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German Pages 274 Year 2020
Hanna Augustin Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Sozial- und Kulturgeographie | Band 40
Hanna Augustin arbeitet im Bereich der Stadterneuerung in Bremen. Sie promovierte mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre sozialwissenschaftlich-geographische Forschung untersuchte die Versorgung mit Lebensmitteln in Städten und Ernährung als urbane Ungleichheitsdimension.
Hanna Augustin
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit Barrieren und Chancen für den Zugang zu Lebensmitteln in deutschen Städten
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.
D.30
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Inhalt
Danksagung .............................................................................. 9 Abkürzungsverzeichnis................................................................... 11 1. 1.1 1.2
Einleitung...........................................................................13 Ziel und Fragestellung ............................................................... 15 Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit............................................... 17
2.
Forschungsstand zu den Zusammenhängen von sozialer Ungleichheit, Ernährung und Raum .................................... 21 2.1 Soziale Ungleichheit in Deutschland.................................................. 21 2.2 Ernährung und soziale Ungleichheit ................................................ 23 2.2.1 Ernährungsunsicherheit und Ernährungsarmut ............................... 23 2.2.2 Die amtliche Erfassung von Ernährungsunsicherheit und ihr Ausmaß in Deutschland und anderen Industrieländern .................................. 26 2.2.3 Ernährungswissenschaftliche Perspektiven auf Ernährung und soziale Ungleichheit ..................................................... 33 2.2.4 Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Ernährung und soziale Ungleichheit ..................................................... 36 2.2.5 Weitere Determinanten sozialer Ungleichheit und Ernährung .................. 39 2.2.6 Ernährung und soziale Ungleichheit in der Marktforschung.................... 39 2.2.7 Zusammenfassung .......................................................... 40 2.3 Räumliche Bedingungen für den Zugang zu Lebensmitteln ........................... 42 2.3.1 Nahversorgung in der Raumordnung ......................................... 43 2.3.2 Der Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland – Betriebsformenwandel und sich verändernde Standortpolitik ........................................ 47 2.3.3 Nahversorgung in Deutschland ............................................... 50 2.3.4 Zusammenfassung .......................................................... 58
3.
Theoretische Bestimmung von Ernährung und konsumvermittelter gesellschaftlicher Teilhabe vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit ............. 61
Soziale Ungleichheit ................................................................. 61 3.1.1 Intersektionalität als gesellschaftsanalytisches Paradigma ................... 62 3.1.2 Determinanten sozialer Ungleichheit aus intersektionaler Perspektive ........ 65 3.2 Gesellschaftliche Teilhabe durch Konsum ........................................... 67 3.3 Ernährung als Konsumfeld zwischen sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Teilhabe ..................................................... 72 3.4 Identifikation von Forschungslücken und Präzisierung der Forschungsfragen ........ 76 3.1
4.
Der Zugang zu Lebensmitteln als Ansatzpunkt für die Untersuchung ihrer sozioökonomischen und physisch-räumlichen Erreichbarkeit....................... 81 4.1 Food access im Rahmen von food security, food sovereignty und food justice ........ 82 4.2 Food access in food desert- und food access-Studien ............................... 86 4.3 Der Zugang zu Lebensmitteln – ein multidimensionales Modell ....................... 88 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign .................................... 95 Methodische Vorgehensweise ....................................................... 95 Methodische Umsetzung einer intersektionalen Perspektive ......................... 97 Teilnehmende Beobachtung bei einer Tafelausgabestelle ........................... 100 Kartierung von Standorten und Sortimenten des Lebensmitteleinzelhandels......... 100 5.4.1 Datenerhebung ............................................................. 100 5.4.2 Datenauswertung ............................................................ 101 5.5 Quantitative Bewohner*innenbefragung ............................................ 103 5.5.1 Datenerhebung ............................................................. 103 5.5.2 Datenaufbereitung und Methoden der Datenauswertung ......................107 5.6 Qualitative Expert*inneninterviews.................................................. 112 5.6.1 Datenerhebung .............................................................. 112 5.6.2 Auswertung des Interviewmaterials .......................................... 114 5.7 Auswahl der Untersuchungsgebiete ................................................ 117 5.7.1 Bremen als armutspolitische Problemregion.................................. 118 5.7.2 Gröpelingen und die Vahr als typische Wohngebiete benachteiligter Bevölkerungsgruppen ........................................ 119 5.7.3 Ergebnisse zu Lebenslagen im Sample ...................................... 124 5. 5.1 5.2 5.3 5.4
6. 6.1
Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs in Gröpelingen und der Vahr ....................................................................... 131 Bedingungen für den Zugang zu Lebensmitteln: Physisch-räumliche Ausgangssituation ............................................ 132 6.1.1 Gröpelingen – der Arbeiter*innenstadtteil ................................... 132 6.1.2 Die Vahr – Großwohnsiedlung der 1960er Jahre .............................. 135 6.1.3 Betriebsformen und Sortimentsstrukturen................................... 139
6.1.4 Zusammenfassung: Physisch-räumliche Bedingungen und Thesen zu Einschränkungen des Lebensmittelzugangs .............................. 152 6.2 Praktiken des Zugangs zu Lebensmitteln ........................................... 156 6.2.1 Wahl von Geschäften ....................................................... 156 6.2.2 Dauer der Einkaufswege .................................................... 158 6.2.3 Wahl der Verkehrsmittel .................................................... 159 6.2.4 Zusammenfassung und Bezug auf die Literatur .............................. 159 6.3 Einschränkungen des Zugangs zu Lebensmitteln ................................... 162 6.3.1 Einschränkungen im Bereich der Einkaufswege.............................. 162 6.3.2 Einschränkungen aufgrund des Lebensmittelangebotes...................... 173 6.3.3 Immaterielle Voraussetzungen für den Zugang zu Lebensmitteln ............. 192 6.4 Soziale, kulturelle und psychische Dimensionen eines eingeschränkten Zugangs zu Lebensmitteln ..................................................................210 7. 7.1 7.2
Zentrale Erkenntnisse, Fazit und Ausblick ......................................... 217 Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse ....................................... 218 Fazit und Ausblick ................................................................. 235
8.
Literatur .......................................................................... 245
Danksagung
Mein Dank gilt allen, die in verschiedener Form zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Zuvorderst möchte ich mich bei den Bewohner*innen von Gröpelingen und der Vahr sowie den Expert*innen bedanken. Ihre Bereitschaft, an der Befragung und den Interviews teilzunehmen hat die Erstellung dieser Arbeit erst ermöglicht. Für die finanzielle und ideele Förderung meiner Dissertation bedanke ich mich bei der Hans-Böckler-Stiftung. Für ihre große Unterstützung, auf die ich mich im gesamten Erarbeitungszeitraum dieser Arbeit immer verlassen konnte, möchte ich meiner Betreuerin, Prof. Dr. Marit Rosol meinen besonderen Dank aussprechen. Für seine fachlichen Hinweise und die Begutachtung meiner Arbeit danke ich außerdem Prof. Dr. Robert Pütz. Dem Referat Raumordnung, Stadtentwicklung und Flächennutzungsplanung beim Senator für Umwelt, Bau und Verkehr Bremen gilt mein Dank für die freundliche Überlassung von Daten zu den Untersuchungsgebieten Der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Susanne Heeg am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. danke ich für die konstruktive Kritik in der Anfangsphase meiner Dissertation, Tobias Tkaczick vom Institut für Geographie der Universität Bremen für seine Hinweise zu meiner GIS-Analyse. Für den inhaltlichen Austausch und die solidarische Begleitung durch die Lebensphase Promotion danke ich herzlich Vivien Barlen, Alexandra Bensler, Katia Harbrecht, Tanja Heidenfelder, Christina Inthoff, Marina Mohr und Lydia Welbers. Dem Promotionszentrum ProUB an der Universität Bremen gilt mein Dank für die Förderung unseres Doktorandinnennetzwerks »Interdisziplinäre Forschungswerkstatt für promovierende Frauen«. Auch bei den Kolleg*innen des Instituts für Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen möchte ich mich für die entgegenkommende Aufnahme in ihren Kreis bedanken. Letztlich wurde die Fertigstellung dieser Arbeit ermöglicht durch emotionale und tatkräftige Unterstützung meiner Familie und Freund*innen. Besonderer
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Dank gilt dabei Bettina, Bernd und Ruth Augustin, Philipp Gies, Kathrin Horne, Jan, Rainer und Rita Jagmann und Lisa Morgenschweis.
Abkürzungsverzeichnis
EVS Einkommens- und Verbrauchsstichprobe FIES Food Insecurity Experience Scale LEH Lebensmitteleinzelhandel NVS Nationale Verzehrsstudie ÖPNV Öffentlicher Personennahverkehr PASS Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung QM Quartiersmanagement SOEP Sozio-oekonomisches Panel
1. Einleitung
»Essen und Ernährung sind […] der wohl grundlegendste und zentralste Teilhabemechanismus überhaupt – in jeder Gesellschaftsform« (Pfeiffer 2014, 13). Das Zitat der Soziologin Sabine Pfeiffer verweist auf die Funktion von Essen und Ernährung, die weit über eine biologisch-physiologische Notwendigkeit hinausreicht. Essen und Ernährung werden in dieser Arbeit als alltägliche Konsumfelder untersucht, denen eine entscheidende Rolle bei der Realisierung gesellschaftlicher Werte wie Individualität und Autonomie zugeschrieben werden. Ein gewisses Maß von als individuell und selbstbestimmt empfundenem Handeln gilt als zentraler Aspekt gesellschaftlicher Teilhabe. Gesellschaftliche Teilhabe ist ein Maßstab individueller Wohlfahrt, der die sozialstrukturelle Verankerung von Individuen und ihrer Handlungen anerkennt, jedoch gleichzeitig einen gewissen individuellen Wahl- und Gestaltungsspielraum einräumt (Alicke, Eichler und Laubenstein 2015, 37). Den Ausgangspunkt dieser Arbeit bildet das Spannungsverhältnis zwischen der besonderen Bedeutung, die der sogenannten konsumvermittelten gesellschaftlichen Teilhabe im Kontext von prekären Arbeitsverhältnissen und Arbeitslosigkeit zugemessen wird (Alwitt und Donley 1996, 13; Bosch 2010, 462) und den Hinweisen darauf, dass in eben diesen Kontexten auch im wohlhabenden Deutschland Einschränkungen im Bereich der Ernährung erlebt werden. Sehr bildlich werden entsprechende Lebens- und Ernährungsrealitäten in Tweets des im November 2018 angestoßenen Hashtag #unten1 beschrieben. Personen, die in benachteiligenden sozioökonomischen Kontexten leben, erklärten, was Armut für sie ausmacht:
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Ein Hashtag ist ein Schlagwort mit dem Nachrichten in sozialen Netzwerken zu Themen zugeordnet werden. Der Twitter-Hashtag #unten wurde im November 2018 durch die Wochenzeitung der Freitag angestoßen und fordert Betroffene von sozialer Abwertung zum Teilen ihrer Erfahrungen auf (Baron 2018). Neben Klassismuserfahrungen finden sich unter dem Hashtag Schilderungen von Armutserfahrungen, die sehr unterschiedliche Lebensbereiche betreffen.
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
»Wenn man dem Kind am Ende des Monats erklärt, man hätte keinen Hunger, damit das Brot für dessen Frühstück reicht. #unten […].«2 »#unten kannst du dir gesundes Essen nicht leisten. Faustregel: je weniger schädliche Inhaltsstoffe etwas hat, desto teurer ist es. Z.B. Konserve Hering in Tomatensoße. Die billigste Sorte enthält jede Menge Zucker. Von Moral (auch Bio genannt) reden wir besser erst gar nicht.«3 »Sich zwischen Essen und L-thyroxin entscheiden müssen, weil nicht genug geld für die rezeptgebühr und essen da ist.«4 Obwohl Schwierigkeiten in der Lebensmittelversorgung von Sozial- und Arbeitslosenhilfeempfänger*innen5 seit Jahrzehnten bekannt sind (vgl. Lehmkühler und Leonhäuser 1998; Roth 1992), Erkenntnisse dazu vorliegen, dass eine als gesund geltende Ernährung für wohlhabendere gesellschaftliche Gruppen wahrscheinlicher ist als für Gruppen mit geringeren Einkommen (Max Rubner-Institut 2008a, 58ff.) und das Ausmaß sozialer Ungleichheit in den letzten Jahren konstant war bzw. sich hinsichtlich einiger Indikatoren verschärfte, sind die Zusammenhänge von Ernährung und sozialer Ungleichheit sowohl in der soziologischen Armutsforschung (Pich 2014, 52) als auch in den Ernährungswissenschaften (Barlösius 2016, 223) bisher ein Randthema. Die Umgestaltung der Arbeitslosenhilfe im Rahmen der Hartz-Reformen6 und ihre Wirkung auf den Ernährungsbereich aktualisiert die Notwendigkeit, sich dem Verhältnis von sozialer Ungleichheit und Ernährung zuzuwenden: Die reale Konsumteilhabe von alleinlebenden Leistungsbeziehenden verringerte sich mit der Einführung von Hartz-IV um durchschnittlich 10 % (Becker 2015, 14). Auch die Anzahl der Personen, die sich bei Lebensmitteltafeln versorgen, stieg in dem
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Userin Fräulein Rabe, 11. November 2018, twitter.com/RabeFraulein/status/1061662121816219648 (zugegriffen: 25. April 2019). Userin Robinia_Snoop, 11. November 2018, twitter.com/RobiniaSnoop/status/1061511562056421376 (zugegriffen: 24. April 2019). User*in straightonlyonmywaytohell, 12. November 2018, twitter.com/Nadine73420325/status/1061970906883522561 (zugegriffen: 25. April 2019). Das * zwischen Wortstamm und der weiblichen Endung einer Personenbezeichnung wird in dieser Arbeit als eine Form geschlechtergerechter Sprache genutzt, die auch nichtbinäre Geschlechteridentitäten zum Ausdruck bringt. Die Hartz-Reformen umfassen die Einführung neuer sowie die Modifikation bestehender arbeitsmarktpolitischer Instrumente (Hartz I und II), die Modernisierung der Bundesanstalt für Arbeit (Hartz III), die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV) sowie die Einrichtung der Jobcenter als Anlaufstellen für Arbeitssuchende und Leistungsempfänger*innen. Aktivierung und Stärkung der Eigenverantwortung standen dabei im Vordergrund (Hartig 2018, 60f.).
1 Einleitung
Jahr der Hartz 4-Reformen sprunghaft an (Die Tafel 2007, 2; 2019, 3). 2018 nutzten rund 1,5 Millionen Menschen regelmäßig Lebensmitteltafeln (Die Tafel 2018a). Zudem spricht die Entwicklung des Lebensmitteleinzelhandels dafür, die physisch-räumlichen Aspekte von Ernährung in Deutschland zu betrachten. Da der Lebensmitteleinkauf die geläufigste Art der Versorgung mit Lebensmitteln ist, stellt die Struktur des Lebensmitteleinzelhandels eine relevante Größe in Bezug auf die Versorgung mit Lebensmitteln dar. Diese Struktur erfuhr in den letzten Jahrzehnten gravierende Veränderungen: Zwischen 1990 und 2010 verminderte sich die Zahl der Lebensmittelgeschäfte um 46 % (Krüger u.a. 2013, 8). Diese Reduzierung sowie die Ausdünnung des Standortnetzes zugunsten von Randlagen (Heinritz, Klein und Popp 2003, 37ff.) betreffen insbesondere benachteiligte Bevölkerungsgruppen (BMVBS 2011a, 25f.). In der geographischen Handelsforschung, die diese Entwicklungen untersucht, und auch in Gutachten, die eine Handlungsgrundlage für die Nahversorgungsplanung in Kommunen liefern, werden sozioökonomische Aspekte bisher jedoch selten berücksichtigt. Um die Möglichkeiten konsumvermittelter gesellschaftlicher Teilhabe im Bereich der Ernährung zu untersuchen und mögliche Einschränkungen zu ermitteln, müssen sowohl sozioökonomische als auch physisch-räumliche Bedingungen von Ernährung Berücksichtigung finden. In der Zusammenführung der sozialwissenschaftlichen und geographischen Erkenntnisse besteht eine Forschungslücke, zu deren Bearbeitung ich mit dieser Untersuchung beitragen möchte. Das Thema dieser Arbeit ist entsprechend im Überschneidungsbereich von Stadtgeographie, Stadtsoziologie und der soziologischen Armutsforschung zu verorten. Hinsichtlich der Analyse des Lebensmitteleinzelhandels bestehen außerdem wichtige Bezüge zur geographischen Handelsforschung.
1.1
Ziel und Fragestellung
Am Thema Ernährung verbinden sich in dieser Arbeit Fragen nach Gesundheit, Teilhabe und Aspekten von Stadtentwicklung. Das Ziel besteht einerseits darin, zur sozialwissenschaftlichen Debatte um gesellschaftliche Teilhabe beizutragen und Ansätze weiterzuentwickeln, die Ausschlüsse von gesellschaftlicher Teilhabe im alltäglichen und existenziellen Bereich der Ernährung untersuchen. Andererseits möchte ich für soziale Ungleichheit sensibilisieren, der in empirischen Studien zur Nahversorgung bisher wenig Bedeutung zukommt. Auf theoretischer Ebene entwickle ich dazu ein Modell, das sowohl die relevanten sozialwissenschaftlichen und geographischen Ansätze zu Ernährung und dem Einkauf von Lebensmitteln zusammenführt, als auch Einschränkungen trotz routinierter, im Alltag verankerter Ernährungs- und Einkaufspraktiken fassbar macht. Soziale Ungleichheit wird in diesem Modell aus einer intersektionalen Perspekti-
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
ve heraus konzeptioniert. Das Paradigma der Intersektionalität geht auf die USamerikanische Schwarze Frauenrechtsbewegung zurück (Lutz, Herrera Vivar und Supik 2013, 10) und betont bei der Untersuchung von Benachteiligungen die Wechselwirkungen verschiedener sozialer Kategorien wie Klasse, race7 , Geschlecht und Körper (Klinger und Knapp 2007, 35). Auf dieser theoretischen Grundlage werden die Bedingungen ermittelt, unter denen konsumvermittelte gesellschaftliche Teilhabe über Ernährung und den Lebensmitteleinkauf realisiert werden kann. Anhand konkreter Praktiken erfasse ich mögliche Einschränkungen und ermittle Ressourcen, die deren Überwindung begünstigen können. Zudem wird konkretisiert, was konsumvermittelte gesellschaftliche Teilhabe im Bereich der Ernährung und des Lebensmitteleinkaufs heißt und welche Lebensbereiche von Einschränkungen in diesen Feldern betroffen sein können. Aus der Forschungslücke und den genannten Zielen ergibt sich eine zentrale Fragestellung: Wie sind vor dem Hintergrund, dass Ernährung und Einkauf für gesellschaftliche Teilhabe bedeutsam sind, die physisch-räumliche und sozioökonomische Erreichbarkeit von Lebensmitteln in benachteiligten Stadtteilen zu bewerten? Die verschiedenen Aspekte dieser Frage werden in folgenden Unterfragen vertieft: 1. Wie kann die physisch-räumliche und sozioökonomische Erreichbarkeit von Lebensmitteln vor dem Hintergrund, dass Essen und Ernährung als Feld konsumvermittelter gesellschaftlicher Teilhabe bedeutsam ist, konzeptionell gefasst werden? 2. Was sind die sozioökonomischen und die physisch-räumlichen Bedingungen des Lebensmitteleinkaufs in benachteiligten Stadtteilen? 3. Welche Praktiken zur Versorgung mit Lebensmitteln lassen sich in benachteiligten Stadtgebieten beobachten? 4. Mit welchen Einschränkungen sind Bewohner*innen benachteiligter Stadtgebiete bei der Versorgung mit Lebensmitteln konfrontiert und in welchen soziostrukturellen Zusammenhängen stehen sie? 7
In den (angloamerikanischen) Geistes- und Sozialwissenschaften hat sich inzwischen weitgehend ein Verständnis von race als sozialer Konstruktion durchgesetzt (Dietze 2013, 13). Die Zuordnung zu Gruppen wie schwarz oder weiß, mit oder ohne Migrationshintergrund stellt in diesem Verständnis einen politisch-sozialen Akt und keinen biologischen Determinismus dar. Der deutsche Begriff der »Rasse« bezieht sich hingegen auf eine vermeintlich biologische Kategorie und ist geprägt von einem Glauben an biologischen Differenzen zwischen Bevölkerungsgruppen (Arndt 2011, 660). Um kenntlich zu machen, dass rassistische Diskriminierung auf einer sozial konstruierten und nicht auf einer biologischen Kategorie beruht, übersetze ich den Begriff race nicht ins Deutsche, sondern verwende den englischen Ausdruck.
1 Einleitung
5. Welche immateriellen Ressourcen begünstigen die Bewältigung herausfordernder Versorgungssituationen? 6. Welche sozialen, kulturellen und psychischen Funktionen von Essen und Einkauf können durch Einschränkungen des Zugangs zu Lebensmitteln betroffen sein?
1.2
Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit
Der Frage nach Einschränkungen bei der Versorgung mit Lebensmitteln gehe ich sowohl theoretisch als auch empirisch nach. Im Fokus steht die Situation von benachteiligten Gruppen in Großstädten, da soziale Ungleichheit dort besonders scharf hervortritt. Als Fallbeispiele dienen die Stadtteile Gröpelingen und die Vahr, zwei typische Wohngebiete benachteiligter Bevölkerungsgruppen in der Stadt Bremen, die zu den armutspolitischen Problemregionen Deutschlands gehört. In Kapitel 2 arbeite ich zunächst den Forschungsstand zu den Zusammenhängen von sozialer Ungleichheit und Ernährung sowie den räumlichen Bedingungen für den Zugang zu Lebensmitteln in Deutschland auf. Ich beziehe mich dazu auf Studien aus der soziologischen Armutsforschung, den Ernährungswissenschaften und der geographischen Handelsforschung. Für die physisch-räumlichen Aspekte des Zugangs zu Ernährung spielen zudem kommunale Gutachten und Auftragsarbeiten für Einzelhandelsverbände eine wichtige Rolle. Vergleichend wird außerdem auf die Situation in Großbritannien, den USA und Kanada hingewiesen. An den Forschungsstand schließt sich ein theoretisches Kapitel an, das die Zusammenhänge von sozialer Ungleichheit, Konsum und gesellschaftlicher Teilhabe unter Rückgriff auf ein intersektionales Gesellschaftsverständnis einordnet sowie Ernährung als Konsumfeld aufzeigt (Kapitel 3). Dieses Kapitel schließt mit der Identifikation von Forschungslücken und der Präzisierung der bereits angesprochenen Leitfragen. Im 4. Kapitel erarbeite ich auf dieser Grundlage und in Anbindung an kritisch-geographische Ansätze ein empirisch operationalisierbares, mehrdimensionales Modell des Zugangs zu Lebensmitteln. Ich gehe anschließend auf das Vorgehen ein, mit dem der Zugang zu Lebensmitteln in dieser Arbeit empirisch untersucht wird. Nach einer Diskussion der Umsetzung einer intersektionalen Perspektive (Kapitel 5.2) bespreche ich die verwendeten Methoden im Einzelnen. Um den verschiedenen Zugangsdimensionen und Funktionen von Ernährung und dem Lebensmitteleinkauf gerecht zu werden, kombiniere ich geographische und sozialwissenschaftliche Methoden: Eine teilnehmende Beobachtung bei einer Bremer Tafel-Ausgabestelle diente erstens als Annäherung an das Feld des Lebensmittelkonsums in schwierigen sozioökonomischen Situationen. Auf dieser Grundlage konnte ich zweitens Einschränkungen der Erreichbarkeit von Lebensmitteln herausarbeiten, die spezifisch für diese Versorgungsform sind (Kapitel 5.3). Die Kartierung von Standorten aller lebensmittelver-
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
kaufenden Geschäfte in den Untersuchungsgebieten und die Erhebung der dortigen Sortimente und Preise ist die zweite angewendete Methode. Sie dient der Darstellung der physisch-räumlichen Gelegenheitsstrukturen, vor deren Hintergrund die Versorgung mit Lebensmitteln in den Untersuchungsgebieten realisiert wird (Kapitel 5.4). Drittens führte ich eine quantitative Befragung von Bewohner*innen der Untersuchungsgebiete durch, die der Frage nachgeht, wie diese Gelegenheitsstrukturen genutzt und welche Einschränkungen dabei erfahren werden (Kapitel 5.5). Zur Einordnung und Vertiefung der Ergebnisse wurden viertens Interviews mit Expert*innen aus den Bereichen der Sozialen Arbeit, des Quartiersmanagements (QM), dem Bildungsbereich und dem kommunalen und betrieblichen Einzelhandelsmanagement geführt (Kapitel 5.6). Das methodische Kapitel schließt mit der Darstellung des Auswahlverfahrens und der sozioökonomischen Charakterisierung der Untersuchungsgebiete (Kapitel 5.7). Die Ergebnisse meiner empirischen Untersuchung präsentiere ich in Kapitel 6. Zunächst beschäftige ich mich mit den physisch-räumlichen Ausgangssituationen in den Untersuchungsgebieten (Kapitel 6.1) und werte die Standortkartierung sowie die Erfassung von Lebensmittelsortimenten und -preisen aus. Kapitel 6.2 stellt Einkaufspraktiken vor, z.B. die Geschäfts- und Verkehrsmittelwahl oder die Länge von Einkaufswegen, die in der Befragung erhoben wurden. In Kapitel 6.3 analysiere ich die durch die Befragung und die Interviews mit Expert*innen ermittelten Einschränkungen im Zugang zu Lebensmitteln und stelle Zusammenhänge zu Kategorien sozialer Ungleichheit her. Ich gehe in diesem Unterkapitel zudem auf immaterielle Ressourcen ein, die in Interviews als relevant für den Zugang zu Lebensmitteln herausgestellt wurden. Kapitel 6.4 beleuchtet schließlich die verschiedenen physiologischen, sozialen, kulturellen und psychologischen Funktionen, die Einkauf und Konsum von Lebensmitteln im Alltag erfüllen. In diesem Zusammenhang zeige ich, dass Lebensmitteltafeln vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Bedeutung des Lebensmitteleinkaufs keine adäquate Antwort auf Ernährungsunsicherheit bieten. Im Abschlusskapitel 7 fasse ich zunächst die Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit entlang der Leitfragen zusammen. In einem Fazit und Ausblick diskutiere ich danach den Beitrag, den diese Arbeit für die relevanten Forschungsdisziplinen leistet. Am Beispiel der Ernährung werden in dieser Arbeit insbesondere die gesellschaftlichen Folgen eines Lebens am Existenzminimum aufgezeigt. Die ermittelten Einschränkungen des Zugangs zu Lebensmitteln werden auf ein Zusammenspiel von physisch-räumlichen und sozioökonomischen Faktoren zurückgeführt. Welche materiell-physischen Bedingungen und sozioökonomischen Ressourcen Voraussetzungen für Ernährungssicherheit in benachteiligten Stadtteilen bilden und welche Sozialstrukturen dabei eine Rolle spielen, ist nicht nur für den wissenschaftlichen Kontext von Belang, sondern zeigt auch mögliche sozialpolitische und
1 Einleitung
planerische Punkte auf, mit denen gesellschaftliche Teilhabe im Feld der Ernährung gefördert werden kann.
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2. Forschungsstand zu den Zusammenhängen von sozialer Ungleichheit, Ernährung und Raum
Zu den Zusammenhängen von sozialer Ungleichheit, Raum und Ernährung wird in verschiedenen Forschungsdisziplinen gearbeitet. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über den Stand dieser Forschungsbereiche. Das Ziel des Kapitels besteht darin, Forschungslücken aufzuzeigen und damit die Notwendigkeit der vorliegenden Arbeit zu belegen. Es beginnt mit einer Darstellung der Entwicklung sozialer Ungleichheit, die anhand von Daten zur Einkommens- und Armutsentwicklung nachvollzogen wird (Kapitel 2.1). In dem sich anschließenden Abschnitt thematisiere ich zuerst Untersuchungen, die die Zusammenhänge von sozialer Ungleichheit, Armut und Ernährung konzeptualisieren (Kapitel 2.2.1), um darauf folgend den empirischen Stand des Themas darzulegen. Ich gehe zunächst auf Hinweise zum Ausmaß von Ernährungsunsicherheit ein (Kapitel 2.2.2) und stelle dann die Ergebnisse von Studien aus dem Bereich der ernährungsbezogenen Armuts- und sozialwissenschaftlichen Ernährungsforschung sowie der Marktforschung vor (Kapitel 2.2.2-2.2.6). Anschließend widme ich mich den räumlichen Bedingungen von Lebensmittelkonsum. An eine einführende Darstellung der Bedeutung von Nahversorgung in der Raumordnung (Kapitel 2.3.1) schließt sich ein Überblick über geographische Studien zur Entwicklungen im Lebensmitteleinzelhandel und zur Situation der Nahversorgung in Deutschland an (Kapitel 2.3.2 und 2.3.3). Diese Untersuchungen entstammen einerseits der geographischen Handelsforschung und andererseits dem anwendungsorientierten Bereich der Einzelhandelsplanung.
2.1
Soziale Ungleichheit in Deutschland
Dieser Abschnitt umreißt die Entwicklung sozialer Ungleichheit anhand von statistischen Indikatoren zur Einkommensverteilung und zu Armut. Er betont so anhand von klassenbezogenen Aspekten, wie relevant eine Thematisierung von sozialer Ungleichheit ist.
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Der Anteil der Bevölkerung, der in Deutschland Arbeitslosenhilfe (nach Sozialgesetzbuch SGB II), Sozialhilfe (nach SGB XII) oder Asylbewerberleistungen bezieht und damit potenziell von Einschränkungen in der Ernährung betroffen ist, liegt seit 2006 zwischen 9 und 10 % (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2019). Von einer eingeschränkten gesellschaftlichen Teilhabe wird nicht nur bei Personen und Haushalten ausgegangen, die Mindestsicherungsleistungen beziehen, sondern bereits, wenn die Armutsgefährdungsschwelle unterschritten wird und Menschen einem Armutsrisiko ausgesetzt sind. Wie sich dieser Indikator entwickelt, wird unterschiedlich interpretiert: Nur das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), das seit 1984 erhoben wird, lässt Auswertungen einer durchgehenden langen Zeitreihe zur Entwicklung des Armutsrisikos zu. Laut den Daten des SOEP ist die Armutsrisikoquote1 zwischen 1995 und 2014 um 5,2 % gestiegen (BMAS 2017, 600; ebd. 2018). Während die Armutsrisikoquote 1995 und 2000 jeweils bei 11,6 % lag, ist zwischen 2000 und 2005, das heißt genau im Zeitraum, in dem die Hartz-Gesetze zur Reformierung der Arbeitsmarktpolitik in Kraft traten, ein Anstieg um 2,5 % zu verzeichnen (BMAS 2017, 551). Der leicht steigende Trend setzt sichfort, 2017 weist das SOEP eine Armutsrisikoquote von 16,1 % aus (BMAS 2018). Weitere Stichproben wie die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, der Mikrozensus und die amtliche Haushaltsbefragung »Leben in Europa« (EU-SILC) setzen erst nach der Jahrtausendwende ein und erlauben keinen Vergleich des Armutsrisikos vor und nach der Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission. Mit ihnen kann jedoch die jüngere Entwicklung des Armutsrisikos nachgezeichnet werden: Die letzten verfügbaren Werte weisen im Vergleich zu den Daten von 2008/2009 in jeder Stichprobe eine 1 bis 2 % höhere Armutsrisikoquote aus. Die Bundesregierung erkennt in dieser Entwicklung »keine signifikante Zunahme der Ungleichheit« (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017, 550), Wissenschaftler*innen verschiedener volkswirtschaftlicher Institute betonen hingegen den leicht steigenden Trend der Daten, der seit der Jahrtausendwende einen nahezu kontinuierlichen Anstieg der Armutsrisikoquote abbilde (Grabka und Goebel 2017, 72f.; Spannagel 2018, 6). Nicht infrage gestellt werden kann der Anteil armutsgefährdeter Menschen an der Gesamtbevölkerung, den die aktuellen Werte der Stichproben auf 16 bis 17 % schätzen (BMAS2018; Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2018; Spannagel 2018, 6). Aktuell leben demnach rund 13,7 1
Die Armutsrisikoquote oder Armutsgefährdungsquote ist ein Indikator, um Armut relativ, das heißt in Abhängigkeit eines Durchschnittes zu messen. Der Indikator ist umstritten (Bohsem 2015; Cremer 2015), er hat sich jedoch in der EU und Deutschland durchgesetzt. Der EU-Standard nimmt eine Armutsgefährdung an, wenn das Äquivalenzeinkommen eines Haushaltes oder einer Person weniger als 60 % des Medians beträgt. Die Armutsrisikooder Armutsgefährdungsquote bezeichnet entsprechend den Anteil von Personen an der Gesamtbevölkerung oder Bevölkerungsgruppen, deren Äquivalenzeinkommen unterhalb dieser Schwelle liegt.
2 Forschungsstand
Millionen Menschen in Deutschland unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle, mit der ein erhöhtes Risiko des Ausschlusses von sozialer Teilhabe verbunden wird.
2.2
Ernährung und soziale Ungleichheit
Sabine Pfeiffer beschreibt den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit Ernährungsarmut und Hunger in Deutschland mit den Begriffen »Delegierung, Negierung und Stigmatisierung« (Pfeiffer 2010, 91). Entsprechend lückenhaft fällt die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Themen aus. Sie findet bisher kaum in den Ernährungswissenschaften, sondern vor allem in der Soziologie, insbesondere in der Armutsforschung statt. Dort ist die Beschäftigung mit Ernährung jedoch ebenfalls eher die Ausnahme, während die Lebensbereiche Arbeit, Wohnen, Gesundheit und Bildung im Vordergrund stehen (Feichtinger 1996, 4). Dies steht im Kontrast zu einer verstärkten Aufmerksamkeit für soziale Ungleichheit, die von einer Intensivierung von Armutserfahrungen ausgeht und unter den Begriffen Neue Armut, Prekarität, neue Unterschicht sowie Exklusion und die »Überflüssigen« diskutiert wird (Altenhain u.a. 2008; Baumann und Roller 2005; Bude 2008; Bude und Willisch 2008; Butterwegge 2009; Castel und Dörre 2008; Kessl 2007; Kronauer 2002; Marchart 2013).
2.2.1
Ernährungsunsicherheit und Ernährungsarmut
In anderen Industrieländern wie den USA, Kanada oder Großbritannien ist die Beschäftigung mit sozialer Ungleichheit und Ernährung ein etabliertes Forschungsfeld und mitunter Bestandteil der amtlichen Statistik. In diesen Kontexten hat sich der Begriff der Ernährungssicherheit (food security) bzw. der Ernährungsunsicherheit (food insecurity) durchgesetzt, um die Zusammenhänge von Ernährung und sozialer Ungleichheit zu untersuchen (Feichtinger 1995, 293). Eine heute weitverbreitete Definition fasst Ernährungssicherheit als »situation that exists when all people, at all times, have physical and economic access to sufficient, safe and nutritious food that meets their dietary needs and food preferences for an active and healthy life« (FAO 2003, 28) (ausführlicher dazu in Kapitel 4.1). Die hier besprochenen amtlichen Statistiken aus den USA und Kanada und auch die von der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) entwickelte Food Insecurity Experience Scale (FIES) beziehen sich jedoch dezidiert auf den finanziellen Zugang zu Lebensmitteln und definieren Ernährungsunsicherheit als Situation, in der ein Haushalt nicht über ausreichende finanzielle Ressourcen verfügt, um sich jederzeit mit genug Nahrungsmitteln für ein aktives und gesundes Leben zu versorgen (Coleman-Jensen u.a. 2016, 1). Ernährungsunsicherheit wird als latente Erfahrung
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
eines Haushaltes oder eines Individuums gefasst, deren Ausmaß und Intensität auf einer eindimensionalen Skala abgebildet werden können (FAO 2016, 4, siehe Abbildung 1).
Abbildung 1 Erfahrungen und Intensitäten von Ernährungsunsicherheit
Quelle: Übersetzt und neu gezeichnet nach FAO 2016, 4.
Anhand eines Fragenkatalogs wird Ernährungsunsicherheit über Einschränkungen der Menge und Qualität der verzehrten Lebensmittel erfasst, die mit finanziellen Restriktionen begründet werden (siehe Fragenkatalog in Anhang I2 ). Als moderat ernährungsunsicher (low food security, moderate food insecurity) gelten Haushalte, wenn mindesten drei und höchstens fünf dieser Fragen bejaht werden. Typischerweise berichten Haushalte dieser Kategorie von multiplen Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Lebensmitteln und/oder einer eingeschränkten Qualität ihrer Nahrung, jedoch kaum von einer reduzierten Nahrungsaufnahme. Als von schwerer Ernährungsunsicherheit (very low food security, severe food insecurity) betroffen gelten Haushalte, die mindestens 6 der 18 Fragen bejahen. In Haushalten, die dieser Kategorie zugeordnet werden, ist es Alltag, dass »the food intake of one or more members was reduced and eating patterns disrupted because of insufficient money and other resources for food« (Coleman-Jensen u.a. 2
Der Anhang zu diesem Band ist verfügbar unter https://multimedia.transcript-verlag.de/ 9783837652888/Anhang.pdf
2 Forschungsstand
2018, 4). Haushalte, die leichte Ernährungsunsicherheit (marginal oder mild food insecurity) erleben, gehen in den USA genau wie in Kanada in den amtlichen Statistiken nicht in den Anteil der von Ernährungsunsicherheit betroffenen Haushalte ein. Leichte Ernährungsunsicherheit ist von der Sorge gekennzeichnet, nicht ausreichend Geld für die nächsten Mahlzeiten aufbringen zu können und/oder steht für eine aus Geldmangel eingeschränkte Auswahl an Nahrungsmitteln (Tarasuk, Mitchell und Dachner 2016, 4). In dieser Arbeit wird deutlich werden, dass bereits leichte Ernährungsunsicherheit als Einschränkung gesellschaftlicher Teilhabe aufgefasst werden kann, da sie eine Einschränkung von Handlungsfähigkeit in einem existenziellen Bereich darstellt. In der deutschen Forschung ist das Konzept der Ernährungsunsicherheit kaum verbreitet. Der hier geläufige Begriff der Ernährungsarmut bezeichnet jedoch in seiner 1995 von Elfriede Feichtinger ausgeführten Fassung eine mit Ernährungsunsicherheit vergleichbare Situation. Feichtingers Definition beruht auf dem Deprivationskonzept des britischen Sozialwissenschaftlers Peter Townsend und unterscheidet zwischen materieller und sozialer Ernährungsarmut. Als materielle Ernährungsarmut definiert sie »jede Ernährung […], die weder in ihrer Quantität noch in ihrer physiologischen und hygienischen Qualität bedarfsdeckend ist – sei es durch einen Mangel an Mitteln zum Erwerb von Nahrung (in Form von Geld oder anderen Zugangsberechtigungen) oder durch einen Mangel an Nahrung selbst (fehlende Lebensmittel, fehlende Distributionswege)« (Feichtinger 1995, 295). Unter materieller Ernährungsarmut subsumiert sie auch ein Nahrungsangebot, das nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen von Ess- oder Genießbarkeit entspricht. Die hierzulande besonders relevante Ausprägung, soziale Ernährungsarmut, bezeichnet hingegen Ernährungsweisen, die es nicht erlauben, soziale Beziehungen in einer gesellschaftlich akzeptierten Weise aufzubauen, bestimmte Rollen und Funktionen oder Verantwortlichkeiten zu übernehmen oder gesellschaftlichen Normen zu entsprechen, die in einer Gesellschaft im Umgang mit Essen realisiert werden (ebd. 1995, 295). Feichtinger betont durch die Unterscheidung von materieller und sozialer Ernährungsarmut den Wert von Ernährung für gesellschaftliche Teilhabe, der in der Definition von Ernährungssicherheit nicht in gleicher Weise expliziert wird. Das Konzept der Ernährungsarmut spiegele damit das in Deutschland vorgefundene Bild von Unterversorgung im Bereich der Ernährung wider, das sich eher auf die Qualität und die sozialen Aspekte der Ernährung bezieht als auf quantitativen Mangel und Hunger (Kaiser 2001, 125). Wie das FAO-Konzept der Ernährungsunsicherheit geht Feichtingers Definition von Ernährungsarmut zudem über die ökonomischen Bedingungen von Ernährung hinaus und verweist auch auf z.B. unzureichenden physischen Zugang zu Lebensmitteln. Empirisch wird diese Dimension in der deutschen Ernährungs-
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
und Armutsforschung noch nicht berücksichtigt. Dies entspricht dem Vorgehen in den amtlichen Statistiken der USA und Kanadas, die sich für diesen Zweck auf die eindimensionale Definition von Ernährungssicherheit beziehen, die ausschließlich den finanziellen Zugang zu Lebensmitteln berücksichtigt.
2.2.2
Die amtliche Erfassung von Ernährungsunsicherheit und ihr Ausmaß in Deutschland und anderen Industrieländern
Der folgende Vergleich nationaler Statistiken zu Ernährungsunsicherheit in Großbritannien, den USA, Kanada und Deutschland zeigt deutliche Unterschiede zwischen den Ländern auf. Anders als in der deutschen Armuts- und Ernährungsberichterstattung, wo schichtabhängige Ernährungsmuster bisher wenig Aufmerksamkeit finden, wird in Großbritannien die Ernährungssituation in verschiedenen Einkommens- und Berufsklassen seit den 1940er Jahren jährlich erfasst. 1940 wurde in Großbritannien der jährliche National Food Survey eingeführt, der sich ursprünglich auf die Ernährung der urbanen Arbeiterklasse konzentrierte, das heißt sich den unteren Einkommensklassen widmete, bevor er in den 1950er Jahren zu einer repräsentativen Stichprobe der gesamten Bevölkerung ausgeweitet wurde. 2001 wurde der National Food Survey durch den Expenditure and Food Survey ersetzt und dieser wiederum 2008 in Living Cost and Food Survey umbenannt (UK Data Service 2018). Seit die Erhebung sich auf eine repräsentative Stichprobe bezieht, wird das Ernährungsverhalten nach Einkommensklassen differenziert dargestellt und so die Problematisierung schichtspezifischer Ernährung ermöglicht (vgl. beispielsweise Ministry of Food 1952; Department for Environment, Food & Rural Affairs und Office for National Statistics 2018). In den Jahren 2003 bis 2005 wurde darüber hinaus der Low Income Diet and Nutrition Survey durchgeführt, der die Grundlage für eine Ernährungsstrategie schaffen sollte, die gesundheitliche Ungleichheiten reduziert (Nelson u.a. 2007, 9). Der Indikator Ernährungsunsicherheit wurde jedoch bis vor kurzem in Großbritanniens amtlichen Statistiken nicht erfasst (McGuinnes, Brown und Ward 2016, 6). Erst im Februar 2019 gab die britische Regierung bekannt, dass Ernährungssicherheit ab April 2019 im Rahmen des jährlichen Family Resources Survey erhoben werden soll (Lewell-Buck 2019). Diese Neuerung geht auf den Vorschlag der Parlamentarierin Emma Lewell-Buck zurück, ein »Food Insecurity Bill« zu verabschieden (UK Parliament 2018). Grundlage des Gesetzesentwurfs war unter anderem die im Voices of the Hungry-Projekt der FAO entwickelte Food
2 Forschungsstand
Insecurity Experience Scale (FIES)3 . Die Übertragbarkeit und eine kostengünstige Anwendung waren dezidierte Ziele bei der Entwicklung der FIES: »In summary, compared to other indicators of food security, experience-based indicators stand out because of their analytic soundness, ease of administration, comparatively low cost and timeliness of reporting. Indicators derived from the FIES in particular have the distinctive advantage of being more precisely comparable across countries.« (FAO 2016, 5) In der Stichprobe des US-amerikanischen National Health and Nutrition Examination Survey werden besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen überrepräsentiert, um das Ausmaß von Ernährungsproblemen festzustellen (US HHS 2012). Seit 1995 wird zudem die Entwicklung von Ernährungsunsicherheit auf der Haushaltsebene (Household Food Insecurity) im jährlichen Food Security Supplement des Current Population Survey erfasst (Coleman-Jensen u.a. 2016, 1). Nach den Kriterien des United States Department of Agriculture lebten im Jahr 2017 rund 12 % der US-amerikanischen Haushalte in ernährungsunsicheren Verhältnissen (ColemanJensen u.a. 2018, 6). In Kanada begann die regelmäßige Erfassung von Ernährungsunsicherheit im Rahmen des Canadian Community Health Survey im Jahr 2004 (Health Canada 2007, i).4 2012 wies dieser Survey 8,3 % der kanadischen Haushalte als ernährungsunsicher aus (Roshanafshar und Hawkins 2015, 4). In den Berichten des kanadischen Gesundheitsministerium Health Canada sowie in den Reporten der statistischen Bundesbehörde Statistics Canada gehen analog zum US-amerikanischen Vorgehen, nur von moderater und schwerer Ernährungsunsicherheit betroffene Haushalte ein. Die Forschungsgruppe PROOF – Food Insecurity Policy Research bereitet die von StatCanada erhobenen Daten in jährlichen Berichten auf und berücksichtigt auch die Haushalte, die leichte Ernährungsunsicherheit erleben. Im Jahr 2014 waren bei dieser umfassenderen Betrachtung fast 12 % der Haushalte von Ernährungsunsicherheit betroffen (Tarasuk, Mitchell und Dachner 2016, 9). Das Ausmaß oder die Intensität von Ernährungsunsicherheit wird in der deutschen amtlichen Statistik bisher nicht erhoben. Anders als in Großbritannien sind mir hierzulande auch keine Pläne zur Erhebung von Ernährungsunsicherheit bekannt. Der mit dem britischen National Food Survey oder dem National Health and Nutrition Survey aus den USA vergleichbare Ernährungsbericht der Deutschen 3
4
Die FIE-Skala beruht wie die US-amerikanische und die kanadische Operationalisierung von Ernährungsunsicherheit auf der Abfrage von Erfahrungen, die mit dem Zugang zu Lebensmitteln gemacht werden (expierenced-based metric) und nicht auf mittelbaren Indikatoren wie den Ausgaben für Lebensmitteln, aus denen eventuelle Zugangsschwierigkeiten abgeleitet werden (Food and Agriculture Organization of the United Nations 2016, 3). Die in Kanada angewendeten Items und Berechnungsmethoden beruhen auf den Fragen des US-amerikanischen Food Security Supplement (Health Canada 2010).
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Gesellschaft für Ernährung verschreibt sich eher der Ermittlung der Nährstoffversorgung der Bevölkerung und der Untersuchung von Ernährungstrends. Auf ihn komme ich in Kapitel 2.2.4 zurück. Statistische Studien geben jedoch Hinweise darauf, dass auch in Deutschland soziale Ungleichheit und Ernährung zusammenhängen. Diese Untersuchungen entstammen verschiedenen Disziplinen und zeigen den Einfluss gesellschaftlicher Ungleichheitsstrukturen auf Ernährung und wie diese quantitativ und qualitativ zu relevanten Einschränkung bestimmter Bevölkerungsgruppen beitragen. So beinhaltet die Panelerhebung »Leben in Europa«5 ein erfahrungsbasiertes Item, das das Thema Ernährungsunsicherheit aufgreift. 2016 berichteten 7,7 % der Befragten, dass sich ihr Haushalt nicht jeden zweiten Tag eine vollständige Mahlzeit mit Fisch, Fleisch oder einer hochwertigen vegetarischen Alternative leisten kann. Von den armutsgefährdeten Befragten6 ist jede fünfte Person, d.h. insgesamt rund 5,6 Millionen Personen von dieser Einschränkung betroffen (Statistisches Bundesamt 2018, 28). Die Entwicklung in Bezug auf die Gesamtbevölkerung schwankt seit 2009 zwischen 7 und 9 %, bei den armutsgefährdeten Personen sank der Anteil im gleichen Zeitraum von rund 30 auf rund 20 % (siehe Abbildung 2). Auch aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ergeben sich Hinweise auf ein schichtabhängiges Einkaufs- und demzufolge Ernährungsverhalten. Die EVS vergleicht in ihren alle fünf Jahre wiederholten Untersuchungen die Ausgaben für Nahrungsmittel in Haushalten unterschiedlicher Einkommensklassen. Festzustellen ist, dass die untersten beiden Einkommensklassen seit Jahrzehnten bedeutend weniger für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke ausgeben, als durchschnittlich für diesen Konsumbereich aufgewendet wird (siehe Abbildung 3). Im Jahr 2013 wendeten Haushalte im Durchschnitt 224,87 Euro monatlich für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke auf. Haushalte mit einem niedrigen Haushaltsnettoeinkommen (unter 900 Euro) gaben hingegen durchschnittlich nur 106,51 Euro monatlich (3,51 Euro pro Tag) für diesen Konsumbereich aus, Haushalte der höchsten Einkommensklasse (Haushaltsnettoeinkommen zwischen 5.000 und 18.000 Euro) 348,79 Euro (Statistisches Bundesamt 2016, 68). Haushalte der niedrigsten Einkommensklasse wendeten demnach nur ein Drittel dessen auf, was Haushalte der höchsten Einkommensklassen für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke ausgaben. In den Berichten der EVS wird dazu regelmäßig festgestellt: »Neben der Haushaltsstruktur beeinflußt die Höhe des Haushaltseinkommens die Ausgaben für Ernährung erheblich, weil Einkommen und Verbrauch zwei mit5 6
»Leben in Europa« ist die nationale Bezeichnung der jährlich EU-weit erhobenen European Union Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC). Armutsgefährdung wird definiert über ein Einkommen, das 60 % des Nettoäquivalenzeinkommens unterschreitet. 2017 lag die sog. Armutsgefährdungsschwelle für einen Einpersonenhaushalt in Deutschland bei 999 Euro (Statistisches Bundesamt 2020).
2 Forschungsstand
Abbildung 2 Anteil deutscher Haushalte, die sich nicht jeden 2 Tag eine warme Mahlzeit leisten können
Haushalte, die sich nicht jeden 2. Tag eine warme Mahlzeit leisten können.
Bevölkerung insgesamt
armutsgefährdete Bevölkerung
100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016
Quelle: Eigene Abbildung nach Daten des Statistischen Bundesamtes (2008; 2011a; 2011b; 2011c; 2012a; 2012b; 2014; 2015a; 2017a; 2017b; 2018).
einander stark korrelierende Größen sind. […] Die hier [im Jahr 1983] dargestellten ›ärmsten‹ Haushalte gaben 33 % ihres Nettoeinkommens für die Ernährung aus, die ›reichsten‹ 14 %. Damit findet das ›Engelsche Gesetz‹,7 wonach der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel am Einkommen ein Maßstab für die finanzielle Leistungsfähigkeit eines Haushalts ist, erneut seine Bestätigung. (Statistisches Bundesamt 1986, 20; vgl. auch Statistisches Bundesamt 1981, 12; Statistisches Bundesamt 1996, 17) Die Statistiken der EVS sind auch insofern relevant, als dass die Eckregelsätze für Bedarfsgemeinschaften im Leistungsbezug des SGB II (Arbeitslosenhilfe) und SGB XII (Sozialhilfe) statistisch aus den über die EVS ermittelten Konsumausgaben der unteren 15 % (Einpersonenhaushalte) bzw. 20 % (Mehrpersonenhaushalte) abgeleitet werden. Grundlage der Eckregelsätze sind damit Ausgaben und nicht Bedarfe an sich (Becker 2011, 9ff.). Die im Rahmen der EVS ermittelten Unterschiede der für Ernährung aufgewendeten Einkommensanteile zwischen den Einkommensklassen
7
Die 1857 von dem Statistiker Ernst Engel aufgestellte These lautet: »[…] je ärmer eine Familie ist, einen desto größeren Antheil von der Gesamtausgabe muß zur Beschaffung der Nahrung aufgewendet werden« (Engel 1857, 169; vgl. auch Krämer 2000, 37).
29
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 3 Ausgaben für Nahrungsmittel und Getränke nach Einkommensklassen 5.000-18.000 €
3.600-5.000 €
2.600-3.000 €
2.000-2.600 €
1.500-2.000 €
1300-1500 €
900-1.300 €
< 900€
1983
1993
200% Anteil an den durchschnittlichen Ausgaben für Lebensmittel nach Einkommensklassen
30
180% 160% 140% 120% 100% 80% 60% 40% 20% 0%
1978
1988
2003
2008
2013
Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Statistischen Bundesamtes (1981; 1986; 1996; 1997; 2006; 2011d; 2016). DM-Angaben wurden in Euro-Werte umgerechnet.
sowie die stark unterschiedliche Höhe der Ausgaben sind ein deutlicher Hinweis auf die Schichtabhängigkeit von Ernährung. Neben der EVS lassen sich auch aus anderen Wiederholungsstudien empirische Indizien für Ernährungsunsicherheit ableiten: Sabine Pfeiffer, Tobias Ritter und Elke Oestreicher nähern sich dem Ausmaß von Ernährungsarmut über die materielle (Not-)Lage von Haushalten und den durchschnittlichen Ausgaben für Lebensmittel in der Bundesrepublik an: Laut dem SOEP von 2007 stehen 800.000 Personen in Deutschland weniger als 99 Euro im Monat bzw. höchsten 3,30 Euro pro Tag für Lebensmittel und andere Haushaltsausgaben zur Verfügung. Ausgehend von 7,40 Euro, die in Westdeutschland im Jahr 2000 durchschnittlich pro Tag für Lebensmittel ausgegeben wurden, liegt es nahe, dass diese Personengruppe (die rund 1 % der Bevölkerung umfasst) zumindest zeitweise Ernährungsarmut erlebt. Pfeiffer, Ritter und Hirseland schätzen, dass dies teilweise auch für die nächsthöhere Konsumgruppe gilt (Konsumausgaben von 100 bis 199 Euro monatlich, das heißt höchsten 6,64 Euro pro Tag), die weitere 7 % der deutschen Bevölkerung repräsentiert (Pfeiffer, Ritter und Hirseland 2011, 419). Nach der unter dem Namen Hartz-Reformen bekannt gewordenen Neuorganisation der Arbeitsmarktpolitik entstanden weitere Studien, die die Annahme stützen, dass Menschen die Leistungen nach SGB II oder XII beziehen, mit großer Wahrscheinlichkeit von Ernährungsarmut betroffen sind. Auch diese Studien
2 Forschungsstand
geben Hinweise auf das Ausmaß von Ernährungsunsicherheit in Deutschland. In der von Werner Wüstendörfer geleiteten Untersuchung zu Kinderarmut in Nürnberg beantworteten 18 % der 512 Befragten,8 sich (auch) bei der Ernährung oft einschränken zu müssen. 30 % der Befragten gaben an, dass dies »manchmal« nötig sei (Wüstendörfer 2008, 27). Wüstendörfers Studie bestätigt die Befunde von Mathilde Kersting und Kerstin Clausen: Sie haben die Kosten für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen gemäß einer optimierten Mischkost dem Budget gegenübergestellt, das das SGB II für Nahrung, Getränke und Genussmitteln vorsieht und haben errechnet, dass dieses Budget für eine Ernährung gemäß den Empfehlungen der DGE nicht ausreicht (Kersting und Clausen 2007, 512; Wüstendörfer 2008, 55). Das FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk (FIAN) folgert, dass in Deutschland bis zu drei Millionen Kinder und Jugendliche von Ernährungsunsicherheit betroffen sind (FIAN 2012, 11). Für Erwachsene reicht der Regelsatz rechnerisch nur dann aus, wenn keine vom Durchschnitt abweichenden Bedarfe vorliegen, kein Geld für Genussmittel (z. Β. Tabak) verwendet und bei allen Lebensmittelgruppen auf die preiswertesten Angebote zurückgegriffen wird (Karg, Wagner und Gedrich 2008, 9). Das Panel »Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung« (PASS) untersucht seit 2006 in jährlichem Turnus unter anderem die materiellen und immateriellen Folgen der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Achatz, Hirseland und Promberger 2007, 11). Anders als die im EU-SILC verwendete Variable bezieht sich das PASS nicht auf eine vollwertige Mahlzeit mit Fisch, Fleisch oder vegetarischer Alternative, sondern fragt danach, ob man sich täglich eine nicht näher definierte warme Mahlzeit leisten kann. Entsprechend den niedriger angesetzten Anforderungen an die Mahlzeit verneinen im PASS weniger Menschen diese Frage: 2006 gaben 6 % der Befragten im SGB-II-Leistungsbezug an, aus finanziellen Gründen nicht jeden Tag eine warme Mahlzeit zu sich zu nehmen. Demgegenüber steht 1 % der Befragten ohne Leistungsbezug, die sich dies nicht leisten können (Christoph 2008, 8). 2014 war der Anteil derjenigen, die sich in dieser Hinsicht einschränken müssen, insgesamt auf 0,4 % und unter den Befragten aus dem Rechtskreis des SGB II auf 3,2 % gesunken (Christoph u.a. 2016, 5). In dieser Annäherung an das Ausmaß von Ernährungsarmut in der Bundesrepublik bleiben die Menschen unberücksichtigt, die als anerkannte Geflüchtete und Geduldete Sachleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Ihnen wird der Entscheidungsspielraum für oder gegen bestimmte Lebensmittel, Qualität und Quantität vollständig durch die Ausgabe von Lebensmittelpaketen genommen. Dies ist hinsichtlich der Wahrung der Menschenwürde problematisch (FIAN
8
Teilnahmevoraussetzung war das Zusammenleben mit mindestens einem Kind und der Bezug von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe.
31
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Deutschland e. V. 2012, 12). Die finanzielle Determinante des Zugangs zu Lebensmitteln wird in diesem Fall bedeutungslos. Ein weiterer Hinweis auf einen erschwerten Zugang zu Nahrungsmitteln und das Ausmaß von Ernährungsunsicherheit ist die wachsende Zahl von Lebensmitteltafeln. Der Bundesverband Deutsche Tafel e. V. ist die wichtigste Organisation in diesem Feld. Zwischen 1993 und 2018 gründeten sich 941 lokale Tafeln mit 2.100 Ausgabestellen, die sich in diesem Bundesverband organisieren (Die Tafel 2018a). Ein besonders großer Anstieg ist 2006, im Jahr der Einführung der HartzIV-Reformen, zu verzeichnen (siehe Abbildung 4).
Abbildung 4 Entwicklung der Lebensmitteltafeln in Deutschland 1000 900 800 700 600 500 400 300 200
2017
2015
2013
2011
2009
2007
2005
2003
2001
1999
1997
0
1995
100 1993
Zahl der Tafeln in Deutschland
32
Quelle: Eigene Darstellung. Datengrundlage: Die Tafel (2018a).
Eine unbekannte Zahl von nicht im Bundesverband der Tafeln organisierten Lebensmittelausgaben kommt hinzu. Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund der sinkenden Werte des PASS dringend zu berücksichtigen. Mit der Zahl der Tafeln steigt die Zahl der Menschen, die Lebensmittel bei Tafelausgabestellen erhalten. Nach Angaben des Bundesverbandes der Tafeln werden regelmäßig bis zu 1,5 Millionen Menschen unterstützt, der Anteil von Kindern und Jugendlichen beträgt etwa 30 % (Die Tafel 2018a). Arbeiten aus jüngster Zeit zeigen, dass ein erheblicher Anteil von Tafelnutzer*innen von Ernährungsunsicherheit betroffen ist. Julia Depa et al. kommen bei ihrer Untersuchung, dem ein Sample von 1.380 Tafelnutzer*innen aus Berlin, Stuttgart und Karlsruhe zugrunde liegt, auf einen Anteil von 70 %, der nach den Kriterien der FIES (siehe Kapitel 2.2.1) unter Ernährungsunsicherheit leiden (Depa u.a. 2018, 98). Jessica Hartig befragte 523
2 Forschungsstand
Nutzer*innen von hessischen Lebensmitteltafeln. Sie differenziert zwischen denen, die von ernährungsvermittelten Formen sozialer Teilhabe wie dem Essengehen ausgeschlossen sind, was über 75 % der Befragten bejahten, und Menschen, die angeben, ohne die Tafeln an mindestens einigen Tagen monatlich unterversorgt zu sein, das heißt von materieller Ernährungsarmut betroffen sind, was auf über 60 % der Befragten zutrifft (Hartig 2018, 325ff.). Auf die Organisation von Lebensmitteltafeln und die Konsequenzen für konsumvermittelte gesellschaftliche Teilhabe komme ich in Kapitel 6.3.3 zurück. Die Indizien für das Ausmaß von Ernährungsunsicherheit in Deutschland werden durch Ergebnisse bekräftigt, die durch die Einführung der FIES in die Gallup World-Umfrage9 entstanden. Demnach waren 2014 4,3 % der deutschen Bevölkerung von moderater oder schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen.10 Mit diesem Wert zählt Deutschland zu den Ländern, deren Bevölkerung am besten versorgt ist – neben der Schweiz (3,0 %), Japan (3,0 %), Schweden (3,1 %), Norwegen (3,9 %), Singapur (4,3 %), Dänemark (4,9 %) und den Niederlanden (5,5 %). In Kanada (8 %), Großbritannien (10,1 %) und den USA (10,2 %) werden wesentlich mehr Menschen als ernährungsunsicher ausgewiesen (FAO 2016, 36ff.). Über diesen im Vergleich zu anderen Industriestaaten geringen Anteil sollte nicht vergessen werden, dass in Deutschland dennoch mehr als drei Millionen Menschen von mittlerer oder schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen sind (FAO 2016, 37). Zudem wird der Anteil der Haushalte, die von leichter Ernährungsunsicherheit betroffen sind, in diesem Bericht nicht ausgewiesen. Gemeint ist die Sorge um die Finanzierung der nächsten Mahlzeit und/oder Einschränkungen in der Auswahl der Lebensmittel. Wird die Ernährung in ihrer Funktion für soziale Teilhabe ernst genommen, ist jedoch auch leichte Ernährungsunsicherheit als problematisch anzusehen, da gerade die Sorge darum, wie die nächste Mahlzeit sichergestellt werden kann, als starke Belastung empfunden wird (Feichtinger 1995, 300).
2.2.3
Ernährungswissenschaftliche Perspektiven auf Ernährung und soziale Ungleichheit
Seit 1969 wird alle vier Jahre von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft ein Ernährungsbericht herausgegeben. Er ist mit dem National Food Survey aus Großbri9
10
Mit der Gallup World-Umfrage »The Gallup World Poll« (GWP) wird seit 2005 jährlich in 150 Ländern, Regionen oder Gebieten ein repräsentatives Sample von Menschen über 15 Jahren zu Ernährung und Unterkunft, Institutionen und Infrastrukturen, sozioökonomischen Lagen sowie Wohlbefinden befragt (FAO 2016, 9). Die Aussagekraft des Ergebnisses wird durch die Autor*innen der Studie eingeschränkt, da nicht alle statistisch gebildeten Subgruppen im deutschen Sample mit ausreichender Fallzahl vertreten waren.
33
34
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
tannien oder dem National Health and Nutrition Examination Survey aus den USA vergleichbar. Mit ihm ist der Anspruch verbunden, die Entwicklung des Lebensmittelverbrauchs und der Nährstoffversorgung sowie Ernährungstrends in Deutschland darzustellen (DGE 1969, 7f.). Die ersten Berichte aus den 1970er Jahren spiegeln die Erfahrung des Wirtschaftswunders. Sie betonen eine Angleichung der verzehrten Lebensmittel zwischen verschiedenen sozialen Schichten durch steigende Einkommen (DGE 1972, 25f.), die stetige Abnahme des Einkommensanteils, der für Lebensmittel verwendet wird und den Bedeutungsverlust des Preises bei der Lebensmittelwahl (DGE 1976, 421). Für Aussagen zur Entkoppelung von Einkommen und Lebensmittelversorgung, etwa »Der Lebensmittelkorb ist heute nicht mehr von Einkommen und von der Sozialschicht abhängig« (Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. 1972, 39), werden jedoch feudale Gesellschaftsformen als Vergleich herangezogen. Seit den 1980er Jahren werden in den Berichten Schwerpunkte zum Ernährungsverhalten und der Nährstoff- und Vitaminversorgung verschiedener, als demographisch verstandener Gruppen gesetzt. So wird wiederholt die Ernährungssituation älterer Menschen, von Kinder und von Frauen dargestellt. Eine umfassende Differenzierung nach klassenbezogenen Faktoren wie dem Einkommen kommt hingegen höchstens als Randnotiz vor. Ihr wurde bis heute kein Schwerpunktkapitel gewidmet (vgl. DGE 1969; 1972; 1976; 1980; 1984; 1988; 1992; 1996; 2000; 2006; 2008; 2012; 2016). Mit ihrer Schwerpunktauswahl trägt die DGE nicht dazu bei, die Aufmerksamkeit der Ernährungspolitik auf arme und armutsnahe Haushalte zu lenken. Obwohl Ergebnisse zu einem nach Klassenkriterien differenzierten Ernährungsstatus vorliegen, werden diese nicht in dem Maße problematisiert, wie dies für andere Gruppen, wie ältere Menschen oder Kinder und Jugendliche geschieht. Die Darstellung als lediglich demographische Schieflage wirkt einem Verständnis von Ernährungsungleichheit als Aspekt sozialer Ungleichheit entgegen. Auch die Soziologin Eva Barlösius kritisiert die Ausrichtung der Berichte. Sie hält sie nicht für geeignet, um schichtspezifische Differenzen im Bereich der Ernährung und der Gesundheit als ernährungspolitisches Thema zu setzen und Interventionen zur Verbesserung speziell für sozial benachteiligte Gruppen zu entwickeln (Barlösius 2016, 223). Hinweise auf ein sozial differenziertes Ernährungsverhalten ergeben sich jedoch aus der Nationalen Verzehrsstudie (NVS). Ein Schichtindex aus Ausbildung, beruflicher Stellung des*der Hauptverdieners*in und dem Haushaltseinkommen unterteilt die Studienteilnehmer*innen in die Kategorien »Untere Schicht«, »Untere Mittelschicht«, »Mittelschicht«, »Obere Mittelschicht« und »Oberschicht« (Max Rubner-Institut 2008a, 58). Tendenziell steigt der Verzehr der als nutritiv günstig angesehenen Lebensmittel wie Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte und Fisch mit der sozioökonomischen Position. Der Verzehr von Nahrungsmitteln mit ungünstiger Nährstoffzufuhr (fett- und zuckerreiche Waren) ist parallel dazu in den Kategorien »Unterschicht« und »Untere Mittelschicht« besonders hoch (Max Rubner-Institut
2 Forschungsstand
2008a, 58ff.). Diese schichtspezifischen Ernährungsmuster entsprechen den Befunden ernährungswissenschaftlicher Studien, die sich auf Deutschland und andere Industrienationen beziehen und feststellen, dass die Qualität der Ernährung mit abnehmendem Sozialstatus sinkt (Muff 2009, 97ff.). In den NVS wird darüber hinaus festgestellt, dass Personen mit höheren Bildungsabschlüssen Ernährungskampagnen und die Bedeutung von Produktbezeichnungen wie »probiotisch« häufiger kennen als Personen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen (Max Rubner-Institut 2008b, 99). Dies legt Zusammenhänge zwischen dem formalen Bildungsgrad und ernährungsbezogenem Wissen nahe, das wiederum als Prädiktor für Ernährungsverhalten herangezogen werden kann. Dieser Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau und der Ernährungsqualität ist auch aus Sekundäranalysen des Datenmaterials aus der NVS I (vgl. Röder 1999) und Studien zu anderen Industrieländern bekannt (Turrell und Kavanagh 2006; vgl. Wardle, Parmenter und Waller 2000). Auf sozial differenzierte Einflussfaktoren für das Ernährungsverhalten komme ich in Kapitel 3.3 zurück. Da bestimmte arme oder armutsnahe Bevölkerungsgruppen wie Obdachlose, Bewohner*innen von Einrichtungen wie Wohnheimen für Asylsuchende oder die nicht Deutsch sprechende Bevölkerung weder in der Stichprobe der NVS I (1991) noch in der der NVS II (2008) repräsentiert sind, lässt die NVS keine Aussage über das Ausmaß von Hunger und Ernährungsarmut in Deutschland zu (Feichtinger 1996, 12; Max Rubner-Institut 2008a, 9f.; Pfeiffer 2014, 7; Pfeiffer, Ritter und Hirseland 2011, 418). Die ernährungswissenschaftlichen Studien, die Ernährung in Deutschland schichtabhängig untersuchen, wiesen schon vor der ersten NVS darauf hin, dass die Nährstoffversorgung sowie der Verzehr von als gesund aufgefassten Lebensmittelgruppen unter anderem von sozioökonomischen Faktoren abhängig sind und sich zuungunsten von niedrigeren sozioökonomischen Schichten verteilen (Adolf 1995, 104ff.; Feichtinger 1996, 13; Köhler 1995, 283ff.). Feichtinger folgert: »Die Wahrscheinlichkeit einer gesundheitlich ungünstigen Ernährungsweise […] sind in Armut und Niedrigeinkommenslagen eindeutig größer als in der Nichtarmut« (Feichtinger 1996, 1). Dass auch aktuell die sozioökonomische Lebenslage auf das Ernährungsverhalten wirkt und ein niedriger Status die Wahrscheinlichkeit für ungünstigere Ernährungsweisen erhöht, wird neben der NVS auch in diversen weiteren Studien belegt (vgl. Finger u.a. 2015; Kuntz u.a. 2018; Mensink u.a. 2013; Poethko-Müller und Krug 2014; Rabenberg und Mensink 2013; Richter u.a. 2012). Empirische Untersuchungen in anderen Industriestaaten kommen zu gleichen Schlüssen (für die USA vgl. Hiza u.a. 2013; Storey und Anderson 2014; für Australien vgl. Ball u.a. 2004; für Norwegen vgl. Skuland 2015). Insbesondere für den Verzehr von Obst und Gemüse, die Aufnahme ungesättigter Fettsäuren, von Nährstoffen und Vitaminen gilt eine schlechtere Versorgung in Gruppen mit niedrigem sozioökonomischem Status als belegt (Muff und Weyers 2010, 85).
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
2.2.4
Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Ernährung und soziale Ungleichheit
Dass Armut im wohlhabenden Deutschland im Alltag spürbare Auswirkungen auf den existenziellen Bereich der Ernährung hat, bestätigen auch sozialwissenschaftliche Untersuchungen. Diese entstanden vor allem im Kontext der Armutsforschung und bilden einen wichtigen Bezugspunkt dieser Arbeit. Wie in der Ernährungsforschung bilden die Zusammenhänge von sozialer Ungleichheit und Ernährung auch in der Armutsforschung jedoch Nebenschauplätze. In ihrer Studie zu Ernährung unter Sozialhilfeempfänger*innen stellt beispielsweise Jutta Kamensky fest, dass es für diese eine größere Herausforderung darstellt, eine qualitativ hochwertige Ernährung über den gesamten Monat hinweg sicherzustellen, als für Menschen mit höherem Einkommen (Kamensky 2004, 23). Ähnlich stellt Claudia Kaiser in ihrer qualitativen Studie heraus, dass das Einkaufsverhalten von armen Haushalten vom Suchen nach Sonderangeboten geprägt ist. Der Aufwand sei bedingt durch die nötige Organisation von Mitfahrgelegenheiten und die Notwendigkeit, immer möglichst billig einzukaufen, hoch (Kaiser 2001, 113). Auch zu nötigen Einschränkungen im Ernährungsbereich liegen Ergebnisse vor: Die AWO-ISS Langzeitstudie zu Kinderarmut ergab, dass rund 25 % der befragten Kinder oft oder manchmal Einschränkungen im Bereich der Ernährung erleben (Holz und Hock 2006, 71). Eine im Rahmen des DFG-Projektes »Versorgungsstrategien privater Haushalte im unteren Einkommensbereich« 1994 durchgeführte Befragung von 784 Personen im Alter zwischen 26 und 66 Jahren kommt zu dem Ergebnis, dass Empfänger*innen von Sozialleistungen im Bereich des Einkaufs von Lebensmitteln wesentlich stärker einschränken müssen, als Personen, die diese Leistungen nicht empfangen: In den alten Bundesländern betrifft dies 42,3 % der befragten Sozialhilfeempfänger*innen, in den neuen 26,7 %. Unter den befragten Personen, die keine Sozialhilfe empfangen ist der Anteil derjenigen, der diese Frage bejaht mit 9,4 % (West) und 7,1 % (Ost) wesentlich geringer (Andreß 1999, 149). 6 % der befragten Sozialhilfeempfänger*innen (Durchschnitt der alten und neuen Bundesländer) geben zudem an, sich nicht jeden Tag eine warme Mahlzeit leisten zu können (Andreß 1999, 111). Auch die sozialwissenschaftlich konzipierte Gießener Ernährungsstudie über das Ernährungsverhalten von Armutshaushalten sowie weitere, nicht auf Ernährung fokussierte Armutsstudien erfassen, dass Ernährung aufgrund fehlender finanzieller Mittel eingeschränkt werden muss: In den »Gummiwochen« oder an den »Ziehtagen« am Ende des Monats, werden noch vorhandene Lebensmittelund Geldreserven so gestreckt, dass sie bis zur nächsten Geldüberweisung ausreichen. Einfachste und in ihrer Qualität stark eingeschränkte Verpflegung, das »Durchschnorren« bei Bekannten und Angehörigen und zum Teil Hungergefühle
2 Forschungsstand
sind Kennzeichen dieser Überbrückungszeiten (Barlösius, Feichtinger und Köhler 1995, 20; Chassé, Zander und Rasch 2007, 117ff.; Hübinger 1989, 177; Lehmkühler und Leonhäuser 1998, 81; Lehmkühler 2002, 216; Voigtländer, 99). Nach einer Befragung, die Rainer Roth 1990 unter 196 Sozialhilfeempfänger*innen in Frankfurt a.M. durchführte, ist das zum Monatsanfang zur Verfügung stehende Geld durchschnittlich nach 19,5 Tagen aufgebraucht (Roth 1992, 7). Im Schnitt stehen demnach an fast 10 Tagen im Monat (auch) für die Ernährung keine finanziellen Ressourcen mehr zur Verfügung. In Bezug auf die sozialen Folgen von Ernährungsunsicherheit kommt Jutta Kamensky in ihren Überlegungen zu Essen und Ernährung unter Sozialhilfebedingungen bereits 1995 zu dem Schluss, dass die »Befriedigung sozialer und psychischer Bedürfnisse in Bezug auf Essen und Trinken […] Geld [kostet], das Sozialhilfeempfänger nicht haben. Strenggenommen läßt der Regelsatz also nur eine einzige Befriedigung zu: den physischen Hunger zu stillen« (Kamensky 1995, 252) Feichtinger stellt ebenfalls Mitte der 1990er Jahre fest, dass die nichtphysiologischen und immateriellen Aspekte von Ernährung in der Armut noch weniger erforscht sind als die materielle Qualität und die ökonomischen Voraussetzungen von Ernährung in Armutshaushalten (Feichtinger 1996, 32). Obwohl sich die finanzielle Situation seit den Umstrukturierungen von Arbeitslosen- und Sozialhilfe verschärft hat und sich die mit Konsum verbundenen Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe von Leistungsbezieher*innen verringert haben (Becker 2015, 14), ist dieser Aspekt von Ernährung weiterhin kaum empirisch untersucht. Anhaltspunkte für die Einschränkung der sozialen Dimension von Ernährung liefern Untersuchungen zu Restaurantbesuchen. Das Konsumieren von Essen und Getränken außerhalb des eigenen Haushaltes, z.B. in Restaurants, kann als »Kulminationspunkt« ernährungsvermittelter sozialer Teilhabe bezeichnet werden (Pfeiffer 2014, 14). Ihr sprechen Pfeiffer, Ritter und Hirseland eine zunehmende Bedeutung zu. »Wo, wie, mit wem und zu welchen Anlässen wir essen gehen […], ob wir darüber hinaus den sich ständig ändernden Essenstrends folgen können, bestimmt, zeigt und ermöglicht den Grad unseres Erfolgs und die Zughörigkeit zu einer pluralistischen und individualitätsbetonten Gesellschaft« (Pfeiffer, Ritter und Hirseland 2011, 420). Das PASS erhebt Daten zu diesem gesellschaftlichen Aspekt von Ernährung und stellt starke Einschränkungen für diese Form sozialer Teilhabe fest, die sowohl Personen betrifft, die staatliche Unterstützung erhalten, als auch Personen außerhalb des Rechtskreises des SGB II. Im Erhebungszeitraum 2006/2007 gaben 11 % der Befragten außerhalb des Leistungsbezuges an, Freund*innen aus finanziellen Gründen nicht zum Essen einladen zu können, 32 % konnten sich keine Restaurantbesuche leisten. Im Leistungsbezug gilt dies für wesentlich mehr Menschen:
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
46 % gaben an, Freund*innen nicht zum Essen einladen zu können, Restaurantbesuche waren für 76 % unerschwinglich (Christoph 2008, 8). Der Autor ordnet diese Ergebnisse jedoch nicht als problematisch ein: Soziale Aktivitäten wie Freund*innen zum Essen einzuladen, definiert er genau wie den Besitz eines Computers mit Internetzugang als Charakteristika eines »gehobenen Lebensstandards«. Sie gehören für den Autor folglich nicht zum sozioökonomischen Existenzminimum (Christoph 2008, 9). Über diese quantitativen Ausmaße hinaus zeigen Untersuchungen die qualitative Bedeutung von Einschränkungen in einem solch elementaren Lebensbereich wie Ernährung: In ihren Studien zu den Lebensbedingungen von Sozialhilfeempfänger*innen stellen Anne Ames sowie Jutta Kamensky und Helmuth Zenz fest, dass die Ernährung zu den Bereichen gehört, in denen Entbehrungen alltäglich gespürt werden (Ames 2007, 34; Kamensky und Zenz 2001, 96). Während Ernährung vor Beginn des Sozialhilfebezuges für die meisten Menschen ein selbstverständlicher Bereich ist, über dessen Finanzierung sie wenig nachdenken müssen, entwickelt er sich in der finanziellen Notlage zu einem Feld alltäglicher Entbehrungen: »Da ein Eis für die Kinder, dort eine Pizzaschnitte an der Straße, oder ein paar Bierchen mit den Freunden in der Kneipe. Das ist mit dem Geld, das die Sozialhilfe bewilligt, nicht mehr drin. Selbst der Einkauf von Lebensmitteln kann nicht mehr in irgendeinem beliebigen Supermarkt getätigt werden, der Gang zum Discounter wird unumgänglich.« (Kamensky und Zenz 2001, 96) Beide Studien bestätigen die Ergebnisse der von Feichtinger zusammengefassten britischen und US-amerikanischen Arbeiten, die feststellen, dass »auch in weniger kritischen Situationen, wenn eine ausreichende Ernährung durch Ausweichen auf billigere Lebensmittel noch sichergestellt werden kann, […] die Einschränkung der Wahlfreiheit und die Reduzierung der sozialen Ernährungsqualität von den Betroffenen sehr bewußt wahrgenommen« werden (Feichtinger 1995, 300). Gemeinsame Mahlzeiten sind ein Mittel zur Pflege sozialer Beziehungen, das im Alltag genauso wie zu besonderen und festlichen Anlässen eingesetzt wird. So stellte Wüstendörfer fest, dass unter den 512 Befragten seiner Studie zu Kinderarmut in Nürnberg die gemeinsame Mahlzeit die häufigste gemeinsame Aktivität von Eltern und Kindern darstellt (Wüstendörfer 2008, 23). Einschränkungen erscheinen vor der sozialen Bedeutung von Ernährung und Essen im Familienalltag umso gravierender. Ein Beispiel für Restriktionen, die sich auf besondere Anlässe beziehen, nennt Claudia Kaiser. Sie berichtet von den Bemühungen finanzschwacher Haushalte, zu Anlässen wie Geburtstagen oder einer Kommunion eine festliche Mahlzeit auszurichten. Möglich sei dies in den geschilderten Fällen nur durch Verschuldung, Ratenkauf oder die Hilfe Dritter (Kaiser 2001, 118).
2 Forschungsstand
Auch die Untersuchungen aus der Armutsforschung verweisen also darauf, dass soziale Ungleichheit und Ernährung in Verbindung stehen. Sie ergänzen die vor allem quantitativ arbeitenden ernährungswissenschaftlichen Studien um Einsichten zur Einbettung von Ernährung in das Alltagsleben und Strategien zum Umgang mit Ernährungsarmut.
2.2.5
Weitere Determinanten sozialer Ungleichheit und Ernährung
In den Studien, die sich mit den Zusammenhängen von Ernährung und sozialer Ungleichheit beschäftigen, werden hauptsächlich schichtspezifische Ernährungsdifferenzen behandelt. Meist wird dafür mit Indexwerten gearbeitet, die sozioökonomische Positionen neben dem Einkommen am Bildungsgrad festmachen (vgl. beispielsweise Kuntz u.a. 2018, 49). Soziale Ungleichheit besitzt jedoch mehrere Determinanten, auf die ich in Kapitel 3.1 genauer eingehen werde. Die Forschungslage zu den Zusammenhängen von Ernährung und weiteren Einflussfaktoren sozialer Ungleichheit ist für die Verhältnisse in Deutschland sehr randständig. Aus der Langzeitstudie KiGGS, Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, des Robert Koch-Institutes liegen inzwischen Hinweise darauf vor, dass ein Migrationshintergrund mit einem ungünstigeren Ernährungsverhalten verbunden ist (Kleiser u.a. 2007; Schenk u.a. 2016; Steinhilber und Birte 2016). Ernährung wird zudem aus sozialwissenschaftlicher Sicht als Medium diskutiert, um gesellschaftliche Geschlechtererwartungen zu konstruieren und zu vermitteln (Leonhäuser u.a. 2009; Schritt 2011; Setzwein 2004; Rehaag, Uslucan und AydinCanpolat 2012). Dies deutet auf einen Zusammenhang zwischen der Kategorie Geschlecht und Ernährung hin. Allgemeine Aussagen dazu, wie Ernährung und Armut mit anderen Faktoren sozialer Ungleichheit in Verbindung stehen, lassen sich auf der Basis aktueller Forschung jedoch nicht treffen.
2.2.6
Ernährung und soziale Ungleichheit in der Marktforschung
In den Medien dank ihrer griffigen Typologien präsent, jedoch für die Bezüge zwischen Ernährung und sozialer Ungleichheit wenig ergiebig, sind Marktforschungsstudien zu Ernährungstrends und -typen, die im Auftrag von (Lebensmittel-)Konzernen angefertigt werden. Sie zeigen, dass Ernährungsweisen in allgemeine gesellschaftliche Trends eingebunden sind und soziale Normen zum Ausdruck bringen können (vgl. Rheingold-Institut 2012; Gahmann 2011). Werte, Einstellungen und gesamtgesellschaftliche Trends sind die Basis, auf denen die Ernährungstypen der Nestlé-Studien sowie die Studie »Vernunft und Versuchung. Ernährungstypen
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
und -trends in Deutschland« (2012)11 fußen (Janke 2009, 8f.; Rheingold-Institut 2012, 17ff.). Wie sich gesellschaftliche Macht- und Ressourcenverteilung auf die Ernährungsweisen und -typen auswirkt, bleibt dabei unscharf: Während Geschlecht als Determinante einer bestimmten Ernährungsweise herangezogen wird (z.B. bei Ernährungstypen »Wild Boys« oder »Maschinisten«) und die Darstellung des Ernährungstyps »Mr. und Mrs. Right« auch Alter als Bedingung nahelegt, scheinen finanzielle Ressourcen keine Rolle in der Untersuchung gespielt zu haben. Die nicht näher definierte Stichprobe von 40 Konsument*innen zwischen 20 und 65 Jahren und das Interesse der Auftraggeber zur Nutzung der Ergebnisse zur Vermarktung von Lebensmitteln (Rheingold-Institut 2012, 47ff.) legen eine Beschränkung auf die kaufkräftige Mittel- und Oberschicht nahe. Eine repräsentative Nestlé-Studie von 2009 stellt ihrer Ernährungstypologie voran, dass »untere soziale Schichten« weniger an Ernährung interessiert seien und sich weniger mit ihrer Ernährung auseinandersetzten als »höhere soziale Schichten« (Janke 2009, 5). In den Ernährungstypen selbst finden sich ähnlich wie in der vom RheingoldInstitut angefertigten Studie nur implizite Hinweise auf die sozioökonomische Bedingtheit von Ernährungsweisen (Janke 2009, 8f). Die Gegenüberstellung der drei Gruppen der »Gesundheitsbewussten«, der »Zeitknappen« und der »Uninteressierten« wird mit Lebenssituationen versehen, die nahelegen, dass Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status in der Gruppe der »Uninteressierten« zu verorten sind: Sie zählen kaum zu den »gut situierten Familienmenschen«, den Gesundheitsidealisten, die ein ausgewogenes, kreatives Leben anstreben, noch zu den beruflich stark eingespannten »Gehetzten«, die die ersten beiden Gruppen charakterisieren (Janke 2009, 8f.). Die in der gleichen Studie entworfenen Einkaufstypen verstärken diesen Eindruck: Einzig für den »Budget Shopper« werden Determinanten sozialer Ungleichheit (geringe finanzielle Ressourcen) als Bedingung für die Wahl des Geschäftes und die Kaufentscheidungen genannt: Diese Personen würden über »nicht viel Geld« verfügen und »wenig Interesse an Lebensmitteln« zeigen (Janke 2009, 14). Dies suggeriert, dass bei geringen finanziellen Ressourcen ein kausaler Zusammenhang zu einem geringen Interesse an Ernährung und Lebensmitteln bestehe, was jedoch Erkenntnissen aus ernährungswissenschaftlichen Studien zu diesem Thema widerspricht (vgl. Ames 2007).
2.2.7
Zusammenfassung
In diesem Unterkapitel beschäftigte ich mich mit der Erkenntnislage zu Ernährung und sozialer Ungleichheit im deutschen Kontext und wertete dazu Untersuchun11
Die Studie »Vernunft und Versuchung« entstand im Auftrag von Gruner + Jahr Media Sales.
2 Forschungsstand
gen aus den Ernährungswissenschaften sowie der Armutsforschung aus. In beiden Disziplinen bilden die Zusammenhänge von Ernährung und sozialer Ungleichheit lediglich Randthemen. Gleichwohl gilt die Abhängigkeit der Ernährung von Klassenvariablen wie dem Einkommen und dem Bildungsgrad inzwischen als gut belegt (Fekete und Weyers 2016, 197). Unbefriedigend ist hingegen der Wissensstand zu den Zusammenhängen von Ernährung und Aspekten sozialer Ungleichheit, die über das Einkommen hinausgehen, wie race oder Geschlecht. Anders als etwa in den USA, Kanada und womöglich in naher Zukunft Großbritannien liegen zum Ausmaß von Ernährungsunsicherheit aus finanziellen Gründen in Deutschland nur Annäherungen vor. Diese aus repräsentativen Studien wie dem PASS (Christoph u.a. 2016, 5), der EU-SILC (Statistisches Bundesamt 2015a, 24) und der EVS (Statistisches Bundesamt 2016, 68) stammenden Indizien weisen jedoch darauf hin, dass Ernährungssicherheit auch in Deutschland nicht für alle gegeben ist und ein Leben nach dem Standard der Grundsicherung der Arbeitslosenund Sozialhilfe ein erhöhtes Risiko für Ernährungsunsicherheit birgt (Kersting und Clausen 2007). So gaben laut der EVS Haushalte mit einem Nettoeinkommen von unter 900 Euro im Jahr 2013 im Schnitt monatlich 106,51 Euro für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke aus, das heißt 118,36 Euro weniger als der durchschnittliche Haushalt (Statistisches Bundesamt 2016, 68). Hochgerechnet gehören rund drei Millionen Haushalte, das heißt rund 3,3 Millionen Personen, dieser Einkommensklasse an. Sie bilden rund 4,1 % der deutschen Bevölkerung des Jahres 2013 (Statistisches Bundesamt 2013, 5). Dieser Wert entspricht in etwa dem Anteil, den die Gallup World-Befragung ermittelt hat. Ihr zufolge leben 4,3 % der deutschen Bevölkerung nach den Kriterien der FIES in ernährungsunsicheren Lebensumständen. Im Vergleich zu anderen Industrieländern wie Kanada, Großbritannien oder den USA ist der Anteil der Betroffenen in Deutschland zwar relativ gering (FAO 2016, 36ff.), die absolute Zahl und der nicht erfasste Anteil von Haushalten, die in leichter Ernährungsunsicherheit leben, stellt die geringe Präsenz des Themas jedoch infrage. Berichte aus der Praxis sowie kleinformatige Studien belegen zudem, dass sich diese Unsicherheit im Alltag als Belastung widerspiegelt. Problematisch sind nicht nur die möglichen gesundheitlichen Folgen einer eingeschränkten Ernährung, sondern auch die sozialen Konsequenzen: Der Ausschluss von alimentärer Teilhabe z.B. in Form von Restaurantbesuchen oder der Einladung von Freund*innen zum Essen ist unter Personen, die Leistungen aus dem Rechtskreis des SGB II beziehen, sehr weit verbreitet. Gleichzeitig wird es als besonders schwerwiegende Einschränkung empfunden, Mahlzeitenmustern nicht entsprechen zu können. Angesichts von über drei Millionen Menschen, die von moderater oder schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen sind, das heißt aus finanziellen Gründen auf Lebensmittelqualität oder -vielfalt verzichten, Mahlzeiten auslassen, sich Mengenbeschränkungen auferlegen oder sogar Hunger erleben und einer unbekannten Anzahl von Menschen, die sich Sorgen um die Beschaffung der nächsten Mahl-
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
zeit machen müssen, ist das Thema Ernährungssicherheit in Deutschland bisher wenig präsent. Umso relevanter erscheint diese Arbeit, in der die Erreichbarkeit von Lebensmitteln in Deutschland umfassend untersucht wird und so eine wissenschaftliche Grundlage zur politischen Bearbeitung des Problemfeldes gelegt wird. Zu dieser Betrachtung gehört nicht nur die Berücksichtigung sozioökonomischer Faktoren, sondern auch die Beachtung physisch-räumlicher Bedingungen des Zugangs zu Lebensmitteln. Dem Stand der Forschung zu diesem Bereich ist das nachfolgende Kapitel gewidmet.
2.3
Räumliche Bedingungen für den Zugang zu Lebensmitteln
Eine räumliche Dimension, die in den USA und Großbritannien als Aspekt des Zusammenhangs von Ernährung und sozialer Ungleichheit selbstverständlich diskutiert wird, wird in deutschen Untersuchungen höchstens angerissen (Feichtinger 1995, 301; Kamensky 1995, 245; Muff 2009, 110; Neuloh und Teuteberg 1979, X). Selbst im Tagungsband Ernährung und Raum der Arbeitsgemeinschaft für Ernährungsverhalten wird ein räumlicher Einfluss auf Ernährungsverhalten ausschließlich auf der Ebene von Regionen diskutiert, etwa im Kontext von ländlichen und urbanen Lebensräumen oder geographischen Regionen wie »Süddeutschland« (Gedrich und Oltersdorf 2002a). Ein ähnlicher Raumbezug wird auch in der NVS angelegt (Max Rubner-Institut 2008a, 69). Verweise auf Einflussfaktoren auf einer kleinräumlicheren Ebene (z.B. des Wohnviertels) bleiben meist aus (vgl. Gedrich und Oltersdorf 2002b). Eine dezidiert räumliche Perspektive nehmen hingegen die nahrungsbezogenen Untersuchungen in den verschiedenen Forschungszweigen der Geographie ein, die von globalen und transnationalen Warenströmen über die Verteilung von Produktionsstandorten auf nationaler und regionaler Ebene und die Organisation kommunaler Ernährungsnetzwerke bis hin zu Haushalten verschiedene räumliche Ebenen berücksichtigen (vgl. Mandelblatt 2012). So setzte sich die Agrargeographie bis in die 1980er Jahre stark mit der landwirtschaftlichen Produktion von Nahrungsmitteln auseinander, während sich die Wirtschaftsgeographie nach dem Zweiten Weltkrieg intensiv mit der Ernährungswirtschaft und der Nahrungsmittelindustrie beschäftigte. Mit Standort- und Betriebsformenveränderungen im (Lebensmittel-)Einzelhandel und der Einkaufsstättenwahl setzt sich wiederum die geographische Handelsforschung auseinander (vgl. Dannenberg, Willkomm und Zehner 2017; Heinritz, Klein und Popp 2003). In der geographischen Entwicklungsforschung interessiert hingegen die Ernährungssicherung in Ländern des Globalen Südens und in der jüngeren politischen Geographie stehen Fragen nach der Globalisierung des Agrofood-Sektors und von Ernährungssouveränität im Fokus (Schmied 2018, 10ff.). Während sich ein Großteil dieser Arbeiten auf die
2 Forschungsstand
Produktion von Lebensmitteln bezieht, ist seit den 1990er Jahren in der Kulturgeographie eine verstärkte Zuwendung zum Bereich des Konsums zu beobachten (Schmied 2018, 11f.), den Robert Pütz und Frank Schröder gar als konstitutives Element der Neuen Kulturgeographie bezeichnen (Pütz und Schröder 2011, 989). Thematisiert werden Konsumpraktiken unter anderem in Bezug auf die für diese Arbeit relevanten Felder der Identitätsbildung und der Identitätsvermittlung sowie als Mittel der Vergemeinschaftung (Mansvelt 2005, 23ff.; Patzwahl 2015, 96ff.). Von Ausnahmen12 abgesehen dominiert in der Wirtschaftsgeographie hingegen weiterhin eine produktionsorientierte Sichtweise (Ermann 2013, 177). Im deutschsprachigen Raum noch vergleichsweise jung sind die Agrofood Studies, die die Produktions- und Konsumtionssphäre von Ernährung, das heißt Landwirtschaft, Ernährungsindustrie, Distributions- und Konsumwelten in einen Gesamtzusammenhang stellen. Zu diesem Forschungsprogramm tragen auch Geograph*innen bei (vgl. Ermann u.a. 2018; Reiher und Sippel 2015). Nach einer Einführung in die raumordnerische Verankerung der Nahversorgung (Kapitel 2.3.1) vertiefe ich die Aspekte, die für die physisch-räumliche Erreichbarkeit von Lebensmitteln relevant erscheinen. Dazu gehören Untersuchungen zum Standortnetz und zur Betriebsformenstruktur im Lebensmitteleinzelhandel (Kapitel 2.3.2) sowie zur Situation der Nahversorgung in Deutschland (Kapitel 2.3.3).
2.3.1
Nahversorgung in der Raumordnung
Die Sicherung von Ernährung ist eine soziale und raumordnerische Aufgabe, deren Übernahme von einem Wohlfahrtsstaat erwartet wird. Aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG, Schutz und Achtung der Menschenwürde) und Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) lässt sich eine staatliche Gewährleistungspflicht für Menschen ableiten, die nicht für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen können – unter anderem zur Versorgung mit Lebensmitteln (FIAN 2012, 7). Darüber hinaus verpflichtet § 2 Abs. 2 Raumordnungsgesetz (ROG)13 zur Daseinsvorsorge, die die flächen12 13
Vgl. beispielsweise das Special Issue zu (Wirtschafts-)Geographien des Essens der Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie (Rosol und Strüver 2018). »Im Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland und in seinen Teilräumen sind ausgeglichene soziale, infrastrukturelle, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Verhältnisse anzustreben. Dabei ist die nachhaltige Daseinsvorsorge zu sichern, nachhaltiges Wirtschaftswachstum und Innovation sind zu unterstützen, Entwicklungspotenziale sind zu sichern und Ressourcen nachhaltig zu schützen. Diese Aufgaben sind gleichermaßen in Ballungsräumen wie in ländlichen Räumen, in strukturschwachen wie in strukturstarken Regionen zu erfüllen. Demographischen, wirtschaftlichen, sozialen sowie anderen strukturverändernden Herausforderungen ist Rechnung zu tragen, auch im Hinblick auf den Rückgang und den Zuwachs von Bevölkerung und Arbeitsplätzen; regionale Entwicklungskonzepte und Bedarfsprognosen der Landes- und Regionalplanung sind einzubeziehen. Auf einen Ausgleich
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
deckende öffentliche Bereitstellung oder Gewährleistung eines ausreichenden Angebotes lebensnotwendiger und gemeinwohlorientierter Güter und Dienstleistungen bezeichnet. Welche Güter und Dienstleistungen zur Daseinsvorsorge gehören und in welcher Qualität und in welcher Form sie bereitgestellt werden, ist Thema fortlaufender politischer Diskussionen. Während ein Konsens darüber besteht, dass die Wasser- und Energieversorgung, Telekommunikation, Postdienstleistungen, der öffentliche Nah- und Fernverkehr, die Abfall- und Abwasserentsorgung genauso zum Bereich der Daseinsvorsorge gehören wie die Grundversorgung mit sozialen, gesundheitlichen und bildungsbezogenen Dienstleistungen (Einig 2008, 17), herrscht keine Einigkeit darüber, ob die Versorgung mit Waren über den Einzelhandel zur Daseinsvorsorge zu zählen ist und welche Aufgabe der Raumordnung in diesem Bereich zukommt (BMVBS 2010, 45). Unabhängig davon, ob Waren des kurzfristigen Bedarfs wie Lebensmittel dem Aufgabenfeld der Daseinsvorsorge zugeordnet werden, betonen Günther Heinritz und Monika Popp die Bedeutung, die dem Einzelhandel für das Funktionieren des Gemeinwesens zukommt sowie die Regulationsaufgabe, die Politik und Planung hinsichtlich der räumlichen Ordnung des Einzelhandels haben (Heinritz und Popp 2011, 1009). Flächennutzungspläne, die über die Zulässigkeit von Einzelhandelsbetrieben in bestimmten Gebieten entscheiden sowie Einzelhandelskonzepte sind Instrumente, die für diese Zwecke in Anspruch genommen werden. Die auch mit dem Ziel der Nahversorgungssicherung aufgestellten Konzepte sind eine für diese Arbeit relevante Datenquelle: Für eine Reihe von Städten habe ich sie auf räumliche Versorgungslücken in der wohnortnahen Grundversorgung oder Nahversorgung hin analysiert (siehe Kapitel 2.3.3). Der Begriff der Nahversorgung ist jedoch weder in Hinsicht auf die Art und den Umfang der Versorgungsangebote einheitlich bestimmt noch hinsichtlich der zwischen Wohn- und Versorgungsstandort zurückzulegenden Distanz oder Wegezeit (Junker und Kühn 2006, 27). Der Nahversorgung zugeordnet werden aber in jedem Fall Güter des täglichen oder kurzfristigen Bedarfs (Burgdorf, Krischausky und Müller-Kleißler 2015, 3; Kühn 2011, 5), zu denen insbesondere Lebensmittel gehören. Als Bewertungsmaßstab für räumliche Nähe dient in der Regel fußläufige Erreichbarkeit, die in Gehzeiten (rund 10 Minuten) oder Distanz (500 bis 1.000 Meter) gemessen wird (Krüger u.a. 2013, 14; Freudenau und Reuter 2007, 1). Was aus planerischer Sicht als »qualifizierte Nahversorgung« gilt (Klein 2014, 89f.; Krüger u.a. 2013, 14), ist abhängig von der Bevölkerungsanzahl und –dichte sowie der Einordnung des Standortes im hierarchischen Zentrensystem einer Stadt. Während Thomas Krüger et al. für kleinere Gemeinden im ländlichen Raum ein kleines Lebensmittelgeschäft mit einer Verkaufsfläche von bis zu 400 Quadratmetern »durchaus als angemessen für die Versorgung räumlicher und struktureller Ungleichgewichte zwischen den Regionen ist hinzuwirken« (§ 2 Abs. 2 ROG).
2 Forschungsstand
der Bevölkerung mit Lebensmitteln« ansehen (Krüger u.a. 2013, 14), sollte in städtischen Bereichen eine vollständige Deckung des täglichen Bedarfs an Lebensmitteln, die Grundversorgung im Quartier oder Wohnnahbereich, idealtypisch durch eine Kombination von verschiedenen Betriebstypen, nämlich kleinflächigen Supermärkten, Bäckereien, Metzgereien und anderen Lebensmittelgeschäften, gesichert werden (Junker und Kühn 2006, 29). Auf Orts- und Stadtteilebene sollte diese um weitere Lebensmittelfachgeschäfte, großflächige Betriebstypen des Lebensmitteleinzelhandels und eine Reihe von Dienstleistungen ergänzt werden (siehe Tabelle 1).
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Tabelle 1 Mindestausstattung mit Einrichtungen der Nahversorgung in Städten Hierarchische Ebene Nahversorgung im Quartier: Nachbarschaftsgeschäfte und Solitärstandorte
Grundversorgung im Ortsteil: Ortsteilzentrum als Nahversorgungszentrum – oder ggf. mehrere Versorgungskerne
Waren Lebensmittelgeschäfte
Dienstleistungen Gastwirtschaft
Bäcker Schlachter kleiner Supermarkt Lebensmittelgeschäfte
Post/-agentur
Bäcker
Ärzte
Schlachter
Apotheke
Supermarkt
Gesundheitsdienste
ggf. Verbrauchermarkt (mit Getränkemarkt)
Restaurant/Café
Lebensmitteldiscounter
Gastwirtschaft
Drogerie
Reinigung
Blumen
Toto/Lotto
Tabak, Zeitschriften
Frisör
Schreib-, Papierwaren
Stadtteilversorgung: Stadtteilzentrum mit Marktplatzfunktion für den Stadtteil und darüber hinaus
Lebensmittelgeschäfte
Bank/Sparkasse
Bäcker
Post/-agentur
Schlachter
Ärzte
Reformhaus, Naturkost
Apotheke
Feinkostladen
Gesundheitsdienste
Supermarkt
Restaurant/Café
ggf. Verbrauchermarkt
Gastwirtschaft
Lebensmitteldiscounter
Reinigung
Getränkemarkt
Toto/Lotto
Spirituosen
Frisör
Drogerie
Reisebüro
Schreib-, Papierwaren
Versicherungsagentur
Tabak, Zeitschriften
Bürgerbüro
Buchhandel
soziale Einrichtungen kirchliche Einrichtungen
Quelle: Eigene Darstellung der Tabelle von Junker und Kühn 2006, 29.
Diese Konkretisierung der unter Nahversorgung subsumierten Angebote lässt nur zum Teil Rückschlüsse auf die im Lebensmittelbereich vorhandenen oder fehlenden Sortimente zu. So ist es abhängig von der Bevölkerung, ob Lebensmittelge-
2 Forschungsstand
schäfte Angebote etwa für die deutsche, arabische, türkische oder osteuropäische Küche bieten und die Metzgerei eher halal geschlachtetes Fleisch oder Fleischwurst vom Schwein anbietet. Für Stefanie Böge und Dagmar Fuhr sind Vielfalt, Nähe und die Autonomie von Käufer*innen wesentliche Bestandteile einer qualitativ hochwertigen Nahversorgung (Böge und Fuhr 2004, 3). Diese Definition verweist auf die Notwendigkeit, für die Bewertung von Nahversorgung über die Kartierung von Betriebsformen hinauszugehen und sich konkret mit den vorhandenen Sortimenten zu beschäftigen. Die kleinräumliche Untersuchung in dieser Arbeit erlaubt eben dies.
2.3.2
Der Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland – Betriebsformenwandel und sich verändernde Standortpolitik
Obwohl sich die Lieferdienste von Supermarktketten im Ausbau befinden und Lebensmittel inzwischen auch im Internet bestellt werden können, werden die Geschäfte des Lebensmitteleinzelhandels weiterhin als wichtigste Möglichkeit angenommen, sich mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die Standortentscheidungen des Lebensmitteleinzelhandels gestalten das Versorgungsnetz innerhalb einer Stadt und beeinflussen, welche Lebensmittel in welcher Qualität und zu welchem Preis angeboten und gekauft werden. Der folgende Abschnitt schafft einen Überblick über die Arbeiten aus der geographischen Handelsforschung sowie der Raumforschung, die sich mit der Entwicklung des Lebensmitteleinzelhandels und der räumlichen Ordnung des Nahversorgungsnetzes beschäftigen. Die Struktur des Lebensmitteleinzelhandels, der bis in die 1950er Jahre vom kleinflächigen, inhabergeführten »Tante-Emma-Laden« geprägt war, änderte sich in den 1960er Jahren grundsätzlich: Die Einführung des Selbstbedienungsprinzips ging mit der Verbreitung von Supermärkten in den 1960er Jahren einher, die die mit höherem Einkommen und wachsendem Wohlstand entstehenden Konsumwünsche erfüllten. Großunternehmen entstanden ab Mitte der 1970er Jahre durch den Zusammenschluss von Einzelhändler*innen in Einkaufsgenossenschaften, später durch Fusionen, Aufkäufe und Übernahmen (Heinritz, Klein und Popp 2003, 38). Die Expansion von Discountern ab den 1960er Jahren sowie die neue Konkurrenz durch Verbrauchermärkte und SB-Warenhäuser, die sich ab den 1970er Jahren bevorzugt in städtischen Randlagen niederließen (Million 2009, 49), führte zur Schließung vieler kleinflächiger Lebensmittelgeschäfte und Supermärkte in zentralen Stadtbereichen. Die Konzentrationsprozesse auf Unternehmensebene, die mit einer Internationalisierung der Unternehmen, dem Wandel von Betriebsformen sowie einer sinkenden Zahl von Einkaufsstätten und einem Wachstum der Verkaufsflächen einhergehen, resultieren in Veränderungen der Standortstruktur und sind die prägenden Elemente des »Handels im Wandel«, der nicht nur im Le-
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
bensmittelbereich zu beobachten ist (Heinritz, Klein und Popp 2003, 37ff.; Pütz 1998, 15). Parallel zur Reduzierung der Zahl der Einkaufsstätten (siehe Abbildung 5) vollzog sich eine Vergrößerung der Verkaufsflächen. Allein zwischen 1990 und 2010 nennt der Zahlenspiegel 2011 des Handelsverbands Deutschland e. V.14 (HDE) ein Verkaufsflächenwachstum im Lebensmitteleinzelhandel von 58 % (Krüger u.a. 2013, 7). Dieses Wachstum setzte sich in den letzten zehn Jahren nicht in gleichem Maße fort. Für den Zeitraum 2010 bis 2017 ermittelt der HDE nur noch eine Zunahme von 7,7 %, die insbesondere auf die Verkaufsflächenvergrößerungen der Betriebsformen Discounter und Supermarkt15 zurückzuführen sind (HDE 2018b, 26). Auch die Reduzierung der Verkaufsstellenzahl hat sich in den letzten Jahren weniger stark fortgesetzt als zuvor. Während sich die Gesamtstruktur mit der Wiedervereinigung ändert und die Zahl der Verkaufsstellen zwischen 1990 und 2010 um 46 % zurückging (Krüger u.a. 2013, 8), blieb sie zwischen 2010 und 2017 relativ stabil (HDE 2018b, 26). Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Standortnetz der Lebensmittelgeschäfte keinen Veränderungen unterliegt. So wurden unter den Schlagworten Optimierung und Bereinigung 2017 mehr als 230 Supermarktfilialen neu eröffnet und 165 Filialen an »unwirtschaftlichen Standorten« geschlossen oder in Discounter umgewandelt (EHI 2018). Außerdem nahm die Zahl kleiner Lebensmittelgeschäfte, die vor allem für die wohnortnahe Versorgung auf Quartiers- und Ortsteilebene als relevant erachtet werden, um 2.543 Verkaufsstellen ab (HDE 2018b, 26). Auch wenn der Trend der Verkaufsstellenreduzierung im Lebensmitteleinzelhandel gebremst ist, sollten die Konsequenzen der Standortverlagerungen und Standortwahl von Neueröffnungen für eine wohnortnahe Versorgung insbesondere von benachteiligten Bevölkerungsgruppen beobachtet werden. Der Strukturwandel des deutschen Einzelhandels, darunter der Lebensmitteleinzelhandel, weist Charakteristika auf, die in Großbritannien seit den 1980er Jahren (Cummins und Macintyre 1999, 546) und in den USA bereits seit den 1950er Jahren (Alwitt und Donley 1997, 140; Hahn 2006, 299f.) beobachtet werden und dort zur Erklärung sogenannter food deserts (siehe Kapitel 4.2) herangezogen werden (vgl. beispielsweise Policy Action Team 1999, 27f.): Betriebsformen, die ein größeres Sortiment bereitstellen und größere Verkaufs- und Nebenflächen (vor allem 14
15
Der HDE versteht sich »als Spitzenorganisation des deutschen Einzelhandels […], das legitimierte Sprachrohr der Branche gegenüber der Politik« (Handelsverband Deutschland 2018a). Aus Mangel an Daten aus öffentlich zugänglichen wissenschaftlichen Quellen wird zur Beschreibung der Trends im Lebensmitteleinzelhandel auf die Zahlen dieser Lobbyorganisation zurückgegriffen. Es liegen die Betriebsformendefinitionen des EHI Retail Institute zugrunde, die Supermärkte als Vollsortimenter mit einer Verkaufsfläche zwischen 400 und 1.500 Quadratmeter definiert.
2 Forschungsstand
Zahl der Lebensmittelgeschäfte in Deutschland
Abbildung 5 Zahl der Lebensmittelgeschäfte in Deutschland im zeitlichen Verlauf SB-Warenhäuser/Verbrauchermärkte
Discounter
Supermärkte
Übrige Lebensmittelgeschäfte
180.000 160.000 140.000 120.000 100.000 80.000 60.000 40.000 20.000 0
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
2007
Anmerkungen zu Abbildung 5: Ab 31.12.1974 wurden die zuvor als Verbrauchermärkte ausgewiesenen Betriebe mit Verkaufsflächen von 1.000 bis 1.499 qm den Supermärkten zugerechnet; die Lebensmittelabteilungen der Waren- und Versandhäuser wurden entsprechend ihrer Größte den Supermärkten oder den übrigen Lebensmittelgeschäften zugeteilt. Bis 1990 wurden Discounter zu den Übrigen Lebensmittelgeschäften gezählt und erst ab 1991 getrennt ausgewiesen. Seit 1991 sind außerdem Lebensmittelgeschäfte in den neuen Bundesländer und Aldi enthalten. Quelle: Eigene Darstellung. Datengrundlage: EHI 2004:114f. und EHI 2008: 194.
für Parkplätze) benötigen, gewinnen stark an Einfluss. Der Einzelhandel zieht der durch Suburbanisierung verlagerten Kaufkraft in suburbane Gebiete nach und siedelt sich in Form neuer Shoppingcenter entlang der Ausfallstraßen an. Die heutige Struktur des deutschen Lebensmitteleinzelhandels wird als Oligopolsituation beschrieben (Heinritz, Klein und Popp 2003, 39). Nur vier Unternehmen, Edeka, Rewe, die Schwarz-Gruppe und Aldi, erwirtschaften mehr als drei Viertel der Umsätze, die mit Endkunden im deutschen Lebensmitteleinzelhandel erzielt werden (Bundeskartellamt 2014, 3). Die Strukturreformen im Lebensmitteleinzelhandel haben Auswirkungen auf die Standortpolitik der Unternehmen und führen zur Veränderung des Versorgungsnetzes in deutschen Städten: Der Bedarf an Fläche steigt. Dies resultiert insbesondere aus der Ausrichtung an der Kundschaft, die mit dem Auto vorfährt. Das
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
erweiterte Sortiment spielt beim Flächenbedarf, der für neue Standorte angegeben wird gegenüber der Fläche, die für Parkplätze vorgesehen ist, eine untergeordnete Rolle (Junker und Kühn 2006, 36ff.). Auch die Wahl des Standortes in Abhängigkeit vom Straßennetz oder der Bau neuer großer Lebensmittelgeschäfte mit vorgelagerten, gut sichtbaren Parkplätzen ist stark auf die Kundschaft ausgerichtet, die mit dem Auto einkauft. Weniger einschränkende Bauauflagen z.B. hinsichtlich Architektur und Grundstücksausnutzung machen Sondergebiete an den Rändern von Gemeinden als Standorte für Supermärkte, Discounter, SB-Warenhäuser und Verbrauchermärkte attraktiv. Der Magnetwirkung der neuen großflächigen Geschäfte an den Stadträndern können viele kleinflächige Verkaufsstätten in den Zentren und Wohnlagen nicht standhalten (Zehner 2004, 5). Dieser Trend betrifft nicht nur den ländlichen, sondern auch den städtischen Raum, vor allem deren Randbereiche: Auch wenn im Gegensatz zu einigen ländlichen Räumen die Grundversorgung noch gegeben ist, wird das Netz von Lebensmittelgeschäften durch die Schließung von Standorten in zentralen Lagen weitmaschiger, die fußläufige Erreichbarkeit somit diffiziler (BBE 2009, 8; BMVBS 2011a, 15). Im Fokus der auf den Lebensmitteleinzelhandel bezogenen Forschung stehen Supermärkte und Discounter. Anderen Betriebsformen wie dem Lebensmittelhandwerk, kleinen selbstständig geführten Lebensmittelgeschäften und Wochenmärkten kommt weit weniger Aufmerksamkeit zu, obwohl ihnen im Sinne einer qualifizierten Nahversorgung dezidiert ein Wert zugesprochen wird.16
2.3.3
Nahversorgung in Deutschland
Nahrungsmittel sind in der räumlichen Planung noch »ein neues Thema« (Institut für Raumplanung 2008, 11), obwohl das Ernährungssystem nicht nur zu den wichtigen städtischen Versorgungssystemen gehört, sondern seine Verfasstheit auch die wirtschaftliche, ökologische, kulturelle und soziale Lage von Städten beeinflusst (Stierand 2008, 210; vgl. auch Rosol 2015). Die Beschäftigung beschränkt sich bisher vor allem auf den Bereich der Nahversorgung. Dabei sind theoretisch-kritisch angelegte Arbeiten bisher rar, die Nahversorgung nicht auf Grundlage von Distanzen und einem standardisierten, durch Betriebsformen wie Supermarkt oder Discounter abgebildeten Angebot untersuchen (Jürgens 2014, 3).17 Rationalitäten potenzieller Kund*innen, die über Nähe- und Preisvorstellungen hinausgehen, finden keine 16 17
Vgl. für das Format Wochenmarkt Kusch und Langsenkamp (2014) oder Weig (2009); vgl. für kleinflächige, migrantengeführte Lebensmittelgeschäfte Everts (2008). Eine Ausnahme ist das Teilprojekt »Lebensmittel in der Stadt« des Verbundprojektes EVALO: Eröffnung von Anpassungsfähigkeit für lebendige Orte, das wie das Studienprojekt »Nahrungsmittel und Raumplanung« der Fakultät für Raumplanung an der Technischen Universität Dortmund den Versuch einer holistischen Betrachtung städtischer Ernährungssysteme unternimmt (vgl. Böge und Fuhr 2004; Institut für Raumplanung 2008).
2 Forschungsstand
Berücksichtigung. Einschränkungen von Lebensqualität, die auf einer als unzureichend wahrgenommenen Nahversorgung beruhen, können entsprechend kaum ermittelt werden. Entsprechend besteht bei den Untersuchungen, die im folgenden Abschnitt berücksichtigt werden, ein starker Anwendungsbezug. Neben Gutachten, die im Auftrag von kommunalen Planungsbehörden den Zustand der Nahversorgung dokumentieren, werden Expertisen für Unternehmensverbände (BBE 2009; Krüger u.a. 2013) und Zusammenstellungen öffentlicher Institutionen (Deutscher Städtetag 2005; ILS 2007) herangezogen. Arbeiten, die den Zustand der Nahversorgung auf Grundlage der subjektiven Bewertung durch Kund*innen untersuchen, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Heinritz, Klein und Popp beziffern den Anteil der Bevölkerung, der mit der wohnortnahen Versorgung unzufrieden ist, im Jahr 2002 mit 12 bis 15 %. Demnach ist die Mehrheit mit der Versorgungssituation zufrieden (Heinritz, Klein und Popp 2003, 148). Krüger et al. befragten 2012 im Auftrag des Handelsverbands Deutschland und des Bundesverbandes des deutschen Lebensmittelhandels rund 4.000 Personen in acht Stadt- und Landkreisen ebenfalls zur Versorgungszufriedenheit. Die Versorgungssituation am Wohnstandort bewerteten die Befragten insgesamt als gut. In den Städten Erfurt und Düsseldorf wurden die Versorgungsmöglichkeiten besser bewertet als in den Landkreisen, die für die Raumtypen verdichtetes Umland, ländliches Umland oder ländlichen Raum stehen. Die schlechteste Bewertung erhielt mit der immer noch relativ guten Schulnote 2,46 ein Gebiet des Typs ländliches Umland. Unterschiede in der Zufriedenheit nach sozioökonomischen Merkmalen bestehen in der Studie nicht (Krüger u.a. 2013, 37). Eine Telefonbefragung von 2009 mit rund 500 Personen kommt ebenso zu dem Ergebnis, dass die Zufriedenheit mit der Lebensmittelversorgung in Großstädten höher ist als im ländlichen Raum (BBE 2009, 84). Auf Grundlage von Daten der »Stadtleben«Studie aus den Jahren 2002/2003 ermittelte die ExWoSt-Studie »Nahmobilität und Nahversorgung – Gute Beispiele integrierter Erschließungskonzepte« Werte zur Zufriedenheit mit der Lage der Nahversorgung in unterschiedlichen Wohngebieten der Großregion Köln.18 Über alle Gebiete hinweg betrug die Zufriedenheit mit den Einkaufsmöglichkeiten im Wohnumfeld 3,6 von 5 Punkten. Besonders hohe Zufriedenheitswerte wurden in den dichten, nutzungsgemischten und innerstädtischen Quartieren, einem innerstädtischen Zeilenbaugebiet, einem Wohngebiet
18
Für »StadtLeben« wurden rund 2.700 Bewohner*innen unterschiedlicher Gebietstypen der Großregion Köln befragt. Jeweils mit zwei Untersuchungsgebieten vertreten waren die Typen »hochverdichtetes Innenstadtgebiet der Gründerzeit«, »durchgrüntes Zeilenbaugebiet der Nachkriegszeit in Innenstadtrandlage«, »periphere Wohngebiete am Rand der Kernstadt Köln«, »Mittelzentren des suburbanen Umlands« und »peripheres Wohngebiet des suburbanen Umlands« (BMVBS 2011b, 5).
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
am Kölner Stadtrand und einem suburbanen Mittelzentrum erreicht. Diese Gebiete eint, dass dort mit Ausnahme des suburbanen Mittelzentrums ein erheblicher Teil der Einkäufe zu Fuß erledigt wird. Die Autor*innen folgern daraus, dass sich ein fußläufig erreichbares Versorgungsangebot stark in hohen Zufriedenheitswerten widerspiegelt (BMVBS 2011b, 26). Barbara Weig hingegen konstatiert ebenfalls in Bezug auf Köln eine weniger hohe Zufriedenheit: In 11 von 28 Kölner Stadtteilen wurde die Versorgungssituation als nur mittelmäßig bewertet (Weig 2009, 7). In Nürnberg gaben hingegen 77 % der Befragten an, mit den Einkaufsmöglichkeiten für den täglichen Bedarf im Stadtteil zufrieden zu sein, nur 5 % der Befragten benannten zu weite Wege zu diesen Versorgungsmöglichkeiten als Defizit ihres Stadtteils (Burkhard und Deinlein 2006, 16, 38). Bezogen auf sozioökonomische Faktoren, die Einfluss auf die Zufriedenheit mit den lokalen Nahversorgungsmöglichkeiten nehmen könnten, kommen Krüger et al. als auch die BMVBS-Auswertung der »StadtLeben«-Daten übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die räumlichen Unterschiede die Differenzen nach sozioökonomischen Kriterien überwiegen (BMVBS 2011b, 26; Krüger u.a. 2013, 37). Eine amtliche Berichterstattung zur Lage der Nahversorgung in Deutschland existiert nicht. Für viele Infrastrukturbereiche die der Nahversorgung dienen, bestehen keine Gesetze oder Verordnungen, die eine entsprechende statistische Erfassung vorschreiben (Burgdorf, Krischausky und Müller-Kleißler 2015, 4). Ähnlich wie die Hinweise, die für die Existenz finanziell bedingter Ernährungsunsicherheit vorliegen, bestehen jedoch Indizien, dass auch bei der räumlichen Erreichbarkeit von Lebensmitteln Einschränkungen vorliegen, bisher zumeist aus Untersuchungen, deren Hauptinteresse ein anderes war, z.B. das Verkehrsverhalten. Die verwendeten Indikatoren beziehen sich daher auf den Aspekt der zeitlich-räumlichen Erreichbarkeit der Versorgungsstandorte, beruhen auf den berichteten Distanzen und Wegzeiten der Befragten und gehen nicht auf die Qualität der Sortimente ein. Aufgrund variierender Kategorien und unterschiedlicher räumlicher Bezüge sind die einzelnen Studien nicht einfach miteinander zu vergleichen. So ermittelten Henrik Freudenau und Ulrike Reuter auf Grundlage von Mobilitätspaneldaten, dass 2003 13,9 % der Haushalte in Westdeutschland keine Einkaufsmöglichkeiten für den täglichen Bedarf im Umkreis von zwei Kilometern um die eigene Wohnung vorfinden (Freudenau und Reuter 2007, 2). Acht Jahre später hat sich der Anteil der Befragten, die angeben, für Einkäufe des täglichen Bedarfs mehr als zwei Kilometern zurücklegen zu müssen, nicht verändert, sondern liegt weiterhin bei 14 % (Vortisch u.a. 2012, 54). Aus der Panelstudie »Mobilität in Deutschland!« von 2008 ist bekannt, dass 65 % der Befragten Einkaufsgelegenheiten für den täglichen Bedarf sehr gut oder gut zu Fuß erreichen können (BMVBS 2011a, 20). Dieser Wert widerspricht den Ergebnissen des CIMA-Kundenmonitors 2009, der feststellt, dass nur knapp 30 % der Befragten weniger als 500 Meter, der häufig zur Bestimmung von Fußläufig-
2 Forschungsstand
keit herangezogenen Distanz, von einem Lebensmittelgeschäft entfernt wohnen (BBE 2009, 61). Übereinstimmend wird auf gravierende Unterschiede zwischen den Gemeindegrößen verwiesen. Während in Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohner*innen nur 9 % der Befragten angaben, Geschäfte für den täglichen Bedarf schlecht bis gar nicht zu Fuß zu erreichen, betrifft dies in den Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohner*innen fast jede*n Vierte*n (39 %) (BMVBS 2011a, 20; vgl. auch Freudenau und Reuter 2007, 2). Das GfK Consumer Panel nutzt mit Autofahrminuten eine in Bezug auf die Nahversorgung ungewöhnliche Referenzgröße und erlaubt so keine direkten Rückschlüsse auf die Ausstattung mit Lebensmittelgeschäften im Nahumfeld der Wohnung: Verbraucher*innen in Deutschland erreichten im Schnitt innerhalb von 5 Autofahrminuten im Durchschnitt 5,5 Lebensmitteleinzelhandelsgeschäfte.19 In Städten seien in diesem Radius tendenziell eher mehr, auf dem Land etwas weniger Lebensmittelgeschäfte vorhanden (GfK 2016, 1). Die GIS-gestützte Analyse, die die räumliche Erreichbarkeit von Supermärkten, Lebensmitteldiscountern und anderen nahversorgungsrelevanten Einrichtungen bundesweit auf Grundlage von Standortdaten dieser Einrichtungen erfasst, stellt ein Novum dar. Als Indikatoren für verschiedene nahversorgungsrelevante Bereiche werden die Adressen von Supermärkten und Discountern, Hausärzten, Apotheken, Grundschulen und Haltestellen des ÖPNV herangezogen (Burgdorf, Krischausky und Müller-Kleißler 2015, 3). Die Autor*innen kommen jedoch zu einem ähnlichen Schluss wie die auf berichteten Distanzen und Wegzeiten beruhenden Studien: »Die Erreichbarkeit von Gütern und Dienstleistungen des erweiterten täglichen Bedarfs weist ein starkes Stadt-Land-Gefälle und damit einen offensichtlichen Zusammenhang mit der Siedlungsstruktur auf. In dicht besiedelten Gebieten ist eine fußläufige Erreichbarkeit die Regel. […] Mit abnehmender Größe und Zentralität der Städte und Gemeinden wachsen die Distanzen an und der Anteil der Einwohner im Bereich potenziell fußläufiger Erreichbarkeit nimmt ab.« (Burgdorf, Krischausky und Müller-Kleißler 2015, 14) Während in Großstädten für gut 90 % der Bevölkerung die Luftliniendistanz zum nächsten Discounter oder Supermarkt weniger als einen Kilometer beträgt, trifft dies in Landgemeinden nur für rund 30 % der Bevölkerung zu (Burgdorf, Krischausky und Müller-Kleißler 2015, 9). Die fußläufige Erreichbarkeit von Einrichtungen der Nahversorgung ist demnach vor allem, aber nicht ausschließlich ein Problem des ländlichen Raums. Auch in größeren Kleinstädten mit 10.000 bis
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Auch Drogeriemärkte werden in diesem Zusammenhang zu Lebensmittelgeschäften gezählt.
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
20.000 Einwohner*innen muss fast die Hälfte der Bewohner*innen mehr als einen Kilometer zum nächsten Supermarkt oder Discounter zurücklegen (Burgdorf, Krischausky und Müller-Kleißler 2015, 9). Die hier zugrunde liegende Distanz von einem Kilometer erscheint jedoch gerade für mobilitätseingeschränkte Menschen oder den Rückweg, bei dem der Einkauf zur Wohnung getragen werden muss, als hoch. Rolf Junker und Gerd Kühn geben vor dem Hintergrund einer urbanen und kompakten Siedlungsstruktur 500 bis 700 Meter als in der Planungspraxis gängige Distanzen für Fußläufigkeit an (Junker und Kühn 2006, 28). Entsprechend legen die als Grundlage für Einzelhandelskonzepte erarbeiteten Studien zur Nahversorgung in verschiedenen Großstädten von Donato Acocella et al. einen anderen Maßstab an und sehen eine Luftliniendistanz von 500 Metern zwischen Wohn- und Versorgungsort als fußläufig an. Mit diesem Standard ermitteln sie wesentlich höhere Bevölkerungsanteile, die als nicht nahversorgt gelten, obwohl im Gegensatz zur BBSR-Studie alle Lebensmittelgeschäfte ab 200 Quadratmeter berücksichtigt werden. In den Großstädten Braunschweig, Bonn, Essen, Heidelberg, Mannheim, Nürnberg, Potsdam und Stuttgart wohnen demnach durchschnittlich 20 % der Bevölkerung weiter als 500 Meter entfernt vom nächsten Lebensmittelgeschäft (siehe Tabelle 2).
2 Forschungsstand
Tabelle 2 Nahversorgungssituation in ausgesuchten Großstädten Kommune
Nahversorgungssituation
Braunschweig
18 % der Bevölkerung erreicht keinen Lebensmittelbetrieb innerhalb von 500 m zum Wohnort (Acocella und Helbig 2004, 26). Hinsichtlich der Betriebsformen und -größen und damit der Sortimentsbreite- und Tiefe gestaltet sich die Versorgung in verschiedenen Stadtteilen sehr unterschiedlich (Acocella und Helbig 2004, 29). Angebotslücken bestehen vor allem in städtischen Randlagen (Acocella und Helbig 2004, 47).
Bonn
18 % der Bevölkerung wohnen nicht in fußläufiger Erreichbarkeit zu einem Lebensmittelgeschäft (Acocella und Schnacke-Fürst 2006, 48). Die Autor*innen stellen diese Ergebnisse nur auf Ebene der vier Stadtbezirke dar, sodass keine Aussage über die räumliche Lage der nichtversorgten Wohngebiete möglich ist.
Essen
29 % der Bevölkerung ist im eigentlichen Sinn nicht nahversorgt. Dieser Anteil wohnt in einer Distanz von mehr als 500 m zu einem Lebensmittelgeschäft (Stadt Essen 2011, 7).
Hannover
12 % der Wohnbevölkerung können sich nicht in einer Distanz von 500 m zu ihrem Wohnort in einem Lebensmittelgeschäft mit mindesten 200 m² versorgen. Tendenziell verteilen sich die Nahversorgungsanteile ähnlich wie in anderen Großstädten: Wohnbereiche der Kernstadt liegen nahezu vollständig innerhalb der 500-Meter-Radien von Lebensmittelgeschäften, Angebotsdefizite bestehen in Randlagen (Acocella u.a. 2010, 53).
Heidelberg
25 % der Einwohner*innen sind nicht durch ein Lebensmittelgeschäft von mindestens 200 m² nahversorgt (Acocella, Helbig und Nagorny 2012, 36). Die Autor*innen sehen ein auch in anderen Großstädten vorhandenes Muster der Nahversorgung: Die engere Kernstadt ist sehr gut bis vollständig nahversorgt, während in einigen peripheren Stadtteilen deutlich unterdurchschnittliche Versorgungsquoten erreicht werden. Eine Ausnahme bildet die Südstadt (zentral, aber Versorgungsquote von nur 25 %, (Acocella, Helbig und Nagorny 2012, 38).
Mannheim
22 % der Bevölkerung müssen von ihrem Wohnort mehr als 500 m zum nächsten Lebensmittelgeschäft zurücklegen. Berücksichtigt wurden auch Lebensmittelgeschäfte mit einer Verkaufsfläche von weniger als 200 m². Die Nahversorgungssituation ist »somit insgesamt als gut zu bezeichnen« (Acocella und Schnacke-Fürst 2007, 56). In 13 von 16 Stadtteilen bestehen Wohngebiete, deren Bevölkerung nicht nahversorgt ist. Nur die zentralen Stadteile Innenstadt/Jungbusch, Neckarstadt-West und Schwetzingerstadt/Oststadt weisen eine nahezu vollständige Versorgungsabdeckung auf (Acocella und Schnacke-Fürst 2007, 53ff). Tendenziell fallen die Randlagen der Wohngebiete in weniger zentral gelegenen Stadtteilen aus dem 500-Meter-Radius der Nahversorgung heraus (Acocella und Schnacke-Fürst 2007, 55f.).
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Nürnberg
19 % der Bevölkerung wohnt nicht in fußläufiger Entfernung (500 m) zu einem Lebensmittelgeschäft mit mindesten 200 m² Verkaufsfläche. Während die Versorgung in den innerstädtischen Gebieten sehr gut bis vollständig ist, sind zahlreiche Randbezirke nur sehr gering nahversorgt (Acocella u.a. 2012, 36f.).
Potsdam
Nur rund 67 % der Bevölkerung erreichen fußläufig in einer Distanz von weniger als 500 m zu ihrem Wohnort ein Lebensmittelgeschäft. Dieser relativ niedrige Wert ist auf die niedrigen Nahversorgungsquoten (weniger als 40 %) im kleinteilig und dünn besiedelten Norden zurückzuführen (Acocella u.a. 2014, 49f.).
Stuttgart
23 % der Bewohner*innen müssen von ihrer Wohnadresse mehr als 500 m zum nächstgelegenen Lebensmittelgeschäft zurücklegen. Während die inneren Stadtbezirke mit der Ausnahme von Stuttgart-Nord überdurchschnittliche Nahversorgungsquoten aufweisen, liegen in vielen äußeren Stadtbezirken unterdurchschnittliche Werte vor. Die Bevölkerungszahlen der Stadtteile mit relativ schlechter Nahversorgungsquote sind mit Ausnahme der Stadtteile Lemberg/Föhrich, StammheimSüd, Zuff-Mönchsberg und Neugereut relativ gering und liegen teilweise deutlich unter 4.000 Einwohner*innen (Landeshauptstadt Stuttgart 2009, 50f.).
Quelle: Eigene Darstellung
Andere Gutachten zu Einzelhandelskonzepten beziffern nicht den nicht nahversorgten Anteil an der Gesamtbevölkerung, decken jedoch Siedlungsbereiche auf, die entsprechend der Kriterien unterversorgt sind. Dazu gehören in Düsseldorf Wohngebiete in den Randlagen von nicht zum Kernstadtbereich gehörenden Stadtteilen, die größtenteils, aber nicht nur, zu gering besiedelten Gebietstypen gehören (Landeshauptstadt Düsseldorf 2008, 30). In Frankfurt a.M. werden in Stadtteilen abseits des Kernstadtbereiches (Praunheim, Dornbusch, Bonames, Berkersheim, Seckbach, Sindlingen und Frankfurter Berg) keine flächendeckenden Grundversorgungsstrukturen vorgefunden (Stadt Frankfurt a.M. 2010, 38). In Bremen werden »keine signifikanten Angebotslücken« festgestellt (SUBVE und SWH 2009, 88). Dem Nahversorgungsangebot, insbesondere der Versorgung mit Lebensmitteln, werden jedoch in verschiedenen Stadtteilen, darunter die zentrale, relativ dicht besiedelte Altstadt sowie das sozioökonomisch gutgestellte Schwachhausen, »quantitative Schwächen« attestiert (SUBVE und SWH 2009, 69), die sich aus einem Mangel an großflächigen Lebensmittelmärkten ergeben, die auch als Magnetanbieter wirken (SUBVE und SWH 2009, 41, 69). Das Forschungsprojekt »Nahversorgung in Großstädten – Entwicklungen, Probleme, Handlungsmöglichkeiten«, das auch Bremen untersucht, kommt 2006 zu dem Ergebnis, dass, von Ausnahmen abgesehen, die fußläufige Nahversorgung noch gesichert sei (Junker und Kühn
2 Forschungsstand
2006, 42), die Maschen des Versorgungsnetzes jedoch weiter werden. Dies führe nicht zwangsläufig zu unterversorgten Defizitbereichen, die Erreichbarkeit und die Qualität des Angebots im Nahbereich verändere sich jedoch (Junker und Kühn 2006, 67). Untersuchungen, die auf Ebene einzelner Stadtteile einen Abgleich des erreichbaren Sortimentes, der erreichbaren Qualitäten und Preise mit den Bedürfnissen der Wohnbevölkerung in Beziehung vornehmen, sind bisher Ausnahmen (Sperk und Kistemann 2012; Weig 2009; Voge 1992). Ein anerkanntes Merkmal, dass Gruppen definiert, die besonders stark von einer defizitären Versorgungssituation betroffen sind, ist eine Einschränkung der Mobilität, die der »nicht automobilen Bevölkerung« zugeordnet wird (BMU 2014, 1). Das Alter ist ein Indikator, der für Mobilitätseinschränkungen herangezogen wird und in der Forschung zur Nahversorgung stärker beachtet wird als andere Einflussfaktoren auf das Mobilitätsverhalten.20 Der demographische Wandel dient in vielen Veröffentlichungen dazu, die Relevanz des Themas Nahversorgung zu belegen (vgl. beispielsweise BMU 2014, 1). Als weitere vulnerable Gruppen werden Haushalte benannt, die sich aus finanziellen Gründen kein Auto oder den öffentlichen Nahverkehr leisten können und daher in ihrer Mobilität eingeschränkt sind (Böge und Fuhr 2004, 2; Freudenau und Reuter 2007, 3). Das BMVBS stellt heraus, dass die Gruppe der nicht automobilen Bevölkerung die Determinanten sozialer Ungleichheit widerspiegeln: »Diese Gruppen schließen in überdurchschnittlichem Maße Frauen (Alleinerziehende, junge Mütter, alleinlebende ältere Frauen), Geringeinkommensbezieher und Migranten ein. Diese können von Verbesserungen der Nahversorgungsangebote in besonderem Maße profitieren. Umgekehrt sind sie von Einschränkungen der Nahversorgung besonders stark betroffen.« (BMVBS 2011a, 25f) Obwohl diese Gruppen bezogen auf ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung »weder heute gesellschaftliche Randgruppen darstellen, noch zukünftig an Bedeutung verlieren werden« (Baaser und Zehner 2014, 9), werden ihnen noch nicht im gleichen Maße Untersuchungen gewidmet wie älteren Menschen. Das Studiendesign von Ursula Baaser und Klaus Zehner, das die Nahversorgungssituation unter Berücksichtigung der sozioökonomischen Zusammensetzung der Wohnbevölkerung in einem Stadtteil bewertet, bildet hier eine Ausnahme (vgl. Baaser und Zehner 2014).
20
Arbeiten, die sich explizit mit der Nahversorgungssituation älterer Menschen beschäftigten, sind beispielsweise von Hoffmann (2008), Rauh und Wettemann (2010), Rhein (2015) und Aygün et al. (2015) vorgelegt worden.
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
2.3.4
Zusammenfassung
Dieses Unterkapitel legte den empirischen Forschungsstand zu physisch-räumlichen Bedingungen des Zugangs zu Lebensmitteln in Deutschland dar. Aus dem Kanon der nahrungsbezogenen geographischen Forschungen kann insbesondere an Studien zur Struktur des Lebensmitteleinzelhandels und zur Nahversorgung angeknüpft werden. Diese werden einerseits in der geographischen Handelsforschung vorangetrieben, entstehen jedoch andererseits auch in Form von Gutachten im Auftrag von kommunalen Planungsbehörden oder Unternehmensverbänden. Die geographische Handelsforschung hat die Entwicklungsprozesse im Einzelhandel, darunter im Lebensmitteleinzelhandel, eingehend beschrieben. Für den Kontext dieser Arbeit relevant sind deren raumbezogene Konsequenzen. Darunter fällt die Veränderung des Verkaufsstättennetzes, das von Ausdünnung und durch die Konzentrationsprozesse auf Unternehmensebene von einer Standardisierung und einem Verlust von Kleinteiligkeit geprägt ist. In Bezug auf die Nahversorgung wird generell eine hohe Zufriedenheit bei den Nutzer*innen festgestellt, die aber je nach Raumtyp variiert und in urbanen Räumen stärker ausgeprägt ist als in ländlichen. Als Determinante für die Zufriedenheit wird die Raumausstattung herausgestellt, vor allem die Nähe zu den nächsten Lebensmittelgeschäften. Sozioökonomischen Faktoren wird ein geringer Einfluss eingeräumt. Die an der Distanz zum nächsten Supermarkt gemessene Erreichbarkeit von nahversorgungsrelevanter Infrastruktur ist im Schnitt in städtischen Räumen besser als auf dem Land. Die Gutachten und Studien stellen jedoch fest, dass auch städtische Wohngebiete vom Wandel im Handel betroffen sind und quantitative oder qualitative Defizite im Nahversorgungsbereich aufweisen. Diese Defizite treten vor allem in Wohngebieten in den zum Teil weniger dicht besiedelten städtischen Randlagen auf. Es ist bekannt, dass Versorgungslücken verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark treffen. Entsprechend dem in der geographischen Handelsforschung gesetzten Schwerpunkt auf die Erreichbarkeit von Nahversorgungsinfrastrukturen gelten Mobilitätseinschränkungen als Indikator für besonders vulnerable Personengruppen. Im Vordergrund stehen bisher ältere Menschen. Andere gesellschaftliche Gruppen, die sich aus finanziellen Gründen kein Auto leisten können oder Frauen, die im Alltag zwischen Lohnarbeit, Kinderbetreuung und Haushaltsorganisation komplexe Wegeketten bewältigen, stehen bisher nur in Ausnahmefällen im Fokus. Der Zugang zu Lebensmitteln wird in dieser Arbeit mehrdimensional untersucht. Daher lässt sich an Erkenntnisse zur räumlichen Erreichbarkeit von Lebensmitteln aus der geographischen Handelsforschung und aus kommunalen Auftragsstudien anknüpfen. Weitere Dimensionen des Zugangs zu Lebensmitteln finden bisher kaum Berücksichtigung. Zugangsbedingungen, die nicht an der räumlichen
2 Forschungsstand
Verteilung des Lebensmitteleinzelhandels festgemacht werden können, sondern von finanziellen Spielräumen, Bedürfnissen und Praktiken der Kund*innen abhängen, gehen bisher nicht in die Operationalisierung von Versorgungszufriedenheit ein. Es wird, was aus Sicht der Anwendungsorientierung verständlich erscheint, nicht die Messlatte einer kleinräumigen »bedarfsgerechten Infrastruktur« (SKJF 2014, 255), sondern einer minimal notwendigen Grundversorgung angelegt. Sowohl für räumliche als auch für sozioökonomische Bedingungen für den Zugang zu Lebensmitteln lassen sich in der deutschsprachigen Forschung Anknüpfungspunkte herstellen. Die Erkenntnisse und Leerstellen in Bezug auf eine mehrdimensionale Annäherung an den Zugang werden in Kapitel 3.4 als Forschungsfragen zusammengeführt.
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3. Theoretische Bestimmung von Ernährung und konsumvermittelter gesellschaftlicher Teilhabe vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit
In der Einleitung habe ich bereits erläutert, dass ich Ernährung als Feld gesellschaftlicher Teilhabe verstehe. Dieses Kapitel führt diesen Gedanken nun theoretisch aus. Es bildet damit die Grundlage, auf der der Zugang zu Lebensmitteln im empirischen Teil untersucht wird. Das Kapitel beginnt mit einer theoretischen Bestimmung von sozialer Ungleichheit aus einer intersektionalen Sicht (Kapitel 3.1). Anschließend führe ich Konsum als Feld gesellschaftlicher Teilhabe ein (Kapitel 3.2). Das dritte Unterkapitel wendet die beiden theoretischen Stränge auf die Ernährung an und stellt sie als alltäglichen Konsumbereich vor, dessen Ausgestaltung unter anderem von der Position im gesellschaftlichen Gefüge abhängt (Kapitel 3.3). Auf dieser theoretischen Grundlage und dem in Kapitel 2 dargelegten Stand der Forschung und der dort vorgestellten Forschungslücken leite ich anschließend meine Leitfragen ab (Kapitel 3.4).
3.1
Soziale Ungleichheit
Um Teilhabemöglichkeiten von benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu untersuchen, ist es erforderlich, soziale Ungleichheit zu verstehen. In diesem Unterkapitel stelle ich dazu einen intersektionalen Ansatz der Gesellschaftsanalyse vor. Über diesen Ansatz werden die Determinanten sozialer Ungleichheit bestimmt, die ich in dieser Arbeit heranziehe, um Zusammenhänge zwischen dem Zugang zu Lebensmitteln und sozialen Lagen herzustellen. Grundsätzlich ist soziale Ungleichheit definiert als der ungleiche Zugang gesellschaftlicher Gruppen zu sozialen Positionen, die systematisch mit vorteilhaften oder benachteiligenden Handlungs- und Lebensbedingungen verknüpft sind (Solga, Berger und Powell 2009, 15). Soziale Ungleichheit reproduziert sich entlang bestimmter gesellschaftlicher Strukturen, das heißt relativ dauerhafter Beziehungen zwischen sozialen Gruppen. Diese Gruppen bestehen aus Personen, die die gleiche
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Ausprägung einer sozial relevanten Kategorie z.B. der Berufsgruppe oder des Geschlechtes teilen. Der Soziologe Reinhard Kreckel bezeichnet soziale Ungleichheit als »eine von Menschen gemachte und somit auch von Menschen veränderbare Grundtatsache heutigen gesellschaftlichen Lebens« (Kreckel 1992, 13). Sie ist also aus soziologischer Sicht nicht naturgegeben, sondern gesellschaftlich konstruiert und somit grundsätzlich wandelbar (Solga, Berger und Powell 2009, 11). Die Soziolog*innen Heike Solga, Justin Powell und Peter A. Berger verdeutlichen die Beziehungen zwischen Determinanten und Dimensionen sowie die Auswirkungen sozialer Ungleichheit in einem Modell (vgl. Abbildung 6).
Abbildung 6 Strukturebenen sozialer Ungleichheit
Quelle: Solga, Berger und Powell 2009:16
Mit den Determinanten sozialer Ungleichheit bezeichnen die Autor*innen die sozialen Kategorien, auf deren Grundlage soziale Gruppen konstruiert werden, z.B. Klassen oder Geschlechter. Die Ursache oder der Mechanismus meint den gesellschaftlichen Prozess, der die verschiedenen Ausprägungen sozialer Kategorien (z.B. die Ausprägung »männlich« der Kategorie »Geschlecht«) systematisch mit den Dimensionen sozialer Ungleichheit verbindet. Ökonomische Verhältnisse, Vorurteile und Diskriminierung sind Beispiele für solche Mechanismen. Dimensionen sozialer Ungleichheit sind die materiellen (etwa Einkommen und materieller Wohlstand) und immateriellen (Prestige, Macht u. ä.) Merkmale, durch die soziale Ungleichheit in Erscheinung tritt (Burzan 2011, 7), die mit Vor- oder Nachteilen verbunden sind. Der Mechanismus erklärt, warum eine bestimmte, an sich keinen Vorteil implizierende Ausprägung einer sozialen Kategorie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit Besserstellungen nach sich zieht (Hradil 2001, 34). So besteht an sich kein Vorteil darin, als Junge geboren zu sein. Aufgrund von Geschlechterdiskriminierung stehen die Chancen auf eine mit Entscheidungskompetenzen verbundene berufliche Position für Männer jedoch besser als für Frauen.
3.1.1
Intersektionalität als gesellschaftsanalytisches Paradigma
In Untersuchungen zu Ernährung und sozialer Ungleichheit wurde hauptsächlich der Zusammenhang zwischen den Dimensionen Einkommen und Ernährung dargestellt (vgl. Kapitel 2.2). Diese Arbeit hat den Anspruch, Schwierigkeiten beim
3 Theoretische Bestimmung
Zugang zu Lebensmitteln in den größeren Kontext sozialer Ungleichheit zu stellen und aufzuzeigen, welche gesellschaftlichen Strukturen über Klasse hinaus mit dem Zugang zu Lebensmitteln in Zusammenhang stehen. Es stellt sich daher die Frage nach den Determinanten, die in dieser Arbeit beachtet werden sollen. In frühen klassenbezogenen Theorien zu sozialer Ungleichheit etwa nach Karl Marx oder Max Weber dominiert die Kategorie »Klasse« (Aulenbacher 2007, 42; Aulenbacher und Riegraf 2012, 8; Degele und Winker 2011, 70; Wright 1985, 37). Klassen werden in marxistischer Tradition aufgrund von Besitz oder Nichtbesitz von Produktionsmitteln definiert oder nach Weber über »Maß und Art der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter oder Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit für die Erzielung von Einkommen oder Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung« (Weber 1976, 177), das heißt über die Stellung am Markt (Solga, Berger und Powell 2009, 27). Als Mechanismus, der erklärt, wie Privilegien und Benachteiligungen entstehen, werden in Kapitalismus- und Klassentheorien die ökonomischen Verhältnisse einer Gesellschaft herangezogen. Diese werten bestimmte Positionen auf und andere ab, indem z.B. bestimmte Bildungs- und Berufsabschlüsse geringer entlohnt werden als andere. Die Abwertung des »Anderen«, der das Kontrastbild für machtvolle Positionen liefert, ermögliche und legitimiere eine geringere Bezahlung der von diesen Gruppen geleisteten Arbeit und somit die Erzeugung von Profit (Klinger 2003, 26). Die Kritik an der Fokussierung auf ökonomische Determinanten sozialer Ungleichheit und die rein vertikale Differenzierung sozialer Positionen war ein Ausgangspunkt für die Entwicklung von Perspektiven, die auch Schichtzugehörigkeit, Milieus und Lebensstile einschließen. Außerdem stieß diese Kritik die Erarbeitung neuerer klassentheoretischer Modelle an, die über Klasse als erklärende Determinante sozialer Ungleichheit hinausgehen (vgl. Kreckel 1992 für ein erweitertes Klassenmodell; vgl. Schulze 2000 für ein erlebnisorientiertes Milieumodel; vgl. Spellerberg 1996a für eine bekannte Lebensstiltypologie). Zu diesen gehören auch intersektionale Ansätze der Gesellschaftsanalyse, um die es nachfolgend gehen wird. Zwar gehen auch Lebensstil- und Milieukonzepte empirisch über Klasse als einzige strukturierende Kategorie hinaus,1 im Mittelpunkt steht jedoch weniger die theoretische Erklärung von Determinanten und Dimensionen sozialer Ungleichheit als die Gesellschaftsbeschreibung entlang von Gruppen, die Mentalitäten, Einstellungen, Verhaltensweisen und Lebenschancen teilen (Geißler 2017, 32). Da in dieser Arbeit Einschränkungen im Zugang zu Lebensmitteln auf Determinanten sozialer
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Als Determinanten, die mit Lebensstilen und Milieus in Zusammenhang stehen, werden bei Spellerberg und Schulze beispielsweise die klassenbezogenen Variablen Einkommen, beruflicher Status und Bildung sowie das Geschlecht (bei Spellerberg) und das Alter herangezogen (vgl. Spellerberg 1996b; Schulze 2000).
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Ungleichheit und ihre Überkreuzungen zurückgeführt werden sollen, erscheinen Milieuansätze für das Untersuchungsziel unpassend. Sie ermitteln zwar differenziertere »soziokulturelle Landkarten« (Ueltzhöffer 2017, 48), bleiben in der Zurückführung dieser Segmentierungsmuster auf verschiedene Determinanten sozialer Ungleichheit jedoch unscharf. Dies leistet Intersektionalität, ein in jüngerer Zeit in die deutschsprachige Ungleichheitsforschung übertragenes Konzept, das in der US-amerikanischen Schwarzen Frauenrechtsbewegung geprägt wurde (Lutz, Herrera Vivar und Supik 2013, 10). Intersektionalität hat den Anspruch, das Zusammenwirken von verschiedenen Diskriminierungsformen analytisch zu erfassen (Soiland 2008). Vertreter*innen einer intersektionalen Ungleichheitsforschung betonen, dass die rein ökonomisch gefasste Klasse als »Masterkategorie« (Degele und Winker 2011, 70) zur Analyse kapitalistisch wirtschaftender Gesellschaften nicht ausreicht, da weitere Kategorien konstitutiv für die Entwicklung dieser Gesellschaftsform sind. Um komplexe Lebensverhältnisse zu erklären, »in denen Klassen, Geschlechter, Ethnizitäten und Köper(lichkeiten) ineinandergreifen« (Degele und Winker 2011, 70), kann demnach Klasse keine Stellvertreterkategorie sein.2 Anstatt Strukturkategorien3 wie Geschlecht, race, Alter oder sexuelle Orientierung nur ergänzend aufzufassen (Degele und Winker 2011, 74) oder sie ausschließlich empirisch aufzugreifen (Aulenbacher 2007, 42), werden in der intersektionalen Ungleichheitsforschung die verschiedenen »Achsen strukturierter Ungleichheit und kultureller Differenz« integral analysiert (Klinger und Knapp 2007, 35), neben Klasse also weitere sozial relevante Merkmale als konstitutiv für die Analyse von
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Vgl. Aulenbachers (2007) Analyse von Klassen-, Geschlechter- und race-Verhältnissen im Fordismus, die sie als grundlegend für diese Kapitalismusform herausarbeitet. In der Intersektionalitätsforschung bestehen verschiedene Strömungen, die sich über den Umgang mit gesellschaftlichen Kategorien definieren. Anhänger*innen der antikategorialen Strömung stellen die Existenz mehr oder weniger homogener gesellschaftlicher Gruppen infrage und lehnen dementsprechend eine Verwendung gesellschaftlicher Kategorien ab. Eine interkategoriale Fassung von Intersektionalität sucht hingegen nach einer Möglichkeit, die Komplexität sozialer Ungleichheitslagen adäquater zu erfassen und »Kategorien als Ort der Ungleichheit analytisch zunächst vorauszusetzen« (Soiland 2008). Während in ersterer Strömung vor allem Methoden der Dekonstruktion, der Genealogie und der Ethnographie zum Einsatz kommen, eignen sich für interkategoriale Ansätze auch sozialwissenschaftliche Methoden wie Befragungen und qualitative Interviews (Soiland 2008). Ich vertrete ein interkategoriales Verständnis von Intersektionalität, das die Ungleichheit ins Zentrum der Betrachtung stellt, ohne davon auszugehen, gesellschaftliche Kategorien mit einer gegebenen Realität zu verwechseln. Ich gehe mit Scambor, Scambor und Zimmer davon aus, dass solange nicht auf Kategorien verzichtet werden kann, solange sie helfen, bestehende Ungleichheitsstrukturen zwischen Menschen aufzudecken (Scambor, Scambor und Zimmer 2012, 4f). Die in dieser Arbeit verwendeten Kategorien sind als konstruierte, aber wirkende Strukturen zu verstehen.
3 Theoretische Bestimmung
Gesellschaft erfasst. Die häufig herangezogene Trias von Klasse, Geschlecht und race spiegelt den Entstehungskontext der Intersektionalitätsforschung wider (Klinger und Knapp 2007, 32f). Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp gehen von einer generellen Übertragbarkeit dieser Trias zur Untersuchung struktureller Grundkonstellationen moderner kapitalistischer Gesellschaften Westeuropas aus (Klinger und Knapp 2007, 21). Voraussetzung dafür ist die Entnaturalisierung der Kategorien race und Geschlecht, die sie als soziale Konstrukte und nicht als individuelles Schicksal erfassbar macht (Crenshaw 1991, 1241f; Klinger und Knapp 2007, 34).
3.1.2
Determinanten sozialer Ungleichheit aus intersektionaler Perspektive
Bei der Entscheidung, welche Determinanten sozialer Ungleichheit in dieser Arbeit berücksichtigt werden, beziehe ich mich auf die von den Sozialwissenschaftler*innen Gabriele Winker und Nina Degele entwickelte Erweiterung der Dreiteilung von Klasse, race und Geschlecht. Sie gehen in kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart von vier strukturell wirkenden Herrschaftsverhältnissen aus, die entlang der Kategorien Klasse, Geschlecht, race4 und Körper verlaufen. Diese Herrschaftsverhältnisse sind Klassismen, Heteronormativismen, Rassismen und Bodyismen (Degele und Winker 2011, 72). Gerade die vierte von Winker und Degele beschriebene Kategorie des Körpers erscheint für Versorgungspraktiken relevant. In Rückgriff auf Pierre Bourdieus Kapitalkonzept5 gehen die Autorinnen von einem Klassenbegriff aus, der finanzielles Vermögen, Herkunft, Bildung und Beruf erfasst und entlang dieser Kriterien die Chancen der Vermarktlichung von Arbeitskraft strukturiert. Klassismen sind Herrschaftsverhältnisse, die auf Grundlage von sozialer Herkunft, Bildung und Beruf deutliche Einkommens- und Reichtumsunterschiede aufrechterhalten (Degele und Winker 2011, 72). Geschlecht ist eine gesellschaftlich konstruierte Kategorie. Im »Geschlechtersystem« dominiert die Vorstellung von genau zwei Geschlechtern, die jeweils eine Einheit von biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität in Verbindung mit
4
5
Degele und Winker verwenden die Begrifflichkeit race/Ethnizität. Ich fasse ethnische Zugehörigkeiten als ein mögliches Merkmal auf, auf dessen Grundlage, es ähnlich wie in Rückgriff auf Religion oder Herkunft, zu rassistischen Grenzziehungen kommt und verwende daher in dieser Arbeit den Begriff race. Bourdieu kritisiert die Konstruktion von Klassen auf rein ökonomischen Grundlagen und weist auf die Bedeutung von »sekundären Merkmalen« wie Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und Wohnort hin, die Lebensbedingungen mitbestimmen (Bourdieu 1994, 176). Eine soziale Klasse sei »definiert durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen, die jeder derselben wie den Wirkungen, welche sie auf die Praxisformen ausübt, ihren spezifischen Wert verleiht« (Bourdieu 1994, 182).
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
einer heterosexuellen Orientierung bildet (Körper mit weiblichen Geschlechtsorganen, sozialisiert als Frau und männerbegehrend vs. Körper mit männlichen Geschlechtsorganen, männlicher Sozialisation und frauenbegehrend). Die Kategorie Geschlecht ist somit heteronormativ strukturiert. Heteronormativismen bezeichnen die Herrschaftsverhältnisse, die auf hierarchischen Geschlechterbeziehungen, der unhinterfragten Annahmen einer natürlichen Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit basieren (Degele und Winker 2011, 73). Race, ebenfalls begriffen als gesellschaftlich hergestelltes Konstrukt, wird mit spezifischen, äußerlich wahrnehmbaren oder behaupteten physiologischen Unterschieden oder der Weltanschauung, Religion oder Herkunft begründet.6 Rassistische Grenzziehungen sind als Zentrum-Peripherie-Beziehungen angelegt, die die Marginalisierung bestimmter Gruppen und Regionen implizieren. Rassismen sind demnach Herrschaftsverhältnisse, die auf strukturellen Machtasymmetrien zwischen Menschengruppen beruhen, die symbolisch zu Rassen gemacht wurden (Degele und Winker 2011, 73). Wie bei heteronormativen Geschlechterverhältnissen basieren Rassismen auf der Annahme der Naturhaftigkeit von (behaupteten und) instrumentalisierten Differenzen (Degele und Winker 2011, 74). Körper ist die vierte Kategorie, die laut Degele und Winker auf struktureller Ebene wirkt (Degele und Winker 2011, 75f). Leistungsfähigkeit wird als Bezugspunkt von kapitalistischer Erwerbslogik als individuelle und unveräußerliche körperliche Eigenschaft erwartet. Bodyismen bezeichnen dementsprechend Herrschaftsverhältnisse, die sich auf die Ausgrenzung und Abwertung von Körperlichkeiten beziehen, die die zur Norm gesetzte Leistungsfähigkeit und Attraktivität nicht erfüllen. Als Gemeinsamkeit dieser vier Ungleichheitskategorien und den darauf aufbauenden Herrschaftsverhältnissen verweisen Degele und Winker auf den Ansatzpunkt, den diese zur Differenzierung zwischen besser und schlechter bezahlten gesellschaftlichen Gruppen bieten (Degele und Winker 2011, 76). Das Beispiel der Bodyismen verdeutlicht diesen Mechanismus: In ihrer Arbeit zu neoliberalen Ernährungspolitiken und der Entstehung von Übergewicht bezeichnet die Geographin Julie Guthman die Abwertung von Menschen, deren körperliche Konstitution als ungesund und weniger leistungsstark und flexibel wahrgenommen wird, als »healthism« (Guthman 2011, 52). Die Ausgrenzung und Abwertung von Körpern, die diesen Eigenschaften nicht entsprechen, wirken nicht nur auf Mikroebene diskriminierend, sondern beeinflussen auch die strukturelle Ungleichverteilung von Einkommen und Macht: Einem übergewichtigen Körper wird Leistungsfähigkeit und
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Guthman zeigt auf, dass »äußerlich wahrnehmbare physiologische Unterschiede« als Begründung von race zu kurz greift und die umgekehrte Wirkrichtung, die Entstehung physiologischer Unterschiede als Effekt von »racialisation« und Rassismus mitgedacht werden muss (Guthman 2014).
3 Theoretische Bestimmung
Attraktivität abgesprochen und stellt zunehmend einen »systematische[n] Nachteil beim Zugang zu Beschäftigung« (Solga, Berger und Powell 2009, 16) und damit von Einkommen und Macht dar. Die vier vorgestellten Kategorien Klasse, race, Geschlecht und Körper werden in dieser Arbeit herangezogen, um Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit und Schwierigkeiten im Zugang zu Lebensmitteln herzustellen. Sie sind einzeln und in Kombination in der empirischen Sozialstrukturanalyse geläufig.
3.2
Gesellschaftliche Teilhabe durch Konsum
Der unterschiedlich ausgeprägte Konsum von Lebensmitteln wird in dieser Arbeit als Folge ungleich verteilter relevanter Ressourcen betrachtet. Dieses Unterkapitel widmet sich den Konsequenzen, die sich aus den mit der Ressourcenverteilung verbundenen Lebens- und Handlungsbedingungen ergeben. Die mit dem Konsum von Lebensmitteln verbundene gesellschaftliche Teilhabe wird als eine dieser möglichen Konsequenzen behandelt. Dazu wird zunächst ein theoretischer Bezug zwischen gesellschaftliche Teilhabe und sozialer Ungleichheit hergestellt. Vor dem Hintergrund geltender gesellschaftlicher Normen arbeite ich anschließend die Bedeutung der durch (Lebensmittel-)Konsum vermittelten Teilhabe heraus. Der Begriff Teilhabe erfasst die »Möglichkeiten der Nutzung gesellschaftlicher Ressourcen, die über die Erfüllung physischer und materieller Grundbedürfnisse und rechtlicher Gleichstellung hinausgehen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben möglich machen« (Alicke, Eichler und Laubenstein 2015, 37). Das Bundesverfassungsgericht urteilte 2010, dass sich aus dem Grundgesetz Ansprüche auf materielle Voraussetzungen ergeben, die für dieses Mindestmaß an Teilhabe unerlässlich sind7 und zeigte damit die rechtliche Verankerung von Teilhabe als sozialstaatliches Leitkonzept auf. Teilhabe ist ein Maßstab individueller Wohlfahrt, der zwar die sozialstrukturelle Einbettung von Individuen und ihren Handlungen anerkennt, gleichzeitig dem Einzelnen jedoch einen Wahl- und Gestaltungsspielraum zugesteht (Alicke, Eichler und Laubenstein 2015, 37).8 7 8
Bundesverfassungsgericht. 2010. Urteil des Ersten Senats – 1 BvL-1/09-RN. (1-220). 9. Februar. www.bverfg.de/e/ls 20100209_1bvl000109.html (zugegriffen: 24. Oktober 2018). Um die Reformierung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik durch die Hartz-Gesetze zu rechtfertigen, wurde durch die Bundesregierung unter Gerhard Schröder auch auf das Konzept der Teilhabegerechtigkeit Bezug genommen. In diesem Zusammenhang wurde jedoch einseitig auf die individuellen Voraussetzungen von Teilhabe, das heißt persönliche Kompetenzen abgestellt, während die sozioökonomischen Bedingungen, also materielle Ressourcen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, unterschlagen wurden (Gerdes 2014, 71). Im Gegensatz dazu fasse ich die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe als Folge sozialer Ungleichheit
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Ein neueres Konzept in der Debatte um soziale Ungleichheit und Gerechtigkeit ist das der Exklusion. Der Begriff stellt stärker als Armut9 auf mangelnde gesellschaftliche Teilhabe ab, das heißt auf den multiplen Ausschluss aus verschiedenen Bereichen (Mohr 2007, 25). Martin Kronauer und Günther Schmid bezeichnen Exklusion, also die Verweigerung gesellschaftlicher Teilhabe, als »schärfste Verweigerung von Autonomie« (Kronauer und Schmid 2011, 160). Teilhabe oder Inklusion übersetzt sich als individuelle Erfahrung, mithalten zu können und handlungsmächtig zu sein (Häußermann und Kronauer 2005, 17). Als zentrale Instanzen, die Teilhabe ermöglichen oder von ihr ausschließen, definieren Kronauer und Schmid die Sphäre der Erwerbsarbeit, die Einbindung in wechselseitig ausgerichtete soziale Nahbeziehungen und den »Zugang zu und die Realisierung von persönlichen, politischen und sozialen Rechten, die eine Partizipation am Lebensstandard und an den Lebenschancen ermöglichen, wie sie in einer gegebenen Gesellschaft historisch erreicht und angelegt sind« (Kronauer und Schmid 2011, 160). Teilhabe ist also ein historisch relativer Begriff, der in Bezug auf die dominierende Lebensweise einer Gesellschaft bestimmt werden kann (Bartelheimer 2007, 8). Auf das Modell der Strukturebenen sozialer Ungleichheit übertragen, folgen aus ungleichen Lebensbedingungen (Dimensionen sozialer Ungleichheit) ungleiche Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe, also ungleiche Wahl- und Gestaltungsspielräume zur Partizipation am gängigen Lebensstandard. Der nächste Abschnitt expliziert, dass Ernährung und Essen als eine Form von gesellschaftlicher Teilhabe verstanden werden kann, die konsumvermittelt realisiert wird. Konsum interessiert als Untersuchungsgegenstand sowohl in den Wirtschaftswissenschaften als auch in den Sozialwissenschaften, der Psychologie und in der Geographie. Für diese Arbeit relevant sind sozialwissenschaftliche Ansätze, die von einer weiten Definition von Konsum ausgehen und darunter nicht nur den Geoder Verbrauchsakt eines Gutes fassen, sondern auch die Entwicklung von Bedürfnissen, die Informationsgewinnung und Entscheidungsfindung, die Nutzung oder den Verbrauch sowie die Entsorgung von Gütern zum Konsumprozess zählen (Schneider 2000, 11f). Wenn in dieser Arbeit von Lebensmittelkonsum die Rede ist, wird demnach nicht nur der Verzehr von Lebensmitteln angesprochen, sondern auch die für ihn notwendigen vorgelagerten Tätigkeiten. Mit dem Soziologen Kai-Uwe Hellmann gehe ich außerdem von der Bedürfnisbefriedigung als zentralem Bezugspunkt jeder Konsumhandlung aus, unabhängig davon, ob kommerzielle oder unkommerzielle Sach- oder Dienstleistungen konsumiert werden (Hellmann 2013, 9).
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auf und beziehe mich damit explizit auf ihre überindividuellen, sozioökonomischen Bedingungen. Armut verstanden als materielle Deprivation und mangelnde Teilhabe an Einkommen und Konsum.
3 Theoretische Bestimmung
Der Soziologe Jonas Grauel ordnet die sozialwissenschaftliche Konsumforschung der letzten Jahrzehnte in vier dominierende Theorieströmungen, die jeweils unterschiedliche Aspekte und Funktionen von Konsum in den Vordergrund stellen und ihn entsprechend unterschiedlich konzeptualisieren: Während ein erster Ansatz Konsum als Bestandteil des Kreislaufs von Produktion und Konsumtion erfasst, konzeptualisiert ein zweiter Konsum als Set routinisierter Alltagspraktiken. Eine dritte Strömung betrachtet Konsum als Ergebnis und Ausdruck sozialer Strukturen, eine vierte betont hingegen die Funktion von Konsum als Medium zur Herausbildung und zum Ausdruck von Identität (Grauel 2013, 23). Insbesondere der zweite und vierte Ansatz sind fruchtbar, um Konsum als Möglichkeit sozialer Teilhabe zu untersuchen. Sie werden nachfolgend ausgeführt. Für den zweiten von Grauel definierten Theoriestrang stehen beispielsweise die Arbeiten des Soziologen Alan Warde. Er überträgt als Kritik an einer undifferenzierten Perspektive auf die »Konsumgesellschaft« praxistheoretische Überlegungen auf die Konsumforschung.10 Ein Grundsatz praxistheoretischer Ansätze ist die Zurückweisung sowohl individualistischer als auch holistischer Perspektiven auf Gesellschaft. Weder die auf rationalen Entscheidungen beruhenden Handlungen eines homo oeconomicus, noch die durch gesellschaftliche Normen, Werte und Erwartungen gelenkten Entscheidungen eines homo sociologicus sollen überbewertet werden. Stattdessen zielen sie darauf ab, komplexe und dynamische Abbildungen des sozialen Lebens zu entwerfen, die Unterschiede und Besonderheiten sichtbar machen (Warde 2005, 132). Einem essentialistischen Konsument*innenbegriff, der Konsum als wesensmäßiges Charakteristikum von Gesellschaftsmitgliedern begreift, setzt Warde den Begriff der Konsumpraktiken entgegen, der einen konkreten Anknüpfungspunkt für differenzierte Analysen bildet (Everts und Jackson 2009, 919). Körperlichkeit und Materialität spielen dabei eine wichtige Rolle. Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz definiert eine Praktik11 als eine routinisierte Bewegung und Aktivität des Körpers, den Umgang von Menschen mit Dingen, der inkorporiertes Wissen körperlich-leiblich mobilisiert (Reckwitz 2003, 290). Dieses Verständnis deckt sich mit Bourdieus Konzept des Habitus als ein »dauerhaft wirksames System von (klassenspezifischen) Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata […], das sowohl den Praxisformen sozialer Akteure als auch den mit dieser Praxis verbundenen alltäglichen Wahrnehmungen konstitutiv zugrunde liegt« (Schwingel 2011, 73). Bourdieu erklärt mit seiner Habitustheorie zugleich, wie sich 10
11
Von einer kohärenten Theorie der Praxis kann dabei nicht gesprochen werden. Als »fragmentary body of theory« (Warde 2005, 132) finden sich praxistheoretische Elemente bei einer Vielzahl sozialwissenschaftlicher Denker, zu denen Anthony Giddens und Bourdieu genauso gehören wie später Michel Foucault (Grauel 2013, 79). Während der Begriff Praxis (im Englischen practice) die Ganzheit menschlichen Tuns im Gegensatz zu Theorie bezeichnet, meinen Praktik und Praktiken (practices) im Sinne der Praxistheorie die Art und Weise einer spezifischen routinisierten Handlung (Warde 2005, 133).
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Lebensbedingungen in Praktiken übersetzen: Habitusformen würden durch die Internalisierung von gesellschaftlichen Bedingungen des Daseins ausgebildet und Wahrnehmungen, Denkschemata und Handlungsmuster beeinflussen. Sie eröffneten eine »konditionierte und bedingte Freiheit« (Bourdieu 1987, 103), die Grenzen zwischen möglichen und unmöglichen Handlungen ziehe, und präge, wie Praktiken ausgeführt werden (Schwingel 2011, 71). In Anschluss an diesen sozialwissenschaftlichen Forschungsstrang wird Konsum in dieser Arbeit als Praktik verstanden, als Handlungen, die Menschen im Rahmen ihrer durch die Verteilung relevanter Ressourcen geprägten Lebensbedingungen entwickeln und ausführen. Wardes Anliegen, vereinfachte individualistische oder strukturalistische Erklärungsmuster zu überwinden, deckt sich mit der Perspektive, die dieser Arbeit zugrunde liegt und die das Soziale von gesellschaftlichen Strukturen ausgehend betrachtet, ohne in einen Strukturdeterminismus zu verfallen und den Handelnden jegliche Handlungsmacht abzusprechen. Da Individualität zu den Werten gehört, mit denen gesellschaftliche Teilhabe markiert wird, ist der sozialwissenschaftliche Zweig der Konsumforschung, der die identitätsbildenden und -vermittelnden Funktionen von Konsum fokussiert, die zweite hier herangezogene Strömung. Modernisierungstheorien führen die Entwicklung der modernen westlichen Gesellschaft zurück auf technologischen Fortschritt, die Rationalisierung von Produktionsprozessen, eine zunehmende Arbeitsteilung, die stärkere Ausnutzung natürlicher Ressourcen und eine etablierte Arbeitsdisziplin sowie die neue Mobilität von Menschen, Gütern und Informationen. Individualisierungsprozesse und die Herausbildung von modernem, einer breiteren Bevölkerungsschicht zugänglichem Massenkonsum werden ebenfalls als Charakteristikum dieser sich herausbildenden Moderne erfasst (Everts und Jackson 2009, 918f). Konsumhistorische Arbeiten datieren den Beginn dieses Wandels auf das 18. Jahrhundert (Schneider 2000, 10). Die Unterscheidung zwischen vormodernem und modernem Konsum ist jedoch nicht einfach festzulegen: So sind bestimmte, dem modernen Konsum zugeordnete Charakteristika bereits im Florenz des 15. Jahrhunderts und im Amsterdam des 17. Jahrhunderts zu finden (Summers 1994 ix). Wichtiger jedoch als die genaue Geburtsstunde der sogenannten Konsumgesellschaft ist für meine Untersuchung die Veränderung der Konsumund Lebensmoral, die Bestandteil des gesellschaftlichen Wandels ist. Ästhetik und Lust gewinnen als Lebensorientierung an Bedeutung und stellen die dominante, von Notwendigkeit, Askese und Pflichterfüllung geprägte Lebensmoral infrage (vgl. Klages 1985; Pütz und Schröder 2011, 993). Individuelle Werte wie Kreativität, Freiheit und Selbstverwirklichung werden mit diesen Orientierungen wichtiger (Schneider 2000, 13). Individueller Erfolg und die Erfüllung persönlicher Bedürfnisse gelten heute als wichtiger Antrieb für das Handeln. Konsum kommt zur Bildung und zum Ausdruck von Identität (verstanden als individueller Entwurf ei-
3 Theoretische Bestimmung
nes Selbst, samt Vorstellungen von Sinnhaftigkeit und Erfolg) heute eine entscheidende Rolle zu (Pütz und Schröder 2011, 994). Die Erfüllung von Bedürfnissen durch Konsum wird in postmodernen Gesellschaften als zentrale Autonomieerfahrung, als Erleben selbstbestimmten Handelns wahrgenommen (Lorenz 2010, 97; Scherhorn 1993, 26). Wahlfreiheit, das heißt die Berücksichtigung von als individuell wahrgenommener Entscheidungskriterien, spielt dabei eine besondere Rolle. Konsum bildet insbesondere dort ein wichtiges Feld, um individuelle Handlungsfähigkeit und Autonomie zu erleben und Identität konsumvermittelt zu realisieren, wo prekäre Arbeitsverhältnisse kaum Potenzial zur Selbstverwirklichung bieten (Alwitt und Donley 1996, 13; Bosch 2010, 462). Bei der Erfüllung von Bedürfnissen durch Konsum geht es jedoch nicht nur um die Bildung von Identität und die Demonstration von Individualität, das heißt die Abgrenzung von Anderen, sondern auch um das Erlebnis von Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und damit um Integration in die Gesellschaft (Schneider 2000, 20; Schrage 2013, 57). Dominante Werte zu teilen und die mit ihnen verbundenen Erwartungen erfüllen zu können, ist eine Grundlage dafür, an Gesellschaft teilzuhaben. Autonomie und Selbstverwirklichung gehören heute zu diesen Werten und werden unter anderem über Konsum realisiert, das heißt über einen als selbstbestimmt wahrgenommenen Kauf. Dies macht Konsum zu einem bedeutenden Feld gesellschaftlicher Teilhabe. Norbert Schneider geht so weit, Konsum als »gesellschaftliche Pflicht« (Schneider 2000, 17) zu bezeichnen. Die Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil schlägt den Bogen zu Ernährung: »Das für Ernährung verfügbare Einkommen ist eine ökonomische und soziokulturelle Zugangsberechtigung und garantiert die Teilhabe am Konsum und wird zum Ausdruck für soziale Gerechtigkeit« (Keil 2004, 16). Diese gesellschaftliche Bedeutung von Konsum treibt meine Beschäftigung mit dem Konsum von Lebensmitteln an. Konsum ist aus sozialer und ökologischer Sicht grundsätzlich kritikwürdig. Die Produktion von Waren und Bereitstellung von Dienstleistungen ist mit negativen Effekten für die Umwelt und sozialen Kosten für die Produzierenden verbunden, z.B. geringe Entlohnung oder gesundheitsgefährdende Arbeitsverhältnisse, die sich nicht im Preis des Produktes oder der Dienstleistung niederschlagen (Scherhorn 2000, 284f). Eine Kritik eines auf kontinuierliches Wirtschaftswachstum angelegten Lebensstandards wird an anderer Stelle geleistet und fordert ein gesamtgesellschaftliches Umdenken (Paech 2015; Seidl und Zahrnt 2010; für Bezüge zur Wirtschaftsgeographie vgl. Schulz 2012). Es gilt zu bedenken, dass Versuche, umweltverträgliche Ernährungsweisen durch eine Anhebung der Lebensmittelpreise zu fördern, auf Kosten von Menschen mit geringen finanziellen Ressourcen gehen. Anstatt gerade benachteiligte gesellschaftliche Gruppen zu ökologisch korrektem, jedoch durch ökonomische Restriktionen erzwungenem Verzicht aufzufordern, sollte zunächst anerkannt werden, dass Konsum auch für diese Gruppe wichtig für gesellschaftliche Teilhabe ist. Diese Arbeit untersucht entsprechend,
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
wie Konsum überhaupt möglich ist und welchen Bedingungen der bisher wenig hinterfragte Alltagskonsum unterliegt.
3.3
Ernährung als Konsumfeld zwischen sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Teilhabe
Das folgende Unterkapitel wendet die theoretischen Ansätze sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Teilhabe auf den Bereich der Ernährung an. Der erste Abschnitt widmet sich den Zusammenhängen von Ernährung und sozialer Ungleichheit. Der zweite Abschnitt zeigt die multiplen Funktionen von Ernährung auf, die begründen, welche physiologischen, sozialen, kulturellen und psychischen Folgen mit Einschränkungen im Bereich der Ernährung verbunden sein können. Ernährung gehört zu den zentralen Alltagspraktiken des Menschen, die sich zwischen »Gesellschaft, Körper und Psyche« (Kofahl und Ploeger 2012, 387), das heißt physiologischen Notwendigkeiten, psychischen Bedeutungen und sozialer Gestaltung bewegt (Schritt 2011, 29). Die Erklärung des Ernährungsverhaltens bewegt sich zwischen den Polen einer naturalistischen und einer strukturalistischen Sicht. Die naturalistische Erklärung geht davon aus, dass sich Ernährungskulturen (intuitiv) nach körperlichen Bedürfnissen herausbilden, die genetisch angelegt seien (Barlösius 2016, 32f). Die Zuordnung von Ernährung als naturwissenschaftliches Feld ist in den Ernährungswissenschaften das vorherrschende Paradigma (Setzwein 2004, 20; Teuteberg 1974, 41). Die von den Soziologen und Ethnologen Emile Durkheim, Marcel Mauss und Claude Lévi-Strauss verfolgte strukturalistische Erklärung führt Ernährungsweisen und -traditionen hingegen auf soziale Strukturen gesellschaftlicher Ordnungen zurück. Natürlichkeit existiert nach dieser Denktradition nicht außerhalb einer spezifischen, gesellschaftlich geprägten Wahrnehmung, die festlegt, was natürlich ist. Kulturelle Ernährungsregeln stellen für Vertreter*innen dieses Modells Repräsentationen sozialer Strukturen dar (Barlösius 2016, 35f). Sie finden ihren Ausdruck in der Auswahl und Zubereitungsweise von Lebensmitteln sowie der Situation, in der sie gegessen werden (Feichtinger 1996, 9). Als soziales Totalphänomen kommen in der Ernährung gesamtgesellschaftliche Strukturen zum Ausdruck, etwa religiöse, rechtliche, moralische und ökonomische Institutionen (Mauss 1968, 17f). Wie Monika Setzwein in ihrer Untersuchung zur sozialen Konstruktion von Geschlecht im kulinarischen Kontext feststellt, ist Ernährung in diesem Sinne nicht nur als ein Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Strukturen zu begreifen, sondern sie bildet ein Feld, in dem das gesellschaftliche Gefüge stetig reproduziert wird. »In der Ernährung finden die gesamtgesellschaftlichen Mechanismen und Strukturen nicht nur einen spiegelgleichen Widerschein oder symbolischen Ausdruck,
3 Theoretische Bestimmung
sondern sie werden in kulinarischen Akten bestätigt, tradiert und immer wieder neu hervorgebracht.« (Setzwein 2004, 29) Aktuell sind in der sozialwissenschaftlich orientierten Ernährungswissenschaft und der soziologischen Ernährungsforschung Positionen geläufig, die Ernährungsverhalten einerseits mit sozialen und kulturellen Einflussfaktoren erklären, die durch Sozialisation weitergegeben werden, und andererseits kontextuelle Prädiktoren berücksichtigen, wie die Verfügbarkeit von finanziellen Mitteln, die ebenfalls strukturell angelegt sind (Brunner 2011, 203f; Heindl, Methfessel und Schlegel-Matthies 2011, 189; Klotter 2011, 125; Kutsch 1993, 103ff; Leonhäuser u.a. 2009, 20; Muff 2009, 103ff). Das von Christine Muff in ihrer medizinsoziologischen Doktorarbeit erarbeitete Modell veranschaulicht die Interaktion dieser exogenen, strukturellen (z.B. Armut und Erwerbsstatus) und endogenen, verinnerlichten sozialen und kulturellen Faktoren (etwa Wissen, Ernährungsbewusstsein, verinnerlichte soziale Normen) sowie von soziodemographischen Merkmalen wie Alter und Geschlecht (siehe Abbildung 7). Die von Muff aufgezeigten ökonomischen, psychosozialen und soziokulturellen Ressourcen, deren Verfügbarkeit auf das Ernährungsverhalten wirkt, sind gesellschaftlich nicht gleich verteilt (Muff 2009, 125). Stattdessen verweist Muffs Modell auf die Bedeutung der gesellschaftlichen Kategorien Klasse, Geschlecht und Körper für die Verteilung ernährungsrelevanter Ressourcen. So kann beispielsweise die Ressource Ernährungsbewusstsein als verinnerlichter psychosozialer Einflussfaktor auf das Ernährungsverhalten aufgefasst werden, dessen Verfügbarkeit sowohl von Klassenaspekten (in Muffs Abbildung vertreten durch »finanzielle Restriktionen, Armut, Erwerbsstatus«) als auch von geschlechterspezifischen sozialen Normen abhängt. Entsprechend gehe ich davon aus, dass Ernährung nicht allein auf Grundlage von körperlichen Bedürfnissen, das heißt endogenen Faktoren erklärt werden kann, sondern in Zusammenhang zu den Determinanten sozialer Ungleichheit Klasse, race, Gender und Körper zu stellen ist. Nicht nur aus makrosoziologischer Perspektive, wie sie im obigen Zitat von Setzwein zum Ausdruck kommt, kann die Bedeutung von Ernährung über die materiell-biologische Dimension hinaus erweitert werden. Auch aus einer auf das Individuum bezogenen, mikrosoziologischen Sichtweise kommen der Ernährung soziale, kulturelle und psychische Aufgaben zu, die über ihre biologische Funktion hinausreichen (Barlösius, Neumann und Teuteberg 1997, 14; Brunner 2011, 208; Feichtinger 1995, 292; Feichtinger 1996, 7; Heindl, Methfessel und Schlegel-Matthies 2011, 189). In ihrem Plädoyer für eine veränderte Ernährung und neue Esskultur fassen Stefanie Wahl und Martin Schulte diese sozialen, kulturellen und psychischen Bedeutungen von Ernährung zusammen:
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Abbildung 7 Prädiktoren des Ernährungsverhaltens
Quelle: Muff 2009, 125
»Essen und Trinken sind wichtige Quellen von Zufriedenheit und Lebensqualität. Sie versorgen Menschen nicht nur mit lebenswichtigen Nährstoffen, sondern stiften Genuss und Gemeinschaft, fördern die Gesundheit, stärken Familie und gesellschaftlichen Zusammenhalt, dienen der Fürsorge und Erziehung und sind Quellen der Kreativität und kulturellen Identität.« (Wahl und Schulte 2011, 373) Der Konsum von Nahrungsmitteln schafft Situationen, in denen soziale Beziehungen gepflegt werden. Zugehörigkeit und Nähe können darin genauso ihren Ausdruck finden wie Machtgefälle und Hierarchien. Die Auswahl der Nahrungsmittel, die Art ihrer Zubereitung und die Situationen, in denen sie verzehrt werden, können dazu dienen, sich religiöser, ethischer und moralischer Überzeugungen zu versichern und diese gegenüber anderen zu verdeutlichen (Feichtinger 1995, 292f).
3 Theoretische Bestimmung
Die »Küche«, eine spezifische Auswahl und Zubereitung von Lebensmitteln und ihre Aufladung mit nationaler, regionaler, ethischer oder religiöser Bedeutung, kann als eine »verdichtete symbolische Konstruktion [aufgefasst werden], über die es möglich wird, Identität herzustellen oder anderen zuzuschreiben« (Barlösius, Neumann und Teuteberg 1997, 18; vgl. auch Fellmann 1997, 35). Einen Überblick über die Dimensionen von Ernährung und den zugeordneten Funktionen gibt Tabelle 3. Tabelle 3 Dimensionen und Funktionen von Ernährung Dimension
Funktionen
Mögliche Probleme in Armutssituationen
physiologisch
Versorgung mit Energie und Nährstoffen
Beeinträchtigung der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit
sozial
Soziale Organisation, Integration und Abgrenzung, soziale Sicherheit, Kommunikation
Beeinträchtigung sozialer Beziehungen (z.B. wenn Einladungen nicht erwidert werden können)
kulturell
normative Wertesysteme, Ernährungssitten und -gebräuche, Essbarkeit, Geschmack
Abweichung von gesellschaftlich akzeptierten Ernährungsweisen (z.B. Braten statt Hackfleisch als ›unangebrachter Luxus‹)
psychisch
Genuss, emotionale Sicherheit, Kompensation, Selbstwertgefühl
Verlust von Selbstbestätigung, überkompensierende bis bizarre Bewältigungsstrategien (z.B. ›Leistungshungernʼ oder Hamstern)
Quelle: Eigene Darstellung der Tabelle von Feichtinger 1996: 9
Aufgrund dieser sozialen, kulturellen und psychischen Bedeutungen halten Pfeiffer, Ritter und Hirseland (2011, 420) Essen und Ernährung für »the most basic and central participation mechanisms in every social system«. Generell können zur Untersuchung von Ausschlüssen konsumvermittelter gesellschaftlicher Teilhabe sehr verschiedene Konsumfelder herangezogen werden, etwa Mode, Freizeit oder die Verfügung über bestimmte Waren wie Luxusartikel. Ich halte Konsumgüter, über deren Verwendung ein gesellschaftlicher Konsens besteht, für besonders geeignet, um Einschränkungen gesellschaftlicher Teilhabe herauszuarbeiten. Zwar könnten anhand der Verteilung teurer Sportwagen über verschiedene gesellschaftliche Gruppen hinweg Ungleichheitsstrukturen aufgezeigt werden, solch ein Transportmittel zu besitzen ist jedoch (im Gegensatz zu Transport an sich) keine Bedingung gesellschaftlicher Integration. Der Zugang zu Lebensmitteln gehört hingegen zu den Bereichen, die die Grundsicherung für Arbeitssuchende und die Sozialhilfe sichern sollen. Ziel ist nicht nur die Sicherung des Lebensunterhaltes, sondern auch ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilha-
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
be. Die für Ernährung gewährten Leistungen sollten demnach ein Mindestmaß an Wahlfreiheit einräumen, das es erlaubt, die physiologischen, sozialen, kulturellen und psychologischen Funktionen von Ernährung zu berücksichtigen. Stärker als andere Konsumfelder wie Freizeitaktivitäten berührt Ernährung zudem existenzielle Fragen des physischen Überlebens und der Wahrung von Gesundheit. Während sich die aus Geldmangel verwehrte Urlaubsreise besonders in den Sommerferien bemerkbar macht, erfordert die Ernährung täglich wiederkehrende Beschäftigung. Die Versorgung mit Lebensmitteln stellt damit ein Feld dar, in dem die gesellschaftlichen Werte Selbstverwirklichung und Entscheidungsfreiheit alltäglich erlebt werden könn(t)en. Für diese gesellschaftliche Teilhabe über Essen und Ernährung prägen Pfeiffer et al. den Begriff der alimentären Teilhabe (Pfeiffer 2014, 13; Pfeiffer, Ritter und Hirseland 2011, 420; Pfeiffer, Ritter und Oestreicher 2015, 6). Ernährung ist in diesem Unterkapitel als Bereich vorgestellt worden, der von sozialen Strukturen geprägt ist und durch seine physiologischen, sozialen, kulturellen und psychischen Funktionen gesellschaftliche Bedeutung erhält. Aufgrund dieser Einbettung in soziale Strukturen, dem bestehenden Grundkonsenses über Ernährung als physisches und soziales Grundbedürfnis und der Präsenz von Ernährung im Alltag soll in dieser Arbeit untersucht werden, ob sich an den alltäglichen Einkaufspraktiken in benachteiligten Stadtteilen Einschränkungen der alimentären Teilhabe feststellen lassen.
3.4
Identifikation von Forschungslücken und Präzisierung der Forschungsfragen
Im vorangehenden Kapitel wurde Konsum als Feld sozialer Teilhabe herausgearbeitet, dessen Verwirklichung auf Positionen im sozialen Gefüge einer Gesellschaft beruht. Der Konsum von Lebensmitteln ist ein Beispiel alltäglicher Konsumerfahrungen, bei denen Einschränkungen nicht nur einen existenziellen Lebensbereich berühren, sondern den Betroffenen täglich vor Augen führen, dass sie gesellschaftliche Minimalstandards der Lebensführung nicht erfüllen. Ausgehend von einer intersektionalen Perspektive auf soziale Ungleichheit habe ich Klasse, race, Geschlecht und Körper als gesellschaftliche Strukturen herausgestellt, die Einfluss auf die Verteilung gesellschaftlich relevanter Ressourcen ausüben und damit auch die Bedingungen konsumvermittelter gesellschaftlicher Teilhabe prägen. Auf der theoretischen Grundlage lässt sich die zentrale Frage nach den Einschränkungen, mit denen Bewohner*innen benachteiligter Stadtgebiete bei der Versorgung mit Lebensmitteln womöglich konfrontiert sind, auch stellen als Frage nach den Passungen zwischen der Ressourcenausstattung, lokalen physisch-räumlichen Gegebenheiten und dem Bedürfnis, eine den eigenen Ansprüchen genügende Ernährung in gesellschaftlich akzeptierter Weise zu organisieren.
3 Theoretische Bestimmung
Der Wissensstand zu den Bereichen soziale Ungleichheit, Ernährung und Raum wurde für Deutschland mit Untersuchungen aus den Ernährungswissenschaften, der soziologischen Armutsforschung und der geographischen Handelsforschung herausgearbeitet. Sowohl aus den Ernährungswissenschaften als auch aus der soziologischen Armutsforschung liegen Hinweise auf ein sozial differenziertes Ernährungsverhalten und für Ernährungsunsicherheit aufgrund fehlender finanzieller Mittel vor. Allerdings finden in diesen Arbeiten weder weitere Determinanten sozialer Ungleichheit wie race, Geschlecht und Körper, noch räumliche Bedingungen des Zugangs zu Lebensmitteln ausreichende Berücksichtigung. Aus Studien, die sich der geographischen Handelsforschung zuordnen lassen, können andererseits Ansatzpunkte sowie erste empirische Erkenntnisse zu den Zusammenhängen von Raum und Ernährung abgeleitet werden. Die Bewertung der Versorgungsqualität geschieht hauptsächlich auf Grundlage von Distanzen zwischen Wohnort und nächstgelegenem Lebensmittelgeschäft, wobei als Annäherung an die Breite, Tiefe und Qualität des Angebotes zum Teil die Verkaufsflächengröße des Geschäftes herangezogen wird (z.B. Acocella u.a. 2012, 36f). Die Perspektive von Nutzer*innen des Lebensmitteleinzelhandels beschränkt sich größtenteils auf die Befragung nach Faktoren der Einkaufsstättenwahl wie Nähe, Preis, Qualität und Auswahl (z.B. Krüger u.a. 2013, 67f), die Verkehrsmittelwahl oder eine allgemeine Bewertung der Versorgungssituation in ihrem Quartier, die keine Rückschlüsse auf kleinräumliche oder sozioökonomische Differenzierungen zulässt (Krüger u.a. 2013, 37; Weig 2009, 7). Nur wenige Untersuchungen erfassen lokale Gelegenheitsstrukturen unter Berücksichtigung der sozioökonomischen Lage der Wohnbevölkerung (vgl Baaser und Zehner 2014; Sperk und Kistemann 2012; Stroebele u.a. 2011). Diese Ansätze, die ein umfassendes Verständnis des Zugangs zu Lebensmitteln insbesondere von benachteiligten Bevölkerungsgruppen ermöglichen, möchte ich mit dieser Arbeit weiterentwickeln. Die zentrale Frage nach dem Zustand der Erreichbarkeit von Lebensmitteln in benachteiligten Stadtteilen wird anhand von sechs Leitfragen beantwortet, die sich auf Grundlage meiner theoretischen Ausführungen, der vorgestellten Literatur und den sich daraus ergebenden Forschungslücken präzisieren lassen. 1. Wie kann die physisch-räumliche und sozioökonomische Erreichbarkeit von Lebensmitteln vor dem Hintergrund, dass Essen und Ernährung als Feld konsumvermittelter gesellschaftlicher Teilhabe bedeutsam ist, konzeptionell gefasst werden? Unter konsumvermittelter gesellschaftlicher Teilhabe wird die Realisierung relevanter gesellschaftlicher Werte wie Autonomie und Selbstverwirklichung durch Konsum verstanden. Dieser Form gesellschaftlicher Teilhabe wird insbesondere dann besondere Bedeutung zugeschrieben, wenn andere Bereiche zur Verwirklichung dieser Werte, etwa im Rahmen von Ewerbsarbeit, ausfallen. Diese Untersuchung beruht auf einem sozialwissenschaftlichen Verständnis von Konsum, das
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
sich aus verschiedenen theoretischen Zugängen speist: Konsum wird verstanden als Alltagspraktik, die im Kontext von sozialen Strukturen ausgeübt wird und ein Feld bietet, in dem Identität und Entscheidungsmacht erlebt werden kann. Dieses Verständnis birgt konzeptionelle Herausforderungen für die Untersuchung der Erreichbarkeit von Lebensmitteln. Benötigt wird ein Modell, das es einerseits ermöglicht, die vor allem im Gebiet der Ernährung alltäglichen und routinisierten Konsumpraktiken zu reflektieren. Andererseits muss es geeignete Ansatzpunkte dafür bieten, die Einbettung des Lebensmittelkonsums in den strukturellen gesellschaftlichen Kontext kenntlich zu machen und Einschränkungen von Aspekten gesellschaftlicher Teilhabe zu benennen. Beantwortet wird Leitfrage 1 in Kapitel 4. 2. Was sind die sozioökonomischen und die physisch-räumlichen Bedingungen des Lebensmitteleinkaufs in benachteiligten Stadtteilen? In Bezug auf die sozioökonomischen Bedingungen von Ernährung steht in der soziologischen Armutsforschung bisher vor allem Klasse, das heißt einkommensbasierte Einschränkungen im Fokus der Betrachtung von Ernährungsarmut. In der Ungleichheitsforschung wird soziale Ungleichheit inzwischen auf viele Determinanten zurückgeführt. Mit dem intersektionalen gesellschaftsanalytischen Ansatz gehe ich davon aus, dass auf struktureller Ebene neben Klassenaspekten wie dem Einkommen, Geschlechterstrukturen, die Einordnung entlang von race-bezogenen Verhältnissen und die körperliche Verfassung auf die gesellschaftliche Position wirken. Kategorien zu diesen Determinanten sozialer Ungleichheit sollen in meiner Untersuchung die sozioökonomischen Bedingungen abbilden, unter denen der Lebensmitteleinkauf in benachteiligten Stadtteilen realisiert wird. Mit der geographischen Handelsforschung lässt sich ein genereller Strukturwandel des Lebensmitteleinzelhandels belegen, der mit veränderten Standortpolitiken einhergeht. In den kommunalen Einzelhandelsuntersuchungen werden zudem prozentuale Anteile nicht fußläufig nahversorgter Stadtgebiete genannt. Darüber, inwiefern von diesen räumlich wirksamen Entwicklungen insbesondere bereits benachteiligte Bevölkerungsgruppen betroffen sind, liegen bisher kaum Erkenntnisse vor. In dieser Arbeit stelle ich aus diesem Grund die Einkaufspraktiken in zwei typischen Wohngebieten armer Bevölkerungsgruppen in den Mittelpunkt. Anhand der Leitfrage 2 wird zunächst geklärt, wie sich die Strukturen Klasse, Geschlecht, race (hier: Migrationshintergrund) und körperliche Verfassung in den Untersuchungsgebieten abbilden und welche physisch-räumlichen Bedingungen die beiden Stadtteile in Bezug auf den Lebensmitteleinkauf bieten. Die Beantwortung von Leitfrage 2 erfolgt in den Kapiteln 5.7 und 6.1. 3. Welche Praktiken zur Versorgung mit Lebensmitteln lassen sich in benachteiligten Stadtgebieten beobachten? Diese Arbeit setzt sich sowohl von strukturdeterministischen als auch von indivi-
3 Theoretische Bestimmung
dualistischen Erklärungsmustern ab. Stattdessen sollen konkrete Einkaufspraktiken genutzt werden, um Erkenntnisse über sozioökonomische sowie physischräumliche Rahmenbedingungen des Zugangs zu Lebensmitteln zu gewinnen. Fragen, die in diesem Zusammenhang geklärt werden, sind z.B. wie die lokale Lebensmittelinfrastruktur genutzt wird, auf welche Verkehrsmittel dazu zurückgegriffen wird und wie viel Zeit für die Einkaufswege aufgewendet werden muss. Antworten auf die Leitfrage 3 bietet das Kapitel 6.2. 4. Mit welchen Einschränkungen sind Bewohner*innen benachteiligter Stadtteile bei der Versorgung mit Lebensmitteln konfrontiert und in welchen soziostrukturellen Zusammenhängen stehen sie? In der soziologischen Armutsforschung und der geographischen Handelsforschung wird auf Einschränkungen im Zugang zu Lebensmitteln hingewiesen, die auf verschiedenen Ebenen angesiedelt werden. Bisher liegen jedoch kaum Studien vor, die die sozioökonomische und die physisch-räumliche Ebene des Zugangs empirisch zusammenführen und untersuchen, welche Einschränkungen sich aus dem Zusammenspiel benachteiligter sozioökonomischer Positionen und den physisch-materiellen Gelegenheitsstrukturen in benachteiligten Stadtteilen ergeben. Das Kapitel 6.3 soll dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen. Dazu werden Einkaufspraktiken in zwei typischen Wohngebieten armer Bevölkerungsgruppen in Bremen erhoben und auf Einschränkungen im Zugang zu Lebensmitteln hin untersucht. In der geographischen Handelsforschung werden solche Einschränkungen vorwiegend an der physisch-räumlichen Erreichbarkeit festgemacht. Diese Erkenntnisse erweiternd berücksichtige ich sowohl den für die Einkaufswege notwendigen Zeitaufwand und Hindernisse, die den Weg erschweren, als auch die Zufriedenheit mit den lokalen Lebensmittelsortimenten, die Wahrnehmung der angebotenen Qualitäten und der Preise. Die Einbettung der Einschränkungen in sozioökonomische Strukturen erfasst zudem Zusammenhänge zu den Sozialstrukturen Klasse, race, Geschlecht und Körper und deren Wechselwirkungen untereinander. 5. Welche immateriellen Ressourcen begünstigen die Bewältigung herausfordernder Versorgungssituationen? Sozialwissenschaftliche Untersuchungen von Ernährung erklären Ernährungsverhalten vor dem Hintergrund sozioökonomischer Zusammenhänge. Die Verfügbarkeit finanzieller Mittel ist dabei nur einer von vielen Einflussfaktoren. So verweist beispielsweise Muff auf Ernährungswissen, Schönheitsideale und Körperbilder, die Erfahrung sozialer Unterstützung und von Selbstwirksamkeit sowie das Ernährungsbewusstsein als weitere relevante Prädiktoren. Auch hinsichtlich dieser Ressourcen bestehen Ungleichverteilungen nach sozioökonomischen Mustern. Das Kapitel 6.3.3 gibt daher Antwort darauf, welche immateriellen Ressourcen die
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Bewältigung herausfordernder Versorgungssituationen in den Untersuchungsgebieten begünstigen und wie es um ihre Verteilung bestellt ist. 6. Welche sozialen, kulturellen und psychischen Funktionen von Essen und Einkauf können durch Einschränkungen des Zugangs zu Lebensmitteln betroffen sein? Essen und Ernährung ist ein Feld, in dem konsumvermittelte gesellschaftliche Teilhabe realisiert werden kann. Die Erkenntnislage zur alimentären Teilhabe ist bisher jedoch relativ überschaubar. Aus diesem Grund präzisiert das Kapitel 6.4 die gesellschaftliche Bedeutung von Essen und Ernährung, indem es sich den Situationen widmet, in denen die sozialen, kulturellen und psychischen Funktionen von Essen und Ernährung deutlich werden. Anhand der Situationen, wie sie in den Interviews mit Expert*innen geschildert werden, lässt sich aufzeigen, dass Einschränkungen von Autonomie und Selbstständigkeit im Ernährungsbereich mit Folgen für das soziale, kulturelle und psychische Leben der Betroffenen verbunden sein können.
4. Der Zugang zu Lebensmitteln als Ansatzpunkt für die Untersuchung ihrer sozioökonomischen und physisch-räumlichen Erreichbarkeit
Ziel dieses Kapitels ist es, ein operationalisierbares Modell der Erreichbarkeit von Lebensmitteln zu entwickeln, mit dem eine empirische Untersuchung möglich ist. Es dient zur Beantwortung der ersten Leitfrage, die darauf abzielt, die Erreichbarkeit von Lebensmitteln auf eine Weise zu fassen, die der Bedeutung von Essen und Ernährung als Feld konsumvermittelter gesellschaftlicher Teilhabe gerecht wird. Mein Ausgangspunkt hierfür ist der food access-Ansatz, mit dem die Erreichbarkeit von Lebensmitteln in anderen Ländern bereits untersucht wird und den ich zu diesem Zweck weiterentwickele. Ich werde dazu die theoretischen Prämissen dieser Arbeit, eine intersektionale Perspektive auf soziale Ungleichheit und ein Verständnis von Ernährung als Feld konsumvermittelter gesellschaftlicher Teilhabe, in dieses Konzept einarbeiten. Food access spielt eine Rolle in so unterschiedlichen Konzepten wie (community) food security, food sovereignty und food justice. Entlang dieser Konzepte kläre ich in Kapitel 4.1 die Reichweite des food access-Begriffs, der dieser Arbeit zugrunde liegt. Für Städte im globalen Norden hat insbesondere die food desertForschung für eine Verbreitung der Überlegungen zu food access gesorgt. Vor dem Hintergrund der teilweise problematischen Konzeptualisierungen und Operationalisierungen, die dabei angewendet werden (vgl. Kapitel 4.2), entwerfe ich in Kapitel 4.3 ein multidimensionales Modell des Zugangs zu Lebensmitteln. Dieses berücksichtigt physisch-räumliche und sozioökonomische Bedingungen gleichberechtigt, erlaubt eine intersektionale Perspektive auf soziale Ungleichheit und eignet sich dazu, Einschränkungen von Autonomie und Selbstbestimmung zu erfassen.
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
4.1
Food access im Rahmen von food security, food sovereignty und food justice
Mit food access liegt ein Konzept vor, das inzwischen auch in Industriestaaten wie den USA, Kanada und Großbritannien eingesetzt wird, um die Erreichbarkeit von Lebensmitten zu untersuchen. Die Konzeptualisierung und Operationalisierung ist dabei abhängig von der Einbettung in den größeren Zusammenhang, in den die Untersuchung gestellt wird. Dazu gehören Fragen danach, was einen gelungenen food access kennzeichnet, das heißt, welche Lebensmittel auf welchen Wegen erreicht werden müssten, um von einer guten access-Situation zu sprechen. Im Folgenden arbeite ich die Unterschiede zwischen (community) food security, food sovereignty und food justice heraus und begründe die Entscheidung, das in dieser Arbeit verwendete food access-Modell auf dem Ansatz von food security aufzubauen. Für food security – ein Konzept, das in der Entwicklungszusammenarbeit entstanden ist und in den letzten 50 Jahren weiterentwickelt wurde – gab es bereits 1999 über 200 verschiedene Definitionen (Hoddinott 1999, 1-2). Während frühe Formulierungen von food security die zur Verfügung stehenden Lebensmittelmengen fokussieren, berücksichtigen Weiterentwicklungen zudem die sozialen und kulturellen Bedeutungen von Ernährung sowie die Bedeutung von subjektiven Wahrnehmungen einer angemessenen Versorgung (Maxwell 1996, 156ff.). Zu einflussreichen frühen Definitionen gehört die Fassung der World Food Conference 1974, die food security festhält als »availability at all times of adequate world supplies of basic food-stuffs […], to sustain a steady expansion of food consumption […], and to offset fluctuations in production and prices« (FAO 2003, 27). In Anbetracht globaler Lebensmittelpreissteigerungen fokussiert diese Definition die Notwendigkeit eines angemessenen globalen Marktangebotes von Grundnahrungsmitteln, das eine stetige Ausweitung des Lebensmittelkonsums ermöglicht und Produktions- und Preisschwankungen ausgleicht. Da der Schwerpunkt hier auf der Menge der verfügbaren Lebensmittel als Bedingung von Ernährungssicherheit liegt, zielen aus diesem Ansatz abgeleitete Maßnahmen auf die Steigerung landwirtschaftlicher Produktivität (Burchi und De Muro 2016, 11; Rosol 2015, 53) und die Reduzierung des Bevölkerungswachstums (Burchi und De Muro 2016, 11). Eine inzwischen weit verbreitete, in der Rome Declaration on World Food Security und im World Food Summit Plan of Action festgehaltene Definition1 rückt von
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Die Rome Declaration on World Food Security und der World Food Summit Plan of Action wurde auf dem World Food Summit 1996 von Vertreter*innen von 182 Staaten verabschiedet (FAO 1996). In der Rome Declaration wird Ernährungssicherheit definiert als »all people, at all times, have physical and economic access to sufficient, safe and nutritious food that meets their dietary needs and food preferences for an active and healthy life"(FAO 1996.).
4 Das Untersuchungsmodell: Der Zugang zu Lebensmitteln
dieser einseitigen Fokussierung ab und stellt die Möglichkeiten des Zugangs zu Lebensmitteln stärker in den Mittelpunkt. Food security gilt dann als erreicht, wenn alle Menschen jederzeit physischen und ökonomischen Zugang zu ausreichend nahrhafter und gesundheitlich unbedenklicher Nahrung haben, die sowohl ihren Kalorien- und Nährstoffbedarfen als auch ihren Lebensmittelvorlieben genügt und so ein aktives und gesundes Leben ermöglicht (FAO 1996).2 Anerkannt wird hier einerseits, dass Ernährungssicherheit nicht dann besteht, wenn ein Haushalt keinen Hunger leidet. Ernährungssicherheit ist erst dann gegeben, wenn die zugängliche Nahrung nicht nur das physische Überleben sichert, sondern auch sozialen und kulturellen Ansprüchen genügt. Andererseits deutet die Differenzierung in »physical and economic access« Bedingungen von Ernährungssicherheit an, die als Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse verstanden werden müssen. Trotz dieser Neuaufstellung halten die Entwicklungsökonomen Francesco Burchi und Pasquale De Muro das auf die Verfügbarkeit von Lebensmitteln bezogene ursprüngliche Konzept von food security weiterhin für sehr einflussreich: »Although in 1996 the World Food Summit adopted, with a large consensus, a much broader and advanced definition of food security that includes, in addition to availability, other fundamental dimensions of food security – such as access to and utilisation of food, a narrow sectoral focus on agricultural supply, productivity and technology still dominates the international food security discourse and practice.« (Burchi und De Muro 2016, 11) Die Geographin Lucy Jarosz arbeitet anhand zentraler Dokumente der FAO und der Weltbank zudem heraus, dass der Fokus von food security auf individueller Ebene oder Haushaltsebene dazu beiträgt, strukturelle Mechanismen wie gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse zu verschleiern, die food access jedoch prägen (Jarosz 2011, 120). Diese Kritik trifft auch auf die Verwendung von food security in der food desert- oder food access-Forschung in Großbritannien und den USA zu, die den eigentlich für den Globalen Süden verfassten food security-Ansatz auf Städte des Globalen Nordens übertrug. Auf die Problematiken der Konzeptualisierungen, die diesen Forschungen zugrunde liegen, komme ich in Kapitel 4.2 zurück. Food Security in seiner modernen Auslegung bezeichnet ein normatives Ziel, das auch Vertreter*innen der Konzepte food sovereignty, community food security 2
2001 ergänzte die FAO diese Definition um eine weitere Zugangsdimension. Im Glossar des Reports »The State of Food Insecurity in the World« wird food security festgehalten als »[a] situation that exists when all people, at all times, have physical, social and economic access to sufficient, safe and nutritious food that meets their dietary needs and food preferences for an active and healthy life« (FAO 2001, 49 Herv. HA). Diese Erweiterung hat sich bisher jedoch nicht durchgesetzt, auch in neueren Dokumenten wird oftmals die Definition von 1996 verwendet.
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
und food justice teilen. Im Gegensatz zu food security treffen sie jedoch nicht nur Aussagen zu Konsumaspekten, sondern positionieren sich auch zu den Wegen, mit denen diese Konsummöglichkeiten geschaffen werden sollen. Sie argumentieren dafür, sich nicht auf Ungleichheiten im Zugang zu Lebensmitteln zu beschränken und den Zustand des gesamten Ernährungssystems, die Bedingungen und Verhältnisse, unter denen Lebensmittel hergestellt, verarbeitet, verteilt und konsumiert werden, einzubeziehen. Im Gegensatz zu food security stellen community food security, food sovereignty und food justice das von global wirtschaftenden und auf Gewinn ausgerichteten Unternehmen dominierte System, in dem Lebensmittel produziert und verteilt werden, grundsätzlich infrage (Holt Giménez 2011, 115ff). La Vía Campesina, eine 1993 gegründete und inzwischen weltweit arbeitende Organisation von Kleinbäuer*innen (La Vía Campesina 2019), präsentierte anlässlich des World Food Summit 1996 food sovereignity als umfassenderes Alternativkonzept zu Ernährungssicherheit. Sie definierte food sovereignity als »the right of peoples to healthy and culturally appropriate food produced through ecologically sound and sustainable methods, and their right to define their own food and agriculture systems« (Forum for Food Sovereignity 2007). Die Forderung nach dem Zugang zu gesunder und kulturell angemessener Nahrung wird mit der Forderung nach Kontrolle des Ernährungssystems und der Kritik an den Machtpositionen global agierender Lebensmittelkonzerne verknüpft (vgl. Patel 2012). Der Zugang zu und Konsum von Lebensmitteln wird damit als untrennbar von den Bedingungen ihrer Produktion verstanden. Ernährungssicherheit kann aus dieser Perspektive nur als Folge von Ernährungssouveränität eintreten und nicht auf Grundlage des aktuellen kapitalistischen Wirtschaftssystems, das der Selbstbestimmung von kleinbäuerlichen Nahrungsmittelproduzent*innen und Konsument*innen entgegensteht. Ebenfalls in den frühen 1990er Jahren entwickelt, zielt auch das Konzept der community food security darauf ab, die Sphären von Lebensmittelkonsum und produktion (wieder) miteinander zu verbinden, um den Zugang zu Lebensmitteln vor allem in benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu verbessern (Levkoe 2011, 693). Definitionen von community food security gehen daher über food security hinaus und sprechen Aspekte der Produktion und/oder Verteilung von Lebensmitteln an, die stärker lokal und community-basiert organisiert werden sollen. Eine frühe Definition von 1997 von Mark Winne, Hugh Joseph und Andy Fisher meint mit community food security: »all persons in a community having access to culturally acceptable, nutritionally adequate food trough local non-emergency sources at all times« (Winne, Joseph und Fisher 1997, 4). Michael W. Hamm und Anne C. Bellows gehen mit ihrer vielzitierten Definition 2003 konkreter auf die gewünschten Produktionsverhältnisse ein und sehen community food security dann als erreicht, wenn »all community residents obtain a safe, culturally acceptable, nutritionally
4 Das Untersuchungsmodell: Der Zugang zu Lebensmitteln
adequate diet through a sustainable food system that maximizes community selfreliance and social justice« (Hamm und Bellows 2003, 37). In urbanen Zentren von Nordamerika wurde mit food justice ein weiteres, über Ernährungssicherheit hinausgehendes Konzept entwickelt, das sich gegen Ungerechtigkeiten im Ernährungssystem wendet. Es nimmt Bezug auf andere soziale Bewegungen, die gegen unterschiedliche Formen von Diskriminierung z.B. aufgrund von race oder Klasse kämpfen (Rosol 2015, 56).3 Anders als food security und food sovereignty hat sich für food justice bisher keine einheitliche Definition durchgesetzt. Patricia Allen sowie Robert Gottlieb und Joshi Anupama verweisen jedoch auf die zentralen Inhalte: Allen definiert food justice als Zustand, in dem »all have equal access to food, income and wealth, farmland, and fair labor conditions and the ability to be a part of decision-making processes in the food system« (Allen 2010, 191). Gottlieb und Anupama benennen soziale Gerechtigkeit, die Kritik und die Restrukturierung des dominanten Ernährungssystems und die Verbindung mit anderen sozialen Bewegungen z.B. für Rechte von Migrant*innen oder gerechte Arbeitsbedingungen als wichtigste Aktionsbereiche der food justice-Bewegung (Gottlieb und Anupama 2013, ix). Food justice bettet demnach die Forderung nach einem gerechten Zugang zu Lebensmitteln ein in die Forderung nach Demokratisierung des Ernährungssystems und wird als Teil sozialer Kämpfe unter anderem um die gerechte Verteilung gesellschaftsrelevanter Ressourcen begriffen. Es wird deutlich, dass die weitreichenderen Ansätze food sovereignty, community food security und food justice Perspektiven bieten, die die gesellschaftlichen Bedingungen und Bedeutungen von Lebensmittelkonsum umfassender aufgreifen, als es food security vermag. Insbesondere der im Globalen Norden entwickelte food justice-Ansatz, der den Zugang zu Lebensmitteln als Bestandteil einer gerechten Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen und der Teilhabe an Entscheidungsprozessen definiert, stellt Verbindungen her, die auch in dieser Arbeit aufgegriffen werden. Empirisch kann ich mich jedoch nur einem Ausschnitt der Forderungen widmen, die unter dem Begriff food justice gestellt werden: Im Fokus steht der Zugang zu Lebensmitteln, wie sie das derzeitige Wirtschaftssystem und die dominanten Produktions- und Distributionswege von Lebensmitteln formen. Die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen wie Einkommen oder die Rolle von Arbeitsbedingungen werden in diesem Zusammenhang als Bedingungen des Zugangs zu Lebensmitteln aufgegriffen, jedoch empirisch nicht eigens untersucht. Das der empirischen Untersuchung dieser Arbeit zugrunde liegende Modell geht daher nicht
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Als wichtiger Bezugspunkt der food justice-Bewegung wird die Forderung nach environmental justice genannt (Rosol 2015, 56). Mit dem Begriff environmental justice wird die sozialräumliche Ungleichverteilung von Umweltressourcen (z.B. Grünflächen) und Umweltbelastungen (etwa emittierende Müllverbrennungsanlagen) kritisiert, die unter anderem entlang der Strukturen Klasse und race verläuft (Walker 2009, 614).
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auf die über Konsum hinausgehenden Ansprüche ein, die food sovereignty, community food security oder food justice inhärent sind. Es spiegelt hingegen die Forderungen nach Ernährungssicherheit wider, dem gesicherten physischen, sozialen und ökonomischen Zugang zu ausreichend nahrhafter und gesundheitlich unbedenklicher Nahrung, der sowohl Kalorien- und Nährstoffbedarfen als auch Lebensmittelvorlieben genügt und ein aktives und gesundes Leben ermöglicht.
4.2
Food access in food desert- und food access-Studien
In Großbritannien untersuchen seit den 1990er Jahren, in den USA seit Mitte der 2000er Jahre sogenannte food desert-Studien die Erreichbarkeit von Lebensmitteln vor allem für benachteiligte Stadtbewohner*innen (Augustin 2014, 19). Bei der Klassifikation von städtischen Teilgebieten zu food deserts wird auf die Situation des food access in diesen Gebieten zurückgegriffen. Food deserts werden definiert als »areas of relative exclusion where people experience physical and economic barriers to accessing healthy foods« (Reisig und Hobbiss 2000, 138), als »area[s] with relatively poor access to adequate food provision« (Clarke, Eyre und Guy 2002, 2041), als »areas of poor access to the provision of healthy affordable food where the population is characterized by deprivation and compound social exclusion« (Wrigley, Warm und Margetts 2003, 151) oder als »deprived communities with limited access to adequate food retailing and food products« (Cummins u.a. 2008, 402). An der Konzentration auf arme Stadtteile bzw. am Vergleich benachteiligter und wohlhabenderer Stadtteile und am Fokus auf die Strukturen des lokalen Lebensmitteleinzelhandels lässt sich ein weithin geteiltes multidimensionales Verständnis von food access ablesen (vgl. Baker u.a. 2006; Block und Kouba 2006; Clarke, Eyre und Guy 2002; Cummins u.a. 2008; Galvez u.a. 2008; Jetter und Cassady 2006; Lin u.a. 2014; Morland und Filomena 2007; Powell u.a. 2007; Rose und Richards 2004; Shaw 2006; Short, Guthman und Raskin 2007; White u.a. 2004; Wrigley, Warm und Margetts 2003). Einflüsse auf food access werden erstens von lokalen Gelegenheitsstrukturen erwartet, das heißt der Verteilung von Geschäftsstandorten, den dort angebotenen Sortimenten und dem Preisniveau. Zweitens wird das Einkommen der Bewohner*innnen als einflussreich für die Zugangssituation angesehen. Food access besitzt demnach eine physisch-räumliche sowie eine (sozio)ökonomische Dimension. Dieses Verständnis von food access spiegelt die moderne Definition von food security wider, die zwischen »physical and economical access to safe and nutritious food« differenziert (FAO 1996). Trotz dieses mehrdimensionalen Verständnisses von food access wird das Konzept in vielen dieser Studien ausschließlich ausgehend von der physisch-räumlichen Ebene operationalisiert. Während die sozioökonomische Lage der Bevölkerung als Hintergrundvariable zur Auswahl von Untersuchungsgebieten in diese
4 Das Untersuchungsmodell: Der Zugang zu Lebensmitteln
Studien eingeht, stehen die lokal erhältlichen Lebensmittel im empirischen Fokus. Die Kartierung von Lebensmittelgeschäften (vgl. Baker u.a. 2006; Block, Scribner und DeSalvo 2004; Galvez u.a. 2008; Hendrickson, Smith und Eikenberry 2006; Horowitz u.a. 2004; Laraia u.a. 2004; Moore und Diez Roux 2006; Morland u.a. 2002; Wang u.a. 2007) und die Untersuchung ihrer Sortimente mittels Warenkorbanalysen (vgl. Block und Kouba 2006; Chung und Myers Jr. 1999; Donkin u.a. 1999; Hendrickson, Smith und Eikenberry 2006; Short, Guthman und Raskin 2007; White u.a. 2004) sind dementsprechend weitverbreitete Methoden. Weitere Dimensionen des Zugangs, z.B. Wissen und Erwartungen, stellen nur selten ein empirisches Untersuchungsobjekt dar (vgl. Hendrickson, Smith und Eikenberry 2006 für Erwartungen an die Produktqualität). Quantitative Ansätze, die vor allem das Angebot in den Blick nehmen, sind damit die dominanten Charakteristika der food desert-Forschung. Die Operationalisierung von food access in diesen Studien und die aus ihnen abgeleiteten Ergebnisse bilden die Grundlage für Handlungsansätze, die sich ebenso ausschließlich auf die Angebotsseite konzentrieren und z.B. die Eröffnung neuer Supermärkte vorschlagen. Jerry Shannon kritisiert diese »large scale fixes«, die die Bedeutung kleinerer Geschäfte, individueller Mobilität und Prozesse ökonomischer und rassistischer Segregation für den Zugang zu Lebensmitteln negieren (Shannon 2013, 250). Aus dem Blick gerät dabei das Ernährungssystem insgesamt und damit auch die Arbeitsbedingungen der Produzent*innen und Konsument*innen, die wiederum ausschlaggebend für den finanziellen Zugang zu Lebensmitteln sind: » […] by naturalizing supermarkets as a measure and solution to food access in urban communities, these maps normalize a governing logic in which institutional visibility and access to cheap produce take precedence over other, more complicated concerns: broader systems of foodsʼ production and distribution, the role of agricultural subsidies on food prices, and the working conditions of those who both produce and buy food« (Shannon 2013, 258). Julie Guthman würdigt zunächst die Verschiebung der Perspektive auf gesundheitliche Ungleichheit, die food desert-Studien vornehmen. Sie lenken den Blick von der im Gesundheitswesen im Vordergrund stehenden individuellen auf eine strukturelle, bauliche Ebene (Guthman 2011, 67). Konterkariert wird dieser positive Aspekt für Guthman allerdings durch das Weiterbestehen der Grundannahme, ernährungsbezogene Krankheiten, insbesondere Fettleibigkeit, seien eine Konsequenz individuellen Handelns. Die Verschränkungen von Klassenlage und rassistischer Diskriminierung bleiben dabei unberücksichtigt (Guthman 2011, 76). Mit der Verbindung von Klassen-, Geschlechter- und race-Strukturen nimmt Guthman eine intersektionale Perspektive ein. Sie stellt sich wie Shannon sowohl gegen eine distanzdeterministische Argumentation, die räumliche Faktoren überbetont, als
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
auch gegen individualistische Erklärungen, die den Einfluss sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Strukturen negieren. Aus geographischer Perspektive kann die Kritik von Shannon und Guthman auch verstanden werden als Kritik an einem klassischen, absolutistischen Raumverständnis, das auch als positivistisches Raumverständnis bezeichnet wird (Vogelpohl 2008, 71). Es begreift Raum als »Gefäß, Behälter oder Container«, das »unabhängig von allem anderen« untersucht werden könne (Drilling 2008, 55f). Arbeiten mit einem solchen Raumverständnis blenden soziale Praktiken weitestgehend aus und stellen ein Kausalzusammenhang zwischen Raumstrukturen und Verhalten her. Raumcharakteristika werden zur Erklärung von Interaktion und Handlung herangezogen (Drilling 2008, 56). Dem gegenüber steht ein relationales Raumverständnis, das davon ausgeht, dass Raum durch Handeln produziert wird, »Raum wird durch Körper gebildet« (Drilling 2008, 56, Hervorhebung im Original). Es gehört inzwischen zum »Standardrepertoire der Raumforschung […], Räume nicht als ›Container‹ zu verstehen, sondern als Ursache und Produkte von Handlungen, von Diskursen, von Institutionen etc.« (Vogelpohl 2008, 71). Räumliche Ordnungen sind demnach als Ausdruck sozialer Ungleichheit zu sehen, die zwar einen Ansatzpunkt für die Verbesserung von Handlungsbedingungen bieten, mit der die Ursache ungleicher Lebensbedingungen jedoch unangetastet bleibt: »Ungleichheiten der Klassenlage und Einkommen, des Geschlechts, der Lebensstile und Lebensphasen manifestieren sich in den Sozialräumen der Städte, ihrer Ausstattung mit Infrastruktur und Wohnraum, der Zugänglichkeit und Nutzbarkeit ihrer öffentlichen Plätze. Städte erzeugen diese Ungleichheiten nicht, aber sie können sie verstärken oder auch abschwächen und ihre problematischen Folgen mehr oder weniger kompensieren.« (Kronauer und Siebel 2013, 9) Von diesem Standard ausgehend entwickle ich ein food access-Modell, das weder Raumcharakteristika noch soziale Praxis isoliert betrachtet. Der problematischen und stark angebotskonzentrierten Konzeptualisierung des Zugangs zu Lebensmitteln aus dem Bereich der food desert-Studien setze ich ein Modell und eine Operationalisierung entgegen, die den verschiedenen Funktionen von Lebensmittelkonsum (Sicherung physischen Überlebens, Garant sozialer Teilhabe) umfassender entspricht und die Bedingungen des Zugangs weder ausschließlich über das vorhandene Lebensmittelangebot noch unabhängig von ihrer sozialen und räumlichen Einbettung erfasst.
4.3
Der Zugang zu Lebensmitteln – ein multidimensionales Modell
Neben den im letzten Unterkapitel kritisierten Ansätzen der klassischen food desert- und food access-Forschung wurden vereinzelt weiterreichende Konzepte
4 Das Untersuchungsmodell: Der Zugang zu Lebensmitteln
entwickelt, die die Multidimensionalität von food access konsequenter erfassen und operationalisieren. Auf Grundlage dieser Konzepte arbeite ich im folgenden Abschnitt mein multidimensionales Modell des Zugangs zu Lebensmitteln heraus. Während in der klassischen food desert Forschung die ökonomische Dimension von food access zwar bekannt ist, jedoch selten untersucht wird, entwerfen beispielsweise das interdisziplinäre Forschungsteam der Universität Newcastle upon Tyne um Martin White, die public health-Wissenschaftler*innen Julia A. Wolfson, Rebecca Ramsing, Caroline R. Richardson und Anne Palmer, der Sozialwissenschaftler Hillary Shaw und die Food Access Task Force von SPUR, der San Francisco Bay Area Planning and Urban Research Association, alternative Herangehensweisen. Sie alle behandeln den sozio-ökonomischen Aspekt von food access ebenbürtig mit seiner physisch-räumlichen Dimension. Die Forschungsteams um White und Wolfson erarbeiten Beispiele für empirische Umsetzungen eines multidimensionalen food access-Konzeptes. So erfassen White et al. in ihrer Untersuchung des food access in Newcastle upon Tyne nicht nur die Standortverteilung von Lebensmittelgeschäften, Angebote, Preise und die Lebensmittelqualität, sondern stellen auch Zusammenhänge zu Aspekten des sozioökonomischen Zugangs zu Lebensmitteln her wie dem Einkommen oder dem Ernährungswissen (White u.a. 2004, 32ff). Ähnlich verbinden Wolfson et al. in ihrer Online-Befragung zu Hindernissen beim Zugang zu gesundem Essen Fragen zu physisch-räumlichen Barrieren, etwa Distanzen zu den genutzten Lebensmittelgeschäften und fehlenden Transportmöglichkeiten, mit sozioökonomischen Hürden, die z.B. auf zu geringen finanziellen Ressourcen beruhen (Wolfson u.a. 2019, 299). Die Ansätze von Shaw sowie der Food Access Task Force von SPUR sind hingegen vor allem aufgrund ihrer theoretischen Ausführungen des food accessBegriffes interessant. Sie differenzieren das weithin geteilte Verständnis eines physisch-räumlich und ökonomisch bedingten food access weiter aus: Auf Grundlage von semistrukturierten Interviews unter anderem mit Konsument*innen und Geschäftsführer*innen von Lebensmittelgeschäften in Leeds und North Lincolnshire arbeitet Shaw eine dreidimensionale Differenzierung von food access aus. Er unterscheidet zwischen den Bedingungen ability, asset und attitude (Shaw 2006, 241f). Mit attitude, der wissens- und einstellungsbezogenen Dimension des food access, spricht Shaw die Verteilung von Ernährungswissen, Kochkenntnisse und hauswirtschaftliche Fertigkeiten an sowie Lebensmittelvorlieben, die auf Gesundheitsvorstellungen, religiösen, kulturellen oder moralischen Einstellungen beruhen. Asset bezeichnet die finanziellen Möglichkeiten eines Haushaltes oder einer Person, Lebensmittel zu erreichen. Zu den physisch-räumlichen Bedingungen des Zugangs zu Lebensmitteln, die Shaw als ability-Dimension bezeichnet, zählen etwa die Struktur des Lebensmitteleinzelhandels eines Gebietes, das heißt die Verteilung von Geschäftsstandorten und die Betriebsformen, angebotene Waren und Preise, aber auch Barrieren im Straßenraum und in Geschäften wie
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Stufen, Schwellen oder unzulängliche Bodenbeläge (Shaw 2006, 241f). Die Food Access Task Force von SPUR geht von den gleichen Bedingungen für den Zugang zu Lebensmitteln aus, ordnet sie jedoch in ein System mit den vier Dimensionen physical, economic, educational und cultural (SPUR 2015, 7, siehe Tabelle 4). Educational und cultural entsprechen den Bedingungen, die Shaw unter attitude zusammenfasst. Tabelle 4 Dimensionen des food access der Food Access Task Force von SPUR Physical Can you find healthy food?
Economic Can you afford healthy food?
Supply
Educational
Cultural
Do you know how to make healthy choices and how to cook?
Do you want the healthy food that is available and affordable?
Demand
Quelle: Eigene Darstellung nach SPUR 2015, 7
Ein multidimensionales Modell von food access bildet demnach physischräumliche Bedingungen des Zugangs zu Lebensmitteln genauso ab wie ökonomische, wissensbasierte und auf kulturellen, religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen beruhende Möglichkeiten, das lokale Lebensmittelangebot wahrzunehmen. In meinem Modell des mehrdimensionalen Zugangs zu Lebensmitteln fasse ich diese Möglichkeiten unter dem Begriff der sozioökonomischen Bedingungen zusammen, um zu kennzeichnen, dass diese Optionen nicht gleich oder nur unsystematisch verteilt, sondern gesellschaftlich strukturiert sind. Um diese sozioökonomische Einbettung zu betonen, setze ich gesellschaftliche Strukturen, unter denen der Zugang zu Lebensmitteln realisiert wird, als ersten Ausgangspunkt meines Modells fest. Mit dem intersektionalen Paradigma ziehe ich die Kategorien Klasse, race, Geschlecht und Körper heran, um Ungleichverteilungen der genannten Möglichkeiten zu erklären. Einzelhandelsstrukturen und andere physisch-räumliche Gegebenheiten wie die Gestaltung des Straßenraumes bilden die zweite Dimension, von der ich einen Einfluss auf den Lebensmittelzugang annehme. Dieser Bereich konstituiert die physisch-räumlichen Bedingungen, vor denen der Lebensmittelzugang realisiert wird. Angesicht der verschiedenen Funktionen, die Ernährung zukommen, insbesondere ihrer Bedeutung als Feld gesellschaftlicher Teilhabe, halte ich nicht nur Ausgangspunkte, sondern auch die verschiedenen, mit Ernährung verbundenen Wirkungssbereiche fest. Diese weisen darauf hin, dass eine mehrdimensionale Untersuchung des Zugangs zu Lebensmitteln nicht auf Einschränkungen der gesundheitlichen Funktion von Ernährung beschränkt ist, sondern auch die soziale, kulturelle und psychologische Bedeutung von Ernährung berücksichtigt. Das Modell
4 Das Untersuchungsmodell: Der Zugang zu Lebensmitteln
eines multidimensionalen Zugangs zu Lebensmitteln ist in Abbildung 8 zusammengefasst.
Abbildung 8 Mehrdimensionales Untersuchungsmodell
Quelle: Eigene Darstellung
Um den empirischen Ansatzpunkt eines solchen Modells zu bestimmen, halte ich die theoretischen Ausführungen zum access-Begriff für hilfreich, die Jesse Ribot und Nancy Peluso im Kontext des Managements (natürlicher) Ressourcen erarbeitet haben. Sie definieren Zugang als »ability to benefit from things – including material objects, persons, institutions, and symbols« (Ribot und Peluso 2003, 153), das heißt als Fähigkeit, von materiellen Objekten und immateriellen Dingen wie Personen, Institutionen und Symbolen zu profitieren. Diese in Abgrenzung zu Besitz und Eigentum entwickelte Definition lässt sich auf die Ressource Lebensmittel übertragen. Sie unterstützt die Identifizierung des Untersuchungsgegenstandes und folglich seine Operationalisierung. Als Untersuchungsobjekt schlagen Ribot und Peluso nicht die materielle oder immaterielle Ressource an sich vor, sondern den Nutzen oder Vorteil, der von ihr ausgeht (Ribot und Peluso 2003, 161). Die
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Identifizierung des Untersuchungsobjektes, die den Blick von der Ressource an sich auf den durch ihre Nutzung entstehenden Vorteil lenkt, stimmt mit meinem Anliegen überein, den Zugang zur Ressource Lebensmittel vor dem Hintergrund ihrer Notwendigkeit für das physische Überleben und die Erhaltung von Gesundheit einerseits sowie ihren Nutzen zur Verwirklichung gesellschaftlicher Teilhabe andererseits zu betrachten. In den Mittelpunkt der Analyse des Zugangs zu einer Ressource stellen Ribot und Peluso die Frage, durch welche (Macht-)Mechanismen unter gegebenen politischen und sozialen Umständen Zugang hergestellt, aufrechterhalten und kontrolliert wird. Die Untersuchung von Zugang sei die »analysis of the multiple mechanisms by which individuals, groups, or institutions gain, control, or maintain access within particular political and cultural circumstances« (Ribot und Peluso 2003, 161). Aus diesem Verständnis leitet sich die empirische Anforderung ab, die Bedingungen aufzudecken, die den Einkaufsentscheidungen zugrunde liegen und die Grenzen möglicher und unmöglicher Handlungen, das heißt die Handlungsfreiheit markieren. Wird nicht die Ressource an sich, sondern der sich aus ihr ergebende Vorteil in den Vordergrund gestellt, erscheint die Ausrichtung auf den Lebensmitteleinzelhandel in den klassischen food desert-Studien unpassend. Vielmehr muss eine Herangehensweise gefunden werden, die die Bedingungen, unter denen eine vorteilhafte Nutzung des Lebensmitteleinzelhandels erfolgen kann, möglichst umfassend abdeckt. Diesen Ansatzpunkt sehe ich beim Lebensmitteleinkauf. Die Konsumgeographen Jonathan Everts und Peter Jackson bezeichnen ihn als Drehund Angelpunkt der Beziehung zwischen Konsument*innen und Produzent*innen in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften und daher als angemessenen Ausgangspunkt zur (geographischen) Untersuchung von Konsum (Everts und Jackson 2009, 921). Auch für diese Arbeit stellt der Akt des Einkaufs eine geeignete Basis dar. Obwohl der Eigenanbau von Obst und Gemüse in der Stadt in jüngerer Zeit eine Renaissance erlebt (vgl. Rosol 2006; Müller 2011, Kumnig, Rosol und Exner 2017), ist der Einkauf von Lebensmitteln in marktbasierten Ernährungssystemen4 die gängige Form der häuslichen Versorgung. Diese Form wird einerseits insbesondere für Bevölkerungsgruppen in prekären Lebenssituationen, die sich regelmäßige Restaurant- oder Kantinenbesuche nicht leisten können, als relevant erachtet. Andererseits bietet sich der Einkauf5 als konkrete Handlung des alltäglichen Lebensmittelkonsums an, die auch in dem übersichtlichen Zeitrahmen quantitativer 4 5
Vgl. Holt Giménez (2011) für eine Diskussion des aktuellen Ernährungssystems. Konsum ist als mehrphasiger Prozess der Beschäftigung mit einem Produkt oder einer Dienstleistung eingeführt worden (vgl. Kapitel 3.2). In dieser Arbeit können nicht alle Phasen thematisiert werden, die Untersuchung von Konsum verlangt eine Schwerpunktsetzung, die dem thematischen Fokus entspricht. Aus diesem Grund greife ich greife den Einkauf als eine dieser Phasen auf.
4 Das Untersuchungsmodell: Der Zugang zu Lebensmitteln
Befragungen reflektiert werden kann. Diese Arbeit setzt daher am Lebensmitteleinkauf an, um alltägliche Einschränkungen gesellschaftlicher Teilhabe aufzuzeigen. In diesem Kapitel habe ich ein multidimensionales Zugangsmodell entworfen, mit dem untersucht werden soll, inwiefern das Zusammenspiel physisch-räumlicher und sozioökonomischer Bedingungen Handlungsfreiheiten in Bezug auf den Konsum von Lebensmitteln einschränken kann. Zentral für die Bewertung von Zugangssituationen ist ein Verständnis von Lebensmittelkonsum, das ihm nicht nur Funktionen für die Sicherung physischen Überlebens und die Aufrechterhaltung von Gesundheit zuordnet, sondern Konsum auch für das Erleben gesellschaftlicher Teilhabe als relevant hält. Mithilfe des entworfenen Modells analysiere ich im empirischen Teil dieser Arbeit die physisch-räumliche und sozioökonomische Erreichbarkeit von Lebensmitteln. Da benachteiligte Bevölkerungsgruppen im Fokus dieser Arbeit stehen, werden Einschränkungen dieser Erreichbarkeit auf Zusammenhänge zu Determinanten sozialer Ungleichheit hin untersucht. Vor dem Hintergrund eines intersektionalen Verständnisses von sozialer Ungleichheit sind Klasse, Geschlecht, race und Körper als strukturell wirkende Kategorien bestimmt worden, die ich in diesem Zusammenhang berücksichtige.
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5. Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
Dieses Kapitel geht darauf ein, mit welchen Methoden das Modell umgesetzt wird, das ich im vorangegangen Teil erarbeitet habe. Dazu begründe ich zunächst in einem Überblick die gewählte Vorgehensweise (Kapitel 5.1) und gehe dann auf die Herausforderungen der Umsetzung des Intersektionalitätsparadigmas ein (Kapitel 5.2). Anschließend stelle ich die Methoden im Einzelnen vor (Kapitel 5.3-5.6) und charakterisiere die sozioökonomische Ausgangslage in den Untersuchungsgebieten (Kapitel 5.7).
5.1
Methodische Vorgehensweise
Welches methodologische Programm in einer Studie zum Einsatz kommt, das heißt welche Methode angewendet wird bzw. welche Methoden in welcher Weise und mit welchen Zielen kombiniert werden, sollte von der der zu beantwortenden Forschungsfrage abhängig gemacht werden (Kelle 2008, 18; Kuckartz 2014, 50). Um die Erreichbarkeit von Lebensmitteln in benachteiligten Stadtteilen in einer Weise zu untersuchen, die den multidimensionalen Bedingungen des Lebensmittelzugangs gerecht wird, und sowohl Bezüge zu den zugrunde liegenden sozialen Strukturen herzustellen, als auch die möglichen physiologischen, sozialen, kulturellen und psychologischen Folgen von Einschränkungen in den Blick zu nehmen, werden in dieser Arbeit unterschiedliche Methoden auf zwei Ebenen kombiniert: Einerseits verknüpfe ich klassische geographische Methoden (Kartierungen) mit sozialwissenschaftlichen Vorgehensweisen (Befragung und Expert*inneninterviews). Diese Methodenkombination ist in der Humangeographie geläufig und wurde in anderen Studien zum Lebensmitteleinzelhandel oder zu Konsum bereits erfolgreich eingesetzt (vgl. Everts 2008; Weiß 2006). Andererseits kombiniere ich innerhalb der sozialwissenschaftlichen Methoden qualitative (leitfadengestützte Expert*inneninterviews) und quantitativen (Befragung) Verfahren. Die Überprüfung vorab formulierter (Zusammenhangs-)Hypothesen auf ihre Evidenz gehört zu den Aufgaben der quantitativen Sozialforschung (Kelle 2008, 282f). Damit eignet sich zur Überprüfung der Hypothese von Einschränkungen
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
im Lebensmittelzugang ein quantitatives Vorgehen: Anhand der Befragungsdaten werden Zusammenhänge zwischen Einschränkungen und sozialen Kategorien statistisch analysiert. Das Ziel qualitativer Methoden besteht hingegen darin, »die Prozesse zu rekonstruieren, durch die die soziale Wirklichkeit in ihrer sinnhaften Strukturierung hergestellt wird« (Lamnek und Krell 2016, 44). Die Expert*inneninterviews dienen entsprechend in dieser Arbeit dazu, die hinter den statistischen Zusammenhängen von Zugangsbedingungen und Einkaufshandlungen stehenden Orientierungen und Regeln aufzudecken. Trotz der Kritik, die Vertreter*innen der quantitativen und qualitativen Forschungstradition an den jeweils anderen Herangehensweisen und Standards üben, erzielen Studien, die beide Forschungsansätze kombinieren, Ergebnisse, die die Theoriebildung nachhaltig beeinflussen (Kelle 2008, 14f). Dazu gehört beispielsweise die Marienthal-Studie aus den 1930er Jahren, die die Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit mit Befragungen, Beobachtungen und die Sekundärauswertung statistischer Daten untersucht (Diekmann 2006, 18). Die in dieser Arbeit angewendete Kombination quantitativer und qualitativer Verfahren entspricht einer Triangulation auf methodischer Ebene (Methodentriangulation) (Flick 2014, 480; Kuckartz 2014, 46f), mit der ein umfassenderes Verständnis des Forschungsgegenstandes erreicht werden soll. Konkret lassen sich etwa statistische Zusammenhänge verständlicher und anschaulicher darstellen, wenn sie um qualitative Daten (Interviewtranskripte, Filme oder Bilder) ergänzt und so kontextualisiert werden. Auch die Möglichkeiten, qualitative Ergebnisse zu generalisieren, lassen sich verbessern, wenn sie um quantitative Angaben erweitert werden (Kuckartz 2014, 54). Die Methodentriangulation dient demnach der Erhöhung der Validität meiner Forschungsergebnisse. Die einzelnen Erhebungsverfahren liefen z.T. zeitlich parallel. Die zum Einstieg in das Thema gedachte teilnehmende Beobachtung in einer Ausgabestelle der Bremer Tafel e. V. fand zwischen September und Dezember 2015 statt. Die Kartierung der Lebensmitteleinzelhandelsstandorte sowie der dort angebotenen Sortimente erfolgte von Februar bis April 2016. Die saisonale Vergleichbarkeit zwischen den einzelnen Verkaufsstätten ist damit gegeben. Die Expert*inneninterviews führte ich von September 2015 bis September 2016, die Bewohner*innenbefragung erfolgte zwischen Januar und September 2016. Die Parallelität von Befragung und Interviews erlaubte es nicht, Ergebnisse des einen Verfahrens in den Entwurf des zweiten Verfahrens einfließen zu lassen, also z.B. statistische Auffälligkeiten aus der Befragung in den Interviews zu thematisieren. Allerdings – und das ist bei der als schwer erreichbar geltenden Zielgruppe von besonderer Bedeutung – konnten durch die Parallelität in den Interviews Hinweise auf geeignete Kontexte für die Befragung gewonnen werden. Die Aufbereitung der Daten wie die Transkription der Expert*inneninterviews, wurde zum Teil parallel zur laufenden Datener-
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
hebung durchgeführt. Mit der Auswertung wurde jeweils nach Abschluss der einzelnen Erhebungsverfahren begonnen.
5.2
Methodische Umsetzung einer intersektionalen Perspektive
Eine Arbeit mit intersektionaler Perspektive hat den Anspruch, das Zusammenwirken von verschiedenen Diskriminierungsformen, das heißt von verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen analytisch zu erfassen. Winker und Degele entwerfen mit der intersektionalen Mehrebenenanalyse ein umfassendes methodisches Design, das das betrachtete Phänomen auf drei Ebenen (Struktur, symbolische Repräsentation und Identität) untersucht, um die Überschneidung von Herrschaftsverhältnissen und die daraus entstehenden (Diskriminierungs-)Wirkungen aufzudecken (vgl. Winker und Degele 2009). Das bedeutendste empirische Material der intersektionalen Mehrebenenanalyse sind verschriftlichte Formen sozialer Praxis wie Transkripte von Interviews oder Gruppendiskussionen. Auf ihrer Grundlage werden Identitätskonstruktionen beschrieben, symbolische Repräsentationen identifiziert und Bezüge zur Sozialstruktur hergestellt (Winker und Degele 2009, 80ff). In der empirischen Sozialforschung lässt sich die Komplexität des intersektionalen Paradigmas nur selten in ein ähnlich zufriedenstellendes methodisches Design übertragen. So wird häufig als Kompromiss auf eine Analyseebene fokussiert (Scambor, Scambor und Zimmer 2012, 4). Dies ist auch in dieser Arbeit der Fall, die die Strukturebene gesellschaftlicher Verhältnisse fokussiert und die Ebenen der symbolischen Repräsentation und der Identität nur am Rande berührt. Mit Blick auf Studien, die den Untersuchungsgegenstand auf diesen anderen Ebenen analysieren, kann eine auf der Strukturebene ansetzende Arbeit trotzdem einen wesentlichen Beitrag zu einer umfassenden Analyse leisten (Scambor und Scambor 2012, 43ff). Für eine umfassende intersektionale Betrachtung des Zugangs zu Lebensmitteln kommen als Ergänzung beispielsweise auf der Identitäts- und Repräsentationsebene angesiedelte Arbeiten aus der soziologischen Armuts- oder Konsumforschung infrage, die die sozioökonomischen Aspekte des Zugangs zu Lebensmitteln nicht auf finanzielle Gesichtspunkte beschränken, sondern Geschlecht, race und Körper gleichermaßen und in ihren Wechselwirkungen einbeziehen. Methodisch wären dazu z.B. qualitative Interviews mit Konsument*innen denkbar. Dem Anspruch nach Offenheit für eine unbegrenzte Zahl von potenziell wirkenden Kategorien, die Winker und Degele für die Analyse der Identitätsebene fordern (Degele und Winker 2007, 5), kann ein induktives Vorgehen genügen, das wie in der Grounded Theory von einer auf den Gegenstand bezogenen Theoriebildung ausgeht. Für die Strukturebene verweisen die Autor*innen wie in Kapitel 3.1.1 dargelegt auf vier zu berücksichtigende Kategorien – Klasse, Geschlecht, race und Körper –, die die »soziale Lage von Gesellschaftsmitgliedern aus ihrer Stellung
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
zum Arbeitsmarkt und ihrer Verantwortung für die Reproduktion der Arbeitskraft« bestimmen (Degele und Winker 2007, 7). Diese begrenzte Zahl von Kategorien erlaubt auch quantitative Verfahren, wie sie in dieser Arbeit eingesetzt werden. Klasse definiere ich auf Grundlage des Einkommens, das heißt des ökonomischen Kapitals. Kulturelles Kapital wird über den höchsten Bildungsabschluss operationalisiert. Im Pretest rief die Frage nach dem Geschlecht Unverständnis unter den Befragten hervor, da mehr Antwortoptionen als nur die binäre Aufteilung in männlich und weiblich gegeben waren. In der Hauptbefragung habe ich daher das Geschlecht über die Äußerlichkeit der Person eingeschätzt und nur zwischen männlich und weiblich unterschieden. Race kann als Konstrukt auf so unterschiedlichen Grundlagen wie Ethnie, Hautfarbe, Körperkonstitution oder Religion beruhen. In dieser Arbeit nähere ich mich der Kategorie race über die Frage nach dem Land an, in dem die befragte Person hauptsächlich sozialisiert wurde. Diese Entscheidung beruht auf der Annahme, dass mit der Sozialisation auch eine Gewöhnung an bestimmte Lebensmittel, Zubereitungsweisen und Versorgungsformen wie dem Einkauf auf dem Markt, im Supermarkt oder dem Eigenanbau, stattfindet. Race kann auch in der Ernährungsweise, etwa bei religiös bedingtem Verzicht auf bestimmte Lebensmittel, oder bei der Orientierung an verschiedenen Landesküchen zum Ausdruck kommen. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Verwendung von Rezepten aus verschiedenen Landesküchen stets in Zusammenhang mit einem entsprechenden Migrationshintergrund steht. Die Verwendung von als italienisch beschriebenen Rezepten ist beispielsweise auch in der weißdeutschen Mehrheitsgesellschaft weit verbreitet. Auf Körperverhältnissen beruhende Einschränkungen im Zugang zu Lebensmitteln werden in dieser Arbeit auf Grundlage von Alter und körperlichen Mobilitätsfähigkeiten festgehalten. Eine statistische Analyse wird erst durch diese Komplexitätsreduktion möglich. Gleichzeitig ist die Beschränkung dieses Zugangs offensichtlich: »Andere als die begrifflichforschungsstrategisch vordefinierten Phänomene können in dieser Zone des ›Puzzles‹, mit dem Gesellschaft wissenschaftlich-symbolisch modelliert werden soll, auch nicht erkannt werden« (Scambor, Scambor und Zimmer 2012, 5). Wie Sybille Hardmeier festhält, wird Intersektionalität in den meisten quantitativen Studien als Analysewerkzeug und weniger als theoretischer Grundzugang verwendet. Als abhängige Variable werden nicht die Intersektionen von Geschlecht, race, Klasse und anderem untersucht, sondern die Effekte dieser Kategorien auf andere Variablen (Hardmeier 2011, 116). Die Intersektionalitätsforschung wird zum Anlass genommen, das Zusammenspiel der unabhängigen Variablen (z.B. Geschlecht, race und Klasse) und die dadurch erzeugten Effekte auf eine abhängige Variable zu untersuchen und so komplexe soziale Positionierungen auf interagierende Strukturkategorien zurückzuführen. Hardmeier schlägt Regressionsund Varianzanalysen mit Interaktionstermen vor, die die unabhängigen Variablen nicht addieren, sondern multiplizieren, um dem intersektionalen Postulat zu ent-
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
sprechen, dass sich die Wirkungen verschiedener Differenzkategorien nicht addieren lassen (Hardmeier 2011, 119).1 Ziel einer Regressionsanalyse ist die Zurückführung einer abhängigen auf eine oder mehrere unabhängige Variablen um Vorhersagen für die abhängige Variable aus den betrachteten unabhängigen Variablen zu treffen (Kuckartz u.a. 2013, 259). Mit Varianzanalysen lässt sich anhand des Mittelwerts in verschiedenen Stichproben der Einfluss einer oder mehrerer unabhängiger Variablen auf eine abhängige Variablen identifizieren (Kuckartz u.a. 2013, 185). Auch in dieser Arbeit bilden Intersektionen von Kategorien nicht den eigentlichen Untersuchungsgegenstand, sondern deren Wechselwirkung auf den Zugang zu Lebensmitteln. Daher war die Anwendung einer Regressionsanalyse mit dem von Hardmeier vorgeschlagenen Interaktionsterm vorgesehen. Bei der Datenaufbereitung stellte sich jedoch heraus, dass die Samplegröße für eine multivariate Analyse nicht ausreichte. Nicht alle Ausprägungen der unabhängigen Variablen waren in ausreichender Zahl im Sample vertreten, um die unabhängigen Variablen in einer Regressionsgleichung miteinander zu kombinieren und den Effekt jeder unabhängigen Variable auf die abhängige Variable unter Kontrolle der anderen unabhängigen Variablen zu prüfen. Daher nutze ich stattdessen das für die vorliegenden Daten angemessene Werkzeug der Kreuztabellenanalyse. Auch mit Kreuztabellen lassen sich Zusammenhänge zwischen Variablen prüfen, Zusammenhangsstärken z.B. durch Chi-Quadrat errechnen und die Signifikanz des Zusammenhangs bestimmen. Dieses eigentlich bivariate, das heißt auf zwei Variablen beschränkte Verfahren lässt sich für ein intersektionales, an der Interaktion verschiedener Strukturvariablen interessiertes Vorgehen nutzbar machen. Dazu wird der Einfluss von Drittvariablen in Partialtabellen kontrolliert (siehe Kapitel 5.5.2). In diesen Partialtabellen wird geprüft, ob der Zusammenhang zwischen einer Strukturvariable (z.B. race) und einer abhängigen Variable (z.B. die Einkaufswegedauer) für alle Ausprägungen einer weiteren Strukturvariable (z.B. in allen Altersklassen) stabil ist – oder ob sich die Stärke des Zusammenhangs in Abhängigkeit der Altersvariable ändert. An der konstanten oder variierenden Effektstärke können Überkreuzungen von Strukturvariablen sichtbar gemacht werden. Diesen Überkreuzungen und ihren Wirkungen auf den Zugang zu Lebensmitteln kommt bei der Auswertung der Expert*inneninterviews ebenfalls hohe Aufmerksamkeit zu.
1
Eine entsprechende Regressionsgleichung würde z.B. lauten y = Konstante + (brace ∙ xrace ) ∙ (bKörper ∙ xKörper ) statt der klassischen Regressionsgleichung y = Konstante + brace ∙ xrace + bKörper ∙ xKörper . Dabei steht y für den Vorhersagewert, b für das jeweilige Regressionsgewicht der Variablen, x für die einzelnen unabhängigen Variablen (Prädiktoren).
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
5.3
Teilnehmende Beobachtung bei einer Tafelausgabestelle
Die teilnehmende Beobachtung ist eine aus der Ethnologie stammende Methode, die darauf abzielt, eine Innensicht auf die in einem Feld relevanten Handlungsstrukturen zu gewinnen (Münst 2008, 372). Die Mitarbeit bei einer Ausgabestelle der Bremer Tafel über vier Monate hinweg habe ich dazu genutzt, um mich dem Forschungsfeld, der Versorgung in prekären Lebenslagen, anzunähern. Lebensmitteltafeln bilden Orte, an denen die Zusammenhänge von Armut und Ernährung sichtbar werden. Das Einsammeln, Sortieren und Ausgeben der Lebensmittel stellte praktische Nähe zu den Lebensmitteln her, die für arme Menschen als angemessen angesehen werden. Dabei sowie während der Beobachtung von Verwaltungsaufgaben (z.B. Anmeldung neuer Nutzer*innen und Koordination der Ehrenamtlichen) näherte ich mich durch Gespräche mit den Mitarbeiter*innen der Tafel, die teilweise selbst auf Sozialleistungen angewiesen sind, außerdem einer prekären Lebenswelt an, die ich nicht aus eigener Erfahrung kenne. Die unmittelbar nach einem Einsatz verfassten Feldnotizen dienten zur Reflektion dieser Gespräche und ermöglichten mir, mir meiner normativen Vorstellungen von guter Ernährung bewusst zu werden. Darüber hinaus konnten auf Grundlage der Feldnotizen die organisationsbedingte Spezifik der Versorgung bei einer Lebensmitteltafel herausgearbeitet werden, die in Kapitel 6.3.3 als markantes Beispiel dafür dient, wie im Kontext der Lebensmittelversorgung Autonomie und Entscheidungsmacht eingeschränkt werden. Bei einem kurzfristigen Forschungsaufenthalt in Calgary, Kanada im März 2018 besuchte ich zudem verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen, die zum Themenfeld Ernährungsunsicherheit und -armut arbeiten. Einige der dort beobachteten Modelle stelle ich als Abschluss des Kapitel 6.3.3 den deutschen Lebensmittetafeln gegenüber.
5.4 5.4.1
Kartierung von Standorten und Sortimenten des Lebensmitteleinzelhandels Datenerhebung
Um die subjektive Wahrnehmung der Nahversorgungssituation durch die befragten Bewohner*innen mit der vor Ort existierenden Geschäftsstruktur und dem vorhandenen Angebot vergleichen zu können, erstellte ich Karten der Untersuchungsgebiete, die alle Geschäfte verzeichnen, die Lebensmittel verkaufen. Als Grundlage diente eine Adressliste, die freundlicherweise durch das entsprechende Referat beim Bremer Senator für Umwelt, Bau und Verkehr zur Verfügung gestellt wurde. Im Frühjahr 2016 beging ich alle Straßen der Stadtteile Gröpelingen und Vahr
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
und suchte jedes Geschäft mit Lebensmittelangebot auf. Neben den klassischen Betriebsformen des Lebensmitteleinzelhandels wie Discountern und Supermärkten umfasst dies u.a. das Lebensmittelhandwerk, Kioske und Kaufhäuser. Die Begehung diente einerseits der Ergänzung und Anpassung der zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alten Adressliste. Andererseits ist nur so eine Sortimentserfassung möglich, die sich nicht, wie in vielen Studien zur Nahversorgung üblich, von den Betriebsformen ableitet und das Angebot kleiner, nicht filialgebundener Geschäfte ignoriert (vgl. Short, Guthman und Raskin 2007). Eine Bewertung der Geschäfte mit Vollsortiment erfolgte anhand der Breite und Tiefe des Obst- und Gemüsesortimentes. Frischem Obst und Gemüse wird für eine gesunde Ernährung eine wichtige Rolle beigemessen und hat gegenüber anderen wichtigen Lebensmittelgruppen (z.B. Getreideprodukten) eine verkürzte Haltbarkeit, muss also regelmäßig in relativ kurzen Abständen nachgekauft werden. Die Zahl der Obst- und Gemüsearten wurde als Indikator für die Breite des Sortimentes herangezogen. Die Tiefe des Obst- und Gemüsesortimentes wurde exemplarisch an der Anzahl der Apfel-, Bananen-, Orangen-, Kartoffel-, Möhren- und Zwiebelsorten bestimmt. Diese Auswahl beruht auf der Empfehlung von Tafelmitarbeiter*innen, die beschrieben, dass die meisten Nutzer*innen diese Obst- und Gemüsearten akzeptieren. Auch der niedrigste Preis je Kilogramm dieser Arten, ein Angebot in Bioqualität, die Form und Art des Brot- und Backwaren- und Fleisch- und Wurstsortimentes wurde erhoben. Dabei unterschied ich zwischen losen Angebotsformen an Bedientheken und abgepackten Waren in Kühl- und Tiefkühltheken. Auch ob angebotenes Fleisch Halal-Standards genügt und ob deutsche oder arabische und türkische Brotsorten angeboten wurden, floss in die Erhebung ein. Der verwendete Erhebungsbogen ist in Anhang II-1 dargestellt. Ähnliche Vorgehen finden sich beispielsweise bei White et al., die ihren Untersuchungswarenkorb auf Grundlage der Ergebnisse lokaler Ernährungsuntersuchungen zusammenstellen und dort einige der am häufigsten verzehrte Lebensmittel aufnehmen (White u.a. 2004, 37). Auch bei Thomas Kistemann und Carolin Sperk werden Äpfel, Bananen und Orangen als Grundausstattung für Obst und Kartoffeln, Tomaten, Kopfsalat, Zwiebeln und Möhren als Grundausstattung für Gemüse angenommen (Sperk und Kistemann 2012, 135). Angebotstiefen werden in beiden Fällen nicht erhoben.
5.4.2
Datenauswertung
Die Geschäfte, die Lebensmittel verkaufen wurden nach der Begehung den Kategorien Vollsortiment, Fachsortiment, Ergänzungssortiment und Süßigkeiten, Snacks und Getränke zugeordnet. Mit dem Begriff Vollsortimenter werden üblicherweise Supermärkte gegenüber Discountern mit ihrem eingeschränkten Produktangebot abgegrenzt (vgl. Krüger u.a. 2013; Weiß 2006). In dieser Arbeit wird ein
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Vollsortiment jedoch verstanden als ein Angebot, das Produkte aller Warengruppen anbietet, die zur Lebensmittelgrundversorgung gehören. Dazu zähle ich frisches Obst und Gemüse, Milchprodukte, Nährmittel (Reis, Nudeln, Hülsenfrüchte), Fleisch und Wurst, Brot und Backwaren und Genussmittel wie Kaffee und Tee. Fachsortimente halten ein spezialisiertes Sortiment einer Branche bereit. Fachsortimente bieten beispielsweise Geschäfte des Lebensmittelhandwerks oder Geschäfte, die auf Zutaten für bestimmte regionale Küchen spezialisiert sind. Was bei der Untersuchung auf Grundlage der Betriebsformen unberücksichtigt bleibt, ist das sich durchaus unterscheidende Angebot von kleinflächigen Lebensmittelgeschäften, Kiosken und Tankstellenshops. Die in Gröpelingen und der Vahr ansässigen Kioske, Tankstellenshops, Drogerien und Sonderpostenmärkte wurden daher auf Basis ihrer Sortimente auf ihren Beitrag zur Versorgung im Stadtteil untersucht. Es wurde dabei zwischen Ergänzungssortiment und Sortimenten, die von Süßigkeiten, Snacks und Getränken dominiert werden, unterschieden (siehe Tabelle 5). Als Ergänzungssortiment bezeichne ich ein beschränktes Angebot an frischen oder haltbaren Lebensmitteln, das über Süßigkeiten, salzige Snacks und Getränke hinausgeht und das sonstige Non-Food-Sortiment ergänzt. Tabelle 5 Lebensmittelsortimente außerhalb des klassischen Lebensmitteleinzelhandels Lebensmittelsortiment in Kiosken, Tankstellen, Sonderpostenmärkten, Kaufhäusern und Drogerien
Sortimentskategorie
Keine Lebensmittel
Geschäft bleibt unberücksichtigt
Ausschließlich Süßigkeiten, salzige Snacks und Getränke, Fokus auf Direktverzehr, höchstens einzelne haltbare Lebensmittel wie Dosentomaten oder Toastbrot
Süßwaren, Snacks, Getränke
Beschränktes Angebot an haltbaren Lebensmitteln (Konserven, Trockenwaren, Tiefkühlprodukte, haltbare Wurst) und/oder frischen Lebensmitteln (Gebäck, Eier), Tiefkühlprodukte (Fisch, Fleisch, Torten), Baby-/Kindernahrung, Müsli und andere Getreideprodukte (vor allem in Drogerien), Fertigpizza (nur in Tankstellenshops)
Ergänzungssortiment
Quelle: Eigene Darstellung
Mit dem GIS-Programm ArcGis 10.4.2 wurde eine Karte der Standorte aller erhobenen Geschäfte in den Untersuchungsgebieten erstellt. Diese bildet die Grundlage für die Schätzung des Anteils der Bevölkerung, die in fußläufiger Erreichbarkeit zu Lebensmittelgeschäften mit Vollsortimentern wohnen (vgl. Kapitel
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
6.1).2 Die Lokalisation (Georeferenzierung) der Geschäftsstandorte erfolgte durch die Umwandlung der Adressdaten in Gauss-Krüger-Koordinaten. Dazu wurde das Online-Tool Retorte Koordinator verwendet, das auf dem Kartendienst Google Maps beruht.3
5.5
Quantitative Bewohner*innenbefragung
Die Befragung von Bewohner*innen der Untersuchungsgebiete trägt zur Beantwortung von Leitfrage 4 bei, indem Versorgungspraktiken und Hürden im Zugang zu Lebensmitteln aufgedeckt werden. Zudem bestimmt die statistische Auswertung der Befragungsdaten die quantitative Relevanz der in den Expert*inneninterviews aufgeworfenen Einschränkungen. Ausgangspunkt dieser Befragung ist die Art und Weise der Lebensmittelbeschaffung, in den meisten Fällen der Lebensmitteleinkauf. Fragen nach den regelmäßig aufgesuchten Lebensmittelgeschäften, der Zeit, die für die Einkaufswege benötigt wird, oder die Gründe, aus denen die genannten Geschäfte aufgesucht werden, bilden Ankerpunkte, um über die Alltagsroutine der Lebensmittelbeschaffung zu sprechen und Schlüsse in Bezug auf die Zugangssituation zu ziehen.
5.5.1
Datenerhebung
Auswahl der Stichprobe: Theoretisches Sampling Diese Arbeit fokussiert den Zugang zu Lebensmitteln benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen. Die Stichprobe sollte deshalb kein repräsentatives Abbild der Gesamtbevölkerung bilden, sondern die Situation von Bevölkerungsgruppen in den Blick rücken, die in anderen Untersuchungen unterrepräsentiert sind. In den Untersuchungsgebieten Gröpelingen und der Vahr sind große Teile der Bevölkerung von Benachteiligung betroffen. Die Stadtteile bilden demnach theoretisch ein gutes räumliches Feld, um die entsprechenden Gruppen zu erreichen. Von einer Befragung an der Haustür, die z.B. mithilfe eines Random-Route-Verfahrens4 eine zufällige Auswahl der Stichprobenmitglieder leistet, wurde mir von Akteuren in den Quartieren jedoch deutlich abgeraten. Sie berichteten, dass sie selbst trotz großer Bekanntheit im Quartier die Bewohner*innen mit unangemeldeten Besuchen 2 3 4
Als Kartengrundlage diente ein von Geoinformation Bremen erworbener Stadtplan sowie Layer zu den Verwaltungseinheiten Bremens. https://tools.retorte.ch/map (zugegriffen: 09.07.2019). Das Random-Route-Verfahren kann in einem geographisch abgegrenzten Bereich zur Auswahl von Befragungsteilnehmer*innen eingesetzt werden. Durch eine vorgegebene Art der Begehung dieses Gebietes und einer bestimmten Auswahl von zu kontaktierenden Haushalten leistet es eine zufällige Stichprobenziehung (Diekmann 2006, 332).
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
nur sehr schwer erreichten. In der Vahr warnte zudem in dieser Zeit eine Polizeikampagne davor, Fremden die Haustür zu öffnen, da dort eine Reihe von Überfällen stattgefunden habe. Die zu erwartende Teilnahmerate erschien vor diesem Hintergrund und der allgemein als schwer erreichbar eingeschätzten Zielgruppe (Diekmann 2006, 362) als sehr gering. Von anderen Formen der zufälligen Stichprobenziehungen wie der Listenauswahl habe ich abgesehen, da die verfügbaren Verzeichnisse wie das Telefonbuch angesichts der geringer werdenden Bedeutung eines Festnetzanschlusses als unvollständig angesehen werden muss. Aus forschungspraktischen Gründen und weil die Überprüfung von Zusammenhangshypothesen, wie ich sie in dieser Arbeit vornehme, auch an Stichproben vorgenommen werden kann, die den Kriterien einer Zufallsauswahl nicht genügen (Diekmann 2006, 329; Kuckartz 2012, 116), wurde eine bewusste, theoretisch geleitete Stichprobenziehung vorgenommen.5 Ich verfolgte dabei das Ziel, Überschneidungen von Benachteiligungsstrukturen und ihren Zusammenhang mit dem Zugang zu Lebensmitteln auch statistisch erfassen zu können. Dazu muss in den Untersuchungsgebieten eine ausreichende Anzahl von Menschen erreicht werden, die hinsichtlich der Ungleichheitsstrukturen Klasse, race, Geschlecht und Körper benachteiligt werden. Neben stadtteilöffentlichen Orten wie Einkaufszentren oder Bürgerhäusern, bei denen davon ausgegangen wurde, einen Querschnitt der ansässigen Bevölkerung zu erreichen, wählte ich daher Orte, an denen benachteiligte Bevölkerungsgruppen erreicht werden können (dazu ausführlicher im nächsten Abschnitt). Dieses Stichprobenverfahren erlaubt nur eine eingeschränkte Verallgemeinerung der Ergebnisse: Zwar können mögliche Differenzen zwischen Subpopulationen (z.B. wohlhabenden und armen Menschen) aufgezeigt werden, ein Schluss auf die Verteilung bestimmter Phänomene in der Gesamtbevölkerung ist jedoch nicht möglich (Prein, Kluge und Kelle 1994, 19). Die Samplegröße sollte multiple Korrelationsanalysen ermöglichen. Dazu müssen in den verschiedenen Subgruppen jeweils genügend Fälle erfasst sein. Es wurde daher eine Stichprobe von 80 Fällen je Untersuchungsgebiet, das heißt einer Gesamtstichprobe von 160 Fällen anvisiert, von der eben dies erwartet wurde. Insgesamt wurden 199 Personen befragt. 66 Personen gaben als Wohnort den Stadtteil Vahr an, 62 den Stadtteil Gröpelingen. 71 Personen wohnten in anderen Stadtteilen. Die Bewertungen des Lebensmitteleinzelhandels sollten vor dem Hintergrund der Standortverteilungen und Sortimentserhebungen ausgewertet werden, die sich aus der Kartierung ergaben. Für andere Stadtteile liegen diese Informationen nicht vor. Aus diesem Grund wurden Daten von Befragten, die nicht
5
Mit einer bewussten Auswahl der Befragungsteilnehmer*innen erfülle ich die Forderung des zur Nahversorgung forschenden Geographen Ulrich Jürgens, der auf eine »bewusste Auswahl von Probanden nach Alter, Handicap, Herkunft etc. [abstellt], um damit die Vielfalt von Perspektiven und Meinungen (zu Nahversorgung) sicherzustellen« (Jürgens 2014, 7).
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
in der Vahr oder in Gröpelingen wohnen, von den statistischen Analysen ausgeschlossen. Drei Befragte aus Gröpelingen brachen die Befragung nach wenigen Fragen ab. Auch diese Fälle wurden von den Berechnungen ausgeschlossen. Die Nettostichprobe, die statistisch analysiert wurde, hatte daher einen Umfang von 125 Fällen, 66 davon mit Wohnort in der Vahr, 59 wohnhaft in Gröpelingen.
Durchführung der Befragung Die Befragung der Bewohner*innen erfolgte mündlich in Form von persönlichen Face-to-Face-Interviews, die ich selbst führte. Ein standardisierter Fragebogen leitete die Befragung an. Der größte Vorteil einer mündlichen gegenüber einer schriftlichen Erhebung, bei der die Befragten den Fragebogen eigenständig ausfüllen, besteht meines Erachtens darin, dass Menschen ohne Schreibund Lesekenntnisse nicht per se von einer Teilnahme ausgeschlossen sind. Zudem konnten Verständnisfragen direkt geklärt, ergänzende Informationen festgehalten und bei Bedarf Fragen ins Englische übersetzt werden. Um die für die Untersuchung interessanten Subgruppen zu erreichen, wurde die Befragung in und um Einrichtungen und Institutionen in den Untersuchungsgebieten durchgeführt, die von den Quartiersmanager*innen empfohlen wurden. Zu diesen Institutionen gehörten stadtteilöffentliche Treffpunkte mit diversen Aktivitätsangeboten wie Gesprächsrunden, Handarbeitstreffs, Bewegungsangebote, Theater- und Musikkreise sowie Frühstücksangebote und Mittagstische. Darüber hinaus waren Ausgabestellen von Lebensmitteltafeln und das zentrale Einkaufszentrum Berliner Freiheit Anlaufpunkte. Die Tabelle III-1in Anhang beschreibt diese Einrichtungen und präzisiert die Zusammenhänge, in denen Befragungen stattfanden, die Karten III-2 und III-3 im Anhang stellen die räumliche Verteilung der Befragungsorte dar. Bei einigen Gelegenheiten, etwa im ZiS, Zentrum für Migranten, waren die Sprachbarrieren zu hoch für eine Befragung. Ich wich in diesen Fällen auf kompakte Gruppendiskussionen aus, die von einzelnen Teilnehmer*innen übersetzt wurden. Diese Diskussionen können selbstverständlich nicht statistisch ausgewertet werden, sondern gehen als Kontextinformationen in die Interpretation ein. Die Einführung meiner Person und meiner Arbeit durch die jeweilige Gruppenleitung stellte eine Vertrauensbasis her, die sich in einer relativ hohen Teilnahmequote ausdrückte. Generell wurde jeweils eine Vollerhebung angestrebt. Das heißt, ich bat möglichst jede Person um Teilnahme an der Befragung. Dieses Vorgehen wirkt einer möglichen gerichteten Auswahl von Befragungspersonen entgegen, die der befragenden Person nicht bewusst ist. Gerade während längerer Befragungseinheiten vergrößert sich das Risiko, Personen anzusprechen, von denen eine Teilnahme erwartet wird, was die Stichprobe verzerrt. Bei großen Gruppen, z.B. in den Warteräumen der Tafel, war eine Vollerhebung nur eingeschränkt möglich. So war
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es nicht zu verhindern, dass Personen den Raum verließen, weil sie zur Lebensmittelabholung aufgerufen wurden, bevor ich sie zu einer Befragung aufgefordert hatte. Aus den Orten, an denen ich die Befragung durchführte, lassen sich Schlüsse auf die erreichten Gruppen ziehen: Das Kollektiv besteht aus Menschen, die sich an stadtteilöffentlichen und sozialen Treffpunkten aufhalten oder an von diesen Institutionen organisierten Aktivitäten teilnehmen. Diese richten sich insbesondere an die Bewohner*innen der Untersuchungsgebiete und halten den Zugang explizit niedrigschwellig, um benachteiligte Gruppen anzusprechen. Aus meinem Datenmaterial lassen sich entsprechend Schlüsse nur für Gruppen ziehen, die nicht bereits gänzlich aus dem sozialen Netz herausgefallen sind, die stadtteilöffentliche Aktivitäten nicht wahrnehmen oder von Hilfsstrukturen ausgeschlossen sind. So ist nicht davon auszugehen, dass sich unter den Befragten Obdachlose oder Menschen ohne jeglichen Aufenthaltstitel befanden. Gerade in diesen Gruppen sind jedoch eine ausgeprägte Ernährungsunsicherheit und Zugangsprobleme zu vermuten. Ihre Situation erfordert weitere Forschung.
Fragebogen und Pretest Der Fragebogen (siehe Anhang IV) umfasste hauptsächlich geschlossene Fragen zur Nutzung von Lebensmittelgeschäften, der Bewältigung des Einkaufsweges und Bewertung von Lebensmittelsortimenten, -qualitäten und -preisen im Stadtteil. Fragen zu medizinischen, religiösen oder ethischen Ansprüchen an Ernährung sowie zur Zusammensetzung und zum Einkommen des Haushalts schlossen den Fragebogen ab. Zum Teil wurde mit dichotomen Antwortmöglichkeiten (»Ja« oder »Nein«), bei Fragen der Bewertung mit ordinalskalierten Antwortkategorien mit den Ausprägungen »sehr zufrieden«, »überwiegend zufrieden«, »weniger zufrieden« und »nicht zufrieden« gearbeitet. Diese Arbeit befasst sich auch damit, welche gesellschaftliche Bedeutung dem Lebensmitteleinkauf zukommt. Lebensmitteltafeln spielen in der Versorgung benachteiligter Bevölkerungsgruppen eine immer größere Rolle (vgl. Kapitel 6.3.3 ). Daher sollte im Rahmen der Befragung auch erfasst werden, welche Konsequenzen die Versorgung über die Tafel für den Zugang zu Lebensmitteln hat. Bei Befragungen, die bei Lebensmitteltafeln durchgeführt wurden, fragte ich aus diesem Grund zusätzlich nach der Zufriedenheit mit dem Angebot und der Qualität der Lebensmittel bei der Tafel. Die Zeit für Befragungen in den Warteräumen der Tafelausgabestellen ist eng begrenzt – der Aufruf der Befragten Person zur Lebensmittelausgabe bedeutete den sofortigen Abbruch der Befragung. Aus diesem Grund musste der Fragebogen zugunsten der tafelspezifischen Fragen um einige auf die Einkaufwege bezogene Fragen reduziert werden. Diese Entscheidung drückt sich bei der Auswertung dieser Fragen in einer relativ hohen Anzahl von ungültigen
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
Fällen aus. Auch das Item zur Einkommenssituation entfiel für die bei der Tafel befragten Personen, da der Nachweis von Bedürftigkeit, das heißt ein Leben auf dem Niveau der Mindestsicherungsleistung Voraussetzung für die Nutzung dieser Tafelausgabestellen ist. Zur Überprüfung der Verständlichkeit und Handhabbarkeit des Fragebogens kam vor Beginn der eigentlichen Befragung ein Pretest in einer Ausgabestelle einer Lebensmitteltafel zum Einsatz, bei dem 15 Personen befragt wurden. Wie bereits beschrieben stellte sich dabei heraus, dass die Selbsteinordnung des Geschlechts Irritationen hervorruft. Das Geschlecht der befragten Person wurde in der Hauptbefragung daher nach Einschätzung äußerlicher Merkmale und in Rückgriff auf eine binäre Geschlechteraufteilung festgehalten. Während des Pretests fiel zudem auf, dass die aus der Nationalen Verzehrsstudie entlehnten Fragen zum Ernährungswissen das praktische Ernährungswissen nicht erfassen, das von den Expert*innen insbesondere der älteren Generation zugeschrieben wird. Da sich die Beantwortung der beiden Fragen zudem als sehr zeitintensiv erwies, kamen sie bei der Haupterhebung nicht zum Einsatz. Die Erhebung des Einkaufsverhaltens erfolgt in dieser Arbeit auf Grundlage von selbstberichtetem Verhalten, das von tatsächlichem Verhalten abweichen und daher nur eine Annäherung darstellen kann. Von Effekten sozialer Erwünschtheit, wie sie etwa Julika Weiß für den ökologischen Aspekt des Einkaufsverhaltens festhält (Weiß 2006, 85), ist auch in dieser Untersuchung auszugehen. Ich halte es für wahrscheinlich, dass bestimmte, als gesund geltende Lebensmittel bei der Frage nach gekauften Produkte überbetont werden (z.B. Vollkornbrot) oder von bestimmten Einkaufsgewohnheiten wie dem Süßigkeitenerwerb am Kiosk nicht berichtet wird. Wie in vielen anderen Studien der empirischen Sozialforschung erhebe ich – begründet durch die leichtere Datengewinnung – trotz dieser Einschränkung das selbstberichtete Verhalten.
5.5.2
Datenaufbereitung und Methoden der Datenauswertung
Die quantitative Befragung hat zum Ziel, größere Tendenzen deutlich zu machen und signifikante Zusammenhänge zwischen sozioökonomischen Lebensbedingungen und dem Zugang zu Lebensmitteln aufzuzeigen. Der Frage nach den physischräumlichen und sozioökonomischen Bedingungen des Zugangs zu Lebensmitteln nähere ich mich, indem ich die Befragungsdaten mithilfe von Kreuztabellen und auf Chi² basierenden Zusammenhangsmaßen auswerte. Für Kreuztabellen mit vier Feldern wurde der Phi-Koeffizient und für Kreuztabellen mit mehr als vier Feldern Cramers V als Zusammenhangsmaß verwendet. Mit diesem Vorgehen können Zusammenhänge zwischen zwei Variablen ermittelt und ihre statistische Signifikanz geprüft werden. Bei statistisch signifikanten Zusammenhängen liegt die Irrtumswahrscheinlichkeit unter einem bestimmten Prozentwert und belegt somit, dass
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
der ermittelte Zusammenhang nicht zufällig entstanden ist (Kuckartz u.a. 2013, 153). Aufgrund der geringen Fallzahl wurden sowohl die sozioökonomischen als auch die auf den Einkaufsweg und die Bewertung des Lebensmitteleinzelhandels bezogenen Variablen vor der Auswertung dichotomisiert (siehe Tabelle 6 und Tabelle 7). Durch diese Zusammenfassungen wurden die Zellenbesetzungen in den Kreuztabellen so erhöht, dass in den meisten Fällen die Voraussetzungen für Chi²-Tests gegeben waren (Kuckartz u.a. 2013, 96). Die Zusammenfassung der metrisch erhobenen Daten (z.B. Alter) zu Klassen, die Reduzierung der kategorialen Variablen auf zwei Ausprägungen und die Gruppierung der Antworten auf offene Fragen ist mit einem Informationsverlust verbunden. Die Komplexitätsreduktion erscheint jedoch vor dem Hintergrund der Fragestellung notwendig: Um in dem vorliegenden Sample Zusammenhänge zwischen Einschränkungen und gesellschaftlichen Strukturen wie Klasse, race, Geschlecht und körperlicher Verfasstheit zu erkennen, ist die Zusammenfassung zu wenig ausdifferenzierten Gruppen notwendig. Diese Komplexitätsreduktion schränkt die Möglichkeit ein, mögliche Binnendifferenzen zu beobachten. Weiterführende Studien könnten mit einem größeren Sample eine komplexere Differenzierung der Kategorien erreichen.
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
Tabelle 6 Dichotomisierung der Strukturvariablen Variable
Ausprägung 1
Wohnort
Ausprägung 2
Gröpelingen
Vahr
Armutsgefährdung
ja
nein
Bildungsabschluss
niedrig (höchstens Hauptschulabschluss)
hoch (mindestens Realschulabschluss)
Tafelnutzung
ja
nein
Deutschland
anderes Land
männlich
weiblich
Alter
18-65
65 und älter
Mobilitätseinschränkungen
ja
nein
Mehrpersonenhaushalt
ja
nein
alleinerziehender halt
ja
nein
Haushalt mit Kindern
ja
nein
Haushalt mit Kindern unter 3 Jahren
ja
nein
Klasse
race Hauptsozialisationsland Geschlecht Geschlecht Körper
Haushaltskomposition Haus-
Ernährungsbezogene Variablen Religiöse/ethische oder medizinische Diät (z.B. vegetarisch, glutenfrei oder halal)
ja
nein
Kochtradition*
deutsch
(auch) ethnisch
* Die Unterscheidung zwischen deutscher und ethnischer Landesküche ist eine starke Vereinfachung, die die Komplexität von regionalen und generationalen Unterschieden in der Ernährungsweise nicht widerspiegelt (vgl. beispielsweise Sert 2018, 35ff. für Differenzierungen in der sog. türkischen Küche). Die Erkenntnisse, die sich aus der Zusammenfassung zu zwei Ausprägungen ergeben, bedürfen weiterer spezifischeren Untersuchungen mit differenzierteren Kategorien. Quelle: Eigene Darstellung
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Tabelle 7 Dichotomisierung der Bewertungsvariablen zu Einkaufswegen und –stätten Variable
Ausprägung 1
Ausprägung 2
Dauer häufiger Einkaufwege
kurz ( 10 Minuten)
Grad der Anstrengung durch den Einkaufsweg
nicht bis wenig anstrengend
mäßig bis sehr anstrengend
Sortimentszufriedenheit
sehr zufrieden
wenig bis überwiegend zufrieden
Qualitätszufriedenheit
sehr zufrieden
wenig bis überwiegend zufrieden
Preiszufriedenheit
sehr zufrieden
wenig bis überwiegend zufrieden
Quelle: Eigene Darstellung
Die Einschränkungen in Bezug auf das Sortiment, die Qualität und die Preise, wie sie hier definiert werden, setzen auf einem recht hohen Niveau an. Jede Antwort, die von einer vollständigen Zufriedenheit (»ich bin mit dem lokalen Sortiment/der lokalen Qualität sehr zufrieden« oder »ich kann mir alle Lebensmittel leisten, die ich benötige«) abweicht, wird im Rahmen der Dichotomisierung zunächst als Einschränkung gewertet. Angesichts der insgesamt sehr hohen Zufriedenheit in Bezug auf das Sortiment und die Preise scheint dies angemessen (siehe Verteilung der Antworten in Tabelle VI im Anhang). Dass die Zufriedenheit mit der Qualität im Sample wesentlich geringer ausfällt und damit einem wesentlich höheren Anteil der Befragten Einschränkungen in Bezug auf die Lebensmittelqualität zugeordnet werden, wird in der Auswertung diskutiert. Um die Dauer der Einkaufswege zwischen den Befragten zu vergleichen, wurde je Fall der Durchschnitt (Median) aus den Wegen zu häufig (mindestens einmal die Woche) aufgesuchten Geschäften gebildet.6 Pro Fall errechnet sich so ein Wert, der den durchschnittlichen Zeitaufwand für häufig zurückgelegte Einkaufswege widerspiegelt. Zur Erfassung der Einkommenssituation der befragten Person wurde zunächst das Nettoeinkommen des Haushaltes erhoben. Aus diesem Wert und der Äquivalenzgröße des Haushaltes, die sich aus der Zahl der Haushaltsmitglieder unter und über 14 Jahren ergibt, berechnete ich das Nettoäquivalenzeinkommen. Dazu verwendete ich die auch in der EVS sowie in der EU-SILC genutzten Äquivalenzgröße nach der modifizierten OECD-Skala, die der ersten erwachsenen Person im Haushalt das Gewicht 1,0 zuweist. Jede weitere erwachsene Person und Kinder ab 14 Jahren werden mit dem Faktor 0,5 und Kinder unter 14 Jahren mit dem Faktor 0,3 6
Bei Befragten, die kein Geschäft mindesten einmal die Woche aufsuchen, wurden die Zeitangaben verwendet, die sie für die von ihnen am häufigsten genannten Einkaufsorte nannten.
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
gewichtet (Statistisches Bundesamt 2019). Setzt sich beispielsweise ein Haushalt aus zwei Erwachsenen und einem dreijährigen Kind zusammen, ergibt sich eine Äquivalenzgröße von 1,8 (= 1,0 + 0,5 + 0,3). Beläuft sich das Haushaltsnettoeinkommen auf 1.800 Euro monatlich, so beträgt das Nettoäquivalenzeinkommen für jede Person dieses Haushaltes 1.000 Euro (= 1.800 Euro ∕ 1,8) pro Monat. Beträgt das Nettoäquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Medians der Nettoäquivalenzeinkommen des Jahres 2016, das heißt weniger als 986,65 Euro, wird die befragte Person als armutsgefährdet eingestuft.
Zusammenhänge zwischen Einschränkungen und Strukturvariablen – Drittvariablenkontrolle durch Partialtabellen Eine Frage dieser Arbeit bezieht sich auf mögliche Zusammenhänge zwischen Einschränkungen im Zugang zu Lebensmitteln und sozio-ökonomischen Strukturen. Der intersektionale Zugang stellt hierfür die Kategorien Klasse, race, Geschlecht und die körperliche Verfasstheit in den Mittelpunkt, die in dieser Arbeit durch die in Tabelle 6 aufgeführten Variablen operationalisiert werden. In der intersektionalen Perspektive sind insbesondere die durch die Überkreuzung von Sozialstrukturen entstehenden Effekte wichtig. Diese Effekte können in Kreuztabellenanalysen, in denen jeweils nur ein strukturelles Merkmal betrachtet wird, nicht analysiert werden. Da die Datenlage keine multivariaten Verfahren zuließ, wurde eine Drittvariablenkontrolle7 über Partialtabellen durchgeführt. Hierbei wurden in der Kreuztabelle festgestellte Zusammenhänge zwischen einer für den Zugang zu Lebensmitteln stehenden Variable und einer Strukturvariable für beide Ausprägungen einer zweiten Strukturvariable geprüft (Kuckartz u.a. 2013, 100). Wenn beispielsweise die Kreuztabelle einen Zusammenhang zwischen der Dauer des Einkaufsweges und dem Hauptsozialisationsland nahelegt, wird in Partialtabellen geprüft, ob sich dieser Zusammenhang bei beiden Ausprägungen der Mobilitätsfähigkeit wiederfindet. Wenn sich die Partialkorrelation zwischen den Variablen bei Berücksichtigung einer solchen Drittvariablen auf einen Wert nahe null reduziert, beruht der in der Kreuztabelle zwischen der Dauer des Einkaufsweges und dem Hauptsozialisationsland festgestellte Zusammenhang möglicherweise auf der Wirkung der Mobilitätsfähigkeit. Auszuschließen ist dabei nicht, dass diese Wirkung wiederum die Konsequenz einer weiteren, mit beiden untersuchten Variablen in Zusammenhang stehenden Variable ist (Kelle 2008, 210ff).
7
Zusammenhänge zwischen zwei Variablen können durch den Einfluss einer dritten Variable entstehen, die auf die beiden untersuchten Variablen wirkt. Mit einer Drittvariablenkontrolle lässt sich ein möglicher Einfluss durch weitere Variablen ausschließen (Kuckartz u.a. 2013, 224f). Ich beschränke mich bei der Drittvariablenkontrolle auf die Strukturvariablen, die zuvor einen Zusammenhang mit der abhängigen Variable aufwiesen.
111
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
5.6 5.6.1
Qualitative Expert*inneninterviews Datenerhebung
Mit den Expert*inneninterviews in den Untersuchungsgebieten waren verschiedene Ziele verbunden. Erstens sollten Informationen zur Situation im Stadtteil gewonnen werden, die die Kartierungs- und die Befragungsdaten ergänzen und einordnen. In den Gesprächen mit Vertreter*innen sozialer und kultureller Einrichtungen sollte zweitens die Frage nach der Relevanz des Themas Ernährungsunsicherheit in der täglichen Arbeit der Expert*innen geklärt werden. Expert*innen definiere ich mit Jochen Gläser und Grit Laudel als Träger*innen von Spezialwissen über den Untersuchungsgegenstand (Gläser und Laudel 2004, 12). Der zentrale Bezugspunkt eines Expert*inneninterviews sollten Informationen sein, mit deren Hilfe soziale Prozesse, in diesem Fall der Zugang zu Lebensmitteln, rekonstruiert werden können (Gläser und Laudel 2004, 113). In dieser Arbeit interessieren deshalb einerseits die Kenntnisse der Interviewpartner*innen über die Ausstattung mit Lebensmittelgeschäften und die Nutzung und Wahrnehmung dieser Infrastruktur durch die Bewohner*innen. Andererseits verband ich mit den Interviews die Erwartung, Informationen zu prägenden sozioökonomischen Strukturen und aus ihnen erwachsenden Zugangshürden zu erhalten. Wie im Verlauf der Untersuchung deutlich wurde, regen die Themen Einkauf und Ernährung jedoch dazu an, persönliche Erfahrungen und Deutungen einzubringen und die interessierenden Fakten in den Hintergrund zu rücken. Im ungünstigsten Fall entsteht dabei Interviewmaterial, das lediglich die Meinung des*r Interviewten über Kausalzusammenhänge widerspiegelt, aber keiner Analyse zugänglich ist (Gläser und Laudel 2004, 113). Die Untersuchung subjektiver Überzeugungen von Expert*innen bildet eine eigene Variante des Expert*inneninterviews (Bogner, Littig und Menz 2014, 2) und gehört nicht zum Fokus dieser Arbeit. Dass einige Expert*innen persönliche Erfahrungen schilderten, schien teilweise einen Mangel an Wissen über die Einkaufsbedingungen und -strategien der Bewohner*innen zu kaschieren. Dies sowie die zum Teil starke persönliche Involviertheit der interviewten Personen wurden bei der Auswertung berücksichtigt. Die offengelegten Deutungen spielen dabei eine wichtige Rolle zur Erklärung der (geringen) Relevanz des Themas Ernährungsunsicherheit in der Sozialen Arbeit in den Untersuchungsgebieten. Ein Leitfaden stellte sicher, dass die vom Ziel der Untersuchung bestimmten Themen im Gespräch tatsächlich behandelt wurden und sich die Gesprächsrichtung nicht ausschließlich aus den Antworten der interviewten Person ergab (Gläser und Laudel 2004, 111). Der Leitfaden (siehe Anhang V2-V4) enthielt die Themen und Fragen, die in jedem Interview abgehandelt werden sollten, schrieb jedoch deren Formulierung und Reihenfolge nicht vor und regte damit einen möglichst natür-
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
lichen Gesprächsverlauf an (Gläser und Laudel 2004, 41f). Zur Beantwortung der Forschungsfragen eignet sich das Leitfadeninterview besser als offene oder narrative Interviews: Die Verknüpfung eines theoretisch abgeleiteten Themen- und Fragenkataloges, der als Leitfaden durch ein Gespräch führt, das gleichzeitig offen für die recht unterschiedlichen Hintergründe und Gesprächskulturen der interviewten Personen bleibt, sichert, dass kein Bereich des interessierenden Expert*innenwissens vergessen wird. Alle 17 Interviews wurden von mir persönlich durchgeführt. Im Schnitt dauerten sie 60 Minuten und fanden bis auf ein telefonisches persönlich an den Arbeitsplätzen der Befragten statt. Mit Zustimmung der Interviewten wurden alle Interviews aufgezeichnet und anschließend wörtlich transkribiert. Im Anschluss an jedes Gespräch fertigte ich zudem ein Gedächtnisprotokoll an, in dem ich Informationen festhielt, die die interviewte Person vor Beginn oder nach Ende des aufgezeichneten Gesprächs gab. In diesem Protokoll vermerkte ich darüber hinaus, wie das Interview zustande kam und hielt eventuelle Einwände des*r Gesprächspartners*in, den generellen Gesprächsverlauf und Gedanken, die ich während des Interviews entwickelte, fest. Die Interviewsituation prägt das Interview und muss im Auswertungsprozess berücksichtigt werden (Froschauer und Lueger, 74). Das Gedächtnisprotokoll kann in diesem Kontext insbesondere bei der Prüfung der Plausibilität von Aussagen und der Bewertung von Widersprüchen hilfreich sein (Gläser und Laudel 2004, 192).
Auswahl der Interviewteilnehmer*innen Die Auswahl der Expert*innen erfolgte theoriegeleitet in Abhängigkeit von der Fragestellung. Um die Struktur des Lebensmitteleinzelhandels in den Untersuchungsgebieten einzuordnen und Informationen zu den Standortmustern und Niederlassungsprozessen zu gewinnen und meine Kartierungsergebnisse einzuordnen, führte ich Gespräche mit Expansionsmanager*innen einer Supermarktsowie einer Discounterkette. Außerdem sprach ich mit dem für die Einzelhandelsentwicklung zuständigen Mitarbeiter des Senators für Umwelt, Bau und Verkehr der Hansestadt Bremen. Das Interview erfasste die politisch-administrative Perspektive auf die Einzelhandelsstrukturen in den Untersuchungsgebieten und erörterte Steuerungserfordernisse und -möglichkeiten aus Sicht der kommunalen Einzelhandelsplanung. Um die physisch-räumlichen sowie sozioökonomischen Einkaufsbedingungen in den Untersuchungsgebieten zu erfassen und Umgangsstrategien der Wohnbevölkerung aufzudecken, sprach ich mit Vertreter*innen sozialer Einrichtungen und Dienste, die haupt- oder ehrenamtlich in den Gebieten arbeiten (siehe die Übersicht in Tabelle V-1 im Anhang). Dazu gehören Vertreter*innen der Quartiersmanagements (QM) Gröpelingen, Oslebshausen8 8
Dem Gröpelinger Ortsteil Oslebshausen ist ein eigenes Quartiersmanagement zugeordnet.
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
und der Vahr. Die Mitarbeiter*innen des QM sind Ansprechpartner*innen für Bürger*innen und Akteure vor Ort. Sie initiieren und organisieren lokale Projekte und sollen Bewohner*innen dabei unterstützen, für ihre Belange aktiv zu werden. Eine weitere Aufgabe liegt in der Stärkung des Netzwerkes von Akteuren vor Ort. Gespräche mit Vertreter*innen vom QM zielten daher einerseits darauf ab, einen Überblick über den Stadtteil zu erhalten und Kontakt zu weiteren Interviewpartner*innen herzustellen. Ebenso sprach ich mit Mitarbeiter*innen von Suppenküchen, Mittagstischen und Institutionen, die niedrigschwellige, offenen Freizeit- und Bildungsangeboten sowie Beratungsleistungen in den Stadtteilen anbieten. Auch eine Mitarbeiterin eines familienunterstützenden Dienstes, die Leiterin einer Kindertagesstätte, eine Vertreterin der aufsuchenden Altenarbeit und einen hautpamtlichen Mitarbeiter der Bremer Tafel konnte ich interviewen. In meiner Auswahl spiegeln sich die gesellschaftlichen Gruppen wider, die durch die Struktur sozialer Ungleichheiten strukturelle Diskriminierung erfahren: Menschen mit geringem oder keinem Einkommen, Frauen, insbesondere alleinerziehende, ältere Menschen sowie Menschen mit Rassismuserfahrungen. In den meisten Fällen adressieren die befragten Expert*innen in ihrer Arbeit Gruppen, bei denen sich unterschiedliche Benachteiligungsstrukturen überschneiden. Ernährungsunsicherheit ist in der Sozialen Arbeit, der ein Großteil der Interviewpartner*innen zuzuordnen ist, ein Thema, dem abseits der Lebensmitteltafeln und der Obdachlosenarbeit bisher keine besondere Bedeutung eingeräumt wird. Obwohl Schwierigkeiten im Zugang zu Lebensmitteln benannt wurden, definierte keine*r der befragten Expert*innen Ernährungssicherheit als explizites Ziel seiner*ihrer Arbeit. Der Zugang zu Lebensmitteln und die Organisation des Lebensmitteleinkaufs stehen nicht im Zentrum ihrer Arbeit. Die Interviews sind damit eher Reflexionsrahmen, in denen die Expert*innen aus ihren Beobachtungen und Praxiserfahrungen Schlüsse auf den Zugang zu Lebensmitteln ziehen. Die begrenzte Generalisierbarkeit dieser Schlüsse war ihnen bewusst, den meisten war es sehr wichtig, nicht pauschalisierend verstanden zu werden und neben den von ihnen benannten Trends auch Gegenbeispiele zu nennen. Ich halte den befragten Personenkreis aus diesem Grund trotz der genannten Einschränkung hinsichtlich ihres Arbeitsfokus für die beste mögliche Wahl, um den Lebenswelten der Bewohner*innen der Untersuchungsgebiete nahezukommen.
5.6.2
Auswertung des Interviewmaterials
Die Auswertung der Expert*inneninterviews erfolgte in Anlehnung an die inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz (2012, 77ff.). Die von Philipp Mayring in den 1980er Jahren erstmals als Methode beschriebene qualitative Inhaltsanalyse bezeichnet regelgeleitete Vorgehen, um Texten komplexe Informationen zu entnehmen (Gläser und Laudel 2004, 198; Kuckartz 2012, 23). Das
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
von Kuckartz beschriebene Verfahren eignet sich unter anderem für die Auswertung von Leitfadeninterviews (Kuckartz 2012, 98). Es gehört zu den Techniken, die Mayring als inhaltlich-strukturierende Verfahren (Mayring 2016, 103) und Siegfried Lamnek als inhaltlich-reduktive Auswertung (Lamnek 1995, 110ff) bezeichnet. Die inhaltlich strukturierende Inhaltsanalyse ermöglicht eine Verknüpfung von deduktiv gebildeten, das heißt aus Vorannahmen abgeleiteten Hauptkategorien und am Material entwickelten Subkategorien. Die Forschungshaltung, die meiner Dissertation zugrunde liegt, spiegelt sich in dieser Auswertungsmethode wider: Ausgehend von den Erkenntnissen zur Nahversorgungssituation in Deutschland und den Ergebnissen der deutschen Armuts- und Ernährungsforschung liegen Annahmen vor, die eine Vorstruktur bilden. Schon die Erhebung der Daten war entsprechend nicht völlig offen, sondern durch die genannten Quellen, die sich im Leitfaden niederschlugen, strukturiert. Für die Auswertung erscheint ein Analyseinstrument notwendig, das dieses Vorwissen nicht ignoriert und trotzdem offen genug für darüber hinausgehende Aspekte und Zusammenhänge ist. Zudem erscheint die von Kuckartz vorgeschlagene zweiphasige Kategorienbildung sinnvoll, um das Risiko zu verringern, dass erst zu einem späten Zeitpunkt der Analyse bisher unberücksichtigte Dimensionen einer Hauptkategorie auftauchen, aus deren Perspektive anschließend das gesamte Textmaterial erneut durchgesehen werden müsste. Der Einsatz der QDA-Software MAXQDA12 ermöglichte gleichzeitig die Anpassung des Kategoriensystems bis zum Ende der Analyse (z.B. die Zusammenfassung von Subkategorien, Veränderungen der Hierarchie), ohne dass das Interviewmaterial neu codiert werden musste. Kuckartz legt eine präzise Beschreibung des Ablaufs der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse vor, die sieben Phasen und die Erarbeitung thematischer Zusammenfassungen als Zwischenschritt umfasst (Kuckartz 2012, 100ff, siehe Abbildung 9). Der erste Schritt der Auswertung bestand gemäß der Kuckartzschen Herangehensweise in der initiierenden Textarbeit, bei der die Interviewtranskripte gelesen und wichtig erscheinende Textstellen markiert wurden. Für die nach den Interviews verfassten Gedächtnisprotokolle legte ich jeweils ein eigenes Dokument an und machte die dort festgehaltenen Informationen und Gedanken so der Analyse zugänglich. Ich arbeitete zudem auf verschiedenen Ebenen mit Memos. Ich verwendete sie einerseits am Textmaterial, um Auswertungsideen, Fragen und theoretische Verweise festzuhalten. Andererseits nutzte ich sie auf Ebene der Hauptund Subkategorien, um diese erschöpfend zu beschreiben, was sich für die Zuordnung von Textstellen zu Kategorien als sehr hilfreich erwies. Wie von Kuckartz vorgeschlagen wurden die Hauptkategorien entlang der Interviewleitfäden entwickelt und spiegeln die Themen wider, die aufgrund des Vorwissens zur Beantwortung der Forschungsfragen relevant erschienen (Schritt 2). Durch die initiierende Textarbeit ergaben sich zudem aus dem Material selbst einige weitere Oberthe-
115
116
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 9 Verfahrensschritte der inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse
Quelle: Kuckartz 2012, 100
men, die als Hauptkategorien verwendet wurden. Alle Interviewtranskripte wurden anschließend entlang der Hauptkategorien codiert (Schritt 3). Dabei kann eine Textpassage mehreren Kategorien zugeordnet werden. Dieses Vorgehen gewährleistet, dass alle Textstellen, die sich auf eine bestimmte Thematik beziehen, in der jeweiligen Hauptkategorie erfasst sind. Für die Forschungsfrage irrelevante Textpassagen wie Anfangs- und Schlussformeln wurden keiner Kategorie zugeordnet. Nach der Codierung des gesamten Interviewmaterials entlang der Hauptkategorien wurden alle Textstellen einer Hauptkategorie zusammengestellt (Schritt 4). Auf Grundlage dieser Materialausschnitte wurden Subkategorien induktiv entwickelt, die wesentlich differenzierteren und analytischeren Charakter haben als die thematischen Hauptkategorien (Schritt 5). Die Subkategorien systematisieren die in den Hauptkategorien zusammengefassten Inhalte in Hinblick auf die Forschungsfrage. Da sie auf Grundlage des gesamten Interviewmaterials gebildet wurden, verringerte sich das Risiko, dass im Verlauf Präzisierungen, z.B. eine weitere Ausdifferenzierung vorgenommen werden müssten, die ein erneutes Durchgehen des gesamten Materials mit dem veränderten Kategoriensystem erfordern. Ein zweiter Codierprozess des gesamten Datenmaterials erfolgte anschließend mit diesem differenzierten Kategoriensystem (Schritt 6). Als hilfreicher Zwischenschritt (nicht im Ablaufschema enthalten) erwies sich im Anschluss die Erarbeitung fallbezo-
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
gener thematischer Zusammenfassungen für die am relevantesten scheinenden Hauptkategorien. Diese fassen die Aussagen der*des Interviewten zu einem bestimmten Thema aus Perspektive der jeweiligen Fragestellung zusammen, lösen sich also vom Originaltext und ermöglichen im Anschluss einen Vergleich der Positionen zwischen mehreren Interviews und das Aufzeigen der Bandbreite der vorliegenden Positionen (fallübergreifende Analyse). Der siebte Schritt einer inhaltlich strukturierenden Analyse umfasst die Auswertung des Materials auf Grundlage der gebildeten Kategorien. Die von Kuckartz vorgestellten Formen der kategorienbasierten Auswertung explizieren und erweitern die analytische Arbeit, die bereits durch die Codierung mit Haupt- und Subkategorien des Textmaterials geleistet wurde. Es geht nun darum, das durch Kategorien strukturierte Textmaterial zur Beantwortung der Forschungsfrage aufzubereiten. Dazu dient zunächst die Analyse der Bandbreite von Aussagen zu bestimmten Themen (Hauptkategorien), die durch Subkategorien bereits vorgegliedert ist. Es gilt zu erfassen, was die Interviewpartner*innen zu einem Thema sagen und die Verteilung der Ausprägungen zwischen den Interviews zu prüfen. Auch die Dominanz von Themen oder bestimmter Subkategorien lässt sich in diesem Schritt herausarbeiten. Strukturen und Zusammenhänge zwischen Kategorien sollen so erkannt werden. Um Themencluster und Argumentationsmuster zu identifizieren, wurde beispielsweise bei Überschneidungen und Folgen von Kategorien angesetzt. Als hilfreich erwiesen sich dabei die visuellen Analysemöglichkeiten der Software MAXQDA, mit denen sich die Beziehungen zwischen Kategorien oder deren Sequenz darstellen lassen. Das zentrale Werkzeug in der qualitativen Inhaltsanalyse sind die Kategorien oder Codes, mit denen das Interviewmaterial strukturiert wird. Das finale Kategoriensystem meiner Analyse ist in Tabelle V-5 im Anhang dargestellt.
5.7
Auswahl der Untersuchungsgebiete
Wie theoretisch dargelegt, wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass die wohnortnahe Gelegenheitsstruktur eine räumliche Bedingung für den Zugang zu Lebensmitteln darstellt, die neben sozioökonomischen Faktoren von Bedeutung ist. Es wird davon ausgegangen, dass diese wohnortnahen Versorgungsmöglichkeiten insbesondere für wenig privilegierte Bevölkerungsgruppen relevant sind (Baaser und Zehner 2014, 9; Böge und Fuhr 2004, 2; Freudenau und Reuter 2007, 3). Um einen Abgleich zwischen subjektiv wahrgenommenen Barrieren und der objektiv vorhandenen Gelegenheitsstruktur vornehmen zu können, werden in dieser Arbeit diese Gelegenheitsstrukturen, die lokalen Standorte, Sortimente und Preisniveaus des Lebensmitteleinzelhandels detailliert erfasst. Da ich dazu nicht
117
118
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
auf vorhandene Daten zurückgreifen konnte,9 nahm ich eine eigene Datenerhebung vor. Dies war jedoch nur für wenige, räumlich klar abgegrenzte Gebiete möglich, deren Auswahl im folgenden Abschnitt erläutert wird.
5.7.1
Bremen als armutspolitische Problemregion
Da der von Armutsgefährdung betroffene Bevölkerungsanteil in Großstädten im Vergleich zu anderen Raumtypen besonders hoch ist (vgl. Meyer und Seils 2012), entschied ich mich dazu, die empirische Untersuchung im Stadtstaat Bremen durchzuführen10 . Diese Auswahl beruht auf der im Vergleich der Bundesländer und im Vergleich deutscher Großstädte hohen Armutsquote in der Bremer Bevölkerung. Das Land Bremen gehört zu den Regionen, in denen sich die Armutsquote in den letzten zehn Jahren am problematischsten entwickelte (Schneider, Stilling und Woltering 2017, 15). 2017 benötigte fast ein Fünftel der Einwohner*innen Mindestsicherungsleistungen11 (Arbeitnehmerkammer Bremen 2019, 1). Von allen Altersgruppen sind in Bremen insbesondere Kinder und junge Erwachsene von Armut betroffen: 2017 waren 35,5 % der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren und sogar 40,4 % der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren von Einkommensarmut betroffen, lebten also in einem Haushalt, in dem das Nettoäquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Durchschnitts beträgt (Arbeitnehmerkammer Bremen 2019, 4). In Bezug auf die Haushaltskomposition stechen Alleinerziehende und Familien mit drei oder mehr Kindern als besondere Risikogruppen heraus: Das Einkommen von mehr als der Hälfte der Alleinerziehenden und von rund 44 % der kinderreichen Familien unterschritt im Jahr 2017 die Armutsgefährdungsschwelle (Arbeitnehmerkammer Bremen 2019, 6). Auch wenn nur die Stadt Bremen betrachtet wird, ist ein im Vergleich zu anderen Großstädten hoher Anteil der Bevölkerung armutsgefährdet (Böhme u.a. 2018, 15; Meyer und Seils 2012, 4). Ist im Folgenden von Bremen die Rede, ist die Stadt Bremen gemeint, sofern nicht anders kenntlich gemacht.
9
10
11
Veröffentlichte Daten, die z.B. für kommunale Einzelhandelskonzepte erhoben wurden, nähern sich dem Versorgungsgrad meist nur über die Verkaufsfläche je Gebietseinheit und geben keine detaillierte Auskunft über Sortiments- und Preisstrukturen. Für die Auswahl städtischer Untersuchungsgebiete spricht auch, dass die Aufmerksamkeit für das »städtische Gesicht« des Ernährungssystems (Stierand 2008, 210) noch gering ist. Ein Umdenken, das die Bedeutung städtischer Räume für die Produktion, Verarbeitung und Distribution von Lebensmitteln erkennt (vgl. Rosol 2015; Rosol 2014; Stierand 2008) findet jedoch z.B. in kommunalen Ernährungsräten statt, wie sie inzwischen in Köln, Berlin, Dresden, Essen, Frankfurt, Oldenburg und Dresden bestehen (Stierand 2018). Dazu zählt Arbeitslosengeld II, Sozialgeld nach dem SGB II, das bedürftigen Kindern unter 15 Jahren zusteht, oder Grundsicherung im Alter bzw. bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII.
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
5.7.2
Gröpelingen und die Vahr als typische Wohngebiete benachteiligter Bevölkerungsgruppen
Auch innerhalb von Städten finden räumliche Konzentrationsprozesse sozialer Benachteiligung und Privilegierung statt. Diese als Segregation bezeichneten Prozesse, sortieren die Wohnbevölkerung entlang von Einkommen, Lebensstil und Nationalität in verschiedenen Quartieren (Häußermann, Kronauer und Siebel 2004, 32). Die in der Stadtgeographie und Stadtsoziologie beschriebene Polarisierung von Städten ist auch in Bremen zu beobachten. Im innerbremischen Vergleich gelten Gröpelingen und die Vahr als Stadtteile, in denen der Anteil der Bevölkerung in schwierigen sozioökonomischen Lagen besonders hoch ist. Diese beiden Stadtteile wurden aus diesem Grund als Untersuchungsgebiete meiner empirischen Studie ausgewählt. Für den zweiten Armuts- und Reichtumsbericht des Landes Bremen werden die Bremer Ortsteile auf Grundlage von »zentralen Faktoren für Armutsrisiken und Wohlstandseffekte« (SKJF 2014, 249) in Gebiete sozialer Privilegierung, Gebiete mit unterdurchschnittlichen sozialen Problemlagen, Gebiete mit überdurchschnittlichen Problemlagen und Gebiete sozialer Benachteiligung eingeteilt (siehe Abbildung 10; vgl. auch SKJF und SUBV 2013). Die Stadtteile Gröpelingen und die Vahr umfassen 7 von 15 Ortsteilen, die der Kategorie »Gebiete sozialer Benachteiligung« zugeordnet wurden.12 Wie Abbildung 10 und Tabelle 8 verdeutlichen, nehmen Gröpelingen und die Vahr gemäß den im Bremer Armuts- und Reichtumsbericht gewählten Indikatoren in fast allen Bereichen hintere Ränge ein. Die Indikatoren bilden dabei teilweise Determinanten und teilweise Dimensionen sozialer Ungleichheit ab: Während ein Migrationshintergrund als Determinante einzuordnen ist,13 stellen Sprachstand 12
13
Ein Bericht, der Maßnahmen zur Beförderung von Teilhabe und sozialem Zusammenhalt im Land Bremen bilanziert, bestätigt 2018 den sehr niedrigen Statuswert der Gröpelinger Ortsteile Gröpelingen, Lindenhof und Ohlenhof, ordnet den Gröpelinger Ortsteil Oslebshausen jedoch in der nächst höheren Kategorie (»niedriger Statuswert«) ein. In Bezug auf den Stadtteil Vahr unterscheidet sich die Bewertung stärker von der Einordnung der Stadtteile im Armuts- und Reichtumsbericht von 2015. Während dort drei Ortsteile der Vahr als Gebiete sozialer Benachteiligung eingestuft wurden, weist der Bilanzbericht sie als Gebiete mit niedrigem (Neue Vahr-Nord) bzw. mittleren (Neue Vahr-Südwest und Neue Vahr-Südost) aus (Böhme u.a. 2018, 46). Diese positivere Bewertung des Stadtteils könnte sowohl auf die z.T. unterschiedlichen Indikatoren zurückzuführen sein, die zur Bewertung der Lage in den Stadtteilen herangezogen wurden, als auch auf eine Verbesserung der Situation im Stadtteil Vahr hinweisen. Wie die Ränge in Tabelle 8 zeigen, ist die Wahl des Stadtteils Vahr als Wohngebiet von Menschen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status jedoch weiterhin berechtigt. Die Autor*innen weisen auf den signifikanten Einfluss des Faktors »Migrationshintergrund« auf das Armutsrisiko hin, das nicht durch armutsverstärkende Merkmale wie einen niedrigen Bildungsstand, den Bezug von Sozialleistungen und die Haushaltsform erklärt werden kann (SKJF 2014, 234).
119
120
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 10 Kumulative Armuts- und Wohlstandseffekte in den Bremer Ortsteilen 2012
Quelle: SKJF 2014, 251 mit eigener Kennzeichnung des Zentrums und der Stadtteile Gröpelingen und Vahr
und die Nicht-Abiturquote bildungsbezogene Dimensionen sozialer Ungleichheit dar. Klassenbezogene Indikatoren, die auf die Dimensionen Einkommen und Bildungsstand Bezug nehmen, dominieren im Benachteiligungsindex des Bremer Armuts- und Reichtumsbericht. Mit dem SGBII-Anteil unter Alleinerziehenden14 und dem Anteil der Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren,15 die Leistungen nach dem SGB II beziehen, greifen nur wenige Indikatoren Geschlechter- und Körperbezogene Strukturen auf. Ein Abgleich mit weiteren statistischen Daten verdeutlicht jedoch, dass das im Bremer Armuts- und Reichtumsbericht entworfene Bild der räumlichen Konzentration sozialer Ungleichheit seine Gültigkeit behält, wenn weitere geschlechter- und körperbezogene Variablen hinzugezogen werden: So ist der Anteil von weiblichen Hilfebedürftigen im erwerbsfähigen Alter z.B. in der Vahr der höchste im Vergleich aller Bremer Stadtteile. Der Anteil von Frauen an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist in Gröpelingen der stadtweit niedrigste (Statistisches Landesamt Bremen 2019). Gleichzeitigt
14 15
Der Mikrozensus 2009 ergab, dass Alleinerziehen fast immer (90 %) Frauen sind (Statistisches Bundesamt 2010, 14). Das Alter wird als Ausdruck der Determinante Körper verstanden.
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
weist Altersarmut (gemessen am Bezug von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung der über 65-Jährigen) sozialräumlich eine starke Kohärenz mit den Bezugsquoten von Leistungen nach dem SGB II auf (Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen 2014, 241). Vor diesem Hintergrund erscheint die Auswahl der Untersuchungsgebiete Gröpelingen und Vahr auf Basis des Benachteiligungsindex des Bremer Armuts- und Reichtumsbericht angebracht, obwohl hier klassenbezogene Indikatoren dominieren. Tabelle 8 Indikatoren zur Beurteilung der räumlichen Ausprägung sozialer Ungleichheit in Bremen Indikatoren des Armuts- und Reichtumsberichts
Stadt Bremen
Gröpelingen
Wert Durchschnittliches Einkommen pro Steuerpflichtigem (2013)
Rang**
Vahr
Wert
Rang
33.000 €
19.300 €
18/18
22.400 €
17/18
Anteil der Erwerbsfähigen (15-65 Jahre) im SGB-II-Bezug (2017)
15,1 %
31 %
18/18
19,5 %
14/18
Anteil der unter 15Jährigen im SGB-IIBezug (2017)
31,1 %
54,9 %
18/18
39,9 %
15/18
Anteil der Alleiner ziehenden im SGBII-Bezug (2017)
53,6 %
74,3 %
18/18
63,7 %
14/18
Anteil der Kinder mit Sprachförderbedarf
Kategorie, die im ARB verwendet wurde, für die jedoch keine öffentlich zugänglichen Daten vorhanden sind.
121
122
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Nicht-Abiturquote (2017)
69,5 %
80,6 %
15/18
74,4 %
12/18
Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund* (2017)
35,6 %
53,5 %
18/18
51,9 %
16/18
Wahlbeteiligung bei der Bürgerschaftswahl 2015
52,1 %
37,3 %
18/18
41,4 %
16/18
*Die Kategorie Migrationshintergrund wurde für den Mikrozensus 2005 geschaffen und ersetzt die Kategorie »Ausländer«. Ein Migrationshintergrund wird sowohl an personengebundenen Merkmalen (Zuzug, Einbürgerung, Staatsangehörigkeit) als auch an den entsprechenden Merkmalen der Eltern festgemacht. Zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund wird gezählt, wer nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen ist, in Deutschland geboren ist, aber keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder in Deutschland mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde und von zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer*in in Deutschland geborenen Elternteil abstammt (Statistisches Bundesamt 2015b). **Der Rang bezieht sich auf den Vergleich aller Stadtteile. Rang 1 erhält der Stadtteil z.B. mit dem höchsten durchschnittlichen Einkommen pro Steuerpflichtigem oder mit dem niedrigsten Anteil Erwerbsfähiger im SBG-II-Bezug. Quelle: Eigene Darstellung der Indikatoren des Bremer Armuts- und Reichtumsberichts (Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen 2014, 249) auf Grundlage von aktualisierten Daten des Statistischen Landesamtes Bremen (2019).
Anhand weiterer raumstatistischer Kennwerte (siehe Tabelle 9) können Gröpelingen und die Vahr in den Kontext aller Bremer Stadteile eingeordnet werden: Gröpelingen gehört mit rund 37.500 Bewohner*innen (Stand 31. 12. 2017) zu den bevölkerungsreichsten Stadtteilen Bremens. In der Vahr lebten zu diesem Stichtag rund 27.200 Personen. Damit nimmt der Stadtteil einen Rang im unteren Mittelfeld ein (Statistisches Landesamt Bremen 2019). Mit einer Bevölkerungsdichte von 38,9 Einwohner*innen pro Hektar liegt Gröpelingen im oberen Drittel der Rangfolge der Bremer Stadtteile. Die Bevölkerungsdichte von 62,3 Personen je Hektar in der Vahr gehört zu den höchsten in ganz Bremen und liegt deutlich über dem Durchschnitt von 17,4 Personen je Hektar (Statistisches Landesamt Bremen 2019). Sowohl in Gröpelingen als auch in der Vahr ist der Jugendindex, der die Anzahl der Minderjährigen in ein Verhältnis zur mittelalten Bevölkerung (18-65 Jahre) setzt, höher als im gesamtstädtischen Durchschnitt. Insbesondere Gröpelingen kann als einer der besonders jungen Stadtteile bezeichnet werden. Der Anteil der älteren Bewohner*innen ist in Gröpelingen hingegen niedrig, der Altenindex, der die Anzahl von Menschen über 65 Jahren in ein Verhältnis zur mittelalten Bevölkerung setzt, liegt mit 26,6 deutlich unter dem gesamtstädtischen Durchschnitt. In
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
der Vahr ist dieser Kennwert hingegen etwas höher und liegt mit 38,1 im Mittelfeld aller Stadtteile. Tabelle 9 Bevölkerungskennwerte der Untersuchungsgebiete Kennwerte zur Einordnung der Stadtteile
Stadt Bremen
Gröpelingen
Vahr
Wert
Rang*
Wert
Rang
Zahl der Bewohner*innen
568.006
37.458
5/18
27.206
13/18
Einwohner*innen je Hektar (Bevölkerungsdichte)
17,4
38,9
6/18
62,3
3/18
Jugendindex**
24,9
30,4
5/18
26,8
8/18
Altenindex***
33,2
26,6
15/18
38,1
8/18
*Der Rang bezieht sich auf den Vergleich aller Stadtteile. Rang 1 erhält z.B. der Stadtteil mit der höchsten Einwohner*innenzahl oder der höchsten Einwohner*innendichte. **Anzahl der Bevölkerung unter 18 Jahren je 100 Einwohner*innen (18-65 Jahre). Rang 1 nimmt der jüngste Stadtteil ein. ***Anzahl der Bevölkerung über 65 Jahren je 100 Einwohner*innen (18-65 Jahre). Rang 1 nimmt der älteste Stadtteil ein. Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Daten des Statistischen Landesamts (2019)
Kennzeichnend für beide Untersuchungsgebiete sind also zunächst Kennwerte, die auf besondere sozioökonomische Problemlagen der Wohnbevölkerung hinweisen. Mit Gröpelingen ist einer der bevölkerungsreichsten und eher jungen Stadtteile ausgewählt worden. Mit der Vahr betrachte ich außerdem einen Stadtteil, der von der Bevölkerungszahl im Mittelfeld liegt, jedoch besonders dicht besiedelt ist. Zudem bilden die beiden Stadtteile baustrukturell typische Wohngebiete benachteiligter Bevölkerungsgruppen ab: Haushalte mit geringem Einkommen sind zunehmend auf unattraktive Wohnungsbestände angewiesen, die von der restlichen Bevölkerung gemieden werden. Gründe sind eine zunehmende Nachfrage nach günstigem, innenstadtnahem Wohnraum bei gleichzeitigem Abbau von Sozialwohnungen durch das Auslaufen von Belegbindungen und Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände und Preissteigerungen durch Gentrifizierung. Diese unattraktiven Wohnungen finden sich insbesondere in den durch hohe Luftverschmutzung und Lärmbelästigung belasteten Bereichen traditioneller innerstädtischer Arbeiterquartiere und in den Beständen peripherer Großwohnanlagen der 1970er Jahre (Farwick 2007, 44). Das gilt auch für Bremen. So stellen Andreas Farwick et al. schon 1993 fest, dass dort überdurchschnittlich viele Empfänger*innen von Arbeitslosen- und Sozialhilfe in »traditionellen Arbeitervierteln« und »rand-
123
124
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
städtischen Großwohnanlagen« leben (Farwick, Nowak und Taubmann 1993, 14). Während Gröpelingen als gewachsenes Arbeiter*innenquartier zu bezeichnen ist, ist die Vahr ein Beispiel für eine typische Großwohnsiedlung, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren errichtet wurden. Diese Bauhistorien und –strukturen sind bedeutsam für die räumliche Verteilung des Lebensmitteleinzelhandels: Angebot und Nachfrage im Lebensmitteleinzelhandel seien »in erster Linie durch die Siedlungsstruktur geprägt« (Krüger u.a. 2013, 19; vgl. auch Weiß 2006). Bisher gehen Untersuchungen zur räumlichen Verteilung des Lebensmitteleinzelhandels vor allem auf die mit der Siedlungsstruktur zusammenhängende Bevölkerungsdichte ein (vgl. Acocella u.a. 2014, 49f; Landeshauptstadt Stuttgart 2009, 50). Mit den Untersuchungsgebieten Gröpelingen und Vahr bietet diese Arbeit die Möglichkeit, Unterschiede in der Lebensmitteleinzelhandelsstruktur auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher städtebaulicher Historien zu betrachten.
5.7.3
Ergebnisse zu Lebenslagen im Sample
Um den demographischen Aufbau meines Samples zu verdeutlichen und darzustellen, wie sich die Sozialstruktur der Untersuchungsgebiete in diesem widerspiegelt, gibt dieses Unterkapitel einen Überblick über entsprechende Kennwerte.
Alter und Geschlecht Die jüngste im Sample vertretene Person war zum Zeitpunkt der Befragung 18 Jahre alt, die älteste befragte Person gab ihr Alter mit 93 Jahren an. Besonders stark vertreten ist die Altersgruppe zwischen 36 und 65 Jahren, die rund 52 % des Samples ausmacht. Die jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren sind sowohl bei den Befragten aus Gröpelingen als auch bei den Befragten aus der Vahr unterrepräsentiert. Insbesondere bei den Befragten aus der Vahr ist hingegen der Anteil der Befragten über 65 Jahre höher als im Stadtteildurchschnitt (siehe Abbildung 11). Vor den Annahmen zu Mobilitätseinschränkungen durch körperliche Beeinträchtigungen, die im Alter zunehmen, scheint die Altersstruktur im Sample geeignet, um entsprechende Hindernisse zu erfassen. Die Geschlechterstruktur im Sample weicht stark von der Geschlechterstruktur ab, die das Statistische Landesamt Bremen für Gröpelingen und die Vahr ermittelt:16 Während das Geschlechterverhältnis in den Stadtteilen in etwa ausgewogen ist, sind im Sample nur rund 20 % der Befragten männlich. Dies kann zum Teil auf 16
2015 waren in Gröpelingen 51,7 %, in der Vahr 47,1 % der Bewohner*innen männlich, entsprechend 48,3 % (Gröpelingen) und 52,9 % (Vahr) weiblich (Statistisches Landesamt Bremen 2016).
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
Abbildung 11 Altersstruktur im Sample
Prozentanteil der Altersgruppen
Sample
Stadtteildurchschnitt
80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
18-25 Jahre 25-65 Jahre Gröpelingen
< 65 Jahre
18-25 Jahre
25-65
< 65 Jahre
Vahr
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von eigenen Daten und Daten des Statistischen Landesamtes Bremen (2019)
die Institutionen zurückgeführt werden, in denen die Befragungen durchgeführt wurde: Niedrigschwellige Bildungs-, Freizeit- und soziale Angebote in den Stadtteilen scheinen insbesondere von Frauen wahrgenommen zu werden, die entsprechend eine größere Chance hatten, Teil des Samples zu werden. Auch eine weiterhin bestehende stärkere Verantwortungsübernahme durch Frauen für die Versorgung könnte sich in der vorliegenden Verteilung widerspiegeln. Bei eventuellen Unterschieden zwischen den Geschlechtern wird die Verteilung in der Auswertung berücksichtigt.
Haushaltsgröße und Kinder In der Stadt Bremen wohnt in 53 % der Haushalte nur eine Person. Gröpelingen und die Vahr weichen kaum von diesem Durchschnitt ab (Statistisches Landesamt Bremen 2019). Während der Anteil der Einpersonenhaushalte unter den Befragten der Vahr dem Stadtteildurchschnitt entspricht, sind unter den Befragten aus Gröpelingen Mehrpersonenhaushalte leicht überrepräsentiert (siehe Abbildung 12). Der Anteil der Haushalte, in denen auch Kinder wohnen, ist im Sample überrepräsentiert. Dies trifft insbesondere für die Befragten aus Gröpelingen zu (siehe Abbildung 13). Alleinerziehende sind hingegen im Sample weit weniger häufig vertreten, als es ihrem Anteil in den Stadtteilen entspräche. Unter den Gröpelinger Befragten gaben nur 14,5 %, unter den Befragten aus der Vahr nur 9,1 % an, ihre Kinder alleine zu erziehen. Demgegenüber stehen 33,5 % (Gröpelingen) und 34,7 % (Vahr) der Haushal-
125
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 12 Ein- und Mehrpersonenhaushalte im Sample Sample
Prozentanteil der Ein- und Mehrpersonenhaushalte
70%
Stadtteildurchschnitt
60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
1 Person
> 1 Personen
1 Person
Gröpelingen
> 1 Personen Vahr
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von eigenen Daten und Daten des Statistischen Landesamtes Bremen (2019)
Abbildung 13 Haushalte mit und ohne Kind(er) im Sample Sample
70% Prozentanteil der Ein- und Mehrpersonenhaushalte
126
Stadtteildurchschnitt
60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
1 Person
> 1 Personen
Gröpelingen
1 Person
> 1 Personen Vahr
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von eigenen Daten und Daten des Statistischen Landesamtes Bremen (2019)
te mit Kindern, die durch das Statistische Landesamt als alleinerziehend ermittelt werden (siehe Abbildung 14). Benachteiligungen auf dieser Ebene im Sample zu berücksichtigen, ist also nur eingeschränkt gelungen. Mögliche Einschränkungen des Zugangs zu Lebensmitteln von Alleinerziehenden werden womöglich aufgrund ihrer ungenügenden Anzahl im Sample nicht erfasst.
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
Abbildung 14 Alleinerziehende Haushalte im Sample
Anteil der Haushalte
Sample 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
Nichtalleinerziehende Haushalte
Stadtteildurchschnitt
Alleinerziehende Haushalte
Gröpelingen
Nichtalleinerziehende Haushalte
Alleinerziehende Haushalte
Vahr
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von eigenen Daten und Daten des Statistischen Landesamtes Bremen (2019)
Armutsgefährdung Hinsichtlich der Armutsgefährdung war die Methode der Stichprobenziehung erfolgreich: Mit der theoretisch geleiteten Vorgehensweise zielte ich darauf ab, benachteiligte Bevölkerungsgruppen mindestens entsprechend ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung zu berücksichtigen. Ein Vergleich ist nur auf Ebene der Gesamtstadt möglich, da zur Armutsgefährdung keine Daten auf Stadtteilebene vorliegen. Die Armutsgefährdungsquote ist im Sample mit 67 % wesentlich ausgeprägter als in der Stadt Bremen mit 23,1 % (Böhme u.a. 2018, 15). Die Differenz zwischen den untersuchten Stadtteilen ist sehr hoch: Während unter den Befragten aus der Vahr rund 50 % als armutsgefährdet einzuordnen sind, betrifft dies unter den Gröpelinger Befragten rund 85 % (siehe Abbildung 15). Dies kann auf die zum Teil unterschiedlichen Kontexte der Befragung zurückgeführt werden. So nahm ein bedeutender Anteil der Gröpelinger Befragten bei der Ausgabestelle einer Lebensmitteltafel an der Befragung teil. Da ein Einkommensniveau unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle Voraussetzung für die Nutzung von Lebensmitteltafeln ist, wirkt sich der Kontext der Befragung entsprechend auf die Samplezusammensetzung aus. Bei der Interpretation von statistischen Unterschieden, die zwischen den Untersuchungsgebieten auftreten, wird diese Besonderheit der Samplezusammensetzung berücksichtigt.
127
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 15 Armutsgefährdete Haushalte im Sample nichtarmutsgefährdete Haushalte
armutsgefährdete Haushalte
90% Anteile (nicht-) armutsgefährdeten Haushalte
128
80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
Gröpelingen
Vahr
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von eigenen Daten und Daten des Statistischen Landesamtes Bremen (2019)
Bildungsgrad Der am häufigsten im Sample vertretene Bildungsgrad ist der Hauptschulabschluss, der den höchsten Schulabschluss von rund 36 % der Befragten darstellt. Die Befragten aus der Vahr weisen einen etwas höheren Bildungsgrad auf als die Befragte aus Gröpelingen: So ist der Anteil der Befragten aus der Vahr mit Abitur etwas, derjenigen mit einem Hochschulabschluss doppelt so hoch wie unter den Befragten aus Gröpelingen (siehe Abbildung 16). Dieser Unterschied ist bei der statistischen Auswertung von Unterschieden zwischen den Untersuchungsgebieten zu berücksichtigen. Verglichen werden können diese Anteile nur mit den aktuellen Quoten von Schulabgänger*innen, die höchstens einen Hauptschulabschluss oder ein Abitur erreicht haben. Bewohner*innen, die höchstens einen Hauptschulabschluss erworben haben, sind nach diesem Vergleich im Sample überrepräsentiert. Im Schulabgangsjahrgang 2017 erreichten in Gröpelingen 45 %, in der Vahr 32 % der Abgänger*innen höchstens einen Hauptschulabschluss (Statistisches Landesamt Bremen 2019). Im Sample geben hingegen 54 % (Gröpelingen) und 43 % (Vahr) der Befragten den Hauptschulabschluss als höchsten Schulabschluss an. Zieht man die aktuelle Abiturquote im Stadtteil als Vergleich heran (Gröpelingen: rund 20 %, Vahr: rund 26 %), sind die Bewohner*innen mit Abitur im Sample, insbesondere unter den Gröpelinger Befragten, stark unterrepräsentiert. Ähnlich wie in Bezug auf die Ausprägung der Armutsgefährdung im Sample entspricht der große Anteil niedriger Bildungsabschlüsse den Zielen der Samplingmethode und ist nicht als problematisch anzusehen.
5 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
Anteil der (Hoch-)Schulabschlüsse
Abbildung 16 Verteilung der Bildungsabschlüsse im Sample kein Schulabschluss
Hauptschulabschluss
Abitur
Hochschulabschluss
Realschulabschluss
45% 40% 35% 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0%
Gröpelingen
Vahr
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von eigenen Daten und Daten des Statistischen Landesamtes Bremen (2019)
Hauptsozialisationsland Rund 24 % der Befragten geben an, nicht hauptsächlich in Deutschland, sondern in einem anderen Land sozialisiert worden zu sein. Auch in Bezug auf diese Variable liegen Unterschiede zwischen den Befragten aus Gröpelingen und der Vahr vor, die bei der Interpretation der statistischen Ergebnisse zu berücksichtigen sind. Während von den Befragten aus der Vahr rund 32 % angaben, außerhalb Deutschlands sozialisiert worden zu sein, sind es unter den Befragten aus Gröpelingen nur rund 16 % (siehe Abbildung 17). Ein sinnvoller Vergleich hinsichtlich der Repräsentativität dieser Daten ist nicht möglich, da keine Vergleichsdaten verfügbar sind. Der vom Statistischen Landesamt erhobene Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund umfasst einen größeren Personenkreis, als die in dieser Arbeit genutzte Variable des Hauptsozialisationslandes, da auch die in Deutschland geborenen und sozialisierten Nachkommen von Zuwander*innen zu den Personen mit Migrationshintergrund gezählt werden. Angesichts eines Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund von 53,5 % (Gröpelingen) bzw. 51,9 % (Vahr) (Statistisches Landesamt Bremen 2019) entspricht allerdings die in der Vahr realisierte Quote von Menschen, die außerhalb von Deutschland sozialisiert wurden, eher meinen Erwartungen, als der niedrige Wert in Gröpelingen. Wie vorgesehen sind im Sample Personen in benachteiligenden Positionen stark vertreten. Es umfasst überdurchschnittlich viele alte Menschen und Personen, die in Haushalten mit Kindern leben. Armutsgefährdete Menschen sind wie Personen mit niedrigem Bildungsabschluss überrepräsentiert. Der Anteil alleinerziehender Personen ist hingegen unterdurchschnittlich hoch. Auch der Anteil der
129
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 17 Hauptsozialisationsländer im Sample Deutschland
anderes Land
90% Anteil der Sozialisationsländer
130
80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
Gröpelingen
Vahr
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von eigenen Daten und Daten des Statistischen Landesamtes Bremen (2019)
Menschen, die im Ausland sozialisiert wurden, ist geringer als erwartet. Dies trifft insbesondere auf die Gröpelinger Befragten zu. Um Zusammenhängen zwischen sozioökonomischen Strukturen und Einschränkungen des Zugangs zu Lebensmitteln statistisch zu ermitteln, erscheint das Sample trotz dieser Einschränkung geeignet.
6. Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs in Gröpelingen und der Vahr
Das zentrale Erkenntnisinteresse dieser Arbeit besteht in der Aufdeckung potenzieller Einschränkungen, mit denen Bewohner*innen benachteiligter Stadtgebiete bei der Versorgung mit Lebensmitteln konfrontiert sind. Zudem sollen Zusammenhänge zwischen möglichen Einschränkungen und Strukturen sozialer Ungleichheit geprüft werden, um zu erkennen, ob diese Einschränkungen als spezifisch für benachteiligte Bevölkerungsgruppen bezeichnet werden können. Der Antwort auf diese Frage nähere ich mich in diesem Analysekapitel in vier Unterkapiteln. Ich stelle jeweils zunächst die Ergebnisse meiner Erhebung vor, um die Ergebnisse dann auf die Literatur zu beziehen und zu diskutieren, was sie für meine Hauptfragestellung bedeuten. Kapitel 6.1 widmet sich der Leitfrage 2 und klärt, unter welchen physischräumlichen und sozioökonomischen Bedingungen der Lebensmitteleinkauf in den Untersuchungsgebieten realisiert wird. Es geht überblicksartig auf die Baustrukturen und -geschichten der Untersuchungsgebiete ein und stellt auf Grundlage der Kartierung ausführlich die lokalen Lebensmitteleinzelhandelsstrukturen vor. Dazu gehören die Angebots- und Preisstruktur sowie die Standortverteilung aller lebensmittelverkaufenden Geschäfte. Die GIS-Analyse gibt Aufschluss darüber, welche Teilräume der Stadtteile von einer fußläufigen Nahversorgung ausgeschlossen sind. Die dichte Beschreibung der Gelegenheitsstrukturen bildet den Hintergrund für Kapitel 6.2, in dem Leitfrage 3 beantwortet werden soll, die auf die Versorgungspraktiken in den Untersuchungsgebieten abzielt. Auf Grundlage der quantitativen Bewohner*innenbefragung wird in diesem Unterkapitel dargestellt, wie die Befragten die lokale Gelegenheitsstruktur nutzen und welche Verkehrsmittel dafür zum Einsatz kommen. Kapitel 6.3 führt die Ergebnisse der Bewohner*innenbefragung und der Expert*inneninterviews zusammen, um Antwort auf Leitfrage 4 zu geben. Betrachtet werden Barrieren, die sich aus der Nutzung und Bewertung des Lebensmitteleinzelhandels vor Ort ergeben und die sich z.B. aus der Wahl bestimmter Betriebsfor-
132
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
men, den nötigen Wegzeiten und der Zufriedenheit mit Sortimenten, Qualitäten und Preisen ableiten lassen. In den Expert*inneninterviews wurden auch Möglichkeiten der Überwindung dieser Hindernisse betrachtet. Auch Leitfrage 5, die sich mit den immateriellen Ressourcen befasst, die die Bewältigung herausfordernder Versorgungssituationen begünstigen, wird daher in diesem Unterkapitel behandelt. Gesondert betrachte ich Einschränkungen von Autonomie und Selbstbestimmung, die im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung bei einer Lebensmitteltafel für diese Versorgungsform herausgearbeitet werden konnten. Abschließend gehe ich in Kapitel 6.4 auf Leitfrage 6, die sozialen, kulturellen und psychischen Funktionen von Essen und Einkauf ein, die durch Einschränkungen des Zugangs zu Lebensmitteln betroffen sein könnten. Diese Ergebnisse beruhen hauptsächlich auf der Auswertung der Expert*inneninterviews.
6.1
Bedingungen für den Zugang zu Lebensmitteln: Physisch-räumliche Ausgangssituation
Gröpelingen und die Vahr gehören geographisch nicht zu den Randgebieten Bremens, in denen die geringe Bevölkerungsdichte und Besiedelungsstruktur ähnliche Entwicklungen des Lebensmitteleinzelhandels erwarten lassen wie im ländlichen Raum. Die Stadtteile zählen jedoch auch nicht zu den beliebten zentralen Wohnlagen, sondern gehören zu den typischen, dichtbesiedelten Stadtteiltypen, die (noch) Wohnraum für marginalisierte Bewohner*innen bieten. Diese stehen im Mittelpunkt dieser Arbeit, da vermutet wird, dass gerade diese gesellschaftlichen Gruppen besonders auf wohnortnahe Versorgungsmöglichkeiten angewiesen sind (Baaser und Zehner 2014; Freudenau und Reuter 2007; Böge und Fuhr 2004). Die zentrale Kreuzung in Gröpelingen (Lindenhofstraße/Gröpelinger Heerstraße) befindet sich genau wie das Einkaufszentrum Berliner Freiheit (Stadtteilzentrum der Vahr) rund sechs Kilometer entfernt vom Bremer Stadtzentrum (siehe Abbildung 10). Beide Stadtteile sind durch Bus- und Straßenbahnlinien an die Innenstadt und den Hauptbahnhof angeschlossen.
6.1.1
Gröpelingen – der Arbeiter*innenstadtteil
Für die heutige städtebauliche Struktur des Stadtteils Gröpelingen ist der Bau der Häfen und die Ansiedelung von Industrie im ausgehenden 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts prägend. Um Wohnraum für die Hafen- und Industriearbeiter*innen zu schaffen, wurden zunächst vor allem Ein- und Zweifamilienhäuser als Reihenhäuser gebaut (Landesamt für Denkmalpflege Bremen 1982, 31) (siehe Abbildung 18).
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
Abbildung 18 Reihenhausbebauung in Gröpelingen
Fotos: Augustin 2016
Hier spiegelt sich die politisch gewünschte Vermeidung von Mietskasernen wider, die als »Zentren der Arbeiterbewegung und des Wohnungselends« eingeordnet wurden (Bremische Gesellschaft für Stadterneuerung 2000, 54). Der Stadtteil erschließt sich entlang der Gröpelinger Heerstraße (siehe Abbildung 19 und Abbildung 21), auf der auch die Hauptachse des ÖPNV verläuft. Abseits dieser Straße bestehen kaum ÖPNV-Verbindungen. Die Wohngebiete entlang des Bahndamms liegen gut zwei Kilometer von der Gröpelinger Heerstraße entfernt. An den ÖPNV sind diese Wohngebiete lediglich durch den sogenannten Quartiersbus angeschlossen, der nur als Rundverkehr fährt und sich in der Taktung stark an Schulzeiten orientiert. In der Mitte der Gröpelinger Heerstraße verlaufen die Straßenbahngleise. Durch seitliche Parkstreifen wird sie zusätzlich verbreitert. Eine Querung scheint für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen nicht an allen Stellen problemlos möglich. Durch die vielen Geschäfte, die Waren und Dienstleistungen des kurz- und mittelfristigen Bedarfs anbieten, bildet die Straße jedoch eine abwechslungsreiche und lebendige Streckenverbindung für Fußgänger*innen. Gröpelingen bietet eine gewachsene (Lebensmittel-)Infrastruktur. Das Zentrum des Stadtteils liegt in einem an ein T erinnernden Bereich entlang der Gröpelinger Heerstraße und der abzweigenden Lindenhofstraße. Dort finden sich viele Einzelhandelsstandorte, z.B. in der Regel kleinflächige Lebensmittelmärkte (siehe Abbildung 20). Der Stadtteil ist kein reines Wohngebiet, sondern auch durch Handel und Gewerbe geprägt. Diese Baustrukturen bieten dem Lebensmitteleinzelhandel räumliche Ausweichmöglichkeiten, die beim Wandel von Angebots- und Nachfragemustern z.B. zur Vergrößerung von Verkaufsflächen nötig sind. So wurden auch in jüngerer Zeit Veränderungen und Modernisierungen von Lebensmittelmärkten und Lebensmittelfachgeschäften realisiert, die sowohl im Stadtteilzentrum als auch in
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134
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 19 Straßenraum und Lebensmittelgeschäfte an der Gröpelinger Heerstraße
Fotos: Augustin 2016
einzelnen in Wohngebiete integrierten Lagen verortet sind: 2007 wurde an der zentralen Kreuzung Gröpelinger Heerstraße/Lindenhofstraße das Lindenhofcenter eröffnet, das verschiedenen Lebensmitteleinzelhändlern Platz bietet. 2011 wurde ebenfalls an der Gröpelinger Heerstraße auf dem Gelände eines ehemaligen Supermarktes ein neues sogenanntes Fachmarktzentrum gebaut, dass neben einem Verbrauchermarkt auch einem Discounter Platz bietet. Seit 2016 nutzt eine große Metzgerei, die halal arbeitet, die Räume eines ehemaligen Discounters am Halmer Weg. Neben den Lebensmittelmärkten im Nahversorgungszentrum Oslebshausen, das sich am nördlichen Rand des Ortsteils befindet, ergänzen im Stadtteil Ohlenhof mehrere kleinflächige Lebensmittelgeschäfte in Wohngebieten das Lebensmittelangebot (siehe Abbildung 20). Diese Verteilung führt in Kombination mit der Verteilung der Wohngebäude dazu, dass rund 4.000 Einwohner*innen, das heißt rund 11 % der Stadtteilbevölkerung, in einer Distanz von mehr als 600 Metern Luftlinie vom nächsten Vollsortimenter entfernt wohnen (siehe Karte in Anhang II-2).1
1
Die Zahl nicht nahversorgter Bewohner*innen wurde mittels der auf Baublockebene vorliegenden Einwohner*innenzahlen geschätzt. Dazu wurden die Baublöcke, die innerhalb eines Radius von 600 Metern zum nächsten Vollsortimenter liegen, als nahversorgt angenommen, Baublöcke, die außerhalb dieses Radius liegen, als nicht nahversorgt eingestuft. Außerhalb dieser Radien befinden sich vor allem Wohngebiete entlang des Bahndamms und die Großwohnanlage Wohlers Eichen.
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
Abbildung 20 Kleinflächiger Lebensmittemarkt im Ohlenhof
Foto: Augustin 2016
6.1.2
Die Vahr – Großwohnsiedlung der 1960er Jahre
Um dem Wohnungsmangel der Nachkriegszeit zu begegnen, plante die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft mbH (Gewoba)2 in den 1950er Jahren im Stadtteil Vahr zwei Großsiedlungen, die Gartenstadt Vahr und die Neue Vahr. Drei Jahre nach dem Baubeginn in der Gartenstadt Vahr (auch Alte Vahr) wurde 1957 mit der Errichtung der Neuen Vahr begonnen. Sie besteht aus den Ortsteilen Neue Vahr-Nord, Neue Vahr-Südwest und Neue Vahr-Südost. Die im Vergleich zur Gartenstadt Vahr dichtere Bebauung der Neuen Vahr wurde als »sozialdemokratischer Gegenentwurf zum bürgerlichen Wohnen im innerstädtischen ›Bremer‹ Haus« verstanden (Schöß o.J., 26). Die Neue Vahr gliedert sich in fünf Nachbarschaften, die geprägt sind durch die Wohnbebauung mit mehrgeschossigen Mehrfamilienhäusern und Punkthochhäusern (siehe Abbildung 22), in den Randbereichen durch zweigeschossige Reihenhausbebauung. Jeder Nachbarschaft war ein aus wenigen kleinen Ladengeschäften bestehender Nahversorgungsbereich zugeordnet (Forum Huebner, Karsten und Partner 2013, 65).
2
Die Gewoba befand sich in dieser Zeit mehrheitlich im Eigentum des Wohnungsunternehmens Neue Heimat.
135
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 21 Lebensmitteleinzelhandel in Gröpelingen
Quelle: Eigene Darstellung. Kartengrundlage: Geoinformation Bremen: Digitaler Stadtplan 1:20.000, Sonderfarben. Einzelne sehr dicht beieinanderliegende Standorte wurden zur besseren Sichtbarkeit geringfügig verschoben.
Sowohl die Gartenstadt als auch die Neue Vahr wurden in den 1960er/1970er Jahren nach dem aktuellen städtebaulichen Leitbild der autogerechten und aufgelockerten Stadt entworfen (Tietz 2018, 37). Die Hauptachsen des Stadtteils, die
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
Abbildung 22 Mehrfamilien- und Punkthochhaus in der Neuen Vahr-Nord
Fotos: Augustin 2016
eine autogerechte Verkehrsanbindung an das Bremer Stadtzentrum ermöglichen, bestehen aus mehrspurigen Straßen. Als Querungsmöglichkeiten für den Fuß- und Radverkehr wurden Brücken angelegt, die den heutigen Ansprüchen an Barrierefreiheit nicht gerecht werden (siehe Abbildung 23). Diese wurden in jüngerer Vergangenheit zum Teil durch ebenerdige Ampelanlagen ersetzt. Während der ÖPNV entlang der Magistralen, das heißt in West-Ost-Richtung, eng getaktet ist, besteht die Nord-Süd-Verbindung des ÖPNV durch eine einzelne Busverbindung, die wochentags halbstündlich und sonntags gar nicht verkehrt. In Großwohnsiedlungen, die nach 1945 errichtet wurden, war die Lebensmittelversorgung Bestandteil der zentralen Planung. Gemäß dem städtebaulichen Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt wurden die Betriebe, dem hierarchisch aufgebauten Zentrensystem zugeordnet (Million 2009, 42). Ladengruppen, in der Vahr in Zeilen angeordnet, sollten in den einzelnen Nachbarschaften zur Versorgung mit Produkten des täglichen Bedarfs dienen. In den Geschäften im Stadtteilzentrum (heute Einkaufszentrum Berliner Freiheit) sollten zudem mittelfristige Bedarfe bedient werden. Die Standortverteilung des Lebensmitteleinzelhandels ist in der Vahr wesentlich konzentrierter als in Gröpelingen (siehe Abbildung 25). In der Baustruktur der Vahr ist auch heute noch die ursprünglich angelegte Strukturierung des Stadtteils sichtbar: Das Einkaufszentrum Berliner Freiheit fungiert weiterhin als zentraler Versorgungsstandort für den Stadtteil und angrenzende Gebiete: Ein großflächiger Vollsortimenter, ein Discounter, Lebensmittelfachgeschäfte und der große, dreimal wöchentlich stattfindende Wochenmarkt konzentrieren sich dort. Es sind weiterhin Produkte des mittelfristigen Bedarfs erhältlich. Diverse öffentliche Ein-
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 23 Fußverkehrbrücke in der Neuen Vahr
Foto: Augustin 2016
richtungen (Bibliothek, Stadtteilzentrum mit kulturellen und sozialen Angeboten) sowie Arztpraxen ergänzen das Angebot. Die ursprünglich in jeder Nachbarschaft angelegte Nahversorgung für Waren des täglichen Bedarfs hat sich stark ausgedünnt. In den Ende der 1950er bis Anfang der 1960er Jahre angelegten Ladenzeilen (siehe Abbildung 24) halten sich zwar noch vereinzelt Lebensmittelgeschäfte, z.B. ein kleinflächiger Supermarkt und arabische und asiatische Spezialitätenläden, in Bereichen der Neuen Vahr-Nord und der Gartenstadt Vahr besteht jedoch kaum eine Möglichkeit mehr, wohnortnah wenigstens Brot einzukaufen. Neben Leerstand ist auch die Nutzung der Ladenzeilen durch Dienstleistungsanbieter wie Nagelstudios, Fahrschulen und Pflegedienste zu beobachten. Diese Nachnutzung entspricht Prozessen, die als eine schleichende Abwertung von Subzentren beschriebenen werden (Everts 2008, 65). Die Schließung von Lebensmittelgeschäften in diesen Lagen wird vom Centermanagement der Berliner Freiheit auf mangelnden Umsatz zurückgeführt. Herr Kahlen erklärt, dass die geringen Ladengrößen und die unzeitgemäßen sanitären Anlagen nicht den Ansprüchen moderner Lebensmittelgeschäfte oder des Lebensmitthandwerkes entsprechen und Modernisierungen entgegenstehen (Herr Kahlen 15)3 . Sie können als Beispiel für eine kaum anpas-
3
Zur Kennzeichnung von Aussagen Expert*innen werden Pseudonyme verwendet (siehe auch Tabelle V-1 im Anhang).
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
sungsfähige stadträumliche Struktur gesehen werden, die für die Lebensmittelversorgung nur wenige Handlungsoptionen bieten (Böge und Fuhr 2004, 2f.). Um Discounter, Supermärkte und Verbrauchermärkte sind vor allem an den Rändern der Ortsteile Neue Vahr-Nord, Neue Vahr-Südwest und Neue Vahr-Südost neue Nahversorgungsstandorte entstanden, an denen sich neben dem Vollsortimenter vor allem Bäckereien halten können. Sie stellen abgesehen von den wenigen erwähnten Solitärstandorten in den ursprünglichen Ladenzeilen die niedrigste Hierarchieebene der Versorgung in der Vahr dar. Die Verteilung der Lebensmittelgeschäfte führt zu einem nicht-nahversorgten Anteil der Stadtteilbevölkerung von rund 10 % (rund 2.400 Personen, siehe Karte in Anhang II-3). Abbildung 24 Ladenzeilen in der Neuen Vahr-Nord
Fotos: Augustin 2016
6.1.3
Betriebsformen und Sortimentsstrukturen
Betriebsformenstruktur Die Versorgung mit Lebensmitteln wird in Gröpelingen durch stationäre Geschäfte vielfältiger Betriebsformen ermöglicht (siehe Abbildung 26). Neben einem Verbrauchermarkt bieten zwei Supermärkte mit hauptsächlich deutschem Sortiment, ein türkischer Supermarkt, sieben Discounter, zwei Lebensmittelmärkte mit hauptsächlich deutschem Sortiment und sechs Lebensmittelmärkte, deren haltbares Warensortiment sich hauptsächlich an der türkischen und arabischen Küche orientiert, ein Vollsortiment im Stadtteil an. Diese Geschäfte entsprechen einem Anteil von 24 % aller Lebensmittelgeschäfte. 12 von 20 Geschäften mit Vollsortiment gehören zu den führenden Unternehmen im Lebensmitteleinzelhandel: Edeka-, Rewe-, Aldi- und Schwarz-Gruppe. 10 von 20 Vollsortimentern werden von selbstständigen Kaufleuten geführt, zwei davon gehören jedoch als Filialen zu einer der großen Handelsketten.
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 25 Lebensmitteleinzelhandel in der Vahr
Quelle: Eigene Darstellung. Kartengrundlage: Geoinformation Bremen: Digitaler Stadtplan 1:20.000, Sonderfarben. Einzelne sehr dicht beieinanderliegende Standorte wurden zur besseren Sichtbarkeit geringfügig verschoben.
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
Abbildung 26 Betriebsformen in Gröpelingen (N=79)
Fachgeschäft/ Lebensmittelhandwerk
13%
Lebensmittelmarkt 33%
Discounter Supermarkt
30%
Verbrauchermarkt 10% 1%4%
9%
Kiosk Sonstige
Quelle: Eigene Darstellung
In der Vahr bieten 18 % aller lebensmittelverkaufenden Geschäfte ein Vollsortiment an (siehe Abbildung 29). Dazu gehören drei Verbrauchermärkte, ein deutscher Supermarkt, ein auf die süd- und osteuropäische Küche spezialisierter Supermarkt und sechs Discounter (siehe Abbildung 27). Neun von elf Vollsortimentern gehören zu den führenden Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels, zwei sind Filialen anderer Unternehmen. Selbstständig geführter Einzelhandel ist im Vollsortimentsbereich in der Vahr nicht vorhanden. In die Kategorie der Lebensmittelfachgeschäfte/Lebensmittelhandwerk fallen in Gröpelingen und der Vahr Bäckereien, Metzgereien, Getränkemärkte, Süßwarengeschäfte, ein Reformhaus und Geschäfte für süd- und osteuropäische Spezialitäten, orientalische oder afrikanische und asiatische Lebensmittel. Im Stadtteil gibt es außerdem einen Getränkefachmarkt. Anteilig machen Lebensmittelfachgeschäfte in Gröpelingen 33 %, in der Vahr fast die Hälfte aller Lebensmittelgeschäfte aus. Während in Gröpelingen etwa 62 % der insgesamt 16 Bäckereien hauptsächlich deutsche Brotsorten und Backwaren anbieten, liegt dieser Anteil in der Vahr bei rund 85 %. Fünf Bäckereien (ca. 31 %) bieten in Gröpelingen vor allem arabische und türkische Backwaren an. In der Vahr wird ein solches Sortiment in zwei Bäckereien (15 %) angeboten. In Gröpelingen hat sich darüber hinaus eine Bäckerei auf bulgarische Backwaren spezialisiert.
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 27 Betriebsformen in der Vahr (N=60)
Fachgeschäft/ Lebensmittelhandwerk
22%
Discounter Supermarkt 48%
12%
Verbrauchermarkt Kiosk
5% 3% 10%
Sonstige
Quelle: Eigene Darstellung
Metzgereien sind sowohl in Gröpelingen als auch in der Vahr mit nur wenigen Standorten vertreten. In zwei der drei Metzgereien in Gröpelingen wird ausschließlich halal geschlachtetes Fleisch verkauft. Allerdings werden in sechs Vollsortimentern unverpackte Fleisch- und Wurstwaren angeboten. Jeweils die Hälfte davon genügt dem Halal-Standard. In der Vahr besteht nur eine einzige Metzgerei mit einem an deutschen Fleisch- und Wurstwaren orientierten Sortiment. Auch hier ist unverpacktes Fleisch vor allem an Theken in vier Vollsortimentern erhältlich. Unverpacktes Fleisch oder unverpackte Wurst, die halal-zertifiziert ist, ist in der Vahr nicht erhältlich. Wochenmärkte finden in Gröpelingen an drei Vormittagen die Woche am Pastorenweg (ca. 20 Anbieter*innen) sowie an zwei Vormittagen in der Oslebshauser Landstraße (ca. 15 Anbieter*innen) statt. In der Vahr wird in der Berliner Freiheit an drei Vormittagen in der Woche ein großer Wochenmarkt mit ca. 50 Anbieter*innen abgehalten. Am Rand der Gartenstadt Vahr findet außerdem an einem Vormittag der Woche ein sehr kleiner Wochenmarkt mit rund 8 Anbieter*innen statt. Bei den Sortimenten der lebensmittelverkaufenden Geschäfte unterscheide ich zwischen Voll-, Fach- und Ergänzungssortiment sowie zwischen einem Angebot, das vor allem Süßigkeiten, Getränke und Snacks bereithält. Vollsortimente umfassen mehrere Lebensmittelgruppen, z.B. Gemüse und Obst, Milchprodukte, Fleisch, Wurst und Nährmittel wie Reis und Nudeln. Als Ergänzungssortiment bezeichne
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
ich ein beschränktes Angebot an frischen oder haltbaren Lebensmitteln, das über Süßigkeiten, salzige Snacks und Getränke hinausgeht und das sonstige Non-FoodSortiment ergänzt. In Gröpelingen sind dieser Sortimentskategorie 16 % und in der Vahr 17 % der lebensmittelverkaufenden Geschäfte zuzuordnen (siehe Abbildung 28 und Abbildung 29). Diese Kategorien beschreiben das Lebensmittelsortiment in Drogerien und einem Teil der Kioske und Tankstellenshops. Häufig angebotene Waren sind in den Kiosken getrocknete Hülsenfrüchte, Tee, Kaffee, eingelegtes Gemüse und Tomatensoße. Milch und Milchprodukte gehörten selten dazu. In einigen Fällen wird auch Fladenbrot und/oder Weißbrot verkauft. Frisches Gemüse (Kopfsalat) fand ich nur in einem Kiosk. Überraschend war das Angebot an (haltbaren) Würsten, die in mehreren Kiosken angeboten wurden. In einem Kiosk wurde Tiefkühlkost (Fleisch- und Fischwaren, Torten) verkauft. Die Betriebsform Kiosk, die – wie hier zu sehen ist – durchaus Waren anbietet, die über Süßigkeiten und Snacks hinausgehen, scheint jedoch kein regelmäßig (bewusst) aufgesuchter Einkaufsort zu sein. Die befragten Bewohner*innen von Gröpelingen und der Vahr nannten keinen Kiosk auf die Frage, welche Geschäfte sie regelmäßig für den Lebensmitteleinkauf aufsuchen. Dies werte ich als Hinweis darauf, dass hier vor allem vergessene oder nur unregelmäßig benötigte Artikel besorgt werden. Das Lebensmittelangebot in Drogerien scheint hingegen insbesondere für Eltern von Babys eine Rolle zu spielen. Als Quelle von Baby- und Kindernahrung werden Drogerien in der Befragung mehrmals genannt.
Abbildung 28 Sortimentsgruppen in Gröpelingen (N=79); Abbildung 29 Sortimentsgruppen in der Vahr (N=60) Süßwaren/Snacks/Getränke Ergänzungssortiment Fachsortiment Vollsortiment
24%
27%
Süßwaren/Snacks/Getränke Ergänzungssortiment Fachsortiment Vollsortiment
18%
17%
17% 16% 33%
Quelle: Eigene Darstellung
48%
143
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
27 % der lebensmittelverkaufenden Geschäfte in Gröpelingen haben vor allem Süßigkeiten, salzige Snacks und Getränke im Angebot. Zu ihnen gehören Kioske, Tankstellenshops und Sonderpostenmärkte. In der Vahr beträgt dieser Anteil 17 %. Was in Einzelhandelserhebungen als klassisches Kiosksortiment definiert ist und vor allem aus Tabakwaren, Zeitschriften, zum Teil Schreibwaren und einer Lotterieannahme besteht, findet sich nur vereinzelt.
Sortimentsstruktur am Beispiel von Obst- und Gemüse Breite des Angebotes Im Stadtteil Gröpelingen wird in 23 Geschäften Gemüse verkauft, im Stadtteil Vahr in 15 Geschäften (siehe Abbildung 30 und Abbildung 31).
Abbildung 30 Breite des Gemüse- und Obstangebotes in Gröpelingen Gemüse
50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0
Obst
Kiosk1 Fachgeschäft1 Fachgeschäft2 Fachgeschäft3 Discounter1 Discounter2 Discounter3 Discounter4 Disccounter5 Disccounter6 Discounter7 Lebensmittelmarkt1 Lebensmittelmarkt2 Lebensmittelmarkt3 Lebensmittelmarkt4 Lebensmittelmarkt5 Lebensmittelmarkt6 Lebensmittelmarkt7 Lebensmittelmarkt8 Supermarkt1 Supermarkt2 Supermarkt3 Verbrauchermarkt1
Zahl Gemüse- und Obstarten
144
Quelle: Eigene Darstellung
Die Kioske und Fachgeschäfte, die vereinzelte Obst- und Gemüsearten anbieten, gehen in die folgenden Rechnungen nicht ein, um den Durchschnitt nicht zu verzerren. Betrachtet werden also ausschließlich Geschäfte mit Vollsortiment. Der Median der Artenzahl ist in Gröpelingen mit 28 Arten etwas geringer als in der Vahr mit 30 Gemüsearten. Dafür ist die Standardabweichung der Gemüseartenzahl in der Vahr mit 14,65 Arten höher als im Stadtteil Gröpelingen (10,73 Arten). Dies weist darauf hin, dass die Unterschiede in der Sortenzahl zwischen den einzelnen Geschäften im Stadtteil Vahr größer sind als in Gröpelingen (siehe Tabelle 10).
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
Zahl Gemüse- und Obstarten
Abbildung 31 Breite des Gemüse- und Obstangebotes in der Vahr 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0
Gemüse
Obst
Quelle: Eigene Darstellung
Obst wird sowohl in Gröpelingen als auch in der Vahr in weniger Geschäften verkauft als Gemüse. In Gröpelingen wird Obst an 19 Standorten verkauft, in der Vahr in 11 Geschäften. Es zeigt sich eine ähnliche Struktur wie bei der Gemüseauswahl. Eine im Durchschnitt größere Artenzahl pro Geschäft in der Vahr (20 im Gegensatz zu 18 Sorten in Gröpelingen) geht mit einer höheren Standardabweichung einher (9,79 statt 5,85 Sorten in Gröpelingen). Wie Tabelle 10 zeigt, sind die unterschiedlichen Durchschnittswerte auf die Betriebsformen Lebensmittelmarkt und Verbrauchermarkt zurück zu führen, die im Durchschnitt ein besonderes breites (Verbrauchermarkt) bzw. besonders schmales (Lebensmittelmarkt) Gemüse- und Obstsortiment aufweisen. Während die drei Verbrauchermärkte in der Vahr den dortigen Durchschnitt anheben, senken die sechs Lebensmittelmärkte in Gröpelingen den Durchschnittswert. Zu den Unterschieden zwischen den Stadtteilen tragen außerdem die Discounter bei, die in der Vahr ein breiteres Obst- und Gemüseangebot aufweisen, als in Gröpelingen. Das Angebot der Supermärkte unterscheidet sich hingegen nicht systematisch zwischen den Stadtteilen.
145
146
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Tabelle 10 Breite des Gemüse- und Obstangebotes in den Untersuchungsgebieten Durchschnittliche Gemüseartenzahl
Gröpelingen
Vahr
Median
Standardabweichung
Median
Standardabweichung
Alle Vollsortimenter
28,00
10,73
30,00
14,65
Discounter
29,00
4,70
30,00
2,43
Lebensmittelmärkte
27,00
8,76
-
-
Supermärkte
33,00
4,37
31,00
1,00
Verbrauchermärkte
32,00
-
43,00
2,05
Alle Vollsortimenter
18,00
5,85
20,00
9,79
Discounter
20,00
2,49
21,50
2,43
Lebensmittelmärkte
13,00
5,04
-
-
Supermärkte
18,00
1,89
19,00
0,00
Verbrauchermärkte
29,00
-
28,00
2,87
Gemüsearten
Obstarten
Quelle: Eigene Darstellung
Werden Geschäfte einer Betriebsform miteinander verglichen, wird deutlich, dass neben der Betriebsform auch andere Faktoren die Breite des Gemüse- und Obstangebotes beeinflussen. Denkbar sind hierfür die Größe der Verkaufsfläche, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kette oder die Form des Managements, bei der regiegeführte Filialen selbstständig geführten Filialen gegenüberstehen.4 Für die Breite des Obst- und Gemüseangebotes in Discountern scheint beispielsweise in den Untersuchungsgebieten eher die Konzernzugehörigkeit als die Verkaufsfläche einflussreich zu sein. So bieten alle Filialen des Discounters C ein besonders breites Obstangebot, obwohl die Verkaufsflächengrößen zwischen 400 und 1.050 Quadratmetern variieren (siehe Abbildung 32). Wird die Breite des Angebotes mit der Verkaufsfläche in Beziehung gesetzt wird noch deutlicher, dass von diesem Parameter bei Discountern nicht zwangsläufig ein Einfluss auf das Obst- und Gemüseangebot ausgeht. So stellen zwei große Märkte mit einer Verkaufsfläche von mehr als 1.000 Quadratmetern ähnlich viele
4
Regiegeführte Filialen werden von den Regiegesellschaften der Handelsketten und nicht von selbstständigen Kaufleuten geführt.
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
Zahl Gemüse- und Obstarten in den einzelnen Filialen
Abbildung 32 Breite des Gemüse- und Obstangebotes in Discountern in den Untersuchungsgebieten 50
Gemüse
Obst
45 40 35 30 25 20 15 10 5 0
Quelle: Eigene Darstellung
oder sogar weniger Gemüsesorten bereit als kleinere Märkte, die zu anderen Konzernen gehören (siehe Abbildung 33).5 Tiefe des Angebotes Die für die Breite des Gemüse- und Obstangebotes beobachtete Tendenz setzt sich für die Tiefe des Sortiments fort. In den Vollsortimentern der Vahr werden zum Zeitpunkt der Untersuchung im Frühjahr 2016 im Durchschnitt mehr Kartoffel-, Möhren-, Zwiebel-, Apfel- und Bananensorten angeboten. Nur bei den Zwiebeln und Orangen herrscht im Schnitt in Gröpelingen eine größere Auswahl. Beim Vergleich der einzelnen Betriebsformen wird deutlich, dass diese Unterschiede zwischen den Stadtteilen ebenfalls auf den unterschiedlichen lokalen Betriebsformenstrukturen beruhen und die Abweichungen zwischen den Geschäften gleicher Betriebsformen gering ausfallen (siehe Tabelle VII-1 und Tabelle VII-2 im Anhang). Angebot relativ zu Einwohner*innenzahl und Haushalten Im Stadtteil Gröpelingen wird in 23 Geschäften Gemüse verkauft. In der Vahr gibt es Gemüse an 15 Standorten zu kaufen (siehe Tabelle 11).
5
Drei Discountermärkte wurden aus dieser Darstellung ausgeschlossen, da die Verkaufsfläche nicht bekannt war.
147
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 33 Gemüseangebot in Discountern nach Verkaufsfläche und Konzern in Gröpelingen und Vahr Discounter A
Zahl der Gemüsearten
148
50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0
0
200
Discounter B •
400
Discounter C
600
800
Discounter D
Verkaufsfläche in Quadratmetern
1000
1200
Quelle: Eigene Darstellung
Tabelle 11 Relation von Einwohner*innen je gemüse- bzw. obstverkaufendem Geschäft Geschäfte mit Obst/Gemüseangebot
Einwohner*innen*
Einwohner*innen pro Geschäft
Haushalte
Haushalte pro Geschäft
Gröpelingen
23
36.561
1.589,6 (100 %)
18.961
824,4 (100 %)
Vahr
15
26.928
1.795,2 (113 %)
15.295
1.019,7 (124 %)
Gröpelingen
19
36.561
1.924,3 (100 %)
18.961
997,9 (100 %)
Vahr
11
26.928
2.448,0 (127 %)
15.295
1.390,5 (139 %)
Gemüse
Obst
*Anzahl der Privathaushalte am 31.12.2015 (Statistisches Landesamt Bremen 2016). Quelle: Eigene Darstellung
Auf ein Geschäft mit Obst- und Gemüseangebot kommen in Gröpelingen 1.589,6 Einwohner*innen, in der Vahr 1.795,2 Einwohner*innen. Im Vergleich zum Stadtteil Gröpelingen ist die Relation von gemüseverkaufenden Geschäften pro
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
Einwohner*in in der Vahr um 13 % höher. In der Vahr ergeben sich etwa 24 % mehr Haushalte pro Standort als in Gröpelingen. Werden nur die gemüseverkaufenden Geschäfte einbezogen, die mindestens das Discounterminimum von etwa 25 Gemüsesorten verkaufen, verbleiben in Gröpelingen 18 Standorte, in der Vahr 11 Standorte. Geschäfte, die deutlich weniger Sorten (weniger als die Hälfte, also 12,5 Sorten) anbieten, entfallen in dieser Betrachtung. Das Verhältnis von Einwohner*in zu Standort unterscheidet sich bei dieser Perspektive noch stärker zwischen den Stadtteilen. Auf ein Geschäft kommen in der Vahr 21 % mehr Einwohner*innen und 32 % mehr Haushalte als in Gröpelingen (siehe Tabelle 12). Tabelle 12 Relation von Einwohner*innen je Geschäft mit Gemüse-/ Obststandardsortiment Geschäfte mit Gemüse/Obststandardsortiment
Einwohner*innen
Einwohner*innen pro Geschäft
Haushalte
Haushalte pro Geschäft
Gröpelingen
18
36.561
2.031,2 (100 %)
18.961
1.053,4 (100 %)
Vahr
11
26.928
2.448,0 (121 %)
15.295
1.390,5 (132 %)
Gröpelingen
13
36.561
2.812,4 (100 %)
18.961
1.458,5 (100 %)
Vahr
11
26.928
3.846,9 (137 %)
15.295
2.185 (150 %)
Gemüse
Obst
Quelle: Eigene Darstellung
Beim Obstangebot zeigt sich die gleiche Tendenz wie bei der Gemüseauswahl: In Gröpelingen wird Obst in 19, in der Vahr in 11 Geschäften angeboten (siehe Tabelle 11). Auf ein obstverkaufendes Geschäft kommen im Stadtteil Vahr 27 % mehr Einwohner*innen bzw. 39 % mehr Haushalte als in Gröpelingen. Bezieht man nur die Geschäfte ein, die mindestens ein Discounterangebot an Obst vorweisen (ca. 20 Sorten, Geschäfte die weniger als 10 Sorten im Angebot haben, entfallen), reduziert sich die Zahl der Standorte in Gröpelingen auf 13, in der Vahr auf 7 Geschäfte. Wie bei den gemüseverkaufenden Geschäften verstärkt sich bei dieser Betrachtungsweise die Tendenz: Im Stadtteil Vahr kommen auf ein Geschäft mit einem Obstangebot im Discounterstandard rund 37 % mehr Einwohner*innen bzw. 50 % mehr Haushalte als in Gröpelingen (siehe Tabelle 12).
149
150
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Insgesamt ist das Angebot von Obst und Gemüse auf Ebene der Betriebsformen in den beiden Stadtteilen ähnlich. Die drei Verbrauchermärkte in der Vahr schaffen jedoch punktuell ein tieferes und breiteres Angebot. In Gröpelingen sorgt hingegen eine größere Zahl von Geschäften, die das Discounterminimum von Obst- und Gemüsesorten anbieten, für einen besseren Schnitt in Bezug auf die Zahl der Einwohner*innen und Haushalte. Biosortiment In der Vahr ist der Anteil der Geschäfte (Vollsortimenter), die Bioobst und/oder -gemüse im Angebot haben, höher als in Gröpelingen. Dies ist auf die Betriebsform der Lebensmittelmärkte (Vollsortimenter bis 400 m² Verkaufsfläche) zurückzuführen, die nur in Gröpelingen vorgefunden wurde und deren Angebot an Bioobst und -gemüse im Vergleich zu den anderen Betriebsformen gering ist. Nicht nur anteilig, auch absolut sind in der Vahr mehr Geschäftsstandorte vorhanden, die Bioobst und Biogemüse im Angebot haben. Bei der Betrachtung der einzelnen Betriebsformen wird deutlich, dass neben der Betriebsform weitere Faktoren wie die Verkaufsfläche und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kette die Bereithaltung von Bioobst und -gemüse beeinflussen: So ist bei den Discountern die Verfügbarkeit von Bioobst und -gemüse in der Vahr größer: Der Anteil der Geschäfte dieser Betriebsform, die Obst und Gemüse in Bioqualität anbieten, ist in der Vahr höher als in Gröpelingen. Bei den Supermärkten ist das Verhältnis umgekehrt: Der Anteil der Supermärkte, die Bioobst und -gemüse anbieten, ist in Gröpelingen größer als in der Vahr (siehe Tabelle 13 und Tabelle 14). Bei den Verbrauchermärkten zeigt sich kein Unterschied zwischen den Stadtteilen, alle Verbrauchermärkte in Gröpelingen und der Vahr haben alle der als Indikator verwendeten Obst- und Gemüsesorten in Bioqualität im Angebot.
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
Tabelle 13 Verfügbarkeit von Biogemüse Verfügbarkeit von Biogemüse
Gröpelingen
Vahr
Kartoffel
Möhre
Zwiebel
Kartoffel
Möhre
Zwiebel
9 (47 %)
8 (42 %)
6 (32 %)
8 (67 %)
9 (82 %)
8 (67 %)
Discounter
86 %
86 %
29 %
67 %
100 %
67 %
Lebensmittelmärkte
13 %
0 %
13 %
-
-
-
Supermärkte
33 %
33 %
67 %
50 %
0 %
50 %
Verbrauchermärkte
100 %
100 %
100 %
100 %
100 %
100 %
Alle Geschäfte
Quelle: Eigene Darstellung
Tabelle 14 Verfügbarkeit von Bioobst Verfügbarkeit von Bioobst
Gröpelingen
Vahr
Apfel
Banane
Orange
Apfel
Banane
Orange
7 (37 %)
8 (42 %)
5 (26 %)
10 (83 %)
9 (75 %)
8 (67 %)
Discounter
71 %
86 %
43 %
100 %
67 %
83 %
Lebensmittelmärkte
0 %
13 %
0 %
-
-
-
Supermärkte
33 %
67 %
33 %
50 %
50 %
0 %
Verbrauchermärkte
100 %
100 %
100 %
100 %
100 %
100 %
Alle Geschäfte
Quelle: Eigene Darstellung
Gemessen an der Zahl der Geschäftsstandorte, an denen Bioobst und -gemüse erworben werden kann, ist die Versorgung mit dieser Warengruppe in der Vahr als besser einzustufen.
151
152
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Preisstruktur Die Preise von Gemüse und Obst unterscheiden sich in den Untersuchungsgebieten nicht systematisch. Erhoben wurde jeweils der günstigste Preis pro Kilo von drei Obst- und drei Gemüsearten. Während die durchschnittlichen Preise6 für Kartoffeln, Zwiebeln und Orangen in der Vahr höher sind als in Gröpelingen, sind Möhren und Äpfel im Durchschnitt günstiger und Bananen gleich teuer (siehe Tabelle VII-3 und Tabelle VII-4 im Anhang). Auffällig ist die Spannweite zwischen niedrigstem und höchstem Preis, die in Gröpelingen ausgeprägter ist als in der Vahr. Während beispielsweise der günstigste Preis für Zwiebeln in Gröpelingen zwischen 0,39 Euro je Kilogramm und 1,99 Euro je Kilogramm variiert, ist die Varianz zwischen dem günstigsten Preis (0,40 Euro/kg) und dem höchsten Preis (0,99 Euro/kg) der günstigsten Zwiebelsorte in der Vahr nur halb so groß. Für diese große Preisspanne sind hauptsächlich Lebensmittelvollsortimenter mit einer Verkaufsfläche von weniger als 400 Quadratmetern verantwortlich. Während einige Geschäfte dieser Betriebsform, insbesondere türkisch oder arabisch geführte, große Verpackungseinheiten zu sehr günstigen Preisen anbieten, weisen andere Geschäfte der gleichen Betriebsform den höchsten Preis je Kilogramm für die gleiche Obst- oder Gemüsesorte auf.
6.1.4
Zusammenfassung: Physisch-räumliche Bedingungen und Thesen zu Einschränkungen des Lebensmittelzugangs
In diesem Unterkapitel untersuchte ich die physisch-räumlichen Gegebenheiten, vor denen der Lebensmittelzugang in den Untersuchungsgebieten realisiert wird. Zu diesen Gegebenheiten zähle ich die Gestaltung des Verkehrsraums und die Struktur des Lebensmitteleinzelhandels. Der Verkehrsraum der zentralen Verbindungsstraßen unterscheidet sich in den beiden Stadtteilen. Die Entflechtung von verschiedenen Verkehrstypen prägte die Planung der Neuen Vahr. Die vierspurigen Magistralen, die den Stadtteil durchziehen, berücksichtigen vor allem die Anforderungen des motorisierten Individualverkehrs. Die Magistralen trennen die einzelnen Nachbarschaften und bieten kaum Aufenthaltsqualität. Die aufgelockerte Bebauungsstruktur führt zu großen Abständen zwischen Gebäuden, die zumeist ausschließlich Wohnfunktionen erfüllen. Die Hauptstraßen laden in der Vahr anders als in Gröpelingen nicht zum Flanieren ein. Sie erscheinen monofunktional auf Mobilität ausgerichtet. Von der weniger breiten Gröpelinger Heerstraße geht hingegen eine weniger starke Trennwirkung aus. Ihre dichte Bebauung
6
Zum Vergleich der Preise in den Untersuchungsgebieten wurde der Median herangezogen. Dieser teilt die erhobenen Preise pro Stadtteil in zwei gleich große Gruppen und hat im Vergleich zum arithmetischen Mittel den Vorteil, Ausreißer, z.B. einzelne sehr hohe oder sehr niedrige Preise, weniger stark zu gewichten (Kuckartz u.a. 2013, 62f).
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
und multifunktionale Nutzung als Mobilitätsachse, Wohngebiet und Standort diverser Waren- und Dienstleistungsangebote lässt die Hauptverkehrsstraße in Gröpelingen für Fußgänger*innen wesentlich abwechslungsreicher erscheinen. Von der stärkeren Aufenthaltswirkung lässt sich Laufkundschaft erwarten, deren Mangel in der Vahr als Problem für das Überleben kleiner Geschäfte formuliert wird. Aus Sicht der Konsument*innen sind die unterschiedlichen Nutzungen der Hauptverkehrsstraßen sowohl als Barriere als auch als Chance für den Zugang zu Lebensmitteln denkbar. Es ist einerseits möglich, dass menschenleere Straßen Unsicherheit erzeugen und die Monotonie der Anlage Einkaufswege länger erscheinen lassen. Andererseits könnten die belebten, zum Teil wenig großzügigen Gehwege der Gröpelinger Heerstraße Unsicherheitsempfinden wecken. Konfrontationen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen sind wahrscheinlich und ein großräumiges Ausweichen ist durch die multifunktionale Nutzung des Verkehrsraums nicht immer möglich. Die Erschließung der beiden Stadtteile über den ÖPNV erfolgt in beiden Gebieten über die zentrale(n), in West-Ost-Richtung verlaufende(n) Hauptverkehrsachse(n). Sowohl in Gröpelingen als auch in der Vahr sind die Wohngebiete abseits dieser zentralen Straßen kaum an den ÖPNV angebunden. Die vorhandenen ÖPNV-Verbindungen in Nord-Süd-Richtung werden wesentlich seltener bedient oder führen als Einrichtungsverkehr zu langen Fahrzeiten für relativ kurze Wegstrecken. Für Bewohner*innen von Wohngebieten entlang des Bahndamms in Gröpelingen und der Neuen-Vahr-Nord, die die Einkaufsgelegenheiten in der Berliner Freiheit nutzen, stellt der ÖPNV aus diesem Grund keine bequeme Alternative dar. Die bauhistorische Entwicklung und Siedlungsstruktur unterscheidet sich in den beiden Stadtteilen Gröpelingen und der Vahr. Daher wurde in den Untersuchungsgebieten eine jeweils andere Lebensmitteleinzelhandelsstruktur erwartet. Obwohl die ursprünglich in den einzelnen Nachbarschaften verortete Nahversorgungsstruktur in der Vahr nicht mehr gegeben ist, ist der Anteil der Stadtteilbevölkerung, der außerhalb einer fußläufigen Distanz zum nächsten Vollsortimenter wohnt, nur geringfügig höher als in Gröpelingen. In beiden Stadtteilen gibt es Wohngebiete, die bei einer Annäherung einer fußläufigen Nahversorgung über eine 600-Meter-Luftliniendistanz zu Vollsortimentern als nicht nahversorgt eingestuft werden müssen. Dazu gehören in der Vahr große Teile des Ortsteils Gartenstadt Vahr und in Gröpelingen Wohnlagen des Ortsteils Oslebshausen. Es fällt auf, dass die Wohnlagen außerhalb eines Radius von 600 Metern zum nächsten Vollsortimenter in fast allen Fällen zu den Randlagen der Stadtteile gehören, die an Verkehrsinfrastruktur (Schienen, Autobahnen) und Freizeitanlagen (Golfplatz, Kleingärten) grenzen, die als Barriere zum anschließenden Stadtteil wirken und teilweise Umwege erfordern. Betroffen ist in beiden Untersuchungsgebieten mit rund 10 % ein etwa gleich großer Anteil der Bevölkerung. Der Vergleich mit den Durchschnittswerten der neuen GIS-gestützten Untersuchung des Bundesinsti-
153
154
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
tuts für Bau-, Stadt und Raumforschung, nach denen etwa 10 % aller Großstädter*innen weiter als 1.000 Meter vom nächsten Supermarkt oder Discounter entfernt wohnen, verdeutlicht, dass die beiden Stadtteile zu eher gut versorgten großstädtischen Gebieten gehören (Burgdorf, Krischausky und Müller-Kleißler 2015, 9). Die ursprüngliche, in der Vahr angelegte Zentrenhierarchie ist noch erkennbar, auf der Nachbarschaftsebene jedoch stark ausgedünnt. In der Neuen Vahr-Nord und in der Gartenstadt Vahr gibt es nur für sehr wenige Bewohner*innen die Möglichkeit, sich in Wohnungsnähe z.B. mit Backwaren zu versorgen. In Gröpelingen besteht hingegen eine flächigere Verteilung des Lebensmitteleinzelhandels. Durch Solitärstandorte von Vollsortimentern und Bäckereien ist die Versorgungslage auf Nachbarschaftsebene noch stärker ausgeprägt als in der Vahr. In beiden Stadtteilen wird der Lebensmitteleinzelhandel durch Geschäfte diverser Betriebsformen gebildet. Unterschiede bestehen vor allem in einem deutlich höheren Anteil an Geschäften in Gröpelingen, die ausschließlich Süßigkeiten, Snacks und Getränke anbieten (vor allem in der Betriebsform Kiosk). Ihr Wert für die eigentliche Versorgung mit Lebensmitteln ist als gering einzuschätzen, ihre Bedeutung als Treffpunkt und Ort der Vernetzung bleibt jedoch zu untersuchen. Den vielen Kiosken stehen in Gröpelingen im Vergleich zur Vahr mehr Geschäfte gegenüber, die Obst- und Gemüse verkaufen. Stellt man ein Verhältnis zwischen der Zahl der ansässigen Haushalte und den Geschäftsstandorten her, die Gemüse und Obst verkaufen, fällt das Verhältnis in Gröpelingen wesentlich günstiger aus: Auf einen Standort, der mindestens ein Gemüsesortiment in Discounterbreite führt, kommen in der Vahr rund ein Drittel mehr Haushalte als in Gröpelingen. Das Verhältnis von Haushalten und obstverkaufenden Geschäften weicht noch deutlicher voneinander ab: In der Vahr teilen sich rechnerisch 50 % mehr Haushalte ein obstverkaufendes Geschäft als in Gröpelingen. Das in den Stadtteilen verfügbare Gemüse- und Obstsortiment ist im stationären Lebensmitteleinzelhandel ähnlich. Biogemüse und -obst wird jedoch in der Vahr an mehr Standorten angeboten als in Gröpelingen. Im Durchschnitt ist die Sortimentsbreite und -tiefe im konventionellen Obst- und Gemüsebereich in der Vahr etwas höher. Es ist jedoch fraglich, ob sich diese Differenz für die Bewohner*innen bemerkbar macht. Beim Preisniveau konnten keine systematischen Unterschiede festgestellt werden. Der Anteil der Fachgeschäfte ist in der Vahr höher als in Gröpelingen. In beiden Stadtteilen haben deutsche und türkisch-arabische Bäckereien den größten Anteil an den Fachgeschäften. Die weiteren Fachgeschäfte bieten vor allem (haltbare) Lebensmittel für Gerichte aus dem arabischen, asiatischen, afrikanischen oder südund osteuropäischen Raum an. In beiden Stadtteilen sind darüber hinaus vereinzelt Geschäfte mit Fachsortiment aus den Bereichen Süßwaren, Fisch und Feinkost ansässig. Während sich in der Vahr nur eine Metzgerei, aber ein Reformhaus befindet, sind in Gröpelingen zwar drei Metzgereien, jedoch weder ein Reformhaus noch ein Fachgeschäft für Biolebensmittel ansässig. Während der Befragun-
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
gen bemängelten vor allem ältere deutschstämmige Bewohner*innen die Schließungen von Geschäften wie Milchhändler*innen, Fischgeschäften und Geschäften für Geflügelfleisch in den letzten Jahrzehnten. Die neu hinzugekommenen Fachgeschäfte bieten ein anderes Sortiment, das sie entweder nicht zur Kenntnis nehmen oder als Merkmal von Veränderungen in ihren Wohnquartieren wahrnehmen, die sie negativ bewerten. Neben den Standardsortimenten in deutschen Supermarkt, Verbrauchermarkt- und Discounterketten bilden Zutaten für die arabisch-türkische Küche in Gröpelingen einen Schwerpunkt. Diese Sortimente werden nicht nur in kleinen Fachgeschäften, sondern auch von mehreren spezialisierten Vollsortimentern mit deutlich größerer Verkaufsfläche angeboten. Im Gegensatz zur Vahr ist in Gröpelingen auch an mehreren Standorten unverpacktes, halal geschlachtetes Fleisch erhältlich. Produkte mit großer Beliebtheit im süd- und osteuropäischen Raum werden hingegen in der Vahr von einem spezialisierten Supermarkt und mehreren kleinflächigen Fachgeschäften verkauft. In beiden Stadtteilen bewerte ich die Versorgunglage als relativ gut, die Grundversorgung ist gesichert. Diese Einschätzung entspricht der Bewertung der Nahversorgung in den beiden Stadtteilen im Bremer Zentrenkonzept. Die Situation in Gröpelingen wird dort positiv beschrieben. Das vorhandene Angebotsspektrum wird als ausreichend, mit einem leichten Überhang im Discountbereich bezeichnet. Es herrsche eine weitgehend flächendeckende Versorgung bei geringfügig ausbaufähiger Verkaufsflächengröße (SUBVE und SWH 2009, 77). Dieses an der Verkaufsfläche gemessene Wachstumspotenzial bestätigt der Expansionsmanager einer führenden Supermarktkette, die Interesse an einem weiteren Standort in Gröpelingen zeigt. Einschränkend weist er jedoch auf das Baurecht hin, das Geschäfte einer Verkaufsfläche von über 800 Quadratmetern unter einen Genehmigungsvorbehalt stellt. Moderne Märkte der Kette bieten Verkaufsflächen von 1.500 bis 2.000 Quadratmetern. In Gröpelingen rechnet er nicht damit, Genehmigungen für weitere Märkte zu erhalten (Herr Eich, Expansionsmanagement Supermarkt B, 11). Die Nahversorgung im Stadtteil Vahr wird im Kommunalen Zentren- und Einzelhandelskonzept sowohl quantitativ in Bezug auf die Verkaufsfläche pro Einwohner*in sowie qualitativ in Bezug auf die vorhandenen Betriebsformen und ihre Sortimente positiv beschrieben. In Übereinstimmung mit meiner Schätzung der nicht nahversorgten Bewohner*innen im Stadtteil konstatiert das Konzept eine weitgehend flächendeckende Grundversorgung mit Lebensmitteln (SUBVE und SWH 2009, 71). Was herkömmliche Supermärkte und Discounter angeht, stimmt auch das Centermanagement der Berliner Freiheit dieser Einschätzung zu: Die Standortverteilung und -größe entspreche der Nachfrage. In diesem Bereich erwartet er daher mittelfristig keine größeren Veränderungen. Das Segment der ethnischen Lebensmittel sieht er hingegen als ausbaufähig und nicht entsprechend der Nachfrage an (Herr Kahlen, Centermanagement Berliner Freiheit, 17).
155
156
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Auch wenn die Bewohner*innen den Stadtteil zur Versorgung mit bestimmten Produkten (in der Vahr etwa frisches Halal-Fleisch, in Gröpelingen z.B. Reformwaren) verlassen müssen, bedienen die Lebensmittelsortimente in den Stadtteilen verschiedene Landesküchen und entsprechen mit ihren Schwerpunkten den Hintergründen der Bewohner*innen. Es werden daher keine gravierenden, auf dem Sortiment beruhenden Einschränkungen des Zugangs zu Lebensmitteln erwartet.
6.2
Praktiken des Zugangs zu Lebensmitteln
Möglichen Barrieren für den Zugang zu Lebensmitteln nähere ich mich in diesem Abschnitt über die Einkaufspraktiken, die Bewohner*innen der Untersuchungsgebiete entwickeln. Dazu gehören die in der Literatur geläufigen Aspekte der Einkaufsstättenwahl (Kapitel 6.2.1), der Dauer von Einkaufswegen (Kapitel 6.2.2) und der Verkehrsmittelwahl (Kapitel 6.2.3).
6.2.1
Wahl von Geschäften
Der Einkauf im Lebensmittelgeschäft ist unter den Befragten die wichtigste Art der Versorgung. Knapp 29 % Befragungsteilnehmer*innen nutzen zur Versorgung auch Lebensmitteltafeln, 27,4 % geben an, alternative Versorgungsquellen wie Lebensmittelgeschenke, Essenseinladungen, Eigenanbau von Obst und Gemüse, (soziale) Mittagstische oder andere Lebensmittelquellen zu haben. Diese Werte sind maßgeblich dadurch beeinflusst, dass Tafelausgabestellen als auch Lokalitäten, die Mittagstische anbieten, Befragungsorte waren. Sie werden daher nicht weiter statistisch ausgewertet. Insbesondere für alternative Zugänge abseits von Lebensmitteltafeln ist außerdem nicht eindeutig, ob stets Geldmangel der Grund für die Nutzung dieser Alternativen ist. Auch ihr Beitrag zur gesamten Versorgung bleibt unklar. Die Nutzung alternativer Lebensmittelquellen kann daher nicht pauschal als Hinweis auf finanzielle Restriktionen gewertet werden. Die große Mehrheit der Befragten (rund 94 %) greift bei der Versorgung mit Lebensmitteln vor allem auf das Angebot im Wohnstadtteil zurück und erwirbt alle oder die meisten der benötigten Produkte dort. Rund 63 % suchen regelmäßig drei oder vier unterschiedliche Geschäfte für ihre Einkäufe auf (siehe Abbildung 34). Die Einordnung der genannten Geschäfte in die Betriebsformenstruktur (vgl. Kapitel 6.1.3) ist nicht ganz einfach. Da nicht ersichtlich ist, ob z.B. mit der Nennung »Rewe« ein Super- oder ein Verbrauchermarkt bezeichnet wird, werden diese beiden Kategorien zusammengefasst. Auch bei der Angabe »türkisches Geschäft« ist nicht eindeutig, ob es sich um einen Lebensmittelmarkt mit Vollsortiment, aber weniger als 400 Quadratmetern Verkaufsfläche, einen Supermarkt mit ei-
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
Abbildung 34 Zahl aufgesuchter Geschäfte (N=124)
8% 4%
7%
1 Geschäft 2 Geschäfte
18% 28%
3 Geschäfte 4 Geschäfte 5 Geschäfte 6 oder mehr Geschäfte
35%
Quelle: Eigene Darstellung
ner größeren Verkaufsfläche oder ein kleinflächiges Geschäft mit Spezialsortiment handelt, was in der Betriebsformenstruktur als Fachgeschäft eingeordnet werden müsste. Die Kategorien in Tabelle 15 weichen dementsprechend von der Kategorisierung der Geschäfte in Kapitel 6.1.3.1 ab: Unter Fachgeschäften wurden Nennungen von Bäckereien und Metzgereien mit deutschem, türkischem, arabischen oder süd-/osteuropäischen Sortiment, sowie von Bioläden und Reformhäusern gezählt. Unter »ethnische Geschäfte« fallen Fachgeschäfte, Lebensmittelmärkte und Supermärkte mit spezialisiertem Angebot für die türkische, arabische, süd-/osteuropäische oder afrikanische Küche. Die Kategorie »sonstige« umfasst beispielsweise Tiefkühllieferdienste, Großmärkte und Drogerien. Tabelle 15 Geschäftswahlen nach Betriebsformen (N=124) Betriebsform
Zahl der Nennungen
Prozent der Fälle
Discounter
122 (38,5 %)
98,4 %
Super- und Verbrauchermarkt
72 (22,7 %)
58,1 %
Fachgeschäfte
46 (14,5 %)
37,1 %
Ethnische Geschäfte
34 (10,7 %)
27,4 %
Wochenmarkt
33 (10,4 %)
26,6 %
Sonstige
10 (3,1 %)
8,0 %
Quelle: Eigene Darstellung. Jede Betriebsform wurde je Fall nur einfach gezählt.
157
158
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Lesebeispiel: 38,5 % der 317 genannten Geschäfte gehören zur Gruppe der Discounter. 98,4 % der Befragten suchen (auch) regelmäßig ein Geschäft auf, das zur Gruppe der Discounter gehört. Die mit Abstand am meisten genutzte Betriebsform ist der Discounter, der von 98,4 % der Befragten als genutzte Einkaufsstätte angegeben wird. Fachgeschäfte und ethnische Lebensmittelgeschäfte spielen genau wie der Einkauf auf dem Wochenmarkt eine untergeordnete Rolle. Zwischen den Befragten in Gröpelingen und der Vahr gibt es bis auf die Wochenmarktnutzung keine großen Unterschiede bei der Auswahl regelmäßig aufgesuchter Betriebsformen (siehe Tabelle 16). Neben einem Einfluss des Befragungsortes (Befragungen wurden u.a. an Markttagen in der Berliner Freiheit durchgeführt), könnte bei diesem Zusammenhang auch ein Angebotsfaktor zum Tragen zu kommen: In der Vahr finden zwei Wochenmärkte statt. Der Markt in der Berliner Freiheit gehört zu den größten Wochenmärkten in Bremen und bietet mit über 50 Anbieter*innen ein wesentlich größeres und attraktiveres Sortiment als die Gröpelinger Wochenmärkte am Pastorenweg und an der Oslebshauser Heerstraße, auf denen nur rund 20, bzw. 15 Händler*innen ihre Produkte anbieten (Großmarkt Bremen 2019). Tabelle 16 Geschäftswahlen nach Betriebsformen nach Gebiet (N=124) Gröpelingen
Vahr
Discounter
Betriebsform
98,3 %
98,5 %
Super- und Verbrauchermarkt
51,7 %
63,6 %
Fachgeschäft
38 %
36,4 %
Ethnisches Geschäft
29,3 %
25,8 %
Wochenmarkt
6,9 %
43,9 %
Sonstige
5,1 %
10,6 %
Quelle: Eigene Darstellung
6.2.2
Dauer der Einkaufswege
Die Befragten beschreiben insgesamt 463 Geschäftsgänge. Für 445 von ihnen werden Wegezeiten angegeben. Rund die Hälfte dieser Wege werden in weniger als 10 Minuten zurück gelegt (siehe Abbildung 35). Im Durchschnitt dauern die Wege rund 11 Minuten. 311 dieser Wege beziehen sich auf Geschäftsbesuche, die mindestens einmal in der Woche stattfinden. Die durchschnittliche Dauer dieser häufigen Einkaufswege unterscheidet sich nicht von der durchschnittlichen Dauer aller Einkaufswege und
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
Abbildung 35 Dauer der Einkaufswege (N=445)
0% 5%
5%
14% < 5 Minuten 5–10 Minuten 10–20 Minuten
40%
20–30 Minuten 36%
> 30 Minuten > 60 Minuten
Quelle: Eigene Darstellung
liegt ebenfalls bei rund 11 Minuten. Rund 60 % der Befragten nehmen mindestens einmal in der Woche einen Einkaufsweg auf sich, der länger als 10 Minuten dauert.
6.2.3
Wahl der Verkehrsmittel
Von den 463 berichteten Einkaufswegen werden rund 52 % zu Fuß zurückgelegt und rund 18 % mit dem Rad. Das Auto wird nur für rund 15 % der Wege genutzt. Nur jeweils rund ein Viertel der Befragten greift für die Bewältigung von Einkaufswegen auch auf das eigene Auto oder den ÖPNV zurück (siehe Abbildung 36). Die eigenen Beine sind mit Abstand das wichtigste Fortbewegungsmittel: Drei Viertel geben an, Einkaufswege (auch) zu Fuß zurückzulegen. Das Fahrrad wird von rund 20 % der Befragten als Verkehrsmittel für Einkaufswege benannt. Nur eine Minderheit nutzt Mitfahrgelegenheiten.
6.2.4
Zusammenfassung und Bezug auf die Literatur
Dieses Unterkapitel behandelte Praktiken der Lebensmittelversorgung, die aus den Untersuchungsgebieten berichtet wurden. Für fast alle befragten Bewohner*innen ist der Wohnstadtteil der wichtigste Ort, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen.
159
160
Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 36 Verkehrsmittelwahlen für Einkaufswege (N= 124 ) 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
Quelle: Eigene Darstellung
Der Discounter ist die Betriebsform, die von nahezu allen Befragten (98 %) regelmäßig aufgesucht wird. Rund 60 % nutzen auch Super- und Verbrauchermärkte. Dass die Betriebsformen Discounter und Super- bzw. Verbrauchermarkt als wichtigste Betriebsformen für die Versorgung mit Lebensmitteln genannt werden, entspricht den Ergebnissen anderer Studien zum Einkaufs- und Ernährungsverhalten (BBE 2009, 78; Mensing und Brunner 2009, 8; Max-Rubner-Institut 2008b, 117f). Die im Vergleich zu diesen Studien noch stärker verbreitete Nutzung von Discountern spiegelt die theoretisch geleitete Sampleziehung wider, die benachteiligte Gruppen besonders in den Fokus stellt. Sie steht im Einklang mit den Ergebnissen einer nach sozioökonomischen Kriterien differenzierten Auswertung der NVS II: Die Betriebsform des Discounters hat demnach für Haushalte mit geringem Einkommen eine größere Bedeutung als für wohlhabendere (Yildiz 2014, 129). Lebensmittelfachgeschäfte wie Bäckereien und Metzgereien werden nur von rund 37 % der Befragten genutzt. Dieser Anteil weicht deutlich von Studien ab, deren Sample repräsentativ gewählt wurde: So gaben in der NVS II rund 75 % und in der Studie Nielsen Shopper Trends Deutschland 2013/2014 61 %7 der Befragten an, in Fachgeschäften einzukaufen (Max-Rubner-Institut 2008b, 117; The Nielsen Company (Germany) GmbH 2014, 46). In meiner Studie werden rund 52 % der Einkaufswege zu Fuß, rund 18 % mit dem Rad, etwa 15 % mit dem Auto und 13 % mit dem ÖPNV zurückgelegt. Der Anteil der zu Fuß, mit dem Rad und dem ÖPNV zurückgelegten Wege ist höher, der Anteil 7
Als Fachgeschäfte wurden hier nur Bäckereien erfasst.
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
der mit dem Auto zurückgelegten Wege ist hingegen niedriger als in Studien, deren Fokus nicht auf benachteiligten Bevölkerungsgruppen lag: Die Panelstudie Mobilität in Deutschland 2008 kam in Großstädten mit einer Einwohner*innenzahl von über 500.000 auf einen Anteil von 41 % für zu Fuß zurückgelegte Einkaufswege, 11 % mit dem Rad, 8 % als Mitfahrer*in, 29 % mit dem eigenen Auto und 8 % mit dem ÖPNV (BMVBS 2011a, 11). Erklärende Faktoren könnten die niedrigere Autoverfügbarkeit in benachteiligten Bevölkerungsgruppe sein (Preisendörfer 2001, 739ff), aber auch die relativ gute Nahversorgungssituation in den Untersuchungsgebieten (siehe unten). Drei Viertel der Befragten gibt an, mindestens einen der regelmäßigen Einkaufswege zu Fuß zurückzulegen. Das Rad verwenden rund 20 %. Ein eigenes Auto wird hingegen nur von knapp einem Viertel der Befragten genutzt. Der Anteil an Fußgänger*innen ist wesentlich höher als in Untersuchungen, die sich zwar ebenfalls auf Großstädte beziehen, deren Sample jedoch nicht auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen zugeschnitten war (BBE 2009, 79). Es ist allerdings davon auszugehen, dass der geringere Anteil von Fußgänger*innen und der höhere Anteil von Personen, die mit dem Auto zum Einkaufen fahren, sich in der BBE-Studie auch dadurch ergibt, dass sie auch Bewohner*innen aus schlechter versorgten Wohnbereichen von Großstädten umfasst. Von der Ausstattung mit Lebensmittelgeschäften im Wohnumfeld werden in der Literatur robuste räumliche Effekte auf die Wahl des Verkehrsmittels festgehalten (BMVBS 2011b, 30; vgl. auch Bauer, Liepe und Scheiner 2010, 17ff). Die BBE-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass ein Einkaufsweg in einer Großstadt mit mehr als 500.000 Einwohner*innen im Durchschnitt 10 Minuten dauert (BBE 2009, 78ff). Die Einkaufswege, die ich in meiner Untersuchung erhoben habe, dauern im Durchschnitt rund 11 Minuten und sind damit geringfügig länger. Von den Befragten legen 60 % mindestens einen Einkaufsweg pro Woche zurück, der länger als 10 Minuten dauert. Für 40 % der Befragten dauert also kein Einkaufsweg länger als 10 Minuten. Ein direkter Vergleich mit den in anderen Studien erhobenen Distanzen ist nicht möglich. Wenn jedoch, wie es in der Planungsliteratur verbreitet ist, davon ausgegangen wird, dass eine Distanz von 500 Metern in 10 Minuten zu Fuß zurückgelegt wird, kommt der von mir erhobene Anteil von 40 % der Befragten, die keine Einkaufswege von mehr als 10 Minuten zurücklegen, dem Ergebnis des CIMA-Monitors 2009 sehr nahe, nach dem 45 % der Großstädter*innen in weniger als 500 Metern Entfernung vom Wohnort einkaufen (Mensing und Brunner 2009, 7). Von den untersuchten Einkaufspraktiken deutet mindestens die Einkaufsstättenwahl auf Unterschiede zwischen den fokussierten und wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen hin. Auch bei der Verkehrsmittelwahl ist anzunehmen, dass sie neben der relativ guten räumlichen Ausstattung eine geringe Autoverfügbarkeit widerspiegelt. Die durchschnittliche Dauer der Einkaufswege unterscheidet sich hingegen nur geringfügig von den Vergleichsstudien.
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
6.3
Einschränkungen des Zugangs zu Lebensmitteln
Das folgende Kapitel widmet sich Einschränkungen, die sich aus Einkaufspraktiken und der Bewertung der Situation durch die Bewohner*innen von Gröpelingen und der Vahr ableiten lassen. Zunächst werden Einschränkungen betrachtet, die in Bezug auf den Einkaufsweg festgestellt werden können (Kapitel 6.3.1), danach solche, die mit der Nutzung des lokalen Lebensmittelsortimentes in Zusammenhang stehen (Kapitel 6.3.2). In Kreuztabellen werden diese Einschränkungen auf Zusammenhänge zu Aspekten von Klasse, race, Geschlecht und Körper überprüft. Zusammenhänge, die sich aus der Kreuztabellenanalyse ergeben, werden anschließend in Partialtabellen auf die Wirkung von Drittvariablen untersucht. Die Analyseergebnisse zu den immateriellen Voraussetzungen für den Zugang zu Lebensmitteln in prekären finanziellen Lagen (Kapitel 6.3.3) bilden den Abschluss des Kapitels.
6.3.1
Einschränkungen im Bereich der Einkaufswege
Bezogen auf die Einkaufswege können Einschränkungen an verschiedenen Punkten ansetzen. Eine Rolle spielen nicht nur die Dauer der Einkaufswege, sondern auch Barrieren wie schwer zu überquerende Straßen und Gleise, die diese Wege erschweren oder den Besuch bestimmter Geschäfte verhindern. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stehen in dieser Arbeit vier Variablen zur Verfügung (siehe Tabelle 17). Diese werden in dichotomer Form betrachtet: Die jeweils zweite Merkmalsausprägung weist auf Einschränkungen in dieser Dimension des physisch-räumlichen Zugangs zu Lebensmitteln hin. Tabelle 17 Variablen zu Einschränkungen der physisch-räumlichen Erreichbarkeit von Lebensmitteln Nein (keine Einschränkung)
Ja (Einschränkung)
Dauert der Einkaufsweg zu häufig aufgesuchten Geschäften länger als 10 Minuten?
51,6 %
48,4 %
Gibt es Hindernisse auf getätigten Einkaufswegen?
71,6 %
28,4 %
Werden Besuche von bestimmten Geschäften durch Hindernisse verhindert?
76,9 %
23,1 %
Ist der Einkaufsweg mäßig bis sehr anstrengend?
74,2 %
25,8 %
Quelle: Eigene Darstellung
6 Multidimensionale Analyse des Lebensmittelzugangs
Zudem bat ich die Expert*innen in den Interviews darum, die Erreichbarkeit von Lebensmitteln in den Stadtteilen einzuschätzen sowie die vorhandenen Sortimente und Lebensmittelqualitäten in Hinsicht auf die Gruppen der Bewohner*innen zu bewerten, zu denen sie Kontakt haben. Die Datenverteilung in Tabelle 17 macht deutlich, dass Bewohner*innen der Vahr und von Gröpelingen Einschränkungen physisch-räumlicher Art beim Zugang zu Lebensmittel erleben. Dies bestätigen ebenfalls die Expert*innen. Wer von welchen Einschränkungen betroffen ist und wie die Expert*innen diese Hindernisse erklären, wird nun im Einzelnen dargestellt. Eine vollständige Zusammenstellung aller geprüften Zusammenhänge findet sich in Tabelle XIII-1 im Anhang. In dieser Kreuztabelle werden auch die Merkmalsverteilungen festgehalten, aus denen sich keine statistisch signifikanten Zusammenhänge ableiten lassen und die aus diesem Grund in den folgenden Kapiteln nicht vertieft werden.
Dauer der Einkaufswege In der Einzelhandelsplanung gilt ein Fußweg von höchstens 10 Minuten oder eine Wegstrecke von maximal 500 bis 600 Metern als Indikator dafür, dass ein urbanes Gebiet als fußläufig nahversorgt gilt. Gemessen wird zumeist über Luftliniendistanzen (vgl. Kapitel 2.3.3). Die befragten Bewohner*innen von Gröpelingen und der Vahr schildern insgesamt 311 Einkaufsgänge, die mindestens einmal in der Woche getätigt werden. Rund 42 % dieser Einkaufswege dauern länger als 10 Minuten (siehe Abbildung 37).8 Werden nur die zu Fuß zurückgelegten Wege berücksichtigt, steigt der Anteil der Wege, die zu regelmäßigen aufgesuchten Geschäften zurückgelegt werden und länger als 10 Minuten dauern, auf 52,9 %. 122 von 125 Befragten geben an, häufig (mindestens einmal wöchentlich) einzukaufen. Gut 50 % der Befragten legt dabei Wege zurück, die im Schnitt länger als 10 Minuten dauern. 71 dieser 122 Einkäufer*innen legen mindestens einen dieser Wege zu Fuß zurück. Gut 44 % von ihnen benötigt für diese Fußwege im Schnitt länger als 10 Minuten (siehe Tabelle 18). Es kann ausgeschlossen werden, dass die Hälfte der Befragten in den von den Quartiersmanager*innen genannten, von Einkaufsgelegenheiten weit entfernt liegenden Stadtgebieten wohnt. Zudem war die Nähe unter den Befragten das am häufigsten genannte Kriterium zur Geschäftswahl. Daher wird anhand dieser Ergebnisse deutlich, dass der nicht nur in Bremen gültige planerische Indikator von 600 Metern Luftlinie nur bedingt aussagekräftig ist, um den Zustand der Nahversorgung zu beschreiben. Er orientiert sich nicht realistisch an der durch Kinder, Laufbeeinträchtigungen oder schwere Einkaufstaschen geprägten Mobilität der Stadtteilbevölkerung und den differenzierten Bedürfnissen, die sich ggfs. nicht im nächstgelegenen Geschäft befriedigen lassen. 8
Um Ausreißer nicht übermäßig zu gewichten, wurde zur Berechnung des Durchschnitts der Median verwendet.
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Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit
Abbildung 37 Durchschnittliche Wegedauer zu häufig aufgesuchten Geschäften (N=311) < 10 Minuten
> 10 Minuten
42% 58%
Quelle: Eigene Darstellung
Tabelle 18 Durchschnittliche Wegedauer zu häufig aufgesuchten Geschäften Alle Verkehrsmittel N=122
zu Fuß zurückgelegte Wege N=71
10 Minuten
48,4 %
43,7 %
Quelle: Eigene Darstellung
In der Kreuztabellenanalyse wurden Zusammenhänge zwischen der Dauer des Einkaufsweges und verschiedenen sozioökonomischen Merkmalen geprüft. Die Mobilitätsfähigkeit (Phi 0,185*)9 , die Kochtradition10 (Phi 0,237*) sowie die Sozialisation hauptsächlich in oder außerhalb Deutschlands (Phi −0,254**) weisen in
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Die Signifikanzen der Zusammenhänge (Grundlage: Chi-Quadrat-Test) werden wie folgt gekennzeichnet: *** höchst signifikant (p