Körper und Soziale Ungleichheit : Eine ethnographische Studie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit [1. Aufl.] 9783658311995, 9783658312008

Körper spielen in sozialpädagogisch geführten Debatten um soziale Ungleichheits- und Ausschließungsverhältnisse eine wei

258 56 6MB

German Pages XI, 504 [509] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Einleitung (Anna Bea Burghard)....Pages 1-5
Körper theoretisch (Anna Bea Burghard)....Pages 7-94
Soziale Ungleichheit und Körper (Anna Bea Burghard)....Pages 95-146
Körper und soziale Praktiken (Anna Bea Burghard)....Pages 147-174
Jugend und Körper (Anna Bea Burghard)....Pages 175-244
Die Offene Kinder- und Jugendarbeit (Anna Bea Burghard)....Pages 245-263
Vertiefendes Zwischenresümee Theorie und Diskussion (Anna Bea Burghard)....Pages 265-270
Körper empirisch (Anna Bea Burghard)....Pages 271-301
Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse (Anna Bea Burghard)....Pages 303-433
Körper und Soziale Ungleichheit – Diskussion (Anna Bea Burghard)....Pages 435-445
Körper und Soziale Ungleichheit – ein vorläufiges Fazit (Anna Bea Burghard)....Pages 447-455
Back Matter ....Pages 457-504
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Körper und Soziale Ungleichheit : Eine ethnographische Studie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit [1. Aufl.]
 9783658311995, 9783658312008

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Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion

Anna Bea Burghard

Körper und Soziale Ungleichheit Eine ethnographische Studie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit

Soziale Arbeit als ­Wohlfahrtsproduktion Band 19 Reihe herausgegeben von Karin Böllert, Münster, Deutschland

Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion ist der Name und das Arbeitsprogramm einer Forschungsgruppe, die sich vor einiger Zeit im Arbeitsbereich Sozialpäda­ gogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gegründet hat. Thema­ tisch lässt sich das Programm der Forschungsgruppe wie folgt skizzieren. Mit Blick auf die öffentlich verantwortete Wohlfahrtsproduktion werden analy­ tisch personenunabhängige und personenbezogene Formen unterschieden. Wäh­ rend sich personenunabhängige Formen der Wohlfahrtsproduktion vor allem auf die Organisation des Sozialen richten – und damit auf kollektive Risiken und Bedarfe –, ist das Wohlergehen einzelner AdressatInnen – bzw. individuelle Risiken, Bedarfe und Bedürfnisse – ein wesentlicher normativer Fluchtpunkt der personenbezogenen Wohlfahrtsproduktion. Die Prozesse einer Sozialen Arbeit als Wohlfahrtsproduktion werden als spannungsreiche Figuration der Interessen, Vorstellungen, Orientierungen und Potentiale der AdressatInnen, der Institutio­ nen und der Profession erforscht. In ihrer Gesamtheit geht es den Arbeiten der Forschungsgruppe damit um eine systematische Analyse der durch die institutio­ nellen Regulierungen eröffneten (oder verschlossenen) Lebenschancen, durch die von Professionellen und AdressatInnen je realisierten (Ko-)Produktionen und per­ sonenbezogenen Wohlfahrt sowie deren kulturell, sozial, ökonomisch und poli­ tisch strukturierten Bedingungsmöglichkeiten.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12192

Anna Bea Burghard

Körper und Soziale Ungleichheit Eine ethnographische Studie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit

Anna Bea Burghard Münster, Deutschland Dissertation Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 2019

ISSN 2512-1502  (electronic) ISSN 2512-1480 Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion ISBN 978-3-658-31200-8  (eBook) ISBN 978-3-658-31199-5 https://doi.org/10.1007/978­3­658­31200­8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d­nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagung Die Entstehung dieser Studie und mein bisheriger Weg als (Erziehungs-) Wissenschaftlerin wurde über einen längeren Zeitraum von unterschiedlichen Menschen begleitet, bei denen ich mich an dieser Stelle bedanken möchte: Ganz herzlich bedanke ich mich bei Prof. ‘in Dr. Karin Böllert für die gemeinsame Zeit als Doktorandin und Doktormutter. Karin Böllert hat mir den Weg begehbar gemacht und es mir ermöglicht, dass ich diesen als Mitarbeiterin des Arbeitsbereichs Sozialpädagogik beschreiten konnte. Vielen Dank für deine Begleitung, die inspirierenden Kolloquien und dass du in den Jahren immer an mich geglaubt hast. Prof. Dr. Heinz-Günter Micheel – dem ethnographisch nicht affinen und eher skeptischen Gutachter – danke ich für seine vielfältigen Unterstützungen, für seine Nachsicht und Güte. Prof. ‘in Dr. Catrin Heite gilt mein Dank dafür, dass sie für mich den Weg als Wissenschaftlerin denkbar gemacht und mich auf verschiedene Weisen ermutigt und unterstützt hat. Prof.‘ in Dr. Alexandra Klein danke ich für die wertvollen Kommentare kurz vor der Abgabe. Danke an Dr. Corinna Schwamborn für das geduldige Lesen meiner ersten Versuche, für die konstruktive und pragmatische Begleitung kurz vor der Abgabe, aber auch für die Unterstützungen unterschiedlichster Art. Mein Dank gilt auch dem gesamten Arbeitsbereich Sozialpädagogik des Instituts für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und dem Forschungskolloquium ,Soziale Arbeit als Wohlfahrtserbringung‘, das meinen Überlegungen, Suchbewegungen und Ausführungen zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten meiner Auseinandersetzungen sehr geduldig zugehört, sich reingedacht hat und mir mit wertvollen Kommentierungen geholfen hat. Danke an Daniel für die Hilfe bei der Formatierung sowie an Patrik und Eva für die Mitarbeit. Nebst den wissenschaftlichen Begleiter*innen möchte ich mich bei den Personen aus dem ,Feld‘ bedanken, dass ich mich dort einleben durfte und für die Offenheit, die mir entgegengebracht wurde. Ich danke von ganzem Herzen meiner Familie, meinen Eltern, meiner Schwester und ihrem Liebsten dafür, dass Ihr mir diesen Weg ermöglicht habt. Danke für den bedingungslosen und verständnisvollen Rückhalt und die vielen Hilfen, die Ihr mir als Tochter, Schwester, Wissenschaftlerin und Mutter gegeben habt. Insbesondere in der Abgabephase, in der ihr mir Schreibzeit ermöglicht und meine Launen ausgehalten habt. Ich bin Euch unendlich dankbar dafür. Auch für eure Anreisen für Tagungen und Kolloquien. Meiner ,neuen‘ Familie danke ich ebenso für die Unterstützung und das Verständnis, das Ihr mir entgegengebracht habt. Für die Unterstützung und Begleitung in der überwiegenden Zeit des Denkens und Schreibens, der Höhen und Tiefen, danke ich ganz besonders meinem ,Verliebten‘. Danke dafür! Was für ein Geschenk, dass in der Zeit der Promotion Theo und ein neues kleines Leben in unser Leben getreten sind. Münster im Frühjahr 2020, Anna Bea Burghard

Inhaltsverzeichnis Einleitung ....................................................................................................... 1 1

Körper theoretisch .................................................................................. 7 1.1 1.1.1

Körper als Produkt und Produzent von Gesellschaft .......................... 10

1.1.2

Der Körper als Produkt von Gesellschaft .............................................. 12

1.1.3

Der Körper als Produzent von Gesellschaft .......................................... 17

1.1.4

Verkörperung sozialer Ordnungen .......................................................... 18

1.2

Eine ,verkörperte Theorie des Sozialen‘ ...................................................... 21

1.2.1

Der Habitus als das ,Körper gewordene Soziale‘ .................................. 24

1.2.2

Verkörperung von Herrschaftsverhältnissen ......................................... 35

1.3

,Normalisierte Körper‘ .................................................................................... 50

1.3.1

Wissen, Macht und Körper ....................................................................... 52

1.3.2

,Regierung der Körper‘ und ,Technologien des Selbst‘........................ 64

1.4

2

,Body turn‘? Der Körper als Gegenstand der Soziologie ........................... 8

Die ,Macht der Geschlechternormen‘ .......................................................... 71

1.4.1

Der Geschlechterkörper ............................................................................ 75

1.4.2

Eine ,performative Theorie des Sozialen‘ ............................................... 77

1.5

Körper & Leib .................................................................................................. 87

1.6

Resümee & Diskussion körpertheoretischer Perspektiven ...................... 91

Soziale Ungleichheit und Körper .......................................................... 95 2.1

Soziale Ungleichheit ........................................................................................ 97

2.1.1

Sozialpädagogische Perspektiven ............................................................. 98

2.1.2

Soziale Ungleichheit und Körper ........................................................... 101

2.2

Über die Komplexität von Verhältnissen sozialer Ungleichheit ........... 108

2.3

Verkörperung ist immer mehr ..................................................................... 124

2.4

Klassifikationen und Positionierungen ...................................................... 128

VIII

Inhaltsverzeichnis 2.4.1

,Die Macht der Unterscheidungen‘ ........................................................ 135

2.4.2

Klassifizierungen im Kontext von Ein- und Ausschließung............. 141

2.5 3

4

Körper und soziale Praktiken............................................................... 147 3.1

Praxistheoretische Grundannahmen .......................................................... 148

3.2

Ein performativ-mimetisches Modell der Einverleibung ....................... 156

3.3

Zur Performativität sozialer Praktiken ....................................................... 164

3.4

Soziale Praktiken, Soziale Ungleichheit und Körper ............................... 170

3.5

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion ........................................ 171

Jugend und Körper .............................................................................. 175 4.1

Zum Phänomen der Jugend ......................................................................... 180

4.2

Jugendtheoretische Ansätze ......................................................................... 191

4.3

Themen der Jugend ....................................................................................... 204

4.4

Herausforderungen der Jugend ................................................................... 211

4.5

Positionierung und Zugehörigkeit – Herausforderung der Jugend ...... 213

4.6

Jugend und Körper ........................................................................................ 216

4.6.1

Bedeutung(en) des Körpers in der Lebensphase Jugend ................... 216

4.6.2

Körper, Jugend und Geschlecht............................................................. 217

4.6.3

Inszenierungen des Körpers in der Lebensphase Jugend .................. 221

4.6.4

Körper, Jugend und die Gestaltung von Übergängen ........................ 226

4.7

Körper (von Jugendlichen) als Produkt und Produzent ......................... 228

4.7.1

,Verkörperungen‘ in der Lebensphase Jugend ..................................... 230

4.7.2

Soziale (Körper-) Praktiken von Jugendlichen .................................... 231

4.7.3

Zugehörigkeit und Positionierung in der Lebensphase Jugend ........ 239

4.8 5

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion ........................................ 144

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion ........................................ 243

Die Offene Kinder- und Jugendarbeit..................................................245 5.1

Die Kinder- und Jugendhilfe ....................................................................... 245

Inhaltsverzeichnis 5.2

IX

Offene Kinder- und Jugendarbeit ............................................................... 248

5.2.1

Institutionelle Charakteristika und Arbeitsprinzipien......................... 251

5.2.2

Theoretische Konzepte der Kinder- und Jugendarbeit...................... 253

5.3

Körper & Soziale Ungleichheit – (k)eine Frage der OKJA?! ................. 259

5.4

Der Körper als Leerstelle in Theorie und Empirie der OKJA .............. 260

5.5

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion ........................................ 262

6

Vertiefendes Zwischenresümee Theorie und Diskussion ...................265

7

Körper empirisch ................................................................................. 271

8

7.1

Forschungsgegenstand und Forschungsmethode .................................... 272

7.2

Körper Forschen?! Method (-olog) ische Herausforderungen .............. 277

7.3

Körper Forschen – Ethnographie als Methode und Methodologie ..... 278

7.4

Ethnographie als Erkenntnisstil des Entdeckens ..................................... 282

7.4.1

Körper (teilnehmend) beobachten ........................................................ 290

7.4.2

Der ethnographische Forschungsprozess ............................................ 292

7.4.3

Datenkorpus .............................................................................................. 295

7.5

Auswertung – Grounded Theory als Methode und Methodologie ...... 295

7.6

Vom Text zur Theorie .................................................................................. 297

7.7

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion ........................................ 300

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse ................................303 8.1

Der Offene Kinder- und Jugendtreff ......................................................... 310

8.2

Räume und Akteur*innen............................................................................. 314

8.2.1

(An)Ordnungen – Strukturierungen des Raumes ............................... 320

8.2.2

(An)Ordnungen – Gruppen und Akteur*innen .................................. 332

8.2.3

,Stammgäste‘ – ,Vorzeigejugendliche‘ ................................................... 334

8.2.4

„…Ja, und die hier – die sind wieder ganz anders“ ............................ 337

8.2.5

,Assis‘ – ,die einzig Korrekten hier‘ ....................................................... 337

8.2.6

Bereiche und Hierarchien ........................................................................ 338

X

Inhaltsverzeichnis 8.3

(Un) Sicherheit und Gefährdung................................................................. 339

8.3.1

Der Jugendtreff als ,Zone der Unsicherheit‘ ........................................ 339

8.3.2

Gefährdung ................................................................................................ 341

8.4

Die Körperperspektive ................................................................................. 344

8.5

BeDeuten......................................................................................................... 345

8.5.1

BeDeuten und Klassifizieren .................................................................. 347

8.5.2

BeDeuten als Wahr-sprechen ................................................................. 353

8.5.3

BeDeuten als (signifizierende) Praxis .................................................... 358

8.5.4

Körper BeDeuten – Diskussion ............................................................. 366

8.6

Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben ........................................ 369

8.6.1

Körper zu sehen geben – ,Verwertung‘ ................................................ 371

8.6.2

Vergleichende Prüfung ............................................................................ 381

8.6.3

Körper zu sehen geben – Führungen.................................................... 384

8.6.4

Körper im Einsatz – Tanz....................................................................... 388

8.6.5

Körper im Einsatz – Musik machen ..................................................... 395

8.7

Körper im Einsatz II – Körper der Nicht-Zugehörigkeit ...................... 398

8.7.1

Körper der Nicht-Zugehörigkeit – Marginalisierte Männlichkeit .... 400

8.7.2

„Ey du hässliche Missgeburt, geh weg!“ ............................................... 403

8.7.3

,Die Schlampe‘ ........................................................................................... 405

8.7.4

,Reinheitsregel‘........................................................................................... 408

8.8

,Professioneller Ausschluss‘?........................................................................ 410

8.8.1

,So-tun-als-ob‘ ........................................................................................... 412

8.8.2

,So-tun-als-ob‘ – Ausschluss vermeiden ............................................... 414

8.9

Körper der Nicht-Zugehörigkeit................................................................. 415

8.9.1

Klassenspezifische Körper ...................................................................... 418

8.9.2

Verkommenheit – „Die haben keine Werte hier“ .............................. 422

8.9.3

Körper der Nicht-Zugehörigkeit – ,Die Asozialen‘ ............................ 425

8.9.4

Körper der Nicht-Zugehörigkeit – ,Zigeuner‘ ..................................... 427

8.9.5

Körper im Einsatz I und II – Diskussion ............................................ 431

Inhaltsverzeichnis

XI

9

Körper und Soziale Ungleichheit – Diskussion ...................................435

10

Körper und Soziale Ungleichheit – ein vorläufiges Fazit .....................447

Bibliographie ................................................................................................457

Einleitung Körper spielen in sozialpädagogisch geführten Debatten um soziale Ungleichheitsund Ausschließungsverhältnisse eine weitestgehend vernachlässigte Rolle. Dies ist erstaunlich, da doch gerade der Körper in seiner Sichtbarkeit das letzte und vielleicht wichtigste Strukturmerkmal von Prozessen sozialer Ausgrenzung ist (vgl. Bude 1998, S. 376). Körper spielen auch in sozialpädagogischen Zusammenhängen eine wesentliche Rolle, so die zugrunde liegende Annahme. Für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ist die Bedeutung des Körperlichen für die Auseinandersetzung mit sozialer Benachteiligung bisher nur unzureichend berücksichtigt worden. So lässt sich fragen: Wie werden in sozialpädagogischen Handlungsfeldern über den Körper soziale Ungleichheiten reproduziert sowie Ein- und Ausschlüsse bestimmter Personen(gruppen) generiert? Welche Körper bieten Anlass für (sozial-) pädagogisch professionelle Zugriffe? Wie werden darüber ,normative‘ Adressat*innenkonzepte verhandelt? Welche gesellschaftlichen Ordnungen verbergen sich hinter den Wahrnehmungs- und Thematisierungsweisen von Körpern? Im Zentrum dieser Arbeit steht eine Perspektive, die Körper als Produkt und Produzent von Gesellschaft begreift. Dass Körper sozial hervorgebracht werden, genauso wie sie an der Hervorbringung des Sozialen beteiligt sind, gilt als eine der zentralen Einsichten der Soziologie des Körpers. Die innerhalb dieser geführten Auseinandersetzungen heben gemeinhin darauf ab, eine vom Körper ausgehende Theorie des Sozialen zu erarbeiten (vgl. Gugutzer 2015; Gugutzer, Klein und Meuser 2017; Schroer 2005). Die Materialität des Körpers gilt nicht selten als Evidenz einer vermeintlichen ,Natürlichkeit‘ von sozialen Unterscheidungen und bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen. Gerade über Körperlichkeit werden soziale Zuschreibungen naturalisiert und als ,biologische Andersartigkeit der Anderen‘ festgeschrieben (vgl. Terhart 2014, S. 66). Dies hat mitunter auch zur Folge, dass im Alltag an Körpern Einzelner die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen festgemacht wird, indem ,körpergebundene Zeichen‘ gelesen werden. Die Unterscheidungen in ,Wir‘ und ,Andere‘ und damit einhergehende Ein- und Ausschließungen werden nämlich durch unterschiedliche Körper und den Umgang mit ihnen mitbestimmt. Soziale Unterscheidungen fungieren folglich als Grundlage der Organisation des Sozialen. Sie sind zugleich für die ,Seinsordnung‘ einer Gesellschaft relevant, denn sie regulieren den Zugang zu Ressourcen und gelten somit als Basis gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeiten. Sie bestimmen zudem auch, wie jemand leben muss um anerkennbar zu sein (vgl. Machold 2015). Bedeutungsvoll werden soziale Unterscheidungen jedoch nicht einfach von alleine, sondern auch, weil sie verschiedene Bewertungen erfahren, die wiederum nicht losgelöst von den jeweiligen Bedingungen zu betrachten sind. Hinter diesen Wahrnehmungen und Bewertungen von Körpern verbirgt sich zum einen eine spezifische soziale Ordnung, die zum anderen damit auch Formen der Ein- und Ausschließung bewirkt. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. B. Burghard, Körper und Soziale Ungleichheit, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 19, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31200-8_1

2

Einleitung

Die vorangestellten Überlegungen lassen den Schluss zu, dass auch Zuschreibungen und Klassifizierungen von Körperlichkeit mit Risiken im Hinblick auf soziale Benachteiligung und Teilhabe verbunden sind. Der 15. Kinder- und Jugendbericht weist ausdrücklich darauf hin, dass es nötig ist, ungleiche Bedingungen kritisch in den Blick zu nehmen – nicht zuletzt um sie politisch und sozialpädagogisch bearbeitbar zu machen (vgl. BMFSFJ 2017, S. 95). Dem Bericht ist indes auch zu entnehmen, dass die Konstruktion und Verwendung von Kategorien und ihrer Klassifikationen sowie die Darstellung von gruppenspezifischen Teilhaberisiken kritisch zu reflektieren ist, insbesondere dann, wenn mit ihnen Prozesse sozialer Abwertung und gesellschaftlicher Ausgrenzung verbunden sind (vgl. BMFSFJ 2017, S. 96).1 Gerade deshalb ist eine Inblicknahme der sozialen Verhältnisse erforderlich, innerhalb derer junge Menschen heranwachsen und die die Möglichkeiten ihrer gesellschaftlichen Teilhabe in spezifischer Weise präformieren. In der Lebensphase Jugend wird die Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit besonders virulent. „Jugend findet körperlich statt und dokumentiert sich dort, wo Jugendliche sich ausdrücken – und dies tun sie immer mit ihrem Körper“ (Niekrenz und Witte 2011, S. 11). Aus dieser Perspektive scheint es wunderlich, dass die Bedeutung von Körper(n) für die Auseinandersetzung mit Jugend bisher nur unzureichend berücksichtigt ist. Der Körper ist in der Lebensphase Jugend nicht nur zentrales Medium der Zuschreibung und Klassifizierung, sondern auch ein zentrales Instrument, das eingesetzt wird, um sich sozial zu positionieren. Damit wird verknüpft, „dass junge Menschen eine Integritätsbalance zwischen subjektiver Freiheit und sozialer Zugehörigkeit ausbilden sollen“ (BMFSFJ 2017, S. 96). Sich sozial zu positionieren markiert indes eine wesentliche Kernherausforderung des Jugendalters. Daran schließen sich unweigerlich weitere Fragen an: Wie positionieren Jugendliche sich sozial über ihre Körper? Über welche Möglichkeiten der sozialen Positionierung verfügen sie innerhalb der konkreten sozialen Bedingungen? Jugendtheoretischen Debatten zufolge nutzen Jugendliche insbesondere ihre Körper, um etwa Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen herzustellen und um sich sozial zu positionieren. Zugleich lassen körpersoziologische Perspektiven erkennbar werden, dass Jugendliche im konkreten Tun immer auch die sozialen Bezüge repräsentieren, in denen sie agieren, so auch Zugehörigkeit(en) zu sozialen Gruppen. Ihre Körper haben eine gesellschaftliche Dimension, die auf vielfältige Weise mit Machtverhältnissen berührt ist (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 7). Damit einher gehen Fragen danach, wer wann und unter welchen Umständen dazu gehört und bei wem die Zugehörigkeit immer wieder in Frage gestellt wird (vgl. Terhart 2014, S. 11). Fasst man 1

Denn nicht zuletzt sind auch wissenschaftliche oder mediale Darstellungen oder politische Auseinandersetzungen als Räume der Konstruktion spezifischer Gruppen und somit machtvolle Akteur*innen der Reproduktion und Verfestigung von Marginalisierung und Ausgrenzung zu perspektivieren (vgl. BMFSFS 2017, S. 95).

Einleitung

3

Zugehörigkeit als Teil von grundlegenden Normierungsprozessen, in denen das ,Normale‘ und das davon ,Abweichende‘ fortlaufend reproduziert wird, dann gilt auch ,Normalität‘ als Beschreibung und Vorschrift einer Ordnung (vgl. Dausien und Mecheril 2006, S. 162). Als solche legt sie fest, was Norm ist und was davon abweicht (vgl. Terhart 2014, S. 11). Dies lässt sich in der Annahme zuspitzen, dass Jugendliche sich in ihren alltäglichen Praktiken innerhalb einer sozialen Ordnung positionieren und sie darin zugleich als zugehörig eingeschlossen oder als nicht-zugehörig ausgeschlossen werden. Nicht zuletzt wird dies über ihre Körper und von der gesellschaftlichen Ordnung, die sich daran festmacht, mitbestimmt (vgl. Schmincke 2009). Diese Aspekte werden hier aufgenommen und die körperliche Dimension sozialer Ungleichheits- und Ausschließungsverhältnisse in dem pädagogischen Handlungskontext der Offenen Kinder- und Jugendarbeit theoretisch und empirisch in den Blick genommen. Dabei wird auch darauf fokussiert, in welcher Weise Körper in den Blick der professionell Handelnden rücken. Eine sozialwissenschaftlich informierte Betrachtung der Dimension des Körperlichen im Hinblick auf Ein- und Ausschließung in Theorie und Empirie der Offenen Kinder- und Jugendarbeit steht bislang aus; und ebenso im Kontext der Kinder- und Jugendhilfeforschung markiert die Auseinandersetzung mit den herausgestellten Dimensionen des Körperlichen eine Leerstelle. An diese setzt die vorliegende Arbeit an, deren Thema das Körperliche als Dimension von Ein- und Ausschließung darstellt. Konkret wird dem zentralen Erkenntnisinteresse nachgegangen, wie Prozesse der Ein- und Ausschließung im Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit über Körper verhandelt und wie darüber gesellschaftliche Ordnungen konstituiert und reproduziert werden. Dafür gilt die körpersoziologische Einsicht grundlegend, dass Körper nicht in ,Naturform‘ in Erscheinung treten, sondern von sozialen Verhältnissen geprägt werden. Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Ethnizität und Migration, Alter, Behinderung oder Jugend finden ihren Ausdruck an Körpern. So pointieren auch Hahn und Meuser (2002), dass Körper die sozialen Bezüge repräsentieren, in denen sie agieren. Überdies werden diese Unterscheidungen zumeist mit körperlichen Aspekten gekoppelt; sie werden an Körpern gelesen und als körperliche Natur ontologisiert (vgl. Hark und Villa 2017, S. 15). Diese Perspektiven werden zunächst theoretisch bearbeitet, um dann in einer ethnographischen Studie in einem offenen Kinder- und Jugendtreff konkretisiert zu werden. Den empirischen Ausgangspunkt bildet sodann ein Offener Kinder- und Jugendtreff. Ein Jugendtreff scheint in besonderer Weise geeignet, da er zum einen als offener Raum potenziell allen Jugendlichen zur Verfügung steht und die Praktiken von Jugendlichen dort eine spezifische Körperlichkeit aufweisen (vgl. Cloos 2009). Überdies verweist dieses pädagogische Handlungsfeld, ähnlich wie andere spezifische Handlungsfelder des Körpers, so etwa des Sports oder des Tanzens, grundlegend auf die körperliche Dimension sozialer Praxis (vgl. Klein 2010, S. 457). Insgesamt richtet

4

Einleitung

sich der ethnographische Blick innerhalb der Studie auf den Offenen Kinder- und Jugendtreff als Ganzes; das heißt, dass innerhalb der Darstellung der Ergebnisse zum einen eine lebensweltorientierte Sicht auf die Adressat*innen eingenommen wird, um in Bezug auf das beforschte, spezifische pädagogische Handlungsfeld Erkenntnisse und Zusammenhänge zu gewinnen, zum anderen fließen auch Sichtweisen der Professionellen auf die Adressat*innen ein. Somit repräsentiert die Studie unterschiedliche Facetten des jugendpädagogischen Alltags, der ohne die Körperlichkeit der Adressat*innen genauso wenig denkbar wäre, wie ohne die der Professionellen. Zum Aufbau der Arbeit: Für die Theoretisierung ebenso wie für die empirische Annäherung an die dargelegte Forschungsfrage erfolgt im ersten theoretischen Kapitel eine Auseinandersetzung mit dem Körper als Gegenstand der Sozialwissenschaften. An dieser analytischen Grundlegung wird die weitere Argumentation orientiert. Somit können Prozesse der Ein- und Ausschließung von Körpern im offenen Kinder- und Jugendtreff sowohl als Resultat inkorporierter sozialer Teilungsprinzipien sowie als Ausdruck für eine an spezifischen Normen und Unterscheidungen ausgerichtete soziale Ordnung betrachtet werden (Kapitel 1). Insofern es um die Analyse der Bedeutung des Körpers im Kontext von Praktiken der Ein- und Ausschließung geht, ist eine Diskussion von Theorien sozialer Ungleichheit erforderlich, um darauf aufbauend Ein- und Ausschlüsse auf sozialer und symbolischer Ebene verorten zu können und ferner die (ein- und ausschließende) Macht von Klassifikationen in den Blick zu nehmen (Kapitel 2). Der empirische Zugang zur gewählten Thematik lässt sich durch die sozialen Praktiken vornehmen. Für die Analyse wird sodann ein praxistheoretisches Verständnis sozialer Praktiken erarbeitet, in dem die Körperlichkeit sozialer Praktiken sowie deren Performativität in besonderer Weise Berücksichtigung findet. Auch Böllert und Thole (2013) weisen darauf hin, dass Gesellschaft, Subjektivität sowie die ,das Soziale‘ mitkonstituierenden Ordnungen sich über soziale Praktiken reproduzieren (vgl. ebd., S. 202) (Kapitel 3). Im Anschluss daran findet im vierten Kapitel eine Darlegung jugendtheoretischer Diskurse unter Berücksichtigung körpersoziologischer, ungleichheitstheoretischer und praxeologischer Sichtweisen statt, um auf diese Weise einen theoretischen Zugang zu den Dimensionen des Körperlichen im Hinblick auf Ein- und Ausschließung zu erhalten. Innerhalb einer Darstellung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit werden Merkmale des pädagogischen Handlungsfeldes herausgestellt (Kapitel 5). Die so systematisierten Begriffe und erarbeiteten Zusammenhänge bilden den heuristischen Rahmen dieser Arbeit, der sodann die Grundlage für die empirische Analyse darstellt (Kapitel 6). Im zweiten empirischen Part der Arbeit werden diese Theoretisierungen anhand ethnographischer Daten konkretisiert, die im sozialpädagogischen Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit generiert wurden (Kapitel 7). Ethnographische Zugänge – und die damit am häufigsten verknüpfte Methode der teilnehmenden Be-

Einleitung

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obachtung – erweisen sich als prädestiniert um Körper zu beobachten und eine „genaue Beschreibung sozialer Ordnung“ (Kelle 1997, S. 199) abzugeben. Die Auswertung der empirischen Daten erfolgt in Anlehnung an die zirkulär und offen angelegte Methode der Grounded Theory, an der sich im Wesentlichen in methodologischer Hinsicht orientiert wurde (Kapitel 7). Insgesamt werden Empirie und Theorie im Anschluss an Kalthoff (2008) nicht getrennt voneinander gedacht, sondern theoretische und empirische Forschung als ineinander verwoben betrachtet (vgl. ebd., S. 10). Im Rahmen der interpretativen Auswertung des empirischen Datenmaterials werden Einblicke in die körperliche Dimension von Prozessen der Ein- und Ausschließung gewonnen und Zusammenhänge erkennbar gemacht. Auf diese Weise erfolgt in der Arbeit eine theoretische und empirische Annäherung an die Bedeutung des Körperlichen für Prozesse der Ein- und Ausschließung im Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit vor dem Hintergrund einer körpersoziologischen Perspektive (Kapitel 8). Mitsamt weisen beide Teile eine relative Eigenständigkeit auf, jedoch zielen sie darauf ab, das beforschte pädagogische Handlungsfeld für die Dimensionen des Körperlichen zu öffnen. Die Arbeit findet ihren Abschluss im Rahmen einer Diskussion (Kapitel 9) und einem vorlläufigen Fazit, das im Hinblick auf die Zusammenhänge von Körper und Sozialer Ungleichheit in sozialpädagogischen Kontexten gezogen wird (Kapitel 10). Durch eine theoretisch-analytische sowie empirisch-ethnographische Herangehensweise an den Körper werden dem Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit relevante Anschlussperspektiven geboten. Nicht zuletzt wird damit eine Öffnung der körperlichen Dimension erreicht und somit ein Beitrag für die deutsche Kinder- und Jugendhilfeforschung geleistet. Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die im Rahmen der Studie präsentierten Deutungen als Impulse zu verstehen sind. Mit diesen wird eine spezifische, für das Erkenntnisinteresse relevante, Lesart vorgeschlagen. Es geht also nicht darum Ergebnisse zu präsentieren, die das ergründete Phänomen auf ein ,So-Sein‘ fixieren. Vielmehr soll bewusst gehalten werden, dass diese Arbeit im Kontext der Wissenschaft situiert ist und so auch eine spezifische Sicht auf die soziale Welt präsentiert. Anschließend an Kalthoff (2008) sollte die Konstruktion eines wissenschaftlichen Gegenstandes durch die Wissenschaft selber kritisch in den Blick genommen werden. Dies zu reflektieren hebt darauf ab, sich des biographischen, geschlechtlich, kulturell, sozial und historisch begrenzten eigenen Standortes im sozialen Raum und des daraus resultierenden Denkhorizontes bewusst zu werden, nicht zuletzt um Grenzen des Denkbaren zu erkennen und zu erweitern (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 111).

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Körper theoretisch

Inhalt des ersten theoretischen Kapitels der Arbeit ist eine Auseinandersetzung mit dem Körper als Gegenstand der Sozialwissenschaften. Es werden zentrale (körper-) soziologische Perspektiven auf den Körper mit dem Ziel präsentiert, relevante Begriffe der Körpersoziologie für die Analyse zu erarbeiten. Dabei wird auch das Verhältnis von Körper und sozialer Ordnung herausgestellt. Mitsamt führt das Kapitel durch ein recht breites sowie heterogenes Feld theoretischer Positionen, die sich hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Standpunkte sowie der wissenschaftssystematischen Positionierungen unterscheiden. Es versammelt Arbeiten, die im Kontext des Strukturalismus, des Poststrukutalismus sowie der Phänomenologie und Anthropologie zu verorten sind und innerhalb derer Körper auf sehr unterschiedliche Weisen thematisch werden. Hierbei werden die sehr verschieden gelagerten Perspektiven nicht als einander ausschließend, sondern als einander ergänzend gelesen und in den heuristischen Rahmen der Arbeit integriert. Sie treffen sich nämlich darin, dass sie spezifische Sichtweisen auf die Bedeutung(en) von Körpern im Kontext sozialer Ordnungen, einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse frei legen.2 Eine erste detailliertere Diskussion erfahren die Arbeiten von Pierre Bourdieu. Diese sind im Kontext des Strukturalismus zu verorten. Bourdieus Sozialtheorie bietet nicht nur allgemeine Einblicke auf Fragen danach, wie sich das Verhältnis von sozialer Ungleichheit und Körper theoretisch und empirisch deuten lässt oder gar die Inkorporation des Sozialen zu denken ist. Seine Arbeiten veranschaulichen auch, dass am Körper ansetzende Klassifikationen – die als Resultat der Inkorporation sozialer Strukturen, einschließlich ihrer Ordnungsmuster – als stigmatisierendes Element der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit auszulegen sind (vgl. Neckel und Soeffner 2008). Eingedenk der Konzeptionalisierungen der sozialen Felder sowie unterschiedlicher Kapitalien lässt sich der Körper ebenso als eine eigenständige Kapitalform auslegen, die innerhalb alltäglicher sozialer Praktiken Distinktionsgewinne verspricht. Dass innerhalb von Praktiken im Alltag Klassifikationen als Normen wirkmächtig werden, plausibilisiert Bourdieu damit, dass er in diesen inkorporierte soziale Strukturen erkennt. Dass diese entlang der Dichotomie ,normal‘ und ,abweichend‘ strukturiert sind und Körper hervorbringen, lassen die Arbeiten des französischen Philosophen Michel Foucault erkennbar werden. Diese im Kontext des Poststrukturalismus zu verortenden Zugänge veranschaulichen in Bezug auf den Körper, dass und inwiefern sich der Körper als Produkt machtvoller Handlungen und Regulierungen begreifen lässt und Wahrnehmungsweisen von Körpern entlang von Normen strukturiert sind. Des Weiteren legen seine Arbeiten eine Perspektive auf Körperinszenie-

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Die unterschiedlich gelagerten Sichtweisen werden immer wieder in ihren jeweiligen geistes- und sozialwissenschaftlichen Kontexten verortet.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. B. Burghard, Körper und Soziale Ungleichheit, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 19, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31200-8_2

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Körper theoretisch

rungen (von zum Beispiel Jugendlichen) frei, in der diese nicht lediglich als Technologien des Selbst diskutierbar werden, sondern überdies als Praktiken, mit denen Personen sich im Gefüge des Sozialen sozial positionieren. Auf Fragen danach, inwiefern sich soziale Bedingungen und Normen am Körper materialisieren und diesen erst in Erscheinung treten lassen, bieten die poststrukturalistischen Arbeiten von Judith Butler Antworten. Mitsamt hebt Butler die Bedeutung von kulturellen Normen für die Wahrnehmung und Sichtbarkeit des Körpers hervor (vgl. Butler 2010). Dass sowohl strukturalistische wie auch poststrukturalistische Perspektiven – wenn auch unterschiedlich gelagert – mit der Kritik konfrontiert wurden, Körper bloß als Objekt sozialer Prägungsprozesse zu konzeptionalisieren und so einer theoretische Engführung Vorschub zu leisten, wird im vorliegenden Kapitel (primär theoretisch) aufgegriffen. Sodann finden anthropologische und phänomenologische Theorien zu Leiblichkeit in diesem theoretischen Teil der Arbeit Berücksichtigung. In die Analyse fließen sie nicht ein. Bevor an dieser Stelle lediglich angedeutete Sichtweisen auf Körper vertieft werden, gilt es einige Grundannahmen der Soziologie des Körpers zu präsentieren. 1.1

,Body turn‘? Der Körper als Gegenstand der Soziologie

Der Körper als Gegenstand der soziologischen Forschung steht im Mittelpunkt der sich unlängst ausdifferenzierenden Soziologie des Körpers. Diese beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen und kulturellen Einbettung menschlicher Körper (vgl. Gugutzer 2015, S. 6). Dabei geht sie von einem wechselseitigen Durchdringungsverhältnis von Körper und Gesellschaft aus (vgl. Gugutzer 2006). Ihr grundlegendes Ziel besteht zum einen darin herauszuarbeiten, wie der menschliche Körper als gesellschaftliches Phänomen zu verstehen ist (vgl. Guguter 2015, S. 6). Zum anderen heben die unterschiedlich gelagerten Auseinandersetzungen darauf ab, Körper systematisch als Kategorie in Konzeptionen von Sozialität einzubeziehen (vgl. Gugutzer 2006, S. 11). Mitsamt systematisiert sie den menschlichen Körper in zweifacher Hinsicht als ein gesellschaftliches Phänomen: Als Produkt und Produzent von Gesellschaft (vgl. Gugutzer 2015, S. 6). Die Soziologie des Körpers zählt zu einem vergleichsweise jungen Teilgebiet der Soziologie, das sich erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zu entfalten begann (vgl. Gugutzer 2015, S. 9). Da die klassische Soziologie der Verkörperung sozialer Akteur*innen in den jeweiligen Gesellschaftstheorien explizit sehr wenig Bedeutsamkeit zumaß, diagnostizierte etwa Chris Shilling (1993, S. 19) eine ,absent presence‘ des Körpers innerhalb soziologischer Theorietraditionen. Im anglo-amerikanischen Diskurs wurde an diese ,Randständigkeit‘ des Körpers in der soziologischen Theoriebildung bereits in den 1980er Jahren angeknüpft und dessen Theoriefähigkeit diskutiert. Insbesondere Brian S. Turner (1984), Mike Featherstone, Mike Hepworth, Bryan Turner (1991) und Chris Shilling (1993) sowie die von Bryan Turner herausgegebene

,Body turn‘? Der Körper als Gegenstand der Soziologie

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Zeitschrift ,The body and society‘ regten die Debatten um eine vom Körper ausgehende Theorie des Sozialen an. So pointiert Shilling: „The body remains one of the most contested concepts in the social sciences: its analysis has produced an intellectual battleground over which the respective claims of post-structuralism and postmodernism, phenomenology, feminism, socio-biology and cultural studies have fought“ (Shilling 2005, S. 6). Dass Körper vielerlei theoretische Anschlussperspektiven bieten, macht sie theoriefähig. Im deutschsprachigen Raum findet die ‚Soziologie des Körpers‘ ihre Anfänge mitunter in den kulturanthropologischen Arbeiten von Diethmar Kamper und Christoph Wulf (1982), in denen von einer ‚Wiederkehr des Körpers‘ die Rede ist. Karl Heinz Bette hingegen erkennt eine eher ambivalente Thematisierung des Körpers zwischen Verdrängung und Aufwertung (Bette 2005). Diese somit von verschiedenen Seiten angestoßenen Debatten evozierten Anfang der 1990er Jahre einen ‚body turn‘ (Gugutzer 2006) wissenschaftlicher Theoriebildung, insbesondere in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften.3 Im Zuge des ,body turns‘ (vgl. Gugutzer 2015) rückte der menschliche Körper zunehmend in den wissenschaftlichen Blick. Diese verstärkte Hinwendung zum Körper liegt zum einen in gesellschaftlichen und kulturellen sowie zum anderen in bestimmten geistes- und kulturwissenschaftlichen Kontexten begründet (vgl. Gugutzer 2015); sie sind folglich inner- und außertheoretischer Natur. Außertheoretische und somit gesellschaftlich-kulturelle Gründe sind die zunehmende Popularisierung des Körpers in verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen, so etwa der Transformation körperlicher Arbeit in der nachindustriellen Gesellschaft, einer zunehmenden Hinwendung zum Körper im Rahmen spätkapitalistischer Freizeit- und Konsummuster oder der Entwicklung biomedizinischer Technologien zur ,Optimierung‘ der Körper. Anschließend an individualisierunsgtheoretische Deutungen avancieren Körper durch die Erosion traditioneller Bindungen und Werte zu einem reflexiven Identitätsprojekt (vgl. Schmincke 2009, S. 94).4 Impulse innertheoretischer Debatten speisen sich insbesondere aus der Postmoderne,

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Anschließend an Gugutzer (2006) vollzieht sich der ,body turn‘ auf drei Ebenen, wenngleich diese Ebenen nicht als abgeschlossen zu betrachten sind: Erstens wird der Körper in der Soziologie vermehrt als theoretischer und empirischer Forschungsgegenstand behandelt, was sich in einer enormen Zunahme an soziologischen Untersuchungen, Publikationen und Tagungen ausdrückt (vgl. ebd., S. 10). Auf der Ebene soziologischer Theoriebildung ist dieser zweitens noch nicht ganz vollzogen. Dies würde eine systematische Integration der Kategorie Körper in der Konzeption von Sozialität bedeuten und in einer vom Körper ausgehenden Theorie des Sozialen münden. Dies liegt, so Gugutzer (2006), bislang jedoch lediglich vereinzelt vor. Auf der dritten Ebene, der Ebene der Epistemologie, hat sich der ,body turn‘ kaum vollzogen. Auf dieser Ebene müsste sowohl auf das ,doing sociology‘ als auch auf die Frage danach fokussiert werden, wie Körperlichkeit und Leiblichkeit von Soziolog*innen methodisch genutzt werden könnte, beziehungsweise müsste, um beispielsweise im Medium der eigenen Körperlichkeit und Leiblichkeit zu soziologischen Erkenntnissen zu gelangen (vgl. ebd., S. 11). Gugutzer (2015) zufolge zählen zu den gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründen, die zur zunehmenden Hinwendung zum Körper führten, erstens der Übergang von der modernen Industriege-

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sowie aus vernunftkritisch ausgerichteten Denkbewegungen, wie etwa dem Feminismus oder dem Poststrukturalismus. In sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen zur Postmoderne wurde die cartesianische Trennung von Körper und Geist und die damit einhergehende Priorisierung des Geistes problematisiert. Diese Kritik am cartesianischen Dualismus fand auch Eingang im intellektuellen Programm des Feminismus. Für die Soziologie des Körpers sind die innerhalb dieser geführten Diskussionen nicht nur deshalb von enormer Bedeutung, weil sie mit dem Geschlechterkörper ein zentrales Forschungsfeld eröffnen, sondern insbesondere deswegen, weil sie zur Infragestellung der ontologischen Basis von Geschlecht und der Geschlechterdifferenz beigetragten haben (vgl. Gugutzer 2015, S. 48-49). Nicht zuletzt gilt der Sozialkonstruktivismus als vorherrschende erkenntnistheoretische und methodologische Position in der Soziologie des Körpers (vgl. vertiefend Gugutzer 2015, S. 49-50). Es lässt sich resümierend festhalten, dass die zunehmende sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Körper sich mitsamt als Reaktion auf eine theorieimmanente Vernachlässigung sowie als Ausdruck auf gesellschaftliche Veränderungen deuten lässt. 1.1.1

Körper als Produkt und Produzent von Gesellschaft

Die Soziologie des Körpers befasst sich mit dem wechselseitigen Durchdringungsverhältnis von Körper und Gesellschaft. Dabei fasst sie dieses Verhältnis als einanander verschränkt.5 Das zentrale Erkenntnisinteresse der Soziologie des Körpers besteht zunächst darin zu ergründen, wie der menschliche Körper gesellschaftlich und

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sellschaft zur postindustriellen oder postmodernen Gesellschaft, welche zweitens durch eine spezifische Konsumkultur zu charakterisieren ist. Drittens ist den Massenmedien eine zunehmende Bedeutung beizumessen. Zu erwähnen ist viertens die Populärkultur, die in einem engen Zusammenhang mit der Konsumkultur und den Massenmedien steht. Als wirkungsvoll zeigt sich auch der ,Wertewandel‘, welcher sechstens Individualisierungsprozesse prägt und zugleich von diesen geprägt wird. Für den Körperdiskurs ist siebtens die Frauenbewegung und die durch diese angestoßenen Debatten bedeutungsvoll (vgl. ebd., S. 39-46). Weitere Gründe der verstärkten Thematisierung des Körpers sieht Gugutzer (2015) achtens im zunehmenden Altern der Bevölkerung in postindustriellen Gesellschaften sowie neuntens in spezifischen Zivilisationskrankheiten, die gesundheits- und sozialpolitische Folgen mit sich gebracht haben. Zehntens haben Fortschritte in der Reproduktions- und Biotechnologie dazu beigetragen, dass die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber dem Körper zugenommen hat (vgl. ebd., S. 39-46). Die unterschiedlich gelagerten Entwicklungsstränge lassen sich Gugutzer (2015) zufolge in der Einsicht bündeln, dass der Körper zum reflexiven Identitätsprojekt geworden ist (vgl. Gugutzer 2015