumes 62 (1988), 209–254. Zur sogenannten »folk psychology« und ihren Problemen vgl. die Übersicht von Ravenscroft, Ian, Folk Psychology as a Theory, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2010 Edition), hg. v. Edward Zalta, Quelle: http://plato.stanford.edu/archives/ fall2010/entries/folkpsych-theory [16. 12. 2014]. 104 Vor allem in soziobiologischer Literatur über die menschliche Natur wird diese auf das menschliche Verhalten reduziert, vgl. etwa Wilson, Edward, On Human Nature, Cambridge (MA)/London 2004; ferner die Zeitschrift: Human Nature. An Interdisciplinary Biosocial Perspective.

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Funktionale Dimension

sich dabei mit den oben behandelten Überzeugungen über menschliche Individualität und der Frage, ob und inwieweit qualitative Individualität, von der das Verhalten ein Aspekt ist, formbar ist. Die meisten Menschenbilder werden in dieser Frage eine vage Mittelposition einnehmen und das menschliche Verhalten zum Teil für angeboren, zum Teil für erworben, zum Teil für nicht veränderbar und zum Teil für veränderbar halten. Manche Menschenbilder schlagen sich allerdings eher auf eine Seite. Soziobiologisch geprägte Menschenbilder gehen beispielsweise davon aus, dass ein Großteil des menschlichen Verhaltens genetisch verankert und daher auch nur schwer veränderbar ist. Auch die Nationalsozialisten waren mit ihrem biologistischrassistischen Menschenbild der Ansicht, dass ein Großteil der Verhaltensweisen in der biologischen Natur des Menschen festgeschrieben und daher nicht formbar ist. Andere Menschenbilder gehen hingegen davon aus, dass in der biologischen Natur des Menschen nur sehr wenig angelegt ist, dass das Gros der Verhaltensweisen durch Sozialisation erworben ist und dass das Verhalten des Menschen daher weitgehend durch Erziehung geformt werden kann. So geht etwa das maoistische Menschenbild Chinas überhaupt davon aus, dass alles, was den Menschen zum Menschen macht – und dies ist insbesondere auch sein Verhalten – auf sozialen Einfluss zurückgeht. Das menschliche Verhalten wird von daher auch als extrem formbar betrachtet. 105 (b) Menschenbilder enthalten immer Überzeugungen darüber, von welchen Faktoren das menschliche Verhalten bestimmt ist. Da diese Überzeugungen sehr vielfältig sind, hat es wenig Sinn, sie hier aufzählen zu wollen. Sie reichen von der in vielen Völkern und Kulturen anzutreffenden Überzeugung, dass das menschliche Verhalten bzw. überhaupt das menschliche Leben von einem Schicksal bestimmt ist, über Vorstellungen von auch im Menschen wirkenden kosmischen Kräften und Mächten wie etwa dem Qi und dem Yin und Yang in China, und Vorstellungen über den Einfluss von Göttern, Geistern und anderen geheimnisvollen Kräften bis hin zu Vorstellungen über den Einfluss der Gesellschaft, der Gene, der Sexualität und des Unbewussten. Unter diesen mannigfachen Überzeugungen sind die Überzeugungen über dominierende verhaltensbestimmende Faktoren, d. h. über diejenigen Faktoren, denen eine gewichtige Rolle für das Ver105

Vgl. Munro, Concept of Man, 16 ff.

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

halten der Menschen zugesprochen wird, von zentraler Bedeutung. Solche Überzeugungen finden sich nicht in allen Menschenbildern. Während etliche Menschenbilder einfach nur eine Vielzahl von verhaltensbestimmenden Faktoren kennen, von denen keiner als sonderlich dominant gilt, gehen andere Menschenbilder davon aus, dass das Verhalten des Menschen überwiegend oder sogar ausschließlich auf einen Faktor zurückgeführt werden kann. So setzten etwa manche Menschenbilder voraus, dass der Mensch selbst, d. h. der als freies individuelles Selbst gedachte Mensch, der entscheidende verhaltensbestimmende Faktor ist. In diesem Fall wird dem Menschen ein hohes Maß an Selbstbestimmung zugesprochen, sein Verhalten wird überwiegend auf seine freien Entscheidungen zurückgeführt. Andere Menschenbilder erklären hingegen das im Voraus festgelegte, unausweichliche Schicksal zu dem Faktor, der das menschliche Verhalten und Leben fundamental bestimmt. Als prominente Beispiele wären hier manche Varianten des christlichen Prädestinationsglaubens, des muslimischen Glaubens an qadar und des hinduistischen Glaubens an das karma zu nennen. 106 Marxistische Menschenbilder wiederum erklären die gesellschaftlichen Verhältnisse zu dem einen dominierenden Faktor, während soziobiologische Menschenbilder das menschliche Verhalten auf genetisch verankerte, im evolutionären Kampf erworbene Verhaltensmuster zurückführen. Psychoanalytisch inspirierte Menschenbilder sehen dagegen im Unbewussten im Allgemeinen und in der Sexualität sowie in verdrängten Kindheitserfahrungen im Besonderen die entscheidenden verhaltensbestimmenden Faktoren. (c) Ähnlich wie bei den Überzeugungen über verhaltensbestimmende Faktoren verhält es sich in Bezug auf die Überzeugungen über grundlegende Verhaltensdispositionen und -motivationen. Während wahrscheinlich die Mehrzahl der Menschenbilder eine Vielzahl an sehr unterschiedlichen Verhaltensdispositionen und -motivationen kennt, unter denen keine besonders hervorragt, beinhalten manche Vgl. hierzu Räisänen, Heikki, Doppelte Prädestination im Koran und im Neuen Testament?, in: Schmid, Hansjörg/Renz, Andreas/Sperber, Jutta (Hg.), Heil in Christentum und Islam. Erlösung oder Rechtleitung?, Stuttgart 2004, 139–160; Ringgren, Helmer, Studies in Arabian Fatalism, Wiesbaden 1955; Schoen, Ulrich, Gottes Allmacht und die Freiheit des Menschen. Gemeinsames Problem von Islam und Christentum, erweiterte Neuauflage, Münster/Hamburg/London 2003; Krishan, Yuvraj, The Doctrine of Karma: Its Origin and Development in Brahmanical, Buddhist, and Jaina Traditions, Delhi 1997.

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Funktionale Dimension

Menschenbilder die Überzeugung, dass das menschliche Verhalten von einem zentralen Motiv gesteuert ist. Ein prominentes Beispiel für ein solches Menschenbild bietet die Auffassung, der Mensch sei ein essentiell egoistisches, nur auf seinen eigenen Nutzen bedachtes Wesen. Von den traditionellen westlichen, auch christlichen Auffassungen über die Macht der Selbstliebe zehrend, 107 von soziobiologischen Theorien untermauert und vor allem durch die von den Wirtschaftswissenschaften propagierte Abstraktion des homo oeconomicus befördert, hat sich dieses Bild des Menschen als eines egoistischen, rationalen Nutzenmaximierers mancherorts tief in die lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungssysteme eingeflochten. 108 Insbesondere in den libertären und konservativen Kreisen der USA dürfte diese Auffassung eine weitverbreitete sein. 109 Nicht zu trennen von den Überzeugungen über menschliche Verhaltensdispositionen und -motivationen sind die Überzeugungen über die Frage, ob der Mensch seiner Natur nach gut oder schlecht ist. Während sicherlich alle Menschenbilder den Menschen sowohl für gut als auch für schlecht halten, 110 gehen die Ansichten darüber, ob er seinem Wesen oder seiner Natur nach gut oder schlecht ist, auseinander. Während beispielsweise das christliche Menschenbild mit seiner Erbsündenlehre daran festhält, dass dem Menschen seit dem Sündenfall eine angeborene Tendenz zum Bösen – die concupiscentia – innewohnt, sind etwa manche aufklärerische, romantische und marxistische Menschenbilder der Ansicht, dass die Tendenz zum Bösen Vgl. Hirschman, Albert, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt am Main 1987, 17 ff. 108 Zum Konzept des homo oeconomicus vgl. Kirchgässner, Homo oeconomicus; ferner Zichy, Der homo oeconomicus und die Moral. Die Ansicht, dass das Bild des Menschen als egoistischen Nutzenmaximierers nicht nur mancherorts, sondern breit und tief in die Lebenswelt kapitalistisch organisierter Gesellschaften eingesickert ist und sie fundamental durchwirkt, vertritt etwa auch Schirrmacher, Frank, Ego. Spiel des Lebens, München 2013. 109 So gilt etwa Ayn Rand, die in dem von ihr begründeten »Objektivismus« einen psychologischen, einen rationalen und einen moralischen Egoismus – allerdings in einem nicht-hedonistischen Sinne – vertritt, als eine der einflussreichsten politischen Autorinnen der USA des 20. Jahrhunderts. Sie ist der Auffassung, dass Menschen (a) im Kern ihres Wesens egoistisch motiviert sind, dass (b) egoistisch zu handeln rational ist, und (c) egoistisches Handeln darüber hinaus moralisch gefordert ist. Zu Ayn Rand vgl. Burns, Jennifer, Goddess of the Market: Ayn Rand and the American Right, New York u. a. 2009. 110 Zu diesen Überzeugungen gibt es eine Reihe an empirischen Untersuchungen; für einen Überblick vgl. Wrightsman, Assumptions about Human Nature. 107

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

keine angeborene, sondern eine durch unglückliche Umstände – der Gesellschaftsverhältnisse, der Erziehung und dergleichen – erworbene Eigenschaft ist; der Mensch gilt hier nämlich als von Natur her eigentlich gut. Die im Menschenbild verankerten Überzeugungen über das menschliche Verhalten umfassen also unter anderem Überzeugungen darüber, inwieweit menschliches Verhalten angeboren oder erworben, formbar oder nicht formbar ist, sie beinhalten Überzeugungen über dominante verhaltensbestimmende Faktoren und Überzeugungen über grundlegende menschliche Motivationen und Dispositionen. In ihrer systematischen Position und ihrer lebensweltlichen Relevanz sind diese Überzeugungen kaum zu überschätzen. Sie stehen mit den Überzeugungen über das Selbst und die Freiheit in engem Zusammenhang und haben große Auswirkung auf die Pädagogik, das Rechts- und Strafsystem und die soziale wie politische Organisation von Gesellschaften.

9.

Überzeugungen über als wichtig angesehene menschliche Fähigkeiten

Zu den Überzeugungen darüber, wie Menschen »funktionieren« zählen nicht nur Überzeugungen über das Selbst, die Freiheit und das Verhalten des Menschen, sondern auch Überzeugungen über die Fähigkeiten des Menschen. Nun hat der Mensch bekanntlich ziemlich viele Fähigkeiten, und daher umfassen Menschenbilder auch unzählbare Überzeugungen über diese Fähigkeiten. Bei den meisten dieser Überzeugungen handelt es sich um triviale Überzeugungen darüber, was der Mensch alles kann, wie etwa darüber, dass er gehen, laufen, sitzen, liegen usw. kann. Unter diesen vielen menschlichen Fähigkeiten zeichnen Menschenbilder allerdings einige als besonders wichtig aus. Und eben diese Überzeugungen sind in die Liste der wichtigen Menschenbildüberzeugungen, die hier zu behandeln sind, aufzunehmen. Wichtig sind diese Überzeugungen nämlich erstens deswegen, weil sich in ihnen die subjektive Bedeutung von bestimmten Fähigkeiten ausdrückt: Eine bestimmte Fähigkeit des Menschen wird von den Trägern eines Menschenbildes für besonders wichtig angesehen. Und zweitens sind diese Überzeugungen deswegen wichtig, weil sie systematisch zentral sind. Denn wenn eine menschliche Fähigkeit als subjektiv bedeutsam angesehen wird, erhält sie in der Regel auch 344 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Funktionale Dimension

einen systematisch zentralen Stellenwert. Warum dies so ist, wird dann klar, wenn man sich vor Augen hält, aus welchen Gründen bestimmte Fähigkeiten als wichtig angesehen werden. Wiewohl die Ansichten darüber, welche der vielen menschlichen Fähigkeiten nun wichtige Fähigkeiten sind, auseinandergehen, gibt es – wie auch empirische Untersuchungen bestätigen – zwei Gründe, warum Fähigkeiten als wichtig angesehen werden: die Fähigkeit gilt als eine, die nur der Mensch hat (a), die Fähigkeit gilt als eine, die die Menschlichkeit des Menschen begründet (b). 111 (a) Als wichtig werden erstens Fähigkeiten angesehen, die den Menschen vom Nicht-Menschlichen und insbesondere vom Tier unterscheiden, d. h. Fähigkeiten, die die menschliche Einzigartigkeit konstituieren. Diese Fähigkeiten spielen natürlich nur für jene Menschenbilder eine Rolle, die von einem scharfen Unterschied zwischen Mensch und Tier ausgehen. Menschenbilder, die eher von einer Kontinuität oder überhaupt von einer fundamentalen Wesensähnlichkeit zwischen Mensch und Nicht-Mensch ausgehen, wie dies beispielsweise in animistischen Kulturen der Fall ist, kennen zwar auch Fähigkeiten, die nur dem Menschen zukommen (wie z. B. die Fähigkeit, mit Feuer umzugehen), diese gelten aber nicht als besonders herausragend. Für Menschenbilder, die von einer scharfen Trennung zwischen Mensch und Nicht-Mensch ausgehen, sind diese spezifisch menschlichen Eigenschaften dagegen fundamental, weil sie den exzeptionellen ontologischen, axiologischen und kratologischen Status des Menschen begründen. Sie hängen von da her engstens mit den oben besprochenen Überzeugungen über die Stellung des Menschen im Kosmos zusammen: die einzigartigen Fähigkeiten des Menschen legitimieren die herausragende Stellung des Menschen im Kosmos. Im Abendland handelte es sich bei dieser wichtigen Fähigkeit traditionell um die Vernunft bzw. die mit der Vernunft assoziierten FähigVgl. dazu Haslam, Dehumanization, 256 ff.; Bain, Paul u. a., Folk Conceptions of Humanness: Beliefs About Distinctive and Core Human Characteristics in Australia, Italy, and China, in: Journal of Cross-cultural Psychology 43/1 (2012), 53–58. In der psychologischen Dehumanisierungs-Forschung hat sich dabei im Anschluss an einen Aufsatz von Jerome Kagan die Unterscheidung zwischen Kriterien der human uniqueness (HU) und Kriterien der human nature (HN), die nicht notwendigerweise miteinander identisch sind, etabliert; vgl. Kagan, Jerome, The Uniquely Human in Human Nature, in: Daedalus 133 (2004), 77–88; Haslam, Dehumanization, 256. Diese Unterscheidung entspricht in etwa der hier gemachten zwischen den Fähigkeiten, die den Menschen vom Nicht-Menschlichen unterscheiden, und den Fähigkeiten, die für die Menschlichkeit des Menschen zentral sind.

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

keiten wie Selbstbewusstsein, Sprachfähigkeit, Freiheit, Moralität usw. (b) Die Fähigkeiten, von denen eben die Rede war, sind Fähigkeiten, denen ein kategorialer Charakter zugesprochen wird: Der Besitz dieser Fähigkeiten ist (unter Umständen auch nur in potentieller Form) notwendig, damit ein Wesen als Mensch gelten kann; aus diesem Grund werden diese Fähigkeiten als wichtig angesehen. Neben diesen Fähigkeiten, die als wichtig gelten, weil sie den Menschen vom Nicht-Menschen unterscheiden, werden Fähigkeiten zweitens deswegen als wichtig betrachtet, weil von ihnen angenommen wird, dass sie für den Menschen als Menschen bedeutsam sind, unabhängig davon, ob auch Tiere oder andere Wesen im Besitz dieser Fähigkeiten sein können. Diese Fähigkeiten gelten als wichtig, weil ihr Besitz und ihre Beherrschung Menschen zu guten Menschen macht. Der Besitz dieser Fähigkeiten ist also nicht notwendig, um überhaupt als Mensch zu gelten, aber er ist notwendig, um als guter, wertvoller Mensch zu gelten. Die Wichtigkeit dieser Eigenschaften ruht mithin darin, dass sie für die Menschlichkeit des Menschen konstitutiv sind, dass sie dem Menschen Würde und Erhabenheit verleihen und die Grundlage für Achtung und Respekt sind. So wird etwa in vielen kriegerischen Volksstämmen – es sei hier stellvertretend nur an das antike Sparta erinnert – die Fähigkeit, Schmerz zu ertragen, sich durchzusetzen und seine Feinde überwinden zu können, als eine der wichtigsten und erhabensten Fähigkeiten des Menschen betrachtet – eine Fähigkeit, die zweifellos auch manchen Tieren nicht abgesprochen werden kann. 112 In anderen Kulturen gilt die Fähigkeit, seine Ehre verteidigen zu können, die Fähigkeit, sich einem größeren Ganzen einzugliedern und sich Autoritäten unterzuordnen, oder die Fähigkeit, sich harmonisch in seine Umwelt einzufügen und sich daran zu beteiligen, die Ordnung des Kosmos aufrechtzuerhalten, als die entscheidende Fähigkeit – wiederum Fähigkeiten, die mitunter auch Tieren zugeschrieben werden. Und in wieder anderen Weltgegenden gilt die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden und sich Mensch und Tier gegenüber solidarisch zu verhalten, als die Fähigkeit, die den Menschen erst menschlich werden lässt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Fähigkeiten liegt also darin, dass die erstere Art als für das Menschsein konstituZu Volk und Kultur der Spartaner vgl. Cartledge, Paul, The Spartans: An Epic History, London 2002.

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Teleologische bzw. normative Dimension

tiv, während die letztere als für die Menschlichkeit bzw. gutes Menschsein konstitutiv angesehen wird. Freilich können die Fähigkeiten, die den Menschen vom Tier unterscheiden, zugleich auch als diejenigen gelten, die die Menschlichkeit des Menschen konstituieren. Beim traditionellen abendländischen Menschenbild ist eben dies der Fall: Die Vernunft gilt hier nicht nur als die Fähigkeit, die den Menschen vom Tier unterscheidet und seinen exzeptionellen Status sichert, sondern die Vernunft gilt zugleich auch als diejenige Fähigkeit, deren Beherrschung einen Menschen erst zu einem wahrhaften Menschen werden lässt. Welche der vielen menschlichen Fähigkeiten nun in den Rang solch wichtiger Fähigkeiten zu heben sind, darüber sind Menschenbilder unterschiedlicher Meinung. Doch unabhängig davon, welche konkreten Fähigkeiten von einem Menschenbild nun als für den Menschen wichtig ausgezeichnet werden – indem diese Fähigkeiten als wichtig gelten, erhalten sie einen normativen Charakter. Die Fähigkeiten sind nicht mehr einfach nur solche, die der Mensch hat, sondern es sind solche, die er haben bzw. ausbilden sollte. Gilt einem Menschenbild zufolge die Fähigkeit, kämpfen zu können, als zentral, dann ist sie zugleich als wünschenswert bestimmt. Dies wiederum wird dazu führen, dass sich diejenigen Menschen, die diesem Menschenbild anhängen, darum bemühen werden, diese Fähigkeit zu erlangen und zu perfektionieren. Analog dazu werden Gesellschaften, deren Menschenbild zufolge die Vernunft die herausragende Fähigkeit des Menschen ist, sich besonders um die Bildung und Kultivierung dieses menschlichen Vermögens bemühen.

Teleologische bzw. normative Dimension Rufen wir uns das bisher Erarbeitete noch einmal ganz kurz in Erinnerung: Menschenbilder geben Antworten auf vier Fragen: auf die Fragen danach, a) wer überhaupt Mensch ist, b) was der Mensch ontologisch ist, c) wie der Mensch funktioniert und d) wozu der Mensch dient bzw. wie der Mensch sein sollte. Diesen vier Fragen entsprechen vier inhaltliche Dimensionen von Menschenbildern: die identifikatorische Dimension, die ontologische Dimension, die funktionale Dimension und die teleologische bzw. normative Dimension. Mit den ersten drei dieser Dimensionen haben wir uns ausführlich beschäftigt, es fehlt uns nur noch deren vierte und letzte, die wir nun in 347 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

Angriff nehmen wollen. Dabei wiederholt sich, was sich bereits gezeigt hat: Die inhaltlichen Dimensionen lassen sich nicht wirklich sauber trennen, identifikatorische, ontologische und funktionale Aspekte tauchen auch in den jeweils anderen Dimensionen auf. Das Bemühen, die normativen Aspekte von Menschenbildern nun als eine eigene inhaltliche Dimension zusammenzufassen, darf daher nicht den Blick dafür verstellen, dass die anderen drei Dimensionen zutiefst von Normativität durchsetzt sind. Ohnehin klar dürfte dies dort geworden sein, wo von axiologischen Aspekten die Rede war, also etwa in dem Abschnitt über die Stellung des Menschen im Kosmos, in dem Abschnitt über intrahumane Differenzen und in dem Abschnitt über die Individualität. Ebenso ist Normativität dort deutlich sichtbar geworden, wo explizit von Werten oder von Verpflichtungen die Rede war, wie zuletzt im Zusammenhang der Überzeugungen über wichtige Fähigkeiten, die auch als Fähigkeiten angesehen werden, um deren Erwerb und Perfektionierung sich Menschen bemühen sollen. Die drei inhaltlichen Dimensionen, die wir bislang behandelt haben, sind aber nicht nur deswegen mit Normativität durchsetzt, weil in all diesen Dimensionen explizit normative Überzeugungen vorkommen. Sie sind vor allem auch deswegen von Normativität durchdrungen, weil – wie weiter oben bereits festgehalten – beinahe alle Überzeugungen eines Menschenbildes einen normativen Charakter haben. Überzeugungen darüber, wie der Mensch ist, sind nämlich immer auch Überzeugungen darüber, wie der Mensch sein soll. So geht beispielsweise mit der deskriptiven Überzeugung, dass der Mensch keine Seele hat, die präskriptive Überzeugung einher, dass sich der Mensch nicht um sein Seelenheil kümmern soll. In der deskriptiven Überzeugung, dass das Selbst des Menschen eine Illusion ist, steckt die präskriptive Überzeugung, dass sich der Mensch von dieser Illusion befreien soll. Die deskriptive Überzeugung, dass der Mensch in einem konstitutiven Geflecht sozialer Beziehungen steht, impliziert die präskriptive Überzeugung, dass der Mensch dieses Geflecht nicht verletzen darf. Vordergründig mag dies wie ein Verstoß gegen das Humesche Gesetz der Unmöglichkeit eines Schlusses von einem Sein auf ein Sollen wirken, werden hier doch aus deskriptiven Aussagen darüber, wie der Mensch ist, normative Aussagen darüber abgeleitet, wie der Mensch sein soll. Der Vorwurf des Sein-Sollen-Fehlschusses verkennt aber die als völlig selbstverständlich hingenommene normative Prämisse, die unausgesprochen in jedem Menschenbild mitgegeben 348 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Teleologische bzw. normative Dimension

ist: die Prämisse, dass sich Menschen an der Wahrheit orientieren sollen. Da Menschenbilder den Anspruch stellen, wahr zu sein, geht mit ihnen stets der Anspruch einher, dass sich Menschen in ihrem Leben, in ihrem Fühlen, Denken, Wahrnehmen und Handeln von dieser Wahrheit leiten lassen sollen. Menschenbilder implizieren mithin folgenden Imperativ: »Wenn du Mensch sein willst, dann sei das, was du in Wahrheit bist!« Für diesen Imperativ sind wir in aller Regel sehr empfänglich, und zwar ganz einfach deswegen, weil wir gerne das sein wollen, was wir sind. Wir wollen Menschen sein, und wir wollen von unseren Mitmenschen auch als Menschen anerkannt werden. Daher unterwerfen wir uns dem, was wir und unsere Mitmenschen für die Wahrheit über den Menschen halten. Der Grund für die Normativität von deskriptiven Überzeugungen über den Menschen liegt folglich in einem simplen Umstand: Jedes Wesen, das sich selbst als Mensch versteht und dem an seinem Menschsein gelegen ist, will das sein, was es glaubt, dass ein Mensch ist. Menschen wollen dem Menschenbild, das sie für wahr halten (und meistens einfach für real halten), entsprechen. Menschenbilder sind also von Normativität durchsetzt. Sie beinhalten immer auch eine Reihe an impliziten und expliziten normativen Überzeugungen darüber, wie der Mensch sein sollte: Überzeugungen über Fähigkeiten, die der Mensch als Mensch erlangen sollte, Überzeugungen über Werte, die der Mensch als Mensch achten sollte, Überzeugungen über Verhaltensweisen, die der Mensch als Mensch zeigen sollte usw. Von besonderer Bedeutung unter diesen Überzeugungen sind nun jene Überzeugungen, die die zehnte und letzte Kategorie von Überzeugungen, die in Menschenbildern zu finden sind, bilden: Überzeugungen über das richtige menschliche Leben.

10. Überzeugungen über das richtige menschliche Leben Menschenbilder umfassen stets auch Überzeugungen darüber, wie Menschen ihr Leben führen sollten. Menschenbilder enthalten mithin immer auch eine Konzeption des guten bzw. richtigen Lebens 113 Hier wird eher vom richtigen denn vom guten Leben die Rede sein; dies allein deswegen, weil der Begriff des »guten Lebens«, auch wenn er ein eingeführter philosophischer Terminus ist, hedonistische Konnotationen hat, die zu Missverständnissen führen könnten.

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

und zeichnen ein Idealbild des Menschen als desjenigen Menschen, der ein gutes bzw. richtiges Leben führt. Die lebensweltlichen Vorstellungen darüber, wie der ideale Mensch auszusehen hat und was es bedeutet, ein richtiges menschliches Leben zu führen, gehen – was nicht weiter erstaunt – weit auseinander. Während beispielsweise im Westen die Vorstellung vorherrscht, dass sich der Einzelne darum bemühen sollte, gemäß den Idealen der Individualität, der Autonomie und der Authentizität selbstbestimmt und souverän seinen je eigenen Weg zu finden und ihm treu zu bleiben, findet sich in Asien eher die Vorstellung, dass der Einzelne sich gemäß den Idealen der Loyalität, der Harmonie, der Friedfertigkeit usw. dem Ganzen der Gesellschaft unterordnen und ihm dienen soll. 114 Der ideale, rassisch reine arische Mensch der Nationalsozialisten unterscheidet sich in vielen Punkten vom »neuen Menschen« des Kommunismus und Sozialismus, 115 und beide haben mit dem Menschheitsideal eines humanistischen Individualismus wenig gemein. Das Idealbild des Buddhismus weicht sowohl vom Idealbild des Hinduismus als auch vom Idealbild des Christentums ab, und die Idealvorstellungen, die moderne christliche Menschenbilder transportieren, heben sich beträchtlich von den Idealvorstellungen ab, die das mittelalterliche Christentum kennt. Freilich gibt es bei allen Unterschieden zwischen den Idealbildern stets auch Überschneidungen. Es scheint sogar einige Charaktermerkmale und Tugenden zu geben, die in allen Kulturen und zu allen Zeiten hochgeschätzt werden; zu ihnen zählen etwa die Tugenden des Mutes, der Gerechtigkeit, der Weisheit usw. 116 Einigkeit wird es darüber hinaus in Bezug auf eine weitere Forderung eines richtigen LeZu den sogenannten »asiatischen Werten«, um die es vor allem in den 1990er Jahren eine rege Debatte gab, vgl. Lee, Eun-Jeung, »Asien« und seine »asiatischen Werte«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 35–36(2003), 3–6; Geiger, Klaus/Kieserling, Manfred (Hg.), Asiatische Werte: Eine Debatte und ihr Kontext, Münster 2001; de Bary, William Theodore, Asian Values and Human Rights: A Confucian Communitarian Perspective, Cambridge (MA) 1998; Jacobsen, Michael/Bruun, Ole (Hg.), Human Rights and Asian Values. Contesting National Identities and Cultural Representations in Asia, London 2000. 115 Zum »neuen Menschen« im Sozialismus vgl. Sinjawski, Andrej, Der Traum vom neuen Menschen oder die Sowjetzivilisation, Frankfurt am Main 1989. 116 Vgl. dazu die Untersuchung von Dahlsgaard, Katherine/Peterson, Christopher/ Seligman, Martin, Shared Virtue: The Convergence of Valued Human Strengths Across Culture and History, in: Review of General Psychology 9/3 (2005), 203–213. Die Studie identifiziert sechs Tugenden, die sich universeller Beliebtheit erfreuen: 114

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Teleologische bzw. normative Dimension

bens geben: Als ein richtiges Leben wird gemeinhin ein Leben betrachtet, das sich an die Regeln der Moral hält (wobei die Auffassungen darüber, was diese Regeln vorschreiben, wiederum sehr unterschiedlich sind). Unter den vielen normativen Überzeugungen, die Festlegungen über das richtige menschliche Leben treffen und die das Idealbild des Menschen konstituieren, ist ein Typus von Überzeugungen besonders hervorzuheben: Überzeugungen über Sinn und Ziel des menschlichen Lebens. Während viele, vor allem säkulare Menschenbilder in Bezug auf Sinn und Ziel des menschlichen Lebens keine klaren Vorstellungen besitzen, gibt es andere, darunter vor allem religiöse Menschenbilder, die sehr starke Annahmen über die Bestimmung des Menschen machen. Und dort, wo Annahmen über Sinn und Ziel des Menschen bestehen, sind sie es, die die Konzeption des richtigen Lebens bestimmen. Das richtige oder ideale menschliche Leben ist in diesem Fall nämlich immer eines, das dem Sinn gerecht wird und dem Ziel entgegenstrebt. Dass die Überzeugungen darüber, worin Sinn und Ziel des menschlichen Lebens liegen, stark differieren, ist bekannt. Grundsätzlich können in dieser Hinsicht jedoch zwei Arten von Menschenbildern unterschieden werden: (a) Menschenbilder, denen zufolge es einen Art übergeordneten Sinn des Lebens gibt, und (b) Menschenbilder, denen zufolge es einen solchen Sinn nicht gibt. (a) Eine Vielzahl von Menschenbildern leitet Sinn und Ziel des Menschen von einem den Menschen übersteigenden Sinn ab, der meist als eine in sich selbst sinnhafte, intrinsisch gute und häufig metaphysische Größe gedacht wird. Bei dieser Größe kann es sich um Gott, ein göttliches Prinzip oder eine göttliche Sphäre mit eventuell mehreren göttlichen Wesen handeln, es kann sich – wie im Marxismus – um einen zu verwirklichenden idealen Weltzustand handeln, es kann sich – wie in vielen Naturreligionen oder etwa im antiken Griechenland und Rom – um den geordneten Kosmos als Ganzen handeln. Es kann sich dabei auch, wie paradigmatisch bei den Neuhumanisten, um das in der Natur des Menschen selbst angelegte Ideal des Menschen, die Humanität, handeln. Ganz in diesem Sinne heißt es etwa bei dem humanistischen Bildungsreformer Friedrich Niethammer: Mut, Gerechtigkeit, Menschlichkeit (z. B. Liebe, Freundlichkeit), Mäßigung, Weisheit und Transzendenz (z. B. Spiritualität).

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

Der ganze Mensch ist die mit den mannigfaltigsten Anlagen und Kräften zu Einem wunderbaren Ganzen vereinigte Vernunft: die vollendete allseitige und harmonische Ausbildung dieses Einen Ganzen ist das Ideal der Menschheit, dem wir den alten oft verkannten ehrwürdigen Namen der Humanität mit Recht erhalten. 117

Unabhängig davon, wie die sinnverleihende Größe nun konkret vorgestellt wird, Sinn und Ziel des menschlichen Lebens liegen in diesem Fall immer darin, sich dieser Größe zu unterwerfen, sich ihr anzugleichen, sie anzustreben und zu versuchen, sie zu verwirklichen. Um das Beispiel des Neuhumanismus aufzugreifen: Wenn Sinn und Ziel des Menschen in der in jedem Menschen selbst angelegten idealen Humanität liegen, dann muss der Mensch danach trachten, dieses innere Potential zu realisieren, oder, in den berühmten Worten Wilhelm von Humboldts: »Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.« 118 Der Versuch, Sinn und Ziel zu realisieren, bedeutet in erster Linie, den Vorgaben und Geboten, die von der sinngebenden Instanz konstituiert werden, seien es nun die Gebotes Gottes, das Gesetz der (menschlichen) Natur, das Gesetz der Vernunft usw., Folge zu leisten. Wie unschwer zu erkennen, ist damit zugleich das Idealbild des Menschen mitgegeben: Der ideale Mensch ist derjenige, der den Sinn erfüllt und das Ziel erreicht hat, indem er es in der Umsetzung der Gebote zur Perfektion gebracht hat. Von den vielen Unterschieden, die diese Menschenbilder jenseits der grundlegenden Gemeinsamkeit, Sinn und Ziel in einer höheren sinnstiftenden Größe zu verankern, aufweisen, ist eine besonders hervorzuheben. Manche dieser Menschenbilder, darunter insbesondere diejenigen der vier großen Religionen, verlegen Sinn und Ziel des menschlichen Lebens in ein perfektionistisches Jenseits, d. h. einen übernatürlichen »Ort« oder »Zustand«, in dem Vollkommenheit herrscht. Das christliche Paradies ist beispielsweise ebenso ein solcher »Ort« der Vollkommenheit wie das buddhistische Nirwana, das hinduistische Moksha und die islamische Dschanna. Diese »Orte« Niethammer, Friedrich Immanuel, Der Streit des Philanthropismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit, Leipzig 1808, 190 (Hervorhebungen im Original). 118 Vgl. Humboldt, Wilhelm von, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792/1851), Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. v. d. Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1968 [Nachdruck d. Ausgabe v. 1903], 22. 117

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Teleologische bzw. normative Dimension

erlangt der Mensch jeweils dann, wenn er vollkommen ist. Der Glaube an ein solches Jenseits als eigentliches Ziel des Menschen geht in der Regel mit einer Abwertung der diesseitigen Existenz des Menschen einher. Der diesseitige Mensch wird als im Kern defizitär, als essenziell erlösungsbedürftig angesehen. So ist etwa im Christentum der Mensch durch die Erbsünde ontologisch fundamental geschädigt. Vollkommenheit erreicht er erst durch die – im Falle des Christentums durch die gnadenhalber von Gott selbst geschenkte – Vereinigung mit Gott im Paradies. Ähnliches lehrt der Buddhismus: Das menschliche Leben steht im Kreislauf des Leidens und der Wiedergeburt, aus dem es durch intensive spirituelle Übungen auszutreten gilt. Erst wenn dem Menschen dies gelingt, wird ihm »das höchste Glück« zuteil. 119 Anderen Menschenbildern, die Überzeugungen über eine höhere sinnstiftende Instanz beinhalten, ist ein solch perfektionistisches Jenseits unbekannt. Wenn, wie dies in vielen Kulturen der Fall ist, der Kosmos selbst mit allem, was in ihm wohnt, als in sich sinnhaft erfahren wird, dann besteht Sinn und Ziel des Menschen häufig nur darin, den ihm von den Göttern, dem Schicksal, den Ahnen usw. zugewiesenen Platz zuverlässig einzunehmen und dafür zu sorgen, dass die Ordnung des Kosmos, die sich etwa in der Ordnung der Gesellschaft, der Familie, der Geschlechter, in den Traditionen des Stammes und in den von den Ahnen überlieferten Mythen, Gesetzen und Praktiken manifestiert, eingehalten wird, erhalten bleibt und weitergegeben wird. Sinn und Ziel des Menschen erschöpfen sich diesen Menschenbildern gemäß folglich darin, dass der Mensch die Funktion, die ihm von der sinnhaften Instanz überantwortet wurde, gewissenhaft ausfüllt. 120 Die beiden Varianten sind freilich miteinander kombinierbar. So hat etwa das christliche Mittelalter einerseits an das Ziel der Vervollkommnung im Jenseits geglaubt, andererseits ist es davon ausgegangen, dass der von Gott geschaffene Kosmos ein hierarchisch strukturiertes, geordnetes Ganzes darstellt, in dem jeder Mensch einen durch An mehreren Stellen des Suttapitaka, dem »Korb der Lehrreden«, d. h. einer Sammlung von Dialogen und Lehrvorträgen des Buddha, bezeichnet Buddha das Nirwana als »das höchste Glück«, so etwa in Dhammapada 203 und Majjhima-Nikaya 75. 120 Derartige Vorstellungen sind beispielsweise in traditionellen afrikanischen Menschenbildern anzutreffen; vgl. dazu Harding, Leonhard, Menschenbilder und Menschenrechte: Afrikanische Erfahrungen, in: Schmidt (Hg.), Menschenrechte und Menschenbilder, 277–306, hier 287. 119

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

Geburt von Gott zugewiesenen Platz erhalten hat, den er mit Demut anzunehmen und mit Sorgfalt auszufüllen hat. Ähnliches ist vom Hinduismus bekannt, der ebenfalls ein übergeordnetes Ziel der Erlösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburt annimmt und gleichzeitig glaubt, dass jeder Mensch in eine Kaste mit den ihr je eigenen Rechten und Pflichten geboren ist. Diese Kombination findet im Übrigen auch in den Idealbildern vom Menschen, die in den Menschenbildern stecken, ihren Niederschlag. Weiter oben wurde schon einmal darauf hingewiesen, dass manche Menschenbilder ein doppeltes Idealbild kennen. Alle Menschenbilder enthalten ein realistisches Idealbild des Menschen, d. h. ein Bild des Menschen, so wie er sein sollte und das zu verwirklichen sich jeder Mensch bemühen sollte. Manche Menschenbilder kennen aber darüber hinaus noch ein für den Normalmenschen beinahe unerreichbares utopisches Idealbild, ein Idealbild also, von dem allgemein bekannt ist, dass es nur wenige Auserwählte erreichen können. Insbesondere religiöse Menschenbilder, die perfektionistische Jenseitsvorstellungen haben, kennen solch utopische Ideale: das Christentum etwa das Ideal des Heiligen, der Islam das Ideal des Wali, d. h. des Freundes Gottes, der Buddhismus und der Hinduismus das Ideal des Erleuchteten. Auch der Kommunismus hat mit dem »neuen Menschen« eine solche Utopie; von ihm prophezeite Leo Trotzki einst ganz optimistisch: Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. […] Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau eines Aristoteles, Goethe und Marx erheben. 121

Oder um das Beispiel des christlichen Menschenbildes des mittelalterlichen Abendlandes noch einmal zu bemühen: Hier finden sich utopisches und realistisches Idealbild in Kombination; das Menschenbild umfasst sowohl das utopische Idealbild des Heiligen, der auf das kommende Paradies verweist, als auch das realistische Ideal des seine alltäglichen Christenpflichten brav erfüllenden Normalmenschen. (b) Neben Menschenbildern, denen zufolge sich Sinn und Ziel des Menschen aus einer Art höherer metaphysischer Sinngröße ab-

Trotzki, Leo, Literatur und Revolution, übers. v. Eugen Schäfer u. Hans v. Riesen, Essen 1994 [1924], 252.

121

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Teleologische bzw. normative Dimension

leiten lassen, gibt es Menschenbilder, die nicht von solch einer metaphysischen Sinnstiftungsinstanz ausgehen. Hierzu zählen zum ersten Menschenbilder, denen zufolge so eine Sinnstiftungsinstanz explizit nicht existiert. Das atheistisch-existenzialistische Menschenbild, das im Frankreich der 1950er eine Zeit lang en vogue war, geht beispielsweise davon aus, dass das menschliche Leben keinen Sinn hat, sondern im Gegenteil fundamental absurd ist. 122 Naturalistisch angehauchte Menschenbilder unterstellen ebenfalls, dass die Existenz des Menschen keinen übergeordneten Sinn hat; ihr einziger »Sinn« bestehe darin, in einem sinnlosen Universum einfach da zu sein, sich fortzupflanzen und so das Leben weiterzugeben. Keine metaphysische Sinninstanz nehmen zum zweiten Menschenbilder an, die keine klaren Überzeugungen in Bezug auf die Sinnfrage haben, sei es, weil über diese Frage große Unsicherheit herrscht und sie als unbeantwortbar gilt, sei es, weil diese Frage verdrängt wird und sich – mit Heidegger gesprochen – viele Menschen mit einem Leben in der »Uneigentlichkeit« zufriedengeben, sei es, dass sich die Frage für viele einfach nicht stellt. 123 Es ist nun wichtig zu erkennen, dass diejenigen Menschenbilder, die einen metaphysischen Sinn des menschlichen Lebens verneinen oder keine diesbezüglichen Überzeugungen aufweisen, dennoch immer Überzeugungen über das richtige menschliche Leben enthalten, die, sei es explizit, sei es implizit, Überzeugungen über Sinn und Ziel des menschlichen Lebens sehr nahekommen. Zwei Arten von Überzeugungen lassen sich hierbei unterscheiden: Die rigorosere Antwort, die meist von denjenigen gegeben wird, die einen höheren Sinn des Lebens vehement verneinen, lautet: Der Sinn des menschlichen Lebens besteht darin, sich von tröstenden Illusionen frei zu machen, die Sinnlosigkeit des Lebens einzusehen, sie zu akzeptieren und zu versuchen, mit dieser Wahrheit ein gutes Leben zu führen. So liegt der Sinn des Lebens gemäß dem atheistisch-existenzialistischen Menschenbild zum Beispiel gerade darin, sich heroisch der Absurdität des Lebens zu stellen und sich in ihrem Angesicht um ein glückliches Leben zu bemühen. Bei aller Radikalität, die dieses Menschenbild zu Vgl. insbesondere Camus, Albert, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Hamburg 1959. 123 Empirische Studien zeigen, dass tatsächlich viele Menschen ihr Leben weder als sinnvoll erachten noch sich Gedanken über den Sinn des Lebens machen; vgl. Schnell, Tatjana, Existential Indifference: Another Quality of Meaning in Life, in: Journal of Humanistic Psychology, 50/3 (2010), 351–373. 122

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Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern:eine Kategorienlehre

haben scheint, ist es doch von einem sehr alten, elitären Geist, der das Abendland seit jeher durchdringt, getragen: Nur ein Leben in der Wahrheit ist ein richtiges, sinnvolles Leben. Unübersehbar scheinen hier die Reste einer höheren sinnstiftenden Instanz, nämlich derjenigen der göttlichen Wahrheit, durch. Die andere Antwort, die heute zu einer der weitverbreitetsten zählen dürfte, ist wesentlich weniger rigoros, aber womöglich gerade deswegen radikaler. Denn während die erste Antwort noch daran festhält, dass es eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn gibt – nur ein an der Wahrheit orientiertes Leben ist sinnvoll – gibt die zweite Antwort auch noch diesen Gedanken auf: Der Sinn des Lebens liegt gerade nicht in einem für alle gültigen Sinn, sondern in den jeweils individuellen Sinngebungen, ganz egal, wie abstrus sie im einzelnen erscheinen mögen. Es gibt mithin nicht den einen Sinn des Lebens, sondern nur die vielen verschiedenen, individuellen und ganz privaten menschlichen Sinne und Ziele, über die zu urteilen niemandem zusteht. Häufig – aber nicht notwendigerweise – lässt sich hinter der Überzeugung, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens eine ganz individuelle und private ist, aber doch noch eine andere Überzeugung entdecken, die in der Regel auch von denjenigen geteilt wird, die an die Absurdität des Lebens glauben: Die Überzeugung, dass der Sinn des Lebens gerade darin besteht, sich selbst einen Sinn im Leben zu geben. Sinn und Ziel des Lebens besteht derartigen Menschenbildern zufolge demnach darin, sich selbst zum Herren seines Lebens zu machen, sein Schicksal in die Hand zu nehmen und selbstbestimmt den Sinn seines Lebens zu wählen und zu verwirklichen. Auch hier schimmert noch eine höhere sinnstiftende Instanz durch, ist es doch die Freiheit, die Autonomie bzw. die »Selbstzwecklichkeit des Menschen«, die es in den je individuellen Sinnstiftungen zu leben und zu verwirklichen gilt. Wenn auch selten explizit, so steckt diese Auffassung von Sinn und Ziel des menschlichen Lebens implizit tief in den im Westen verbreiteten Idealen der Individualität, der Autonomie, der Authentizität und der Selbstverwirklichung. 124 Doch unabhängig davon, ob Menschenbilder nun explizit oder implizit Überzeugungen über Sinn und Ziel des Menschen zu erkennen geben oder nicht – Menschenbilder enthalten jedenfalls immer eine ganze Reihe an expliziten und impliziten Überzeugungen darüber, wie der Mensch sein und wie er sein Leben führen sollte. Die 124

Vgl. Taylor, Unbehagen an der Moderne.

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Teleologische bzw. normative Dimension

Überzeugungen über Sinn und Ziel des Menschen sind nur eine spezifische Variante davon. Dafür, dass die Überzeugungen darüber, wie der Mensch sein sollte und wie er sein Leben führen sollte, zu den wichtigen Menschenbildüberzeugungen zählen, bedarf es wohl kaum ausführlicher Erläuterungen. Diese Überzeugungen gehören zweifellos zu denjenigen mit der höchsten lebensweltlich-praktischen Relevanz, entscheidet sich an ihnen doch, was Gesellschaften, Gruppen und Individuen für richtig und was für falsch, was sie für würdig und was sie für unwürdig, was sie für erstrebenswert und was sie für verabscheuungswürdig halten.

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Zu Wirkungen und Ursachen lebensweltlicher Menschenbilder

Verschaffen wir uns noch einmal einen Überblick über das bislang Erreichte: Menschenbilder sind, so lautet unsere Definition, mehr oder weniger kohärente Bündel von Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen. Lebensweltliche Menschenbilder sind dabei solche Bündel an Überzeugungen, auf die wir im Alltag zurückgreifen. Diese sind tief in die unsere Lebenswelt konstituierenden Sinn- und Überzeugungssysteme eingelassen und weisen zahlreiche Verflechtungen zu vielen anderen Überzeugungen auf. Innerhalb dieser Systeme kommt ihnen eine systematisch zentrale Stellung zu, nicht zuletzt deswegen, weil Menschenbilder Bündel von Überzeugungen über den Träger der Sinn- und Überzeugungssysteme – den Menschen selbst – sind. Lebensweltliche Menschenbilder sind daher zentrale Anker- und Kristallisationspunkte dieser Systeme; sie sind gleichsam das zentrale historisch-kulturelle Apriori lebensweltlicher Wirklichkeitskonstruktion. Im lebensweltlichen Alltag funktionieren Menschenbilder als Typisierungen, d. h. als Bündel von Überzeugungen, die automatisch in Anschlag gebracht werden, sobald ein Phänomen wahrgenommen wird, auf das die Typisierung passt. Da Menschenbilder unter den vielen auf den Menschen anwendbaren Typisierungen an hierarchisch oberster Stelle stehen und zudem einen autoritativen Charakter haben – Menschenbilder sind mit einem starken Anspruch auf Wahrheit und Richtigkeit ausgestattet – sind Menschenbilder nicht bloß Typisierungen, sondern Hyper-Typisierungen. Als solche erfüllen Menschenbilder eine Reihe an lebensweltlichen Funktionen, die von der Funktion der Welterschließung über die Funktion der Komplexitätsreduktion bis hin zur Orientierungsfunktion reichen. Aufgrund der im letzten Abschnitt vorgenommenen Analysen wissen wir nun auch schon Näheres über die Inhalte der Überzeugungen über wichtige Eigenschaften des Menschen im Allgemeinen, die sich zu lebensweltlichen Menschenbildern bündeln: Lebensweltliche 358 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Wirkungen lebensweltlicher Menschenbilder

Menschenbilder enthalten nämlich Überzeugungen darüber, wer überhaupt Mensch ist, und zudem Überzeugungen über ontologisch fundamentale Elemente des Menschen, über die Stellung des Menschen im Kosmos, über intrahumane Differenzierungen, über Individualität, über das Selbst, über die Freiheit, über das menschliche Verhalten, über menschliche Fähigkeiten und Überzeugungen über das richtige menschliche Leben. Nun gilt es, die Fäden, die da und dort noch etwas lose aus dem Geflecht ragen, aufzunehmen und zu einem neuen Kapitel zusammenzuknüpfen. Denn bislang wurde beschrieben, was Menschenbilder sind, wie sie funktionieren, wozu sie dienen und was sie enthalten. Vielmals angerissen und mehrmals angekündigt, bislang jedoch nicht eigens ausgeführt wurde dagegen, welche Wirkungen lebensweltliche Menschenbilder haben. Gleichermaßen offen ist die Frage, welchen Ursachen und Quellen sich Menschenbilder verdanken. Beides – die Frage der Wirkungen und die Frage der Ursachen von Menschenbildern – soll daher jetzt in Angriff genommen werden.

Wirkungen lebensweltlicher Menschenbilder In der Frage nach den Wirkungen lebensweltlicher Menschenbilder liegt im Grunde der Kern der gesamten vorliegenden Untersuchung. Denn aus welchem Grund sollte man sich die Mühe machen, dieses so sperrige Gebilde des Menschenbildes einer Analyse zu unterziehen, wenn es sich dabei nicht um ein wichtiges, relevantes Phänomen handeln würde – um ein Phänomen mithin, das großen Einfluss darauf hat, wie wir fühlen, denken und handeln, wie wir unser Zusammenleben gestalten, ja darauf, was und wie wir als Menschen sind. Dass dem tatsächlich so ist, ist die vorrangige These der Untersuchung. Sie folgt darin einer Intuition, die Nietzsche wohl als erster hatte: dass Menschenbilder nicht einfach nur geistige Abbilder des Menschen sind, sondern als geistige Bilder eine formende, prägende Wirkung auf eben diejenige Wirklichkeit haben, deren Abbild sie sein sollen. Menschenbilder bilden den Menschen nicht nur ab, sondern sie bilden ihn – wenigstens zum Teil – mit, d. h. sie sind nicht nur repräsentativ, sondern auch konstitutiv. Ziel ist es im Folgenden also, die Wirkungen, die lebensweltliche Menschenbilder auf den Menschen selbst haben, etwas genauer zu erfassen. Etliches davon wurde in den vorangegangenen Abschnitten 359 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Zu Wirkungen und Ursachen lebensweltlicher Menschenbilder

in unterschiedlichen Zusammenhängen schon beschrieben, nun geht es darum, die bereits gewonnenen Erkenntnisse einerseits systematisch zusammenzuführen und andererseits, dort wo notwendig, zu erweitern und zu präzisieren. Um dahin zu gelangen, ist es jedoch zunächst erforderlich, die Fragestellung noch ein wenig zu schärfen. Wenn hier, d. h. im Kontext einer philosophischen Untersuchung, nach den Wirkungen von lebensweltlichen Menschenbildern gefragt wird, dann bedeutet dies zweierlei: Erstens wird nach den idealtypischen Wirkungen gefragt, d. h. nach Wirkungen, die Menschenbilder haben können, die sie typischerweise auch haben, aber ebenso gut auch nicht haben können. Zweitens werden die Antworten abstrakt, allgemein und etwas im Vagen verbleiben, wird doch nach den Wirkungen gefragt, die Menschenbilder überhaupt, im Allgemeinen haben. Die Nachteile, die dieser im Allgemeinen verbleibende Zugriff auf das Phänomen des lebensweltlichen Menschenbildes hat, werden aber durch seine offensichtlichen Vorteile mehr als aufgewogen. Eine Untersuchung der konkreten Wirkungen eines spezifischen Menschenbildes würde sich nämlich heillos in den zahllosen Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens verstricken müssen. So sind lebensweltliche Menschenbilder beispielsweise keine Größen, die sich in einem Labor sauber isolieren und in ihre Bestandteile zerlegen ließen, deren Effekte dann unter kontrollierten Bedingungen und unter Ausschluss anderer möglicher Wirkfaktoren eingehend analysiert werden könnten. Menschenbilder müssten vielmehr »am lebenden Objekt« menschlicher Gesellschaften untersucht werden, und dies meist noch retrospektiv. Zudem handelt es sich bei Menschenbildern, so dürfte klar geworden sein, um komplexe Gebilde. Da es nun schon schwierig sein dürfte, die konkreten Wirkungen einer einzigen anthropologischen Annahme überzeugend nachzuzeichnen, um wie viel schwieriger würde dann die Untersuchung eines ganzen Bündels solcher Überzeugungen sein? Hinzu kommt, dass Menschenbilder nicht die einzigen Faktoren sind, die Einfluss auf den Menschen haben. Sie konkurrieren vielmehr mit einer Unzahl an anderen Kräften, die auf den Menschen wirken: Macht, ökonomischer Druck, Triebe und Leidenschaften, Klima usw. Dies macht es beinahe unmöglich, eine Wirkung präzise einer anthropologischen Überzeugung zuzuschreiben. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass Menschenbilder nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell sehr vielgestaltig sind: Individuelle Menschenbilder und gruppenspezifische Menschenbilder, die nur von einer Person bzw. einigen Per360 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Wirkungen lebensweltlicher Menschenbilder

sonen für wahr gehalten werden, werden andere Wirkungen entfalten als Menschenbilder, die von allen Mitgliedern einer Gesellschaft für wahr gehalten werden. Auch werden soziokulturelle Menschenbilder, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft aus freien Stücken für wahr und richtig gehalten werden, anders wirken als hegemoniale Menschenbilder, die den Menschen von der herrschenden Klasse aufoktroyiert werden. Und schließlich werden die Wirkungen eines Menschenbildes auch davon abhängen, welchen Status »der Mensch« in einer Gesellschaft hat. In einer Gesellschaft, in der »der Mensch« der zentrale Identifikationspunkt ist, wird ein Menschenbild andere Wirkungen entfalten als in einer Gesellschaft, in der man sich nicht in erster Linie als Mensch definiert, sondern z. B. als Mitglied einer Nation oder einer ethnischen Gruppe. Mit anderen Worten: Für Menschen, die sich selbst in erster Linie als Menschen definieren, spielt ein Menschenbild eine ungleich wichtigere Rolle als für Menschen, die sich etwa mit der Gruppe, der sie angehören – beispielsweise den Schotten – identifizieren. Wenn ich mich selbst in erster Linie als Schotte und nicht als Mensch definiere, wird sich mir eher mein Schottenbild denn mein Menschenbild aufprägen. Das gleiche gilt aber für eine Vielzahl an Typisierungen, die für meine Identität eine Rolle spielen, identifiziere ich mich doch in der Regel als Bürger einer bestimmten Nation, als Mitglied einer Dorfgemeinschaft, als Frau, Mann oder sonst ein Geschlecht, als Sportler oder Denker usw. Freilich ist in all diesen Typisierungen – als deren übergeordneter Rahmen, als, so sagten wir, oberste Matrjoschka – ein Menschenbild mitgegeben, das sich mir mit diesen anderen Typisierungen, mit denen ich meine Identität bestimme, mit aufprägt. Gleichwohl dürften die Wirkungen des Menschenbildes umso schwächer sein, umso wichtiger spezifischere Typisierungen für mich sind. All diesen Schwierigkeiten einer konkreten Wirkungsforschung kann eine am Idealtypus orientierte Untersuchung aus dem Weg gehen. So geht sie erstens von einer idealisierten Gesellschaft aus, nämlich einer, deren Mitglieder eine gemeinsame Lebenswelt und mit dieser gemeinsamen Lebenswelt ein gemeinsames, soziokulturelles Menschenbild teilen. Und zweitens nimmt sie eine »einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte« vor, 1 indem sie nämlich die Wirkungen von Menschenbildern allein in den Fokus nimmt und Vgl. Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 31968, 191.

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Zu Wirkungen und Ursachen lebensweltlicher Menschenbilder

diese damit unweigerlich überbetont. Auf diese Weise gewinnt man eine deutlichere Vorstellung davon, welche Wirkungen Menschenbilder überhaupt entfalten können. Ob ein konkretes lebensweltliches Menschenbild in einer konkreten Situation dann tatsächlich diese Wirkungen entfaltet, und auf welche Weise es diese Wirkungen entfaltet, steht dem gegenüber auf einem anderen Blatt – einem Blatt, das hier nicht in den Blick genommen werden kann. Die Allgemeinheit und Abstraktheit der hier angestrebten Untersuchung und der Umstand, dass zu den Wirkungen von Menschenbildern keine oder nur sehr rudimentäre Erkenntnisse vorliegen, bedeutet nun aber nicht, dass sich die Untersuchung gleichsam im ungesicherten Raum bewegt. Im Gegenteil, die Untersuchung kann auf eine Vielzahl an Analysen zurückgreifen, deren Ergebnisse sich auf das Phänomen des Menschenbildes übertragen lassen. An erster Stelle zu nennen sind hier die theoretischen und empirischen Untersuchungen zu allerlei Arten von Typisierungen. So ist etwa die Forschung zu Funktions- und Wirkungsweise sowie zu Effekten von Stereotypen und Vorurteilen sehr umfassend. 2 Darunter bietet insbesondere die Genderforschung enorm reichhaltiges Anschauungsmaterial. Das gleiche gilt für Stereotype des »Selbst« bzw. der Selbstkonzepte. Auch hier gibt es eine Fülle an Studien, Theorien und Modellen, die die Effekte von Selbsttypisierungen untersuchen und zu beschreiben versuchen. 3 Ein Großteil der in diesen Bereichen gewonnenen Erkenntnisse lassen sich auf Menschenbilder übertragen, gibt es doch zwischen Menschenbildern und Stereotypen im Allgemeinen und Geschlechterzuschreibungen und Selbstkonzepten im Besonderen große strukturelle Ähnlichkeiten. Hier wie dort handelt es sich um Bündel von Überzeugungen, die auf vielfältige Art und Weise in die Lebenswelt eingeflochten sind und die nicht nur unseren Blick und Umgang mit der jeweiligen Entität, auf die die Typisierung

Für einen Überblick vgl. Petersen, Lars-Eric/Six, Bernd (Hg.), Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen, Weinheim/ Basel 2008; Todd, Nelson (Hg.), Handbook of Prejudice, Stereotyping, and Discrimination, New York 2009; Dovidio, John u. a. (Hg.), The SAGE Handbook of Prejudice, Stereotyping, and Discrimination, London u. a. 2010. 3 Für eine Übersicht und eine Diskussion der Schwierigkeiten einer empirischen Überprüfung von Selbstkonzepten vgl. Oyserman, Daphna/Lee, Spike, Does Culture Influence What and How We Think? Effects of Priming Individualism and Collectivism, in: Psychological Bulletin 134/2 (2008), 311–342. 2

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Wirkungen lebensweltlicher Menschenbilder

zur Anwendung kommt, zutiefst beeinflussen, sondern die sich häufig auch – nicht zuletzt nach dem bekannten Muster einer selbsterfüllenden Prophezeiung – der jeweiligen typisierten Entität selbst aufprägen. Nicht vergessen werden dürfen schließlich all die materialreichen Studien, die der Entstehung und den Wirkungen und Wechselwirkungen von konkreten historischen Menschenbildern bzw. ausgewählten Aspekten derselben nachzuspüren versuchen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang vor allem Charles Taylors monumentale Untersuchung zu den Ursprüngen und den Wirkungen des modernen Selbst und Michel Foucaults Studien zur Entstehung und Entwicklung des modernen Menschenbildes im Kontext des Umgangs mit dem Wahnsinn, der Entstehung der modernen Humanwissenschaften und der Entstehung des modernen Strafsystems. Unter theoretisch sehr unterschiedlichen Vorzeichen haben beide Denker die Entwicklung des modernen europäischen Menschenbildes nachgezeichnet und damit am konkreten historischen Objekt den Nachweis erbracht, dass Menschenbilder die lebensweltlichen Wirkungen, die hier abstrakt beschrieben werden, tatsächlich haben können. Es geht im Folgenden also darum, die lebensweltlichen Wirkungen von Menschenbildern auf idealtypische Art und Weise zu erfassen und zu beschreiben. Die beschriebenen Wirkungen sind demnach solche, die lebensweltliche Menschenbilder aufweisen können und in der Regel – im typischen Fall – auch aufweisen, aber eben nicht notwendigerweise aufweisen. Ganz grundsätzlich lassen sich die Wirkungen, die lebensweltliche Menschenbilder zeitigen können, in drei grobe Kategorien einordnen: (1) Wirkungen auf die Intentionalität bzw. die »geistigen Operationen« von Individuen, d. h. auf die Art und Weise, wie Menschen wahrnehmen, fühlen, denken und handeln. (2) Wirkungen auf die – im weiten Sinne verstandenen – sozialen Institutionen, d. h. auf die gesellschaftlich getragenen, von einzelnen Individuen unabhängigen Praktiken und Regelungen wie z. B. das Moralsystem, das Rechtssystem oder die Pädagogik. (3) Wirkungen auf die Konstitution von Individuen, d. h. auf die Art und Weise, wie Individuen sind. Die ersten beiden Arten von Wirkungen sind relativ banal und daher auch schnell beschrieben, die dritte hingegen bedarf der etwas eingehenderen Behandlung, nicht zuletzt deswegen, weil es die fundamen363 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Zu Wirkungen und Ursachen lebensweltlicher Menschenbilder

talste der Wirkungen und zudem diejenige ist, auf die es hier letztlich ankommt.

(1) Wirkungen auf die Intentionalität Dass Menschenbilder Wirkungen auf die geistigen Operationen von Individuen haben, also unser Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln beeinflussen, wurde in dieser Arbeit schon mehrfach beschrieben. Typisierungen haben, wie die empirische Forschung an Stereotypen und Vorurteilen nachweist, einen massiven Einfluss auf unsere intentionalen Akte, und zwar nicht nur dann, wenn wir diese Akte bewusst kontrollieren, sondern in der Regel schon vorher, nämlich auf der Ebene der vorbewussten, spontanen, automatischen Informationsverarbeitung. 4 Wenn Menschenbilder, wie hier argumentiert, nicht nur einfach Typisierungen, sondern darüber hinaus auch noch zentrale Bausteine unserer Sinn- und Überzeugungssysteme sind, mit deren Hilfe wir uns die Wirklichkeit in die uns zugängliche Lebenswelt aufschlüsseln, dann stehen Menschenbilder eben auch im Zentrum unserer affektiven, kognitiven, evaluativen und praktischen Operationen in und mit dieser Welt; sie drücken diesen Operationen unweigerlich ihre Siegel auf und zwingen sie in ihre Bahnen. Erinnern wir uns an die oben beschriebenen Funktionen von lebensweltlichen Menschenbildern: Menschenbilder ermöglichen, so wurde im entsprechenden Kapitel ausführlich dargestellt, die Identifikation von Phänomenen als Exemplare der Klasse Mensch, womit ein welterschließender Effekt verbunden ist; sie dienen der Stiftung von Zusammenhang und Einheit, was seinerseits zur Komplexitätsreduktion beiträgt; sie dienen der Erklärung von Phänomenen, was unter anderem auch Stabilität gewährt und Kontingenz zu vermeiden hilft; sie fungieren als Interpretamente sowie als Punkte lebensweltlicher Orientierung; und schließlich spielen sie als identitätsstiftende Faktoren eine nicht zu unterschätzende Rolle. Menschenbilder greifen damit tief in unsere intentionalen Akte ein und formen unser Verhältnis zur Welt: Sie prägen erstens unsere Wahrnehmung und unsere Interpretation der Welt, indem sie uns am Menschen tendenziell nur das bzw. verstärkt das wahrnehmen lassen, was in das Raster unserer Vgl. dazu Schmid Mast, Marianne/Krings, Franciska, Stereotype und Informationsverarbeitung, in: Petersen/Six, Stereotype, 33–44.

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Überzeugungen über den Menschen passt. Besonders deutlich wird dies an dem hier schon öfter angeführten Beispiel: Lebensweltliche Menschenbilder, so sagten wir, beinhalten Überzeugungen darüber, wer überhaupt Mensch ist, d. h. sie geben eine konstitutive Definition des Menschen. Damit bestimmen sie, welche Phänomene unter die Kategorie »Mensch« fallen. Gleichzeitig ermöglichen sie dadurch, Phänomene als Menschen zu identifizieren. Dies wiederum bedeutet, dass Menschenbilder stark beeinflussen, wen oder was wir überhaupt als Menschen wahrnehmen. Wenn das Menschenbild einer Gesellschaft die Überzeugungen gegenwärtig hält, dass Menschen zivilisiert sind, über Vernunft verfügen usw., dann kann es eben sein, dass die Mitglieder dieser Gesellschaft biologische Menschen, die diese Eigenschaften nicht aufzuweisen scheinen, nicht als Menschen erkennen können bzw. sich zumindest schwer tun, sie als Menschen einzuordnen. Auf den Fall der autochthonen Bevölkerung Amerikas, die von den spanischen Konquistadoren oft nicht als Menschen er- und anerkannt wurde, ist oben schon eingegangen worden: Weil die spanischen Konquistadoren glaubten, dass der Mensch – nach ihren Standards – vernunftbegabt und zivilisiert ist, konnten sie im Indianer keinen Menschen sehen. Man darf mit den spanischen Abenteurern, die in die Neue Welt einfielen, in diesem Punkt nicht zu streng sein: Vor dem Hintergrund ihrer tiefsitzenden Überzeugungen und ihres begrenzten Wissens über den Menschen war es ihnen gar nicht so einfach möglich, die südamerikanischen Menschen als Menschen zu erkennen, zumindest nicht automatisch und völlig selbstverständlich. Um diese Wesen als Menschen erkennen zu können, wäre es notwendig gewesen, die bislang gültigen Überzeugungen über den Menschen zu hinterfragen und zu korrigieren – eine Fähigkeit, die bekanntlich nicht alle der Eroberer aufbringen konnten oder wollten. Freilich spielten in der Nicht-Anerkennung der Indianer als Menschen auch eine ganze Reihe anderer Faktoren eine Rolle, nicht zuletzt moralisch verwerfliche Motive: Solange die Eingeborenen nicht als Menschen galten, konnte man sich straflos ihren Besitz aneignen, sie als Sklaven ausbeuten und sie ohne weiteres ermorden. Doch dass dies so oft ohne jegliche Skrupel und Gewissensbisse geschehen konnte, dafür sorgte auch ein rassistisches Menschenbild, fühlten sich die Eindringlinge doch in ihrem hartherzigen Fühlen, Denken und Handeln den Indianern gegenüber durch ihre nicht hinterfragten Überzeugungen über den Menschen bestärkt und legitimiert. Doch Menschenbilder beeinflussen nicht nur, welche Wesen wir 365 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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als Menschen er- und anerkennen, sondern auch, wie wir Menschen wahrnehmen und interpretieren. Weil individualistische Gesellschaften den Menschen beispielsweise als ein individuelles Wesen betrachten, nehmen sie individuelle Aspekte – Intentionen, Persönlichkeitseigenschaften – besonders aufmerksam wahr und ziehen sie verstärkt zur Interpretation des menschlichen Verhaltens heran. Weil kollektivistische Gesellschaften den Menschen hingegen eher als Teil der Gesellschaft sehen, neigen sie demgegenüber dazu, auf den sozialen Kontext zu fokussieren und in der Erklärung des menschlichen Verhaltens auf die situationalen Umstände zu rekurrieren. Eben dies zeigt sich auch in empirischen Untersuchungen; Greenfield und andere haben eine ganze Reihe von einschlägigen Studien so zusammengefasst: Some cultures emphasize the individual psyche, individual traits, and the individual intentions behind action […]; other cultures emphasize the social effects and social context of a person’s action […]. Children in both the United States and India got better at social explanation at age […]. At the same time, children in the United States increasingly formulated their social explanations of events in terms of an individual’s stable traits (emphasis on the individual psyche). Indian children, in contrast, increasingly formulated their social explanations in terms of contextual factors, particularly factors in the social surround (emphasis on social context). 5

Wenn Menschenbilder unsere Wahrnehmung und Interpretation der Welt beeinflussen, dann beeinflussen sie zweitens auch unsere Gefühle dieser Welt gegenüber: Weil der Konquistador den Indianer nicht für einen Menschen hält, fühlt er auch kein Mitleid mit ihm. Und sollte er doch spontanes Mitleid empfinden, so würde er sich einreden, dass es richtig wäre, dieses Gefühl zu unterdrücken und sich nicht von ihm leiten zu lassen, da es einem Wesen gegenüber, das kein Mensch ist, unangemessen sei. Weil wir im Westen an die Bedeutung der menschlichen Individualität glauben, erfüllen uns Geschichten, die davon künden, wie Einzelne die Fesseln der Allgemeinheit abstreifen und gegen alle Widerstände zu sich selbst finden, mit tiefster Befriedigung, während in kollektivistischen Gesellschaften eher die Wiedereingliederung eines widerspenstigen Individuums in den Schoß der Allgemeinheit mit tiefster Befriedigung wahrgenommen Greenfeld, Patricia u. a., Cultural Pathways Through Universal Development, in: Annual Review of Psychology 54 (2003), 461–490, hier 474 f.

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wird; was den einen als Findung der eigentlichen Identität vorkommt, wird von den anderen als Entfremdung wahrgenommen. 6 Freilich kann es auch sein, dass der Konquistador aufgrund eines spontanen Gefühls des Mitleides dazu kommt, seine ursprüngliche (eingeschränkte) Auffassung vom Menschen zu verändern. Zwischen unseren Überzeugungen und unseren Gefühlen herrscht ein wechselseitiges Beeinflussungsverhältnis. So wie unsere Überzeugungen unsere Gefühle prägen, können auch unsere Gefühle unsere Überzeugungen verändern. Es soll hier also nicht in Abrede gestellt werden, dass es dazu kommen kann, dass wir unsere Überzeugungen aufgrund unserer Gefühlsregungen korrigieren. Dies ändert aber nichts daran, dass es sich eben häufig auch umgekehrt verhält: dass unsere Überzeugungen unsere Gefühle beeinflussen und wir unsere Gefühle anhand unserer Überzeugungen – und dazu zählen auch unsere Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen – bewerten, kontrollieren und korrigieren. 7 Das Gleiche gilt drittens für unser Denken und Urteilen; auch diese Akte werden von Menschenbildern beeinflusst: Weil der Konquistador den Indianer nicht für menschlich hält, urteilt er, dass es richtig wäre, ihn zu versklaven, und nicht weiter schlimm, ihn umzubringen. Weil individualistische Kulturen den Menschen für individuelle Wesen halten, halten sie auch die Emanzipation und Selbstverwirklichung des Einzelnen für richtig, während kollektivistische Kulturen die Unterordnung unter die Gesellschaft für richtig halten. Oder, um eines der wenigen konkret untersuchten Beispiele anzuführen: Weil manche US-Amerikaner und -Amerikanerinnen den Menschen für im Kern egoistisch und schlecht halten, stehen sie einer interventionistischen Außenpolitik, die anderen Völkern aus altruistischen Motiven zur Hilfe eilt, ablehnend gegenüber, während diejeVgl. Markus/Kitayama, Culture and the Self, 227 f. Die Abhängigkeit unserer Gefühle von unseren Überzeugungen wird vor allem von kognitiven Emotionstheorien betont; vgl. dazu etwa Solomon, Robert, True to our Feelings: What our Emotions are Really Telling Us, Oxford u. a. 2007; Nussbaum, Martha, Emotions as Judgements of Value and Importance, in: Solomon, Robert (Hg.), Thinking About Feeling: Contemporary Philosophers on Emotions, New York 2004, 183–199; Scherer, Klaus, Appraisal Considered as a Process of Multilevel Sequential Checking, in: Ders./Schorr, Angela/Johnstone, Tom (Hg.), Appraisal Processes in Emotion: Theory, Methods, Research, Oxford u. a. 2001, 92–120. Zur Frage, inwieweit unsere Gefühle unsere Überzeugungen beeinflussen vgl. Frida, Nico/ Manstead, Antony/Bem, Sacha (Hg.), Emotions and Beliefs. How Feelings Influence Thoughts, Cambridge/New York/Melbourne 2000.

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nigen, die den Menschen für im Kern gut halten, für eine solche Außenpolitik leichter zu gewinnen sind. Wenig erstaunlich halten Brewer und Steenbergen fest, »[…] that cynicism about human nature has important consequences in the realm of public opinion. People with little faith in human nature tend to have a different outlook on foreign policy than people who trust in the good will of others.« 8 Und schließlich schlagen sich Menschenbilder viertens in unserem Handeln nieder: Weil der Konquistador den Indianer nicht für menschlich hält, versklavt er ihn oder bringt ihn ohne Skrupel um. Weil ich davon überzeugt bin, dass die menschliche Individualität von Bedeutung ist, bestärke ich meine Kinder in ihrer Individualität und erziehe sie zur Selbstständigkeit. Weil ich der Ansicht bin, dass Menschen im Grunde gut sind, schließe ich mich den Protesten für eine humanitäre Militärintervention an und gehe dafür auf die Straße. Dass Menschenbilder Einfluss auf die intentionalen Operationen von Menschen haben, hat sich nicht zuletzt auf unübersehbare und grauenhafte Weise im Nationalsozialismus gezeigt. Nicht nur ist der Nationalsozialismus als Ideologie auf dem Fundament eines rassistischen Menschenbildes aufgebaut, sondern er hat sich als politische Bewegung in seiner Propaganda und seiner Indoktrination auch gezielt der Wirkungen von Menschenbildern bedient. Weil die Nationalsozialisten – an Nietzsche geschult – wussten, dass Menschenbilder tiefgehenden Einfluss auf das Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln von Menschen nehmen können, haben sie ihr Menschenbild, mit dem sie das Arische zum Übermenschen erhöhten und alles Nicht-Arische zum »Untermenschen« dehumanisierten, als Manipulationsinstrument eingesetzt. In der berüchtigten dreistündigen Rede Himmlers an die SS-Gruppenführer am 4. Oktober 1943 im polnischen Posen kommt dies mit einer die Schmerzgrenze überschreitenden Deutlichkeit zum Ausdruck. In der Rede ruft Himmler die SS eindringlich zu einer Haltung der Härte und Unmenschlichkeit gegenüber allen Menschen nicht-arischer, vor allem slawischer Herkunft auf. Er legitimiert diese Haltung mehrmals explizit durch ein rassistisches Menschenbild, das brutal zwischen dem wertvollen deutschen Menschen und den wertlosen nicht-deutschen »Menschentieren« unterscheidet; an der zentralen Stelle sagt er: Brewer, Paul/Steenbergen, Marco, All Against All: How Beliefs about Human Nature Shape Foreign Policy Opinions, in: Political Psychology 23/1 (2002), 39–58, hier 54.

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Es ist grundfalsch, wenn wir unsere ganze harmlose Seele mit Gemüt, wenn wir unsere Gutmütigkeit, unseren Idealismus in fremde Völker hineintragen. Das gilt, angefangen von Herder, der die »Stimmen der Völker« wohl in einer besoffenen Stunde geschrieben hat und uns, den Nachkommen, damit so maßloses Leid und Elend gebracht hat. Das gilt, angefangen bei den Tschechen und Slowenen, denen wir ja ihr Nationalgefühl gebracht haben. Sie selber waren dazu gar nicht fähig, sondern wir haben das für sie erfunden. Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. Wir werden niemals roh und herzlos sein, wo es nicht sein muss; das ist klar. Wir Deutsche, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen, aber es ist ein Verbrechen gegen unser eigenes Blut, uns um sie Sorge zu machen und ihnen Ideale zu bringen, damit unsere Söhne und Enkel es noch schwerer haben mit ihnen. Wenn mir einer kommt und sagt: »Ich kann mit den Kindern oder den Frauen den Panzergraben nicht bauen. Das ist unmenschlich, denn dann sterben die daran«, – dann muss ich sagen: »Du bist ein Mörder an Deinem eigenen Blut, denn, wenn der Panzergraben nicht gebaut wird, dann sterben deutsche Soldaten, und das sind Söhne deutscher Mütter. Das ist unser Blut.« Das ist das, was ich dieser SS einimpfen möchte und – wie ich glaube – eingeimpft habe, als eines der heiligsten Gesetze der Zukunft: Unsere Sorge, unsere Pflicht, ist unser Volk und unser Blut; Dafür haben wir zu sorgen und zu denken, zu arbeiten und zu kämpfen, und für nichts anderes. Alles andere kann uns gleichgültig sein. Ich wünsche, dass die SS mit dieser Einstellung dem Problem aller fremden, nicht germanischen Völker gegenübertritt, vor allem den Russen. Alles andere ist Seifenschaum, ist Betrug an unserem eigenen Volk und ist ein Hemmnis zu einer früheren Gewinnung des Krieges. 9

So unbegreiflich uns diese Worte heute auch erscheinen mögen: Vor dem Hintergrund der unfassbaren Gräueltaten des NationalsozialisHimmler, Heinrich, Rede des Reichsführers SS bei der SS-Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943, Quelle: http://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0008_ pos_de.pdf [Zugriff am 10. 12. 2015].

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mus im Allgemeinen und der SS im Besonderen wissen wir, dass die intendierte Überhöhung der arischen Rasse und die Dehumanisierung anderer Rassen mittels eines rassistischen Menschenbildes nur allzu gut funktioniert hat. Das rassistische Menschenbild hat sich tatsächlich der Wahrnehmung sowie des Fühlens, Denkens und Handelns der Abertausenden, die im Banne dieser Ideologie standen, bemächtigt. 10

(2) Wirkungen auf Institutionen Menschenbilder prägen nicht nur die geistigen Operationen von Individuen, sondern Menschenbilder wirken – sobald sie mit einer gewissen Macht ausgestattet sind, sei es, weil sie gesellschaftlich breit geteilt sind, sei es, weil eine herrschende Clique sie der Gesellschaft aufzwingen kann – auch auf die Institutionen einer Gesellschaft. 11 Darunter sollen die gemeinsam geteilten Regelungssysteme formeller (z. B. Rechtssystem, Erziehungssystem) und informeller Art (gesellschaftliche Praktiken, Riten, Moralsystem) verstanden werden, die das soziale Verhalten der Gesellschaftsmitglieder formen, stabilisieren und lenken. Institutionen sind ja – dies wurde oben beschrieben – »Speicherorte« von Menschenbildern, in ihnen sind Menschenbilder gleichsam archiviert. Durch Institutionen werden Menschenbilder von Generation zu Generation weitergegeben; Institutionen prägen mithin das, was die Mitglieder der Gesellschaft vom Menschen denken. In gleicher Weise werden Institutionen aber auch von Menschenbildern geprägt: »Der Ausgestaltung der institutionellen Arrangements liegen implizit oder explizit bestimmte Normen und dahinterliegende Wertvorstellungen zugrunde. […] Die Normen und Regeln richten sich ihrerseits an Vorstellungen aus, wie der Mensch ist und wie er sein sollte.« 12 Unmittelbar ersichtlich ist das am Moralsystem einer Gesellschaft sowie an den Institutionen des Rechts und der Pädagogik. Alle drei Institutionen sind fundamental von MenZu den Wirkungen des nationalsozialistischen Menschenbildes vgl. Mayer, »Wer nicht für uns ist«; Wendt, Moderner Machbarkeitswahn. 11 Zu Menschenbildern in Institutionen vgl. Held, Martin, »Die Ökonomik hat kein Menschenbild« – Institutionen, Normen, Menschenbild, in: Bievert, Bernd/Held, Martin (Hg.), Das Menschenbild der ökonomischen Theorie, Frankfurt am Main 1991, 10–41. 12 Held, Ökonomik, 29. 10

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schenbildern durchwirkt; Menschenbilder sind die legitimatorische und orientierende Basis dieser Institutionen. Der Grund dafür ist leicht einsehbar: Institutionen sind um des Menschen willen da und orientieren sich daher an dem, was vom Menschen geglaubt wird. Je nach zugrundeliegendem Menschenbild fallen sie daher sehr unterschiedlich aus. Dies sei am Beispiel des deutschen Rechts knapp veranschaulicht: Das pflichtzentrierte deutsche Recht des Mittelalters setzte, so Gustav Radbruch in seinem berühmten Aufsatz über den Mensch[en] im Recht, »durch Sitte, durch Religion an die Pflicht und an die Gemeinschaft gebundene Menschen voraus«. 13 Renaissance, Reformation und Rezeption des römischen Rechts ab Ende des 15. Jahrhunderts entbinden den Einzelmenschen danach aus der Gemeinschaft und machen so den »nicht mehr von der Pflicht, sondern vom Interesse geleiteten Einzelmenschen auch zum Ausgangspunkt des Rechts.« 14 Der paternalistische Polizeistaat geht wiederum von einem Menschen aus, »der zwar egoistisch genug ist, sich von seinem Interesse leiten zu lassen, aber noch nicht verständig genug ist, dieses Interesse auch selber zu erkennen.« 15 Aufklärung und Naturrecht hingegen unterstellen dann das individualistische, aus allen sozialen Bindungen gelöste, »nicht nur sehr eigennützige, sondern auch in seinem Eigennutz sehr kluge Individuum«. 16 Grundlage des Rechts bilden jetzt die »als sämtlich eigennützig, verständig, aktiv, frei gedachten Menschen«, die auch »als einander gleich gedacht« werden. 17 Dieses Menschenbild wird nun mit bewundernswerter Stringenz zum Fundament der Rechtsordnung: »Nur dieser naive Glaube an die Realität ihrer Auffassung vom Menschen befähigte diese Zeit, die gesamte Rechtsordnung mit einer Folgerichtigkeit, die wir bewundern müssen, auf den neuen Menschentypus einzustellen.« 18 In der Moderne wird dieses idealistische Bild des Menschen schließlich abgelöst von einem etwas realitätsnäheren Bild, dem Bild des »Kollektivmenschen«: Das neue Bild vom Menschen ist im Verhältnis zu dem abstrakten Freiheits-, Eigennutz- und Klugheitsschema des liberalen Zeitalters ein viel le-

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Radbruch, Mensch im Recht, 10. Ebda., 11. Ebda., 12. Ebda. 13. Ebda. Ebda.

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bensnäherer Typus, in den auch die intellektuelle, wirtschaftliche, soziale Machtlage des Rechtssubjekts miteingedacht wird. Der Mensch im Recht ist fortan nicht mehr Robinson oder Adam, nicht mehr das isolierte Individuum, sondern der Mensch in der Gesellschaft, der Kollektivmensch. 19

Institutionen organisieren sich also, so können wir zusammenfassen, um das jeweilige Bild des Menschen herum; sie werden von diesem fundamental geprägt. Für das Recht bringt Gustav Radbruch die Wirkungen von Menschenbildern so auf den Punkt: »Man darf sogar sagen: der Wechsel des vorschwebenden Bildes vom Menschen ist es, der in der Geschichte des Rechts ›Epoche macht‹. Nichts ist so entscheidend für den Stil eines Rechtszeitalters wie die Auffassung vom Menschen, an der es sich orientiert.« 20 Ähnliches gilt für die Pädagogik; auch sie ist von einem Menschenbild durchwirkt. Über ihr Verhältnis zum Menschenbild schreibt Otto Friedrich Bollnow: Die Anthropologie ist der Schlüssel jedes pädagogischen Systems; denn wir begreifen die Geschichte der Pädagogik nicht als die stetig sich vervollkommnende Entwicklung einzelner Gedanken, sondern von der ständigen Wandlung und Erneuerung des Menschenbildes her, aus dem sich in jeder Ebda. 16. Ebda. 9; vgl. auch Lampe, Ernst-Joachim, Rechtsanthropologie. Eine Strukturanalyse des Menschen im Recht, 1, Berlin 1970, 17 ff. Ein ganz ähnliches Programm wie Radbruch verfolgt Böckenförde in einem Vortrag aus dem Jahre 2000, interessanterweise ohne auf Radbruchs berühmten Vortrag Bezug zu nehmen; vgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Vom Wandel des Menschenbildes im Recht, Münster 2001. Die ersten programmatischen Zeilen (5) darin lauten: »In welcher Weise lässt sich von einem Menschenbild im Recht sprechen? Das Recht regelt das äußere Zusammenleben der Menschen. Es tut dies nicht nur als Angebot, sondern verbindlich, das heißt mit einem normativen Anspruch, der auf Befolgung zielt. Das Recht ist darauf angelegt und angewiesen, daß es im Streit- und Weigerungsfall auch durchgesetzt werden kann. Mit den subjektiven Rechten und Ansprüchen, die es verleiht, den Geboten und Verboten, die es ausspricht, mit den Verfahrensregeln, die es festlegt, und den Institutionen, die es gestaltet und normativ unterfängt, betrifft es die Lebenswelt der Menschen und ist Teil davon. In der Art, wie das Recht dies alles tut, läßt es ausdrücklich oder indirekt eine Vorstellung vom Menschen erkennen: als wer ist er anzusehen und was kommt ihm zu, worin ist er zu schützen, was ist ihm zu ermöglichen und wovon ist er fernzuhalten. Dieses Bild vom Menschen findet seinen Ausdruck sowohl in konkreten Regelungen und Festsetzungen des Rechts, wie auch in den tragenden Prinzipien einer Rechtsordnung und der philosophischen Reflexion, die diesen zugrunde liegt. Zugleich sind das Recht und die Rechtsordnung, die die Menschen umgibt, weil es sich um einen Teil ihrer Lebenswelt handelt, ein Faktor ihrer Selbsterfahrung; als solcher wirken sie auf das Selbstverständnis der Menschen ein und bestimmen damit auch das Bild der Menschen von sich selbst mit.« Vgl. ferner auch Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat.

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Epoche und bei jedem einzelnen Denker das Ganze der pädagogischen Vorstellungen, der Erziehungsziele sowohl als auch der Auswahl der zu ihnen hinführenden Mittel jedesmal neu entfaltet. 21

Freilich darf nicht der Fehler begangen werden, das Menschenbild des Rechts, der Pädagogik und anderer Institutionen mit lebensweltlichen Menschenbildern zu verwechseln. In dem Maße, in dem sich um diese Institutionen herum ein Expertentum herausbildet, das nach und nach eine je eigene Subsinnwelt mit ihrer je eigenen Fachsprache und ihren Fachdiskursen, ihren wissenschaftlichen Disziplinen, ihren Methoden und Perspektiven usw. entstehen lässt, in dem Maße koppelt sich das Menschenbild bzw. die Menschenbilder dieser Expertenwelten auch von dem allgemeinen lebensweltlichen Menschenbild ab. So ist etwa das Menschenbild des deutschen Grundgesetzes – sofern es ein solches überhaupt gibt, und in das, wenn es denn existiert, unter anderem die vielen Menschenbilder, die sich in den deutschen Rechtswissenschaften zur Zeit seiner Genese fanden, mit eingeflossen sind – nicht mit dem Menschenbild der Lebenswelt der deutschen Gesellschaft identisch. Gleichwohl spiegelt das Menschenbild des Rechts ebenso wie die vielen Menschenbilder der rechtlichen Expertendiskurse in Grundzügen das Menschenbild der Lebenswelt, ja müssen es spiegeln, denn ansonsten würde das Recht nicht die Akzeptanz der Rechtsgemeinschaft und würden die Expertendiskurse keinen Anschluss an die Lebenswelt finden können. Dies bedeutet: Auch wenn zwischen dem Menschenbild der Lebenswelt und den gesellschaftlichen Institutionen vielerlei Übersetzungs- und Transformationsprozesse zwischengeschaltet sind, schlägt das Menschenbild der Lebenswelt dennoch fundamental auf diese Institutionen durch.

(3) Wirkungen auf die menschliche Konstitution Menschenbilder prägen sowohl das Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln von Individuen als auch die gesellschaftlichen Regelungssysteme, denen Individuen unterworfen sind und die das Leben Bollnow, Otto Friedrich, Die Pädagogik der deutschen Romantik. Von Arndt bis Fröbel, Stuttgart 1952, 25. Zu Menschenbildern in der Pädagogik vgl. Wulf, Christoph/Zifras, Jörg (Hg.), Handbuch Pädagogische Anthropologie, Wiesbaden 2014; Wolf, Gabriela, De Dignitate Hominis. Zum Menschenbild in der Geschichte der Pädagogik, Norderstedt 2007; ferner Meinberg, Menschenbild.

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derselben in ihren vordefinierten Bahnen lenken. Damit sind die Wirkungen von Menschenbildern aber noch nicht vollständig erfasst, denn Menschenbilder haben noch weitergehende Wirkungen, nämlich Wirkungen auf die Konstitution von Individuen, d. h. auf die Art und Weise, wie Menschen sind. Menschenbilder biegen sich gleichsam auf ihre Träger zurück. Sie bemächtigen sich nicht nur der intentionalen Akte der Individuen und der institutionellen Arrangements, in die Individuen eingespannt sind, sondern sie formen darüber hinaus noch diese Individuen selbst. Um verständlich zu machen, was damit gemeint ist, sind zunächst einige Klärungen erforderlich. Erstens: Dass Menschenbilder eine Wirkung auf die Konstitution des Menschen haben können, setzt voraus, dass Menschen in der Art und Weise, wie sie sind – also beispielsweise hinsichtlich ihrer Charaktäre, ihrer Verhaltensdispositionen, ihrer Fähigkeiten usw. – zumindest bis zu einem gewissen Grade plastisch sind. Wir unterstellen im Folgenden also, dass der Mensch wenigstens teilweise formbar ist – durch Umwelteinflüsse, durch Kultur, durch die Gesellschaft oder eben durch Menschenbilder. Diese anthropologische These der begrenzten Formbarkeit des Menschen soll hier nicht weiter begründet werden, sondern wird einfach gesetzt, zumal sie nicht sonderlich ausgefallen ist. Sie nimmt in der Naturalismus-Kulturalismus-Debatte eine vage Mittelposition ein und entspricht darin wohl einem breiten wissenschaftlichen Konsens: 22 Die Eigenschaften des Menschen sind zum Teil angeboren, zum Teil erworben, wobei die angeborenen und erworbenen Aspekte so ineinandergreifen, dass eine Unterscheidung eigentlich nicht möglich ist. Der Mensch gleicht in dieser Hinsicht einem mit Wasser gefüllten Glas (Angeborenes), in das mehr und mehr Farbe (Erworbenes) hinzugegossen wird, die sich im Wasser mehr oder weniger gleichmäßig verteilt und das gesamte Wasser einfärbt. Hinzu kommt, dass die Mischung zwischen Angeborenem und Erworbenem nicht bei allen Menschen gleich ist, sondern jeder Mensch seine ganz eigene Mischung aufweist. In der Verteilung der angeborenen und erwor-

Vgl. Goldhaber, Nature-Nurture Debates. Nicht zuletzt aufgrund der Erkenntnisse der Epigenetik wird die starke Dichotomie zwischen Angeborenem und Erworbenem für obsolet gehalten. Jüngst wurde diese Einschätzung unterstützt von einer umfassenden Zwillingsstudie von Polderman, Tinca u. a., Meta-Analysis of the Heritability of Human Traits Based on Fifty Years of Twin Studies, in: Nature Genetics 47 (2015), 702–709.

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benen Aspekte gibt es folglich große individuelle Unterschiede; die Grenze zwischen Natur und Kultur verläuft in jedem Menschen anders. Die Vagheit der hier gesetzten anthropologischen These ist also nicht nur dem Umstand geschuldet, dass eine genauere Festlegung auf der Skala zwischen Naturalismus und Kulturalismus der Ausarbeitung einer eigenen Anthropologie bedürfte, was hier nicht intendiert ist, sondern vielmehr auch dem Umstand, dass sich von der Sache her eine genauere Festlegung verbietet. Es lässt sich nicht ein für alle mal für den Menschen im Allgemeinen festlegen, wo die Grenze zwischen Natur und Kultur verläuft. Von daher bleibt der Theorie nur, sich in grobe Verallgemeinerungen zu flüchten: Einiges am Menschen ist angeboren, anderes ist erworben, und bei jedem Menschen ist es anders. Für einiges bringt der Mensch angeborene Dispositionen – ein Naturpotential – mit, für dessen konkrete Ausgestaltung aber dann das Erworbene zuständig ist. So ist es beispielsweise relativ banal zu sagen, dass der Mensch von Natur aus die grundsätzliche Fähigkeit mitbringt, eine Sprache zu erlernen. Welche der Sprachen er dann erlernt, ist allerdings eine Frage des Erworbenen. Wie weit er es in der Beherrschung einer Sprache bringt, hängt wiederum von beidem ab, nämlich von einem angeborenen Sprachtalent und dem Niveau der Sprachbildung, das er erhält usw. Wir gehen also erstens davon aus, dass der Mensch bis zu einem gewissen Grade formbar ist. Um die Wirkungen von Menschenbildern auf den Menschen zu verstehen, ist zweitens zu sehen, dass Menschenbilder einen enormen Anpassungsdruck auf Individuen – die jeweils unterschiedlich darauf reagieren – ausüben. Ersichtlich wird dies, wenn man sich Folgendes vor Augen führt: Ein Kind wird geboren. Von seinen Eltern und anderen Mitmenschen – den Hebammen und Pflegekräften, die es betreuen, den Ärztinnen und Ärzten, die es vermessen, kontrollieren und therapieren, den nahen und fernen Verwandten, die es bestaunen, aufmuntern, loben und tadeln, den Pädagoginnen und Pädagogen, die es lehren und erziehen usw. – wird es als Mensch, d. h. durch die Folie des Menschenbildes ihrer gemeinsamen Lebenswelt betrachtet und behandelt: Es wird mit der Erwartung konfrontiert, diejenigen Eigenschaften zu zeigen und zu entwickeln, die Menschen (gemäß dieses Menschenbildes) im Allgemeinen haben. Freilich sind die Zuschreibungen und Erwartungen durch andere im Detail sehr unterschiedlich. Das Kind wird von seinen Mitmenschen als Baby, Kleinkind, Mädchen, Tochter, Schwester, Enkel, Schülerin, Schlingel, Heulsuse, Draufgängerin, Teenager usw. 375 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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typisiert. Aber all diesen Typisierungen wohnt – als übergeordnete Hyper-Typisierung – immer auch das Menschenbild der Lebenswelt inne. Die gebündelten Zuschreibungen und Erwartungen der Anderen enthalten folglich trotz ihrer Vielgestaltigkeit das eine Menschenbild der gemeinsamen Lebenswelt. Dieses Menschenbild wird sich das Kind nach und nach zu eigen machen, verinnerlichen und zu einem wichtigen Bestandteil seiner Identität werden lassen. 23 Darüber hinaus bilden die Eltern des Kindes und die meisten seiner Mitmenschen in ihrem Sein und Tun das Menschenbild ab, haben sie es doch selbst einmal verinnerlicht, so dass sie es nun verkörpern. Indem das Kind seine Eltern und andere Menschen wahrnimmt, sie nachahmt, ihnen nacheifert und sie als Vorbilder nimmt, übt es sich ebenfalls in das Menschenbild der gemeinsamen Lebenswelt ein. In einem langwierigen Prozess der Nachahmung und ständigen Wiederholung verleibt sich das Kind das Menschenbild der Lebenswelt gleichsam ein; dieses schreibt sich so dem Sein und Tun des Kindes ein. 24 Auch die Institutionen, die das Kind begrenzen und formen, sind von dem Menschenbild durchwirkt: Die täglichen Rituale, die ihm seinen Tag strukturieren und ihm Halt schenken; die Regeln der Spiele, mit denen es sich seine Zeit vertreibt, 25 die Moral, die ihm gelehrt wird und die ihm Grenzen auferlegt, ihm Orientierung schenkt und die es sich nach und nach aneignet; das pädagogische System über die Krabbelstube und den Kindergarten, die Schule, die Lehrausbildung und die Universität; das Rechtssystem, das im äußersten Fall dazu zwingt, sich den Gesetzen – und damit dem ihnen innewohnenden Menschenbild – zu unterwerfen. 26 Von der Geburt bis zum Tod ist der Mensch in das Menschenbild seiner Lebenswelt eingespannt; dieses umfängt ihn von allen Seiten und bedrängt ihn in subtiler Massivität. Seine Mitmenschen schreiben es ihm ungefragt zu und erwarten ein entsprechendes Verhalten, seine Mitmenschen verkörpern es, es Vgl. hierzu die klassische Analyse von Mead, George, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt am Main 1973, 177–271, insbesondere 180 ff. und 194 ff. 24 Vgl. hierzu etwa Bourdieu, Pierre, Rede und Antwort, Frankfurt am Main 1992, 190. Zum Konzept der Einverleibung bei Bourdieu vgl. Fröhlich, Gerhard, Einverleibung (incorporation), in: Ders./Rehbein, Boike (Hg.), Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2009, 81–90. 25 Zur Rolle des Spiels bei der Bildung der kindlichen Identität vgl. Mead, Geist, Identität, Gesellschaft 194 f. 26 Vgl. dazu Foucault, Überwachen und Strafen. 23

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steckt in den institutionellen Arrangements der Gesellschaft und überhaupt in der ganzen Lebenswelt. Aus den Kinderbüchern, Märchen und Erzählungen springt es ihm entgegen, von Film, Fernsehen, Literatur und all den bunten Magazinen, die ein wenig Ablenkung versprechen, wird es tagtäglich transportiert, und nicht zuletzt die ganz banale, alltägliche Lebenspraxis fordert es unentwegt ein. Auf diese Weise lernt das Menschenkind schließlich irgendwann, sich selbst als Mensch zu begreifen, d. h. es lernt, sich selbst im Lichte des Menschenbildes zu betrachten, unter dem es aufwächst. Wenn dies so weit ist, tritt zu dem Anpassungsdruck, der von Außen auf das Kind wirkt, der Anpassungsdruck, der von Innen auf das Kind wirkt: Das Kind übernimmt das Menschenbild, das an es herangetragen wird, verinnerlicht es und lässt es so zum Teil seiner Identität werden. Fortan legt es das Menschenbild der Lebenswelt als den unhinterfragten, da für die Realität selbst gehaltenen Maßstab an sich selbst an: es nimmt sich selbst als Mensch wahr, es misst, beurteilt und kontrolliert sich an dem und versucht das zu verwirklichen, was es für selbstverständlich menschlich nimmt. Auf diese vierfache Art und Weise – durch die Erwartungen der anderen, die sich der Mensch zu eigen macht, durch das Sein und Tun der Anderen, die als Vorbild wirken, durch den Zwang der Institutionen und durch Selbstwahrnehmung, Selbstkontrolle und Selbstzensur – schreibt sich das Menschenbild dem Individuum ein und zeitigt dort seine weitreichenden Wirkungen: Es formt den Menschen nach seinem Bilde. Inwiefern formt das Menschenbild nun den Menschen? Um diese Frage zu klären, ist es sinnvoll, zunächst festzuhalten, worauf Menschenbilder keinen Einfluss haben: Menschenbilder haben keinen Einfluss auf jene Grundtatsachen des Menschen, die überhaupt unabhängig von jeglichen menschlichen Einflüssen sind. Was diese Grundtatsachen sind, lässt sich nicht allgemein bestimmen, aber es lässt sich durch Beispiele veranschaulichen, was damit gemeint ist: Die Tatsache, dass der Mensch einen Körper hat, ist unabhängig davon, ob der Mensch glaubt, einen Körper zu haben. Die Tatsache, dass der Mensch physikalischen, chemischen und biologischen Naturgesetzlichkeiten unterworfen ist, ist unabhängig davon, ob der Mensch glaubt, diesen Gesetzen unterworfen zu sein. Die Tatsache, dass der Mensch der Zeitlichkeit und dem Prozess des Alterns unterworfen ist, ist unabhängig davon, ob der Mensch glaubt, dass er in der Zeit steht und altert. Ob der Mensch nun tatsächlich eine Seele (oder so377 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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gar deren viele) oder eben keine Seele hat, ist unabhängig davon, ob er glaubt, eine Seele (oder deren viele) oder eben keine zu haben. Ob das menschliche Selbst tatsächlich eine Illusion ist, ist unabhängig davon, ob der Mensch glaubt, sein Selbst sei eine Illusion. Es kommt hier nicht darauf an, genau zu bestimmen, was am Menschen nicht durch Überzeugungen über den Menschen beeinflussbar ist. Dies würde wieder eine eigene anthropologische Theorie erfordern, die hier nicht angestrebt ist. Entscheidend ist bloß, zu sehen, dass es am Menschen einen solchen Bereich der objektiven, unabhängigen Tatsachen gibt, auf den Menschenbilder prinzipiell keine Wirkung ausüben können. Auf andere Bereiche oder Eigenschaften des Menschen haben Menschenbilder hingegen sehr wohl Einfluss. Dieser reicht dabei von (a) physisch-körperlichen Aspekten über (b) die Persönlichkeit bis hin zur (c) menschlichen Subjektivität bzw. der Art und Weise, wie es sich für einen Menschen anfühlt, zu sein. (a) Der Einfluss von Menschenbildern kann sich auf physisch-körperliche Aspekte des Menschen erstrecken. Wenn sich, wie etwa Pierre Bourdieu argumentiert, der lebensweltliche Sinn- und Überzeugungshorizont einer Gesellschaft auch im Körper, insbesondere in Habitus und Hexis der Gesellschaftsmitglieder – gleichsam als inkorporiertes Kulturkapital – abbildet, dann bildet sich in Habitus und Hexis auch das in den Sinn- und Überzeugungshorizont eingelassene Menschenbild ab.27 So ist etwa denkbar, dass sich ein Menschenbild in der Körperhaltung und den Bewegungen von Individuen niederschlägt. Von jemandem, der ein äußerst pessimistisches Menschenbild vertritt, ist beispielsweise nur schwer vorstellbar, dass er aufrechten, federnd-leichten Ganges durch die Welt spaziert. Dass Menschenbilder tatsächlich auf den Körper wirken können, wird insbesondere dort deutlich, wo sich leibfeindliche Menschenbilder in der Vernachlässigung oder strengen Züchtigung des Körpers niederschlagen. Weil der Mensch als ein eigentlich geistiges Wesen angesehen wird, das in dem Gefängnis eines sündhaften, schlechten Leibes steckt, muss dieser kontrolliert, negiert und letztendlich überwunden werden. Der ge-

Vgl. dazu Bourdieu, Pierre, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, 183–198, hier 186 ff. Vgl. dazu ferner auch Foucault, Überwachen und Strafen, v. a. 173–219.

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schundene Körper wird damit zum weithin sichtbaren Zeugnis der Überzeugungen über den Menschen. Menschenbilder können also auf den menschlichen Körper einwirken. Die Wirkungen sind freilich in erster Linie indirekter Natur: Weil Menschenbilder ihre Träger zu bestimmten Einstellungen und Handlungen ihrem eigenen Körper oder den Körpern anderer gegenüber veranlassen, verändern Menschenbilder auch den menschlichen Körper. (b) Direkter – und deswegen auch entscheidender – als auf den Körper ist der Einfluss von Menschenbildern auf die psychische Sphäre des Menschen. Als zentrale Größe, die dem Einfluss von Menschenbildern unterliegt, ist hier die Persönlichkeit von Menschen zu nennen. Unter Persönlichkeit – ein notorisch unscharfer und umstrittener Begriff – soll dabei, relativ breit, die zeit- und situationsstabile Art und Weise des Verhaltens eines Menschen verstanden werden. Die Persönlichkeit umfasst damit zentral dasjenige, was man als Charakter, also dauerhafte Verhaltensdispositionen, bezeichnet, aber darüber hinaus auch Fähigkeiten, Talente, Gewohnheiten sowie dauerhafte Ziele, Wünsche und Einstellungen. 28 Dieser Persönlichkeitsbegriff ist damit wesentlich breiter als das in der Psychologie sehr verbreitete, aber nicht unumstrittene Fünf-Faktoren-Modell von Costa und McCrae. 29 Dieses Modell fokussiert auf fünf angeborene Hauptdimensionen von Persönlichkeit, die in ihrer jeweiligen individuellen Ausprägung – von sehr ausgeprägt bis schwach ausgeprägt – ebenfalls angeboren sind. Der hier verwendete Begriff umfasst demgegenüber nicht nur angeborene, sondern eben auch erworbene Aspekte, wie etwa Fähigkeiten, Einstellungen, Wünsche usw. Persönlichkeit besteht demzufolge also zum einen aus angeborenen, invarianten Elementen, zum anderen aus variablen Elementen, die durch kulturellen Einfluss überformbar sind. 30 Zum Begriff Persönlichkeit vgl. Zichy, Michael, Persönlichkeit. Zu einigen Aspekten der alltagssprachlichen Begriffsverwendung, in: Ders./Friedrich, Orsolya (Hg.), Persönlichkeit. Neurowissenschaftliche und neurophilosophische Herausforderungen, Münster 2014, 23–48. 29 Vgl. Costa, Paul/McCrae, Robert, Revised NEO Personality Inventory (NEO-PI-R) and NEO Five-Factor Inventory (NEO-FFI) manual, Odessa 1992. 30 Vgl. dazu Benet-Martínez, Verónica/Oishi, Shigehiro, Culture and Personality, in: John, Oliver/Robins, Richard/Pervin, Lawrence (Hg.), Handbook of Personality: Theory and Research, New York 32008, 542–567; Triandis, Harry/Eunkook, Suh, Cul28

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Dass sich Menschenbilder der so verstandenen Persönlichkeit von Menschen aufprägen, bedarf keiner großen Erläuterungen. Man muss sich dazu bloß vor Augen halten, dass Sinn und Ziel der gesamten pädagogischen Praxis schon seit jeher – nicht ausschließlich, aber doch auch – darin liegen, die Persönlichkeit von Menschen zu bilden. Nicht von ungefähr sind Menschenbilder auch ein zentrales Thema jeder pädagogischen Theorie, geben sie doch die Leitbilder ab, an denen sich die pädagogischen Bemühungen orientieren. 31 Und so ist nicht nur gut vorstellbar, sondern auch hinreichend belegt, dass etwa eine humanistische Pädagogik, die an das »Gute im Menschen« glaubt und sich am Leitbild des selbstbestimmten Menschen orientiert, andere Menschen hervorbringt als eine Schwarze Pädagogik, der zufolge der Mensch ein abgrundtief schlechtes Wesen ist, das der kompromisslosen Unterwerfung unter eine starke Führung bedarf und dem die gesellschaftlichen Regeln wenn notwendig auch mit Gewalt »eingebläut« werden müssen. 32 Menschen werden in ihrer Persönlichkeit von den Menschenbildern, unter denen sie aufwachsen, zutiefst geprägt. Die Tatsache, dass Menschenbilder auf die Persönlichkeit von Individuen Einfluss nehmen, sei an einem Beispiel noch etwas weiter erhellt: Im individualistischen Menschenbild westlicher Kulturen ist die Idee der Autonomie des Menschen tief verankert. Wir glauben mit Kant daran, dass der Mensch nicht nur prinzipiell die Fähigkeit hat, »sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen« und daher auch die Fähigkeit hat, selbstständig und selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, sondern wir glauben auch, dass tural Influences on Personality, in: Annual Review of Psychology 53 (2002), 133–160. Die große und umstrittene Frage ist dann freilich, ob die angeborenen oder erworbenen Faktoren überwiegen; vgl. dazu McCrae, Robert, Trait Psychology and the Revival of Personality and Culture Studies, in: American Behavioral Scientist 44/1 (2000), 10–31 sowie – selbst klar einen naturalistischen Ansatz vorziehend – ders., Human Nature and Culture: A Trait Perspective, in: Journal of Research in Personality 38/1 (2004), 3–14. 31 Auch Kant sieht dies so: »Ein Prinzip der Erziehungskunst, das besonders solche Männer, die Pläne zur Erziehung machen, vor Augen haben sollten, ist: Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit, und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden.« Kant, Immanuel, Über Pädagogik, Werkausgabe, Bd. 12, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977, 704 (A 17). 32 Zur Schwarzen Pädagogik und ihren Folgen vgl. Müller-Münch, Ingrid, Die geprügelte Generation. Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen, Stuttgart 2012.

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der Mensch diese Fähigkeit ausbilden und kultivieren sollte: Menschen sollen autonom sein. 33 Es ist nun dieser in den westlichen Kulturen tief verankerte Glaube an die Autonomie des Menschen, der im Menschen erst die Fähigkeit zur Autonomie gedeihen lässt. Denn damit der Mensch diese Fähigkeit, selbstständige, selbstbestimmte Entscheidungen treffen zu können, entwickeln kann, bedarf es an aller erster Stelle der entsprechenden Handlungsfreiräume. Wenn einem Individuum von der Gesellschaft keine Entscheidungsfreiräume gewährt werden, in denen es erspüren, erproben und üben kann, »sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen«, wird es die Fähigkeit dazu kaum entdecken und ausbilden können. Die Freiheitsräume wiederum werden nur dann zur Verfügung gestellt werden, wenn dem Individuum von seinen Mitmenschen die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung prinzipiell zugeschrieben wird und wenn es eine entsprechende gesellschaftliche Praxis gibt, wenn also die Freiheitsräume institutionalisiert sind. Darüber hinaus bedarf es der Vorbilder, von denen sich das Individuum diese Fähigkeit abschauen und durch deren Imitation es sich in diese Fähigkeit einüben kann. Des Weiteren bedarf es der Erziehung zu dieser Autonomiefähigkeit. Es mag paradox klingen, aber um die Fähigkeit zu erlangen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen, bedarf es zunächst der anderen, die einen eben darin anleiten, führen, bestärken und wenn notwendig korrigieren. 34 Damit also so etwas wie Autonomiekompetenz entstehen kann, bedarf es der entsprechenden Freiräume in der Alltagspraxis, der entsprechenden institutionellen Arrangements, die diese Freiräume bereit halten und garantieren, der entsprechenden Vorbilder, an denen man sich orientieren kann und der entsprechenden Pädagogik, die diese Fähigkeit zu entwickeln vermag usw. Diese äußeren Voraussetzungen werden aber nur dann gegeben sein können, wenn in der Gesellschaft der Glaube daran, dass der Mensch ein Wesen ist, das prinzipiell die Fähigkeit zur Autonomie besitzt und diese Fähigkeit auch unbedingt entwickeln sollte, Vgl. dazu Kant, Immanuel, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Werkausgabe, Bd. 11, hg v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977, 53 (A 481). 34 Vgl. dazu Kant, Über Pädagogik, 711 (A 32): »Eines der größesten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultivire ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen.« (Hervorhebung im Original). 33

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breit geteilt wird: nur dann werden die Menschen einander als autonom betrachten und sich gegenseitig als selbstbestimmt behandeln können. Diese äußeren Voraussetzungen genügen aber nicht. Zu ihnen muss noch der Glaube des Individuums an seine je eigene Freiheit kommen. Nur dann, wenn sich Menschen selbst als freie, selbstbestimmte Wesen begreifen, nur dann, wenn sie sich selbst als Wesen begreifen, die nicht nur die Fähigkeit haben, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, sondern die auch das Recht dazu haben, und die darüber hinaus auch noch glauben, dass es gut und richtig, ja ihre Pflicht ist, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, nur dann werden sie dazu kommen, diese Fähigkeiten zu entwickeln, um damit irgendwann auch tatsächlich den Freiheitsraum nützen zu können, der ihnen von der Gesellschaft gewährt wird. Ein Mensch, der gar nicht auf die Idee kommt, dass er frei und selbstbestimmt sein könnte und sein sollte, würde Autonomiekompetenz nicht ausbilden können. Wer sich selbst nicht als frei und autonom begreift, wird nicht in der Lage sein, selbstbestimmte und selbstständige Entscheidungen zu fällen, ja er wird eben nicht im Stande sein, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Der Glaube daran, autonom zu sein, ist eine zentrale Voraussetzung dafür, Autonomiekompetenz überhaupt entwickeln zu können. Menschenbilder beeinflussen, dies sollte an diesem Beispiel deutlich werden, die Persönlichkeit von Menschen. Von dem in einer Gesellschaft geteilten Menschenbild hängt unter anderem ab, welche angeborenen Potentiale des Menschen gepflegt und entwickelt, welche vernachlässigt und welche unterdrückt werden. Eine Gesellschaft, die die Fähigkeiten zur Unterordnung und zum Gehorsam, zum Kampf, zur Selbstüberwindung und zur Härte gegen sich selbst als die zentralen menschlichen Fähigkeiten ansieht, wird eben diese Fähigkeiten kultivieren, die Entwicklung von Selbstbestimmung, Vernunft und Kunstsinn dagegen wenig fördern und die Entwicklung von Empathie womöglich zu verhindern wissen. Eine Gesellschaft hingegen, für die Vernunft die edelste Kraft im Menschen ist, wird vermehrt vernünftige Menschen hervorbringen: »Die Griechen fassten den Menschen als Vernunftswesen […] Daher die Entfaltung von Philosophie und Wissenschaft bei den Griechen.« 35 Eine Gesellschaft, die den Menschen nicht nur für einen nutzenkalkulierenden Egoisten 35

Landmann, Anthropologie, 9.

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hält, sondern auch noch der Überzeugung ist, dass dies gut so sei, wird vermehrt nutzenkalkulierende Egoisten hervorbringen, während eine Gesellschaft, die im Altruismus das höchste Ziel des Menschen sieht, vermehrt Altruisten produzieren wird (vorausgesetzt, dass die Art und Weise der Pädagogik nicht das Ziel konterkariert; es wird nicht gelingen, jemanden zum Altruisten zu prügeln). (c) Menschenbilder hinterlassen ihre Spuren nicht nur am Körper und in der Persönlichkeit von Individuen, sondern auch in deren Subjektivität; Menschenbilder wirken insbesondere auch auf die Art und Weise, wie es sich anfühlt, zu sein. Für alle Menschen fühlt es sich – sofern sie bei Bewusstsein sind – auf bestimmte Art und Weise an, zu sein. Damit ist eine Art von Grundgefühl bzw. ein Ensemble an selbstbezogenen Grundgefühlen gemeint, das in der Regel all unser Empfinden begleitet: Wenn wir etwa ein Gemälde ansehen oder aber Hunger verspüren, so fühlen wir gleichzeitig, dass wir uns irgendwo in Raum und Zeit befinden, wir fühlen, dass wir einen Körper haben, wir fühlen, dass wir es sind, die das Gemälde ansehen und Hunger verspüren usw. Unser konkretes, objektbezogenes Empfinden – ein Gemälde ansehen, Hunger verspüren – ist also eingebettet in eine Reihe grundlegender selbstbezogener Gefühle. Diese Gefühle informieren uns permanent über uns selbst; sie lassen uns beständig auf bestimmte Art und Weise spüren, dass wir und wie wir in der Welt existieren. Suspendiert sind diese Gefühle lediglich dann, wenn wir – ganz »seinsvergessen« – völlig in einer Tätigkeit aufgehen wie etwa in Momenten der Lektüre eines fesselnden Buches oder der hochkonzentrierten Arbeit an einem schwierigen Text. Es ist wichtig, dieses Grundgefühl, zu sein, nicht überzuinterpretieren. Das Gefühl, zu sein, darf nicht missverstanden werden als ein Gefühl, das sich auf eine Art ontologisches »Sein« bezieht, sondern das Gefühl, zu sein, ist eine vielleicht etwas unglücklich, aber mangels besserer Alternativen gewählte Umschreibung der Tatsache, dass ich mich bei fast allen Erlebnissen auch irgendwie selbst miterlebe – und nicht mehr. Wenn ich Fußball spiele, dann fühlt es sich nicht nur einfach auf bestimmte Art und Weise an, Fußball zu spielen, sondern es fühlt sich eben für mich auf bestimmte Art und Weise an, Fußball zu spielen. Zu dem »Es-fühlt-sich-auf-bestimmte-Artund-Weise-an,-Fußball-zu-spielen« gehört unauflöslich auch eine Reihe an selbstbezogenen Gefühlen, wie etwa das Gefühl, dass ich es bin, der Fußball spielt, das Gefühl, dass mir der Schweiß die Schläfen 383 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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hinunterläuft, das Gefühl, dass ich heute etwas schwer laufe und es mir an Spritzigkeit fehlt, usw. Während ich Fußball spiele, habe ich also gleichzeitig das Gefühl, dass ich auf bestimmte Art und Weise bin. 36 Menschen verfügen also über das selbstbezogene Grundgefühl, zu sein. Wie dieses Grundgefühl genau beschaffen ist und wie es funktioniert, muss uns hier nicht weiter interessieren. So ist es für uns im Augenblick beispielsweise unerheblich, ob dieses Grundgefühl, zu sein, ein Gefühl ist oder ob es sich, was wahrscheinlicher ist, aus mehreren Gefühlen zusammensetzt. 37 Für unsere Zwecke genügt es zunächst, darum zu wissen, dass es sich für Menschen immer irgendwie anfühlt, zu sein, unabhängig davon, aus welchen Komponenten sich dieses Gefühl nun zusammensetzt. Festzuhalten ist bloß Folgendes: Bei dem Gefühl, zu sein, handelt es sich um eine Art von Selbstgefühl, und als solches bildet es zweifellos einen wichtigen Bestandteil des menschlichen Selbst. 38 Dieses grundlegende Selbstgefühl, zu sein, fühlt sich auf bestimmte Art und Weise an: Es fühlt sich für jeden Menschen irgendwie an, zu sein. Die Art und Weise, wie sich dies anfühlt, ist wiederum – das ist die These, die es nun zu entwickeln gilt – unter anderem vom Menschenbild der Lebenswelt beeinflusst. Betrachten wir dazu folgendes Beispiel: Stellen wir uns jemanden vor, der in einer Gesellschaft mit einem äußerst pessimistischen Menschenbild aufwächst. Das europäische Mittelalter dürfte über weite Strecken ein solches Menschenbild gehabt haben, jedenfalls kündet davon die damals weit verbreitete De-contemptu-mundi-Literatur über die Verachtung der Welt. Ihren Niederschlag findet diese allgemeine Grundstimmung Vgl. dazu Damasio, Antonio, Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München 22000, 204–235. 37 Max Scheler etwa unterscheidet im Selbstgefühl – das sich in etwa mit dem hier behandelten Gefühl, zu sein, deckt – neben einem grundlegenden Selbstgefühl und einem Selbstwertgefühl noch eine spezielle Klasse geistiger Selbstgefühle, die es in vier Stufen gibt: sinnliche Gefühle, Leibgefühle und Lebensgefühle, seelische Gefühle und geistige Gefühle; vgl. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, 55 f.; ders., Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Gesammelte Werke, Bd. 2, hg. v. Maria Scheler, Bern/München 41954, 341 ff. 38 Vgl. dazu Damasio, Ich fühle, also bin ich; ferner Frank, Manfred, Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung, Frankfurt am Main 2002; dazu auch Drüe, Hermann, Die Entwicklung des Begriffs »Selbstgefühl« in Philosophie und Psychologie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), 285–305. 36

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auch in der Abhandlung De miseria conditionis humanae (»Über den elenden Zustand des Menschen«) aus der Feder des Grafen Lotario di Segni, dem späteren und wohl bedeutendsten mittelalterlichen Papst Innozenz III. (1160/61–1216). 39 Ihm zufolge, der in dem Werk die zentralen Aspekte des mittelalterlichen Menschenbildes benennt, »auf das hin der mittelalterliche Mensch sich selbst zu entwerfen gehalten war«, 40 ist der Mensch ein Wesen, das »in Schuld« empfangen und »zur Pein« geboren ist, das »nur Schleim, Urin und Kot« produziert und einen »abscheulichen Gestank« hinterlässt, bis es endlich »Raub der Flammen, Speise der Würmer« wird. Seine sündige und verdorbene Seele ist zur Verdammnis verurteilt. Zu Beginn seiner Abhandlung ist kurz umrissen, was in der Folge breit ausgeführt wird: Der Mensch ist gemacht aus Staub, Kot und Asche – und, noch gemeiner, aus unflätigem Samen. Anlaß zu seiner Empfängnis war der Reiz des Fleisches und das Glühen der Begierde: in der Fülle der Ausschweifung und unter dem Makel der Sünde. Geboren wird der Mensch, damit er arbeitet, sich ängstet und leidet – und das ist elender als zu sterben. […] Schließlich fällt er jenem Feuer anheim, das ewig brennt und unauslöschlich ist. Er wird jenem Wurm ausgeliefert, der immer nagt und zehrt und nicht vergeht. Sein Leib schließlich verwandelt sich in stinkenden und schmutzigen Moder. 41

Der Umstand, dass diese drastischen Ausführungen über den Menschen eingebettet sind in den Glauben an die Möglichkeit der Erlösung durch Jesus Christus, und dass sie dazu motivieren sollen, sich vom Diesseits ab- und zum Jenseits hinzuwenden, ändert nichts daran, dass uns hier tatsächlich ein äußerst pessimistisches Menschenbild entgegentritt. Dies führt zu der für uns entscheidenden Frage:

Vgl. Geyer, Carl-Friedrich, Einleitung: »La condition humaine«. Anmerkungen zum Selbstverständnis des Menschen im Mittelalter und heute, in: Lotario de Segni (Papst Innozenz III.), Vom Elend des menschlichen Daseins, übers. v. Carl-Friedrich Geyer, Hildesheim/Zürich/New York 1990, 1–40, hier 3. Ein anderes berühmtes Werk der De-contemptu-mundi-Literatur ist die Schrift »De contemptu mundi« des Benediktinermönches Bernhard von Cluny (oder Bernhard Morlanensis) aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts: Bernardus Morlanensis, De contemptu mundi. Une vision du monde vers 1144 – Bernard le Clunisien, lat. Text, franz. übers. v. André Cresson, Turnhout 2009. 40 Geyer, Einleitung, 4. 41 Lotario de Segni (Papst Innozenz III.), Vom Elend des menschlichen Daseins, übers. v. Carl-Friedrich Geyer, Hildesheim/Zürich/New York 1990, 42 f. 39

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Wie fühlt sich ein Mensch, der von sich und seinesgleichen so zu denken gelernt hat? Man kann sich leicht ausmalen, dass Menschen, denen von Kindesbeinen an beigebracht wird, dass sie nicht mehr sind als wertloser Abschaum in Gottes Universum, sich in ihrem Menschsein ziemlich elend fühlen müssen; es muss sich für sie schlicht schlecht und falsch anfühlen, überhaupt zu existieren. Vor ihrem eigenen Körper, ja ihrem eigenen Leben werden sie Abscheu und Ekel empfinden, Angst wird ihre Existenz bestimmen: »Überall sind Furcht und Schrecken, Mühe und Schmerz. Das Fleisch leidet, so lange es lebt, und die Seele ist in Trauer über sich selbst.« 42 Das Menschenbild, unter dem sie leben, taucht ihr ganzes Dasein in ein dämmriges, trauriges Licht. Das Unglück und das Leid, das ihnen widerfährt, werden sie als die gerechte, angemessene Strafe für die kosmische Zumutung ihrer sündigen Existenz empfinden. Die wenigen Momente der Freude und des Lichtes werden sie entweder als uneigentlich und trügerisch oder aber als übernatürlichen, gnadenhaften himmlischen Ursprungs deuten. Selbst in ihren schönsten Momenten werden sie sich daran erinnern, dass das Leben eigentlich schlecht ist. »Was man mit Freuden beginnt, endet in Tränen. Die Glückseligkeit, wie die Welt sie bietet, ist mit dem Makel vieler Bitterkeiten behaftet.« 43 Für jemanden, der demgegenüber das Glück hat, einige Jahrhunderte später in eine Gesellschaft hineingeboren zu werden, die – in bewusster Distanzierung vom vermeintlich »dunklen Mittelalter« und seiner Auffassung der miseria hominis – der Überzeugung ist, dass der Mensch »das am meisten gesegnete und daher ein jeder Bewunderung würdiges Lebewesen« ist, 44 für den wird es sich hingegen grundsätzlich gut und richtig anfühlen, zu existieren. Die Freude, die er in seinem Leben erfährt, wird er als verdient, als richtig und echt, ja als die eigentlich angemessene Form seines Seins empfinden, das Leid und Unglück, das ihm widerfährt, wird er hingegen als unangemesEbda. 59. Ebda. 60. 44 Vgl. Pico della Mirandola, Giovanni, De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, übers. v. Norbert Baumgarten, hg. v. August Buck, Hamburg 1990. Dieses Traktat über die Würde des Menschen ist die berühmteste unter den Abhandlungen über die Würde und Erhabenheit des Menschen, die in der Renaissance entstehen und eine eigene literarische Gattung bilden. In ihnen spiegelt sich das im Zusammenhang der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit entstandene neue Selbstverständnis der Renaissance. 42 43

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sen wahrnehmen und als etwas betrachten, das überwunden werden muss. 45 Das Beispiel macht plausibel, dass Menschenbilder tatsächlich einen Einfluss darauf haben können, wie es sich für ein Individuum anfühlt zu sein. Der mittelalterliche Mensch wird nicht nur häufig gedrückter Stimmung gewesen sein, sondern es gehörte sich für ihn auch, gedrückter Stimmung zu sein – alles andere wäre der tragischen Situation, in der er sich wähnte, nicht angemessen. Für den Renaissancemenschen ziemte es sich hingegen, wohlgemut durch das Leben zu spazieren, hält er sich doch für das bewundernswerteste und glücklichste Geschöpf unter der Sonne. Und wenn wir den autobiographischen Dokumenten glauben dürfen, die uns aus dieser Zeit überliefert sind, dann schritten nicht wenige derjenigen, die sich das neue Menschenbild zu eigen gemacht hatten, tatsächlich mit einem existenziellen Hochgefühl durch die Welt. 46 Der offensichtliche Vorteil dieses Beispiels liegt darin, dass es für uns einigermaßen nachvollziehbar macht, dass Menschenbilder auf die Art und Weise, wie es sich zu sein anfühlt, einwirken können. Der Nachteil ist allerdings, dass an ihm nicht deutlich wird, wie tief und weitreichend dieser Einfluss sein kann. Das Gefühl, das eben beschrieben wurde, könnte man nämlich als eine Art existenzieller Grundgestimmtheit des Menschen bezeichnen, d. h. als ein Gefühl, das all meine Empfindungen begleitet, diese aber nicht wesentlich verändert. Das Stimmungsgefühl gleicht einem Licht, das einer Landschaft eine bestimmte Färbung verleiht, aber die Landschaft selbst nicht tangiert. Menschenbilder beeinflussen aber nicht nur die Grundstimmung, die mein Gefühl, zu sein, hat. Sie bestimmen darüber hinaus noch wesentlich stärker, wie es sich anfühlt, zu sein. Um im Bild zu bleiben: Sie verändern die Landschaft selbst. Ihre Wirkung reicht nämlich hin bis zu jenen grundlegenden Selbstgefühlen, die Der neuzeitliche Gedanke der systematischen Verbesserung der menschlichen Verhältnisse hatte von da her ein optimistisches Menschenbild zur Voraussetzung. Denn die Verbesserung der conditio humana kann nur dann zu einem Ziel werden, wenn der Mensch es grundsätzlich verdient, besser zu leben als in dem Elend, das seiner »Würde und Erhabenheit« nicht statthaft ist. 46 Vgl. hierzu insbesondere die Analysen Georg Voigts, der neben Jacob Burckhardt als einer der Begründer der modernen Renaissanceforschung gilt; er spricht von einem übersteigerten Selbstwertgefühl der italienischen Renaissancehumanisten; vgl. Voigt, Georg, Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, Bd. 2, Berlin 21881, 363 ff. 45

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einen quasi-transzendentalen Charakter haben. Mit diesen quasitranszendentalen Selbstgefühlen sind Gefühle gemeint, die mein Selbst und mein Weltverhältnis fundamental bestimmen und die sich in all meinem Fühlen, Denken, Wollen und Handeln, d. h. all meinen intentionalen Akten niederschlagen. Was darunter konkret zu verstehen ist, sei an drei weiteren Beispielen dargestellt: Wir hier im Westen sind davon überzeugt, dass der Mensch ein Wesen ist, das (α) frei bzw. autonom ist, das also die Fähigkeit besitzt und besitzen sollte, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, das (β) ein Individuum, d. h. ein einzelnes und einzigartiges, von allen anderen unterschiedenes und in seiner Einzigartigkeit wertvolles Wesen ist, und das (γ) mit sich identisch ist, und zwar sowohl im Sinne transtemporaler Persistenz als auch intrapersonaler Ganzheit. Nun sind wir im Westen aber nicht nur davon überzeugt, all dies zu sein, sondern wir fühlen uns in der Regel auch so. Wir fühlen uns als eine von der Welt unterschiedene und ihr gleichsam gegenüberstehende einheitliche Instanz, als ein innerer, abgeschotteter Raum des Fühlens, Denkens und Wollens, in dem – zum Teil zumindest – selbstgewählte Gesetze herrschen und von dem eine Kraft – der Wille – ausgeht, mit der wir uns identifizieren, mit der wir Kontrolle ausüben und mit der wir in den Lauf der Welt aktiv eingreifen können. Obwohl wir an uns natürlich den Zahn der Zeit nagen fühlen, Veränderungen wahrnehmen und Zustände der inneren Zerrissenheit kennen, fühlen wir uns dennoch als mit uns selbst durch die Zeit identisch und als eine – nicht unbedingt harmonische, sondern häufig genug spannungsreiche – Ganzheit. Die mannigfachen Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen, all die verschiedenen Wahrnehmungen, die wir hatten und haben, sind, so fühlen wir jedenfalls, bei all ihrer Differenz doch jeweils die unsrigen. Dass es sich bei diesen Selbstgefühlen um quasi-transzendentale Gefühle handelt, ist rasch erklärt: Dass wir uns autonom fühlen, dass wir uns als eine von der Welt unterschiedene individuelle Instanz fühlen, dass wir uns als eine Einheit durch die Zeit und als eine Ganzheit fühlen, all dies ist fundamental für unser Selbst- und Weltverhältnis; es definiert gleichsam den »Ort«, von dem aus wir die Welt wahrnehmen, und bildet so eine der zentralen Voraussetzung dafür, dass uns die Welt so erscheint, wie sie uns eben erscheint, und dass wir uns in der Welt so verhalten, wie wir uns eben verhalten. Deutlich wird dies auch dann, wenn man sich vorzustellen versucht, wie es sich anfühlen würde und wie uns die Welt dann erscheinen würde, 388 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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wenn wir glaubten, dass wir nicht autonom, keine individuelle Instanz und nicht mit uns selbst identisch wären, sondern streng determiniert, integraler Bestandteil einer größeren Einheit und jeden Tag irgendwie wer anderes. Es ist nicht abwegig anzunehmen, dass wir uns dann sehr anders anfühlen würden, und dass uns die Welt – inklusive uns selbst – dann sehr anders erscheinen würde, so anders, dass wir es uns eigentlich nicht vorzustellen vermögen. Wie fühlt sich ein Mensch, der von sich nicht annimmt, autonom zu sein? Der von sich, wie etwa der australische Aborigine, annimmt, dass in ihm und durch ihn eine metaphysische Urkraft wirkt, die ihn mit Generationen von vergangenen und zukünftigen Stammesangehörigen, Tieren, geisterhaften Wesen und heiligen Orten verbindet? Wie fühlt sich jemand aus dem Stamm der Samo, der glaubt, aus einer Vielzahl teilweise sehr flüchtiger Seelen, einer Mannigfaltigkeit volatiler ontologischer Grundelemente zu bestehen? Wie fühlt sich jemand aus dem Volksstamm der Peul, der glaubt, von mehreren Personen bewohnt und eben kein über die Zeit mit sich identisch bleibendes Wesen zu sein? Wir wissen es nicht und können es auch kaum erahnen. Für uns, die wir mit dem Glauben an unsere Autonomie, Individualität, Persistenz und Ganzheit aufgewachsen und in ihm gefangen sind, ist es nicht möglich, dies ernsthaft nachzuempfinden. Wir können uns vielleicht noch vorstellen, wie es sich anfühlen muss, sich selbst als zutiefst sündiges, schuldhaftes Wesen zu imaginieren, das nichts Besseres verdient als die elende Existenz, in der es sein Leben fristet, aber es sprengt die Grenzen unserer Vorstellungskraft, nachzufühlen zu versuchen, wie sich jemand fühlt, der nicht an seine Freiheit, Individualität und Identität glaubt. So können wir uns etwa die metaphysische Verbundenheit des Aborigines nur als einen Verlust von Freiheit und Individualität denken, was sie für den Aborigine gerade nicht ist. Von daher können wir höchstens erahnen, dass es sich für einen Aborigine, einen Samo und einen Peul sehr anders anfühlen muss, zu sein, als für uns, und dass ihnen die Welt sehr anders erscheinen muss, als uns. Ihre ganze Existenz hängt in völlig anderen Angeln als die unsrige. Es ist nun gerade auch diese Unmöglichkeit, die Selbstgefühle von Menschen nachzuempfinden, die ein radikal anderes Menschenbild haben als wir, woran sich der transzendentale Charakter dieser Selbstgefühle zeigt. Die Subjektivität von Menschen, die ein radikal anderes Menschenbild haben als wir, ist uns in ihrem Kern nicht zugänglich. 389 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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An den Beispielen der Gefühle für unsere Autonomie, Individualität und Identität wird nicht nur klar, dass es transzendentale Selbstgefühle gibt, sondern auch, dass Menschenbilder diese fundamentalen Selbstgefühle tatsächlich beeinflussen können. Auf den ersten Blick könnte man zwar anzunehmen geneigt sein, dass wir deswegen an unsere Autonomie, Identität und Individualität glauben, weil wir uns als autonom, als Individuen und als mit uns selbst identisch erfahren. In diesem Falle würde man Menschenbilder als nachträgliche Repräsentationen unserer fundamentalen Selbsterfahrungen deuten – was zum Teil sicherlich richtig ist. Ein rein repräsentationalistisches Verständnis von Menschenbildern führt allerdings zu Schwierigkeiten bei der Erklärung der Tatsache, dass sich Menschenbilder gerade auch in so fundamentalen Fragen wie denjenigen der Autonomie, der Individualität und der Identität radikal voneinander unterscheiden. Wenn Menschenbilder Repräsentationen fundamentaler Selbsterfahrungen wären, wie kann es dann sein, dass vielen Völkern der Gedanke der Autonomie ebenso fremd ist wie der Gedanke der Individualität? Und wie kann es dann sein, dass die Peul und andere Volksstämme nicht an die Identität des Menschen glauben? Etwa weil sie nicht die Erfahrungen von Autonomie, Individualität und Identität machen? Warum aber machen sie nicht diese Erfahrungen, sondern völlig andere? Weil sie von Natur aus anders sind? Dies ist ziemlich unplausibel. Wenn Menschenbilder bloße Repräsentationen fundamentaler Selbsterfahrungen wären, dann ließe sich die radikale Unterschiedlichkeit der Menschenbilder nur durch eine radikale Unterschiedlichkeit angeborener Selbstgefühle erklären. Dies aber würde auf eine Naturalisierung kultureller Unterschiede hinauslaufen: Das Volk der Peul glaubt deswegen nicht an die Identität, weil sie sich von Natur aus nicht als identisch erfahren; die Aborigines haben deswegen eine radikal andere Auffassung vom Menschen, weil sie von Natur aus radikal anders sind. Nun wissen wir aber, dass sowohl geborene Peul als auch geborene Aborigines, wenn sie in einer westlichen Kultur aufwachsen, sehr wohl lernen, sich autonom, identisch und individuell zu fühlen. Die Unterschiedlichkeit ihres Fühlens kann daher nicht in angeborenen, natürlichen Faktoren begründet sein, sondern nur in anerzogenen, kulturellen. Dies aber bedeutet: Als autonom, identisch und individuell wähnen wir uns nicht deswegen, weil wir so fühlen, sondern es verhält sich genau andersherum: Gerade weil wir glauben, autonom, identisch und indi-

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viduell zu sein, lernen wir, uns als autonom, identisch und individuell zu fühlen und zu verhalten. Menschenbilder greifen also tatsächlich, so können wir zusammenfassen, tief in die Art und Weise ein, wie es sich anfühlt, zu sein, ja sie tragen zur Konstituierung mancher unser fundamentalsten Selbstgefühle bei. Wie aber vollzieht sich dieser konstituierende Eingriff? Wie lässt sich erklären, dass das eine Menschenbild Gefühle der Autonomie, der Individualität und der Identität erzeugt, während ein anderes Menschenbild tiefe Gefühle des Verwoben- und Eingebettetseins, der Kollektivität und der Nicht-Identität konstituiert? Greifen wir zur Erklärung dieser Wirkung von Menschenbildern auf ein sehr vereinfachtes Modell zurück: Der Mensch macht unterschiedlichste Erfahrungen von großer Bandbreite. So mache ich beispielsweise die Erfahrung des Willens und der Kontrolle, d. h. ich fühle, dass ich einen Willen habe, dass ich manches – meine Gedanken, meinen Körper – kontrollieren kann, dass ich, weil ich etwas will und meinen Körper kontrolliere, Dinge in der Welt verändern kann; ich mache die Erfahrung, dass ich zu mir selber innerlich auf Distanz gehen kann und mich gleichsam »von außen« betrachten und beurteilen kann usw. In gleicher Weise mache ich aber auch gegenteilige Erfahrungen wie etwa die Erfahrungen der Abhängigkeit, des Bestimmtseins, des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht und der Unkontrollierbarkeit: Gedanken steigen unwillkürlich und scheinbar grundlos aus den Tiefen meines Geistes auf und zwingen sich mir ins Bewusstsein, starke Emotionen wie Wut, Angst und sexuelle Erregung bemächtigen sich meiner und lassen sich kaum kontrollieren, Träume nehmen mich ungefragt in unheimliche und fremde Welten mit, Hunger und Durst verlangen unnachgiebig und immer heftiger danach, gestillt zu werden, Müdigkeit und Schmerz überwältigen mich, manche meiner Mitmenschen lassen mich spüren, dass ich von ihnen abhängig bin, sie mich in der Hand haben und ich unter ihren Blicken oder Schlägen »einknicke« usw. Je nachdem, in welcher Gesellschaft und unter welchem Menschenbild ich aufwachse, lerne ich von klein auf, meine Gefühlserfahrungen jeweils völlig anders zu deuten und einzuordnen. Es ist nun diese Deutung und Einordnung, die sowohl das Gefühl bzw. mein ganzes Gefühlsleben verändert als auch meine Einstellung gegenüber dem, was ich fühle. Es greifen hier mindestens drei Mechanismen: Erstens: Die Deutung eines Gefühls verändert schon einmal das Gefühl selbst – das es freilich nicht in ungedeuteter, »reiner« Form 391 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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gibt. 47 Dass Gefühle durch ihre Deutung tatsächlich verändert werden, lässt sich an einem Beispiel leicht veranschaulichen: Wenn ich gelernt habe, dass alles, was mit Sex zu tun hat, sündhaft, moralisch schlecht und schädlich ist, dann wird es sich für mich schmutzig und schlecht anfühlen, sexuell erregt zu sein. Wenn ich hingegen gelernt habe, dass sexuelle Empfindungen gut und gesund sind und ich sie genießen soll, dann wird sich meine sexuelle Erregung schön und richtig anfühlen. Die Deutung und Einordnung von Gefühlen verändert also die Art und Weise, wie sich diese Gefühle anfühlen. Auf das Thema des Menschenbildes umgelegt heißt dies: Menschenbilder verändern die Art und Weise meines Fühlens. Das Gefühl, einen Willen zu haben und mit ihm Kontrolle ausüben zu können, wird sich jeweils anders anfühlen, je nachdem, ob ich zu glauben gelernt habe, dass der Wille mit mir identisch ist, ja der Kern meines Selbst ist, und ich tatsächlich Kontrolle ausüben kann, oder ob ich – wie im Buddhismus – lerne, dass dieses Gefühl eine Illusion ist, von der ich mich zu lösen habe. Das Gefühl, einen eigenen Willen zu haben und mit ihm Kontrolle ausüben zu können, wird sich jeweils anders anfühlen, je nachdem, ob ich zu glauben gelernt habe, dass es richtig ist, einen eigenen Willen zu haben, oder ob ich gelernt habe, dass es falsch ist, einen eigenen Willen zu haben. Das Gefühl, einen eigenen Willen zu haben und mit ihm Kontrolle ausüben zu können, wird sich jeweils anders anfühlen, je nachdem, ob ich zu glauben gelernt habe, dass der Wille mein Wille ist und ich es bin, der Kontrolle ausübt, oder ob ich zu glauben gelernt habe, dass mein Wille die Wirkung eines Gottes oder die Manifestation einer äußeren, umfassenden, alles durchdringenden metaphysischen Kraft ist. Wir können also erstens festhalten: Menschenbilder beinhalten Deutungen unserer Gefühle, und mit dieser Deutung verändern sie schon einmal die Art und Weise, wie sich diese Gefühle anfühlen, d. h. sie verändern die Gefühle. Zweitens: Menschenbilder bestimmen, mit welchen meiner Gefühle und Empfindungen ich mich stärker identifiziere. Wenn ich lerDie Veränderung von Gefühlen durch (kulturelle) Deutungen steht in sozialkonstruktivistischen Emotionstheorien im Vordergrund, spielt aber auch in Prototypentheorien eine Rolle. Zu sozialkonstruktivitischen Ansätzen vgl. Averill, James, A Constructivist View of Emotion, in: Plutchik, Robert/Kellerman, Henry (Hg.), Theories of Emotion, New York 1980, 305–340; Harré, Rom (Hg.), The Social Construction of Emotion, Oxford/New York 1986; zu Prototypenansätzen vgl. Shaver, Phillip u. a., Emotion Knowledge: Further exploration of a prototype approach, in: Journal of Personality and Social Psychology 52/6 (1987), 1061–1086.

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ne, dass ich ein freies, selbstbestimmtes Wesen bin, dann lerne ich damit auch, mich stark mit meinem Willen, meiner Kontrollfähigkeit und den Akten, die ich willentlich und kontrolliert ausführe, zu identifizieren. Mit meinen unwillkürlichen Akten werde ich mich hingegen weniger stark identifizieren. Dies zeigt sich z. B. an den Entschuldigungen, die wir häufig vorbringen: »Entschuldigung, das ist mir so passiert, das wollte ich nicht, ich kann doch eigentlich nichts dafür.« In diesem Satz kommt die schwache Identifikation mit Akten, die mir unwillkürlich passieren, klar zum Ausdruck. Wenn ich hingegen lerne, dass ich ein Wesen bin, das von kosmischen Kräften durchwirkt ist, werde ich mich nicht verstärkt mit meinem Willen, sondern vielleicht eher gleichmäßig mit allem, was ich fühle, identifizieren. Dies schon allein deswegen, weil ich ja auch meinen Willen als die Wirkung einer kosmischen Kraft deute, was zur Folge hat, dass sich mein Wille gar nicht so sehr als mein Wille, sondern eher als eine in mir wirkende Kraft anfühlt. Wenn ich lerne, dass ich der Splitter einer größeren, umfassenderen Entität bin, dann werde ich mich mit meinen Gefühlen der Verbundenheit, des Verwoben- und Eingebettetsein stärker identifizieren als mit dem Gefühl, eine von der Welt unterschiedene Instanz zu sein. Mit diesem Gefühl werde ich mich hingegen dann identifizieren, wenn ich lerne, dass ich ein monadenartiges Individuum bin. Menschenbilder bestimmen also – dies ist der zweite Punkt –, mit welchen meiner Gefühle ich mich stärker, und mit welchen ich mich weniger stark identifiziere. Drittens: Menschenbilder verschieben den Fokus meiner Selbstwahrnehmung. Weil ich gelernt habe, mich selbst als freies, selbstbestimmtes Wesen zu verstehen, nehme ich meinen Willen, meine Kontrollfähigkeit, meine bewusst gesetzten Akte wesentlich intensiver wahr als die Erfahrungen des Bestimmtseins, der Abhängigkeit, des Verwobenseins usw. Wenn ich hingegen glaube, dass ich von kosmischen Mächten durchwirkt bin, werde ich gerade die Erfahrungen des Bestimmtseins und des Verwobenseins besonders intensiv wahrnehmen. Menschenbilder führen mithin dazu, dass ich diejenigen Erfahrungen, die das Menschenbild bestätigen, stärker wahrnehme und überinterpretiere, während ich diejenigen Erfahrungen, die dem Menschenbild widersprechen, schwächer bis gar nicht wahrnehme und unterinterpretiere. Durch mindestens drei Mechanismen – den Mechanismus der Gefühlsmodifikation, den Mechanismus der Identifikation und den Mechanismus der Fokussierung – greifen Menschenbilder tief in un393 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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ser Gefühlsleben ein und verändern so ganz grundsätzlich die Art und Weise, wie es sich anfühlt, zu sein. Dass die Wirkungsweise von Menschenbildern mit diesen drei Mechanismen nur sehr grob beschrieben ist, muss uns nicht weiter stören. Es geht hier in erster Linie darum, verständlich zu machen, dass Menschenbilder auf die Art und Weise, wie es sich zu sein anfühlt, eine tiefe Wirkung haben. Eine genauere Analyse dieser Mechanismen ist dazu nicht notwendig; lediglich an unseren drei Beispielen sei die Wirkung daher näher veranschaulicht: Den Fall der Freiheit haben wir eben schon besprochen. Wir alle machen die Erfahrung, bestimmte Dinge und Prozesse bestimmen zu können, und die Erfahrung, von Dingen und Prozessen bestimmt zu werden. Wenn ich lerne, mich für frei zu halten, hat dies zur Folge, dass sich die Erfahrung, mich kontrollieren zu können, auf bestimmte Art und Weise anfühlt, dass ich mich in erster Linie mit dieser Erfahrung identifiziere und ich für diese Erfahrung besonders sensibilisiert bin. Ähnliches gilt für den Fall der Individualität: Wir alle machen Erfahrungen unserer Unterschiedenheit von der Welt, aber auch Erfahrungen der Verschmelzung und Identifikation mit Menschen oder Dingen außerhalb von uns. Wir alle kennen Menschen, die uns besonders nahe stehen und deren Verlust oder Trennung uns »ein Stück aus dem Herzen reißt«, wir haben besondere Gegenstände – ein Erinnerungsstück, das Auto, einen von uns geschriebenen Text –, an denen wir hängen und deren Verlust uns weh täte, viele von uns kennen das Gefühl, bei einem Fußballspiel mit einer Mannschaft mitzufiebern und bei einem Tor in der jubelnden Masse aufzugehen usw. Weil wir in unserer Kultur aber mittlerweile – gerade auch nach den mörderischen Erfahrungen mit Nationalismen – davon überzeugt sind, dass Menschen Individuen sind und auch sein sollen, lernen wir, diese tiefen Gefühle der Verbundenheit und Verschmelzung mit etwas außerhalb von uns nicht als Grundlage unseres Selbst zu deuten; sie gelten uns nicht als Ausdruck unseres tiefsten Selbst. Diese Gefühle werten wir im Gegenteil als etwas, das man sich vielleicht kurzzeitig erlauben darf, von dem man sich aber eigentlich zu lösen und zu distanzieren hat, weil sie Zeichen einer unreifen, da noch nicht autarken, in sich ruhenden Persönlichkeit sind. In anderen Kulturen werden diese tiefen Gefühle der Verbundenheit hingegen nicht nur als richtig und angemessen empfunden, sie werden vielmehr als die eigentlichen Gefühle des Selbst gedeutet und dementsprechend kultiviert. Als wahrhaft menschlich gelten hier gerade diejenigen, die tiefe 394 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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emotionale Verbindungen mit anderen – mit den Totems, den Ahnen, der Familie, der Dorfgemeinschaft, der Nation oder was auch immer – aufrechterhalten und pflegen können. Kurz: Je nach Menschenbild, mit dem ich sozialisiert werde, lerne ich, mich in meinem Kern dauerhaft als ein von der Außenwelt stark unterschiedenes Individuum oder aber als ein mit Teilen der Außenwelt verschmolzener Teil eines größeren Ganzen zu fühlen. Nicht anders verhält es sich mit unserem Gefühl der Identität, d. h. den Gefühlen der transtemporalen Persistenz und der intrapersonalen Ganzheit: Wir alle machen Identitäts-, aber auch Differenzerfahrungen. So erfahren wir beispielsweise immer wieder, in wechselnden Stimmungen zu sein, uns selbst fremd vorzukommen, machen die Erfahrung innerer Zerrissenheit und widerstrebender Gefühlsregungen, die Erfahrung, uns an Geschehnisse aus der Vergangenheit nicht erinnern zu können usw. Viele Kulturen sind aber dennoch davon überzeugt, dass der Mensch ein über die Zeit mit sich identisch bleibendes Individuum und eine – idealerweise harmonische – Ganzheit ist. So fordert etwa unsere westliche Moral von uns, durch alle Kontexte hindurch »uns selbst treu zu bleiben«, uns »nicht verbiegen zu lassen« und durch alle Widrigkeiten hindurch »dieselben zu bleiben«, die wir sind. Das Rechtssystem schreibt uns die Verantwortung für Taten zu, die wir vor Jahren begangen haben, und zieht uns dafür zur Rechenschaft. Der Staat stattet uns mit Dokumenten aus, die uns ein Leben lang als dieselbe Person identifizieren. All dies bedeutet: In manchen Kulturen gibt es einen starken Glauben daran und einen hohen sozialen Druck, mit sich selbst identisch zu sein und ein kohärentes, einheitliches Selbst zu entwickeln. Weil wir in einer solchen Kultur aufgewachsen sind, haben wir gelernt, die Erfahrungen der Identität als intensiver und fundamentaler zu empfinden als die Erfahrungen der Differenz. Wir haben gelernt, uns durch alle Wechsel hindurch als dieselben zu fühlen. So haben wir etwa gelernt, Stimmungsschwankungen als Veränderungen, die sich an einem gleichbleibenden Substrat – nämlich uns selbst – vollziehen, zu fühlen. Wir haben gelernt, Fremdheitsgefühle uns selbst gegenüber nicht allzu ernst zu nehmen; im äußersten Fall behandeln wir sie mit Psychotherapie oder Psychopharmaka. Und eben weil wir an unsere Identität glauben und uns auch so fühlen, und sie zudem von unserem Umfeld beständig eingefordert wird, arbeiten wir auch ohne Unterlass an ihr: Wir bemühen uns darum, mit uns selbst konsistent zu sein. Wir beurteilen, kontrollieren und regulieren unsere 395 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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wechselnde Emotionalität und die uns durch den Kopf schießenden Gedanken beständig an dem stabilen Bild, das wir von uns selbst haben. Wir versuchen, Behauptungen, die wir gestern aufgestellt haben, auch heute noch zu verteidigen. Wir sind darum bemüht, uns selbst, d. h. unseren Wünschen, Grundsätzen und Ansichten treu zu bleiben und uns von Kontexten nicht »verbiegen« zu lassen. Und nicht zuletzt sind wir darum bemüht, die Veränderungen, die wir an uns selbst erleben, für uns selbst und unsere Mitmenschen plausibel zu machen, indem wir sie rationalisieren und in kohärente Geschichten über unsere Identität verpacken. 48 Anders verhält es sich wohl bei den Peul: Weil sie daran glauben und ihre ganze Lebenspraxis darauf ausgerichtet ist, aus unterschiedlichen Personen zu bestehen, nehmen sie Differenzen in sich wesentlich stärker und ihre Identität wesentlich weniger stark wahr als wir. Im Unterschied zu unserer, vom Gedanken der Identität und Konsistenz besessenen Kultur legen sie keinen Wert darauf, mit sich selbst konsistent zu sein. Der uns bestimmende Gedanke, dass Menschen sich durch eine gleichbleibende Persönlichkeit, durch langanhaltende Wünsche, durch gleichbleibende und stabile Meinungen auszeichnen, ist ihnen völlig fremd. Im Gegenteil, sie empfinden es als normal, eben so und im nächsten Moment anders zu sein; ihr Leben werden sie als ein Nacheinander von sehr wechselvollen Zuständen wahrnehmen, deren innerer Zusammenhang sehr schwach ausgeprägt ist. Dass diese Rekonstruktionen nicht ganz aus der Luft gegriffen sind und Menschenbilder tatsächlich bis in unsere tiefsten – und quasi-transzendentalen – Selbstgefühle eingreifen, wird auch durch empirische Untersuchungen gestützt. So gibt es etwa eine Reihe an Studien, die den engen Zusammenhang zwischen dem Glauben an die Identität und Konsistenz des menschlichen Individuums und dem Gefühl, mit sich identisch und konsistent zu sein, bestätigen. Menschen, die in westlichen Kulturen, in denen der Mensch als individuelle Einheit gedacht wird, sozialisiert werden, fühlen sich tatsächlich als über die Zeit stabile, von anderen unabhängige Einheiten. Dies Wie kaum ein anderer war Michel Foucault für den enormen – und einengenden – Zwang, die uns die Verpflichtung zur Selbst-Identität auferlegt, sensibel. Den Vorwurf, sich selbst zu widersprechen, vorwegnehmend, schreibt er einmal: »Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.« Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, 30.

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bedeutet aber eben auch, dass sie in beständiger Sorge um ihre Stabilität und Einheit sind; sie bemühen sich unablässig darum, stabil und konsistent zu sein. 49 In anderen Kulturen, für die der Mensch eher ein mit anderen Menschen verknüpftes Wesen ist, ist diese Sorge um Stabilität und Konsistenz nicht so ausgeprägt. Hier herrscht eher das Bemühen darum vor, zwischenmenschliche Harmonie herzustellen, was große Flexibilität und die Fähigkeit, sich in unterschiedlichste Situationen einzupassen, erfordert. In East Asian cultures, the consistent person is not evaluated as favorably as is the person who adjusts his or her behaviour to fit the demands of the situation. In North American cultural contexts, however, consistency is viewed as evidence of maturity and independence; the mature, self-determined person is not swayed by other’s expectations but seeks to express a unified, stable set of self-defining personal attributes (the »real self«) across situations. 50

Auf Basis einer Sichtung umfangreichen empirischen Materials haben Markus und Kitayama dafür argumentiert, dass es einen engen Zusammenhang zwischen den in einer Gesellschaft herrschenden Überzeugungen über das Selbst – die ja einen Aspekt von Menschenbildern darstellen – und den Selbstgefühlen bzw. realen Selbsten der Gesellschaftsmitglieder gibt. Menschen, die in individualistischen Gesellschaften sozialisiert sind und ein individualistisches Menschenbild teilen, das unter anderem die Überzeugung beinhaltet, dass jeder Mensch ein einzigartiges, autonomes, von allen anderen unabhängiges Individuum ist, entwickeln ein entsprechendes reales, von anderen unabhängiges, sogenanntes independentes Selbst. Demgegenüber entwickeln Menschen, die in kollektivistischen Gesellschaften sozialisiert sind und ein kollektivistisches Menschenbild teilen, das unter anderem die Überzeugung umfasst, dass jeder Mensch fundamental mit relevanten anderen in Verbindung steht, ein entsprechendes reales, abhängiges, sogenanntes interdependentes Selbst. Von ihrem Selbstkonzept hängt folglich ab, auf welche Art und Weise Menschen sind, auf welche Art und Weise sie denken, fühlen oder sich motiVgl. Markus, Hazel/Mullally, Patricia/Kitayama, Shinobu, Selfways: Diversity in Modes of Cultural Participation, in: Neisser/Jopling, The Conceptual Self, 13–60, 22. 50 Cross, Susan/Gore, Jonathan/Morris, Michael, The Relational-Interdependent Self-Construal, Self-Concept Consistency, and Well-Being, in: Journal of Personality and Social Psychology 85/5 (2003), 933–944, hier 942; vgl. Suh, Eunkook, Culture, Identity Consistency, and Subjective Well-Being, in: Journal of Personality and Social Psychology 83/6 (2002), 1378–1391. 49

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vieren; ihr Welt- und Selbstverhältnis ist zentral durch ihr Selbstkonzept mitkonstituiert. Zusammenfassend schreiben Markus und Kitayama: People in different cultures have strikingly different construals of the self, of others, and of the interdependence of the [two]. These construals can influence, and in many cases determine, the very nature of individual experience, including cognition, emotion, and motivation. 51

Das in einer Kultur verankerte und geteilte Selbstkonzept, so könnte man ihre Studie auf den Punkt bringen, konstituiert das reale Selbst. Weil kulturelle Selbstkonzepte – wenigstens in ihren zentralen Elementen – zugleich Bestandteile von Menschenbildern sind, lässt sich der Befund erweitern: Kulturell verankerte und geteilte Menschenbilder konstituieren die realen Selbste derjenigen Menschen mit, die in dieser Kultur leben. Menschenbilder reichen also – qua den in ihnen enthaltenen Selbstbildern – tief in unser Selbst hinein: sie konstituieren dasselbe mit. Von ihnen hängt ab, wie es sich anfühlt, zu sein. Damit aber reichen Menschenbilder in das Zentrum des Seins des Menschen. Denn davon, wie es sich für den Mensch anfühlt, zu sein, hängt alles andere ab: Wie er wahrnimmt, wie er fühlt, wie er handelt, wie er denkt, kurz: Wie er Mensch ist. Lebensweltliche Menschenbilder entfalten also lebensweltliche Wirkungen, sie haben einen Einfluss auf die Art und Weise, wie Menschen sind. Menschenbilder sind mithin nicht einfach nur geistige Abbilder des Menschen, sondern sind bis zu einem gewissen Grade auch dessen Urbilder, sie bilden den Menschen nicht nur ab, sondern sie bilden ihn mit, sie sind nicht nur repräsentativ, sondern auch konstitutiv. Menschenbilder sind damit in der Tat, wie schon weiter oben einmal erwähnt, der Kristallisationspunkt von Sinn- und Überzeugungssystemen. Dies nicht nur, weil in ihnen das lebensweltliche Sinn- und Überzeugungssystem gleichsam in einem konzentrierten Punkt zusammenschnurrt, sondern vor allem deswegen, weil ein Vgl. Markus/Kitayama, Culture and the Self, 224; vgl. ferner Markus/Mullally/ Kitayama, Selfways. Zum Glauben an Identität, der die Gefühle von Identität erst erzeugt vgl. Cross, Susan/Gore, Jonathan/Morris, Michael, The Relational-Interdependent Self-Construal, Self-Concept Consistency, and Well-Being, in: Journal of Personality and Social Psychology 85/5 (2003), 933–944, hier 942; vgl. Ferner Suh, Culture, Identity Consistency, and Subjective Well-Being.

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Menschenbild jener Punkt des lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungssystems ist, an dem der Kontakt zum Menschen geschieht. Über das Menschenbild schreibt sich das Sinn- und Überzeugungssystem in den realen Menschen ein und gerinnt dort zu realen Strukturen: Zu den Strukturen der Intentionalität, der Persönlichkeit und des Selbst. Menschenbilder können folglich als eine Art einverleibte kulturelle Apriori verstanden werden – als transzendentale Strukturen, von denen abhängt, wie wir selbst sind und wie uns die Welt, in der wir leben, erscheint. Der Umstand, dass Menschenbilder auf den Menschen einwirken, darf aber den Blick für die Grenzen dieser Wirkungen nicht verstellen. Die Wirkung von Menschenbildern wurde hier – der idealtypischen Untersuchung geschuldet – zum Teil sicherlich etwas pointiert dargestellt. Erstens wirken, wie bereits gesagt, neben Menschenbildern noch andere Typisierungen auf den Menschen ein. Man denke hier nur an Geschlechtertypisierungen oder an andere Gruppentypisierungen – Nationalcharaktere, Klassentypisierungen, Familienbilder –, mit denen sich Individuen identifizieren oder die ihnen aufgedrängt werden (denen allerdings immer, als allgemeiner Rahmen, ein Menschenbild innewohnt). Zweitens wirkt natürlich noch eine ganze Reihe an anderen Faktoren auf den Menschen ein wie z. B. Umweltfaktoren, wirtschaftliche Faktoren, Machtfaktoren, psychische Faktoren usw. Drittens sind Menschen nur begrenzt formbar. Dies zeigt sich insbesondere an all jenen optimistischen, aber letztlich grausam gescheiterten Versuchen des 20. Jahrhunderts, mittels eines Menschenbildes gezielt einen »neuen Menschen« heranzuzüchten. All diese Versuche zerschellten letztlich an der harten Realität des echten Menschen und brachten häufig nur das Gegenteil dessen hervor, was mit ihnen eigentlich intendiert war. So erzeugte der Nationalsozialismus nicht etwa den arischen Idealmenschen, sondern, wie Alfred Weber, der jüngere Bruder von Max Weber 1953 festhielt, »nicht bloß ›oben‹ eine skrupellose, in Massenmorden sich ergehende Gangsterclique […] sondern auch, was mindestens eben so wichtig ist, in den breiten Bürgerschichten ein Charakterchaos […], bei dem weitgehend keiner vor der Denunziation des andern sicher war, nicht einmal die Eltern vor der seitens ihrer Kinder.« 52 Und auch der Sowjetunion gelang es trotz massiver Bemühungen nicht, den »neuen Weber, Alfred, Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins, München 1953, 39.

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Menschen«, den noch Trotzki prophezeite, zu züchten. Es entstand im Gegenteil der »homo sovieticus«, jenes opportunistische, stehlende, jede politische Führung hinnehmende und jede individuelle Verantwortung weit von sich weisende Individuum, das Alexander Sinowjew in seinem gleichnamigen Roman sarkastisch beschreibt. 53 Wo auch immer noch die Gründe dafür liegen mögen, dass diese Experimente so geendet haben, wie sie geendet haben – einer der Gründe liegt mit Sicherheit darin, dass Menschen zwar formbar, aber eben nur begrenzt formbar sind. Viertens schließlich ist zu berücksichtigen, dass Menschenbilder nicht nur Wirkungen entfalten, sondern sich ihrerseits auch Wirkungen anderer Kräfte verdanken. Die methodische Überbetonung der Wirkungen von Menschenbildern hat möglicherweise den Eindruck entstehen lassen, als würden Menschenbilder vom Himmel fallen und dann in der menschlichen Lebenswelt ihre Effekte zeitigen. Dem ist freilich nicht so. Im Gegenteil, wie alle Typisierungen sind auch Menschenbilder die Folge von bestimmten historischen, sozialen, wirtschaftlichen, psychischen, geistigen usw. Konstellationen; sie verdanken sich bestimmten Ursachen und Quellen. Diese wollen wir im nächsten Abschnitt kurz betrachten.

Ursachen und Quellen lebensweltlicher Menschenbilder Abschließend sei also kurz auf die Ursachen und Quellen von Menschenbildern eingegangen. Nur kurz deswegen, weil die vorliegende Untersuchung dafür eigentlich der falsche Ort ist. Denn wirklich interessant zu erfahren wäre es doch, wie und warum eine bestimmte Person zu ihren Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen kommt, oder wie und warum eine bestimmte Gesellschaft zu ihrem Menschenbild kommt. Fragen wie diese werden aber in anderen Wissenschaften – der Psychologie, der Ethnologie, der Soziologie usw. – bearbeitet. In der vorliegenden Arbeit können dagegen allein abstrakt-allgemeine Aussagen über die Ursachen und Quellen von Menschenbildern getroffen werden, die demgegenüber weder besonders aufschlussreich noch besonders interessant sind. Erwähnung finden Vgl. Sinowjew, Alexander, Homo sovieticus, Zürich 1984. Vgl. dazu auch die 1925 entstandene, aber erst 1968 erstmals gedruckte Parodie von Bulgakow, Michail, Das hündische Herz, übers. v. Alexander Nitzberg, München 2014.

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sie hier daher in erster Linie, um einerseits die Behandlung des Phänomens Menschenbild zu vervollständigen und um andererseits den möglicherweise entstandenen Eindruck von vom Himmel fallenden Menschenbildern etwas zu korrigieren. Dass Menschenbilder nicht vom Himmel fallen, sondern irgendwann entstehen und sich in ihrer Entstehung gewissen Einflüssen verdanken – dies festzuhalten ist im Grunde banal. Es erschließt sich auch aus der in den vorigen Kapiteln beschriebenen Einbettung und Verflechtung von Menschenbildern. Lebensweltliche Menschenbilder sind ja integraler Bestandteil des die Lebenswelt konstituierenden Sinn- und Überzeugungssystems und stehen in vielfältigen Bezügen zu gesellschaftlichen Normen, Praktiken, Erzählungen, Institutionen und nicht zuletzt den Menschen selbst und ihrem Denken, Fühlen, Wollen und Handeln. Das Verhältnis von Menschenbildern zu diesen Größen ist nun kein einseitiges, sondern ein wechselseitiges. Menschenbilder beeinflussen nicht nur die lebensweltlichen Sinn- und Überzeugungssysteme, die gesellschaftlichen Regeln und Institutionen, die Erzählungen und Praktiken, die Persönlichkeiten der Gesellschaftsmitglieder und ihre Erfahrungen usw., sondern werden gleichermaßen von eben diesen beeinflusst. In dem Maße, in dem ein Menschenbild etwa die Erfahrungen von Individuen formt, beeinflussen diese je individuellen Erfahrungen auch das Menschenbild, das diese Personen haben. So hat das pessimistische Menschenbild des Mittelalters den mittelalterlichen Menschen nicht nur eine pessimistische Grundstimmung aufgeprägt, sondern das Menschenbild des Mittelalters ist gleichzeitig die Artikulation einer Erfahrung, die die meisten mittelalterlichen Menschen machten, nämlich derjenigen, dass das Leben zum Großteil tatsächlich ziemlich bedrückend war. 54 Ebenso hat das die Vernunft betonende griechische Menschenbild nicht nur den griechischen Menschen geprägt und die Kultivierung von Vernunft und Wissenschaft gefördert, sondern dieses Menschenbild ist gleichzeitig auch Ausdruck einer von Rationalität begeisterten Kultur. Es verhält sich also nicht bloß so, dass eine Gesellschaft, für die die Vernunft die edelste Kraft im Menschen ist, vermehrt vernünftige Menschen hervorbringen wird. Es ist auch andersherum: Nur eine Kultur, in der Rationalität bereits eine wichtige Rolle spielt,

Vgl. Borst, Otto, Alltagsleben im Mittelalter, Frankfurt am Main 1983, v. a. 589– 612.

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Zu Wirkungen und Ursachen lebensweltlicher Menschenbilder

kommt überhaupt auf die Idee, dass die Vernunft die edelste Kraft im Menschen sein könnte: Trotzdem wäre es mesquin, den inneren Zusammenhang zu bestreiten, der zwischen den großen Selbstbildnissen, die die Menschheit jeweils von sich entwirft, und der gleichzeitigen Gestaltung des kulturellen und personenhaften Seins besteht. Die Griechen faßten den Menschen als Vernunftwesen; das ist zwar bereits Ausdruck ihrer auf Rationalität, auf Form, Gesetz und Exaktheit gerichteten Kultur, aber gleichzeitig wirkt diese Anthropologie auf die Kultur zurück, weil die Menschen das, was sie ihrem Wesen nach zu sein glauben, immer mehr auch sein wollen. Daher die Entfaltung von Philosophie und Wissenschaft bei den Griechen. 55

Zwischen dem Menschenbild einer Gesellschaft und der Lebenswelt, der Kultur, den Lebensbedingungen usw. dieser Gesellschaft herrscht also ein wechselseitiges Beeinflussungsverhältnis. Das Menschenbild beeinflusst diese Größen, so wie diese das Menschenbild beeinflussen. In diesem komplexen Zusammenspiel kommt dem Menschenbild freilich eine besondere Stellung zu. Menschenbilder sind ja, daran sei hier noch einmal erinnert, das zentrale Element des die Lebenswelt konstituierenden Sinn- und Überzeugungssystems. Dies deswegen, weil Menschenbilder Überzeugungen über den Träger des Sinn- und Überzeugungssystems – den Menschen selbst – sind und daher als Scharnier zwischen diesem und jenem fungieren. Dies hat zur Folge, dass Menschenbilder als eine Art kulturelle Megaphone oder kulturelle Katalysatoren wirken. Denn in dem Moment, wo eine Erfahrung zu einer Überzeugung über den Menschen im Allgemeinen gerinnt und in das gesellschaftliche Menschenbild aufgenommen wird, erhält die Erfahrung eine um ein Vielfaches verstärkte Wirkung: Weil sie nun eine gesellschaftlich geteilte Überzeugung über den Menschen im Allgemeinen ist, wirkt sie von dort aus – wie oben beschrieben – auf die Intentionalität, auf die Institutionen, auf die Struktur der Persönlichkeit, auf das menschliche Selbst usw. So haben etwa die Erfahrungen, die Freud im Rahmen seiner Ausbildung und seiner therapeutischen Tätigkeit gewonnen hat (die wiederum von den Erfahrungen und den Theorien vieler anderer vor ihm beeinflusst waren), ihn zu der Annahme gebracht, dass der Mensch über ein psychisches System verfügt, das aus verdrängten oder abgewehrten Bewusstseinsinhalten besteht: das Unbewusste. Zunächst noch ein Skandalon, sickerte diese Annahme – in verwässerter Form – relativ 55

Landmann, Anthropologie, 9.

402 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Ursachen und Quellen lebensweltlicher Menschenbilder

rasch in das allgemeine Bewusstsein ein und wurde Teil des gesellschaftlichen Menschenbildes, wohl auch deswegen, weil es Freud gelungen war, mit seiner Theorie des Unbewussten Erfahrungen zu artikulieren, die von vielen gemacht wurden und die gleichsam schon darauf warteten, endlich in Worte gefasst zu werden. In das allgemeine Menschenbild aufgenommen, strahlte diese Überzeugung dann in alle Richtungen aus und beeinflusste die intentionalen Akte, die gesellschaftlichen Institutionen, die Pädagogik, das Rechtssystem, die Moral, und sie beeinflusste vor allem die Menschen selbst insofern, als sie sich nun als Wesen, in denen ein geheimnisvoller, unzugänglicher psychischer Bereich seine Wirkungen entfaltet, zu begreifen und anzufühlen lernten. Das Beispiel von Freud macht zweierlei deutlich: Erstens veranschaulicht es, dass die Überzeugungen, die sich zu Menschenbildern bündeln, spezifische Ursprünge und Quellen haben. So geht unsere breit geteilte Überzeugung, dass Menschen ein Unbewusstes haben, eben auf Freud zurück, von dem aus sich die Idee des Unbewussten selbstverständlich noch weiter zurückverfolgen ließe, bis hin zu ihren urgeschichtlichen Quellen. 56 Zweitens wird an dem Beispiel klar, dass Menschenbilder tatsächlich als kulturelle Katalysatoren fungieren. In dem Moment, in dem etwas – auf welch verschlungenen Wegen auch immer – zu einer breit geteilten lebensweltlichen Menschenbildüberzeugung wird, wirkt es auf die Kultur als Ganze zurück. Welche der kulturellen, sozialen, psychischen, ökonomischen, klimatischen usw. Faktoren nun im Konkreten die Herausbildung eines bestimmten Menschenbildes begünstigen, wie es also dazu kommt, dass in einem Individuum oder einer Gesellschaft bestimmte Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen entstehen und sich zu Menschenbildern zusammenbündeln, die dann ihre weitreichenden Wirkungen entfalten, lässt sich nicht allgemein bestimmen. Sofern man nicht der überkommenen Idee einer monokausalen Erklärung von Kultur huldigen will, die meint, alles Ideelle auf einen einzigen Ursprung – etwa die Produktionsverhältnisse – zurückführen zu können, verliert sich der Ursprung von Menschenbildern in der Unübersichtlichkeit der vielen kontingenten Faktoren. Freilich Vgl. die monumentale Studie von Ellenberger, Henri, Die Entdeckung des Unbewußten: Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, übers. v. Gudrun Theusner-Stampa, Zürich 22011.

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403 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Zu Wirkungen und Ursachen lebensweltlicher Menschenbilder

wäre es interessant zu erfahren, warum ein Menschenbild so und ein anderes so anders ausfällt. So wäre es beispielsweise aufschlussreich zu wissen, warum die Peul auf die Idee kamen, dass der Mensch von vielen Personen bewohnt wird, während im Abendland die Idee aufkam, dass der Mensch über einen metaphysischen Wesenskern verfügt, der garantiert, dass er durch alle Veränderungen hindurch ein mit sich identisches Wesen bleibt. Allein, solche Fragestellungen sind hier fehl am Platz; für die Erforschung der konkreten Wurzeln konkreter Menschenbilder sind andere Disziplinen – die historischen, die ethnologischen, die soziologischen, die psychologischen usw. – zuständig. Hier kann höchstens auf den anthropologischen Ursprung von Menschenbildern verwiesen werden: Auf den Umstand, dass der Mensch ein Wesen ist, das offensichtlich darauf angewiesen ist, sich ein Bild von sich selbst zu machen, und das sich durch dieses Bild selbst mitgestaltet. Der historische oder auch evolutionsbiologische Ursprung dieser Notwendigkeit verliert sich im Dunkel der Menschheitsgeschichte. Wann der Mensch zum ersten Mal den Blick hob und sich ihm die Frage stellte, wer er denn sei, woher er komme und wohin er gehe, wissen wir nicht. Wir wissen bloß, dass er, seit er damit begonnen hat, nicht mehr aufhören kann, es zu tun. Die philosophische Anthropologie hat die existenzielle Notwendigkeit, auf diese Fragen Antworten zu erhalten, auf die enorme, wesensmäßig gegebene Plastizität des Menschen zurückgeführt, sei sie nun mit Herder und Gehlen in seinem »Unfertigsein« und seiner »Mangelhaftigkeit« begründet, sei sie mit Nietzsche als des Menschen »Nicht-Festgestelltsein« benannt, sei sie mit Scheler als seine »Weltoffenheit« oder mit Plessner als seine »Exzentrizität« begriffen: Weil der Mensch ein so formbares Wesen ist, bedarf er einer Idee, die ihm Form verleiht. Der Mensch ist – mit den Worten Pico della Mirandolas, der schon früh als einer der ersten diese Einsicht hatte – ein chamäleonartiges Wesen »von unbestimmter Gestalt«, dem »gegeben ist zu haben, was er wünscht, zu sein, was er will«, dem also aufgegeben ist, sich »ohne jede Einschränkung und Enge« selbst zu bestimmen und sich eine bestimmte Gestalt zu geben. 57 Ein, wenn nicht überhaupt das Werkzeug dieser Selbstgestaltung ist nun, soviel sollte deutlich geworden sein, das Bild, das sich der Mensch von sich selbst macht.

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Vgl. Pico della Mirandola, Würde des Menschen, 7.

404 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Schluss

Die wichtigsten Erkenntnisse der Untersuchung lassen sich ganz knapp und konzentriert in drei Punkten zusammenfassen: (1) Menschenbilder sind systematisch zentrale Elemente der Sinnund Überzeugungssysteme, mit denen wir uns die Wirklichkeit in die uns vertraute Welt unseres alltäglichen Lebensvollzuges aufschlüsseln. Menschenbilder fungieren also als historisch-kulturelle Apriori der Lebenswelt und haben einen quasi-transzendentalen Charakter; sie sind das Fundament unseres Weltzuganges. (2) Menschenbilder haben weitreichende Wirkungen: Sie beeinflussen das Wahrnehmen, Fühlen, Wollen, Denken und Handeln von Menschen, sie beeinflussen die sozialen Institutionen, mit denen Gesellschaften ihr gemeinsames Leben regeln, und sie beeinflussen auf tiefgreifende Art und Weise die Menschen selbst – ein Einfluss, der sich von körperlichen Aspekten über die Persönlichkeit bis hin zu den tiefsten Selbstgefühlen erstreckt: Menschenbilder formen den Menschen. (3) Die lebensweltlichen Menschenbilder, die es in den verschiedensten Kulturen unserer Welt zu entdecken gibt, sind sehr unterschiedlich, und diese Unterschiedlichkeit erstreckt sich nicht bloß auf triviale oder oberflächliche, sondern auf ganz basale Aspekte des Menschseins. Angesichts dieser Befunde lässt sich festhalten, dass die Intuitionen, die den modernen Menschenbildbegriff begleiten, im Wesentlichen richtig sind: Menschenbilder sind wichtig; sie sind tatsächlich ein – wenn nicht überhaupt das – Fundament unseres Weltzuganges, unserer sozialen und politischen Ordnungen und nicht zuletzt der Art und Weise, wie wir Menschen sind. Daraus wiederum entsteht eine Aufgabe, die in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen ist: Die Aufgabe, die unterschiedlichen lebensweltlichen Menschenbilder zu heben und zu thematisieren, sie zu beschreiben, zu analysieren und zu 405 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Schluss

kritisieren. Wenn die Befunde stimmen, dann dürften Menschenbilder beispielsweise – so wie das die Rede von Menschenbildern in ethischen Kontexten ja nahelegt – tatsächlich an der Wurzel vieler innergesellschaftlicher Konflikte stehen. Bei einigen dieser Konflikte, so etwa bei denjenigen um die Abtreibung und die Sterbehilfe, ist dies nicht nur bekannt, sondern sind die zugrundeliegenden Menschenbilder auch ziemlich gut erkannt. Entscheidend daran ist, dass es erst die Freilegung dieser Wurzeln war, die die Voraussetzung für eine fruchtbare rationale Auseinandersetzung geschaffen hat. Denn nur dort, wo die anthropologischen Hintergrundüberzeugungen gehoben und thematisiert werden, können (a) diese Überzeugungen auch der rationalen Kritik unterzogen werden, kann (b) ein Boden der gemeinsam geteilten anthropologischen Überzeugungen – ein soziokulturelles Torso-Menschenbild – gewonnen werden, kann (c) zwischen öffentlichen, rational legitimierten und privaten, weltanschaulichreligiösen Überzeugungen unterschieden werden und kann (d) ein gegenseitiges Verständnis entstehen, das den jeweils anderen Ansichten Freiräume auch dann einzuräumen bereit ist, wenn es diese Ansichten nicht teilt. All dies bildet nicht nur die Voraussetzung für einen rational geführten öffentlichen Diskurs, sondern schafft auch erst den Raum für politische Kompromisse, der einer der wesentlichen Garantien für den sozialen Frieden ist. Denn politische Kompromisse sind nur dort möglich, wo es einen Minimalbestand an außer Streit gestellten, gemeinsam geteilten, basalen anthropologischen Überzeugungen gibt. Der Umstand, dass uns all diese Errungenschaften so selbstverständlich sind, sollte uns für die anthropologischen Überzeugungen, auf denen sie ruhen, nicht blind machen, und uns den nicht selten blutigen Prozess, in denen sie den vielen partikularen Menschenbildern, die unsere Kulturen durchdringen, abgerungen wurden, nicht vergessen lassen. Nur weil wir über Jahrhunderte erbittert über Menschenbilder gestritten, nur weil wir über Jahrhunderte hartnäckig um ihre Rationalität gerungen haben, stehen wir heute auf dem fruchtbaren Boden, auf dem Frieden möglich ist, und glauben wir an Demokratie, Menschenrecht und Menschenwürde. Angesichts der Tatsache, dass viele der innergesellschaftlichen, intrakulturellen Konflikte ihre Wurzel in den verschiedenen Menschenbildern der Gesellschaftsangehörigen haben, lässt sich erahnen, wie viele der interkulturellen Konflikte und Missverständnisse auf das Konto unterschiedlicher Menschenbilder gehen – Menschenbilder, die häufig unausgesprochen, ja vielleicht sogar unbewusst blei406 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Schluss

ben und daher im Hintergrund umso stärker ihre Wirkungen entfalten. Angesichts der Dramatik vieler dieser Konflikte lässt sich ermessen, wie wichtig und dringend es wäre, diesen Menschenbildern auf den Grund zu gehen und sie in das helle Licht der öffentlichen Auseinandersetzung zu heben; angesichts der großen Unterschiede zwischen den Menschenbildern, des beharrlichen Schweigens über sie und des Fehlens einer gemeinsamen Sprache der Vernunft lässt sich aber auch erahnen, wie schwierig dieses Unterfangen sein dürfte. Insbesondere der Umstand, dass Menschenbilder den Menschen zutiefst prägen und in ihm gleichsam verkörpert sind, dürfte sich als Hindernis in der interkulturellen Kommunikation erweisen. Weil manche Überzeugungen über den Menschen diesem tatsächlich »in Fleisch und Blut« übergehen und das Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Wollen zutiefst prägen, ist es schwer, sie zu erkennen, noch schwerer, zu ihnen auf kritische Distanz zu gehen, und wohl kaum möglich, sie gänzlich abzulegen. Dies würde auch erklären, warum der Wechsel von einer Kultur in eine andere so häufig vor so großen Hindernissen steht. Das, was mir durch Enkulturation in Fleisch und Blut übergegangen ist, lässt sich, wie das traurige Scheitern vieler Assimilationsbemühungen belegt, nicht so ohne Weiteres und schon gar nicht von heute auf morgen ablegen und durch etwas anderes ersetzen. Dennoch, gerade deswegen müssen auch hier – im Feld der interkulturellen Kommunikation – Menschenbilder artikuliert, analysiert und kritisiert werden. Nur dort, wo ein gemeinsamer Boden, ein gemeinsames Torso-Menschenbild schon gewonnen wurde und das Öffentliche vom Privaten einigermaßen zu unterscheiden gelernt worden ist, dürfen die partikularen Menschenbilder im Privaten unbehelligt bleiben. Doch dort, wo der gemeinsame Boden brüchig zu werden droht, und dort, wo es ihn noch gar nicht gibt, ist die Verdrängung der Menschenbilder in den Raum des Privaten und die – häufig aus falsch verstandenem Respekt geübte – Scheu vor der scharfen Analyse und der strengen Kritik derselben die falsche Alternative. So schwer es auch sein mag: Nur auf der Basis transparenter Menschenbilder, nur auf der Basis eines gegenseitigen Verständnisses und gegenseitiger Kritik und nur auf dem Fundament eines substanziellen anthropologischen Konsenses wird ein Pluralismus der Kulturen friedlich gedeihen können. Die Notwendigkeit der Identifikation, Deskription, Analyse und Kritik von Menschenbildern ergibt sich auch aus deren Missbrauchspotential. Menschenbilder können viel anrichten. Dies belegt die Ge407 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Schluss

schichte der Menschenbilder, die nur allzu oft eine Geschichte der Legitimation von Diskriminierung, Ausbeutung, Hass und Mord war. Es gibt wohl kaum eine Diktatur, die in ihrer Ideologie und in ihrer Propaganda nicht auf die verblendende Macht von Menschenbildern setzt, um ihre Herrschaft zu legitimieren und innere wie äußere Feinde zu desavouieren. Schon seit jeher waren Menschenbilder der Ansatzpunkt für die Unterscheidung zwischen »uns« und »den anderen«, zwischen »den Reinen« und »den Unreinen«, zwischen denen, die das Leben verdienen, und denen, denen es genommen werden muss. Schon seit jeher waren sie der Ansatzpunkt für die nicht selten gewaltsamen Züchtungen des »neuen Menschen«, von dem auch noch nach dem Zeitalter der Ideologien, in unserer angeblich so postideologischen Gegenwart, manche zu träumen nicht lassen können. Wenn auch mit den besten Absichten: Was anderes als sich einen neuen Menschen zu imaginieren, der den alten endlich ablösen möge, macht der Post- oder Transhumanismus – nach Francis Fukuyama angeblich die »gefährlichste Idee der Welt« – in unseren Tagen? 1 Doch während dieser neue posthumane Mensch wenigstens explizit und so der Kritik zugänglich ist und er mangels breiter Zustimmung und der zur Durchsetzung nötigen Mittel ohnehin noch auf absehbare Zeit die exklusive Vision einiger Technophiler bleiben wird, gibt es Menschenbilder, die sich auf ganz untergründige Weise einer Kultur bemächtigen. Das gegenwärtig wirkungsmächtigste Menschenbild, das von uns in steigendem Maße Besitz ergreift, ist, glaubt man den Diagnosen, das Menschenbild des homo oeconomicus, das Bild des allein für sich verantwortlichen, allein auf seinen (monetären) Nutzen bedachten Egoistenmenschen. Im Zuge der seit längerem von vielen Seiten beschriebenen »Durchökonomisierung« unserer Lebenswelt setzt sich dieser Mensch sukzessive in unseren Köpfen fest und lässt uns – seinerseits oft unerkannt – die Welt aus seinen Augen sehen. 2 Immer stärker in unsere Alltagspraxis eindrinVgl. Fukuyama, Francis, Transhumanism, in: Foreign Policy 144 (2004), 42 f. Darin warnt Fukuyama: »Society is unlikely to fall suddenly under the spell of the transhumanist worldview. But it is very possible that we will nibble at biotechnology’s tempting offerings without realizing that they come at a frightful moral cost.« 2 Vgl. dazu etwa Habermas, Jürgen, Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt am Main 1985; Illouz, Eva, Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Adorno-Vorlesungen 2004, Frankfurt am Main 2006; Ehrenberg, Alain, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2008; Brown, Die schleichende Revolution; Mirowski, Untote leben länger. 1

408 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

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gen und sich immer tiefer in unser Fühlen, Denken, Wollen und Handeln einschleichen kann dieses Menschenbild aber gerade deswegen, weil es – aufgrund einer gewissen Blindheit für Menschenbilder, aufgrund fehlender Übung im Umgang mit denselben und mangels real erscheinender ideologischer Alternativen – selten explizit thematisiert und kritisiert wird. Um es noch einmal zu sagen: Menschenbilder sind das Fundament unseres Weltzuganges, unserer sozialen und politischen Ordnungen, und unseres Menschseins. Aus diesem Grund ist die Hebung, Beschreibung, Analyse und Kritik von Menschenbildern von allerhöchster Relevanz. Denn es hängt auch vom zugrundeliegenden Menschenbild ab, ob eine Gesellschaft gute oder schlechte soziale und politische Ordnungen aufweist, und ob die Möglichkeiten eines geglückten Lebens in Fülle oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Ein wahres bzw. richtiges Menschenbild wird die Chancen, dass individuelle Leben gelingen, vergrößern und die Wahrscheinlichkeit, dass eine Gesellschaft anständig ist, erhöhen, während ein unwahres bzw. unrichtiges Menschenbild diese Chancen beschränken und diese Möglichkeiten verringern wird. Es ist mithin nicht nur akademisches Interesse, sondern es sind genuin praktische Gründe, aus denen sich die Frage nach der Wahrheit und Richtigkeit von Menschenbildern stellt. Die Frage drängte sich angesichts der Pluralität und der Diversität der Menschenbilder ohnehin schon auf. Nun, da wir die Frage vor dem Hintergrund des bisher Erreichten schärfer fassen können und in ihrer Komplexität und ihrer Bedeutsamkeit besser einzuschätzen vermögen, ist endlich der Zeitpunkt gekommen, sie aufzunehmen. Dies erfolgt allerdings nicht in der Absicht, sie erschöpfend zu behandeln, oder gar mit dem Ziel, ein spezifisches Menschenbild zu verteidigen und so dem reich bestellten Feld der philosophischen Anthropologie eine weitere Scholle hinzuzufügen; dies alles ist nicht notwendig. Über die Frage der Wahrheit und Richtigkeit einzelner anthropologischer Überzeugungen ist in der philosophischen Anthropologie, in der Ethik und insbesondere in der Philosophie der Menschenrechte bereits ausgiebig diskutiert worden. Die Behandlung der Frage beschränkt sich daher auf das wesentlich bescheidenere Ziel, abschließend zu skizzieren, was der Frage nach der Wahrheit und Richtigkeit von anthropologischen Überzeugungen aus den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung für Folgen erwachsen. Dabei wird es darum gehen, zum einen einige der Herausforderungen, mit denen eine Wahrheits- und 409 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Schluss

Richtigkeitsprüfung von Menschenbildern konfrontiert ist, zu benennen, und zum anderen darzulegen, dass aus diesen Herausforderungen kein Relativismus folgt, sondern die Kritik von Menschenbildern trotz allem nicht nur wünschenswert, sondern auch tatsächlich möglich ist.

Schwierigkeiten der Wahrheits- und Richtigkeitsfrage Menschenbilder sind, wie deutlich geworden sein dürfte, äußerst komplexe Gebilde. Wie die vielen methodologischen Auseinandersetzungen innerhalb der Ethnologie illustrieren, dürfte daher schon die bloße Erhebung, akkurate Beschreibung und angemessene Interpretation von Menschenbildern eine große Herausforderung darstellen. Mindestens ebenso schwierig stellt sich aber die Aufgabe dar, die Überzeugungen, die sich in Menschenbildern bündeln, auf ihre Wahrheit und normative Richtigkeit hin zu überprüfen. Dabei wäre es vom Prinzip her gar nicht so kompliziert: Der reale Mensch ist auf bestimmte Art und Weise verfasst, hat in realiter die Eigenschaften x. Die Überzeugungen über den Menschen sind dann wahr und richtig, wenn sie den realen Menschen angemessen beschreiben, wenn es also eine Übereinstimmung zwischen realem Menschen einerseits und Menschenbild andererseits gibt. Dieses simple korrespondenztheoretische Bild ist aber irreführend. Selbst wenn man die erkenntnistheoretischen Diskussionen beiseite lässt, die prinzipiellen Infragestellungen des Wahrheitsbegriffs im Allgemeinen und des korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs im Besonderen ausblendet und an einem – wie auch immer verfeinerten und um pragmatische, konsenstheoretische und kohärentistische Aspekte erweiterten – korrespondenztheoretischen Konzept der Wahrheit sowie der prinzipiellen Funktions- und Wahrheitsfähigkeit von Wissenschaft festhält, bleiben noch genug Schwierigkeiten, vor denen eine Überprüfung der Wahrheit und Richtigkeit der Überzeugungen über den Menschen im Allgemeinen steht. Einige dieser Schwierigkeiten sind eher pragmatischer, andere fundamentaler erkenntnistheoretischer Art. Zu diesen Schwierigkeiten zählen: (1) Lebensweltliche Menschenbilder sind stets integrale Bestandteile umfassender Sinn- und Überzeugungssysteme und sind eingelassen in Narrationen, Praktiken, Institutionen usw. Aus diesem Kontext lassen sich Menschenbilder nicht immer so einfach heraus410 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Schwierigkeiten der Wahrheits- und Richtigkeitsfrage

isolieren. Ein Menschenbild zu kritisieren und auf seine Wahrheit und Richtigkeit zu befragen bedeutet von daher häufig auch, gleich ein ganzes Sinn- und Überzeugungssystem, ja eine Kultur und Lebenswelt mitzukritisieren. Soll beispielsweise die im Hinduismus verbreitete Auffassung, dass Menschen in Kasten unterschiedlicher Dignität einzuordnen sind, kritisiert werden, dann ist es nicht genug, nur diese eine Auffassung zu kritisieren, sondern es müssen zugleich eine Vielzahl damit in engem Zusammenhang stehende Auffassungen mitkritisiert werden: die Auffassung von Karma, Seelenwanderung und Wiedergeburt, die Auffassung, dass Tradition und religiöse Autoritäten über dem individuellen Vernunftgebrauch stehen, die Auffassung, dass es reine und unreine Tätigkeiten gibt usw. Die Kritik einer einzelnen Menschenbildüberzeugung kann also unter Umständen erfordern, dass gleich die ganze damit verbundene Weltanschauung ebenfalls zum Gegenstand der Kritik werden muss. (2) Menschenbilder sind Bündel von Überzeugungen. Daraus ergibt sich, dass streng genommen nicht Menschenbilder als Ganze, sondern immer nur einzelne Überzeugungen über den Menschen auf ihre Wahrheit und Richtigkeit hin überprüft werden können. Als richtig oder falsch können sich daher stets nur einzelne Menschenbildüberzeugungen erweisen, nicht aber ein Menschenbild als solches. Von einem falschen Menschenbild könnte man höchstens dann sprechen, wenn die für ein Menschenbild identitätsstiftende Zentralannahme widerlegt ist. Um ein schon oft verwendetes Beispiel zu bemühen: Sollte sich eines Tages herausstellen, dass es tatsächlich keinen Gott gibt, dann wäre damit auch das christliche Menschenbild als Ganzes widerlegt. Seine Zentralannahmen, dass der Mensch von Gott geschaffen ist, dass er von ihm geliebt ist usw., wären in diesem Falle nicht mehr haltbar. (3) Menschenbilder sind Bündel von sehr unterschiedlichen Typen von Überzeugungen, für die jeweils andere Wahrheits- bzw. Richtigkeitskriterien in Anschlag zu bringen sind. Unter diesen Überzeugungen sind es allein die empirischen, für die es ein einigermaßen klares und relativ unstrittiges Kriterium der Wahrheit gibt. Unklarer wird es in Bezug auf die normativen Menschenbildüberzeugungen. Ob es für diese ein klares Kriterium der Richtigkeit gibt, darüber gehen die Meinungen bekanntlich auseinander. Nicht weniger unklar verhält es sich bei den deskriptiv-metaempirischen und essenzialistischen Überzeugungen: Auch hier ist strittig, ob es überhaupt ein Kriterium der Wahrheit oder Richtigkeit gibt. Einige metaempirische 411 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Schluss

Überzeugungen wie z. B. diejenige darüber, wer überhaupt Mensch ist und ob Embryonen nun vollwertige Menschen sind oder nicht, werden eher unter normativen Gesichtspunkten verhandelt, anderen Überzeugungen wie etwa derjenigen, dass der Mensch ein substantielles Selbst hat, wird mit interdisziplinären Mitteln zu Leibe zu rücken versucht, und wieder andere wie diejenige, dass der Mensch eine unsterbliche Seele (oder deren viele) hat, werden in der Regel aus dem Pool der rational verhandelbaren Fragen überhaupt ausgeschlossen. Der Umstand, dass allein für empirische Menschenbildüberzeugungen ein unstrittiges Wahrheitskriterium zur Verfügung steht, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, sind es doch gerade die empirischen Überzeugungen, die lebensweltlich – und auch anthropologisch – von eher untergeordneter Relevanz sind. Dies zeigt sich auch daran, dass die in dieser Untersuchung herausgearbeiteten zehn wichtigen inhaltlichen Typen von Überzeugungen über den Menschen – bei rechtem Licht betrachtet – allesamt deskriptiv-metaempirisch (wie beispielsweise die Überzeugungen, dass der Mensch eine Seele oder ein substanzielles Selbst hat) oder aber normativ (wie beispielsweise die Überzeugungen, dass Menschen vernünftig und selbstbestimmt sein sollten) sind. (4) Eine besondere Herausforderung ergibt sich aus der Tatsache, dass Menschenbilder bzw. – präziser – einige Menschenbildüberzeugungen einen selbsterfüllenden Charakter haben. Wie soll die Wahrheit einer Überzeugung bestimmt werden, die erst dadurch, dass kollektiv an sie geglaubt wird, zu einer wahren Überzeugung wird? Greifen wir zur Illustration auf das Beispiel der Überzeugung, dass Menschen über die Zeit hinweg mit sich identisch bleiben, zurück: Menschen können, so stellten wir fest, dieses Identitätsgefühl entwickeln, es scheint aber von der Kultur, in der sie aufwachsen, abzuhängen, ob und in welcher Intensität sie dieses Gefühl tatsächlich entwickeln. Wenn ein Kind in einer Kultur aufwächst, in der die starke Überzeugung, dass Menschen über eine stabile transtemporale Identität verfügen, herrscht, dann wird dieses Kind sehr wahrscheinlich auch starke transtemporale Identitätsgefühle entwickeln. Wächst es hingegen in einer Kultur auf, die der Überzeugung ist, dass jeder Mensch ein instabiles Sammelsurium vieler Seelen und Personen ist, die kommen und gehen, wie es ihnen gefällt, wird das Kind dieses starke Identitätsgefühl wahrscheinlich nicht entwickeln. Es hängt also in einigen Fällen von dem kollektiven Glauben an eine mensch412 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Schwierigkeiten der Wahrheits- und Richtigkeitsfrage

liche Eigenschaft ab, ob diese Eigenschaft zu einer wirklichen Eigenschaft und der Glaube damit zu einem wahren Glauben wird. Im Grunde können solche selbsterfüllenden Überzeugungen nicht auf ihre Wahrheit, sondern allein auf ihre normative Richtigkeit hin befragt werden. Die Frage, die an die Überzeugung, dass der Mensch über die Zeit mit sich identisch bleibt, zu richten ist, lautet also nicht »Ist der Mensch tatsächlich über die Zeit mit sich identisch?«, denn die Antwort darauf kann nur lauten: »Der Mensch besitzt die Fähigkeit, sich zu einem Wesen zu entwickeln, das das Gefühl der transtemporalen Identität entwickelt.« Ob er dieses Gefühl tatsächlich entwickelt, hängt dann aber, wie gesagt, unter anderem davon ab, ob er zuvor daran glaubt, mit sich identisch zu sein. Die Frage muss daher vielmehr lauten: »Ist es richtig bzw. geboten, den Menschen als ein mit sich identisches Wesen zu denken, damit er sich zu einem mit sich selbst identisch fühlenden Wesen entwickelt?« Analog dazu kann die Frage nicht lauten: »Ist der Mensch ein selbstbestimmtes Wesen?« Denn die Antwort darauf kann erneut nur lauten: »Der Mensch besitzt die Fähigkeit, sich zu einem selbstbestimmten Wesen zu entwickeln.« Ob er sich tatsächlich zu einem selbstbestimmten Wesen entwickelt, hängt aber unter anderem davon ab, ob er in einer Gesellschaft aufwächst, die daran glaubt, dass er ein selbstbestimmtes Wesen ist. Die eigentliche Frage, die an diese Überzeugung zu richten ist, lautet daher: »Ist es richtig bzw. geboten, den Menschen als ein Wesen zu denken, das selbstbestimmt sein soll, damit sich der Mensch zu einem selbstbestimmten Wesen entwickeln kann?« Das Gleiche gilt auch für die Vernunft: Die Frage lautet nicht »Ist der Mensch ein vernünftiges Wesen?«, sondern die Frage muss lauten: »Ist es richtig bzw. geboten, den Menschen als ein Wesen zu denken, das vernünftig sein soll, damit er sich zu einem vernünftigen Wesen entwickeln kann?« Im Kern jedes Menschenbildes – darauf läuft es hinaus – liegt eine normative Frage: Ist es richtig, auf bestimmte Art und Weise vom Menschen zu denken, wenn wir bedenken, dass dies die Art und Weise, wie Menschen wirklich sind, mitkonstituiert? Es sei hier noch einmal betont, dass diese Fragen nicht nur theoretisch interessant, sondern auch praktisch hochrelevant sind. Es gibt Völker, für die personale Identität, Selbstbestimmung und Vernunft nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen und deren Angehörige diese Fähigkeiten daher auch nicht in dem Maße ausbilden, wie dies bei uns – einer auf Identität, Selbstbestimmung und Vernunft versessenen Kultur – der Fall ist. Liegen diese Völker falsch, wenn sie 413 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Schluss

auf diese Fähigkeiten keinen Wert legen? Haben wir die Pflicht oder auch nur das Recht, sie zu korrigieren und den vermeintlich Identitätslosen zur Identität, den vermeintlich Fremdbestimmten zur Selbstbestimmung und den vermeintlich Unvernünftigen zur Vernunft zu verhelfen? Oder haben wir im Gegenteil die Pflicht, zu respektieren, dass andere Völker ganz andere Prioritäten setzen, auch wenn uns ihre Prioritäten nicht nachvollziehbar, ja sogar als grundlegend falsch erscheinen? (5) Diese Fragen führen uns zu der letzten, philosophisch herausforderndsten Schwierigkeit: Zur Beurteilung der Wahrheit und Richtigkeit von Menschenbildüberzeugungen würden wir eigentlich eines objektiven Kriteriums, und dies bedeutet wiederum: eines Standpunktes jenseits aller Menschenbilder benötigen. Dieser Standpunkt ist uns aber verwehrt. Dies zeigt sich daran, dass jedes mögliche Kriterium, das wir uns zur Beurteilung der Richtigkeit und Wahrheit von Menschenbildüberzeugungen ersinnen können, stets schon gewisse Menschenbildannahmen voraussetzt. Verdeutlichen wir dies an einem Beispiel: Das Kriterium der Konsistenz gilt als eines der fundamentalsten Kriterien der Rationalität und mithin auch der Richtigkeit von Überzeugungen. Nun beruht aber unsere Fähigkeit, auf Konsistenz zu achten, auch darauf, dass wir uns selber als mit uns selbst identisch erfahren. Nur weil wir über transtemporale Identität und intrapersonale Ganzheit verfügen, sind wir auch fähig, konsistent zu denken. Wären wir in verschiedene Personen aufgesplittert, so könnten wir dies nicht in dem in unserer Kultur üblichen Maße. Dass wir uns als mit uns selbst identische Wesen erfahren, und dass wir daher auch fähig sind, auf Konsistenz zu achten, ist aber – so führten wir oben aus – eine Folge der Tatsache, dass wir in einer Kultur aufgewachsen sind, die auf Konsistenz Wert legt und der Überzeugung ist, dass Menschen über transtemporale Identität und intrapersonale Ganzheit verfügen sollten. Dass wir Konsistenz überhaupt als Kriterium in Anschlag bringen können, setzt folglich eine bestimmte Menschenbildüberzeugung voraus, nämlich diejenige, dass Menschen konsistente Wesen sein sollten bzw. dass Konsistenz für den Menschen gut ist. Dort, wo diese basale Menschenbildannahme fehlt, wird daher auch das Kriterium der Konsistenz nicht greifen können: Das Volk der Dogon beispielsweise ist, so lernten wir oben, der Ansicht, dass jeder Mensch ein ziemlich instabiles Konglomerat von vielen unterschiedlichen ontologischen Elementen ist und dass es daher so etwas wie transtemporale Identität und intrapersonale Ganz414 https://doi.org/10.5771/9783495813737 .

Schwierigkeiten der Wahrheits- und Richtigkeitsfrage

heit nicht gibt. Die Dogon legen auf Konsistenz augenscheinlich keinen Wert; sie begreifen – und fühlen – sich jeden Tag als ein anderes Wesen. 3 Nun könnte man den Dogon vorhalten, dass diese Menschenbildüberzeugung inkonsistent ist, weil sie mit vielen auch ihnen wohl bekannten Phänomenen wie den Phänomenen der Erinnerung, des Wiedererkennens und des dauerhaften Schmerzes, mit vielen ihrer Praktiken und mit vielen ihrer anderen Überzeugungen im Widerspruch steht. Im Grunde müssten die Dogon, so könnte das Argument lauten, doch auch davon ausgehen, dass sie über eine Art personaler Identität verfügen. Abgesehen davon, dass die Dogon vermutlich einige Erklärungen für die von uns ins Feld geführten Phänomene würden vorbringen können, die mit ihrem Menschenbild vereinbar sind, würden sie den Einwand in seiner Schärfe gar nicht verstehen können. Jemand, der auf Konsistenz keinen Wert legt, kann in der Kritik, inkonsistent zu sein, keinen Vorwurf erkennen. Im Gegenteil, für so jemanden wäre es geradezu inkonsistent, einen Inkonsistenzvorwurf ernst zu nehmen. Selbst das so neutral erscheinende Kriterium der Konsistenz setzt also bereits eine Menschenbildannahme voraus: diejenige, dass Konsistenz für den Menschen einen Wert darstellt. Und diese Menschenbildannahme wiederum ist nicht weiter begründungsfähig, da ja jeder Versuch ihrer Begründung Konsistenz als Wert bereits voraussetzt. Jemandem, der sich selbst nicht als ein konsistentes Wesen zu erfahren gelernt hat, weil Konsistenz in seiner Kultur kein Wert darstellt, und für den Konsistenz daher auch keine Rolle spielt, vorzuhalten, dass er sich angesichts mancher Konsistenzphänomene doch als konsistentes Wesen denken sollte, da er sonst inkonsistent wäre, kann daher nicht nur praktisch, sondern auch, so scheint es, prinzipiell nicht funktionieren. Noch deutlicher wird die Menschenbilddurchtränktheit jedes möglichen Kriteriums für die Richtigkeit und Wahrheit von Menschenbildern an dem Umstand, dass allein schon die Frage nach der Richtigkeit und Wahrheit von Menschenbildüberzeugungen dann, wenn darauf, wie dies für gewöhnlich der Fall ist, eine rational begründete Antwort erwartet wird, eine spezifische Menschenbildüberzeugung voraussetzt: diejenige, dass Rationalität von hohem Wert für den Menschen ist. Das Gewicht, das wir der Frage nach der Wahrheit und Richtigkeit beimessen, und das Gewicht, das wir einer rationalen 3

Vgl. Descola, Natur und Kultur, 334.

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Schluss

Antwort auf diese Frage beimessen, gründen mithin in einem bestimmten Menschenbild, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Genese als auch hinsichtlich ihrer Geltung. Nur weil wir über Jahrtausende glaubten, dass das Vernünftige das für den Menschen Wesentliche ist, kultivierten wir die Fähigkeit der Vernunft, und nur weil wir über Jahrtausende daran glaubten (und die entsprechenden bestätigenden Erfahrungen machten), dass das Vernünftige auch das für den Menschen Gute ist, sind wir geneigt, den rationalen Antworten Glauben zu schenken und unser Handeln an ihnen auszurichten. Die Überzeugung aber, dass die Vernunft, wie es Goethes Faust ausdrückt, »des Menschen allerhöchste Kraft« ist, ist ihrerseits nicht mehr rational begründbar, und kann ihrerseits daher nicht mehr streng rational sein. Denn jedes Argument, jede rationale Bestätigung der Vernünftigkeit des Glaubens an die Vernunft setzt ja die Vernunft – und damit den Glauben daran, dass sie etwas für den Menschen Wichtiges ist – schon voraus. Der Glaube an die Vernunft – und mit ihr die ganze Wissenschaft – basiert deshalb auf einer Menschenbildüberzeugung, die rational nicht vollständig einzuholen ist. 4 Die Frage nach den Kriterien für die Beurteilung der Wahrheit und Richtigkeit von Menschenbildern führt also letztlich zur Frage der Begründbarkeit der Rationalität überhaupt und damit, so der vorläufige Schluss, in das bekannte Trilemma der Letztbegründung: Entweder wird die Begründung zirkulär, gerät in einen infiniten Regress, oder muss dogmatisch abbrechen. 5 Es ist hier erneut darauf hinzuweisen, dass diese Überlegungen, so abstrakt sie auch erscheinen mögen, keine rein akademische Übung sind, sondern ein reales Problem berühren. Dies wird deutlich, wenn man sich zweierlei vor Augen führt: (a) Es scheint Kulturen zu geben, die uns, inklusive ihrer Menschenbilder, so fremd sind, dass wir sie kaum – und in vielen Aspekten wahrscheinlich überhaupt nicht – verstehen können. (b) In einigen dieser Kulturen gibt es Praktiken wie z. B. Kannibalismus, Frühverheiratung von Mädchen, weibliche Genitalbeschneidung, Witwenverbrennung, Rassismen usw., die im jeweils eigenen kulturellen Bezugssystem, vor dem Hintergrund des je eigenen Sinnund Überzeugungshorizontes und des je eigenen Menschenbildes, Aus diesem Grund spricht etwa Karl Popper auch vom »irrationalen Glauben an die Vernunft«; vgl. Popper, Karl, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 82003, 270. 5 Vgl. Albert, Hans, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 51991, 15. 4

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sehr gut legitimiert sind, uns aber fundamental falsch vorkommen. Bei Kulturen, die radikal anders sind, fehlen nun substanzielle gemeinsame Menschenbildüberzeugungen bzw. überhaupt ein gemeinsames Verständnis, anhand dessen es möglich wäre, eine interne, d. h. durch das je eigene Bezugssystem legitimierte Kritik zu leisten. Aus diesem Grund wären wir zur Kritik, Korrektur oder Eindämmung dieser moralischen Übel – was beispielsweise viele Entwicklungshilfeprogramme auch anstreben – nur dann wirklich legitimiert, wenn wir nachweisen könnten, dass diese Praktiken und das ihnen zugrundeliegende Menschenbild nicht nur für uns, sondern an sich, objektiv falsch sind. Dazu aber müssten wir eben über jenes objektive Kriterium der Richtigkeit verfügen, das uns gerade zu fehlen scheint. Fehlte uns aber dieses Kriterium, hätten wir den Vorwürfen des Eurozentrismus, des moralischen Imperialismus, des raffiniert prolongierten Kolonialismus und der weißen Dominanzkultur, die sich gegen den westlichen moralischen Universalismus im Allgemeinen und den Menschenrechtsdiskurs im Besonderen richten, wenig entgegenzusetzen. Weil es eben jenes objektive Kriterium nicht gebe, handle es sich bei beidem, so die Kritik, um die völlig illegitime Verabsolutierung der partikularen westlichen Moralperspektive. 6

Kein Relativismus Angesichts der Inkommensurabilität, die zwischen manchen Kulturen herrscht, und angesichts der aus diesem Grund so offensichtlichen Schwierigkeit, einen objektiven, kulturtranszendierenden Standpunkt zu definieren, von dem aus über wahr und falsch und richtig und unrichtig zu urteilen wäre, ist es nicht verwunderlich, dass gerade in der Ethnologie der Relativismus so verbreitet ist. 7 Vgl. beispielsweise Makau, Mutua, Human Rights: A Political and Cultural Critique, Philadelphia 2002; für eine Übersicht der Kritik am Menschenrechtsdiskurs vgl. Pollmann, Arndt/ Lohmann, Georg (Hg.), Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2012, 331–357. 7 Vgl. Antweiler, Christoph, Was ist dem Menschen gemeinsam, 7, 17 f. Bernard Williams hat den Relativismus überhaupt als »die typische Häresie der Ethnologen, wohl die absurdeste Anschauung, die innerhalb des an Absurditäten nicht gerade armen Gebiets der Moralphilosophie je vertreten worden ist« bezeichnet; vgl. Williams, Bernard, Der Begriff der Moral. Eine Einführung in die Ethik, Stuttgart 1978, 28. Zum Relativismus in seinen mannigfachen Spielarten vgl. Harré, Rom/Krausz, Michael, Varieties of Relativism, Oxford 1996; ferner Baghramian, Maria/Carter, 6

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Führt die hier ausgearbeitete Theorie des Menschenbildes also geradewegs in den erkenntnistheoretischen, ethischen und anthropologischen Relativismus? Nicht unbedingt. Es folgt daraus nur die – eigentlich triviale – Erkenntnis, das wir hinsichtlich unserer fundamentalen Menschenbildüberzeugungen, die für uns einen axiomatischen, transzendentalen Charakter haben, keine letzte Sicherheit haben können, da jeder Versuch der Letztbegründung eben diese Menschenbildüberzeugungen voraussetzt, womit der Letztbegründungsversuch entweder zirkulär, infinit oder dogmatisch werden muss. Aber aus dem bloßen Faktum, dass wir nicht mit letzter Sicherheit wissen können, ob unsere Menschenbildüberzeugungen richtig sind, folgt nicht, dass sie falsch sind. Der Relativismus macht – zumindest in den primitiveren Varianten – den Fehler, aus dem Umstand, dass wir die Richtigkeit von Menschenbildüberzeugungen nicht zweifelsfrei ausweisen können, darauf zu schließen, dass es diese Richtigkeit nicht gibt bzw. sie ausschließlich eine Frage der Perspektive ist. Vielleicht sollte man, um dem Relativismus etwas gerechter zu werden, grob zwei Formen des Relativismus unterscheiden: den inkonsequenten Relativismus des Respekts und den konsequenten Relativismus der Macht. Der Relativismus des Respekts bzw. der Toleranz, der insbesondere in der Ethnologie, der Postmoderne und in den Postcolonial Studies verbreitet ist, steht in der Tradition Herders und Humboldts, ist überwältigt von der kulturellen Diversität, trauert um die zunehmende kulturelle Vereinheitlichung und den Verlust des kulturellen Reichtums und fordert, die kulturelle Andersartigkeit der jeweils anderen vollständig zu respektieren. Weil uns der andere in seiner Andersartigkeit kaum oder gar nicht zugänglich ist, sollten wir uns jedes Urteils und jeder Intervention enthalten. Auch wenn wir aus den besten Intentionen heraus denken und handeln: Wir dürfen uns nicht in paternalistischer Manier anmaßen zu wissen, was das für den anderen Richtige ist, weil wir es schlicht nicht wissen können. Das einzige, was wir wissen können, ist, dass das, was uns richtig erscheint, uns nur vor unserem kulturellen Hintergrund richtig erscheint, und das, was den anderen als richtig erscheint, ihnen eben vor den jeweils ihrigen kulturellen Hintergründen als richtig erscheint. Adam, Relativism, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2015 Edition), hg. v. Edward Zalta, Quelle: http://plato.stanford.edu/archives/win2015/ entries/relativism/ [26. 1. 2016].

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Und sowenig wir es schätzen würden, dass uns die anderen ihre Maßstäbe von Wahr und Richtig aufoktroyieren, so wenig sollten wir ihnen die unsrigen aufzwingen. Im Gegenteil, wir sollten die anderen ebenso respektieren, wie wir von ihnen respektiert zu werden verlangen, auch wenn dies bedeutet, Maßstäbe – und auch Menschenbilder – zu respektieren, die uns fundamental falsch vorkommen. Der offensichtliche Fehler des Relativismus des Respekts liegt nun darin, dass er für seine eigenen nichtrelativistischen, universalistischen normativen Setzungen blind zu sein scheint: Wer Toleranz und den Respekt vor anderen Kulturen fordert, muss zumindest der Überzeugung sein, dass Kulturen diesen Respekt auch verdienen. 8 Der Relativismus des Respekts setzt folglich das absolut gesetzte, universelle Recht auf kulturelle Selbstbestimmung voraus. Denn nur dann, wenn es dieses universelle Recht gibt, ist es legitim zu fordern, der andere möge meine Maßstäbe auch dann respektieren, wenn sie ihm völlig zuwider sind. Und genau darin ist der Relativismus des Respekts nichtrelativistisch und mithin inkonsequent: Er hält alle Wahrheits- und Richtigkeitskriterien für relativ, nur das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung nicht; dieses soll absolut, objektiv richtig sein. Wer aber schon in einem so zentralen Wert nichtrelativistisch ist, kann sich den Gründen, auch andere Werte für nichtrelativistisch anzusehen, nur mehr schwer verschließen. Wer auch immer das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung für objektiv richtig und universell gültig hält, hält implizit meist auch folgende Überzeugungen für objektiv richtig: Der Kreis der Menschen umschließt alle Mitglieder der biologischen Spezies homo sapiens; Menschen haben die Fähigkeit bzw. zumindest die Anlage zur Selbstbestimmung; Selbstbestimmung ist ein hoher, wenn nicht der höchste Wert, die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ist eine für den Menschen als Menschen wichtige Fähigkeit; alle Menschen haben das gleiche Recht auf Selbstbestimmung, auf Respekt und Anerkennung. Der Relativismus des Respekts ist mithin gar kein wirklicher Relativismus; er ist bloß ein partieller Relativismus, der einige Überzeugungen für relativ, andere hingegen für objektiv richtig und universell gültig hält. Oder, anders

Unklar ist dabei häufig, wer genau diesen Respekt verdient: die Kultur, das menschliche Kollektiv (eine Gesellschaft, ein Volk) als Träger der Kultur oder doch das einzelne menschliche Individuum?

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ausgedrückt: Der Relativismus des Respekts ist kein Relativismus, sondern ein sehr zaghafter Universalismus. Der Relativismus der Macht, so wie ihn paradigmatisch Nietzsche vertreten hat, ist demgegenüber konsequent: Er ist der Ansicht, das es überhaupt keine objektiven, absoluten Werte, sondern nur partikulare Werte gibt, die vor dem Hintergrund der jeweiligen Sinnund Überzeugungshorizonte legitimiert sind. Daraus folgt nun aber nicht, dass diese partikularen Werte gleichwertig und wir daher zum gegenseitigen Respekt verpflichtet wären, wie dies der Relativismus des Respekts zu meinen scheint, denn dies zu behaupten würde ja gerade wieder einen übergeordneten, objektiven Maßstab erfordern, von dem aus so geurteilt werden könnte. Es folgt daraus vielmehr, dass es eben ganz und gar unmöglich ist, über die objektive Wertigkeit von partikularen Werten zu urteilen. Die Frage nach der objektiven Richtigkeit hat streng genommen keinen Sinn. Über die Wertigkeit von partikularen Werten kann nur aus der Perspektive anderer partikularer Werte geurteilt werden. Letztlich kann es also dazu kommen, dass sich partikularer Wert und anderer partikularer Wert unversöhnlich gegenüberstehen: etwa der Glaube an die moralische Gleichheit aller Menschen und der Glaube an die Überlegenheit der arischen Rasse und die Nichtigkeit der jüdischen Rasse. Jeder dieser Glauben hält den jeweils anderen für abgrundtief falsch und unmoralisch. Da es nach konsequent relativistischer Auffassung keinen übergeordneten Maßstab geben kann, an dem man die Richtigkeit der konkurrierenden Werte bemessen könnte, reduziert sich die Frage nach der Richtigkeit in letzter Konsequenz auf eine Frage der kruden Macht: Es hat derjenige »recht«, der sich mit seinen partikularen Maßstäben durchsetzt, und sei es mit roher Gewalt. 9 Im Unterschied zum inkonsequenten Relativismus des Respekts ist der konsequente Relativismus der Macht eher ein theoretisches Im Unterschied zu dem, was viele Relativisten glauben, ist der Relativismus daher nicht ein Bollwerk gegen den Dogmatismus, sondern nur dessen missratenes Geschwister. Während der Dogmatismus von der Absolutheit seiner eigenen Werte ausgeht, flüstert ihm der Relativismus nur folgendes zu: »Wisse, Absolutheit der Werte gibt es nicht, und daher sind auch Deine Werte relativ. Aber das spielt keine Rolle, denn das, auf was es ankommt, ist, dass Du dich durchsetzt, und dafür ist jedes Mittel recht. Wenn Du also Deinen Dogmatismus benötigst, um Dir selber Mut zu machen und Deine Gewaltexzesse zu legitimieren, dann bist Du darin berechtigt. Denn von wo aus könnte ich Dich kritisieren, wenn nicht wieder nur von Werten, die diesen Namen nicht verdienen.«

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Schreckgespenst der Philosophie denn eine real vertretene Position. Daher kann die Auseinandersetzung mit ihm, die ohnehin anderswo in aller Ausführlichkeit geführt wurde, hier auf das Nötigste reduziert werden: 10 Neben den üblichen, aber eigentümlich kraftlosen Einwänden des logischen Selbstwiderspruchs – der Relativismus muss zumindest die Ansicht, dass alles relativ ist, für nichtrelativ halten, womit aber schon gezeigt wäre, dass eben nicht alles relativ ist 11 – und des performativen Selbstwiderspruchs – indem der Relativismus rational für seine Position argumentiert, stellt er performativ gerade die Gültigkeit dessen unter Beweis, was er zu bestreiten versucht 12 – ist dem Relativismus eben jener zentrale Fehler vorzuhalJedes philosophische Grundlagenwerk zur Ethik enthält eine Auseinandersetzung mit dem Relativismus. Für jüngere Beiträge zum Thema vgl. etwa Ernst, Gerhard (Hg.), Moralischer Relativismus, Paderborn 2009. 11 Der Vorwurf des Selbstwiderspruchs trifft den konsequenten Relativismus deswegen nicht, weil er ja auch das Nichtwiderspruchsprinzip für relativ, d. h. für nicht objektiv gültig hält. Der konsequente Relativismus steigt aus dem »Spiel« der Vernunft aus, er anerkennt die Autorität der Vernunft nicht – was aber nicht ausschließt und auch nicht im Widerspruch dazu steht, dass er das Spiel der Vernunft aus strategischen Gründen dann mitspielt, wenn er will. 12 Das transzendentalpragmatische Argument des performativen Selbstwiderspruches wurde bekanntlich von Apel und Habermas entwickelt; vgl. Apel, Karl-Otto, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: Ders., Transformationen der Philosophie, Bd. 2, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt am Main 1973, 358–435; Habermas, Jürgen, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: Ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 61996, 53–125. Auch dieses Argument würde aber – wie Habermas selbst zugesteht (109 f.) – nur dann ziehen, wenn der Relativismus ernsthaft argumentieren würde. Aber als konsequenter Relativismus wird er eben dies nicht tun; sein Sich-Einlassen auf das Spiel der Vernunft ist nicht ernst, sondern bloß strategischer Natur; es ist Guerillataktik. Das weitere Argument (110), dass der Relativist bzw. Skeptiker, auch wenn er Vernunft radikal negiert, einfach dadurch, dass er sein Leben leben muss, unauflöslich in die kommunikative Alltagspraxis verwoben ist und daher gar nicht umhinkommt, die dieser Praxis innewohnenden Normen der kommunikativen Vernunft zu akzeptieren und zu bestätigen, ist ziemlich voraussetzungsreich: Nicht nur setzt es voraus, dass diese Normen der kommunikativen Vernunft der Praxis der Lebenswelt tatsächlich eingeschrieben sind (was der Skeptiker natürlich bezweifeln würde), es setzt auch voraus, dass der Skeptiker rational ist bzw. die Voraussetzungen von Rationalität erfüllt: dass er über die Zeit mit sich identisch bleibt, dass er willens ist bzw. die Selbstverpflichtung verspürt, konsistente Ansichten zu haben usw. All dies kann aber, wie wir gesehen haben, nicht einfach unterstellt werden. Die Argumente des logischen und des performativen Selbstwiderspruchs können mithin nur in einer Lebenswelt bzw. einer Kultur greifen, die bereits im Vorhinein von einem bestimmten Menschenbild durchwirkt ist, nämlich einem, demzufolge Vernunft ein, wenn nicht das höchste Gut des 10

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ten: Er schließt aus der Tatsache, dass Werte nicht letztbegründet werden können, darauf, dass es keine objektiven, universellen Werte gibt. Damit aber weiß der Relativismus schlicht zu viel, er weiß etwas, was er nicht wissen kann. Aus dem Umstand, dass wir Werte nicht letztbegründen können, folgt nur, dass wir nicht mit letzter Sicherheit wissen können, ob die Werte, denen wir folgen, tatsächlich die objektiv richtigen sind. Es folgt daraus weder, dass es objektive Werte überhaupt nicht geben kann, noch, dass unsere Werte nicht die objektiv richtigen sind. Aus der Tatsache, dass wir Werte nicht letztbegründen können, folgt bloß eine Pattstellung: Es könnte objektive Werte ebenso gut geben wie es sie nicht geben könnte. Ist es angesichts einer solchen Pattstellung aber nicht sinnvoller, sich auf die Seite der Werte zu schlagen und zu glauben, dass es objektive Werte – zunächst einmal rein formal – gibt? Der Terminus »Glauben an objektive Werte« ist dabei zunächst so zu verstehen: Er umfasst ganz grundlegend (a) den Glauben daran, dass die kritische Vernunft, so wie wir sie kennen und in den Wissenschaften kultivieren, objektiv gut oder zumindest objektiv besser für den Menschen ist als ihr Fehlen und (b) den Glauben daran, dass die Erkenntnisse, die diese kritische Vernunft hervorbringt, objektiv besser sind als die ohne sie zustande gekommenen »Erkenntnisse«. Des Weiteren umfasst er den Glauben (c) daran, dass es das moralisch Gute – zumindest in Form des moralisch Besseren – objektiv gibt und (d) den Glauben daran, dass dieses moralisch objektiv Bessere mit den Mitteln der kritischen Vernunft erkannt – oder zumindest besser mit als ohne diesen Mitteln erkannt – werden kann. Um zum Schluss zu kommen, mit dem einige grundlegende Fragen geklärt, viele weitere, ebenso wichtige aber offengelassen sind: Der Sprung in den Glauben, dass es objektive Werte in diesem Sinne gibt, mag – für sich allein betrachtet – ebenso gut oder schlecht legitimiert sein wie der Sprung in den Glauben, dass es objektive Werte nicht gibt. Aufgrund dieser Pattstellung gewinnen dann aber im größeren Kontext all jene Plausibilitäten an Gewicht, aufgrund derer uns der konsequente Relativismus sowohl epistemologisch als auch moralisch als keine wirklich attraktive Option erscheint. Sollte nicht allein Menschen ist, und die erst deswegen den Vorwurf des Selbstwiderspruchs überhaupt verstehen und ernst nehmen kann. Für eine fundamentale Kritik an Habermas’ Diskurstheorie vgl. auch Engländer, Armin, Diskurs als Rechtsquelle? Zur Kritik der Diskurstheorie des Rechts, Tübingen 2002, 41 ff.

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schon die Tatsache, dass wir auch nach über zweieinhalbtausend Jahren Erfahrung noch an der Menschenbildüberzeugung, dass die Vernunft »des Menschen allerhöchste Kraft« sei, festhalten, für die Vernunft sprechen? Es ist klar, dass sich jede einzelne dieser Plausibilitäten dekonstruieren lässt – durch eine Dekonstruktion, die ihrerseits wieder dekonstruiert werden kann usw. Aber kumulativ, in der Summe der Plausibilitäten, und im Wissen darum, dass es ganz sicheren Boden nirgendwo zu erreichen gibt, sollten sie uns doch zur Auffassung bringen, dass es sinnvoller ist, an die Vernunft zu glauben, als den Glauben daran fahren zu lassen. Trotz all der Schwierigkeiten, die eine Überprüfung der Wahrheit und Richtigkeit von Menschenbildern mit sich führt, ergiebt es also Sinn, daran festzuhalten, dass es möglich ist, rational zwischen wahren und falschen, zwischen richtigen und unrichtigen Überzeugungen über den Menschen zu unterscheiden. Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, welche konkreten Überzeugungen nun richtig und welche falsch sind. Insgesamt gesehen besteht aber wohl nicht wenig Hoffnung darauf, dass das Torso-Menschenbild, welches der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zugrunde liegt und das uns die Vernunft geschenkt hat, in vielen Überzeugungen – wenn auch vielleicht nicht in allen – tatsächlich besser, wahrer und richtiger ist als viele andere Menschenbilder. Dies zu prüfen ist nicht mehr Aufgabe der vorliegenden Untersuchung. Ihr Anliegen bestand nur darin zu zeigen, dass die Rede von Menschenbildern berechtigt ist, dass viele der Intuitionen, die diese Rede begleiten, richtig sind, und dass die Auseinandersetzung mit Menschenbildern ein ebenso wichtiges wie sinnvolles Unterfangen ist. Wenn darüber hinaus deutlich geworden ist, dass dabei nicht mit szientistisch-eurozentrischer Arroganz, die sich im Besitz der Wahrheit wähnt, sondern mit Demut, Behutsamkeit, außerordentlicher Sensibilität und im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit vorzugehen ist, hat die Untersuchung ihr Ziel erreicht. Denn mit jeder noch so seltsamen Überzeugung, mit jeder noch so fremden, uns unzugänglichen Annahme über den Menschen könnte stets nicht nur ein Irrtum, sondern auch eine tiefere Wahrheit über den Menschen verlorengehen.

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Personenregister

Acidadius, Valens 294 Adam 32 Ake, Claude 323 Albrecht II. von Habsburg 30 Albrecht V. von Österreich 30 Allmers, Hermann 49, 66 Apel, Karl-Otto 421 Aristoteles 185, 193, 281, 294 Augustinus 32 Baader, Franz von 52 Baeumler, Alfred 71, 73 Barsch, Achim 92 Barth, Fredrik 328–329 Berger, Friedrich 70 Berger, Peter 123–124, 146, 150–151 Berkeley, George 58 Birnbacher, Dieter 235 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 372 Bois-Reymond, Emil Heinrich du 55– 56, 66 Bollnow, Otto Friedrich 70, 372 Böse, Heinrich 49 Bottenberg, Ernst 274 Bougainville, Louis Antoine de 40 Bourdieu, Pierre 136, 378 Brecht, Bert 160 Brewer, Paul 368 Brunelleschi, Filippo 197 Buchner, Andreas 53 Burckhardt, Jacob 197, 318 Bush, George W. 270 Camus, Albert 109, 215 Christus siehe Jesus Christus Cioran, Emil 229

Costa, Paul 379 Cumberland, Richard 39 Darwin, Charles 55, 66, 261 Derrida, Jacques 114 Descartes, René 58 Descola, Philippe 298, 301, 305, 333 Diderot, Denis 40 Douglass, Frederick 214 Durkheim, Émile 226 D’Andrade, Roy 218 Fahrenberg, Jochen 275 Ferdinand II von Spanien 289 Feuerbach, Ludwig 55, 58 Fichte, Johann Gottlieb 37, 46–47 Fischer, Johannes 269 Foucault, Michel 15, 136, 197, 266, 306, 324, 363, 376, 378, 396 Freud, Sigmund 109, 114, 198–199, 261, 402–403 Fromm, Erich 84 Fukuyama, Francis 14, 310, 408 Funke, Max 294 Geertz, Clifford 84, 217, 322, 327 Gehlen, Arnold 109, 404 Gillen, Francis 334 Goethe, Johann Wolfgang von 48–50, 66, 132, 416 Greenfield, Patricia 366 Grimm, Gebrüder 34 Gurjewitsch, Aaron 197, 321 Habermas, Jürgen 14, 18, 114, 123, 128–129, 137, 206, 216, 323, 421

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Personenregister Haeckel, Ernst 66–67, 69 Hamann, Johann Georg 46 Hampaté Ba, Amadou 330 Hebbel, Friedrich 50–51 Heckel, Karl 71 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 14 Heidegger, Martin 129, 355 Heider, Franz 70 Heine, Heinrich 49 Heinrich der Teichner 28–29 Hejl, Peter 92 Herder, Johann Gottfried 46, 49–52, 60, 314, 404, 418 Héritier, Françoise 301 Herkendell, Hans-Jörg 70 Hildebrandt, Kurt 71 Himmler, Heinrich 368 Hitler, Adolf 74 Hjelle, Larry 275 Hobbes, Thomas 39, 99 Hoffmann, Wilhelm 34 Homer 302 Humboldt, Wilhelm von 133–134, 352, 418 Husserl, Edmund 123, 128, 266 Innozenz III., Papst siehe Segni, Lotario de Innozenz VIII., Papst 132 Irenäus von Lyon 32 Jaspers, Karl 76 Jellinek, Georg 67 Jesus Christus 25, 29, 32, 50–51, 58, 143, 191, 385 Kant, Immanuel 37, 42, 52, 58, 108, 281, 380–381 Kitayama, Shinobu 334–335, 397– 398 Klausener, Erich 73 Kohlberg, Lawrence 274 Kolumbus, Christoph 292 Konrad von Megenberg 27, 29 Konrad von Würzburg 26 Koselleck, Reinhart 36 Krieck, Ernst 71–73

Lange, Johann Peter 54 Las Casas, Bartolomé de 293 Lévi-Strauss, Claude 293 Locke, John 36, 39 Luckmann, Thomas 123–125, 136, 146, 150–151 Luhmann, Niklas 183 Luther, Martin 198 Markus, Hazel 334–335, 397–398 Martianus Capella 47 Marx, Karl 55 Mauss, Marcel 136, 326 McCrae, Robert 379 Merton, Robert 155 Mill, John Stuart 113 Montesquieu, Baron de 39 Morris, Collin 197 Muth, Carl 74 Niethammer, Friedrich 351 Nietzsche, Friedrich 14, 19, 56, 59– 63, 68–71, 76–77, 81, 83, 86–87, 116, 132, 163, 229, 359, 368, 404, 420 Notker der Deutsche 47 Nussbaum, Martha 270 Oerter, Rolf 274 Orwell, George 246 Pestalozzi, Johann Heinrich 40–46, 48, 56–57, 61, 81, 86 Pfeiffer, Konrad 70 Piaget, Jean 274 Pico della Mirandola, Giovanni 60, 404 Pieper, Josef 74 Platon 24, 56, 193, 304 Plessner, Helmuth 404 Plotin 25 Polanyi, Michael 136 Popper, Karl 416 Pufendorf, Samuel von 39 Radbruch, Gustav 67, 69, 371–372 Rand, Ayn 325, 343

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Personenregister Ratherius, Bischof 321 Redeker, Martin 74 Riefenstahl, Leni 215, 220 Rosenthal, Robert 155 Rousseau, Jean-Jacques 39 Ryle, Gilbert 136 Schade, Franz-Dieter 274 Scheler, Max 68–69, 75, 128, 274, 334, 384, 404 Schelers, Max 109 Schelsky, Helmut 71 Schröder, Friedrich Ludwig 38 Schütz, Alfred 123–125, 128, 136, 146–147 Searle, John 129 Segni, Lotario de 385 Sellars, Wilfrid 84 Selnecker, Nikolaus 31, 33 Sepúlveda, Juan Ginés de 293 Shaftesbury, Third Earl of 39 Sigrid, Wilhelm 70 Singer, Peter 309 Singer, Wolf 169 Sinowjew, Alexander 400 Sokrates 43 Spencer, William 334

Spinoza, Baruch de 66 Steenbergen, Marco 368 Steichen, Edward 215 Steinbeck, Wolfram 71 Steinen, Karl von den 334 Steiner, Rudolf 69 Stirner, Max 57–58 Taylor, Charles 197–198, 331–332, 363 Tellenbach, Hubert 70 Thies, Christian 89 Thomas von Cantimprés 28 Tiedemann, Dietrich 35–37, 42 Trotzki, Leo 354, 400 Ulrich von dem Türlîn 26, 29–30 Weber, Alfred 399 Weber, Max 399 Wikan, Unni 217 Wittgenstein, Ludwig 91–92, 127, 133, 135 Wolfram von Eschenbach 25–26, 29 Wrightsman, Lawrence 275 Ziegler, Daniel 275

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