Körper und Soziale Ungleichheit : Eine ethnographische Studie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit [1. Aufl.] 9783658311995, 9783658312008

Körper spielen in sozialpädagogisch geführten Debatten um soziale Ungleichheits- und Ausschließungsverhältnisse eine wei

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German Pages XI, 504 [509] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Einleitung (Anna Bea Burghard)....Pages 1-5
Körper theoretisch (Anna Bea Burghard)....Pages 7-94
Soziale Ungleichheit und Körper (Anna Bea Burghard)....Pages 95-146
Körper und soziale Praktiken (Anna Bea Burghard)....Pages 147-174
Jugend und Körper (Anna Bea Burghard)....Pages 175-244
Die Offene Kinder- und Jugendarbeit (Anna Bea Burghard)....Pages 245-263
Vertiefendes Zwischenresümee Theorie und Diskussion (Anna Bea Burghard)....Pages 265-270
Körper empirisch (Anna Bea Burghard)....Pages 271-301
Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse (Anna Bea Burghard)....Pages 303-433
Körper und Soziale Ungleichheit – Diskussion (Anna Bea Burghard)....Pages 435-445
Körper und Soziale Ungleichheit – ein vorläufiges Fazit (Anna Bea Burghard)....Pages 447-455
Back Matter ....Pages 457-504
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Körper und Soziale Ungleichheit : Eine ethnographische Studie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit [1. Aufl.]
 9783658311995, 9783658312008

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Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion

Anna Bea Burghard

Körper und Soziale Ungleichheit Eine ethnographische Studie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit

Soziale Arbeit als ­Wohlfahrtsproduktion Band 19 Reihe herausgegeben von Karin Böllert, Münster, Deutschland

Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion ist der Name und das Arbeitsprogramm einer Forschungsgruppe, die sich vor einiger Zeit im Arbeitsbereich Sozialpäda­ gogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gegründet hat. Thema­ tisch lässt sich das Programm der Forschungsgruppe wie folgt skizzieren. Mit Blick auf die öffentlich verantwortete Wohlfahrtsproduktion werden analy­ tisch personenunabhängige und personenbezogene Formen unterschieden. Wäh­ rend sich personenunabhängige Formen der Wohlfahrtsproduktion vor allem auf die Organisation des Sozialen richten – und damit auf kollektive Risiken und Bedarfe –, ist das Wohlergehen einzelner AdressatInnen – bzw. individuelle Risiken, Bedarfe und Bedürfnisse – ein wesentlicher normativer Fluchtpunkt der personenbezogenen Wohlfahrtsproduktion. Die Prozesse einer Sozialen Arbeit als Wohlfahrtsproduktion werden als spannungsreiche Figuration der Interessen, Vorstellungen, Orientierungen und Potentiale der AdressatInnen, der Institutio­ nen und der Profession erforscht. In ihrer Gesamtheit geht es den Arbeiten der Forschungsgruppe damit um eine systematische Analyse der durch die institutio­ nellen Regulierungen eröffneten (oder verschlossenen) Lebenschancen, durch die von Professionellen und AdressatInnen je realisierten (Ko-)Produktionen und per­ sonenbezogenen Wohlfahrt sowie deren kulturell, sozial, ökonomisch und poli­ tisch strukturierten Bedingungsmöglichkeiten.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12192

Anna Bea Burghard

Körper und Soziale Ungleichheit Eine ethnographische Studie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit

Anna Bea Burghard Münster, Deutschland Dissertation Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 2019

ISSN 2512-1502  (electronic) ISSN 2512-1480 Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion ISBN 978-3-658-31200-8  (eBook) ISBN 978-3-658-31199-5 https://doi.org/10.1007/978­3­658­31200­8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d­nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagung Die Entstehung dieser Studie und mein bisheriger Weg als (Erziehungs-) Wissenschaftlerin wurde über einen längeren Zeitraum von unterschiedlichen Menschen begleitet, bei denen ich mich an dieser Stelle bedanken möchte: Ganz herzlich bedanke ich mich bei Prof. ‘in Dr. Karin Böllert für die gemeinsame Zeit als Doktorandin und Doktormutter. Karin Böllert hat mir den Weg begehbar gemacht und es mir ermöglicht, dass ich diesen als Mitarbeiterin des Arbeitsbereichs Sozialpädagogik beschreiten konnte. Vielen Dank für deine Begleitung, die inspirierenden Kolloquien und dass du in den Jahren immer an mich geglaubt hast. Prof. Dr. Heinz-Günter Micheel – dem ethnographisch nicht affinen und eher skeptischen Gutachter – danke ich für seine vielfältigen Unterstützungen, für seine Nachsicht und Güte. Prof. ‘in Dr. Catrin Heite gilt mein Dank dafür, dass sie für mich den Weg als Wissenschaftlerin denkbar gemacht und mich auf verschiedene Weisen ermutigt und unterstützt hat. Prof.‘ in Dr. Alexandra Klein danke ich für die wertvollen Kommentare kurz vor der Abgabe. Danke an Dr. Corinna Schwamborn für das geduldige Lesen meiner ersten Versuche, für die konstruktive und pragmatische Begleitung kurz vor der Abgabe, aber auch für die Unterstützungen unterschiedlichster Art. Mein Dank gilt auch dem gesamten Arbeitsbereich Sozialpädagogik des Instituts für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und dem Forschungskolloquium ,Soziale Arbeit als Wohlfahrtserbringung‘, das meinen Überlegungen, Suchbewegungen und Ausführungen zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten meiner Auseinandersetzungen sehr geduldig zugehört, sich reingedacht hat und mir mit wertvollen Kommentierungen geholfen hat. Danke an Daniel für die Hilfe bei der Formatierung sowie an Patrik und Eva für die Mitarbeit. Nebst den wissenschaftlichen Begleiter*innen möchte ich mich bei den Personen aus dem ,Feld‘ bedanken, dass ich mich dort einleben durfte und für die Offenheit, die mir entgegengebracht wurde. Ich danke von ganzem Herzen meiner Familie, meinen Eltern, meiner Schwester und ihrem Liebsten dafür, dass Ihr mir diesen Weg ermöglicht habt. Danke für den bedingungslosen und verständnisvollen Rückhalt und die vielen Hilfen, die Ihr mir als Tochter, Schwester, Wissenschaftlerin und Mutter gegeben habt. Insbesondere in der Abgabephase, in der ihr mir Schreibzeit ermöglicht und meine Launen ausgehalten habt. Ich bin Euch unendlich dankbar dafür. Auch für eure Anreisen für Tagungen und Kolloquien. Meiner ,neuen‘ Familie danke ich ebenso für die Unterstützung und das Verständnis, das Ihr mir entgegengebracht habt. Für die Unterstützung und Begleitung in der überwiegenden Zeit des Denkens und Schreibens, der Höhen und Tiefen, danke ich ganz besonders meinem ,Verliebten‘. Danke dafür! Was für ein Geschenk, dass in der Zeit der Promotion Theo und ein neues kleines Leben in unser Leben getreten sind. Münster im Frühjahr 2020, Anna Bea Burghard

Inhaltsverzeichnis Einleitung ....................................................................................................... 1 1

Körper theoretisch .................................................................................. 7 1.1 1.1.1

Körper als Produkt und Produzent von Gesellschaft .......................... 10

1.1.2

Der Körper als Produkt von Gesellschaft .............................................. 12

1.1.3

Der Körper als Produzent von Gesellschaft .......................................... 17

1.1.4

Verkörperung sozialer Ordnungen .......................................................... 18

1.2

Eine ,verkörperte Theorie des Sozialen‘ ...................................................... 21

1.2.1

Der Habitus als das ,Körper gewordene Soziale‘ .................................. 24

1.2.2

Verkörperung von Herrschaftsverhältnissen ......................................... 35

1.3

,Normalisierte Körper‘ .................................................................................... 50

1.3.1

Wissen, Macht und Körper ....................................................................... 52

1.3.2

,Regierung der Körper‘ und ,Technologien des Selbst‘........................ 64

1.4

2

,Body turn‘? Der Körper als Gegenstand der Soziologie ........................... 8

Die ,Macht der Geschlechternormen‘ .......................................................... 71

1.4.1

Der Geschlechterkörper ............................................................................ 75

1.4.2

Eine ,performative Theorie des Sozialen‘ ............................................... 77

1.5

Körper & Leib .................................................................................................. 87

1.6

Resümee & Diskussion körpertheoretischer Perspektiven ...................... 91

Soziale Ungleichheit und Körper .......................................................... 95 2.1

Soziale Ungleichheit ........................................................................................ 97

2.1.1

Sozialpädagogische Perspektiven ............................................................. 98

2.1.2

Soziale Ungleichheit und Körper ........................................................... 101

2.2

Über die Komplexität von Verhältnissen sozialer Ungleichheit ........... 108

2.3

Verkörperung ist immer mehr ..................................................................... 124

2.4

Klassifikationen und Positionierungen ...................................................... 128

VIII

Inhaltsverzeichnis 2.4.1

,Die Macht der Unterscheidungen‘ ........................................................ 135

2.4.2

Klassifizierungen im Kontext von Ein- und Ausschließung............. 141

2.5 3

4

Körper und soziale Praktiken............................................................... 147 3.1

Praxistheoretische Grundannahmen .......................................................... 148

3.2

Ein performativ-mimetisches Modell der Einverleibung ....................... 156

3.3

Zur Performativität sozialer Praktiken ....................................................... 164

3.4

Soziale Praktiken, Soziale Ungleichheit und Körper ............................... 170

3.5

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion ........................................ 171

Jugend und Körper .............................................................................. 175 4.1

Zum Phänomen der Jugend ......................................................................... 180

4.2

Jugendtheoretische Ansätze ......................................................................... 191

4.3

Themen der Jugend ....................................................................................... 204

4.4

Herausforderungen der Jugend ................................................................... 211

4.5

Positionierung und Zugehörigkeit – Herausforderung der Jugend ...... 213

4.6

Jugend und Körper ........................................................................................ 216

4.6.1

Bedeutung(en) des Körpers in der Lebensphase Jugend ................... 216

4.6.2

Körper, Jugend und Geschlecht............................................................. 217

4.6.3

Inszenierungen des Körpers in der Lebensphase Jugend .................. 221

4.6.4

Körper, Jugend und die Gestaltung von Übergängen ........................ 226

4.7

Körper (von Jugendlichen) als Produkt und Produzent ......................... 228

4.7.1

,Verkörperungen‘ in der Lebensphase Jugend ..................................... 230

4.7.2

Soziale (Körper-) Praktiken von Jugendlichen .................................... 231

4.7.3

Zugehörigkeit und Positionierung in der Lebensphase Jugend ........ 239

4.8 5

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion ........................................ 144

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion ........................................ 243

Die Offene Kinder- und Jugendarbeit..................................................245 5.1

Die Kinder- und Jugendhilfe ....................................................................... 245

Inhaltsverzeichnis 5.2

IX

Offene Kinder- und Jugendarbeit ............................................................... 248

5.2.1

Institutionelle Charakteristika und Arbeitsprinzipien......................... 251

5.2.2

Theoretische Konzepte der Kinder- und Jugendarbeit...................... 253

5.3

Körper & Soziale Ungleichheit – (k)eine Frage der OKJA?! ................. 259

5.4

Der Körper als Leerstelle in Theorie und Empirie der OKJA .............. 260

5.5

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion ........................................ 262

6

Vertiefendes Zwischenresümee Theorie und Diskussion ...................265

7

Körper empirisch ................................................................................. 271

8

7.1

Forschungsgegenstand und Forschungsmethode .................................... 272

7.2

Körper Forschen?! Method (-olog) ische Herausforderungen .............. 277

7.3

Körper Forschen – Ethnographie als Methode und Methodologie ..... 278

7.4

Ethnographie als Erkenntnisstil des Entdeckens ..................................... 282

7.4.1

Körper (teilnehmend) beobachten ........................................................ 290

7.4.2

Der ethnographische Forschungsprozess ............................................ 292

7.4.3

Datenkorpus .............................................................................................. 295

7.5

Auswertung – Grounded Theory als Methode und Methodologie ...... 295

7.6

Vom Text zur Theorie .................................................................................. 297

7.7

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion ........................................ 300

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse ................................303 8.1

Der Offene Kinder- und Jugendtreff ......................................................... 310

8.2

Räume und Akteur*innen............................................................................. 314

8.2.1

(An)Ordnungen – Strukturierungen des Raumes ............................... 320

8.2.2

(An)Ordnungen – Gruppen und Akteur*innen .................................. 332

8.2.3

,Stammgäste‘ – ,Vorzeigejugendliche‘ ................................................... 334

8.2.4

„…Ja, und die hier – die sind wieder ganz anders“ ............................ 337

8.2.5

,Assis‘ – ,die einzig Korrekten hier‘ ....................................................... 337

8.2.6

Bereiche und Hierarchien ........................................................................ 338

X

Inhaltsverzeichnis 8.3

(Un) Sicherheit und Gefährdung................................................................. 339

8.3.1

Der Jugendtreff als ,Zone der Unsicherheit‘ ........................................ 339

8.3.2

Gefährdung ................................................................................................ 341

8.4

Die Körperperspektive ................................................................................. 344

8.5

BeDeuten......................................................................................................... 345

8.5.1

BeDeuten und Klassifizieren .................................................................. 347

8.5.2

BeDeuten als Wahr-sprechen ................................................................. 353

8.5.3

BeDeuten als (signifizierende) Praxis .................................................... 358

8.5.4

Körper BeDeuten – Diskussion ............................................................. 366

8.6

Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben ........................................ 369

8.6.1

Körper zu sehen geben – ,Verwertung‘ ................................................ 371

8.6.2

Vergleichende Prüfung ............................................................................ 381

8.6.3

Körper zu sehen geben – Führungen.................................................... 384

8.6.4

Körper im Einsatz – Tanz....................................................................... 388

8.6.5

Körper im Einsatz – Musik machen ..................................................... 395

8.7

Körper im Einsatz II – Körper der Nicht-Zugehörigkeit ...................... 398

8.7.1

Körper der Nicht-Zugehörigkeit – Marginalisierte Männlichkeit .... 400

8.7.2

„Ey du hässliche Missgeburt, geh weg!“ ............................................... 403

8.7.3

,Die Schlampe‘ ........................................................................................... 405

8.7.4

,Reinheitsregel‘........................................................................................... 408

8.8

,Professioneller Ausschluss‘?........................................................................ 410

8.8.1

,So-tun-als-ob‘ ........................................................................................... 412

8.8.2

,So-tun-als-ob‘ – Ausschluss vermeiden ............................................... 414

8.9

Körper der Nicht-Zugehörigkeit................................................................. 415

8.9.1

Klassenspezifische Körper ...................................................................... 418

8.9.2

Verkommenheit – „Die haben keine Werte hier“ .............................. 422

8.9.3

Körper der Nicht-Zugehörigkeit – ,Die Asozialen‘ ............................ 425

8.9.4

Körper der Nicht-Zugehörigkeit – ,Zigeuner‘ ..................................... 427

8.9.5

Körper im Einsatz I und II – Diskussion ............................................ 431

Inhaltsverzeichnis

XI

9

Körper und Soziale Ungleichheit – Diskussion ...................................435

10

Körper und Soziale Ungleichheit – ein vorläufiges Fazit .....................447

Bibliographie ................................................................................................457

Einleitung Körper spielen in sozialpädagogisch geführten Debatten um soziale Ungleichheitsund Ausschließungsverhältnisse eine weitestgehend vernachlässigte Rolle. Dies ist erstaunlich, da doch gerade der Körper in seiner Sichtbarkeit das letzte und vielleicht wichtigste Strukturmerkmal von Prozessen sozialer Ausgrenzung ist (vgl. Bude 1998, S. 376). Körper spielen auch in sozialpädagogischen Zusammenhängen eine wesentliche Rolle, so die zugrunde liegende Annahme. Für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ist die Bedeutung des Körperlichen für die Auseinandersetzung mit sozialer Benachteiligung bisher nur unzureichend berücksichtigt worden. So lässt sich fragen: Wie werden in sozialpädagogischen Handlungsfeldern über den Körper soziale Ungleichheiten reproduziert sowie Ein- und Ausschlüsse bestimmter Personen(gruppen) generiert? Welche Körper bieten Anlass für (sozial-) pädagogisch professionelle Zugriffe? Wie werden darüber ,normative‘ Adressat*innenkonzepte verhandelt? Welche gesellschaftlichen Ordnungen verbergen sich hinter den Wahrnehmungs- und Thematisierungsweisen von Körpern? Im Zentrum dieser Arbeit steht eine Perspektive, die Körper als Produkt und Produzent von Gesellschaft begreift. Dass Körper sozial hervorgebracht werden, genauso wie sie an der Hervorbringung des Sozialen beteiligt sind, gilt als eine der zentralen Einsichten der Soziologie des Körpers. Die innerhalb dieser geführten Auseinandersetzungen heben gemeinhin darauf ab, eine vom Körper ausgehende Theorie des Sozialen zu erarbeiten (vgl. Gugutzer 2015; Gugutzer, Klein und Meuser 2017; Schroer 2005). Die Materialität des Körpers gilt nicht selten als Evidenz einer vermeintlichen ,Natürlichkeit‘ von sozialen Unterscheidungen und bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen. Gerade über Körperlichkeit werden soziale Zuschreibungen naturalisiert und als ,biologische Andersartigkeit der Anderen‘ festgeschrieben (vgl. Terhart 2014, S. 66). Dies hat mitunter auch zur Folge, dass im Alltag an Körpern Einzelner die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen festgemacht wird, indem ,körpergebundene Zeichen‘ gelesen werden. Die Unterscheidungen in ,Wir‘ und ,Andere‘ und damit einhergehende Ein- und Ausschließungen werden nämlich durch unterschiedliche Körper und den Umgang mit ihnen mitbestimmt. Soziale Unterscheidungen fungieren folglich als Grundlage der Organisation des Sozialen. Sie sind zugleich für die ,Seinsordnung‘ einer Gesellschaft relevant, denn sie regulieren den Zugang zu Ressourcen und gelten somit als Basis gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeiten. Sie bestimmen zudem auch, wie jemand leben muss um anerkennbar zu sein (vgl. Machold 2015). Bedeutungsvoll werden soziale Unterscheidungen jedoch nicht einfach von alleine, sondern auch, weil sie verschiedene Bewertungen erfahren, die wiederum nicht losgelöst von den jeweiligen Bedingungen zu betrachten sind. Hinter diesen Wahrnehmungen und Bewertungen von Körpern verbirgt sich zum einen eine spezifische soziale Ordnung, die zum anderen damit auch Formen der Ein- und Ausschließung bewirkt. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. B. Burghard, Körper und Soziale Ungleichheit, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 19, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31200-8_1

2

Einleitung

Die vorangestellten Überlegungen lassen den Schluss zu, dass auch Zuschreibungen und Klassifizierungen von Körperlichkeit mit Risiken im Hinblick auf soziale Benachteiligung und Teilhabe verbunden sind. Der 15. Kinder- und Jugendbericht weist ausdrücklich darauf hin, dass es nötig ist, ungleiche Bedingungen kritisch in den Blick zu nehmen – nicht zuletzt um sie politisch und sozialpädagogisch bearbeitbar zu machen (vgl. BMFSFJ 2017, S. 95). Dem Bericht ist indes auch zu entnehmen, dass die Konstruktion und Verwendung von Kategorien und ihrer Klassifikationen sowie die Darstellung von gruppenspezifischen Teilhaberisiken kritisch zu reflektieren ist, insbesondere dann, wenn mit ihnen Prozesse sozialer Abwertung und gesellschaftlicher Ausgrenzung verbunden sind (vgl. BMFSFJ 2017, S. 96).1 Gerade deshalb ist eine Inblicknahme der sozialen Verhältnisse erforderlich, innerhalb derer junge Menschen heranwachsen und die die Möglichkeiten ihrer gesellschaftlichen Teilhabe in spezifischer Weise präformieren. In der Lebensphase Jugend wird die Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit besonders virulent. „Jugend findet körperlich statt und dokumentiert sich dort, wo Jugendliche sich ausdrücken – und dies tun sie immer mit ihrem Körper“ (Niekrenz und Witte 2011, S. 11). Aus dieser Perspektive scheint es wunderlich, dass die Bedeutung von Körper(n) für die Auseinandersetzung mit Jugend bisher nur unzureichend berücksichtigt ist. Der Körper ist in der Lebensphase Jugend nicht nur zentrales Medium der Zuschreibung und Klassifizierung, sondern auch ein zentrales Instrument, das eingesetzt wird, um sich sozial zu positionieren. Damit wird verknüpft, „dass junge Menschen eine Integritätsbalance zwischen subjektiver Freiheit und sozialer Zugehörigkeit ausbilden sollen“ (BMFSFJ 2017, S. 96). Sich sozial zu positionieren markiert indes eine wesentliche Kernherausforderung des Jugendalters. Daran schließen sich unweigerlich weitere Fragen an: Wie positionieren Jugendliche sich sozial über ihre Körper? Über welche Möglichkeiten der sozialen Positionierung verfügen sie innerhalb der konkreten sozialen Bedingungen? Jugendtheoretischen Debatten zufolge nutzen Jugendliche insbesondere ihre Körper, um etwa Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen herzustellen und um sich sozial zu positionieren. Zugleich lassen körpersoziologische Perspektiven erkennbar werden, dass Jugendliche im konkreten Tun immer auch die sozialen Bezüge repräsentieren, in denen sie agieren, so auch Zugehörigkeit(en) zu sozialen Gruppen. Ihre Körper haben eine gesellschaftliche Dimension, die auf vielfältige Weise mit Machtverhältnissen berührt ist (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 7). Damit einher gehen Fragen danach, wer wann und unter welchen Umständen dazu gehört und bei wem die Zugehörigkeit immer wieder in Frage gestellt wird (vgl. Terhart 2014, S. 11). Fasst man 1

Denn nicht zuletzt sind auch wissenschaftliche oder mediale Darstellungen oder politische Auseinandersetzungen als Räume der Konstruktion spezifischer Gruppen und somit machtvolle Akteur*innen der Reproduktion und Verfestigung von Marginalisierung und Ausgrenzung zu perspektivieren (vgl. BMFSFS 2017, S. 95).

Einleitung

3

Zugehörigkeit als Teil von grundlegenden Normierungsprozessen, in denen das ,Normale‘ und das davon ,Abweichende‘ fortlaufend reproduziert wird, dann gilt auch ,Normalität‘ als Beschreibung und Vorschrift einer Ordnung (vgl. Dausien und Mecheril 2006, S. 162). Als solche legt sie fest, was Norm ist und was davon abweicht (vgl. Terhart 2014, S. 11). Dies lässt sich in der Annahme zuspitzen, dass Jugendliche sich in ihren alltäglichen Praktiken innerhalb einer sozialen Ordnung positionieren und sie darin zugleich als zugehörig eingeschlossen oder als nicht-zugehörig ausgeschlossen werden. Nicht zuletzt wird dies über ihre Körper und von der gesellschaftlichen Ordnung, die sich daran festmacht, mitbestimmt (vgl. Schmincke 2009). Diese Aspekte werden hier aufgenommen und die körperliche Dimension sozialer Ungleichheits- und Ausschließungsverhältnisse in dem pädagogischen Handlungskontext der Offenen Kinder- und Jugendarbeit theoretisch und empirisch in den Blick genommen. Dabei wird auch darauf fokussiert, in welcher Weise Körper in den Blick der professionell Handelnden rücken. Eine sozialwissenschaftlich informierte Betrachtung der Dimension des Körperlichen im Hinblick auf Ein- und Ausschließung in Theorie und Empirie der Offenen Kinder- und Jugendarbeit steht bislang aus; und ebenso im Kontext der Kinder- und Jugendhilfeforschung markiert die Auseinandersetzung mit den herausgestellten Dimensionen des Körperlichen eine Leerstelle. An diese setzt die vorliegende Arbeit an, deren Thema das Körperliche als Dimension von Ein- und Ausschließung darstellt. Konkret wird dem zentralen Erkenntnisinteresse nachgegangen, wie Prozesse der Ein- und Ausschließung im Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit über Körper verhandelt und wie darüber gesellschaftliche Ordnungen konstituiert und reproduziert werden. Dafür gilt die körpersoziologische Einsicht grundlegend, dass Körper nicht in ,Naturform‘ in Erscheinung treten, sondern von sozialen Verhältnissen geprägt werden. Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Ethnizität und Migration, Alter, Behinderung oder Jugend finden ihren Ausdruck an Körpern. So pointieren auch Hahn und Meuser (2002), dass Körper die sozialen Bezüge repräsentieren, in denen sie agieren. Überdies werden diese Unterscheidungen zumeist mit körperlichen Aspekten gekoppelt; sie werden an Körpern gelesen und als körperliche Natur ontologisiert (vgl. Hark und Villa 2017, S. 15). Diese Perspektiven werden zunächst theoretisch bearbeitet, um dann in einer ethnographischen Studie in einem offenen Kinder- und Jugendtreff konkretisiert zu werden. Den empirischen Ausgangspunkt bildet sodann ein Offener Kinder- und Jugendtreff. Ein Jugendtreff scheint in besonderer Weise geeignet, da er zum einen als offener Raum potenziell allen Jugendlichen zur Verfügung steht und die Praktiken von Jugendlichen dort eine spezifische Körperlichkeit aufweisen (vgl. Cloos 2009). Überdies verweist dieses pädagogische Handlungsfeld, ähnlich wie andere spezifische Handlungsfelder des Körpers, so etwa des Sports oder des Tanzens, grundlegend auf die körperliche Dimension sozialer Praxis (vgl. Klein 2010, S. 457). Insgesamt richtet

4

Einleitung

sich der ethnographische Blick innerhalb der Studie auf den Offenen Kinder- und Jugendtreff als Ganzes; das heißt, dass innerhalb der Darstellung der Ergebnisse zum einen eine lebensweltorientierte Sicht auf die Adressat*innen eingenommen wird, um in Bezug auf das beforschte, spezifische pädagogische Handlungsfeld Erkenntnisse und Zusammenhänge zu gewinnen, zum anderen fließen auch Sichtweisen der Professionellen auf die Adressat*innen ein. Somit repräsentiert die Studie unterschiedliche Facetten des jugendpädagogischen Alltags, der ohne die Körperlichkeit der Adressat*innen genauso wenig denkbar wäre, wie ohne die der Professionellen. Zum Aufbau der Arbeit: Für die Theoretisierung ebenso wie für die empirische Annäherung an die dargelegte Forschungsfrage erfolgt im ersten theoretischen Kapitel eine Auseinandersetzung mit dem Körper als Gegenstand der Sozialwissenschaften. An dieser analytischen Grundlegung wird die weitere Argumentation orientiert. Somit können Prozesse der Ein- und Ausschließung von Körpern im offenen Kinder- und Jugendtreff sowohl als Resultat inkorporierter sozialer Teilungsprinzipien sowie als Ausdruck für eine an spezifischen Normen und Unterscheidungen ausgerichtete soziale Ordnung betrachtet werden (Kapitel 1). Insofern es um die Analyse der Bedeutung des Körpers im Kontext von Praktiken der Ein- und Ausschließung geht, ist eine Diskussion von Theorien sozialer Ungleichheit erforderlich, um darauf aufbauend Ein- und Ausschlüsse auf sozialer und symbolischer Ebene verorten zu können und ferner die (ein- und ausschließende) Macht von Klassifikationen in den Blick zu nehmen (Kapitel 2). Der empirische Zugang zur gewählten Thematik lässt sich durch die sozialen Praktiken vornehmen. Für die Analyse wird sodann ein praxistheoretisches Verständnis sozialer Praktiken erarbeitet, in dem die Körperlichkeit sozialer Praktiken sowie deren Performativität in besonderer Weise Berücksichtigung findet. Auch Böllert und Thole (2013) weisen darauf hin, dass Gesellschaft, Subjektivität sowie die ,das Soziale‘ mitkonstituierenden Ordnungen sich über soziale Praktiken reproduzieren (vgl. ebd., S. 202) (Kapitel 3). Im Anschluss daran findet im vierten Kapitel eine Darlegung jugendtheoretischer Diskurse unter Berücksichtigung körpersoziologischer, ungleichheitstheoretischer und praxeologischer Sichtweisen statt, um auf diese Weise einen theoretischen Zugang zu den Dimensionen des Körperlichen im Hinblick auf Ein- und Ausschließung zu erhalten. Innerhalb einer Darstellung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit werden Merkmale des pädagogischen Handlungsfeldes herausgestellt (Kapitel 5). Die so systematisierten Begriffe und erarbeiteten Zusammenhänge bilden den heuristischen Rahmen dieser Arbeit, der sodann die Grundlage für die empirische Analyse darstellt (Kapitel 6). Im zweiten empirischen Part der Arbeit werden diese Theoretisierungen anhand ethnographischer Daten konkretisiert, die im sozialpädagogischen Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit generiert wurden (Kapitel 7). Ethnographische Zugänge – und die damit am häufigsten verknüpfte Methode der teilnehmenden Be-

Einleitung

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obachtung – erweisen sich als prädestiniert um Körper zu beobachten und eine „genaue Beschreibung sozialer Ordnung“ (Kelle 1997, S. 199) abzugeben. Die Auswertung der empirischen Daten erfolgt in Anlehnung an die zirkulär und offen angelegte Methode der Grounded Theory, an der sich im Wesentlichen in methodologischer Hinsicht orientiert wurde (Kapitel 7). Insgesamt werden Empirie und Theorie im Anschluss an Kalthoff (2008) nicht getrennt voneinander gedacht, sondern theoretische und empirische Forschung als ineinander verwoben betrachtet (vgl. ebd., S. 10). Im Rahmen der interpretativen Auswertung des empirischen Datenmaterials werden Einblicke in die körperliche Dimension von Prozessen der Ein- und Ausschließung gewonnen und Zusammenhänge erkennbar gemacht. Auf diese Weise erfolgt in der Arbeit eine theoretische und empirische Annäherung an die Bedeutung des Körperlichen für Prozesse der Ein- und Ausschließung im Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit vor dem Hintergrund einer körpersoziologischen Perspektive (Kapitel 8). Mitsamt weisen beide Teile eine relative Eigenständigkeit auf, jedoch zielen sie darauf ab, das beforschte pädagogische Handlungsfeld für die Dimensionen des Körperlichen zu öffnen. Die Arbeit findet ihren Abschluss im Rahmen einer Diskussion (Kapitel 9) und einem vorlläufigen Fazit, das im Hinblick auf die Zusammenhänge von Körper und Sozialer Ungleichheit in sozialpädagogischen Kontexten gezogen wird (Kapitel 10). Durch eine theoretisch-analytische sowie empirisch-ethnographische Herangehensweise an den Körper werden dem Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit relevante Anschlussperspektiven geboten. Nicht zuletzt wird damit eine Öffnung der körperlichen Dimension erreicht und somit ein Beitrag für die deutsche Kinder- und Jugendhilfeforschung geleistet. Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die im Rahmen der Studie präsentierten Deutungen als Impulse zu verstehen sind. Mit diesen wird eine spezifische, für das Erkenntnisinteresse relevante, Lesart vorgeschlagen. Es geht also nicht darum Ergebnisse zu präsentieren, die das ergründete Phänomen auf ein ,So-Sein‘ fixieren. Vielmehr soll bewusst gehalten werden, dass diese Arbeit im Kontext der Wissenschaft situiert ist und so auch eine spezifische Sicht auf die soziale Welt präsentiert. Anschließend an Kalthoff (2008) sollte die Konstruktion eines wissenschaftlichen Gegenstandes durch die Wissenschaft selber kritisch in den Blick genommen werden. Dies zu reflektieren hebt darauf ab, sich des biographischen, geschlechtlich, kulturell, sozial und historisch begrenzten eigenen Standortes im sozialen Raum und des daraus resultierenden Denkhorizontes bewusst zu werden, nicht zuletzt um Grenzen des Denkbaren zu erkennen und zu erweitern (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 111).

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Körper theoretisch

Inhalt des ersten theoretischen Kapitels der Arbeit ist eine Auseinandersetzung mit dem Körper als Gegenstand der Sozialwissenschaften. Es werden zentrale (körper-) soziologische Perspektiven auf den Körper mit dem Ziel präsentiert, relevante Begriffe der Körpersoziologie für die Analyse zu erarbeiten. Dabei wird auch das Verhältnis von Körper und sozialer Ordnung herausgestellt. Mitsamt führt das Kapitel durch ein recht breites sowie heterogenes Feld theoretischer Positionen, die sich hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Standpunkte sowie der wissenschaftssystematischen Positionierungen unterscheiden. Es versammelt Arbeiten, die im Kontext des Strukturalismus, des Poststrukutalismus sowie der Phänomenologie und Anthropologie zu verorten sind und innerhalb derer Körper auf sehr unterschiedliche Weisen thematisch werden. Hierbei werden die sehr verschieden gelagerten Perspektiven nicht als einander ausschließend, sondern als einander ergänzend gelesen und in den heuristischen Rahmen der Arbeit integriert. Sie treffen sich nämlich darin, dass sie spezifische Sichtweisen auf die Bedeutung(en) von Körpern im Kontext sozialer Ordnungen, einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse frei legen.2 Eine erste detailliertere Diskussion erfahren die Arbeiten von Pierre Bourdieu. Diese sind im Kontext des Strukturalismus zu verorten. Bourdieus Sozialtheorie bietet nicht nur allgemeine Einblicke auf Fragen danach, wie sich das Verhältnis von sozialer Ungleichheit und Körper theoretisch und empirisch deuten lässt oder gar die Inkorporation des Sozialen zu denken ist. Seine Arbeiten veranschaulichen auch, dass am Körper ansetzende Klassifikationen – die als Resultat der Inkorporation sozialer Strukturen, einschließlich ihrer Ordnungsmuster – als stigmatisierendes Element der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit auszulegen sind (vgl. Neckel und Soeffner 2008). Eingedenk der Konzeptionalisierungen der sozialen Felder sowie unterschiedlicher Kapitalien lässt sich der Körper ebenso als eine eigenständige Kapitalform auslegen, die innerhalb alltäglicher sozialer Praktiken Distinktionsgewinne verspricht. Dass innerhalb von Praktiken im Alltag Klassifikationen als Normen wirkmächtig werden, plausibilisiert Bourdieu damit, dass er in diesen inkorporierte soziale Strukturen erkennt. Dass diese entlang der Dichotomie ,normal‘ und ,abweichend‘ strukturiert sind und Körper hervorbringen, lassen die Arbeiten des französischen Philosophen Michel Foucault erkennbar werden. Diese im Kontext des Poststrukturalismus zu verortenden Zugänge veranschaulichen in Bezug auf den Körper, dass und inwiefern sich der Körper als Produkt machtvoller Handlungen und Regulierungen begreifen lässt und Wahrnehmungsweisen von Körpern entlang von Normen strukturiert sind. Des Weiteren legen seine Arbeiten eine Perspektive auf Körperinszenie-

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Die unterschiedlich gelagerten Sichtweisen werden immer wieder in ihren jeweiligen geistes- und sozialwissenschaftlichen Kontexten verortet.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. B. Burghard, Körper und Soziale Ungleichheit, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 19, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31200-8_2

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Körper theoretisch

rungen (von zum Beispiel Jugendlichen) frei, in der diese nicht lediglich als Technologien des Selbst diskutierbar werden, sondern überdies als Praktiken, mit denen Personen sich im Gefüge des Sozialen sozial positionieren. Auf Fragen danach, inwiefern sich soziale Bedingungen und Normen am Körper materialisieren und diesen erst in Erscheinung treten lassen, bieten die poststrukturalistischen Arbeiten von Judith Butler Antworten. Mitsamt hebt Butler die Bedeutung von kulturellen Normen für die Wahrnehmung und Sichtbarkeit des Körpers hervor (vgl. Butler 2010). Dass sowohl strukturalistische wie auch poststrukturalistische Perspektiven – wenn auch unterschiedlich gelagert – mit der Kritik konfrontiert wurden, Körper bloß als Objekt sozialer Prägungsprozesse zu konzeptionalisieren und so einer theoretische Engführung Vorschub zu leisten, wird im vorliegenden Kapitel (primär theoretisch) aufgegriffen. Sodann finden anthropologische und phänomenologische Theorien zu Leiblichkeit in diesem theoretischen Teil der Arbeit Berücksichtigung. In die Analyse fließen sie nicht ein. Bevor an dieser Stelle lediglich angedeutete Sichtweisen auf Körper vertieft werden, gilt es einige Grundannahmen der Soziologie des Körpers zu präsentieren. 1.1

,Body turn‘? Der Körper als Gegenstand der Soziologie

Der Körper als Gegenstand der soziologischen Forschung steht im Mittelpunkt der sich unlängst ausdifferenzierenden Soziologie des Körpers. Diese beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen und kulturellen Einbettung menschlicher Körper (vgl. Gugutzer 2015, S. 6). Dabei geht sie von einem wechselseitigen Durchdringungsverhältnis von Körper und Gesellschaft aus (vgl. Gugutzer 2006). Ihr grundlegendes Ziel besteht zum einen darin herauszuarbeiten, wie der menschliche Körper als gesellschaftliches Phänomen zu verstehen ist (vgl. Guguter 2015, S. 6). Zum anderen heben die unterschiedlich gelagerten Auseinandersetzungen darauf ab, Körper systematisch als Kategorie in Konzeptionen von Sozialität einzubeziehen (vgl. Gugutzer 2006, S. 11). Mitsamt systematisiert sie den menschlichen Körper in zweifacher Hinsicht als ein gesellschaftliches Phänomen: Als Produkt und Produzent von Gesellschaft (vgl. Gugutzer 2015, S. 6). Die Soziologie des Körpers zählt zu einem vergleichsweise jungen Teilgebiet der Soziologie, das sich erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zu entfalten begann (vgl. Gugutzer 2015, S. 9). Da die klassische Soziologie der Verkörperung sozialer Akteur*innen in den jeweiligen Gesellschaftstheorien explizit sehr wenig Bedeutsamkeit zumaß, diagnostizierte etwa Chris Shilling (1993, S. 19) eine ,absent presence‘ des Körpers innerhalb soziologischer Theorietraditionen. Im anglo-amerikanischen Diskurs wurde an diese ,Randständigkeit‘ des Körpers in der soziologischen Theoriebildung bereits in den 1980er Jahren angeknüpft und dessen Theoriefähigkeit diskutiert. Insbesondere Brian S. Turner (1984), Mike Featherstone, Mike Hepworth, Bryan Turner (1991) und Chris Shilling (1993) sowie die von Bryan Turner herausgegebene

,Body turn‘? Der Körper als Gegenstand der Soziologie

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Zeitschrift ,The body and society‘ regten die Debatten um eine vom Körper ausgehende Theorie des Sozialen an. So pointiert Shilling: „The body remains one of the most contested concepts in the social sciences: its analysis has produced an intellectual battleground over which the respective claims of post-structuralism and postmodernism, phenomenology, feminism, socio-biology and cultural studies have fought“ (Shilling 2005, S. 6). Dass Körper vielerlei theoretische Anschlussperspektiven bieten, macht sie theoriefähig. Im deutschsprachigen Raum findet die ‚Soziologie des Körpers‘ ihre Anfänge mitunter in den kulturanthropologischen Arbeiten von Diethmar Kamper und Christoph Wulf (1982), in denen von einer ‚Wiederkehr des Körpers‘ die Rede ist. Karl Heinz Bette hingegen erkennt eine eher ambivalente Thematisierung des Körpers zwischen Verdrängung und Aufwertung (Bette 2005). Diese somit von verschiedenen Seiten angestoßenen Debatten evozierten Anfang der 1990er Jahre einen ‚body turn‘ (Gugutzer 2006) wissenschaftlicher Theoriebildung, insbesondere in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften.3 Im Zuge des ,body turns‘ (vgl. Gugutzer 2015) rückte der menschliche Körper zunehmend in den wissenschaftlichen Blick. Diese verstärkte Hinwendung zum Körper liegt zum einen in gesellschaftlichen und kulturellen sowie zum anderen in bestimmten geistes- und kulturwissenschaftlichen Kontexten begründet (vgl. Gugutzer 2015); sie sind folglich inner- und außertheoretischer Natur. Außertheoretische und somit gesellschaftlich-kulturelle Gründe sind die zunehmende Popularisierung des Körpers in verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen, so etwa der Transformation körperlicher Arbeit in der nachindustriellen Gesellschaft, einer zunehmenden Hinwendung zum Körper im Rahmen spätkapitalistischer Freizeit- und Konsummuster oder der Entwicklung biomedizinischer Technologien zur ,Optimierung‘ der Körper. Anschließend an individualisierunsgtheoretische Deutungen avancieren Körper durch die Erosion traditioneller Bindungen und Werte zu einem reflexiven Identitätsprojekt (vgl. Schmincke 2009, S. 94).4 Impulse innertheoretischer Debatten speisen sich insbesondere aus der Postmoderne,

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Anschließend an Gugutzer (2006) vollzieht sich der ,body turn‘ auf drei Ebenen, wenngleich diese Ebenen nicht als abgeschlossen zu betrachten sind: Erstens wird der Körper in der Soziologie vermehrt als theoretischer und empirischer Forschungsgegenstand behandelt, was sich in einer enormen Zunahme an soziologischen Untersuchungen, Publikationen und Tagungen ausdrückt (vgl. ebd., S. 10). Auf der Ebene soziologischer Theoriebildung ist dieser zweitens noch nicht ganz vollzogen. Dies würde eine systematische Integration der Kategorie Körper in der Konzeption von Sozialität bedeuten und in einer vom Körper ausgehenden Theorie des Sozialen münden. Dies liegt, so Gugutzer (2006), bislang jedoch lediglich vereinzelt vor. Auf der dritten Ebene, der Ebene der Epistemologie, hat sich der ,body turn‘ kaum vollzogen. Auf dieser Ebene müsste sowohl auf das ,doing sociology‘ als auch auf die Frage danach fokussiert werden, wie Körperlichkeit und Leiblichkeit von Soziolog*innen methodisch genutzt werden könnte, beziehungsweise müsste, um beispielsweise im Medium der eigenen Körperlichkeit und Leiblichkeit zu soziologischen Erkenntnissen zu gelangen (vgl. ebd., S. 11). Gugutzer (2015) zufolge zählen zu den gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründen, die zur zunehmenden Hinwendung zum Körper führten, erstens der Übergang von der modernen Industriege-

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Körper theoretisch

sowie aus vernunftkritisch ausgerichteten Denkbewegungen, wie etwa dem Feminismus oder dem Poststrukturalismus. In sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen zur Postmoderne wurde die cartesianische Trennung von Körper und Geist und die damit einhergehende Priorisierung des Geistes problematisiert. Diese Kritik am cartesianischen Dualismus fand auch Eingang im intellektuellen Programm des Feminismus. Für die Soziologie des Körpers sind die innerhalb dieser geführten Diskussionen nicht nur deshalb von enormer Bedeutung, weil sie mit dem Geschlechterkörper ein zentrales Forschungsfeld eröffnen, sondern insbesondere deswegen, weil sie zur Infragestellung der ontologischen Basis von Geschlecht und der Geschlechterdifferenz beigetragten haben (vgl. Gugutzer 2015, S. 48-49). Nicht zuletzt gilt der Sozialkonstruktivismus als vorherrschende erkenntnistheoretische und methodologische Position in der Soziologie des Körpers (vgl. vertiefend Gugutzer 2015, S. 49-50). Es lässt sich resümierend festhalten, dass die zunehmende sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Körper sich mitsamt als Reaktion auf eine theorieimmanente Vernachlässigung sowie als Ausdruck auf gesellschaftliche Veränderungen deuten lässt. 1.1.1

Körper als Produkt und Produzent von Gesellschaft

Die Soziologie des Körpers befasst sich mit dem wechselseitigen Durchdringungsverhältnis von Körper und Gesellschaft. Dabei fasst sie dieses Verhältnis als einanander verschränkt.5 Das zentrale Erkenntnisinteresse der Soziologie des Körpers besteht zunächst darin zu ergründen, wie der menschliche Körper gesellschaftlich und

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sellschaft zur postindustriellen oder postmodernen Gesellschaft, welche zweitens durch eine spezifische Konsumkultur zu charakterisieren ist. Drittens ist den Massenmedien eine zunehmende Bedeutung beizumessen. Zu erwähnen ist viertens die Populärkultur, die in einem engen Zusammenhang mit der Konsumkultur und den Massenmedien steht. Als wirkungsvoll zeigt sich auch der ,Wertewandel‘, welcher sechstens Individualisierungsprozesse prägt und zugleich von diesen geprägt wird. Für den Körperdiskurs ist siebtens die Frauenbewegung und die durch diese angestoßenen Debatten bedeutungsvoll (vgl. ebd., S. 39-46). Weitere Gründe der verstärkten Thematisierung des Körpers sieht Gugutzer (2015) achtens im zunehmenden Altern der Bevölkerung in postindustriellen Gesellschaften sowie neuntens in spezifischen Zivilisationskrankheiten, die gesundheits- und sozialpolitische Folgen mit sich gebracht haben. Zehntens haben Fortschritte in der Reproduktions- und Biotechnologie dazu beigetragen, dass die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber dem Körper zugenommen hat (vgl. ebd., S. 39-46). Die unterschiedlich gelagerten Entwicklungsstränge lassen sich Gugutzer (2015) zufolge in der Einsicht bündeln, dass der Körper zum reflexiven Identitätsprojekt geworden ist (vgl. Gugutzer 2015 bezugnehmend auf Giddens 1991). Ein abschließender elfter Grund der zunehmenden Thematisierung des Körpers besteht Gugutzer (2015) zufolge darin, dass zunehmend Frauen Soziologie studieren und im Wissenschaftsbetrieb arbeiten, die durch Debatten der Frauen- und Geschlechterforschung inspiriert sind und so Auseinanderstzungen mit, um und am Körper vorantreiben (vgl. ebd., S. 46). Damit ist eine grundlegende Frage nach dem Verhältnis von Körper und Sozialität aufgeworfen. Die Annahme von Körper als Produkt und Produzent des Sozialen rückt dieses Verhältnis stärker in den Blick. In einem weiten Sinn ist Sozialität als Gesellschaftlichkeit von Menschen verstehbar. Sozialität umfasst Prozesse der Sinn- und Bedeutungszuweisung sowie Relationen zwischen Akteure*innen und deren Verfestigung in Form von Institutionen und Makrostrukturen (vgl. Terhart 2014, S. 33). In

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kulturell eingebettet und als gesellschaftliches Phänomen zu begreifen ist (dazu vertiefend Gugutzer 2004, 2006, 2015; Schroer 2005). 6 Überdies heben die vielfältigen Auseinandersetzungen darauf ab, eine vom Körper ausgehende Theorie des Sozialen zu entwickeln.7 In einer vom Körper ausgehenden Gesellschaftstheorie werden die (sich wechselseitig bedingenden) Mechanismen, die auf Körper einwirken und ihn so zu einem sozialen Phänomen machen, in den Blick genommen. Es wird auch der Frage nachgegangen, wie Sozialität durch körperliche Praktiken und Empfindungen hergestellt wird (vgl. Gugutzer 2015, S. 7). Dafür wird der Körper als Produkt und Produzent von Gesellschaft dimensioniert. Als Produkt gerät der Körper als gesellschaftlich beziehungsweise sozial geformt oder geprägt sowie symbolisch vermittelt in den Blick. Als Produzent von Gesellschaft wirkt er aktiv an der Re-Produktion des Sozialen sowie der sozialen Wirklichkeit mit.8 Dass es sich bei der Trennung um eine

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sozialphilosophischer Perspektive wird der Begriff enger gefasst und markiert die menschliche Abhängigkeit von Anderen (vgl. ebd., S. 33). Hinweise zur Körperlichkeit von Sozialität sind auch innerhalb der jeweilig unterschiedlich gelagerten Sozialtheorien von Helmuth Plessner, George Herbert Mead, Pierre Bourdieu und Erving Gofman vorfindbar. Somit gerät Körper zum einen als sozial hergestelltes und kulturell geformtes Phänomen sowie zum anderen als sozialwissenschaftlicher Gegenstand in den Blick (dazu vertiefend Gugutzer 2015, Schroer 2005, Hahn und Meuser 2002). Seit den 1990er Jahren finden sich in den Sozialwissenschaften zunehmend mehr Arbeiten um den Körper als Gegenstand, so beispielsweise im geschlechtertheoretischen Diskurs (Villa 2011; Hirschauer 1993; Lindemann 2011; Jäger 2004; zu Körper, Sport, Tanz und Bewegung sind die Arbeiten von Klein (2002), Alkemeyer (2009, 2010) oder Schmidt (2002) instruktiv, identitätstheoretische Lesarten finden sich bei Robert Gugutzer (2002). Eine so gefasste gesellschaftstheoretisch ausgerichtete Körpertheorie fokussiert weniger auf den individuellen Körper, sondern auf das wechselseitige Durchdringungsverhältnis von Körper und Gesellschaft. Unter beiden Perspektiven systematisiert Robert Gugutzer (2006) acht analytische Dimensionen, in denen die Soziologie den Körper thematisiert. Ansätze, in denen Körper als Produkt erforscht wird, analysieren Körperformungen im Hinblick auf die Fragestellung, wie Gesellschaft auf den Körper einwirkt. Körper erscheint in dieser Perspektive als Objekt von Strukturen, Institutionen und Technologien. Auf die diskursive Hervorbringung des Körpers als Objekt von Wissensformen und Deutungsmustern richtet sich die Dimension der Körperdiskurse. Forschungsthemen, in denen Körper als Thema von subsystemischen Kommunikationen betrachtet werden, beziehen sich auf Körperumwelten und diskutieren, wie Körper kommuniziert wird. Eine weitere Dimension der Soziologie des Körpers bezieht sich auf Körperrepräsentationen. In dieser Sichtweise tritt der Körper als Träger von Zeichen und Zuschreibungen in Erscheinung. Es wird danach gefragt, was der Körper symbolisiert. Nicht zuletzt zeichnet sich die Soziologie des Körpers dadurch aus, dass die Bedeutung des Leibes systematisch einbezogen wird. Theorien zu Leiblichkeit berücksichtigend richtet sich das forscherische Interesse auch auf den Leib beziehungsweise auf den Körper als Ort von Leiberfahrungen. Hier gilt die Frage danach vordergründig, wie der Körper gespürt wird. Mitsamt bieten anthropologische und phänomenologische Differenzierungen in Körper und Leib die Möglichkeit eine Perspektive auf die Verschränkung von natürlich und kulturell geprägtem Körper einzunehmen (vgl. Gugutzer 2015, S. 15). Bei den zuletzt genannten Dimensionen steht die Vergesellschaftung des Körpers im Mittelpunkt. Eine Wendung erfährt die Konzipierung des Körpers bei der Dimension der Körperrepräsentationen. In dieser geht es vornehmlich um die Verkörperung der Gesellschaft. Der Körper ist zum einen Produkt gesellschaftlicher Strukturen, Institutionen und Diskurse. Zum anderen ist er zugleich immer auch symbolische Manifestation derselben (vgl. Gugtutzer 2006, S. 15). In dieser Perspektive wird danach gefragt, was der Körper symbolisiert und wie dieser als nicht-intendierter Träger von Zeichen

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analytische Trennung handelt, und der menschliche Körper und körperliches Handeln realiter immer sowohl Produkt als auch Produzent gesellschaftlicher Strukturen sind, darauf verweist Gugutzer (2006, S. 139).9 1.1.2

Der Körper als Produkt von Gesellschaft

An diese körpertheoretische Doppelperspektive schließen sich entsprechende theoretische Perspektiven an: Körper ist Produkt von Gesellschaft, da die Umgangsweisen mit dem Körper, das Wissen über ihn und das Spüren des Körpers von gesellschaftlichen Strukturen – dazu zählen Ungleichheits- und Machtstrukturen, institutionelle Ordnungen, Werte und Normen, Technologien und Wissenssysteme – geprägt sind (vgl. Gugutzer 2015, S. 6). Einem so gefassten Verständnis zufolge lassen sich unterschiedliche Sichtweisen auf Körper entfalten. Historische Zugehensweisen zum Körper finden sich in den Ausführungen des französischen Ethnologen Marcel Mauss (vgl. Mauss 1934/1975). Dieser zeichnet nach, dass Körperpraktiken kulturell variieren und mithin erlernt werden müssen. Innerhalb dieser These legte Mauss so erste Deutungen zur sozialen und kulturellen Kodierung des Körpers (in seiner Sozialität) vor. Dabei wirft er Fragen nach der sozialen Bedingtheit und der Geschichtlichkeit des Körpers auf. Praktiken wie Schwimmen, Gehen, Graben, Marschieren deutet er als kulturell geformte Praktiken des Körpers und weist diese als Techniken des Körpers aus (vgl. Terhart 2014, S. 23). Diese, so Mauss (1934), werden qua Erziehung, Sozialisation und insbesondere Nachahmung erlernt, (als Habitus) inkorporiert und tradiert. Dabei vermitteln sich nicht lediglich bestimmte kultur- und zeitspezifische Praktiken und Umgehensweisen als Habitus (als Gewohnheiten) mit dem Körper, es werden auch soziale Hierarchien und Strukturen inkorporiert und tradiert (vgl. Mauss 1934/1975). Als Produkt von Gesellschaft unterliegt der Körper, beziehungsweise unterliegen körperbezogene Verhaltensweisen auch spezifischen historischen Gegebenheiten. Dies legt beispielsweise Norbert Elias (1997) in seiner Histografie über den Prozess der Zivilisation dar. Er zeigt auf, wie der Körper durch Mechanismen körperlicher Fremd- und Selbstdisziplinierung geformt wird. In einer solchen Perspektive vollzieht sich die Vergesellschaftung des

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und Zuschreibungen auszulegen ist, welche auf die soziale Herkunft, soziale Zugehörigkeiten und Machtverhältnisse verweisen (vgl. Gugutzer 2006, S. 15). In der Betrachtung des Körpers als Produzent wird die Frage nach der körperlichen Konstruktion von Gesellschaft bearbeitet und indes auf die Dimensionen, den Körperroutinen, den Körperinszenierungen sowie dem Körpereigensinn, fokussiert (vgl. ebd., S. 13). Je nach soziologischer Schwerpunktsetzung stehe in einer Untersuchung zumeist eine der Körperdimensionen im Mittelpunkt, so Gugutzer (2006, S. 13). Verschiedene Körperaspekte sind indes Ausdruck der jeweiligen Fragestellung, Theorieperspektive und eines je spezifischen Erkenntnisinteresses.

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Menschen durch die Kontrolle des Körpers. Elias (1997) fasst dies als Form gesellschaftlichen Wandels, genauso wie er diese im Rahmen von gesellschaftlichem Wandel denkt (vgl. Terhart 2014, S. 23). Dass Körper sozial bedingt sind, bildet indes Gegenstand der kulturvergleichend angelegten Arbeiten der amerikanischen Sozialanthropologin Mary Douglas (1974). In ihren ethnographischen Untersuchungen zu ,Ritual, Tabu und Körpersymbolik‘ in den 1970er Jahren erörtert Douglas, dass Bedeutungen von Körpern in verschiedenen Gesellschaftssystemen sozial und symbolisch ausgehandelt werden und sich in Deutungen des Körpers immer auch gesellschaftliche Ordnungen spiegeln. Daran anschließnd argumentiert sie, dass gesellschaftlich relevante Ordnungssysteme, wie etwa sauber und schmutzig, immer auch körperlich reproduziert werden. Douglas (1974) pointiert: „Körper als soziales Gebilde steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsordnung manifestiert“ (Douglas 1974, S. 99).10 Douglas (1974) fasst soziale Kategorien als gesellschaftliche Klassifikationsgitter, die auch die Wahrnehmung des Körpers beeinflussen. Diese Klassifikationen sind indes dichotom strukturiert. Sie bringen den Körper sozial hervor, genauso wie er die Klassifikationen manifestiert. Indem Douglas diese Perspektive auf Körper anlegt, stellt sie die Idee einer vermeintlichen Natürlichkeit des Körpers radikal infrage. Mitsamt zeigt sich in den Ausführungen von Mary Douglas ein Körperverständis, das diesen als Symbolsystem fasst. Als solches wird der Körper durch soziale und dichotome Katgeorien hergestellt, genauso wie er diese repräsentiert (vgl. Terhart 2014, S. 24). An eine derartige Sichtweise anschließend kann die Analyse von Wahrnehmungen des Körpers zum einen Einblicke in die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse bieten, zum anderen entzieht die Infragestellung der Naurhaftigkeit des Körpers im Kontext gesellschaftlicher und historisch spezifischer Verhältnisse diesen (Analysen) eine nahezu unhinterfragte Konstante in ihrer vermeintlichen Naturhaftigkeit.11

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In ihren Arbeiten rekonstruierte Mary Douglas (1974) eine Art Gesetzmäßigkeit in den symbolischen Repräsentationen, die sie als ,Reinheitsregel‘ bezeichnet. Die Reinheitsregel besagt im Kern, dass mit der Zunahme sozialer Kontrolle die Notwendigkeit der Kontrolle der körperlichen Ausdrucksweisen steigt. Dem (körper-) soziologischen Blick auf körperliche Verhaltensweisen in sozialen Situationen gibt sich indes erkennbar, wie in dem je situativen Verhalten kulturelle Normen und Werte sowie sozialstrukturelle Zwänge körperlich-symbolisch repräsentiert werden (vgl. Gugutzer 2006, S. 15-16). Daran, dass die Kontrolle des Körpers immer auch mit gesellschaftlichen Zwecken verknüpft war, schließt etwa Michel Foucault (1987, 1994) in seinen genealogischen Arbeiten an.

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Dass Körper für das Bestehen sozialer Ordnungen konstitutiv sind, hat indes Erving Goffman in seinen Studien zur Interaktionsordnung zu einer Körpertheorie verdichtet.12 So geht er davon aus, dass jedwede soziale Interaktion körperbasiert ist: „Die Information, die ein Mensch liefert, […], kann im Körper konkretisiert oder vom Körper abgelöst sein. […]“ (vgl. Goffman 1971, S. 25). Mitteilungen, wie etwa das Stirnrunzeln oder ein skeptisches Schauen, sind Mitteilungen, die mittels aktueller körperlicher Aktivitäten ausgestrahlt werden und lediglich zu der Zeit stattfinden, in der ein Körper anwesend ist, der diese Aktivität trägt (vgl. Goffamn 1971, S. 25). Die dabei mittels Körper ausgeführten Techniken sowie die Körpersprache sind nicht beliebig, sondern konventionalisiert und normativ (vgl. Schmincke 2009, S. 102103).13 Die Sozialtheorie Bourdieus bietet Einblicke in Prozesse der Inkorporierung des Sozialen. Überdies setzt er die Ebene des Körperlichen systematisch in Bezug auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit relevant. So präsentiert er in ,Die feinen Unterschiede‘, dass Körper der Prägekraft sozialer Ungleichheitsverhältnisse ausgesetzt sind. Im Mittelpunkt seiner Sozialtheorie steht das Habituskonzept, das die Bedeutung der Einverleibung sozialer Strukturen in den Körper explizit werden lässt. 14 Inkorporation gilt als wesentliche Dimension der Reproduktion sozialer Ungleichheit. In einer solchen Betrachtungsweise schreiben sich soziale Verhältnisse einschließlich ihrer Ordnungen in Körper ein. In den Arbeiten von Bourdieu ist jedoch auch eine Perspektive angelegt, in der Körper (als Produkt) im Sinne eines Speichers oder einer Gedächtnisstütze (vgl. Bourdieu 1982, S. 739) inkorporierter Strukturen und praktischer Wissensbestände fungiert, welche in den jeweiligen Handlungen der Akteure aktualisiert und aufgeführt werden. Als „das Körper gewordene Soziale“ (Bourdieu und Waquant 2013, S. 161) sorgt der Habitus somit für die Abgestimmtheit von Prak-

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Erving Goffman (1971) weist zudem nach, dass und in welcher Weise körperliche Verhaltens- und Erscheinungsweisen als Zeichenträger für personlae und soziale Identitäten gedeutet werden und mit ihnen nicht selten Stigmatisierungen verbunden sind. Goffmans (1971) Interaktionsordnung ist im Kontext mikrosoziologischer Theoriebildung zu verorten. An Arbeiten, die in diesem Kontext situiert sind, wird gemeinhin die Kritik herangetragen, dass darin Makrophänomene, Prozesse sozialer Ein- und Ausgrenzung oder Normalisierung nicht hinreichend fokussiert werden. Dies liegt darin begründet, dass zum Beispiel Goffman Gesellschaft primär als normgeleitete und symbolisch vermittelte Interaktionsordnung versteht. Dies scheint nur begrenzt anschlussfähig zu sein (vgl. Schmincke 2009, S. 103). Zudem bleibt das Körperverständnis in den Ausführungen theoretisch unterbestimmt. Die Ebene des Leibes findet gar keine Berücksichtigung. Dennoch lässt sich mit seiner Perspektivierung ein (mikrotheoretischer) Blick auf alltägliches (Körper) Handeln sowie dessen ordnungsstützende Funktion und zweitens auf die Handlungsfähigkeit des Körpers (als Produzent) legen. Im Rahmen der vorliegenden Studie bietet diese Zugehensweise methodische Anschlussmöglichkeiten für körpersoziologisch sondierte qualitative Forschungsmethoden, insbesondere die Ethnographie. Da menschliche Körper immer materiell und symbolisch zugleich sind, lässt sich in der Arbeit keine der beiden Perspektiven ausklammern.

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tiken (vgl. Bourdieu 1993a, S. 111). Körper lassen sich so auch als Produzent fokussieren und plausibilisieren. Diese Perspektive wird jedoch in diesem Kapitel im anschließenden Part vertiefend nachgezeichnet und in den heuristischen Rahmen der Arbeit integriert. Inwiefern sich Körper als Produkt machtvoller Handlungen und Regulierungen begreifen lässt, legt Foucault (1976, S. 41) in seinen Überlegungen zur Disziplinargesellschaft dar. Einem so gefassten Verständnis zufolge (er-)scheinen Körper ebenso als Effekt von Macht-Wissenskomplexen – von Diskursen – und sind gleichsam durch Machttechniken diversen Normalisierungspraktiken unterworfen. Foucaults diskurstheoretische Arbeiten lassen den Körper als Effekt diskursiver Praktiken und Machttechniken diskutierbar werden.15 Ihre Pointierung finden die Auseinandersetzungen um den Körper als Produkt des Sozialen in der Frauen- und Geschlechterforschung. Innerhalb der vielfältig geführten Auseinandersetzungen wird die ontologische Frage nach der Naturhaftigkeit von Körper eingehend in je verschiedenen Perspektiven vielfältig und kontrovers diskutiert. Dies insbesondere deswegen, da die vermeintliche ‚Naturhaftigkeit‘ des Körpers lange Zeit als Dimension der Naturalisierung des Geschlechterkörpers galt und dies die sozial produzierte Geschlechterdifferenz legitimierte. In der geschlechtskonstruktivistischen Ethnomethodologie im anglo-amerikanischen Raum etablierten Harold Garfinkel (1984), Candace West und Don H. Zimmerman (1987) sowie Susan J. Kessler und Wendy McKenna (1987) das Konzept des ,doing gender‘, indem sie in Studien das Geschlechterwissen von Menschen im Alltag und die Herstellungsleistungen von Geschlecht untersuchten. Dieser Lesart zufolge ist Geschlecht als interaktive Herstellungsleistung zu begreifen sowie als Prozess, in dem Geschlecht als sozial folgenreiche Unterscheidung hervorgebracht und reproduziert wird (vgl. BeckerSchmidt und Knapp 2000). Dass die Wirkmächtigkeit von Geschlecht nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern um weitere Differenzkategorien erweitert werden musste, bildet Kerngedanken des Konzeptes des ,doing difference‘ (vgl. Festermaker und West 2001), welches eine Weiterführung des Konzeptes des ,doing gender‘ darstellt. Den Köper als (Geschlechter-) Differenz legitimierenden Bezugspunkt und somit die selbstverständliche Zweigeschlechtlichkeit zu hinterfragen, bedeutet „nun ge-

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Arbeiten von Bourdieu, Elias, Foucault und Mauss zeigen allesamt anschaulich, wie der Körper als Produkt des Sozialen zu begreifen ist, beziehungsweise wie der Körper durch soziale Verhältnisse, historische Kontexte und kulturelle Kontexte geprägt wird. Dass seine Materialität nicht in der Praxis aufgeht und er nicht unabhängig von seinen sozialen Repräsentationen erfahrbar und erkennbar ist, darauf verweisen Hahn und Meuser (2002, S. 8). Den Autor*innen zufolge ist der Körper ein Stück weit asozial (Meuser und Hahn 2002, S. 8). Ebenso ist davon auszugehen, dass Subjekte die sie umgebenden Strukturen nicht nur passiv inkorporieren, sondern sie sie auch gleichsam aktiv in mimetischen Prozessen aneignen. So werden auch kultur- und kontextspezifische Bewegungen unter der Mitwirkung einer Person ausgebildet (vgl. Gebauer und Wulf 1998, S. 34-35).

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rade keine Unterschätzung der Körperlichkeit, sondern vielmehr ein geschärftes Bewusstsein der dichotomen Optik, mit der sie in unserer Kultur wahrgenommen und gelebt wird“ (Hagemann-White 1988, S. 32). In der konstruktivistischen Frauen- und Geschlechterforschung im deutschsprachigen Raum wurde die Geschlechterdifferenz ebenso nicht als naturgegebenes, präkulturelles Faktum, sondern als soziale Konstruktion im Kontext der symbolischen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit kritisch diskutiert (vgl. Hagemann-White 1988; Gildemeister 1992; Becker-Schmidt 1993). „[D]ie Argumentation ernst zu nehmen, daß Menschen ‚von Natur aus‘ durch und durch gesellschaftliche Wesen sind, heißt auch ‚Geschlechtlichkeit‘ einzubeziehen. Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit sind Ergebnisse sozialer, kultureller Prozesse auf der Grundlage symbolvermittelter sozialer Interaktion und kultureller und institutioneller Sedimentierung. Das heißt, auch Zweigeschlechtlichkeit, deren Folgen und Deutungen sind Ergebnisse sozialer Konstruktionen“ (Gildemeister 1992, S. 224-225). Der Körper fungiert diesen geschlechtertheoretischen Auslegungen zufolge als Klassifikationsmerkmal, an dem geschlechtliche Zuschreibungen festgemacht werden. Im poststrukturalistischen Diskurs evozierte Judith Butlers Radikalisierung der Infragestellung der Naturhaftigkeit des Geschlechterkörpers rege Diskussionen. Butler vertritt die Position, dass es keinen Körper gibt, der nicht bereits durch kulturelle Bedeutungen interpretiert ist. Geschlecht, beziehungsweise der Geschlechterkörper, ist nach Butler als materialisierter Diskurs zu deuten. In ihrer Ontologie der Körper hebt Judith Butler die Bedeutung von kulturellen Normen für die Wahrnehmung und Sichtbarkeit des Körpers hervor (vgl. Butler 2012). Sie führt weiter aus, dass die Materialisierung (von Körper) Ergebnis zwanghafter Aneignung von gesellschaftlichen Normen ist. Alle diese Zugänge, in denen die natürliche Gegebenheit beziehungsweise die naturalisierte Setzung des Körpers hinterfragt wird, verweisen darauf, dass der Körper sozial hergestellt ist. An diese – hier lediglich in Kürze skizzierten – geschlechtertheoretischen Zugänge anschließend, lässt sich eine differenzierte Perspektive auf die gesellschaftliche Hervorbringung des (Geschlechter-) Körpers einnehmen. Körper geraten somit eben nicht als naturhafte Gegebenheit in den Blick, welche die Geschlechtszugehörigkeit einer Person bestimmt. Vielmehr werden anhand der Wahrnehmung und Deutung körperlicher Merkmale geschlechtliche Zuschreibungen festgemacht und Menschen – im symbolischen System der Zweigeschlechtlichkeit – als Frauen und Männer kategorisiert und somit Geschlechterkörper hergestellt (vgl. Burghard 2018). Bündeln lässt sich somit, dass Körper Produkte von (Geschlechter-) Konstruktionsprozessen sind.

,Body turn‘? Der Körper als Gegenstand der Soziologie 1.1.3

17

Der Körper als Produzent von Gesellschaft

Dass soziales Zusammenleben und soziale Ordnungen – deren Herstellung, Stabilisierung und Wandel – von der Körperlichkeit sozial handelnder Individuen beeinflusst sind, verweist indes auf Körper als Produzenten von Gesellschaft (vgl. Gugutzer 2015, S. 6). Als „das Körper gewordene Soziale“ (Bourdieu und Waquant 2013, S. 161) sorgt der Habitus für die Abgestimmtheit von Praktiken (vgl. Bourdieu 1982, 1993, S. 111).16 In dieser Perspektive ist von Interesse, wie körperliche Praktiken zur Herstellung, Stabilisierung und zum Wandel sozialer Ordnungen beitragen. Gemeinhin ist die Annahme grundlegend, dass Körper nicht nur von sozialen Strukturen geprägt sind, sondern als Speicher praktischer, impliziter Wissensbestände fungieren, die Handlungen anleiten. Der Körper als Produzent tritt somit als Handlungssubjekt, als Agens – so Meuser (2006) – in Erscheinung, welches zu Irritation und Transformation sozialer Strukturen und habitueller Routinen beitragen kann. Eingedenk dieser von der Körpersoziologie eröffneten Perspektive auf den Körper ist auf Erving Goffmans Theorien zur Interaktionsordnung zu verweisen, zu deren Aufrechterhaltung der Körper unabdingbar ist (Goffmann 2001). Gleichwohl lässt sich die Handlungsfähigkeit des Körpers mit Bourdieus Habituskonzept und dem praktischen Sinn plausibilieren, da diese die Wirkmächtigkeit eingekörperter Wissensbestände in alltäglichen Handlungen betonen. Einer solchen Sichtweise zufolge leitet Körper als Produzent Handlungen auf einer präreflexiven Ebene an und sorgt dafür, dass Handlungen aufeinander abgestimmt sind, ohne dass sie aus der Hand eines Dirigenten stammen (dazu vertiefend Bourdieu 1993a, S. 99). Diese im körpersoziologischen Diskurs formulierten Aspekte des Körpers als Produkt und Produzent von Gesellschaft lassen sich bündeln: Zum einen erscheint der Körper als von sozialen Verhältnissen bestimmt, zum anderen sind ‚das Soziale‘ und Gesellschaft nicht unabhängig von der Körperlichkeit der sie konstituierenden ‚Subjekte‘ zu betrachten.17 Körpertheoretische Perspektiven sind insofern gewinnbringend für gesellschaftstheoretische Fragen, als dass sie die Sozialität des Körpers und die Körperlichkeit von Sozialität plausibilieren. Sie stellen dafür ein gesellschaftstheoretisches Körperverständnis bereit, in dem die Bedeutung des Körperlichen für die Gesellschaft Berücksichtigung findet. Indem das Verhältnis von Körper und Gesellschaft als miteinander verschränkt erscheint, wird auch der Körper als Bestandteil 16 17

Die Bestimmung und Bezeichung des Habitus als das „Körper gewordene Soziale“ (Bourdieu und Wacquant 2013, S. 161) findet sich in Kapitel 1.2.1. ohne direkte Zitatangabe als Überschrift. Körper bloß als Objekt sozialer Formungsprozesse zu deuten erweist sich als perspektivische Verkürzung. Mit der Kritik, die sinnliche Dimension des Köpers nicht hinreichend einzubeziehen, sahen sich insbesondere poststrukturalistische Theoritisierungen konfrontiert. Im Anschluss an anthropologische (Plessner 1975) und phänomenologische (Schmitz 2009) Zugänge zu Körper und Leib (vgl. Lindemann 2011) lässt sich deren Verhältnismäßigkeit als Verschränkung bestimmen. Dies markiert Jäger (2004) und deutet den Leib als Ort, an dem Macht wirksam wird sowie als Ort potenziellen Widerstandes (vgl. ebd., S. 81).

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Körper theoretisch

gesellschaftlicher Strukturen anerkannt (vgl. Schmincke 2014, S. 56). Körpertheoretische Ansätze bieten – so lässt sich bilanzieren – die Möglichkeit, „die Wirkungen gesellschaftlicher Normen und deren körperliche Verankerung aufzuzeigen und damit zu einer kritischen Entnaturalisierung vermeintlich unverrückbarer Phänomene beizutragen“ (vgl. Schmincke 2014, S. 56). Sie heben nicht auf die Bestimmung der ,Naturhaftigkeit‘ von Körpern ab, sondern legen den Blick darauf frei, dass Körper nicht als etwas naturhaft Gegebenes sondern als etwas sozial Hervorgebrachtes und das ,Soziale‘ Hervorbringende zu betrachten sind.Auf diese Weise zeigen sie eindrücklich, dass Körper und Gesellschaft in einem wechselseitigen Durchdringungsverhältnis stehen. Und nicht zuletzt, so Schmincke (2009), reproduziert sich eine Gesellschaft immer auch über Körperbilder und alltägliche körperliche Praktiken (vgl. ebd., S. 11). Und diese Annahmen basieren eben auf der hier präsentierten körpersoziologischen Einsicht, dass menschliche Körper keine naturhaften und folglich vorsozialen Entitäten darstellen, sondern Gesellschaft genauso auf Körper wirkt, wie Körper auf Gesellschaft. Dass Körper sich methodisch als Herausforderung stellen, lässt sich ebensfalls mit Konzepten der Körpersoziologie plausibilisieren. Die Besonderheit des Körpers als Gegenstand der Theoriebildung liegt indes in seiner doppelten Gegebenheit. Einerseits lassen Körper sich als Objekt des Handelns und des Forschens deuten, andererseits sind Körper materielle Basis des Handelns, die zudem eine gewisse Eigenständigkeit aufweist und sich etwa als Gespür, Instinkt oder Bedürfnis zeigt. Körper sind somit nicht lediglich Objekt kultureller Formung, sondern auch eine eigenständige Erfahrens- und Erlebensdimension. An unterschiedliche theoretische Konzeptionalisierungen von Körper anschließend lässt sich bündeln, dass Körper auf zwei Ebenen thematisiert wird: Zum einen als Forschungsgegenstand/Forschungsobjekt und zum anderen als theoretische Kategorie. Als Forschungsgegenstand treten Körper in zwei unterschiedlichen Perspektiven in Erscheinung: als Produkt und als Produzent von Gesellschaft. Als Produzent jedoch ist der Körper nicht lediglich als Forschungsgegenstand auszuweisen. Vielmehr fungiert er als basale Kategorie einer Theorie des Sozialen (vgl. Schmincke 2009, S. 95-96; weiterführend zu einer verkörperten Theorie des Sozialen vgl. Gugutzer 2012). 1.1.4

Verkörperung sozialer Ordnungen

Innerhalb der Soziologie des Körpers wird von der Annahme ausgegangen, dass soziale Wirklichkeit und soziale Ordnungen aus sozialem Handeln bestehen. Da soziales Handeln immer auch körperliches Handeln ist, tragen körperliche Handlungen zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit und sozialer Ordnungen bei (vgl. Gugutzer

,Body turn‘? Der Körper als Gegenstand der Soziologie

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2015, S. 7).18 Diese gelten somit grundlegend als über den Körper vermittelt und werden in sozialen Praktiken erzeugt. Soziale Ordnungen sind in spezifischen Weisen durch Verhältnisse sozialer Ungleichheit, Macht und Herrschaft strukturiert. In einer solchen Perspektive bedingen soziale Ordnungen beispielsweise strukturelle Benachteiligungen, welche als individuelle Verunmöglichungserfahrungen erlebt werden (können). An ein so gefasstets Verständnis anschließend fragt die Soziologie des Körpers in grundlagentheoretischer Absicht danach, in welcher Hinsicht auf der Ebene elementarer sozialer Interaktionen als auch auf der Ebene kultureller und gesellschaftlicher Ordnungssysteme soziale Ordnungen über den Körper vermittelt werden. Hahn und Meuser (2002) zufolge gilt dies sowohl für die Mikroebene der Interaktionsordnung (hierzu weisen sie auf die Arbeiten von Erving Goffman (1971/2003) oder die sozialen Praktiken als auch für die Markroebene des Stratifikationssystems einer Gesellschaft. In diesem Zusammenhang sind die Arbeiten von Bourdieu erhellend (vgl. Hahn und Meuser 2002, S. 14).19 An ein so gefasstes Verständnis anschließend lässt sich eine Lesart entfalten, der zufolge soziale Ordnungen ganz fundamental Körperordnungen sind (vgl. Meuser 2004, S. 211). Sie werden in sozialen Praktiken performativ erzeugt. Dass soziale Praktiken als kleinste Einheit des Sozialen gelten und eine spezifische Materialität aufweisen, die sich auf Körper genauso wie auf Dinge beziehen, lässt sich mit praxistheoretischen Perspektiven plausibilisieren. Diese Aspekte sind Gegenstand des dritten Kapitels. Soziale Ordnungen sind indes nicht als starre Gebilde zu begreifen, sondern ereignen sich im praktischen körperlichen Vollzug. Körper als Produkt und Produzent sind zum einen unmittelbar an der Herstellung sozialer Ordnungen beteiligt. Zum anderen beeinflussen insbesondere Körper – in ihrer sozialen Erscheinung – diese Ordnungen konstituierenden Praktiken. Der körpersoziologischen Doppelperspektive zufolge werden soziale Ordnungen jedoch nicht nur in Praktiken erzeugt, sie bringen auch 18

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Soziale Wirklichkeit erscheint als soziale Konstruktion. Diese Herstellungsprozesse sind dezidiert nicht als rein kognitive Leistungen zu betrachten. Ihr Zustandekommen sowie ihre Wirklichkeitsqualität gewinnen sie gerade dadurch, dass sie in körperlichen Praxen fundiert und in körperlichen Routinen abgesichert sind. In konkreten interaktiven und abstrakten gesellschaftlichen Aushandlungen symbolischer Bedeutungen werden Körper zwischen Erschaffung, Aufrechterhaltung und Verschiebung sozialer Strukturen hergestellt (vgl. Terhart 2014, S. 64). Im Anschluss an Hahn und Meuser (2002) lässt sich zuspitzen: Körper sind als Bedingungen oder Voraussetzungen von Sozialität zu begreifen und in soziologischen wie auch sozialpädagogischen Untersuchungen zu berücksichtigen (vgl. Hahn und Meuser 2002, S. 14). In der Soziologie des Körpers wurde die Relevanz des Körpers für die soziale Ordnungsbildung bislang in vier voneinander unterscheidbaren Perspektiven herausgestellt. Erstens in der Perspektive der erlernten Körpertechniken, welche Körper als Ausdrucksinstrument in Interaktionen einsetzbar macht. Zweitens in der Perspektive der Körpergestaltung, in Form von auf individuelle Körper bezogene Erwartungsnormen. In einer dritten Betrachtungsweise werden Körpereinschreibungen als unintendierte Körperformung im Lebenslauf betrachtet. Abschließend und viertens wird der Fokus auf Körperzeichen gelegt, welche gleich einem symbolischen Code fungieren, der am Körper abgelesen und zur Situationsdeutung genutzt wird (vgl. Hahn und Meuser 2002, S. 8).

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Körper theoretisch

spezifische Körper hervor. Hahn und Meuser (2002) weisen darauf hin, dass sich der Körper dem soziologischen Blick als kulturell geformter, in sozialen Bezügen agierender Körper präsentiert. Er ist nicht unabhängig von sozialen Repräsentationen erfahr- und erkennbar. Körper werden als Geschlechterkörper, als von Lebensbedingungen gezeichnete Körper oder als gestylte Körper erkannt und wahrgenommen. Am Körper sind die sozialen Bezüge, in denen er agiert, ablesbar. Gleichsam verkörpert er die sozialen Bezüge. Somit dient er dazu, Soziales zu repräsentieren (vgl. Hahn und Meuser 2002, S. 8). Die Autor*innen pointieren: „Am Körper dokumentiert sich die soziale Ordnung, an deren Herstellung der beteiligt ist“ (Hahn und Meuser 2002, S. 8).20 Soziale Ordnungen zeigen sich im Alltag zum Beispiel in Wahrnehmungen und Bewertungen, in Klassifikationen von Körpern. Sie bewirken damit auch Formen der Normalisierung, Marginalisierung oder Ein- und Ausschließungen. Und so lässt sich zuspitzen, dass sich Gesellschaft über Körperbilder einschließlich ihrer Ordnungen in und über alltägliche körperliche Praktiken reproduziert und stabilisiert (vgl. Schmincke 2009, S. 11). Diese sozialen und symbolischen Ordnungen sind wirklichkeitskonstituierend und exklusiv, sie lassen manche Körper in Erscheinung treten und andere wiederum nicht. Körper werden folglich in ihrem Verhältnis zur sozialen Ordnung bedeutungsvoll. Sie sind in einer solchen Perspektive für die Seinsordnung einer Gesellschaft relevant. Machold (2015) zufolge regulieren Körper nicht nur den Zugang zu Ressourcen, sondern bestimmten auch wie jemand leben muss um anerkennbar zu sein (vgl. Machold 2015). Als sozial anerkennungsfähig und intelligibel gelten die Körper, die eine als angemessen geltende akzeptierte soziale Form gewinnen (vgl. Alkemeyer, Kalthoff und Rieger-Ladich 2015, S. 18). Im folgenden Part des ersten Kapitels werden körpertheoretische Perspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu, Michel Foucault und Judith Butler dargelegt. Ergänzend finden anthropologische und phänomenologische Zugänge zu Körper und Leib Berücksichtigung. Ziel ist dabei nicht, lediglich eine Systematisierung verschiedener Perspektiven auf Körper vorzunehmen. Erweiternd werden daraus entscheidende analytische Konzepte für die Bearbeitung der Thematik erarbeitet und gewonnen.

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Bourdieu bestimmt den Habitus als Resultat der Einverleibung und Inkorporation der sozialen Welt, ebenso ihrer Ordnungs- und Klassifikationsmuster. Damit öffnet Bourdieu den Blick für die Verankerung sozialer Strukturen im Körper (vgl. Schmincke 2009, S. 123) und legt so eine Perspektive auf die Inkorporation sozialer Ordnungen frei. Dass Klassifikationen machtvoll und dabei nicht unabhängig von der sozialen Position zu betrachten sind, die eine Person im Kontext des sozialen Raums einnimmt und dass soziale Strukturen überdies von einer durch Ein- und Ausschluss und Herrschaft durchzogenen sozialen Ordnung geprägt sind und im Alltag bedeutungsvoll werden, bietet diverse Anschlussmöglichkeiten für die vorliegende Studie.

Eine ,verkörperte Theorie des Sozialen‘ 1.2

21

Eine ,verkörperte Theorie des Sozialen‘

Im Anschluss an die körpersoziologischen Dimensionierungen des Körpers als Produkt und Produzent von Gesellschaft wird sich im folgenden Part der Sozialtheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu zugewendet. In dieser rückt die körperlich(leib-)liche Verfasstheit des Menschen ins Zentrum und markiert die Bedingung der Möglichkeit sozialer Ordnung (vgl. Jäger 2005, S. 100).21 Nicht zuletzt deswegen bieten seine theoretischen und empirischen Analysen vielfältige Anknüpfpunkte für eine körpertheoretisch fundierte Gesellschaftstheorie (vgl. Schmincke 2009). Körpertheoretische Perspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu Bourdieus Arbeiten zeigen zudem in luzider Weise, dass und in welcher Weise sich das Verhältnis von Körper und sozialer Ungleichheit hinsichtlich der Kategorie ,Klasse‘ konstituiert. Diesen Aspekt soll das herangezogene Zitat verdeutlichen: „Es zeichnet sich damit ein Raum jeweils klassenspezifischer Körper ab, der bis auf einige biologische Zufälligkeiten in seiner spezifischen Logik tendenziell die Struktur des sozialen Raumes reproduziert. So werden auch die körperlichen Eigenschaften und Merkmale nicht zufällig unter Vermittlung von sozialen Klassifikationssystemen erfaßt, deren Abhängigkeit von der klassenspezifischen Distribution der verschiedenen Eigenschaften offenbar ist: In den geltenden Taxinomien wird eine Oppositionsbeziehung hergestellt zwischen den zudem noch rangmäßig gegliederten häugigsten (und hier eben seltensten) Eigenschaften der Herrschenden auf der einen und den häufigsten Eigenschaften der Beherrschten auf der anderen Seite. Die gesellschaftliche Vorstellung des eigenen Körpers, die bei jedem Individuum von Anbeginn in dessen sich entwickelndes subjektives Bild vom je eigenen Körper und der je eigenen körperlichen Hexis konstitutiv eingeht, wird demzufolge durch die Anwendung eines sozialen Klassifikationsprinzips erreicht, dessen Prinzip sich in nichts von dem gesellschaftlichen Produkte unterscheidet, auf die es angewendet wird“ (Bourdieu 1982, S. 310-311). Bourdieus frühen ethnologischen Studien in der Kabylei heben auf die Frage danach ab, wie eine gesellschaftliche Ordnung in den Körper eindringt. In diesen Arbeiten ist jedoch auch die Frage zentral, wie sich symbolische Gewalt vollzieht. 22 An diese

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Dabei distanziert sich auch Bourdieu von einem naturalistischen und quasi-ontologischen Körperverständnis und verweist darauf, dass Körper gesellschaftlichen Prägungen unterliegen. In einem körpersoziologischen Verständnis lässt sich der Körper enstprechend als Produkt ausweisen. Zugleich erscheint der Körper als Produzent von Gesellschaft und ist folglich an der Konstitution sozialer Verhältnisse sowie deren Kontingenz beteiligt. Dies legt Bourdieu (2013) in ,Die männlichen Herrschaft‘ dar. Damit legt er eine Perspektive auf die Somatisierung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse frei.

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Körper theoretisch

Stelle platziert er bereits das Konzept des Habitus. Die späteren Arbeiten, insbesondere sein Werk ,Die feinen Unterschiede‘, sind von der Frage danach geleitet, wie sich soziale Ungleichheits- und Machtverhältnisse reproduzieren. Ausgangspunkt dafür war die französische Gesellschaft in den 1960er und 1970er Jahren. Das analytische Konzept dafür ist der Habitus. Mit diesem hat Bourdieu Körperlichkeit systematisch in die Betrachtung von Verhältnissen sozialer Ungleichheit und Herrschaft einbezogen.23 Mit dem Konzept des Habitus setzt er die Inkorporation der sozialen Ordnung – einschließlich ihrer Deutungs- und Klassifikationsmuster – relevant. Somit ermöglichen seine Arbeiten der Verkörperung sozialer Ordnungen Rechnung zu tragen. 24 Als wesentliche Aspekte verkörperter Herrschaft weist Bourdieu Naturalisierung und Inkorporation aus (vgl. Schmincke 2009, S. 20). Mit dem Begriff Inkorporation unternimmt er den Versuch, die Einschreibung sozialer Ordnungen in den Körper des Menschen zu fassen (vgl. Jäger 2005, S. 100). Anhand des Begriffs der Naturalisierung zeigt er auf, dass und in welcher Weise gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse über Körper naturalisiert und dadurch verschleiert werden. Das Konzept des Habitus kann somit als Grundlage einer verkörperten Theorie des Sozialen aufgefasst werden. So weist auch Gugutzer (2015) darauf hin, dass in den Arbeiten von Bourdieu ungleichheitstheoretisch argumentiert nicht nur erkennbar wird, dass Körper klassenspezifisch geformt erscheinen oder dass Körper auch als eine eigenständige Kapitalform zum Einsatz gebracht werden können, das Distinktion verspricht und in Praktiken der (sozialen) Positionierung zum Einsatz kommt (vgl. ebd., S. 70). Innerhalb machtund herrschaftstheoretischer Perspektiven zeigen Bourdieus Studien in der Kabylei ferner, dass Herrschaft nicht lediglich über Körper ausgeübt wird, sondern zudem im Körper verankert ist und von diesem ausgeübt wird (vgl. Schmincke 2009, S. 126). In einer solchen Perspektive äußern sich in Klassifikationen Formen symbolischer Gewalt. Die Macht der Klassifikationen besteht nicht zuletzt darin, dass sie an Körpern ansetzen und letztlich auch mit sozialen Zuschreibungen von Ungleichwertigkeit einhergehen können (vgl. Neckel 2003). Diese Aspekte werden im Folgenden expliziert und ihre Relevanz wird für die ethnographische Studie im Jugendtreff überprüft. 23

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Macht- und Herrschaftsverhältnisse sind mithin nicht als statisch oder gegeben zu begreifen, sondern als soziale Konstruktionen und gesellschaftliche Verhältnisse, die in symbolischen Ordnungen und Repräsentation mit konstituiert werden. Bourdieu grundiert seine Arbeiten mit einer dualistischen Sicht auf soziale Wirklichkeit und soziale Ordnungen. Als solche existiert diese in doppelter Hinsicht: zum einen in objektivierter Form, den Strukturen, und zum anderen in inkorporierter Form, in den Körpern (Habitus) und den Handlungen der sozialen Akteur*innen. Als zwischen (objektiven) sozialen Strukturen und Handlungen (der sozialen Akteur*innen) verbindendes Moment bestimmt Bourdieu den Habitus. Dieser entsteht aus der Einverleibung, der Inkorporation der sozialen Welt. Bourdieu betrachtet soziale Strukturen als nicht unabhängig existent von (körperlichen) Praktiken sozialer Akteur*innen. Vor diesem Hintegrund bestimmt er die soziale Praxis als Ausgangspunkt soziologischer Analysen (vgl. Gugutzer 2015). Nicht zuletzt deswegen werden Bourdieus Arbeiten auch als praxeologische Körpertheorie ausgewiesen. An diese Auslegung wird im dritten theoretischen Kapitel angeschlossen. Die Struktur dieser Darstellung orientiert sich an Schmincke (2009).

Eine ,verkörperte Theorie des Sozialen‘

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Vorab werden jedoch der Kontext und das Denken Pierre Bourdieus in gebotener Kürze skizziert. Auf eine Erörterung der umfassenden Theorie Bourdieus wird verzichtet. Der Fokus wird auf das Körperverständnis, das sich in seinen Arbeiten ausdrückt, konzentriert. Zu Kritikpunkten wird abschließend Stellung genommen und Bourdieus Sozialtheorie dahingehend befragt, wie sie mit machttheoretischen Zugangsweisen von Foucault und Butler ergänzt werden kann. Einige Vorüberlegungen zum Denken und den Arbeiten von Pierre Bourdieu In seinem Werk ,Praktische Vernunft. Theorie des Handelns‘ weist Bourdieu (2018) seine Arbeiten als eine ,relationale Wissenschaftsphilosophie‘ und eine – im Körper und der Struktur einer Situation gründende – ,Philosophie des Handelns‘ aus (vgl. Bourdieu 2018, S. 7). Ausgangspunkt seiner theoretischen sowie empirischen Betrachtungen bildet die soziale Praxis. Diese markiert er als Ort „der Dialektik von opus operatum und modus operandi, von objektivierten und einverleibten Ergebnissen der historischen Praxis, von Strukturen und Habitusformen […]“ (Bourdieu 1993a, S. 98). Seine Philosophie verdichtet sich in Grundbegriffen wie Habitus, Feld und Kapital und als Kernstück weist Bourdieu (2018) die „doppelsinnige Relation zwischen den objektiven Strukturen (den Strukturen der sozialen Felder) und den subjektiven Strukturen (den Strukturen des Habitus)“ (Bourdieu 2018, S. 7). Relational ist seine Theorie insofern zu deuten, als dass sich das ,Wesen‘ einer Sache nur in Relation zu anderen Dingen, nur in Differenz oder Distinktionen bestimmen lässt. Relationen, so Schmincke (2009), lassen sich als Korrespondenzbeziehungen markieren (vgl. ebd., S. 118). In den Arbeiten Bourdieus sind diese Korrespondenzbeziehungen das Verhältnis von Struktur und Handeln beziehungsweise Habitus, von objektiver Dingewelt und subjektiven Schemata (vgl. Schmicke 2009, S. 118). Die objektiven Strukturen und Regeln eines Feldes werden inkorporiert im Habitus. Körper und Praxis werden mithin nicht nachrangig zur Welt der Dinge der Strukturen gedacht, sondern folgen einer eigenen Logik (vgl. Schmincke 2009, S. 118). Sie folgen der Logik der Praxis. Diese dualistische Perspektive ist grundlegend dafür, dass seine Arbeiten als Theorie der Praxis oder soziale Praxeologie zu bezeichnen sind (vgl. Bourdieu und Waquant 2013, S. 29).25 An dieser Stelle lässt sich bündeln: Charakteristisch für seine Soziologie der Praxis – oder seine soziale Praxeologie – sind das Denken in Relationen sowie eine vom Körper ausgehende Theorie des Sozialen. Damit fokussierte Bourdieu auf die Überwindung dualistischen Denkens, das zwischen

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Damit begründet Bourdieu, soziale Praktiken zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Betrachtung gemacht zu haben. Er geht überdies davon aus, dass in Handlungen ein ,Sozialer Sinn‘ enthalten ist. Er differenziert dafür in einen theoretischen und einen ,Praktischen Sinn‘. Dies wird in dem Teil des Kapitels aufgegriffen, in dem der ,praktische Sinn‘ vertiefend expliziert wird.

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Körper theoretisch

Subjektivismus und Objektivismus, von Strukturalismus und Phänomenologie beziehungsweise Existenzialphilosophie vermittelt (vgl. Schmincke 2009, S. 118).26 Überdies zeichnet sich Bourdieus Theorie des Handelns dadurch aus, dass Selbstreflexivität als Bestandteil von Theoriebildung betrachtet wird. Diese erkenntnistheoretische Positionierung wird auch in der vorliegenden Studie berücksichtigt sowie als grundlegend erachtet und zudem der Analyse der (konstruierten) Welt zugrunde gelegt. Für die Sozialwissenschaft bedeutet dies, so Bourdieu (1982), dass sie „bei der Konstruktion von sozialer Welt der Tatsache eingedenk bleiben muß, daß die Akteure in ihrer Alltagspraxis selbst Subjekte von soziale Welt konstituierenden Akten sind“ (vgl. Bourdieu 1982, S. 729). Der französische Soziologe pointiert: „Die von den sozialen Akteuren im praktischen Erkennen der sozialen Welt eingesetzten kognitiven Strukturen sind inkorporierte soziale Strukturen“ (Bourdieu 1982, S. 730). Erkenntnistheoretisch ist dieser Anspruch insofern relevant, als somit die Konstruktion eines wissenschaftlichen Gegenstandes durch die Wissenschaft selber kritisch in den Blick genommen werden kann (vgl. weiterführend Kalthoff 2008). 1.2.1

Der Habitus als das ,Körper gewordene Soziale‘

Bourdieu befasste sich mit den Ursächlichkeiten sozialer Ungleichheit, Macht und Herrschaft. Seine theoretischen und empirischen Analysen fokussierten zum einen auf die Frage, wie und mittels welcher Mechanismen Strukturen sozialer Ungleichheit fortwährend reproduziert werden. An diese Stelle setzte er das Konzept des Habitus, der sowohl die individuelle als auch die allgemeine inkorporierte Struktur darstellt und Praxis generiert (vgl. Schmincke 2009, S. 119). Zum anderen waren Bourdieus Arbeiten von der Frage danach geleitet, wie sich symbolische Gewalt, als der Macht der Klassifikationen, vollzieht (vgl. Schmincke 2009, S. 119).27 Ihnen lag die Intention 26

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Bourdieus Arbeiten liegt die Intention zugrunde zwischen objektiven sozialen Strukturen und subjektiven, eingekörperten Strukturen (der Akteure) zu vermitteln. Die Überwindung des vermeintlichen Gegensatzes von Subjektivismus und Objektivismus betrachtet er als Bedingung der Möglichkeit von Soziologie. Als vermittelnde Instanz weist er das Habituskonzept aus. Schmincke (2009) zufolge stellt sich das Habituskonzept „sowohl in methodisch-theoretischer wie inhaltlich-politischer Hinsicht als konzeptionelle ,Lösung‘ dar, um Grundzusammenhänge der sozialen Welt, das Verhältnis von Struktur und Handlung, von Individuum und Gesellschaft als miteinander verschränkt zu betrachten“ (Schmincke 2009, S. 119-120). Diese Aspekte sind Schmincke (2009) zufolge als Reaktion auf ein inhaltliches Problem zu deuten, auf das der Habitus rekurriert. Daneben lässt er sich auch als Reaktion auf ein methodisches Problem rekonstruieren (vgl. Schmincke 2009, S. 119). In seinen frühen Studien in der Kabylei stieß Bourdieu an die Grenzen bis dato prominenter strukturalistischen Annahmen, indem er feststellte, dass die Praxis der (beforschten) Akteur*innen einer spezifischen Logik, jenseits von Bewusstsein, Strategie, Intention sowie behavioristischer oder biologisch begründeter Reflexhaftigkeit folgt (dazu ausführlicher Bourdieu 2001a). Im Zuge dessen entwickelte er das Habituskonzept, das die individuelle und allgemeine inkorporierte Struktur als Praxis generiert und somit zwischen objektiven und subjektiven Strukturen vermittelt (vgl. Schmincke 2009, S. 119). Der Habitus ist folglich an der Schnittstelle zwischen Subjekt und der sozialen Struktur anzusetzen.

Eine ,verkörperte Theorie des Sozialen‘

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zugrunde, die Wirkungsmacht symbolischer Gewalt – die Deutungsmacht über die soziale Welt sowie das perfide Einverständnis der Beherrschten mit der herrschenden Deutungsmacht – zu verstehen (weiterführend zur symbolischen Gewalt vgl. Moebius und Wetterer 2011; Krais 1993). Um den Zusammenhang zwischen objektiven Strukturen und kognititven Schemata zu erhellen und darin zugleich in den kognitiven Strukturen die Inkorporation objektiver Strukturen zu sehen (vgl. Schmincke 2009, S. 119), auch dafür schien der Habitus geeignet. Dass der Habitus vor allem Körper ist, soll im Folgenden in den Blick genommen werden. Indem Bourdieu den Habitus als „das zur Natur gewordene Soziale in motorische Schemata und automatische Körperreaktionen verwandelte gesellschaftliche Notwendigkeit“ (Bourdieu 1993a, S. 127) ausweist, setzt er diesen als Grundlage seiner Theorie der Praxis relevant. Somit rückt dezidiert die körperlich(leib)liche Verfasstheit des Menschen zur Bedingung der Möglichkeit sozialer Ordnung in das Zentrum der allgemeinen Sozialtheorie (vgl. Jäger 2005, S. 100). Der Habitus entsteht aus der Einverleibung der Sozialen Welt. Daran lässt sich anschließen: Der Habitus entsteht aus der Inkorporation der sozialen Position, die eine Person innerhalb des sozialen Raumes einnimmt, einschließlich ihrer Ordnungsund Klassifikationsmuster und Teilungsprinzipen. „[D]as Prinzip der Teilung in soziale Klassen, das der Wahrnehmung der sozialen Welt zugrunde liegt, ist seinerseits Produkt der Verinnerlichung der Teilung in soziale Klassen“ (Bourdieu 1982, S. 279).28 Unterschiedliche Existenzbedingungen bringen folglich unterschiedliche Formen des Habitus hervor. Somit ist in den Dispositionen des Habitus die gesamte Struktur des Systems der Existenzbedingungen einer Person angelegt, denn er wird dabei von (vergangenen) Erlebnissen in den Körper der jeweiligen Akteur*innen eingeprägt. Diese schlägt sich in der Erfahrung einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb einer sozialen Struktur nieder (vgl. Bourdieu 1982, S. 279).29 Es lässt sich resümieren, dass Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, aus den Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, hervorgehen (vgl. Bourdieu 1993a, S. 98). Der Habitus wird biographisch erworben und ist gekennzeichnet durch Inkorporation, Präreflexivität, Strategie und Stabilität (vgl. Villa 2011, S. 64). In den Arbeiten 28

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Die Existenzbedingungen, also die jeweilige Stellung im sozialen Gefüge, präformieren indes nicht nur die äußerliche Erscheinungsweise des Körpers, sondern bedingen ebenso die Ausbildung entsprechender kognitiver Strukturen, durch die das Agieren im Feld strukturiert wird. Dabei vermitteln sich auch Klassifikations- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt, die als Gesellschaft klassenförmig strukturiert ist. Als inkorporierte Dispositionen leiten diese mithin die individuelle Wahrnehmung der sozialen Welt (vgl. Bourdieu 1982, S. 278-279). Die fundamentalen Gegensatzpaare sozialer Strukturen (oben und unten, reich und arm etc.) setzen sich tendenziell als grundlegende Strukturierungsprinzipien der Praxisformen sowie deren Wahrnehmung durch (vgl. Bourdieu 1982, S. 279).

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Körper theoretisch

von Bourdieu wird er als Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsprinzip ausgewiesen.30 Somit sind folglich insbesondere jene Schemata gemeint, die das Denken, Fühlen, Urteilen, Wahrnehmen, Bewerten, Klassifizieren und Handeln strukturieren und ermöglichen (vgl. Schmincke 2009, S. 120). Die Schemata – die Bourdieu auch als Disposition, Set oder Matrix divergent verwendet – sind als im Körper verankerte Prinzipien der Wahrnehmung und Klassifikationen sowie von Handlungen zu verstehen (vgl. Schmincke 2009, S. 129) – anders formuliert, als Erzeugungsformen aller Formen von Praxis (vgl. Bourdieu 1982, S. 283).31 In Bezug auf Letzteres findet sich bei Bourdieu die Bezeichnung des Habtius als generative Grammatik.32 Diese Perspektive wird im Folgenden aufgeschlüsselt. Schmincke (20009) zeigt auf, dass sich das Verhältnis zur Körperlichkeit des Habitus in dreifacher Hinsicht und in unterschiedlichen Materialitätsgraden bestimmen lässt: Wenn bei Bourdieu erstens von ,kognitiven‘ Strukturen die Rede ist, bezeichnet er damit etwa das Wahrnehmen und Klassifizieren. Zweitens weist er den Habitus als ein Präferenzsystem aus, das Einheitlichkeit des Stils gewährleistet. So fasst er den Habitus in ,Die feinen Unterschiede‘ als Stil oder Geschmack. Diese sind somit stärker als materiell-körperliche Ebene des Habitus zu verstehen (vgl. Schmincke 2009, S. 121).33 Drittens verwendet Bourdieu den Begriff der Hexis. Damit meint er Körperhaltungen und Körperbewegungen, in denen sich der Habitus ausdrückt (vgl. Schmincke 2009, S. 121). Die Hexis

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Villa (2011) bezeichnet dies als Schemata eines Subjekts/eines Individuums vor dem Hintergrund seiner sozialen Position (vgl. Villa 2011, S. 63). Der Habitus besitzt dabei in zwei Richtungen harmonisierende Wirkung: Als Erzeugungsprinzip, als modus operandi, bringt er zum einen abgestimmte Praxisformen hervor. Die Wahrnehmungsschemata strukturieren die alltägliche Wahrnehmung der sozialen Welt. Die Denkschemata umfassen beispielsweise Alltagstheorien und Klassifikationsmuster, mit denen Personen die soziale Welt interpretieren und kognitiv ordnen, überdies implizite ethische Normen zur Beurteilung gesellschaftlicher Handlungen sowie den Geschmack. Dieser äußert sich so in ästhetischen Maßstäben zur Bewertung von kulturellen Objekten und Praktiken. Die Handlungsschemata bringen (individuelle und kollektive) Praktiken der Akteur*innen hervor (vgl. Schwingel 1995, S. 62). Der Habitus ist als generative Grammatik und somit als ein (erworbenes) System von Erzeugungsschemata bestimmbar. Versteht man diesen als ein solches, können „[…] alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen […] frei hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen“ (Bourdieu 1993a, S. 102). Insofern der Habitus die Strukturen seiner Entstehung reproduziert, reagiert über den Habitus die Struktur und die Praxis, die ihn erzeugt hat (vgl. Bourdieu 1993a, S. 102). Das vom Habitus generierte Handeln beruht auf dem Zusammenspiel zweier Dimensionen des Sozialen (vgl. Bourdieu und Waquant 2013, S. 161). Zum einen auf den Strukturen als ‚Ding gewordener Geschichte‘ sowie zum anderen auf den Handlungen der Akteur*innen, der zu ‚Körper gewordenen Geschichte‘ (vgl. Bourdieu 1993a, S. 105). Folglich basiert es auf auf dem Zusammenspiel der in Gestalt von Strukturen und Mechanismen (denen des sozialen Raums oder der Felder) dinglich objektivierten Geschichte und auf dem Habitus, den Bourdieu (2001) als in den Körpern einverleibte Geschichte ausweist (vgl. ebd., S. 193). Schmincke (2009) führt weiter aus, dass diese sich auf die gesamte Existenzweise beziehen, so etwa auf die Sinne (Musik hören, Essen, Kunst-, Filmpräferenzen), auf körperliche Tätigkeiten (Sport, Feiern) aber auch auf die Pflege und Stilisierung des Körpers (Kleidung oder Kosmektik) (vgl. ebd., S. 120-121).

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bezeichnet folglich die unmittelbare und äußerliche Ebene des Körpers (KörperHaben): „Die körperliche Hexis, eine Grunddimension des sozialen Orientierungssinns, stellt eine praktische Weise der Erfahrung und Äußerung des eigenen gesellschaftlichen Stellenwerts dar: Das eigene Verhältnis zur sozialen Welt und der Stellenwert, den man sich in ihr zuschreibt, kommt niemals klarer zur Darstellung als darüber, in welchem Ausmaß man sich berechtigt fühlt, Raum und Zeit zu anderen zu okkupieren – genauer den Raum, den man durch den eigenen Körper in Beschlag nimmt, vermittels einer bestimmten Haltung, vermittels selbstsicher-ausgreifender oder zurückhaltend-knappen Gesten […], wie auch Zeit, die man sprechend und interagierend auf selbstsichere oder aggressive, ungenierte oder unbewußte Weise in Anspruch nimmt“ (Bourdieu 1982, S. 739). So beschreibt Bourdieu die körperliche Hexis als „die realisierte, einverleibte, zur dauerhaften Disposition, zur stabilen Art und Weise der Körperhaltung, des Redens, Gehens und damit Fühlens und Denkens gewordene politische Mythologie“ (Bourdieu 1993a, S. 129).34 Durch das Habituskonzept ist es möglich, bereits kleinste körperlichen Gesten – Schmincke (2009) führt exemplarisch das Halten einer Teetasse auf – als Ausdruck eines spezifischen Habitus und somit als spezifische Inkorporation der Regeln und Zwänge eines spezifischen sozialen Feldes (oder der objektiven Existenzbedingungen) zu betrachten (vgl. Schmincke 2009, S. 121). Die im Habitus sedimentierten Denk- und Wahrnehmungsschemata sowie die ihnen inhärenten Klassifikations- und Unterscheidungsprinzipien manifestieren sich mitunter in Praktiken der Lebensführung und der Körperhaltungen. Äußerliche körperliche Merkmale, Geschmack, Stil, Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien sind somit zum einen Produkt einer inkorporierten Position und ebenso Ausdruck dieser, anders formuliert: die soziale Position wird verkörpert (vgl. Klein 2017, S. 340). Es lässt sich weiterführen: Über den Habitus vermittelt werden scheinbar alltägliche Gegenstände und Verhaltensweisen zu distinkten und distinktiven Zeichen, insofern sie in die symbolische Ordnung sozialer Unterscheidungen überführt werden. So werden aus klassifizierten Unterschieden Unterscheidungen. Ihren sozialen Sinn erhalten Praktiken, Besitztümer, Meinungen oder Körper dadurch, dass sie etwas symbolisieren, nämlich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder Klasse (vgl. Krais und Gebauer 2002, S. 37). Und so symbolisieren auch Körper die sozialen Bezüge, in denen sie agieren und tragen maßgeblich zu sozialen Distinktionen bei. Dass dabei nicht nur Gegenstände, sondern ebenso Körper zu distinktiven Zeichen werden, verdeutlicht Bourdieu in ,Die feinen Unterschiede‘. Er zeigt auch, dass Körper in einem sozialen Profil erscheinen und an der Reproduktion sozialer Ungleichheit beteiligt sind. Dies begründet er damit, dass Korrespondenzen zwischen der Position im sozialen Raum (welche ihrerseits von der Verfügbarkeit über Kapitalsorten abhängig ist) und den äußerlichen 34

Daran knüpft Schmincke an und markiert als Aufgabe einer gesellschaftstheoretischen Körpertheorie die soziale Ordnung in dieser Hinsicht zu entmythologisieren (vgl. Schmincke 2009, S. 127).

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Körpermerkmalen, dem Geschmack, dem Stil, den Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien – dem Habitus – bestehen, die ihrerseits wiederum Produkte der inkorporierten sozialen Position sind (vgl. Schmicke 2009, S. 124). Die Verankerung sozialer Strukturen – und folglich einer von sozialer Ungleichheit, Ein- und Ausschluss, und Herrschaft durchzogenen sozialen Ordnung – ist also maßgeblich im Körper anzusiedeln. Dass der Habitus als Handlungen anleitendes Prinzip (Produzent) fungiert, das seinerseits Produkt gesellschaftlicher Strukturen ist, wird im nun anschließenden Teil fokussiert.35 Der Habitus als strukturierte und strukturierende Struktur Dass der Habitus durch eine Doppelaspektivität gekennzeichnet ist, wird in den nachfolgenden Ausführungen erörtert: Der Habitus ist Resultat der Einverleibung oder Inkorporation der sozialen Welt und ihrer Ordnungs- und Klassifikationsmuster. Zugleich ist er das Erzeugungsprinzip von Praktiken. Als einverleibtes System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen fungiert dieser als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen (vgl. Bourdieu 1993a, S. 98). Diese Doppelaspektivität lässt ihn somit als strukturierte und strukturierende Struktur, als opus operatum und modus operandi, bestimmbar werden. „Der Habitus ist nicht nur strukturierende Struktur, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur: das Prinzip der Teilung in logische Klassen, das der Wahrnehmung der Welt zugrunde liegt, ist seinerseits Produkt der Verinnerlichung der Teilung in soziale Klassen“ (Bourdieu 1982, S. 279). Daran lässt sich anschließen und weiterführen: Als Resultat der Einverleibung beziehungsweise Inkorporation der sozialen Welt, einschließlich ihrer Ordnungs- und Klassifikationsmuster, ist der Habitus strukturierte Struktur. Als solche ist er Produkt eines Feldes oder der jeweiligen Existenzbedingungen und den damit verbundenen Klassifizierungs- und Teilungsprinzipien. Damit sind Gewohnheiten, Stil und oder Haltungen zu fassen sowie Dispositionen und Schemata, die das Handeln, Wahrnehmen und Bewerten von Individuen anleiten (vgl. Junge und Schmincke 2007, S. 29). Als Ergebnis des

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An dieser Stelle lässt sich resümieren: Indem Bourdieu den Habitus als zentrales Vergesellschaftungsprinzip ausweist (vgl. Bourdieu 2001a, S. 172) markiert er bedeutsame Perspektiven auf die körperliche Dimension des Sozialen. Der Habitus ist gekennzeichnet durch Inkorporation, Präreflexivität, Strategie und Stabilität (vgl. Villa 2011, S. 64). Er zeichnet sich folglich durch eine relative Eigenständigkeit gegenüber dem Bewusstsein oder der Vernunft aus. Über den Habitus verankert sich die Gesellschaft (oder die Strukturen der Gesellschaft) im Körper, in seinen kognitiven Dispositionen, seiner Motorik und den Körperschemata (vgl. Schmincke 2009, S. 123). Der Habitus ist aufgrund seiner körperlichen Verankerung präreflexiv im Subjekt verankert. Somit werden die grundlegensten Ordnungen der Gesellschaft in Form von motorischen Schemata und automatischen Körperreaktionen Bestandteil einer Person, ohne dass sie einer Reflexion zugänglich sind (vgl. Bourdieu 1993, S. 127, zit. nach Jäger 2005, S. 103). Ihre besondere Wirksamkeit verdanken die Schemata des Habitus, Urformen der Klassifikationen, dem Faktum, dass sie jenseits des Bewusstseins wie des diskursiven Denkens, folglich außerhalb absichtlicher Kontrolle und Prüfung agieren.

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Aufwachsens in einem bestimmten sozialen Milieu bildet sich ein bestimmter Klassenhabitus. Dieser drückt sich in Geschmack, Vorlieben und Neigungen aus, aber auch grundsätzlich in den übernommenen Klassifizierungs- und Teilungsprinzipien (vgl. Schmincke 2009, S. 121).36 Der Habitus bildet so ein Klassifikationssystem „in den Grenzen des ökonomisch Möglichen und des Unmöglichen (deren Logik es tendenziell reproduziert)“ (Bourdieu 1982, S. 285). Auf diese Weise stellt er die Grundlage der den immanenten Regelmäßigkeiten einer Soziallage angepassten Praxisformen dar (vgl. Bourdieu 1982, S. 285).37 Gleichsam ist der Habitus strukturierende Struktur, da er Erzeugungsprinzip der Praxis ist. Als strukturierende Struktur fungiert der Habitus „[a]ls ein System von Dispositionen zu praktischem Handeln“ (Bourdieu 1992, S. 100). Somit bildet er eine objektive Grundlage regelmäßiger Verhaltensweisen, „folglich der Regelmäßigkeit von Verhaltensweisen“ (Bourdieu 1992, S. 100). So pointiert Bourdieu: „Der Habitus ist nichts anderes als jenes immanente Gesetz, jene den Leibern durch identische Geschichte(n) aufgeprägte lex insista, welche Bedingungen nicht nur der Abstimmung der Praktiken, sondern auch der Praktiken der Abstimmung ist“ (Bourdieu 1993a, S. 111). Als inkorporiertes Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema fungiert der Habitus „als Natur zur Natur gewordene, in in motorische Schemata und automatische Körperreaktionen verwandelte gesellschaftliche Notwendigkeit“ (Bourdieu 1993a, S. 127) – folglich nicht nur als Erzeugungsmodus von Praktiken, sondern er sorgt überdies für deren Abgestimmtheit. Somit erzeugt das – aus den Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen gegeben sind – Dispositionssystem des Habitus Praktiken, die „ohne bewusstes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen, objektiv geregelt und regelmäßig sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein“ (Bourdieu 1993a, S. 98-99). Bedingt durch die Homogenität der Existenzbedingungen sind die Praktiken deswegen einander angepasst, „weil die Form der Interaktion selbst den objektiven Strukturen geschuldet ist, welche die Dispositionen der interagierenden Handelnden erzeugt haben und ihnen dazu noch über diese Dis-

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Auf systematische Weise gibt der Habitus dabei die einer Klassenlage inhärenten Zwänge und Freiräume wie auch die konstitutive Differenz einer Position wieder. Als Klassifizierungsprinzip generiert der Habitus Denk- und Wahrnehmungsschemata, die die Betrachtungsweisen der sozialen Welt von Personen lenken. Die so generierten Praktiken unterschiedlicher sozialer Gruppen fußen auf unterschiedlichen Praxisformen, unterschiedlichen Wahrnehmungsund Bewertungsschemata. Sie stehen überdies in einem sich gegenseitig klassifizierenden Verhältnis zueinander (vgl. Barlösius 2011, S. 57-59). Im Vollzug der Praxis sind diese Denk-, Wahrnehmungsund Handlungsschemata miteinander verbunden, implizit und dem Bewusstsein nur bruchstückhaft zugänglich. Unbewusst sind sie insofern, als dass die Genese ihrer Geschichte vergessen wurde (vgl. Schwingel 1995, S. 63).

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positionen ihren jeweiligen Platz in der Interaktion und anderswo zuweisen“ (Bourdieu 1993a, S. 109). So lässt sich pointieren: „In dem Maße […] wie die Habitusformen dieselbe Geschichte verkörpern – oder genauer dieselbe in Habitusformen und Strukturen objektivierte –, sind die von ihnen erzeugten Praktiken wechselseitig verstehbar und unmittelbar den Strukturen angepasst, und außerdem aufeinander abgestimmt und mit zugleich einheitlichen und systematischen, über subjektive Absichten wie individuelle und kollektive Vorhaben hinausreichenden objektiven Sinn ausgestattet“ (Bourdieu 1993a, S. 108). Dabei werden die grundlegensten Ordnungen der Gesellschaft in Form von motorischen Schemata und automatischen Körperreaktionen Bestandteil einer Person, ohne dass sie einer Reflexion zugänglich sind (vgl. Bourdieu 1993a, S. 127, zit. nach Jäger 2005, S. 103).38 An dieser Stelle verweist Bourdieu explizit darauf, dass der Habitus auf einer präreflexiven Ebene im Körper verankert ist.39 Die Konstanz von Praktiken und somit die Kontingenz sozialer Ordnungen gewährleistet der Habitus sicherer als formelle Regeln und explizite Normen (vgl. Bourdieu 1993, S. 101), da sie zur zweiten Natur – oder anders formuliert – zu Körper geworden sind.40 Dies soll die schwere Änderbarkeit des Habitus plausibilisieren. Sens Pratique Dass Verstehen nicht als ein rein kognititver Akt zu begreifen ist, sondern als eine Verstehensleistung des Körpers, lässt sich mit Bourdieus Konzept des ,praktischen Sinns‘ in den Blick nehmen. Diesen weist Bourdieu als eine Instanz des praktischen Verstehens und Handelns aus. Das Konzept wird nun in gebotener Kürze erörtert. 41 38

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Gemeint sind damit im Körper verankerte praktische Schemata und Dispositionen, die das Denken, Fühlen, Urteilen, Wahrnehmen, Bewerten, Klassifizieren und Handeln strukturieren und ermöglichen (vgl. Schmincke 2009, S. 120). Dies wird gemeinhin mit dem Begriff der Präreflexivität assoziiert. Dass Einschreibungsprozsse nicht nur körperlich, sondern auch leiblich – auf einer präreflexiven Ebene – verankert sind und diese ebenso eine affektive, spürbare Komponente haben, lässt sich mit leibtheoretischen Zugängen begründen. Dass der Habitus insbesondere auf einer leiblichen Ebene zu verorten ist, plausibilisiert zum Beipsiel Jäger (2004) bezugnehmend auf Helmuth Plessners Position der Exzentrizität (dazu Kapitel 1.5). Damit dass Körper als Dimension der Erkenntnis auszulegen sind, beschäftigt Bourdieu sich explizit in den ,Meditationen‘ (vgl. Bourdieu 2001a). In der so verfassten ,Kritik der scholastischen Vernunft’ weist er ,körperliche Erkenntnis‘ als eine Erkenntnisdismension aus, die gesellschaftlichen Prägungen unterliegt. Diese Fähigkeit deutet er als Inkorporation sozialer Prinzipien, die dem Erfassen der sozialen Welt dienen (vgl. Bourdieu 2001a, S. 167). Hier lassen sich Rückbezüge zur körpersoziologischen Dimensionalisierung des Körpers als Produzent ziehen. Gleichsam wird diese in den Arbeiten von Bourdieu angelegte Potenzialität des Körpers als Medium einer spezifisch körperlichen Erkenntnis insbesondere im Kontext körpesoziologischer Debatten aufgegriffen und weitergeführt (vgl. etwa Alkemeyer 2003, Alkemeyer et al. 2009; Böhle und Weihrich 2009). Innerhalb der These, dass in Praktiken im Alltag ein sozialer Sinn enthalten ist, differenziert Bourdieu in einen theoretischen und einen praktischen Sinn. Mit dem theoretischen Sinn geht dem jeweiligen Handeln eine gedankliche Vorstellung über den Zweck dieser voraus. Die vom praktischen Sinn generierten Praktiken sind dabei sinnvoll, das heißt, sie sind mit Alltagsverstand ausgestattet. Der die Praktiken organisierende praktische Sinn funktioniert für gewöhnlich mit der automatischen Sicherheit eines

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Kennzeichnend für den praktischen Sinn ist, dass er auf einer präreflexiven Ebene anzusiedeln ist und auf implizitem, praktischem Wissen basiert. 42 „Dieser praktische Sinn als Alltagswissen ist der Fundus an selbstverständlichen Wahrnehmungsrastern und Handlungsmustern, die den vergesellschafteten Subjekten für bestimmte Interaktionen zur Verfügung stehen“ (Villa 2011, S. 65).43 Der praktische Sinn unterstützt Personen in der sozialen Welt sowie in spezifischen Feldern zu agieren. Er kann somit als präreflexive Ressource zum Erfassen und Beurteilen einer Situation gedeutet werden, die situationsadäquates Handeln ohne überwiegend geistige und bewusste Planung und bewusstes Abwägen in Situationen ermöglicht. Dass darin dennoch Abstimmungen erkennbar sind, liegt darin begründet, dass er auf im Körper sedimentierten Dispositionen, auf im Körper sedimentierten sozialen Situationen, körperlich abgespeicherten Erfahrungen und präreflexiven Wissensbeständen beruht (vgl. Alkemeyer 2004, S. 55; Alkemeyer et al. 2010, S. 244-245).44 Der praktische Sinn leitet Handlungen auf einer präreflexiven Ebene an und stellt dabei eine Art notwendiger Koinzidenz zwischen einem Habitus und einem Feld (oder einer Position im Feld) her. Dies verleiht ihm – so Bourdieu (2001a) – den Anschein prästabilisierter Harmonie: „Wem die Strukturen der Welt (oder eines besonderen Spiels) einverleibt sind, der ist hier unmittelbar spontan „zu Hause“ und schafft, was zu schaffen ist […], ohne überhaupt nachdenken zu müssen, was und

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Instinktes, jenseits expliziter Überlegungen und Reflexionen (vgl. Schwingel 1995, S. -64). Der praktische Sinn manifestiert sich in einer unmittelbaren Reaktion auf die soziale Praxis. Beide fließen in Handlungsweisen von Personen mit ein. So konstatiert auch Bourdieu (1993a): „Eine der grundlegendsten Auswirkungen des Einklangs von praktischem Sinn und objektiviertem Sinn besteht darin, dass eine Welt des Alltagsverstands geschaffen wird, deren unmittelbare Evidenz durch die vom Konsens über den Sinn der Praktiken und der Welt gewährleistete Objektivität verstärkt wird […]“ (Bourdieu 1993a, S. 108). Diesen beiden Sinnformen entsprechend differenziert Bourdieu in divergente Formen des Handelns: das theoretische und das praktische Handeln. Letzteres ist als habitualisiertes sowie routinisiertes Handeln zu begreifen. Es ist wesentlich durch Verinnerlichung und Gewöhnung und somit von Sinnlichkeit und Spontaneität geprägt (vgl. Barlösius 2011, S. 32-33). Anzumerken ist, dass die Geschichte, die Genese sowie strukturelle Bedingtheiten dieses Handelns vergessen werden. Der soziale Sinn ist als im menschlichen Körper verankert zu betrachten; dieser wiederum wird durch habituelle Schemata geformt und somit zu einem ‚sozialisierten Körper‘, in welchem die praktische Vernünftigkeit des sozialen Sinns zum Tragen kommt (vgl. Schwingel 1995, S. 59-81). Den Ausführungen zum praktischen Sinn ist die Bedeutung praktischer und impliziter Wissensbestände inhärent, die sowohl in Performativitätstheorien als auch in Praxistheorien als konstitutiv für den Verlauf von (sozialen) Praktiken erachtet werden (siehe auch Kapitel 3). Damit legt Bourdieu dar, dass und warum Praktiken im Feld nicht zufällig und kontingent zustande kommen, sondern vielmehr von den sozialen Akteuren strategisch zum Einsatz gebracht werden. Derartige Strategien sind nicht als bewusst getroffene Entscheidungen zu denken (dazu vertiefend Bourdieu 1993a,b), sondern unbewusst oder als habitualisierte, präreflexive, strategische und geregelte Handlungsdisposition. Mithin zielen die Strategien auf Distinktion (vgl. Villa 2011, S. 66). In Bourdieus Ausführungen zum praktischen Sinn zeigt sich der Körper als Produzent, der für Abgestimmtheit der Praktiken von sozialen Akteur*innen oder Gruppen sorgt, welche zur Aufrechterhaltung sozialer Strukturen aber auch sozialer Distinktionen beitragen. Somit findet sich bei Bourdieu ein Ansatz, der Praktiken von Akteur*innen in den Blick nimmt (vgl. Jäger 2005, S. 100).

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wie; er bringt Handlungsprogramme hervor, die sich als situationsgemäß und dringlich objektiv abzeichnen und an denen sein Handeln sich ausrichtet, ohne daß sie durch und für das Bewußtsein oder den Willen klar zu expliziten Normen oder Geboten erhoben worden wären“ (Bourdieu 2001a, S. 183). So wissen Personen, was sich – je nach Milieu oder Schicht – in bestimmten Situationen gehört oder eben nicht. Dass dies körperleibliche Erfahrungen wie Scham, Angst oder Nervosität etc. zur Konsequenz haben kann, markiert beispielsweise Paula-Irene Villa (2011). Sie führt daran anschließend weiter aus, dass der praktische Sinn auf implizitem, praktischem Wissen basiert.45 Das praktische Wissen resultiert indes aus den Bedingungen der Entstehungskontexte der sozialen Akteur*innen. Es leitet menschliches Handeln an und konstituiert Sinnhaftigkeit. Das praktische Wissen, welches als Praxiswissen theoritisierbar ist, ermöglicht ein präreflexives Beherrschen der sozialen Welt. Bereits hier verweist Bourdieu auf die Macht von Klassifikationen, die die soziale Welt ordnen, jedoch stets als Resultat der Inkorporation dieser zu denken sind: „Als eine Art praktischer Beherrschung des Klassifizierens und rangspezifischen Einordnens, die mit einer wissenschaftlich fundierten Aufstellung eines zugleich kohärenten und der gesellschaftlichen Realität entsprechenden Ordnungssystems nichts gemein hat, beinhaltet das praktische ,Wissen‘ von den im Sozialraum eingenommenen Positionen – Voraussetzungen für das Vermögen, sich gegenüber klassifizierten und klassifizierenden Personen wie Sachen […] ,standesgemäß‘ zu verhalten“ (Bourdieu 1982, S. 736-737).46 Daran lässt sich anschließen: Der praktische Sinn basiert auf einem ‚Gespür‘ für die Welt und wird aus der doxischen Erfahrung gespeist (vgl. Barlösius 2011, S. 32). „Der praktische Sinn als Natur gewordene, in motorische Schemata und automatische Körperreaktionen verwandelte gesellschaftliche Notwendigkeit sorgt dafür, 45

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In wissenssoziologischer Positionierung wird dieses praktische, implizite oder präreflexive Wissen als Körperwissen diskutiert (dazu vertiefend Keller und Meuser 2011). Körperwissen wird nicht als ein Wissen vom Körper, sondern als ein Wissen des Körpers theoritisiert. Dabei fungiert der Körper als eigenständiger Träger von Wissen, welches nicht in kognitive Prozesse übersetzt ist und werden kann (vgl. Keller und Meuser 2011, S. 10). In neophänomenologischer Theorie wird das Körperwissen als leibliches Wissen bezeichnet, „das gleichbedeutend ist mit Fertigkeiten, Routinen und Habitualisierungen, die das Ergebnis bewusster Typisierungen sind, welche sich im ,Hintergrund‘ des Bewusstseins und des Körpers abgelagert bzw. in den Körper eingeschrieben haben und in diesem Sinne inkorporiert sind“ (Gugutzer 2012, S. 70). Dass es zur Fundierung dieser komplexen Zusammenhänge einer leibtheoretischen Justierung bedarf, darauf verweist Gugutzer (2012). Die Bedeutung des praktischen Wissens wird in praxistheoretischen Diskursen als konstitutiv für das Funktionieren sozialer Interaktionen sowie für das Bestehen sozialer Interaktionen akzentuiert. Neueren – neophänomenologischen Zugängen zufolge – ist auch das Habituskonzept Bourdieus unter dieser Perspektivierung zu betrachten. So führt Gugutzer (2012) auf Bourdieu Bezug nehmend aus, dass der Habitus ein inkorporiertes, präreflexives sowie leiblich-intentionales Wissen ist, welches sich wesentlich in der Praxis, jenseits expliziter Vorstellung und verbalem Ausdruck vollzieht, als motorische Schemata und automatische Körperreaktionen (vgl. Gugutzer 2012, S. 69). Das inkorporierte Wissen – in Gestalt quasi-natürlicher Manieren und Verhaltensformen – ist dabei insofern von sozialer Relevanz, als dass es sich in einem Gespür dafür äußert, was Personen sich erlauben dürfen und was nicht oder aber sich in Takt, Gewandheit, Lebensart oder Feinfühligkeit manifestiert (vgl. Gugutzer 2012, S. 69).

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daß Praktiken in dem, was an ihnen im Auge des Erzeugers verborgen bleibt und eben die über das einzelne Subjekt hinausreichenden Grundlagen ihrer Erzeugung verrät, sinnvoll, d.h. mit Alltagsverstand ausgezeichnet sind“ (Bourdieu 1993a, S. 127). So pointiert Bourdieu „Wer sich in der Welt ,vernünftig‘ verhalten will, muß über ein praktisches Wissen von dieser verfügen, damit über Klassifikationsschemata […] über geschichtlich ausgebildete Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die aus der objektiven Trennung von ,Klassen‘ hervorgegangenen (Alters-, Geschlechts, oder, Gesellschaftsklassen), jenseits von Bewusstsein und diskursivem Denken arbeiten. Als Resultat der Inkorporierung der Grundstrukturen einer Gesellschaft und allen Mitgliedern derselben, ermöglichen diese Teilungs- und Gliederungsprinzipien den Aufbau einer gemeinsamen sinnhaften Welt, einer Welt des sensus communis“ (Bourdieu 1982, S. 730). Damit markiert Bourdieu die Macht von Unterscheidungen, welche als Klassifikationen im sozialen Raum bedeutungsvoll werden und dabei aus der Inkorporation der sozialen Position im Raum und einer von Ein und Ausschlüssen durchzogenen sozialen Ordnung resultieren. Er theoretisiert Zuschreibungen und Klassifizierungen – und damit einhergehende verbale Zurechtweisung oder Ausschlüsse als Bestrebungen der Distinktion – nicht als intellektuelles Verfahren, sondern als praktische Zuweisungen und Positionierungen (vgl. etwa Bourdieu 1992). Grundlegend ist die Bereitschaft der Beteiligten, das Spiel des jeweiligen Feldes spielen zu wollen. Dies fasst Bourdieu mit dem Begriff der ,Illusio‘ (Bourdieu 2001a, S. 174). Als ein praktischer Glauben am Spiel bezeichnet dieser eine stillschweigende Anerkennung, die durch den Körper und den Leib vermittelt wird (vgl. Schmincke 2009, S. 122).47 So weist Bourdieu darauf hin, dass der praktische Glaube ein Zustand des Leibes ist. „Die ursprünglche doxa ist jenes unmittelbare Verhältnis der Anerkennung, das in der Praxis zwischen einem Habitus und dem Feld hergestellt wird, auf das dieser abgestimmt ist, also jene stumme Erfahrung der Welt als einer selbstverständlichen, zu welcher der praktische Sinn verhilft“ (Bourdieu 1999, S. 126; in Schmincke 2009, S. 122).48 Als

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Oftmals vergleicht Bourdieu diese Felder mit einem Spiel, in dem die Mitglieder dieses Spiels um einen bestimmten Einsatz spielen. Die Logik des Feldes wird durch die Teilnahme am Spiel aufrecht erhalten. Die ‚Illusio‘ – der praktische Glaube an das Spiel – bewirkt zum einen, dass das Feld sowie das Spiel als selbstverständlich erfahren werden, zum anderen, dass Teilnehmer*innen die an sie gestellten Anforderungen ‚praktisch‘ antizipieren können (vgl. Bourdieu 2001a, S. 174). Durch das Zusammentreffen von Habitus und Feld sind Akteure eines Spiels mit einem objektiven – feldimmanenten – sowie einem subjektiven Sinn ausgestattet, der sich aus der praktischen Beherrschung der spezifischen Regelmäßigkeiten ergibt. Dadurch handeln sie sinnhaft aufeinander abgestimmt (vgl. Bourdieu 1993a, S. 122-128). Die doxa bezeichnet bei Bourdieu das unmittelbare Verhältnis der Anerkennung, welches in der Praxis zwischen dem Habitus und einem Feld hergestellt wird, auf welches der Habitus wiederum abgestimmt ist. Sie lässt die Welt als selbstverständlich erscheinen. Dazu verhilft der praktische Sinn (vgl. Bourdieu 1993a, S. 126). Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man (vgl. Bourdieu 1993a, S. 135). Der praktische Sinn verhilft der doxa zu

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solcher gewährleistet dieser eine ontologische Komplizität, eine Übereinstimmung zwischen Habitus und Feld. In der Dialektik von Habitus und Feld reagieren die Struktur und die Praxis über den Habitus, die ihn erzeugt haben (vgl. Bourdieu 1993a, S. 102). Dass der praktische Sinn auch als sozialer Sinn zu deuten ist, der sich – als Produkt der Einverleibung des Sozialen – als „sense of one’s place“ (Bourdieu 1992, S. 141144) bemerkbar macht, lässt sich in Zusammenhang mit sozialen Positionierungen bringen.49 Als solcher äußert er sich als Sinn oder gar als subjektives Gespür für Grenzen, die sich auf soziale Ungleichheiten und Positionierungen im sozialen Gefüge beziehen. Somit fördert er Selbstpositionierungen in bestehenden sozialen Ordnungen (vgl. Alkemeyer et al. 2010, S. 236). Er äußert sich als „motorische Schemata und automatische Körperreaktion, als instinktives Handeln oder Gespür für die Situation – bspw. als Gespür für die sozial angemessene körperliche Nähe, die man zu anderen Personen einnehmen darf oder soll“ (Gugutzer 2010, S. 78). Der Körper erfüllt folglich eine erkenntnisleitende Funktion: über ihn werden praktische Erkenntnisakte sowie Eintrittskarten ins Feld vollzogen (vgl. Schmincke 2009, S. 122). Eine weitere (erkenntnisleitende) Funktion des Körpers ist die eines Speichers inkorporierter Wissensbestände. Mitsamt ist der Habitus die einverleibte, zur Natur gewordene und vergessene Geschichte und als solches Produkt der Geschichte und somit die wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat (vgl. Bourdieu 1993a, S. 105). An dieser Stelle lässt sich resümieren: Indem Bourdieu den Habitus als zentrales Vergesellschaftungsprinzip ausweist (vgl. Bourdieu 2001a, S. 172), markiert er bedeutsame Perspektiven auf die körperliche Dimension des Sozialen. Der Habitus ist gekennzeichnet durch Inkorporation, Präreflexivität, Strategie und Stabilität (vgl. Villa 2011, S. 64). Er zeichnet sich folglich durch eine relative Eigenständigkeit gegenüber dem Bewusstsein oder der Vernunft aus. Über den Habitus verankert sich die Gesellschaft (oder die Strukturen der Gesellschaft) im Körper, in seinen kognitiven Dispositionen, seiner Motorik und den Körperschemata (vgl. Schmincke 2009, S. 123). Der Habitus ist aufgrund seiner körperlichen Verankerung präreflexiv im Subjekt verankert.50 Somit werden die grundlegendsten Ordnungen der Gesellschaft in Form von

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einwm unmittelbaren Verhältnis der Anerkennung, welches quasi selbstverständlich und stumm in der Praxis zwischen einem Habitus und einem Feld hergestellt wird (vgl. Bourdieu 1993a, S. 126). Zu einem subjektiven Sinn wird der soziale Sinn zum einen, weil er sich aus der Inkorporation sozialer Strukturen zusammensetzt. Zum anderen ist an dieser Stelle die Dimension des Leiblichen zu berücksichtigen. Bezugnehmend auf Leibtheorien und Gesa Lindemanns (2011) Ausführungen zur Verschränkung lässt sich plausibilisieren, dass soziale Ordnungen auf der Ebene des Leiblichen ihre sinnliche Faktizität und für die Subjekte spürbare Wirksamkeit entfalten (vgl. Lindemann 2011). Zwischen der präreflexiven Anerkennung der gesellschaftlichen Ordnung und der körperlich-leiblichen Verfasstheit des Menschen besteht dabei ein enger Zusammenhang.: „[d]as derart Einverleibte

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motorischen Schemata und automatischen Körperreaktionen Bestandteil einer Person, ohne dass sie einer Reflexion zugänglich sind (vgl. Bourdieu 1993, S. 127). Ihre besondere Wirksamkeit verdanken die Schemata des Habitus, Urformen der Klassifikationen, dem Faktum, dass sie jenseits des Bewusstseins wie des diskursiven Denkens, folglich außerhalb absichtlicher Kontrolle und Prüfung agieren (vgl. Bourdieu 1982, S. 727). In welcher Weise Bourdieu gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse als somatisiert – also verkörpert – denkt, erörtert er insbesondere in ,die männliche Herrschaft‘. Diese wird in den nun folgenden Ausführungen erläutert. 1.2.2

Verkörperung von Herrschaftsverhältnissen

Bourdieu bestimmt den Habitus als Resultat der Einverleibung und Inkorporation der sozialen Welt, ebenso ihrer Ordnungs- und Klassifikationsmuster. Anders formuliert ist Habitus das ,Körper gewordene Soziale‘ (vgl. Bourdieu und Wacquant 2006). Er pointiert: „Der Körper, gesellschaftlich produzierte und einzige sinnliche Manifestation der ,Person‘, gilt gemeinhin als natürlichster Ausdruck der innersten Natur […] von Natur aus Natur oder von Natur aus ,kultiviert‘ (Bourdieu 1982, S. 310). Mitsamt öffnet Bourdieu den Blick für die Verankerung sozialer Strukturen im Körper (vgl. Schmincke 2009, S. 123) und legt so nicht nur eine Perspektive auf die Inkorporation sozialer Ordnungen frei, sondern auch auf die „Somatisierung der Herrschaftsverhältnisse“ (Bourdieu 1997, S. 166). Im Rahmen seiner Sozialtheorie wird auch die Macht von Klassifikationen in unterschiedlichen Perspektiven thematisch. Die These, dass Klassifikationen machtvoll und dabei nicht unabhängig von der sozialen Position zu betrachten sind, die eine Person im Kontext des sozialen Raums einnimmt, und dass soziale Strukturen überdies von einer durch Ein- und Ausschluss und Herrschaft durchzogenen sozialen Ordnung geprägt sind und im Alltag bedeutungsvoll werden, bietet diverse Anschlussmöglichkeiten für die vorliegende Studie. Für das Habituskonzept ist der Begriff der Inkorporation zentral. Dieser Terminus bezeichnet Habitualisierungs-, Sozialisations- und Einschreibungsvorgänge in den Körper. Inkorporierte habituelle Strukturen werden zur zweiten Natur (vgl. Bourdieu 1992, S. 84). Das Haben von materiellen und kulturellen Ressourcen wird durch die Verinnerlichung und Inkorporation zum Sein (vgl. Villa 2011, S. 63-64). So formuliert Bourdieu: „Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man“ (Bourdieu 1993a, S. 135). Der Begriff Inkorporation verweist somit explizit auf die Prägekraft sozialer Strukturen auf und in den Körper, in dem Sinne, dass Personen die sie umgebenden sozialen Verhältnisse einverleiben und diese sich in ihre Körper einschreiben. Somit unternimmt Bourdieu den Versuch, findet sich jenseits von Bewusstseinsprozessen angesiedelt, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt noch davor, explizit gemacht zu werden“ (Bourdieu 1979, S. 200, zit. nach Jäger 2005, S. 105).

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die Einschreibung sozialer Ordnungen in den Körper des Menschen zu fassen (vgl. Jäger 2005, S. 100). Die Hinwendung zur Inkorporation sozialer Teilungsprinzipien und Hierarchien legt eine Perspektive auf den Aspekt der Naturalisierung frei: Durch die Einverleibung wird die soziale Ordnung zur Natur des Menschen. ‚Natürlich‘ ist in dieser Perspektive als selbstverständlich und unhintergehbar zu verstehen (vgl. Jäger 2005, S. 103105). In dem Sinne, in dem der Habitus als einverleibte, zur Natur gewordene und vergessene Geschichte die wirkende Präsenz der Vergangenheit ist, die ihn erzeugt hat, sind soziale Verhältnisse in und über Körper naturalisiert (vgl. Jäger 2005, S. 103). Die Verankerung der sozialen Welt (einschließlich ihrer Teilungs- und Klassifikationsprinzipien) in Körpern lassen soziale Klassenteilungen oder die feinen Unterschiede als Naturgegebenheit erscheinen. Als Wahrnehmungsgrundlage erfasst der Habitus die lagespezifischen Differenzen in Gestalt von Unterschieden zwischen klassifizierten und klassifizierenden Praxisformen. Diesen liegen Unterscheidungsprinzipien zugrunde, die ihrerseits Produkte jener Differenzen sind, sie diesen objektiv angeglichen erscheinen, und sie deshalb tendenziell als natürliche auffassen (vgl. Bourdieu 1982, S. 279). Daran schließt etwa Jäger (2005) an und pointiert, dass durch die so gefasste Naturalisierung die Kontingenz der sozialen Ordnung aus dem Blick gerät.51 Ihre Dauerhaftigkeit erhält die soziale Ordnung als Wirklichkeit erst dadurch, dass sie als natürlich erscheint und somit nicht hinterfragt wird. Erklärbar wird damit beispielsweise die Persistenz und Reproduktion sozialer Strukturen insofern, als dass sich insbesondere im Prozess der Inkorporation sozialer Teilungsprinzipien und Hierarchien Naturalisierungen vollziehen. Dem zufolge werden diese nicht nur durch alltägliche Körperpraktiken oder Gesten, Neigungen und Verhaltensweisen sozialer Akteur*innen reproduziert. Durch den Nimbus des Natürlichen scheinen sie vielmehr als naturgeben und unveränderbar (vgl. Schmincke 2009, S. 123). An diese Deutungen anschließend veranschaulichen Bourdieus Arbeiten, wie sich die gesellschaftlichen Strukturkategorien Klasse und Geschlecht über die Dimensionen des Körperlichen reproduzieren (vgl. Schmincke 2009, S. 124).52 Dies soll im Folgenden vertieft werden.

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Naturalisierung lässt sich so als ein wesentlicher Mechanismus bestimmen, der zur Verschleierung und Konsistenz sozialer Strukturen beiträgt. Pointieren lässt sich dabei, dass der Habitus in Körper eingeschriebene, zur zweiten Natur des Menschen gewordene und vergangene Geschichte ist, die als solche nicht erkannt wird (vgl. Bourdieu 1992, S. 171; Jäger 2005, S. 103). Die konstitutiven Zeichen des wahrgenommenen Körpers wecken tatsächlich den Anschein einer natürlichen Fundierung (vgl. Bourdieu 1982, S. 310). So lässt sich eine Perspektive darauf einnehmen, dass und wie soziale Macht- und Ungleichheitsverhältnisse sich an und über Körper naturalisieren. So zeigt etwa Krais (1993), dass die Konstruiertheit der Kategorie Geschlecht über Prozesse der Naturalisierung verschleiert wird, genauso wie klassenbezogene soziale Ungleichheiten als Gegebenheiten hingenommen werden (vgl. Krais 1993).

Eine ,verkörperte Theorie des Sozialen‘

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Klasse In ,Die feinen Unterschiede‘ befasst Bourdieu (1982) sich mitunter mit Fragen nach Ursächlichkeiten und Mechanismen sozialer Ungleichheit in der französischen Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre. Vor dem Hintergrund eines marxistisch eingefärbten Strukturalismus differenziert er die französische Gesellschaft in unterschiedliche Klassen (vgl. Gugutzer 2015, S. 71). Von ungleichheitstheoretischen Fragestellungen geleitet stellt die Verknüpfung von Klassenlage (der Position im sozialen Raum sowie die Verfügbarkeit über Kapitalien) und Lebensführung einen wesentlichen Beitrag zur Erweiterung soziologischer Klassendiskussionen dar. In diesem Werk plausibilisiert der französische Soziologe in luzider Weise, dass soziale Hierarchien sich als Distinktionen insbesondere durch den Geschmack und damit einhergehend von Lebensstilen, Praktiken der Lebensführungen oder Konsumgewohnheiten materialisieren. Gesellschaft fasst Bourdieu indes als einen Raum, der aus autonomen Feldern besteht.53 Diese sind als Kräftefelder bestimmbar, denen eine spezifische Logik zu eigen ist. Die Strukturen der Felder existieren dabei als Ding gewordene Geschichte – in objektivierter Form – sowie in Leib gewordener (einverleibter) Geschichte. Eine soziale Klasse weist Bourdieu (1982) als eine Gruppe von Akteur*innen aus, die relativ ähnliche Lebensbedingungen aufweist und dadurch vergleichbare Habitusformen, Praktiken und Lebensstile entwickelt (vgl. Gugutzer 2015, S. 70). Soziale Klassen lassen sich theoretisch anhand von drei Merkmalen bestimmen: Dem Volumen und der Struktur von Kapital sowie dessen zeitlicher Entwicklung (vgl. Gugutzer 2015, S. 70). Kapital bezeichnet indes akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder aber in verinnerlichter, inkorporierter Form (vgl. Gugutzer 2015, S. 70). Bourdieu differenziert die Formen des Kapitals in ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital (dazu vertiefend Bourdieu 2005). Dabei gelten die Kapitalien sowie die Verfügbarkeit über sie als maßgeblich dafür, welche Position eine Person im sozialen Raum einnimmt. Das Volumen der Kapitalien bestimmt die Klassen (der französischen Gesellschaft), die Struktur – die Zusammensetzung – des Kapitals bestimmt die unterschiedlichen Fraktionen innerhalb der Klassen (vgl. Gugutzer 2015, S. 70).54 Die Klassenlage und entsprechend das verfügbare Kapitalvolumen äußern sich in Formen der Lebensführung und schlagen sich in den Lebensstilen nieder. Lebensstile bilden systematische Produkte des Habitus und konstituieren in ihren Wechselbeziehungen entsprechend der Schemata des Habitus 53

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Den sozialen Raum konzipiert Bourdieu (1982, S. 278) als Raum der Sozialpositionen und Raum der Lebensstile. Dabei machen seine Untersuchungen der französischen Gesellschaft evident, dass mit der Sozialposition einer Person ein jeweiliger Lebensstil korrespondiert, der jeweils durch Arten der Lebensführung, der Ausbildung eines bestimmten (Klassen-) Geschmacks sowie einem bestimmten Habitus gekennzeichnet ist. Bourdieu (1982) differenziert die Klassenstruktur der französischen Gesellschaft in drei große Klassen: die herrschende Oberklasse (Großbürger*innentum), die Mittelklasse (Kleinbüger*innentum) und die untere Klasse (Arbeiter*innen und Bauernschaft).

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wahrgenommene Systeme gesellschaftlich qualifizierter Merkmale wie beispielsweise wohlhabend, arm, vulgär, dick oder dünn (vgl. Bourdieu 1982, S. 281). Exkurs: Körper als Kapital Dass Körper im Rahmen der Konzeptionalisierungen von Bourdieu als eine eigenständige Kapitalform ausgelegt werden und stratifikatorische Distinktionsstrategien im sozialen Raum versprechen, wird im Folgenden in Kürze beleuchtet. Im Anschluss an Bourdieus ungleichheits- und klassentheoretischen Überlegungen ist Schönheit als Statuskategorie mit Macht verbunden, verkörpert kulturelles Kapital und damit objektive soziale Verhältnisse. Es kann jedoch auch fehlendes ökonomisches und kulturelles Kapital kompensieren (vgl. Degele 2017, S. 116). Die spezifischen Inszenierungen orientieren sich dabei an ästhetischen Normen (Bewertungsund Klassifikationsschemata), deren Inkorporation und Habitualisierung sich als Formen symbolischer Herrschaft beschreiben lassen können. Die Bewertungs- und Klasssifikationsschemata dienen somit der sozialen Positionierung (vgl. Schmincke 2011, S. 152). Im anschließenden Part wird bezugnehmend auf die Arbeiten von Bourdieu beleuchtet, in welcher Weise Herrschaftsverhältnisse als verkörperte Verhältnisse perspektivierbar sind. Der Exkurs endet bereits mit diesen Anmerkungen. Bourdieu stellte folglich Korrespondenzen zwischen der jeweiligen Position im sozialen Raum und den Habitusformen, ergo äußerlichen körperlichen Merkmalen, dem Geschmack, dem Stil, den Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien fest. Diese interpretierte er als Produkt der inkorporierten Position (vgl. Schmincke 2009, S. 124). Der Habitus gilt dabei als vermittelnde Instanz. Die im Habitus sedimentierten Denkund Wahrnehmungsschemata sowie die ihnen inhärenten Klassifikationsprinzipien manifestieren sich in Praktiken der Lebensführung. Der individuelle Habitus – welcher als Resultat der Einverleibung und Inkorporation der sozialen Welt, ebenso ihrer Ordnungs- und Klassifikationsmuster, auszulegen ist – gilt dabei als Variation eines kollektiven, eines Klassenhabitus, über den soziale Teilungsprinzipien in die Körper der Akteure eingeschrieben sind. Das Unbewusste dieser Vermittlung sowie ihre Verankerung in Körpern – so beispielsweise in der Statur, der Art sich zu bewegen oder ästhetische Präferenzen – lassen die Klassenlage als Naturgegebenheit erscheinen (vgl. Schmincke 2009, S. 124). Der Habitus bezeichnet also nicht die subjektive Struktur eines Individuums, sondern überdies „das Ensemble inkorporierter Schemata der Wahrnehmung, des Denkens, des Fühlens, Bewertens, Sprechens und Handelns, das alle – expressive, verbale und praktische – Äußerungen der Mitglieder einer Gruppe oder Klasse strukturiert“ (Frerichs und Steinrücke 1988, S. 93). Somit verankert sich über den Habitus „die Struktur oder die Gesellschaft direkt im einzelnen Körper, in seinen kognitiven Dispositionen, seiner Motorik, seinem Körperschema“ (Schmincke 2009, S. 123). Das heißt, die Existenzbedingungen – die jeweilige Position im Feld –

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bedingen auch die Ausbilung entsprechender kognitiver Strukturen, durch die wiederum das Handeln im Feld strukturiert wird (vgl. Schmincke 2009, S. 123). Auf systematische Weise gibt der Habitus dabei die einer Klassenlage inhärenten Zwänge und Freiräume wie auch die konstitutive Differenz einer Position wieder, die sich in Lebensstilen, Kommunikations- und Handlungsmustern, geschmacklichen Vorlieben, Ausdruck oder Sprache manifestieren. Schmincke (2009) führt weiter aus, dass neben der direkten Prägung durch den jeweiligen Klassenhintergrund auch die Teilungsund Klassifikationsprinzipien der sozialen Welt – als einer Welt sozialer Gruppen und Klassen – inkorporiert werden. Sie leiten die individuelle Wahrnehmung der Welt, die sich dann wieder als eine geteilte Welt präsentiert (vgl. Schmincke 2009, S. 124). So erfasst der Habitus als Wahrnehmungsgrundlage die lagespezifischen Differenzen in Gestalt von Unterschieden zwischen klassifizierten und klassifizierenden Praxisformen. Diesen liegen Unterscheidungsprinzipien zugrunde, die ihrerseits Produkte jener Differenzierungen sind, sie sich diesen objektiv angeglichen präsentieren und sie deshalb tendenziell als natürliche auffassen (vgl. Bourdieu 1982, S. 279). Die Schemata des Habitus wirken unsichtbar, somit sind sie geschützt vor willkürlichen Veränderungen (vgl. Jäger 2005, S. 105). In ,Die feinen Unterschiede‘ zeigt Bourdieu (1982) eindrücklich, dass sich soziale Hierarchien unter Klassen als Distinktion durch den Geschmack und somit in den Lebensstilen oder den Konsumgewohnheiten materialisieren. Als Natur gewordene, das heißt als inkorporierte Kultur oder als Körper gewordene Klasse, trägt der Geschmack bei der Erstellung des ,Klassenkörpers‘ bei. Als inkorporiertes, jedwede Form der Inkorporation bestimmendes Klassifikationsprinzip, wählt er aus und modifiziert, was der Körper physiologisch wie psychologisch aufnimmt, verdaut und assimiliert. Daraus folgt, dass der Körper die unwiderlegbarste Objektivierung des Klassengeschmacks darstellt oder diesen zum Ausdruck bringt. Dies umfasst „eine ganz bestimmte, die tiefsitzenden Dispositionen und Einstellungen des Habitus offenbarende Weise, mit dem Körper umzugehen, ihn zu pflegen und zu ernähren“ (Bourdieu 1982, S. 307).55 Der Geschmack – als System von Klassifikationsschemata, als Natur gewordene, inkorporierte Kultur sowie Körper gewordene Klasse – ist dem Bewusstsein nur bruchstückhaft zugänglich und scheint vielmehr als natürlich gege-

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Damit legt Bourdieu eine Perspektive auf die Macht von Klassifikationen im Kontext sozialer Ordnungen frei. Der Begriff der Klassifikation wird die Ausführungen insbesondere im Analyseteil perspektivieren. Soziale Ordnungen werden in der Praxis hergestellt, verfestigt oder verändert. In einer solchen Perspektive ist soziale Praxis eine durch bestimmte Klassifikationssysteme strukturierte, klassifizierende Praxis (vgl. zum Beispiel weiterführend Bourdieu 1992). Ferner ordnen Klassifikationsschemata die soziale Welt. Diese können in objektivierte Form übergehen. Die Logik der Praxis sorgt für das Funktionieren sozialer Praktiken in sozialen Feldern sowie der Strukturierung jener Kategorien der Wahrnehmung, durch die die sozialen Akteur*innen die soziale Welt sehen und klassifizieren. Aus ihr resultiert die ,doxa‘. Ferner erklärt sich aus der Logik der Praxis die auf präreflexiver Ebene verankerte Abstimmung von Handlungen und Praktiken (vgl. Barlösius 2011, S. 34-35).

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ben (vgl. Bourdieu 1982, S. 284-286.). Geschmack ist indes immer schon sozial differenziert (vgl. Schminck 2009, S. 124). Somit werden Gegenstände und Verhaltensweisen zu distinkten und distinktiven Zeichen. Ummantelt von einer symbolischen Ordnung werden aus klassifizierten Unterschieden Unterscheidungen. Unterschiedliche Praktiken, Besitztümer, Meinungen etc. symbolisieren soziale Unterschiede und zugleich die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder Klasse (vgl. Krais und Gebauer 2002, S. 37).56 Zugleich folgert Bourdieu, dass Körper Ausdruck sozialer Klassenzugehörigkeit werden. Er pointiert: „Es zeichnet sich damit ein Raum jeweils klassenspezifischer Körper ab, der bis auf einige biologische Zufälligkeiten in seiner spezifischen Logik tendenziell die Struktur des sozialen Raumes reproduziert“ (Bourdieu 1982, S. 319). Körper, seine Haltung, seine Inszenierung und die Gebrauchsweisen mit ihm sind zumeist durch die Position des jeweiligen Akteurs beziehungswiese der Akteur*innen im Raum geprägt. Und nicht selten sind es scheinbar bestimmbare körperbezogene Merkmale oder Umgehensweisen mit dem Körper, die Zuschreibungen und BeDeutungen erfahren (vgl. Burghard 2018). „Unterschiede im Körperbau erfahren Verstärkung und symbolische Akzentuierung durch Unterschiede in der Körperhaltung, im Auftreten und Verhalten: in ihnen kommt das umfassende Verhältnis zur sozialen Welt zum Ausdruck“ (Bourdieu 1982, S. 309). Geschlecht Die Überlegungen in Bezug auf die Herausbildung eines Klassenhabitus sowie eines entsprechenden Klassenkörpers, die sich durch die Zirkularität zwischen Habitus und Feld herausbilden, lassen sich in ähnlicher Weise auf geschlechtertheoretische Fragen beziehen (vgl. Schmincke 123).57 Dafür ist die Annahme grundlegend, dass Geschlecht die soziale Ordnung als ein zentrales Teilungsprinzip durchzieht und dass

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Schmincke (2009) zufolge erhalten diese dadurch ihren ,sozialen Sinn‘. Bourdieu unterscheidet in seiner Studie zwischen einem legitimen, einem mittleren und einem populären Geschmack. Er zeigt auch, dass diese Hierarchie von Individuen in ihrer Alltagspraxis, in ihren Vorlieben und Gewohnheiten beständig reproduziert und abgesichert werden. Diese Hierarchie erfüllt so die gesellschaftliche Funktion der Legitimierung sozialer Ungleichheit (vgl. Schmincke 2009, S. 125). An dieser Stelle ist anzumerken, dass Bourdieus Arbeiten handlungstheoretisch zu verorten sind. An diese handlungstheoretische Denkart wurde insbesondere in der mikrotheoretisch und ethnomethodologisch ausgerichteten Geschlechterforschung angeknüpft. Innerhalb dieser wird Geschlecht als alltägliche praktische und interaktive Hervorbringung perspektiviert. In ethnomethodologischer Sicht begründet die in jeder Alltagsinteraktion vollzogene Klassifikation mänlich und weiblich ein Ungleichheitsverhältnis zwischen den Geschlechtern. Folglich ist ,doing difference‘ gleichursprünglich mit ,doing inequality‘. Das Symbolische tritt in einer solchen Perspektive in den Hintergrund. Etwas anders ist dies in poststrukturalistischen und diskurstheoretischen Zugehensweisen gelagert. Innerhalb dieser wird der Fokus auf das Diskursive und das Symbolische gelegt. Diese scheinbar konträren Zugehensweisen treffen sich jedoch in den Grundannahmen, dass das symbolische System binärer Klas-

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die Geschlechterdifferenz als symbolische Herrschaft Wirksamkeit entfaltet. Symbolische Gewalt wirkt wie „ein Zwang durch den Körper“ (Bourdieu 1997, S. 158) und meint indes die Deutungsmacht über die soziale Welt sowie eine Form von Einverständnis zwischen Beherrschten und der herrschenden Deutungsmacht. Das Wesentliche der symbolischen Gewalt liegt überdies vor der Interaktion, in der sie sich manifestiert. Es liegt darin, dass die ,Beherrschten‘ mit der Verinnerlichung der geltenden Ordnung ihre inferiore Stellung anerkannt haben (vgl. Krais 1993, S. 234). Damit tragen sie paradoxerweise zu ihrer eigenen Unterwerfung bei (vgl. Moebius und Wetterer 2011, S. 2). Dies ist mehr als ein habitualisierter und körperlicher Vorgang auszulegen denn ein kognitiver (vgl. Schmincke 2009, S. 126).58 Kennzeichnend für symbolische Gewalt ist, dass sie auf der symbolisch-sinnhaften Ebene des Selbstverständlichen und des Alltäglichen operiert und zur Affirmation, Verinnerlichung genauso wie zur Verschleierung von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen führt (vgl. Moebius und Wetterer 2011, S. 1). Symbolische Gewalt ist indes als ein subtiler, euphemisierter und unsichtbarer Modus der Herrschaftsausübung auszuweisen, eine verdeckte Form von Gewalt, die es nur in ,face-to-face‘-Interaktionen gibt. Sie funktioniert insbesondere, wenn sie nicht als Gewalt erkannt oder nicht als Nötigung oder Einschüchterung wahrgenommen wird. Symbolische Gewalt setzt voraus, dass subjektive Strukturen – der Habitus – und objektive Verhältnisse im Einklang miteinander stehen und verinnerlicht sind. Anders formuliert setzt sie bei den Beherrschten ein gewisses Einverständnis voraus. Da sie als Gewalt nicht erkannt wird, kann sie nur auf jene Menschen wirken, die für sie empfänglich sind, während andere sie nicht bemerken (vgl. Krais 1993, S. 232-233). Für die Annäherung an Fragen nach Geschlecht und symbolischer Herrschaft gelten Bourdieus frühen Arbeiten in der Kabylei als prominent. In seinen ethnologischen Untersuchungen beleuchtet er die Verflechtungen und Homologien zwischen der Sphäre des Sysmbolischen, der Kultur, den ökonomischen (verobjektivierten) Strukturen und den individuellen Praktiken (vgl. Villa 2011, S. 68). In seinen Studien stieß er auf Korrespondenzen zwischen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der Anordnung des physischen Raums (etwa der Aufteilung der Häuser) und den Klassifikationsschemata, die nicht nur die (sozialen) Gegensätze in dieser Gesellschaft als geschlechtlich codierte wahrnehmen ließen. Sie manifestierten sich auch in Praktiken, Riten und Männern beziehungsweise Frauen vorbehaltenen Arbeitstätigkeiten (vgl.

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sifikationen, die heterosexuelle Matrix den Ursprung und die vermeintliche Essenz männlicher Herrschaft bildet. In der Heurisitik der vorliegenden Studie werden beide Ebenen berücksichtigt und bezugnehmend auf das Konzept der Intersektionalität miteinander verknüpft (vgl. Villa 2011). Die Verwendung des Begriffes der ,Einverständnis‘ zielt in dieser Sichtweise darauf ab, dass die Subjekte, die mit symbolischer Gewalt konfrontiert sind, einen Sinn für diese entwickelt haben. Jener ermöglicht es ihnen entsprechende Signale – beispielsweise Blicke, Gesten, beiläufige Bemerkungen, Körperhaltung oder Intonationen – zu dechiffrieren und den ihnen inhärenten sozialen Sinn zu verstehen (vgl. Krais 1993, S. 233).

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Schmincke 2009, S. 125).59 Daraus folgernd bestimmte er die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau als ursprünglich für die Geschlechterhierarchie. „[…] die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau objektiviert sich in einem fundamentalen Sinn, da sie sich verkörperlicht, in den Körpern der Subjekte Gestalt annimmt […]“ (Krais 1993, S. 215). Die Geschlechterdifferenz prägt sich durch die geschlechtlich differenzierte soziale Ordnung als Habitus in Körper ein, somit durch Dinge, Orte, Routinen der Arbeitsteilung, Rituale, Körperhaltung etc. (vgl. Schmincke 2009, S. 126).60 Vor diesem Hintergrund deutete Bourdieu die Gesellschaftsform der kabylischen Gesellschaft als ,männliche Herrschaft‘. Diese sieht er als beispielhaft für die Wirkungsweisen symbolischer Gewalt. So schreibt er, dass alle Macht eine symbolische Dimension hat (vgl. Meuser 2017, S. 69). Symbolische Gewalt ist eine Form der Herrschaftsausübung, die unmittelbar auf den Habitus rekurriert. Somit ist sie als Zwang durch den Körper auszulegen. Die magische Wirksamkeit entfaltet diese Form der Herrschaft aufgrund ihrer Somatisierung, ihrer Verkörperung. Sie wird in Körper eingeschrieben und naturalisiert. Durch die fortschreitende Somatisierung der sozialen Ordnung der männlichen Herrschaft sind naturalisierte soziale Unterschiede in doppelter Hinsicht in die körperliche Hexis eingelassen – in die Körper (Körperhaltungen, Gangarten, Arten und Weisen des Auftretens, Gesten) und in die Köpfe (vgl. Bourdieu 1997, S. 162). „Die für die gesellschaftliche Ordnung konstitutiven Einteilungen und, genauer, die zwischen Geschlechtern instituierten sozialen Herrschaftsund Ausbeutungsverhältnisse, prägen sich allmählich in zwei verschiedene Klassen 59

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Die herrschende Sicht der Geschlechtertrennung drückt sich in Diskursen, Dingen oder Praktiken aus, insbesondere in Körpertechniken, Haltungen, Verhaltensweisen und dem Auftreten (vgl. Bourdieu 1997, S. 158-159). In der „Natur der Dinge“ (Bourdieu 1997, S. 159) scheint dies zu liegen, da geschlechtsspezifische Unterscheidungen (ähnlich wie in Bourdieus Klassentheorie) zum einen objektiviert in der sozialen Welt und zum anderen inkorporiert im Habitus präsent sind, „wo sie als ein universelles Prinzip des Sehens und Einteilens, als ein System von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien wirk[en]“ (Bourdieu 1997, S. 159). Durch die Inkorporation der zweigeschlechtlichen Ordnung werden geschlechtliche Unterschiede naturalisiert. Dies begründet mitunter die doxische Erfahrung. Diese fasst die soziale Welt und ihre willkürlichen Einteilungen – insbesondere der gesellschaftlich konstruierten Einteilung der Geschlechter – als natürlich gegeben und evident (vgl. Bourdieu 1997, S. 159). Fegter et al. (2015) verweisen hierfür auf eine Studie von Tanja Betz und Stefanie Bischoff (2013), in der die Autor*innen auf Bourdieus Theorie der symbolischen Gewalt und der darin vorgenommenen Unterscheidung von objektivem und subjektivem Wissen Bezug nehmen. Anhand der Analyse von anerkannten Wissensbeständen arbeiten sie Thematisierungen ,guter Elternschaft‘, die aus der Perspektive machtvoller Sprecher*innen artikuliert werden, heraus. Im Sprechen über Eltern nehmen diese eine machtvolle institutionelle Sprecher*innenposition ein. Eltern selber nehmen in diesen Artikulationen eine weniger legitime Position ein. Den Arbeiten von Bourdieu ist jedoch ein spezifisches Diskursverständnis unterlegen: Diskursive Praxis ist performativ, weil sie Dinge mit Wörtern schaffen und die Anerkennung sozialer Differenzen durchsetzen kann. Die Macht, legitime und anerkennungsfähige Aussagen zu produzieren, ist an die institutionelle Position von Sprecher*innen gebunden. Zu einer selbstverständlichen ,doxa‘, einer mit quasi-natürlicher Geltungskraft ausgestatte Diskursivität werden Aussagen dann, wenn sie zugleich den Klassifikationssystemen der objektiven Ordnung und der subjektiven Ordnung der Akteur*innen entsprechen (vgl. Fegter et al. 2015, S. 20).

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von Habitus ein. Und zwar in Gestalt gegensätzlicher und komplementärer körperlicher hexis und in Form von Auffassungs- und Einteilungsprinzipien – mit dem Effekt, daß alle Gegenstände der Welt und alle Praktiken nach Unterscheidungen klassifiziert werden, die sich auf das Gegensatzpaar von männlich und weiblich zurückführen lassen“ (Bourdieu 2013, S. 56-57). Er führt weiter aus, dass auf Dauer gestellte Machtverhältnisse stets auf eine Zustimmung der Beherrschten angewiesen sind (vgl. Bourdieu 1997, S. 165). Dabei betrachtet Bourdieu die Zustimmung nicht als Resultat einer freiwilligen Entscheidung, sondern stellt heraus, dass diese auf der unmittelbaren und präreflexiven Unterwerfung der sozialisierten Körper beruht (vgl. Meuser 2017, S. 69). Habituelle Dispositionen, die ein vorreflexives Einverständnis der Beherrschten mit ihrer Lage erst ermöglichen, werden durch Prozesse der Inkorporation erzeugt. Somit schließen Zwang und Zumutung einander nicht aus (vgl. Meuser 2017, S. 69-70). In perfider Weise entfaltet dieses Herrschaftsverhältnis Wirksamkeit, da es durch den Habitus generiert wird und Einverständnis bei den Beherrschten findet. Anders formuliert bewirkt symbolische Gewalt, dass die Beherrschten sich mit Werten und Prinzipien der Beherrschten identifizieren. Es lässt sich an dieser Stelle bündeln: Herrschaftsbeziehungen sind somatisiert, da sie in den praktischen Schemata des Habitus – und somit körperlich – verankert sind (vgl. Meuser 2017, S. 70). Bourdieu sieht die Anerkennung der Legititmität von Herrschaft in der unmittelbaren Übereinstimmung zwischen den einverleibten und den objektiven Strukturen begründet (vgl. Meuser 2017, S. 70).61 Die ,männliche Soziodizee‘ zieht ihre Kraft indes daraus, „daß sie zwei Operationen in eins vollzieht: sie legitimiert ein Herrschaftsverhältnis, indem sie etwas Biologisches einschreibt, das seinerseits eine biologisierte gesellschaftliche Konstruktion ist“ (Bourdieu 2013, S. 44-45). Dabei nimmt das Herrschaftsverhälntis die Gestalt eines Naturgesetzes an, da es somatisiert wird. Schmincke (2009) formuliert: „Die Geschlechterdifferenz wird zunächst als biologischer Unterschied konstruiert, der dann seinerseits zur Legitimierung gesellschaftlicher Unterschiede in Hinblick auf Geschlecht dient. Das bedeutet, dass der biologische Unterschied selbst als Produkt gesellschaftlicher Einschreibungen in Körper zu interpretieren und zu analysieren ist“ (Schmincke 2009, S. 125). Als sozial konstruierte und naturalisierte Geschlechterdifferenz trägt diese zur Legitimierung gesellschaftlicher und geschlechtsspezifischer Unterscheidungen bei. Gesellschaftlich verankert ist die Geschlechterdifferenz in zweifacher Weise: Zum einen in einem objektivierten Zustand, in den Dingen und in der sozialen Arbeitsteilung (vgl. Schmincke 2009, S. 125), zum anderen im inkorporierten Zustand. Der Habitus erzeugt gesellschaftlich vergeschlechtlichte Konstruktionen der Welt und des

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Das Habituskonzept gilt als vermittelnde Instanz. Es erlaubt einen Zusammenhang zwischen objektiven Strukturen und kognitiven Schemata zu erkennen und in den kognitiven Strukturen die Inkorporation von objektiven Strukturen zu sehen.

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Körpers sowie die soziale Welt durch eine permanente Formierungs- und Bildungsarbeit. So werden Körper nicht nur als vergeschlechtlichte Wirklichkeit konstruiert, sondern auch als Speicher von vergeschlechtlichten Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, die wiederum auf den Körper angewendet werden (vgl. Bourdieu 1997, S. 167). Die Geschlechterdifferenz verankert sich folglich über den Habitus in den individuellen Körpern, in den Schemata der Wahrnehmung, des Denkens, des Fühlens und des Handelns. Die Unterscheidung in männlich und weiblich schlägt sich im Körper nieder. Sie prägt ihn, die Körperwahrnehmung, die Ausdrucksmöglichkeiten und die Gewohnheiten des Körpers, sie bestimmt das Verhältnis des Subjekts zu seinem oder ihrem Körper, bestimmt daher auch die Identität vom Körper her, und zwar von vornherein als männlich oder weiblich (Krais 1993, S. 215).62 Folglich konstruiert die soziale Welt den Körper als soziale Tatsache und als Depositum von vergeschlechtlichten Interpretations- und Einteilungsprinzipien. „Dieses inkorporierte soziale Programm einer verkörperten Wahrnehmung wird auf alle Dinge in der Welt und in erster Linie auf den Körper selbst in seiner biologischen Wirklichkeit angewandt“ (Bourdieu 2013, S. 22). Dass dieses (auf der sozial konstruierten Geschlechterdifferenz basierende) Herrschaftsverhältnis in Körpern (und Dingen) verankert ist, erklärt nicht nur seine Persistenz und schwere Wandelbarkeit, sondern auch die,magische Wirksamkeit‘ (vgl. Bourdieu 2013).63 Resümierendes Zwischenfazit und Kritik Ein erstes Resümee mit Blick auf die Bedeutung des Körpers in Bourdieus Sozialtheorie ziehend werden an dieser Stelle zentrale Bedeutungsfacetten des Körpers nachgezeichnet und die körpersoziologische Perspektive plausibilisiert. Überdies wird zu einigen ausgewählten Kritikpunkten Stellung bezogen. Es wird zum einen die Relevanz der Perspektive von Bourdieu für die vorliegende Studie herausgestellt. Zum anderen werden Leerstellen in seinen Arbeiten aufgegriffen. 64 62

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Die geschlechtsspezifische Prägung des Habitus ist eine wesentliche Dimension der sozialen Identität einer Person. „Sie affiziert das Individuum in dem, was am meisten ,Natur‘ an ihm ist; über den Habitus bestimmt die soziale Konstruktion des Geschlechterverhältnisses Körpervorstellungen und Körpererleben, sinnliche Wahrnehmung, die Möglichkeiten, Freude und Leid zu fühlen. Die Geschlechterdifferenz prägt sich folglich durch die geschlechtlich differenzierte soziale Ordnung – durch Dinge, Orte, Routinen der Arbeitsteilung, kollektive und private Rituale – als Habitus in Körper ein. Sie strukturiert so die Art sich zu bewegen, die Körperhaltung und das Verhalten“ (vgl. Schmincke 2009, S. 126). Für die Abschaffung eines solchen Herrschaftsverhältnisses hält Bourdieu fest, dass eine subversive politische Bewegung alle Herrschaftseffekte berücksichtigen muss, die über die objektive Komplizenschaft zwischen den (in den Männern und Frauen) inkorporierten Strukturen und den Strukturen der großen Institutionen ausgeübt werden (vgl. Schmincke 2009, S. 126), wo nicht nur die männliche Ordnung, sondern die gesamte gesellschaftliche Ordnung vollendet und reproduziert wird (vgl. Bourdieu 2013, S. 199). Wie anhand der Arbeiten von Pierre Bourdieu nachgezeichnet wurde, fokussieren strukturalistisch orientierte Deutungen von Körpern auf die verschiedenen Arten und Weisen, in denen Gesellschaft

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Mitsamt sind Bourdieus Arbeiten gewinnbringend, da in ihnen der Verkörperung sozialer Ordnungen Rechnung getragen wird. Somit wird die Verkörperung sozialer Teilungen und Hierarchien sichtbar. Es lässt sich erstens eine Perspektive einnehmen, die sich von einem ontologischen Körperverständnis zugunsten eines Körperverständnisses distanziert, dem zufolge Körper in ihrem Verhältnis zu sozialen Ordnungen und so in ihrer sozialen Bedingtheit zu reflektieren sind. Zudem lässt sich so in den Blick nehmen, dass Körper ,klassenspezifisch‘ geformt und gedeutet werden. Bourdieu bestimmt den Habitus als Resultat der Einverleibung und Inkorporation der sozialen Welt, ebenso ihrer Ordnungs- und Klassifikationsmuster. Der Habitus ist demnach das verkörperte Soziale. Mit dieser Erkenntnis öffnet Bourdieu den Blick für die Verankerung sozialer Strukturen im Körper (vgl. Schmincke 2009, S. 123) und legt so eine Perspektive auf die Inkorporation sozialer Ordnungen – einschließlich ihrer Teilungen – frei. Inkorporation und Naturalisierung macht Bourdieu als wesentliche Mechanismen der Reproduktion sozialer Ordnungen aus. Die Verkörperung bewirkt indes eine Naturalisierung sozialer Differenzen. Sie schreiben sich als verborgene Imperative in Körper ein. So lässt sich plausibilisieren, dass Körperhaltungen und Veraltensweisen Klassen- und Geschlechterverhältnisse als hierarchische Verhältnisse stabilisieren (vgl. Schmincke 2009). Er zeigt auch, dass und in welcher Weise Herrschaft über Körper ausgeübt wird, wie sie in Körpern verankert und über diesen reproduziert wird. Die Verankerung im Körper erklärt mitunter die Persistenz und schwere Wandelbarkeit sozialer Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse.65 Zugleich ermöglichen seine Arbeiten die Macht von Klassifikationen in den Blick zu

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auf Körper einwirkt. Sie beleuchten ebenso, wie Körper gesellschaftliche Strukturen (symbolisch-material) zum Ausdruck bringen (vgl. Gugutzer 2004, S. 66). Innerhalb der These, dass insbesondere die soziale Klassenzugehörigkeit – und somit Strukturen sozialer Ungleichheiten – prägend und Körper an deren Reproduktion beteiligt sind, markierte Bourdieu den Begriff des Habitus als inkorporierte Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata. Das Konzept des Habitus lässt sich entsprechend der körpersoziologischen Differenzierung des Körpers in Produkt und Produzent von Gesellschaft analogisieren: Körper lassen sich sowohl als Produkt sozialer Prägungsprozesse sowie als Ausdruck von Klassenzugehörigkeit in den Blick nehmen, als auch als Handlungen anleitendes Prinzip (Produzent) (dazu beispielsweise vertiefend Gugutzer 2004, 2006; Meuser 2006). Die vom Habitus (als Produzent) generierten Praktiken sind überdies an der Reproduktion ihrer Existenzbedingungen beteiligt. Dass die soziale Welt den Körper wie eine Gedächtnisstütze behandelt und ihn vor allem in Form sozialer Einteilungsprinzipien prägt, so Bourdieu (2001, S. 181), lässt die Funktion des Körpers als Speicher inkorporierter und praktischer Wissensbestände offenkundig werden. Dies wird von Bourdieu angedeutet. ‚Das Soziale‘ macht sich die Beschaffenheit des Körpers zunutze. Leib und Sprache fungieren wie Speicher für bereit gehaltene Gedanken. Diese können aus der Entfernung schon dadurch abgerufen werden, dass der Leib in eine Gesamthaltung gebracht wird, die die mit dieser Haltung assoziierten Gefühle und Gedanken heraufbeschwört, also einer jener Induktorzustände des Leibes, der Gemütszustände herbeiführen kann (vgl. Bourdieu 1993a, S. 127-128). An einer anderen Stelle schreibt er: „Nichts vermittelt ein besseres Bild von der Logik des Sozialisationsprozesses, worin der Leib als eine Art Gedächtnisstütze fungiert, als jene Komplexe aus Gesten, körperlichen Posituren und Wörtern – schlichten Interjektionen wie abgedroschensten Gemeinplätzen – , in die man nur einmal wie in eine Bühnenfigur eindringen muß, um sogleich kraft des evokativen

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Körper theoretisch

nehmen. Klassifikationen werden im sozialen Raum bedeutungsvoll. Sie resultieren aus der Inkorporation der sozialen Position im Raum und einer von Ein- und Ausschlüssen durchzogenen sozialen Ordnung. Ferner zeigt er auf, dass und in welcher Weise diese der sozialen Positionierung dienen. An diese Erkenntnisse wird auch im zweiten Kapitel der Arbeit angeschlossen. Überdies erkennt Bourdieu in den Bewertungs- und Klassifikationsschemata (ästhetische) Normen. Deren Inkorporation beschreibt er als Formen symbolischer Herrschaft. Mit Bourdieu lässt sich folglich plausibilisieren, dass Normen sich zum einen äußerlich und zugleich mittels des Körpers durchsetzen. Zum anderen lassen seine Arbeiten erkennbar werden, dass Normen im Körper auf einer präreflexiven Ebene angesiedelt sind. Gleichsam weisen seine Theoretisierungen in Bezugnahme auf den Körper einige Lücken auf, die im folgenden Part gebündelt werden. Erstens bleibt sein Körperverständnis unterbestimmt. Die Begriffe Körper und Leib finden in Bourdieus Arbeiten vielfache Verwendung, insbesondere, wenn er den Begriff der Inkorporation relevant setzt. Jedoch grenzt er diese nicht systematisch voneinander ab (weiterführend zur leibtheoretischen Ergänzung des Habituskonzeptes vgl. Jäger 2005). Bezugnehemend auf Theorien zu Leiblichkeit lässt sich der Blick darauf legen, dass Inkorporationsprozesse eine affektive Dimension inne haben. Sie sind als affektive Verinnerlichung sozialer Strukturen zu markieren (vgl. Villa 2011), die als im Leib sedimentiert gelten.66 Darüber hinaus und zweitens bleibt innerhalb seiner Arbeiten erstens die Frage nach dem ,wie‘ der Inkorporation – also der Genese des Habitus – ungeklärt. Drittens stellt sich auch die Frage nach der Möglichkeit der Veränderung des Habitus. Zu den Kritikpunkten, die zuletzt aufgeführt wurden, wird in Kürze Stellung bezogen. Auch Jäger verweist darauf, dass Bourdieu unbeantwortet lässt, wie sich Prozesse der Inkorporation vollziehen. (vgl. Jäger 2004, 2005, S. 101). So schreibt der französische Soziologe lediglich, dass die Inkorporation der äußeren Existenzbedingungen zu ei-

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Vermögens der körperlichen Mimesis eine Welt vorgefertigter Gefühle und Erfahrungen auftauchen zu sehen“ (Bourdieu 1982, S. 739-740). Folglich zeichnen seine Ausführungen dabei Lücken im Hinblick auf die Differenzierung von Körper und Leib. Dies greift Jäger (2005) bezugnehmend auf Leibtheorien auf und führt weiter aus, dass der körperliche Leib als Raum, Speicher und Gedächtnisstütze dient, der das Dispositionssystem des Habitus aufnimmt (vgl. Jäger 2005, S. 103). Im Körper, im gelebten und belebten Leib und dessen Funktion als Speicher haben frühere, inkorporierte Erfahrungen in Form von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata aktive Präsenz. In dem Sinne, in dem der Habitus als einverleibte, zur Natur gewordenen und vergessenen Geschichte, die wirkende Präsenz der Vergangenheit ist, die ihn erzeugt hat, sind soziale Verhältnisse im Habitus naturalisiert (vgl. Jäger 2005, S. 103). So formuliert Bourdieu (1982): „Nichts vermittelt ein besseres Bild von der Logik des Sozialisationsprozesses, worin der Leib als eine Art Gedächtnisstütze fungiert, als jene Komplexe aus Gesten, körperliche Posituren und Wörtern – schlichten Interjektionen wie abgedroschensten Gemeinplätzen – in die man nur einmal wie in eine Bühnenfigur eindringen muß, um sogleich kraft des evokativen Vermögens der körperlichen Mimesis eine Welt vorgefertigter Gefühle und Erfahrungen auftauchen zu sehen“ (ebd.: S. 739-740).

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nem habituellen System von Dispositionen sich mittels einer ‚stillen Pädagogik‘ vollzieht und dabei soziale Werte verleiblicht werden (vgl. Bourdieu 1993a, S. 128).67 Dafür wird im dritten theoretischen Kapitel der Arbeit das anthropologische Konzept der Mimesis einbezogen. In diesem werden Prozesse der Inkorporation als dezidiert körperliche Anähnlichungsprozesse und als solche als ein Lernen mit und über den Körper thematisiert. Schließt man zudem an Theorien zur Performativität an, so lässt sich begründen, dass Prozesse der Einverleibung sich performativ-mimetisch vollziehen. Der zweite Kritikpunkt verweist darauf, dass Bourdieu den Habitus als träge und schwer änderbar theoretisiert. Insofern lassen sich seine Arbeiten als deterministisch auslegen. Sie scheinen somit in einer strukturalistischen Engführung verhaftet zu bleiben.68 Dieses merken etwa Vertreter*innen der Praxistheorie an und damit einhergehend problematisieren sie, dass Widerständigkeit oder Änderbarkeit habitueller Strukturen innerhalb der Arbeiten von Bourdieu wenig denkbar sind. Alkemeyer und Schmidt (2003) vertreten daran anschließend die Annahme, dass aufgrund mangelnder Inblicknahme von Einverleibungsprozessen auch die Möglichkeit der Veränderung habitueller Prägungen nicht denk- und erklärbar ist. An diese Leerstelle setzen sie das Konzept der Technologie des Selbst in Anlehnung an Michel Foucault (1993). Dass Möglichkeiten der Transformation des Habitus im Körper sowie körperlichen

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Diese Prozesse sind keiner Reflexion zugänglich, da sie von Körper zu Körper übertragen werden. „Wir lernen durch den Körper. Durch diese permanente, mehr oder weniger dramatische, aber mit Affektivität, genauer gesagt dem affektiven Austausch mit der gesellschaftlichen Umgebung viel Platz einräumende Konfrontation dringt die Gesellschaftsordnung in den Körper ein“ (Bourdieu 2001a, S. 181). Indem er lediglich andeutet, wie dies zu denken ist, lässt er offen, wie genau die gesellschaftliche Ordnung in den Körper eindringt. Dazu führt Bourdieu (1993) aus, dass der Habitus dazu neigt, sich vor Krisen zu schützen, indem er sich ein Milieu schafft, an das er soweit wie möglich vorangepasst ist. Somit schafft er eine relativ konstante Welt von Situationen, die geeignet sind, seine Dispositionen dadurch zu verstärken, dass sie seinen Erzeugnissen den aufnahmebereitesten Markt bieten (vgl. Bourdieu 1993a, S. 114). Dies begründet Bourdieu damit, dass der Habitus Auswahlentscheidungen trifft. Diese und daraus resultierend Vermeidungsstrategien liegen in den Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata des Habitus begründet und sind dabei größenteils das Ergebnis eines unbewussten sowie nicht gewollten Meidungsverhaltens, das sowohl automatisch aus Existenzbedingungen resultiert als auch auf strategische Absichten zurückzuführen ist (vgl. Bourdieu 1993a, S. 114). Zwar lassen sich in seinem Werk Hinweise darauf finden, dass er durchaus die Änderbarkeit denkbar erachtet, insbesondere da der Habitus ein Set von Dispositionen ist. In den ,Meditationen‘, welches ein späteres Werk Bourdieus darstellt, verweist er selber auf die Möglichkeiten der Änderung des Habitus. So schreibt er, dass der Habitus sich in Abhängigkeit von neuen Erfahrungen unaufhörlich verändert. Die Dispositionen sind nämlich einer stetigen Revision unterworfen, die sich durch eine Verbindung von Verharren und Beharren auszeichnet, die wiederum von Person zu Person und der ihr zu eigenen Flexibilität oder Rigidität schwankt (vgl. Bourdieu 2001a, S. 207). Ferner kennt der Habitus auch Misslingen, kritische Momente des Missklangs.

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Praktiken nicht nur möglich, sondern auch empirisch rekonstruierbar sind, dies veranschaulicht zum Beispiel Robert Schmidt (2002) in einer Studie in einem Berliner Club. Abschließend ist der Blick darauf zu legen, dass Bourdieus Arbeiten auf eine gewisse Weise dualistisch bleiben und er soziale Teilungsprinzipien, die aus der Inkorporation von Klasse und Geschlecht resultieren, als dichotom und somit aufeinander verwiesen auslegt. Dass selbst ein Gegensatzpaar immer aufeinander verwiesen ist und eine dritte Instanz generiert, darauf verweist etwa Schmincke (vgl. Schmincke 2009, S. 127). Theoretische Öffnungen für diese Dimensionen bieten hingegen poststrukturalistische Deutungen und Dekonstruktionen. Dies lässt sich mit poststrukturalistischen Arbeiten von Michel Foucault und Judith Butler nachzeichnen, die in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Norm in verschiedenen Akzentuierungen perspektivieren.69 Eine weitere Schwachstelle der Arbeiten von Bourdieu erkennt Schmincke (2009) darin, dass seine Arbeiten nicht erklärbar machen, wie sich etwa Normalisierungen und Marginalisierungen von Körpern jenseits von Klasse und Geschlecht vollziehen. Die Fragen danach, warum manche Körper als anders, als marginalisiert wahrgenommen werden und wie in Gesellschaften normalisierte und marginalisierte Körper hervorgebracht werden, lässt sich mit den vom ihm bereitgestellten Werkzeugen nicht bearbeiten.70 Es wird an dieser Stelle gebündelt: Die Arbeiten von Bourdieu sind gewinnbringend, da innerhalb dieser der Zusammenhang von gesellschaftlichen Strukturen und indi-

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In dieser Lesart rücken Fragen danach in den Mittelpunkt, wie Körper durch machtvolle Macht-Wissens-Komplexe hervorgebracht werden. Somit wird besonders die Wirkmächtigkeit von Diskursen relevant gesetzt und diese als Wirklichkeit konstituierende Macht-Wissenskomplexe infrage gestellt. Wie anhand der genealogischen Arbeiten von Michel Foucault aufgezeigt wurde, entscheiden insbesondere wissenschaftliche Disziplinen wie Psychologie, Medizin, Recht, Biologie darüber, welches Wissen als legitim, als wahr gilt. Diskurse sind untrennbar mit Macht verknüpft, in dem Sinne, dass sie definieren, was wahr oder falsch, oder – wie Foucault in die ,Anormalen‘ zeigt – was normal und nicht normal ist. Gleichsam stellt dieses Wissen ein bestimmtes Phänomen – wie etwa das der Sexualität – erst her. Zielscheibe von Macht ist indes der menschliche Körper (vgl. Gugutzer 2004, S. 7576). Körper lassen sich so als Materialisierung jener Diskurse deuten, die es über sie gibt. „Der diskursive Körper ist der in und durch Diskurse konstruierte Körper, der historisch gewordene Körper, in spezifische Macht-Wissens-Komplexe eingebettete Körper. Die diskursive Konstruktion körperlicher Phänomene geht vonstatten, insofern sich bestimmte Wissensformen, Denk- und Deutungsmuster gesellschaftlich durchsetzen und eine Hegemonie über die Wahrnehmung und Bewertung von Körpern erlangen“ (Gugutzer 2004, S. 76). Körper werden bei Foucault im Kontext von Sexualität, Macht und Bio-Macht zum Thema. Die Frage nach Geschlecht beziehungsweise nach Geschlechterkörpern bleibt dabei weitestgehend unbearbeitet. Schmincke (2009) sieht in den Arbeiten von Michel Foucault sinnvolle Ergänzungen, da er untersucht, wie aktuelle positive Rationalitätssysteme und negative Ausschlüsse zusammenwirken und wie diese sich an Körpern materialisieren. Denn nicht zuletzt bietet die Sichtbarkeit des Körpers Anlass für Ausschluss oder Marginalisierungen (vgl. ebd., S. 117).

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viduellem Handeln mit dem Konzept des Habitus gerahmt wird. In körpersoziologischer Perspektivierung erscheint der Körper in dieser Lesart als Produkt, das ,klassenspezifischen‘ Formierungen (vgl. Gugutzer 2015) unterliegt. Im Unterschied zu diesem Ansatz, der auf die klassenstrukturelle Formung des Körpers und damit auf die Materialität des Körpers fokussiert, richten diskurstheoretische Ansätze den Blick auf die Diskursivität des Körpers, auf die gesellschaftliche Produktion des Körpers in und durch Diskurse (vgl. Gugutzer 2015, S. 77). Im Rahmen der Diskurstheorie wird die Produktion sozialer Wirklichkeit in und durch Diskurse analysiert und damit einhergehend die symbolische Herstellung von Gegenständen (vgl. Villa 2011, S. 148).71 Diskurstheoretische Studien schließen vornehmlich an die Arbeiten von Michel Foucault und Judith Butler an (vgl. Gugutzer 2006, S. 14). Diese werden im nun folgenden Part systematisiert und expliziert sowie ihre Relevanz für die vorliegende Studie begründet. Im Kontext der Arbeiten von Foucault bezeichnet die diskursive Konstruktion körperlicher Phänomene einen historischen Prozess, in dem sich bestimmte Wissensformen, Denk- und Deutungsmuster gesellschaftlich durchsetzen und so eine Hegemonie über die Wahrnehmung und Bewertung von Körpern erlangen (vgl. Gugutzer 2006, S. 14). Auf die diskursive Verkörperung des Geschlechts konzentrieren sich die Ausführungen in einem daran anschließenden Teil. Auf die Frage danach, wie gesellschaftliche Ordnungen in Körper eindringen und diesen hervorbringen, setzt Bourdieu in seinen strukturalistischen Arbeiten den Habitus als vergesellschaftendes Prinzip relevant. Mit den Arbeiten von Foucault rückt hingegen an diese Stelle die Norm. Individuen werden durch die Norm aufeinander sowie auf die Gesellschaft bezogen. Wie Foucault zeigt, werden Normen immer auch verkörpert und zugleich werden Körper an der Norm ausgerichtet oder gar über Körper Verständnisse von normal und abweichend hergestellt (vgl. Schmincke 2009, S. 117). So erscheint der Körper als Produkt kultureller Normierung. Dass in diesen Zusammenhängen Körper normalisiert und diszipliniert werden, steht im Mittelpunkt des nachstehenden Parts. In diesem erfolgt eine kurze Darlegung der zentralen Aussagen des französischen Philosophen Michel Foucault. Aus dieser Verortung und Diskussion heraus wird das Körperkonzept, das sich in seinen Arbeiten ausdrückt, nachgezeichnet und auf das Erkenntnisinteresse der Arbeit hin diskutiert. Abschließend wird kritisch zu den Arbeiten von Foucault Stellung bezogen. Die Kritikpunkte werden in einem resümierenden Zwischenfazit aufgegriffen und mit anderen Körpertheorien ergänzt.

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Im Kontext der Systematisierung von Gugutzer (2006, 2015) liegt den Arbeiten, die sich mit der Dimension der Körperdiskurse beschäftigen, die Frage danach zugrunde, wie der Körper diskursiv hervorgebracht wird. Mitsamt ist nicht die Materialität des Körpers vordergründig, sondern es sind die Diskurse über den Körper.

50 1.3

Körper theoretisch ,Normalisierte Körper‘

Dass Körper „[…] von vielfältigen Machtbeziehungen durchzogen, charakterisiert, konstituiert […]“ (Foucault 2001, S. 38) werden, indem sie von machtvollen Diskursen hervorgebracht werden, veranschaulichen die historischen und genealogischen Arbeiten des französischen Philosophen Michel Foucault. So pointiert er: „Schließlich werden wir beurteilt, verurteilt, klassifiziert und zu Aufgaben gezwungen, wird uns eine bestimmte Art zu leben oder zu sterben entsprechend wahrer Diskurse mit spezifischen Machtwirkungen auferlegt. Also, Rechtsregeln, Machtmechanismen, Wahrheitswirkungen […] Machtregeln und Macht“ (Foucault 2001, S. 39). Seine Arbeiten sind im Kontext des Poststrukturalismus zu verorten. Körpertheoretische Perspektiven im Anschluss an Michel Foucault Diskurstheoretische Analysen zeigen, dass in Körperdiskursen Vorstellungen und Deutungsmuster sowie Wissensbestände über Körperlichkeit enthalten sind, die immer auch definieren, was als normal oder anormal, als wünschenswert oder nichtwünschenswert zu gelten hat. Damit schärfen sie den Blick auf soziale Machtverhältnisse sowie für soziale Ungleichheit und Diskriminierung (vgl. Gugutzer 2006, S. 1415). Der Bezug auf diese Arbeiten erlaubt es, den Blick auf die Wirkmächtigkeit von Normen zu richten und darauf, dass das Nicht-Entsprechen spezifischer Normen oftmals mit Diskriminierung und Ausgrenzung derer einhergeht, die spezifischen Normen nicht entsprechen. Vorerst wird das Denken von Foucault mit einigen Anmerkungen kontextualisiert.72 Einige Vorüberlegungen zum Denken und den Arbeiten von Michel Foucault Mitsamt fokussieren die genealogischen Betrachtungen von Foucault auf die Wirkungsweisen von Macht und Herrschaft.73 Insofern er Wissen und Macht als miteinander verbunden markiert, lenkt er den Blick auf Diskurse – die er als machtvolle Wissens- und Wahrheitsspiralen ausweist – auf dem Weg zur Moderne. Den Arbeiten ist ein Diskursverständnis zugrunde gelegt, das diese als Macht-Wissens-Komplexe perspektiviert. Dass nun ein ganz wesentlicher Beitrag seiner Arbeiten darin besteht, „den Körper als Stätte, an der sich gesellschaftliche Mikropraktiken mit der Makroorganisation der Macht verbinden, zu begreifen“ (Dreyfus und Rabinow 1994, S. 23), machen seine genealogischen Analysen der Beziehungen zwischen Macht, Wissen und Körper für körpertheoretischer Fragen anschlussfähig. 74 So zeigt er in seinen 72 73 74

Die Struktur der Darstellung orientiert sich an Schmincke (2009). Foucault bezeichnet seine Analysen zunächst als archäologisch, später jedoch als genealogisch. Bei Foucault erscheint der Körper als Effekt von Machttechnologien, wobei er zugleich die Produktionsbedingungen von Macht begründet (vgl. Klein 2010, S. 466). Mit dem Aufbruch in die moderne Gesellschaft wurde der Körper als Zielscheibe und Gegenstand von Machttechnologien. Die Disziplinierung der Körper versteht Foucault indes als eine Ökonomie der modernen Macht, die die Körper produktiv macht und sie in verschiedene Machtanstalten einschließt (vgl. ebd.). Gesellschaftliche

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vielfältigen Arbeiten in luzider Weise auf, inwiefern Körper als zentrale Zielscheibe und Wirkungsfeld moderner Macht in Erscheinung treten. Seine Bemühungen veranschaulichen, dass Körper wesentliche Bestandteile für das Operieren von Machtverhältnissen in modernen Gesellschaften geworden sind (vgl. Dreyfus und Rabinow 1994, S. 141) und Individuen wie auch die gesamte Bevölkerung über Körper reg(ul)iert werden.75 In den Arbeiten von Michel Foucault werden verschiedene Fokussierungen auf den Körper und dessen gesellschaftliche Hervorbringung über Technologien der Macht erkennbar, die in diesem Kapitel in drei Schritten systematisiert werden. Damit soll nicht einer Dreiteilung seiner Arbeiten Vorschub geleistet werden. Es soll dabei bewusst gehalten werden, dass es sich dabei vielmehr um Verschiebungen der Fragestellungen handelt. In ,Überwachen und Strafen‘ legt Foucault erstens dar, in welcher Weise Körper als ,disziplinierte Körper‘ in Erscheinung treten. Dass Körper in einem Spannungsfeld von Wissen, Macht und Diskursen situiert anzusehen und somit als Materialisierung jener Diskurse zu deuten sind, die es über ihn gibt – als ,diskursive Körper‘ –, zeigen seine Studien der Geschichte der Psychiatrie und der Sexualität. In einer solchen Auslegung sind Körper als Materialisierung jener (machtvollen) Diskurse zu deuten, die es über ihn gibt (vgl. Gugutzer 2004, S. 75). Foucault nimmt insbesondere die von der Psychiatrie und der Medizin hervorgebrachten machtvollen Diskurse in den Blick. Die diskursive Konstruktion körperlicher Phänomene geht vonstatten, insofern sich bestimmte Wissensformen, Denk- und Deutungsmuster gesellschaftlich durchsetzen und eine Hegemonie über die Wahrnehmung und Bewertung von Körpern erlangen (Gugutzer 2004, S. 76). Foucault zeigt indes auch, dass in dieser Hervorbringung Körper als ,normale‘ und ,nicht-normale‘, ,kranke‘ und ,gesunde‘, ,gefährliche‘ und ,nicht-gefährliche Körper‘ wahrgenommen, klassifiziert, markiert und entsprechend gedeutet werden. Seine Ausführungen geben somit auch eine Schärfung des Blicks darauf, dass und in welcher Weise ,normalisierend‘ auf Körper zugegriffen wird. Seine später erschienenen Studien zur Geschichte der Gouvernmentalität öffnen Perspektiven darauf, wie sich Techniken der Fremdführung mit

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Macht liegt für Foucault jedoch nicht außerhalb der Körper. Seine Konzeptionalisierung einer Mikrophysik der Macht begreift den Körper zum einen als von dieser Macht produziert und an Macht gebunden. Zum anderen wirken gouvernmentale Politiken – als mikrophysikalisch wirkende Strategien des Regierens – auf den Körper ein (vgl. ebd.). Der Rückgriff auf die poststrukturalistischen Auslegungen des Körpers im Anschluss an Foucault erlaubt, eine Perspektive auf die Konstruktion von Körpern im Zusammenhang mit Macht einzunehmen. Dabei verdeutlichen die Arbeiten anschaulich, dass Macht sowohl auf Körper des/der Einzelnen zugreift und gleichsam auch auf den gesamten Bevölkerungskörper, indem diese gesellschaftlichen Regulierungen und Normalisierungen ,unterworfen' werden. Denn: „[w]as, was durch Machtverhältnisse entsteht, unter anderem, durch diskursive Praktiken, sind Körper. Machtverhältnisse unterdrücken nicht eine Wahrheit, eine Wesenheit, eine eigentliche Identität. Sie sind nicht juridisch. Machtverhältnisse bringen wahre Körper, authentische Selbste hervor. Sie sind produktiv und sitzen im Fleisch“ (Lorey 1999, S. 9).

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Körper theoretisch

Techniken der Selbstführung verschränken und in dieser Verschränkung Körper hervorgebracht werden (siehe Kapitel 1.3.2.).76 Diese verschiedenen Auslegungen des Körpers werden im folgenden Part in werkgeschichtlicher Systematisierung unter den Aspekten Macht, Körper und Gesellschaft beleuchtet. Für die vorliegende Studie erweisen seine Arbeiten sich als anschlussfähig, weil sie insbesondere der Verkörperung von Normen Rechnung tragen, an der Körper orientiert werden. Denn nicht zuletzt werden auf diese Weise Verhältnisse von ,normal‘ und ,davon abweichend‘ hergestellt entlang derer Ein- und Ausschlüsse verhandelt werden. Zugleich zeigen sie, dass sich – im Dienste gesellschaftlicher Zwecke – spezifische gesellschaftliche Ordnungsmuster durchsetzen und Hegemonie über die Wahrnehmung und Bewertung von Körpern erlangen. 1.3.1

Wissen, Macht und Körper

In seiner historischen Analytik der Macht befasste sich Michel Foucault mit der Herstellung allen Seins und Sinns (Wahrheit) auf dem Weg zur Moderne. Eines der wesentlichen Themen seiner analytischen Bemühungen stellt Macht dar. Mittels der Methode der archäologischen und genealogischen Histographie rekonstruiert er die Machtbeziehungen, die in einer bestimmten historischen Form der Wahrheitserzwingung am Werk sind und als Basis von machtvollen Wahrheitsdeutungen fungieren (vgl. Foucault 2012, S. 97). Indem er diese Wahrheitsspiralen archäologisch und historisch untersucht, hinterfragt er die Errichtung einer gesellschaftlichen Kultur, die bestimmte (sozial produzierte und historisch situierte) Wissenskategorien produziert und diese als Grundlage gesellschaftlicher Wahrheiten und als Maßstab des gesellschaftlich Legitimen plausibilisiert und rechtfertigt (vgl. Bublitz 1999, S. 35-36). Sein erkenntnistheoretisches Ziel besteht indes darin aufzuzeigen, wie Wissen und Wahrheit durch Strukturen ,legitimer‘ Aussagen hervorgebracht werden (vgl. Schmincke 2009, S. 106). Macht und Wissen betrachtet er als miteinander verknüpft und so fokussieren seine Analysen darauf, die „Macht der Wahrheit von den Formen gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Hegemonie zu lösen, innerhalb derer sie gegenwärtig wirksam ist“ (Foucault 1978, S. 54). Kritisches Augenmerk richtet er auf das in den Humanwissenschaften generierte Wissen der Moderne (vgl. Gugutzer 2004, S. 74).77 Ins-

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Foucaults Studien zur Gouvernmentalität konzentrieren sich auf Verhältnisse von Staat und Subjekt. Lassen die frühen Analysen erkennbar werden, dass Körper als Zielscheibe disziplinärer Zurichtung oder normalisierende Strategien fungieren, so erlauben seine späteren Arbeiten (primär analytisch) die Verschränkung von Praktiken der Fremd- und Selbstführungen zu erhellen, mitsamt Praktiken, die körperlich sind (vgl. Foucault 2014). So zeigt Foucault in seinen Vorlesungen über die ,Anormalen‘ wie über die Instanz des psychiatrischen Gutachtens, in dem medizinische und rechtliche Diskurse wirkmächtig werden, wie ,Normalität‘ und ,Anormalität‘ hergestellt werden.

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besondere das in wissenschaftlichen Disziplinen der Psychologie, des Rechts, der Psychiatrie oder der Pädagogik produzierte Wissen formiert Diskurse, welche ihrerseits nicht nur bestimmte gesellschaftliche Phänomene erst hervorbringen, sondern auch wie diese wahrgenommen werden (vgl. Gugutzer 2004, S. 74). Diskurse bestimmt Foucault als eine „Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören“ (Foucault 1773, S. 156). Als solche enthalten Diskurse zeit- und kulturspezifische Denkschemata, Deutungsmuster, Kategorien und Konzepte, Ideen und Wissensformen; sie sind gewissermaßen Materialisierung dessen, was in einer Gesellschaft oder einer Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt und gedacht wird (vgl. Gugutzer 2004, S. 74). Zwei Aspekte sind im Diskursverständnis von Foucault von zentraler Bedeutung: Zum einen begründet er seine Auslegungen des Diskurses als diskursive Praktiken damit, dass er Diskurse als Praktiken fasst, die systematisch die Gegenstände hervorbringen, die sie benennen (vgl. Gugutzer 2015, S. 78). Zum anderen sind Diskurse untrennbar mit Macht verknüpft, im Sinne der Macht der Definitionen. Die Macht der Diskurse besteht nunmehr darin, dass sie definieren, was als ,wahr‘ oder als ,falsch‘, was als ,normal‘ oder ,nicht-normal‘, als ,dazugehörig‘ oder ,auszugrenzen‘ gilt und entsprechende Kategorien zur Verfügung stellen. Das von und über Diskurse produzierte Wissen zielt entsprechend auf Macht ab (vgl. Gugutzer 2015, S. 78). Dies lässt sich auf Körper beziehen und diesen als diskursiven Körper deuten. Der diskursive Körper, so Gugutzer (2015) „ist der in und durch Diskurse konstruierte Körper, der historisch gewordene, in spezifische Macht-Wissen-Komplexe eingebettete Körper“ (vgl. ebd., S. 79). Mitsamt ist den Arbeiten von Foucault ein spezifisches und teils unterschiedlich ausbuchstabiertes Verständnis von Macht unterlegen. So distanziert er sich von einem juridisch repressiven Verständnis von Macht – demzufolge Macht einzig als negativ und unterdrückend wirkt – zugunsten eines strategisch-produktiven Machtverständnisses. Somit berücksichtigt er die produktiven und hervorbringenden Seiten der Macht und nicht lediglich ihren unterdrückenden Charakter (vgl. Gugutzer 2004, S. 75-76).78 Als zentrale Zielscheibe und Wirkungsfeld moderner Macht identifiziert der Genealoge indes den menschlichen Körper. „Der Grund dafür, daß die Macht herrscht, daß man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, daß sie nicht nur als nein sagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert; man muß sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht“ (Foucault 1978, S. 35). Ferner legt er dar, dass nicht lediglich individuelle Körper Zielscheibe von machtvollen Zugriffen sind, sondern auch der 78

In seinen späteren Arbeiten entwickelt Foucault einen eher staats- und subjektorientierten Machtbegriff. Mit diesem thematisiert er das Verhältnis von staatlichen Herrschaftsformen und subjektiven Selbsttechnologien (vgl. Gugutzer 2015, S. 79). Besonders prominent gilt dabei der Begriff der ,gouvernmentale‘. In diesem Zusammenhang sind die Begriffe der Regierung und der Selbstsorge relevant (dazu auch Abschnitt 1.3.2.).

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Körper theoretisch

kollektive Körper, welchen er als Gesellschaftskörper bezeichnet. Und so lässt sich zeigen, dass Körper von Machtverhältnissen nicht nur unterdrückt, sondern auch hervorgebracht werden. Im Kontext seiner historischen Analysen differenziert Foucault die Formierung verschiedener Gesellschaftstypen: Die ,Disziplinargesellschaft‘, die ,Normalisierungsgesellschaft‘ und die ,Sicherheitsgesellschaft‘. Für diese identifiziert er jeweils charakteristische Typen und entsprechende Technologien der Macht, die ihrerseits in ganz spezifischer Art auf Körper (den individuellen und den Bevölkerungskörper) zugreifen.79 Dass Körper in der Disziplinargesellschaft vom 17.-19. Jahrhundert zentrale Zielscheibe disziplinierender Macht sind und diese gelehrige Körper hervorbringt, wird im Folgenden in gebotener Kürze skizziert. Es werden einige Kernaussagen von ,Überwachen und Strafen‘ gestreift. In ähnlicher Weise wird daran anknüpfend verfahren und die späteren Werke von Foucault werden im Hinblick auf in ihnen vorfindbare Lesarten von Körpern beleuchtet. ,Disziplinierte Körper‘ Die historischen Rekonstruktionen Michel Foucaults‘ erstrecken sich über einen Zeitraum vom 17. Bis zum 19. Jahrhundert.80 Den Gesellschaftstyp, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts formierte, identifizierte Foucault als ,Disziplinargesellschaft‘. Die Analysen dieser lassen erkennbar werden, dass Körper als Zielscheibe der Macht des Souveräns in den Hintergrund rücken (etwa die Folter), jedoch in Strafpraktiken des 18. und 19. Jahrhunderts in gewandelter Form als Gegenstand der Erkenntnis und der Macht in Erscheinung treten. Innerhalb der Überlegungen zu diesem Gesellschaftstyp legt Foucault dar, dass Körper sich als Produkt machtvoller Handlungen begreifen lassen, welche sich „um den Körper, am Körper, im Körper“ (Foucault 2013b, S. 41) produzieren. Hintergrund seiner Analysen bildet die Genealogie der Transformation der Strafsysteme von der öffentlichen Marter bis hin zum disziplinierenden Panopticon.81 79

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Foucault zeigt in seinen genealogischen Arbeiten, dass und wie gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse auf Körper zugriffen und dass darüber die Regulation der Einzelnen sowie der Bevölkerung über Körper funktionierte (vgl. Foucault 2013). Für diese Spanne identifiziert Foucault drei politisch-administrative Formen der Bestrafung, die sich durch verschiedene Strafpraxen auszeichnen: die Marter, die Humanistische Reform und das Gefängnis. Den Bruch vom 18. auf das 19. Jahrhundert bezeichnet Foucault als ,Modernitätsschwelle‘ und deutet diese als Effekt der Veränderung von Machttechnologien und Machtverhältnissen. Für die sich im 19. Jahrhundert durchsetzende Bestrafungsform des Einsperrens in das Gefängnis war charakteristisch, dass durch eine genaue Anwendung politisch-administrativer Techniken von Wissen und Macht Spuren am Körper des Straffälligen hinterlassen werden sollten. Der Sinn dieser Bestrafung lag darin, durch die Machtausübung einen fügsamen, gelehrigen wie auch produktiven Körper hervor zu bringen (vgl. Gugutzer 2004, S. 62). Um die Disziplinierung des Körpers ausführen zu können, bedurfte dieser Straftypus eines Kontrollapparats, der die Überwachung der Strafgefangen gewährleisten konnte. Das von dem Architekten

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Die Analysen lassen erkennbar werden, dass für die Formierung dieses Gesellschaftstyps ein spezifischer Machttypus kennzeichnend war: die Disziplin. Der historische Augenblick der Disziplinen ist der Augenblick, in dem eine Kunst des menschlichen Körpers das Licht der Welt erblickt, die nicht nur die Vermehrung seiner Fähigkeiten und auch nicht bloß die Vertiefung seiner Unterwerfung im Auge hat, sondern die Schaffung eines Verhältnisses, das in einem einzigen Mechanismus, der den Körper umso gefügiger macht, je nützlicher er ist und umgekehrt“ (Foucault 2013b, S. 176). Techniken der Körperdisziplinierung fanden sich zwar bereits zu früheren Zeiten, jedoch begannen Praktiken der Körperdisziplinierung sich im 18. und 19. Jahrhundert in vielen gesellschaftlichen Bereichen durchzusetzen. Diese Überlegungen zu Macht und Disziplin setzt Foucault in Zusammenhang mit den jeweiligen ökonomischen Systemen einer Gesellschaft. Er stellt heraus, dass diese nicht getrennt voneinander betrachtbar seien.82 So bezieht er die Herausbildung kapitalistischer Industriegesellschaften in seine Analysen der Disziplinargesellschaft ein. Unabdingbare Voraussetzung bei der Entstehung des Kapitalismus und der Steigerung der Produktivkräfte waren nämlich das Wachsen der Bevölkerung, ihre Stärkung, ihre Nutzbarkeit, ihre Gelehrigkeit.83 Die Disziplinierung des Körpers, seine Unterwerfung, die „Verwaltung und Verteilung seiner Kräfte“ (Foucault, S. 2012, S. 137), die Steigerung seiner ökonomischen Nützlichkeit waren unentbehrliche Elemente (vgl. Foucault, S. 1983, S. 136-137). Mit der Entstehung des Kapitalismus und dem Anwachsen der Bevölkerung einhergehend wandelten sich somit Praktiken der Körperdisziplinierung

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Jeremy Benthams entwickelte ,Panopticon‘ stellt ein Idealmodell eines solchen totalen Überwachungsund Disziplinarapparates dar. Diese architektonische Einrichtung diente der Perfektionierung der Machtausübung. Deren Besonderheit besteht indes darin, dass die darin Eingeschlossenen von einem zentralen Beobachtungspunkt beobachtbar sind, ohne dass die beobachtende Person sichtbar wird. So bleibt die Macht sichtbar und zugleich unsichtbar. Dass die Eingeschlossenen nicht sehen können, ob sie überwacht werden oder nicht, führt dazu, dass sie sich so verhalten, als würden sie beobachtet, dass sie sich selbst überwachen, kontrollieren und disziplinieren. Durch die Internalisierung dieses Machtverhältnisses wird die Fremdkontrolle zur Selbstkontrolle (vgl. Gugutzer 2004, S. 62-63). Und somit ist das Panopticon als eine unkörperliche Form der Machtausübung zu betrachten. Sie wirkt, indem sie Subjekte individualisiert und diszipliniert (Gugutzer 2004, S. 63). Das Panopticon stand gemeinhin für andere Überwachungs- und Disziplinierungstechniken moderner Gesellschaften (Schulen, Fabriken, Arbeits- und Armenhäuser, Irrenanstalten und Krankenhäuser) und schloss an in anderen gesellschaftlichen Bereichen vorhandenen Machtmechanismen an. Körper lassen sich somit zum wesentlichen Bestandteil und Zielscheibe von Machtverhältnissen in modernen Gesellschaften in den Blick nehmen. So lässt sich hervorheben: „Aber der Körper steht auch unmittelbar im Feld des Politischen; die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zu Arbeit, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen“ (Foucault 1994, S. 37). Dies jedoch steht in Zusammenhang mit dem ökonomischen System. Menschen zu produktiver und effektiver Arbeit einzusetzen wird erst innerhalb eines Unterwerfungssystems möglich (vgl. Dreyfus und Rabinow 1994, S. 141). Die Unterwerfung des individuellen Körpers und zugleich dessen Gefügigmachen zur Steigerung gesellschaftlicher Produktivkräfte waren zwar wesentliches Element bei der Entwicklung des Kapitalismus. Jedoch bedurfte es im 19. Jahrhundert darüber hinaus des Wachstums der gesamten Bevölkerung, ihre Stärkung, ihre Nutzbarkeit, ihre Gelehrigkeit. Beides wurde erst durch die Bio-Macht in ihren vielfältigen Formen und Verfahren ermöglicht (vgl. Foucault 2012, S. 136).

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von Unterwerfung hin zu einer Technologie, in der sich Gefügigkeit mit Nützlichkeit verband (vgl. Gugutzer 2004, S. 63-64). In diesem historischen Kontext formierte „sich eine Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten, seine Elemente, seine Gesten, seine Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren. Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt“ (Foucault 2013b, S. 176). Mit dem Ziel des Produktivmachens des Körpers für gesellschaftliche, ökonomische, wissenschaftliche und politische Produktivkräfte werden über den Machttypus der Disziplin gelehrige (disziplinierte) Körper hervorgebracht: „Die Disziplin fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper. Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen). […]: sie spaltet die Macht des Körpers; sie macht daraus einerseits die ,Fähigkeit‘, eine ,Tauglichkeit‘, die sie zu steigern sucht, und andererseits polt sie die Energie, die Mächtigkeit, die daraus resultieren könnte, zu einem Verhältnis strikter Unterwerfung“ (Foucault 2013b, S. 177). Dem Zitat lässt sich entnehmen, dass im Zentrum der Disziplinarmacht nicht bloße Unterwerfung steht, sondern vielmehr verschränken sich in ihr Gefügigkeit und Nützlichkeit im Dienste der Steigerung von Produktivität miteinander. Das Spezifische an dieser ,Perfektionierung der Machtausübung‘ (vgl. Gugutzer 2004, S. 63) liegt darin, dass sie nicht lediglich zur Ausübung von Macht fungiert, sondern darin, dass sie Gesellschaftskräfte steigert, um die Produktion zu erhöhen, das Niveau der öffentlichen Moral zu heben und zu Wachstum und Mehrung beizutragen (vgl. Gugutzer 2004, S. 63).84 Da dieser Machttypus überdies bis in die kleinsten Bereiche des Körpers vordringt, bezeichnet Foucault die Disziplin auch als ,politische Ökonomie des Körpers‘ (Foucault 2012, S. 135; 2013b 37).85 An

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Die Analyse der Disziplinargesellschaft lässt erkennbar werden, dass die Besetzung und Bewertung, die Unterwerfung des lebenden Körpers, die Verwaltung und Verteilung seiner Kräfte, die Steigerung seiner ökonomischen Nützlichkeit unentbehrliche Voraussetzung bei der Entwicklung des Kapitalismus waren (vgl. Foucault 2012, S. 136-137). Die Disziplinarmacht vollzieht sich indes mittels dreier verschiedener Techniken der politischen Besetzung des Körpers: Über die Dressur, die Norm sowie über Überwachung und Kontrolle: Ersteres lässt sich auf viele gesellschaftliche Bereiche beziehen, so exemplarisch auf das Militär sowie auf Erziehungsinstitutionen. In diesen Bereichen vollzieht sich Dressur und Formierung der Körper durch Übungen, durch detailliertes Einpassen von Körper in Zeit und Raum sowie durch Klassifizierungen und Hierarchisierungen in und an Körpern (vgl. Schmincke 2009, S. 108). Da in den Disziplinen die Macht der Norm zu Durchbruch kommt (vgl. Foucault 2013b, S. 237) deutet Foucault die Norm als zweite Technik dieses Machttypus. Sie wirkt indes in Prozeduren der Ordnung, Teilung, Zergliederung und Hierarchisierung über Abstände, Ränge und Positionen (vgl. Foucault 2013b, S. 236-238). Die Norm realisiert sich nicht lediglich in der Standardisierung von Verhalten, Arbeitsabläufen sowie in Produkten als Rationalisierung von Arbeitsprozessen. Sie ist überdies konstitutiv für die Entstehung eines Individuums, das durch die Norm als Objekt der Wissenschaften hervorgebracht wird (vgl. Schmincke 2009, S. 108).

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anderer Stelle weist er sie als ,Mikrophysik der Macht‘ aus (Foucault 1994, S. 178).86 Diese deutet er als Art und Weise, in der sich Macht und Wissen am Körper durchdringen und ihn dabei zum Objekt von Wissen machen, um seine Fähigkeiten zu steigern. Als Mechanik der Macht definiert diese, „wie man Körper der anderen in seine Gewalt bringen kann, nicht nur, um sie machen zu lassen, was man verlangt, sondern um sie so arbeiten zu lassen, wie man will: mit den Techniken der Schnelligkeit, mit der Wirksamkeit, die man bestimmt“ (Foucault 2013b, S. 176-177). Insofern der Disziplinarzwang eine gesteigerte Tauglichkeit und eine vertiefte Unterwerfung im Körper miteinander verkettet (vgl. Foucault 2013b, S. 177), lässt sich bündeln, dass Körper in der Disziplinargesellschaft in seiner doppelten Gegebenheit erscheint: „Als unterworfener wie auch gelehriger, produktiver, effektiver und nützlicher Körper. Körper werden zu einer ausnutzbaren Kraft nur, wenn er sowohl produktiver wie auch unterworfener Körper ist. […]“ (Foucault 2013b, S. 37). Zentrale Zielscheibe und Wirkungsfeld der Technologien der Disziplin stellt in der sich so formierenden Disziplinargesellschaft der individuelle Körper dar. Im Laufe der Geschichte jedoch weitete sich dieser Gesellschaftstyp aus. Er perfektionierte und transformierte sich zu einem anderen Gesellschaftstyp: der Normalisierungsgesellschaft (vgl. Schmincke 2009, S. 109). Innerhalb dieser lassen sich zwei Machttechniken rekonstruieren: die Norm und die Sexualität. Erstere beleuchtet er in ,Die Geschichte der Psychiatrie‘. Das Phänomen der Sexualität bearbeitet er in ,Der Wille zum Wissen‘. Dass, vermittelt über diese beiden Scharniere, regulierend auf den kollektiven Körper, welchen Foucault als den Gesellschaftskörper fasst, zugegriffen wird und dieser somit als ,normalisierter Körper‘ perspektiviert werden kann, lassen die erwähnten historischen Analysen der Geschichte der Psychiatrie und der Sexualität erkennbar werden. Auf eine vertiefende Diskussion dieser Zusammenhänge richten sich die nachfolgenden Überlegungen. In diesen werden auch die Konstruktion von Körper über MachtWissenskomplexe sowie der Begriff der Bio-Macht näher beleuchtet. ,Norm (-alis) -ierte Körper‘ Die ,Normalisierungsgesellschaft‘ bezeichnet Foucault als historischen und biopolitischen Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie (vgl. Foucault 2012, S. 139), in der die Bevölkerung über die Norm reguliert wird. Für die Formierung 86

Mit seiner genealogischen Betrachtung und Analyse der ,Mikrophysik der Macht‘ wie auch der ,politischen Besetzung des Körpers‘ verfolgt er das Anliegen, Körper bis in seine Materialität hinein als Effekt von Diskursen und damit von Praktiken der Macht und des Wissen zu bestimmen (vgl. Siebenpfeiffer 2008, S. 56). Körper sind in das Feld des Politischen eingebettet: „Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann. Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen“ (Foucault 2012, S. 137-138). Politische Technologien wirken an Körper, an Gesundheit, Ernährung, Wohnen, Lebensbedingungen und an dem gesamten Raum der Existenz (vgl. Foucault 2012, S. 139).

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dieses Gesellschaftstyps lotet Foucault zwei zentrale Technologien der Macht aus, die ihrerseits am Körper ansetzen: die Norm und die Sexualität.87 Anders jedoch als in der Disziplinargesellschaft, in der der individuelle Körper Zielscheibe regulierender Kontrolle war und die Machtprozeduren die politische Anatomie des menschlichen Körpers geleistet haben, rückte in der Normalisierungsgesellschaft der kollektive Körper in Gestalt eines ideellen Körpers, des Bevölkerungskörpers, in den Mittelpunkt regulierender Zugriffe. So galt das Ziel vordergründig, dessen Reproduktion zu regulieren und zu maximieren.88 Kritisches Augenmerkt richtet Foucault in seinen historischen Analysen indes auf die Vereinnahmung des Lebens durch die Macht, eine Machtübergreifung auf den Menschen als Lebewesen, eine Verstaatlichung des Biologischen (vgl. Foucault 2001, S. 282). Dabei rückt insbesondere die Verschränkung von Macht und Wissen sowie deren Wirkungsweisen auf Körper in den Blick. Körper werden durch ein spezifisches, aus herrschenden Vorstellungen resultierendem Wissen um den Körper hervorgebracht. Körper werden durch einen MachtWissens-Komplex konstruiert (vgl. Burghard et al. 2014), und dies insofern, als dass „das Wissen um den Körper mit der Macht über den Körper verschmilzt“ (vgl. Siebenpfeiffer 2008, S. 56). Im Folgenden wird in körpertheoretischer Perspektivierung nachgezeichnet, wie der Bevölkerungskörper über die Scharniere der Norm und der Sexualität reguliert und normalisiert wird. In diesem Zusammenhang wird überdies das Konzept der BioMacht erschließbar. Dies ist als eine Form der Macht auszulegen, deren Funktionieren maßgeblich auf der Besetzung und Verwaltung des (Gesellschafts-) Körpers beruht. In Kürze wird zunächst die Bedeutung der Normalisierung für die Konstitution moderner Gesellschaften anhand der Psychiatrie (als Normalisierungswissenschaft) und deren Techniken der Anomalie skizziert, bevor sich die Ausführungen auf das

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Die Normalisierungsgesellschaft, innerhalb derer die ,Anomalie‘ erst konstruiert wird, entwickelte sich Foucaults Analysen zufolge über zwei zentrale Elemente: die Norm und die Sexualität. Über diese werden sowohl der individuelle wie auch der kollektive Körper der Gesellschaft reguliert. Zum einen zeigt Foucault anhand des psychiatrischen Gutachtens, dass es so etwas wie eine Normalisierungsmacht gibt. Später veranschaulicht er zum anderen, dass Normalisierungsmacht im Wesentlichen auf die Sexualität und die Normalisierungstechniken der Sexualität seit dem 17. Jahrhundert angewendet wurde (vgl. Foucault 2013a, S. 62). Zentrierte das Disziplinardispositiv (die Machtprozeduren der Disziplinen) auf die Disziplinierung des Körpers, die politische Anatomie des menschlichen Körpers, des individuellen Körpers, um diesen als Maschine zu dressieren, seine Fähigkeiten zu steigern und seine Kräfte auszunutzen, ihn gelehrig zu machen und um ihn in wirksame ökonomische Kontrollsysteme zu integrieren, so zentriert sich die Macht später (in der Normalisierungsgesellschaft) um den Gattungskörper und die Regulierung der Bevölkerung. Und dies insofern, als dass Fortpflanzung, Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Langlebigkeit zum Gegenstand der regulierenden Kontrolle vielfältiger Verfahren und Formen Bio-Macht wurden (vgl. Foucault 2012, S. 135). Deren Voraussetzung bildeten die Besetzung und Bewertung, die Verwaltung und Verteilung der Kräfte des lebenden Körpers (vgl. Foucault 2012, S. 137).

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Sexualitätsdispositiv konzentrieren. Die Macht und entsprechende Techniken der Normalisierung beleuchtet Michel Foucault in den Analysen zur Geschichte der Psychiatrie. Ausgehend vom gerichtsmedizinischen Gutachten kommt er zum ,Problem‘ der ,Anormalen‘. Somit hinterfragt er Konstruktionen von ,normal‘ und ,nicht-normal‘ im Sinne von ,vom Normalen abweichend‘ und daran anschließend auf die machtvollen Techniken der Normalisierung. Das wirkmächtigste Instrument der Psychiatrie bildet Foucault zufolge das psychiatrische Gutachten. Dies betrachtet er als ein durch die Wahrheitsdiskurse verschiedener Disziplinen legitimiertes Dokument, welches eine Verbindung zwischen dem Gerichtlichen und dem Medizinischen herstellt und diese zusammenschweißt (vgl. Foucault 2013a). Indes wendet sich das Gutachten an die Kategorie der ,Anormalen‘, indem es sich in der Abstufung des ,Normalen‘ zum ,Anormalen‘ entfaltet. Sein Funktionieren bezieht es überdies aus einer Macht, die Foucault als Macht der Normalisierung bezeichnet. Mitsamt hat das psychiatrische Gutachten den Effekt, dass es zum einen das ,anormale‘ Individuum und zum anderen entsprechende Normalisierungswissenschaften hervorbringt. 90 „Mit 89

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Foucault unterscheidet in seinen historischen Analysen vier große strategische Komplexe, die um den Sex spezifische Macht-Wissenskomplexe (Diskurse) entfalten: Die Hysterisierung des weiblichen Körpers, die Pädagogisierung des kindlichen Sexes, die Psychiatrisierung der perversen Lust und die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens (vgl. Foucault 2012, S. 103-104; Dreyfus und Rabinow 1994, S. 201-203). Das gemeinsame Merkmal dieser Strategien besteht darin, eine spezifische Sexualität diskursiv hervorzubringen. Innerhalb der Machtanalyse der Sexualität zeigt Foucault beispielhaft Formen der Normalisierung anhand des Umgangs mit Pest und Lepra. Anhand dieser zeichnet er nach, dass und inwiefern Macht zu anderen historischen Zeitpunkten operierte, beziehungsweise in welcher Weise Individuen und Bevölkerung reguliert wurden. War der Umgang mit Leprakranken gegen Ende des Mittelalters einer des Ausschlusses von diesen und als solche eine soziale Praxis der Marginalisierung, die eine rigorose Unterteilung in Aussetzung und Eingrenzung von Gesunden und Kranken und damit ein Ausschluss rechtlicher und politischer Art bedeutete, so wurde im Umgang mit Lepra das Ordnungsmodell des Einschlusses aktiviert: In diesem wurde eine Stadt gerastert, territorialisiert und Pestkranke diesen zugeordnet. Somit ging es um Quarantäne und gerasterte Anwesenheit. Im Umgang mit Lepra sollte Reinigung erreicht werden, bei der Pest hingegen ging es darum, Gesundheit und Leben der Individuen zu maximieren um eine gesunde Bevölkerung zu produzieren. Damit einher ging auch eine fortgesetzte Überwachung eines Feldes, eines Teils der Stadt. In dessen Innerem wurden Individuen vermessen um zu erfahren, ob sie der Regel einer festgesetzten Gesundheitsnorm entsprachen (vgl. Foucault 2013a, S. 63-68). So pointiert Foucault: „Die Pest bedeutet die durchgängige Rasterung einer Bevölkerung mittels einer politischen Macht, deren kapillare Verzweigungen sich unablässig bis in den Kern der einzelnen Individuen, in ihre Zeit, in ihre Behausung, ihren Aufenthaltsort und ihre Körper hinein erstrecken“ (Foucault 2013a, S. 68). Im Anschluss an diese Überlegungen präsentiert Foucault bereits den Begriff der Regierung (vgl. Foucault 2013a, S. 70). Später bezieht sich seine Genealogie auf die Geschichte der Normalisierungsmacht, die im Wesentlichen auf die Sexualität und die Normalisierungstechniken der Sexualität angewendet wurden (vgl. Foucault 2013a, S. 62). Dies bezeichnet er als Analyse der Normalisierung der Sexualität. Er zeigt auch die Positivität von Macht und entsprechenden Zugriffen auf die Individuen und die Bevölkerung. Anhand der Beispiele der Ordnungsmodelle im Umgang mit Lepra zum Ende des Mittelalters und mit Pest im beginnenden 18. Jahrhundert verdeutlicht er das Durchsetzen von so gefassten ,positiven Machttechnologien‘ (Foucault 2013a, S. 69). War der Umgang mit Lepra eine negative Reaktion des Ausschlusses, so war die Reaktion auf

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dem Gutachten eröffnet sich eine Praxis bezüglich der Anormalen, die eine bestimmte Macht der Normalisierung dazwischenschiebt und nach und nach aus eigener Kraft, aus den Wirkungen der Verschweißung des Medizinischen mit dem Gerichtlichen dahin gelangt, sowohl die Gerichtsmacht wie das psychiatrische Gutachten zu transformieren und sich als Kontrollinstanz des Anormalen zu konstituieren“ (Foucault 2013a, S. 61-62). Im Kern dient das psychiatrische Gutachten – als Technologie der Macht – also der Ordnung und Kontrolle der Gesellschaft; das heißt von und über ,Anomalien‘, ,Krankheiten‘ oder ,sozialen Problemen‘.91 In diesen Analysen manifestiert sich nun die Macht der Norm, eine machtvolle Instanz, die „sich auf einen Körper, den man disziplinieren will, ebenso gut anwenden lässt wie auf eine Bevölkerung, die man regulieren will“ (Foucault 2001, S. 298). Macht nehme als Gewohnheit die hinterlistigste, alltägliche Form der Norm an und so verberge sie sich als Macht und gebe sich als Gesellschaft (vgl. Foucault 1976, S. 12). Daran anschließend trägt die Norm, welche ihre Macht aus den spezifischen Wahrheitsdiskursen der Psychiatrie und Medizin schöpft, zur Formierung eines ideellen Gesellschaftskörpers bei. Die Macht der Norm und entsprechende Techniken der Normalisierung verknüpft Foucault nunmehr mit der Analyse der Geschichte der Sexualität und zeigt, wie der Sexualitätsdispositiv ebenso zur Formierung eines spezifischen Gesellschaftskörpers beigetragen hat. Seine Analysen lassen erkennbar werden, dass der Gesellschaftskörper als Gegenstand regulierender Kontrolle in Erscheinung tritt. Über das Sexualitätsdispositiv werden sowohl der individuelle als auch der kollektive Körper hervorgebracht. Das Ziel der Analyse dieses Dispositivs besteht darin zu zeigen, wie sich Wahrheitsdiskurse um den Sex gebildet haben. In einer solchen Perspektive wird Sexualität erst über diese Diskurse hervorgebracht. Die um die Sexualität entstandenen Machtdispositive schalten sich direkt an den Körper, an Funktionen, physiologische Prozesse, Empfindungen und Lüste an (vgl. Foucault 2012, S. 146).92 Dies steht im Mittelpunkt der kommenden Ausführungen, in welchen nachgezeichnet wird, wie der

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Pest eine positive. Als solche war sie eine Reaktion des Einschlusses, der Beobachtung und Wissensformierung sowie der Vervielfachung von Machteffekten auf Basis von Beobachtungen und Erkenntnissen. So vollzog sich der Übergang von einer Technologie der Macht, die ausschließt und unterdrückt, zu einer positiven Macht, zu einer Macht, mit der verschiedene Mechanismen verbunden sind, einer Macht, die produziert, beobachtet, einer Macht, die weiß und sich auf der Grundlage ihrer eigenen Effekte multipliziert (vgl. Foucault 2013a, S. 69). Indem Foucault die Logiken und Wirkungsweisen von Technologien der Macht rekonstruiert, die im Dienste der Ordnung von und Kontrolle über Gesellschaften standen, gelangt er zum Begriff der ,Kunst des Regierens‘. Dieser dient als Hintergrund der Analyse der Normalisierung der Sexualität und ihren Normalisierungseffekten (vgl. Foucault 2013a, S. 70-71). Diesen Gedanken führt er in seinen späteren Studien zur Geschichte der Gouvernmentalität weiter aus. Es geht ferner darum den Körper in der Analyse sichtbar zu machen, in der das Biologische und das Historische sich in einer Komplexität verschränken, die zudem in gleichem Maße wächst, wie sich die modernen Lebens-Macht-Technologien entwickeln (vgl. Foucault 2012, S. 146).

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Sexualitätsdispositiv – gefasst als Macht-Wissens-Komplex – die Hervorbringung des Gesellschaftskörpers erwirken konnte. Ausgangspunkt der Genealogie der Sexualität ist Foucaults kritische Auseinandersetzung mit der Repressionshypothese. Diese besagt im Kern, dass Körper und Sexualität in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft einer juridisch-diskursiven Macht unterworfen und somit unterdrückt, verdrängt, zensiert und aus der Öffentlichkeit in die Privatsphäre verbannt wurden (vgl. Gugutzer 2015, S. 81). Dem setzt Foucault entgegen, dass das Reden sowie die Produktion des Wissens über Sexualität zugenommen hat und dabei in verschiedenen Institutionen permanenten Geständniszwängen unterlegen ist (vgl. Gugutzer 2015, S. 81). Folglich lässt sich Sexualität als die Materialisierung spezifischer Diskurse deuten, die ein bestimmtes Wissen über sowie bestimmte Machtpraktiken hinsichtlich der Sexualität hervorbringen. Körper erscheinen in dieser Lesart als Gegenstand eines ausschließlichen Diskurses (vgl. Foucault 2013a, S. 262) und treten somit erst durch die Kraft der Diskurse über die Sexualität in Erscheinung. Sexualität legt Foucault nicht als biologisches Phänomen oder ursprünglichen menschlichen Trieb aus, sondern als die Materialisierung spezifischer Diskurse, die ein bestimmtes Wissen über sowie bestimmte Machtpraktiken hinsichtlich der Sexualität hervorbringen (vgl. Gugutzer 2015, S. 81). Er bestimmt sie ferner als „großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und der Widerstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten“ (Foucault 2012, S. 105). Er führt weiter aus und differenziert Sexualität als Ensemble von Auswirkungen, die in Körpern, Verhaltensweisen, gesellschaftlichen Beziehungen durch das Dispositiv einer komplexen politischen Technologie herbeigeführt werde (vgl. Foucault 2012, S. 125).93 Es lässt sich pointieren: „[…] ,Sexualität‘ ist der Name, den man einem geschichtlichen Dispositiv geben kann“ (Foucault 2012, S. 105). Mitsamt ist die Sexualität an Machtdispositive gebunden und folglich als Sexualitätsdispositiv auszulegen. Somit differenziert er zwischen Sexualität und dem Sexualitätsdispositiv, jedoch weist er den Körper als dessen zentrale Zielscheibe aus. Einem so gefassten Verständnis zufolge ist es nicht lediglich auf Reproduktion ausgerichtet, 93

In der Analytik der Macht, im ersten Band von Sexualität und Wahrheit, fokussiert Foucault (2012) auf das Zusammenspiel von Macht und Wissen und deren Wirkung auf den Körper. Er stellt heraus, dass die Sexualität an die Aufwertung des Körpers als Wissensgegenstand und als Element in den Machtverhältnissen gebunden und bezogen ist (vgl. Foucault 2012, S. 106). Sexualität deutet Foucault als eigenständigen Diskurs, welcher mit Machtdiskursen und Machtpraktiken verbunden ist. Als solche entwickelte die Sexualität sich zu Beginn des 18 Jahrhunderts. Zum einen ging es um administrative Sorge, um das Wohlergehen der Bevölkerung, also um Verbindung von Sexualität und Macht im Hinblick auf Bevölkerungsangelegenheiten. Zum anderen vollzog sich eine Übertragung des Diskurses über Sexualität in medizinische Begriffe. Zugleich kam es zu einer ausgreifenden Produktion und Vermehrung von Diskursen über Sexualität.

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sondern auf die Intensivierung des Körpers, seine Aufwertung als Wissensgegenstand und als Element in Machtverhältnissen (vgl. Foucault 2012, S. 106). Das Dispositiv der Sexualität ist indes bestimmbar als ein Konglomerat aus diskursiven Praktiken, Wissen und Macht, das zur Entstehung der Kategorie Sexualität insofern beigetragen hat, als dass permanent Wahrheitsdiskurse hinsichtlich des Sexes produziert wurden (vgl. Foucault 2012). Seine Daseinsberechtigung findet das Sexualdispositiv darin, daß es die Körper immer detaillierter vermehrt, erneuert, zusammenschließt, erfindet und die Bevölkerung immer globaler durchdringt (vgl. Foucault 2012, S. 106). Dass das Sexualitätsdispositiv derartig Wirksamkeit entfalten konnte, hing mit der Erschließung der Bevölkerung als politisches und ökonomisches Problem im Kontext des Kapitalismus zusammen (vgl. Gugutzer 2015, S. 81). Dieser habe nämlich nicht nur die Disziplinierung des (individuellen) Körpers – im Dienste der Steigerung seiner Produktionskräfte – verlangt, sondern darüber hinaus das Wachsen der Bevölkerung, ihre Stärkung, ihre „Nutzbarkeit und ihre Gelehrigkeit“ (Foucault 2012, S. 136). Indem also die Bevölkerung, der gesamte Gesellschaftskörper als Element der Politik erschlossen wurde, konnte diese/r zugleich zum Gegenstand und zur Zielscheibe regulierender Kontrolle werden.94 Das Sexualitätsdispositiv zielt dabei auf die Regulierung des Gesellschaftskörpers und bildet das Scharnier zwischen den Entwicklungsachsen der politischen Technologie des Lebens. Einerseits gehört es zu den Disziplinen des Körpers: Dressur, Intensivierung und Verteilung der Kräfte, Abstimmung und Ökonomie der Energien. Andererseits hängt es aufgrund seiner Globalwirkungen mit den Bevölkerungsregulierungen zusammen. Der Körper fügt sich gleichzeitig in beide Register ein. Er gibt Anlaß zu unendlich kleinlichen Überwachungen, zur Kontrolle aller Augenblicke, zu äußerst gewissenhaften Raumordnungen, zu endlosen medizinischen oder psychologischen Prüfungen: zu einer ganzen Mikro-Macht über den Körper. Er gibt aber auch Anlaß zu umfassenden Maßnahmen, zu statistischen Schätzungen, zu Eingriffen in ganze Gruppen oder in den gesamten Gesellschaftskörper (vgl. Foucault 2012, S. 140-141).95 So lässt sich bündeln: Der Sex wird am Kreuzungspunkt von Körper und Bevölkerung zur zentralen Zielscheibe für eine 94

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Der Sexualitätsdispositiv wurde demnach als neue Verteilung der Lüste, der Diskurse und Wahrheiten und der Mächte (Macht- Wissenstechnologien) etabliert. Dabei ging es um Schutz, um Steigerung (der herrschenden Klassen) und Verstärkung, die als Mittel der ökonomischen und der politischen Kontrolle (auf die anderen Klassen) ausgedehnt wurde (vgl. Foucault 2012, S. 121). Die Diskursivierung des Sexes und die historische Genese der Sexualität nehmen ihren Ausgang darin, dass immer mehr Institutionen und Wissenschaften sich mit der Sexualität befassten. Das Geständnis – welches Foucault als säkularisierte Technik zur Produktion der Wahrheit des Sexes deutet – markiert er als einen wesentlichen Mechanismus der Produktion der Wahrheiten des Sexes (vgl. Gugutzer 2015, S. 82). Als wesentliche Zentren der Macht, die Diskurse über die Sexualität hervorgebracht haben, bestimmt Foucault die Pädagogik, die Medizin und die Ökonomie. Indem das Dispositiv der Sexualität permanent ,wahre‘ Diskurse über den Sex produziert hat, hat es zur Entstehung der Sexualität beigetragen (vgl. Gugutzer 2015, S. 82). Körper scheinen in dieser Lesart als Materialisierung eines MachtWissens-Komplexes (über Sexualität).

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Macht, deren Organisation auf der Verwaltung des Lebens beruht (vgl. Foucault 2012, S. 142).96 Die seit Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen neuen Technologien des Sexes wurden zu einer Angelegenheit gemacht, in der sich der gesamte Gesellschaftskörper und nahezu jedes seiner Individuen der Überwachung unterziehen musste (vgl. Foucault 2012, S. 115). Zusammen mit den institutionellen Techniken der Körperdisziplinierung bildet die Kontrolle der Bevölkerung jene gesellschaftliche Ordnungsmacht, die Foucault als Bio-Macht (vgl. Gugutzer 2015, S. 83) oder als Bio-Politik der menschlichen Gattung (vgl. Foucault 2001, S. 286) bezeichnet.97 Als solche bestimmt er diese als ein Netz der Macht, das „in die Tiefe der Körper materiell eindringen“ (vgl. Foucault 1978, S. 108) kann, ohne im Bewusstsein der Menschen verinnerlicht worden zu sein (vgl. Foucault 1978, S. 108-109). Dass die Frage nach der Bio-Macht untrennbar mit der Geschichte der Sexualität verbunden und Bezugspunkt regulierender Macht der Bevölkerungskörper war, lässt die Genealogie dieses Machttypus erkennbar werden. Techniken der Bio-Politik greifen auf den Gesellschaftskörper zu, über die Regulation von Natalität und Mortalität, von Krankheit, Reproduktion und Demographie. Die Bio-Macht zielt, so lässt sich pointieren, auf die „sorgfältige Verwaltung der Körper und der rechnerischen Planung des Lebens“ (Foucault 2012, S. 135).98 Abschließend lässt sich resümieren, dass das Sexualitätsdispositiv eine wesentliche Technologie der Macht war, die zur Formierung des Gesellschaftskörpers beigetragen hat und die Analyse dessen als eine Geschichte der Körper und der Art und Weise, in der man das Materiellste und Lebendigste an ihnen eingesetzt und besetzt hat (vgl. Foucault 2012, S. 146), zu lesen ist. An den Begriff der Bevölkerung, welche Foucault als „eine globale Masse […], die von dem Leben eigenen Gesamtprozesse geprägt [ist] wie Prozessen der Geburt, des Todes, der [Re-]Produktion, Krankheit [...]“ (Sennelart 2014, S. 546) auslegt, schließen seine späteren Aufarbeitungen der ,Geschichte der Gouvernmentalität‘ an. In 96

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Foucault pointiert, dass sich die Klasse, die im 18. Jahrhundert zur Hegemonie kam, einen Körper gegeben hat, „den es zu schützen, zu kultivieren, vor allen Gefahren und Berührungen zu bewahren und von den anderen zu isolieren galt, damit er seinen eigenen Wert behalte. Ein Mittel dazu war die Technologie des Sexes“ (Foucault 2012, S. 121). So deutet Foucault die Macht, die sich im 18. Jahrhundert ausbreitet, als eine Macht, die hinsichtlich der Regulation des Bevölkerungskörpers instituiert ist. Sie nimmt eine zentrale Funktion zur Regulierung der Bevölkerung ein. Insofern die Besetzung und Bewertung des lebenden Körpers, die Verwaltung und Verteilung seiner Kräfte unentbehrlich für die Ausübung dieser Macht waren, gelingt Foucault eine Auseinandersetzung mit einer Form der Macht, die auf den Körper selbst ausgeübt wird und sich so Zugang zu Körpern verschafft und zeigt damit, dass Körper als zentrale Zielscheibe von Macht fungieren (vgl. Foucault 2012, S. 136-137). So schreibt Foucault (2012): „Die Installierung dieser großen doppelgesichtigen – anatomischen und biologischen, individualisierenden und spezifizierenden, auf Körperleistungen und Lebensprozesse bezogenen – Technologie charakterisierte eine Macht, deren höchste Funktion nicht mehr das Töten, sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens ist“ (Foucault 2012, S. 135).

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den Überlegungen zu moderner Staatlichkeit entwickelt er seine früheren Analysen der Macht weiter und deutet verstärkt darauf hin, dass die Bevölkerung zunehmend als Zielscheibe von Führungen und Regierungsweisen in Erscheinung tritt. 99 So zeigt er, dass Disziplinar- und Normalisierungstechniken sich in Steuerungsdispositive einfügen, die nurmehr auf die Regierung der Bevölkerung zielen (vgl. Sennelart 2014, S. 547). Wie Foucault die sich darin formierende Sicherheitsgesellschaft fasst, wie sich innerhalb dieser Formen der Selbst- und Fremdführung verschränken und inwiefern der Körper sich in diese Verhältnisse einfügt, bildet Inhalt des folgenden Parts. Es wird darauf verzichtet, das gesamte Denken darzulegen. Es werden lediglich die Aspekte, die in Bezug auf Körper relevant sind, gestreift. Abschließend geht es darum, einige Kritikpunkte an poststrukturalistische Deutungen des Körpers im Anschluss an Foucault heranzutragen und zu ergänzen. 1.3.2

,Regierung der Körper‘ und ,Technologien des Selbst‘

In seinen Studien über die Geschichte der Gouvernmentalität befasst sich Michel Foucault mit der Genese moderner Staatlichkeit und moderner Subjektivität. 100 Anders als in seinen Analysen der Disziplinargesellschaft, in denen er nachzeichnet, wie Macht disziplinierend auf die Körper der Individuen zielt, verschiebt sich der Fokus in diesen Arbeiten zum einen auf den Staat – welchen Foucault als Ergebnis von Machttechniken auslegt – und die Sicherheitsdispositive sowie zum anderen auf

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Lag der Akzent seiner genealogischen Betrachtungen in ,Überwachen und Strafen‘ sowie der ,Wille zum Wissen‘ insbesondere auf einer Abgrenzung von einem juridisch-repressiven Machtverständnis sowie auf der disziplinären Zurichtung des Körpers im Kontext von Institutionen (als beispielhaft Gefängnis, Krankenhaus und die Psychiatrie), so nimmt er in diesen Studien einige bedeutsame theoretische Verschiebungen vor. Mängel beziehungsweise Leerstellen lassen sich insbesondere dahingehend markieren, dass er Prozesse der Subjektivierung oder aber den Staat als Resultate gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse nicht hinreichend berücksichtigt (vgl. Bröckling et al. 2000, S. 8). Im Mittelpunkt der historischen Analyse in der ,Geschichte der Gouvernmentalität I‘ (Focuault 2014) stehen die Genealogie des modernen Staates sowie die Genealogie der politischen Ökonomie und des Liberalismus. Von zentraler Bedeutung für die Analysen moderner Staatlichkeit ist der Begriff der Regierung, welchen er als Gouvernmentalität re-formuliert. Unter Regierung versteht Foucault „die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels deren man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung“ (Foucault 1996, S. 118-120 in Bröckling et al. 2000, S. 7). Diese Prozeduren, die die Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden, die die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten, scheinen im Zuge der gesellschaftlichen Transformationen (neoliberal) in die Krise gekommen zu sein. Den modernen Staat, welchen es zu analysieren gilt, perspektiviert Foucault als eine verwickelte Kombination von Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren (vgl. Foucault 1987, S. 248; in Bröckling et al. 2000, S. 10). So richtet sich das Interesse seiner Analyse heterogener und diskontinuierlicher Regierungskünste auf langfristige Prozesse der Herausbildung moderner Staatlichkeit zum einen sowie moderner Subjektivität zum anderen (vgl. Bröckling et al. 2000, S. 10). Die früheren Arbeiten von Foucault hoben auf eine Auseinandersetzung mit der disziplinierenden Zurichtung des individuellen Körpers. Praktiken der Subjektivierung hingegen fanden in diesen Auseinandersetzungen keine Berücksichtigung.

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Macht und Subjektivität.101 Seine Aufarbeitungen beleuchten somit nicht mehr die Disziplinierung Einzelner, sondern die Regierung der Bevölkerung. 102 Diese deutet er als Masse aller individuellen Körper. „Man muss die Wechselwirkungen zwischen […] Herrschaftstechniken und Selbsttechniken – untersuchen. Man muss die Punkte analysieren, an denen die Techniken der Herrschaft über Individuen sich der Prozesse bedienen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt. Und umgekehrt muss man jene Punkte betrachten, in denen die Selbsttechnologien in Zwangs- und Herrschaftsstrukturen integriert werden. Der Kontaktpunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist, kann nach meiner Auffassung Regierung genannt werden. In der weiten Bedeutung des Wortes ist Regierung nicht eine Weise, Menschen zu zwingen, das zu tun, was der Regierende will; vielmehr ist sie immer ein bewegliches Gleichgewicht mit Ergänzungen und Konflikten zwischen Techniken, die Zwang sicherstellen, und Prozessen, durch die das Selbst durch sich selbst konstruiert oder modifiziert wird“ (Foucault 1993, S. 203; in Bröckling et al. 2000, S. 29). Diese Fokussierungen lassen wiederum eine spezifische Perspektive auf die Hervorbringung von Körpern zu, die im Anschluss an einige Bemerkungen zu den Studien der Geschichte der Gouvernmentalität gestreift werden. Indem Foucault eine Geschichte der Sicherheitstechnologien vorlegt, erkennt er einen sich neu formierenden Gesellschaftstyp. Diesen bezeichnet er als Sicherheitsgesellschaft (vgl. Foucault 2014, S. 26). Als für die Sicherheitsgesellschaft konstitutive Technologie der Macht weist Foucault den Sicherheitsdispositiv aus, eine Machttechnologie, die über die Kalkulation von Risiken, Gefahren und Krisen auf die Regierung der Bevölkerung zielt.103 Für die Analyse von Macht-Wissens-Komplexen in der Sicherheitsgesellschaft prägt Foucault den Begriff der Gouvernmentalität, welcher Regieren (gouverner) und Denkweise (mentalite) semantisch miteinander verbindet (vgl. Bröckling 2000, S. 8).104 Der Begriff der Regierung (Gouvernmentalität) steht somit im Zentrum der 101 102

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Es bedurfte mitsamt einer Erweiterung des analytischen Instrumentariums, um Verhältnissen von Subjektivierungsprozessen zu Herrschaftsformen nachzugehen (vgl. Lemke o.J.). Mit dem Begriff der Regierung, den er in der Geschichte der Gouvernmentalität konstituiert, rückt das Verhältnis von Staat und Subjekt in den Vordergrund. Dieses wurde in den früheren Schriften nicht explizit herausgearbeitet. Im Rahmen seiner Gouvernmentalitätsanalyse legt Foucault eine Sicht auf politische Verhältnisse, die nicht von Diskursen von Souveränität und Legitimität dominiert sind, sondern in denen es darum geht, „über Dinge zu verfügen, d.h. vielmehr Taktiken statt Gesetzen oder äußerstenfalls Gesetze als Taktiken einzusetzen, und dafür zu sorgen, dass mit einer bestimmten Anzahl von Mitteln dieser oder jener Zweck erreicht werden kann“ (Foucault 2008, S. 54, in Bröckling 2000, S. 28). In den Vorlesungen, aus denen dieser Band entstanden ist, tritt erstmals die Bevölkerung als politisches Subjekt in Erscheinung, deren Naturalität und Materialität er zwar andeutet, jedoch Dimensionen des Körperlichen weniger ausführt. Bröckling et al. (2000) zufolge greifen den Begriff der Gouvernmentalität in Anlehnung an Foucault auf und schärfen diesen im Hinblick auf eine Auseinandersetzung mit neoliberaler Gouvernmentalität. Neoliberalismus fassen die Autor*innen in Gouvernmentalität der Gegenwart (2000) nicht allein als

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Körper theoretisch

theoretischen Neuorientierungen der Machtanalysen. Er ermöglicht es, Machtbeziehungen unter dem Aspekt der Führung zu betrachten. Diesen bezieht er zum einen auf moderne Staatlichkeit sowie zum anderen auf das Subjekt. Der Terminus ,Regierung‘ umfasst „die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung“ (Foucault 2005, S. 116). Indes macht er verschiedene Formen von Regierungen aus, etwa militärische oder bürokratische Praktiken, jedoch ebenso die vermeintlich privaten Techniken, die Techniken des Selbst. Überdies verweist der Begriff der Regierung zum einen auf unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, welche auf die Lenkung, Kontrolle sowie die Leitung von Individuen und Kollektiven zielen, zum anderen umfasst er Praktiken der Selbst- und der Fremdführung (vgl. Foucault 1987, S. 255; in Lemke o.J.).105 Innerhalb derweiliger Auseinandersetzungen werden seine Arbeiten subjekttheoretisch. Als Hauptzielscheibe der Regierung identifiziert Foucault die Bevölkerung und als ihren wesentlichen Mechanismus die Sicherheitsdispositive (vgl. Foucault 2014, S. 161). Dazu zählen Techniken der Berechnung, der Statistik, der Wahrscheinlichkeitskalküle und Messungen, aber auch der Bestimmung von Fällen, Gefahren, Risiken und Krisen (vgl. Foucault 2014, S. 95-96).106 Das Sicherheitsdispositiv steuert indes Elemente der Realität, beispielsweise mit den Mitteln einer statistischen Norm, an der sich Bevölkerungsgruppen auszurichten haben (vgl. Foucault 2004, in Schmincke 2009, S. 113). Im Unterschied zum Dispositiv der Disziplin, in dessen Fokus der individuelle Körper stand, sowie der Normalisierung, in der Individuen an einer Norm ausgerichtet und anzupassen versucht wurden – somit war die Norm primär und fundamental für die disziplinierende Normalisierung – , repräsentiert das Sicherheitsdispositiv das Gegenteil. Dessen Ausgangspunkt bildet indes das empirisch Normale, welches als Norm dient (vgl. Bröckling 2000, S. 13). Als Norm gelten statistische

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ideologische Rhetorik oder als polit-ökonomische Realität, sondern als ein politisches Projekt, welches darauf abzielt, eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als existierend voraussetzt (vgl. Bröckling et al. 2000, S. 9). Überdies nimmt der Begriff der Regierung bei Foucault eine Scharnierfunktion ein. Erstens bestimmt er diesen als Bindeglied zwischen strategischen Machtbeziehungen und Herrschaftszuständen. Zweitens vermittelt der Begriff der Regierung zwischen Macht und Subjektivität, wodurch es möglich wird zu fassen, wie Herrschaftstechniken sich mit Technologien des Selbst verbinden. Nicht zuletzt und drittens bietet der Begriff der Regierung ein Analyse-Instrument für Macht-Wissens-Komplexe (vgl. Bröckling et al. 2000, S. 8). Rahmend ist zu erwähnen, dass Foucault sich in dieser Phase mit dem Liberalismus beschäftigt und im Rahmen dieser Auseinandersetzung eine entscheidende Neubestimmung des Verhältnisses von Staat/Politik und Ökonomie vorlegt. Die Entwicklung von Sicherheitsmechanismen sind indes an das Aufkommen liberaler Gouvernmentalität im 18. Jahrhundert gekoppelt (vgl. Bröckling 2000, S. 14). Dafür war es notwendig, Mechanismen der Sicherheit zu etablieren. Es war eine zentrale Aufgabe der Regierungsrationalität, zum einen die Sicherheit natürlicher Phänomene, ökonomischer Prozesse und zum anderen die der Bevölkerung eigenen Prozesse zu gewährleisten (vgl. Bröckling 2000, S. 14)

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Verteilungen von Häufigkeiten und Verteilungsraten (so etwa von Krankheits-, Geburten- und Todesraten) (vgl. Bröckling 2000, S. 13). Sicherheit – so die These – gilt herstellbar durch den Ausschluss von Zufällen und Unregelmäßigkeiten. In erster Linie geht es darum, das Leben und die biologischen Prozesse der Menschengattung zu erfassen und deren Regulierung sicher zu stellen (vgl. Foucault 2001, S. 291).107 Mitsamt grenzt Foucault in seinen Studien zur Gouvernmentalität Macht und Herrschaft voneinander ab.108 Da er in diesen Machtanalysen unter dem Aspekt der Regierung aber nicht lediglich auf die Genese moderner Staatlichkeit fokussiert, sondern überdies auf die Herausbildung von Subjektivität, differenziert er ferner in Herrschaftstechnologien und Selbsttechnologien. Zielen Herrschaftstechnologien auf die Bestimmungen des Verhaltens von Individuen zu ihrer Unterwerfung unter Herrschaftszwecke, so definieren sich ,Technologien des Selbst‘ darüber, dass sie es Individuen ermöglichen, bestimmte Operationen mit ihren Körpern, Seelen, mit der eigenen Lebensführung zu vollziehen, sodass sie einen Zustand von Vollkommenheit, Reinheit und Kraft erlangen (vgl. Bröckling 2000, S. 28-29). Diese Differenzierung erlaubt zu untersuchen, wie sich Technologien der Macht mit Praktiken des Selbst verbinden und dabei Formen politischer Regierung auf Techniken des ,Sich-SelbstRegierens‘ zurück greifen (vgl. Lemke 2005, S. 334). Regierung markiert somit einen Kontaktpunkt, an dem sich Formen der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung (an dem sich somit Selbst- und Herrschaftstechnologien) verknüpfen (vgl. Bröckling et al. 2000, S. 25). Somit gelingt es Foucault, Verhältnisse von Selbst- und Fremdführungen, von Herrschafts- und Selbsttechniken zu erhellen und gleichzeitig den Blick auf Praktiken der Formierung des Subjekts zu öffnen, auf Praktiken, die körperlich sind.

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In diesem Kontext ist der Begriff der Bio-Politik relevant. Diese richtet sich auf einen multiplen Körper mit zahlreichen Köpfen – auf die Bevölkerung. Die Biopolitik tritt in dem Augenblick in Erscheinung, in dem sie nicht nur mit der Bevölkerung, sondern vielmehr mit der Bevölkerung als (biologischem und politischem) Problem und Macht konfrontiert wird. Seine Staatsanalysen lassen erkennbar werden, dass im 18. Jahrhundert – anders als in seinen Konzeptionalisierungen der Disziplinargesellschaft, in der das Recht als begrenzendes Prinzip fungierte – ein inneres Begrenzungsprinzip in Form der Ökonomie in Erscheinung tritt. Dieses trägt den Anspruch einer Selbstbeschränkung der gouvernmentalen Vernunft in sich. Mit dem Aufkommen eben dieser politischen Ökonomie in die Regierungspraxis vollzieht sich eine Verdoppelung und eine Fokussierung der Regierung auf die Bevölkerung und somit auf den sozialen Körper: Die Rechtssubjekte, auf welche sich die einst politische Souveränität erstreckt, erscheinen wie eine Bevölkerung, die eine Regierung leiten muss (vgl. Sennelart 2014, S. 556-557). Die Biopolitik findet also in der Entdeckung des Bevölkerungskörpers als zu regulierendes Prinzip ihren Ausgangspunkt. Später verknüpft Foucault diese Analysen mit dem Liberalismus als Rahmen der Biopolitik. Er führt weiter aus, dass die Biopolitik Teil einer neuartigen Vernunft ist, die er als gouvernmentale Vernunft markiert (vgl. ebd.). Mit der Hinwendung zum Begriff der Regierung, wie sich in den Studien zur Gouvernmentalität und später in ,Ästhetik der Existenz‘ nachzeichnen lässt, gelingt Foucault die Verknüpfung von Macht, Wissen und Subjektivität. Machtbeziehungen sind in dieser Perspektive als Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft auszulegen (vgl. Lemke o.J.).

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Körper theoretisch

In dieser Auslegung bezieht sich demnach Regierung auf die (Selbst-) Produktion von Subjektivität. Dabei distanziert Foucault sich von einem ontologischen Subjektverständnis und geht von den Praktiken der Formierung des Selbst aus. Diese markiert er als Selbsttechnologien, welche untrennbar mit Herrschaftstechnologien verknüpft sind. Identifizierte Foucault in den Studien über die Disziplinargesellschaft Subjektivierung und Unterwerfung miteinander (vgl. Bröckling et al. 2000, S. 29), so verschiebt er diese Überlegungen dahingehend, dass er damit den Kontaktpunkt konturiert, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt. Subjektivierung ist in dieser Perspektive nunmehr nicht an Unterdrückung zu orientieren, sondern an dem Begriff der Selbst-Produktion, an eine Erfindung und Förderung von Selbsttechnologien, welche wiederum an Regierungsziele zu koppeln sind (vgl. Bröckling et al. 2008, S. 29).109 Indem er den Begriff der Regierung als Selbst- und Fremdführung relevant setzt, vermittelt er zwischen Staat und Subjekt. In Anwendung des Regierungsbegriffs auf Konzeptionalisierungen von Subjektivität erschließt sich, inwiefern staatliche Führungen nicht mit Verboten und Zwang operieren, sondern durch ihre Macht, Subjekte zu einem bestimmten Handeln bewegen (vgl. Bröckling et al. 2000, S. 29) und sich in dieser Auslegung Herrschaftstechniken mit Selbsttechniken verbinden.110 An Fragen körpertheoretischer Art scheinen die Ausführungen zum Begriff der Regierung anschlussfähig. Somit kommen moderne Formen von Herrschaft in den Blick, in denen sich Fremdführungen mit Selbstführungen verknüpfen. Eingebettet in die Analyse liberaler Gesellschaftsformationen erlauben diese Perspektivierungen auch, in Praktiken der Selbst- und Fremdführung ökonomische und unternehmerische Rationaliäten wie etwa der Flexibilität auszuloten, denen individuelle und kollektive Körper ,unterworfen‘ werden und denen zufolge diese möglichst flexibel, autonom, effizient, schlank und fit zu sein haben (vgl.

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Hier gelingt Foucault die Verknüpfung von Macht, Wissen und Subjektivität. Darin werden seine Arbeiten subjekttheoretisch. Der Regierungsbegriff erweist sich somit auch für eine subjekttheoretische Lesart anschlussfähig (vgl. Bröckling et al 2000: 28-31). Verhältnisse von Fremd- und Selbstführung sind in Zusammenhang mit neoliberalen Verhältnissen und Rationalitäten zu bringen, welche wiederum in die Selbsttechniken einfließen. Wenn auch verkürzt, ist jedoch an dieser Stelle entscheidend, dass im Rahmen neoliberaler Gouvernmentalität Werte wie Selbstbestimmung, Flexibilität, Mobilität, Anpassungsfähigkeit die Autonomie des Subjekts signalisieren und zugleich Instrumente sind, um das Verhältnis der Subjekte zu sich und anderen zu verändern. Dies – und hier schließen sich wohlfahrtsstaatliche Überlegungen an – ist in Kontext mit wohlfahrtsstaatlichen Arrangements zu setzen. Im Rahmen neoliberaler Gouvernmentalität lässt sich ein Abbau wohlfahrtsstaatlicher Interventionsformen markieren, welcher von spezifischen Regierungstechniken und Interventionsformen begleitet ist. Diese verlegen einstmals staatliche Verantwortungen auf die Individuen. Das wiederum ist für diese Formen neuer Selbsttechnologien konstitutiv. Gesellschaftlich durchgesetzt – anders formuliert hegemonial – wird damit das Leitbild eines ,autonomen Subjekts‘, welches die Ausrichtung des eigenen Lebens und die Umgangsweisen mit dem eigenen Körper an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen ausrichtet (vgl. Bröckling 2000, S. 30).

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Bröckling et al. 2000, S. 32).111 Da in Praktiken der Fremd- und Selbstführung unternehmerische Rationalitäten einfließen, erlaubt diese Perspektive zu untersuchen, in welcher Weise sowohl der individuelle wie auch der kollektive Körper über Regierungstechniken hervorgebracht wird, welche sich in kritischer Lesart als (Selbst-) Zurichtungs- und Herrschaftstechniken neoliberaler Gouvernmentalität in den Blick nehmen lassen. Seit Foucault diese Bestimmungen der Biopolitik und der Biomacht vorgenommen hat, wurde an den Begriff in vielfältigen theoretischen Perspektiven angeschlossen. Etwa im Bereich der Biomedizin werden die zunehmenden Formen des körperlichen Selbstmanagements als eine Ausweitung der Techniken der Selbstführung analysiert, aber auch neue Handlungsspielräume ausgeleuchtet (vgl. Bublitz 2001; Duttweiler 2003; Villa 2008). Resümierendes Zwischenfazit Wissen, Macht und Körper Im nun anschließenden Part werden die zentralen Erkenntnisse der poststrukturalistischen Deutungen des Körpers, die sich in den Arbeiten von Michel Foucault manifestieren, gebündelt und es wird ihre Relevanz für die vorliegende Studie herausgestellt. Abschließend werden einige Kritikpunkte an seine Arbeiten herangetragen und Anschlussmöglichkeiten ausgelotet. Es lässt sich pointieren: Foucault geht in seinen Arbeiten nicht der ontologischen Frage nach, was denn der Körper ist. Vielmehr untersucht er den Körper als diskursives Konstrukt, als Diskurse über Körper und wie diese Diskurse spezifische Körper hervorbringen. So lassen seine Analysen erkennbar werden, dass Körper (als Produkte des Sozialen) durch ein spezifisches, aus herrschenden Vorstellungen resultierendes Wissen um den Körper – hervorgebracht werden. Insofern diese als Macht-Wissens-Komplexe näher bestimmt sind, werden Körper demgemäß durch diese konstruiert. So erschließen sich (theoretische) Perspektiven auf den ,normierten‘ und ,diskursiven‘ Körper. Eingedenk der körpersoziologischen Differenzierung des Körpers als Produkt und Produzent von Gesellschaft lässt sich dahingehend Kritk an den Arbeiten von 111

Biopolitik hat sich in den letzten Jahren vermehrt als Thema der Körpersoziologie geformt. In diesem Zusammenhang sind die Arbeiten von Michel Foucault zentraler theoretischer Bezugspunkt. Anschließend an Foucault lässt Biopolitik sich als moderne Machtstrategie in den Blick nehmen, bei der Körper zunehmend unter Kontrolle des modernen Staates geraten und die politische Existenz der Menschen auf dem Spiel steht (vgl. Klein 2010, S. 269). In einer solchen Perspektive werden Schönheitschirurgie, pränatale Diagnostik, künstliche Befruchtung (assistierte Reproduktionen), gentechnische Manipulationen, staatliche Regulierungen des Sexualverhaltens oder staatliche Vorschriften zu gesundem Verhalten oder Ernährungsverhalten als körperliche Normalisierungsstrategien problematisiert. Als Technologien des Selbst leisten diese einen zentralen Beitrag zu Subjektivierungsstrategien (vgl. Klein 2010, S. 469). Insbesondere im Feld der Medizin werden in körpertheoretischer Lesart Strategien der Normalisierung und an Techniken gebundene Normativierungen offenbar. Villa (2008) deutet diese als biopolitische Strategien der Selbstermächtigung, Barbara Duden (1991) hingegen als einen Angriff auf Minderheitenrechte, als reversible Politiken und nicht zuletzt auf die Selbstbestimmung des Subjekts (vgl. Klein 2010, S. 469).

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Körper theoretisch

Foucault üben, als dass in ihnen die Perspektive auf den Körper als Produzenten, der eine Handlungspotenzialität inne hat und so auf gesellschaftliche Diskurse einwirken kann, nicht erkennbar werden lassen. 112 Überdies verweisen etwa Dreyfus und Rabinow (1994) darauf, dass Foucault in der Frage danach, wie plastisch der menschliche Körper ist, schwer fassbar bleibt (vgl. ebd., S. 140).113 Im Kontext der Körpersoziologie werden poststrukturalistische Deutungen, die an poststrukturalistische Arbeiten von Foucault anknüpfen, damit konfrontiert, Körper als Produkt diskursiver Formierungen zu fassen. In den Blick geraten so Diskurse über den Körper und nicht der Körper als Materialität oder als eigenleibliche Erfahrung. Vernachlässigt wird – so lässt sich pointieren – der eigenleibliche und spürbare Körper. Leibtheoretische Perspektiven ermöglichen den Fokus darauf zu richten, dass nicht lediglich das ‚Körperäußere’, sondern auch das ‚Körperinnere’ in seiner jeweiligen Materialität gesellschaftlichen, diskursiven Formierungs- und Disziplinierungsprozessen ausgesetzt und von Machtverhältnissen überzogen ist. Eine vordiskursive Erfahrung und ein vordiskursives Erleben des Körpers sowie dessen Materialität gibt es seinen Ausführungen folgend nicht.114 Der Bezug zu Foucaults machtanalytischen Arbeiten erlaubt es, den Blick darauf zu legen, in welcher Art Körper über die Macht von Diskursen sowie über machtvolle und durchaus ambivalente Wirkungsweisen von Normen hervorgebracht werden. Dies deutet Foucault als spezifische Form der Vergesellschaftung. Lassen die (strukturalistischen) Arbeiten von Bourdieu erstens erkennbar werden, dass Körper durch Verhältnisse sozialer Ungleichheit geprägt sind, dass die (auf Körper bezogenen) Wahrnehmungsweisen zweitens als Resultat der Inkorporation sozialer Strukturen, einschließlich ihrer Ordnungsmuster sichtbar werden sowie drittens dichotom organisiert sind, so konzentieren sich die poststrukturalistischen Arbeiten von Foucault auf die gesellschaftliche Prägung des Körpers im Kontext von Machtverhältnissen, welche in spezifischer Weise auf Körper zugreifen, diese disziplinieren und formieren.115 Dass die Macht der Definitionen auch in den Kontext sozialer Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zu setzen ist, lässt weiterführende 112 113

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Diskurse über den Körper werden später bei Jäger (2005) und Lindemann (2011) im Anschluss an poststrukturalistischer Deutungen als Körperwissen spezifiziert. Als Alternative zu Foucault bieten Dreyfus und Rabinow (1994, S. 140) Merlau-Pontys Begriff des Eigenleibes und deuten so darauf, dass eine Ergänzung machtanalytischer Auslegungen von Körper mit der Differenzierung zwischen physischem Körper und Leib, als gelebtem Körper aussteht. Die Frage danach, inwiefern (die im vorangehenden Part dargelegten strukturalistischen Deutungen von Körper im Anschluss an Pierre Bourdieu sowie) poststrukturalistische Auslegungen, anschließend an die Arbeiten von Foucault und Butler mit der Einführung des Leibbegriffes vereinbar sind, wird im abschließenden Part des ersten Kapitels aufgegriffen und bearbeitet. An die Frage nach der gesellschaftlichen Prägung des Körpers – was man unter dem Begirff der Vergesellschaftung versammeln kann – setzt Bourdieu das Habituskonzept. Foucault hingegen erkennt machtvolle Normen und deren Wirkmächtigkeit auf Körper als spezifische Form der Vergesellschaftung. Butler verweist in diesem Zusammenhang auf (regulierende) Schemata der Intelligibilität (vgl. Schmincke 2009).

Die ,Macht der Geschlechternormen‘

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Gedanken zu: Die Macht von Diskursen besteht nicht nur darin, bestimmte Gegenstände hervorzubringen, so etwa auch bestimmte Vorstellungen von, bestimmtes Wissen über oder Interpretationsmuster von Körper als ,normal‘ /nichtnormal‘, ,natürlich‘/,nicht-natürlich‘ (vgl. Gugutzer 2004, S. 77), die Macht liegt auch darin, auf Körper bezogene Deutungen wahr zu sprechen, sodass keine andere Bedeutung Gültigkeit beanspruchen kann. Somit sind sie daran beteiligt, das ,Andere‘, das ,Nicht-Normale‘ auszugrenzen oder auszuschließen. Entsprechend verweist der diskursiv konstruierte ,Normal-Körper‘ implizit auf den diskursiv konstruierten ,abweichenden Körper‘ (vgl. Gugutzer 2004, S. 77). Daran lässt sich anschließen und resümieren: Mit einer an Foucault orientierten Perspektive lassen sich also die im Körper verankerten habitualisierten Wahrnehmungsschemata und Bedeutungen als gesellschaftliche Normen erkennen. Diese Wahrnehmungsschemata und Bedeutungen sind entlang der Dichotomie ,normal‘ und ,abweichend‘ organisiert. Indem sie auf Körper angewendet und in alltäglichen Praktiken – auf der Ebene der Semantiken – zum Tragen kommen, werden diese gesellschaftlichen Normen nicht nur stabilisiert, sondern es werden auch Verhältnisse von ,normal‘ und ,davonabweichend‘ hergestellt. Die Arbeiten von Michel Foucault öffnen den Blick auf die Verschränkung von Macht und Wissen und auf die Norm, die als deren zentrales Instrument gilt. Die Norm bringt in einer solchen Sichtweise spezifische (normalisierte) Körper hervor. Dass in seinen Machtkonzeptionalisierungen dennoch einige Homogenisierungen stattfinden, darauf verweist Imke Schmincke (2009). So merkt sie kritisch an, dass nahezu alle Körper gleichermaßen der Disziplin, der Norm und der Bio-Macht unterworfen würden. Die Tatsache, dass differente Körper in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichen Kontexten ,normal‘ oder ,nichtnormal‘ sind, bleibt somit unberücksichtigt (vgl. Schmicke 2009, S. 127). Dass Normen auch Rahmen abstecken, was als (intelligible Körper) anerkennbar und einschließbar gilt und welche hingegen nicht-anerkennbar oder welche Körper als anläßlich für Ausschließungen gelten, darauf wird der Blick im Folgenden gelegt. Es wird auch die Frage nach der Materialisierung von Normen, einschließlich ihrer Klassifikationen, an und in Körpern aufgegriffen. 1.4

Die ,Macht der Geschlechternormen‘

Die Ausführungen des vorausgegangenen Parts zu ,disziplinierten‘ und ,normierten‘ Körpern im Anschluss an die genealogischen Arbeiten von Michel Foucault lassen erkennbar werden, dass Körper im Kontext von Sexualität, Macht und (Bio-) Macht zum Thema werden. Indem sich das Wissen um den Körper mit der Macht über den Körper verbindet, werden Körper (als Produkt von Gesellschaft) durch Macht-Wissens-Komplexe konstruiert.116 116

Die Ausführungen des vorausgegangenen Parts zeigten, dass eine diskurstheoretische Perspektivierung die Produktion sozialer Wirklichkeit in und durch Diskurse und somit die symbolische Herstellung

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Körper theoretisch

Körpertheoretische Perspektiven im Anschluss an Judith Butler Die Frage nach Geschlecht beziehungsweise nach Geschlechterkörpern bleibt in dieser diskurstheoretischen Analytik weitestgehend unbearbeitet. Für eine poststrukturalistische Annäherung an die Gegenstände Körper und Geschlecht gelten die Arbeiten der US-amerikanischen Rechtsphilosophin Judith Butler als paradigmatisch (vgl. Jäger 2004, S. 64).117 In gebotener Kürze werden im folgenden Einblicke in das Körperverständnis, das sich in den Werken und dem Denken Judith Butlers manifestert, gegeben. Butlers Ausführungen zu Körper und Geschlecht werden im Kontext körpertheoretischer Systematisierungen verortet. Die Ausführungen konzentrieren sich insbesondere auf das 1993 erschienene Werk ,Körper von Gewicht‘. Darin verknüpft Butler die Performativität der Geschlechtsidentität mit dem Begriff der Materialisierung und legt so eine spezifische Perspektive auf die diskursive Hervorbringung von (Geschlechter-) Körpern frei. Wie Butler das Verständnis von ,intelligiblen‘ Körpern, von Performativiät und Materialisierung fasst, wird erörtert. Ihre späteren Bemühungen in den politischen Essays über das ,gefährdete Leben‘ oder ,Raster des Krieges‘ bieten indes theoretische Öffnungen für Normen der Anerkennbarkeit, die die Wahrnehmbarkeit und Anerkennbarkeit von Körpern in spezifischer Weise präformieren. Insbesondere Zuschreibungen materialisieren sich an Körpern. Dabei sind sie an Wahrnehmungsweisen von Norm und Differenz orientiert. Butler zeigt, dass die Materialität von Körpern nicht unabhängig von spezifischen Normen denkbar ist. Die

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von Gegenständen analysiert (vgl. Villa 2011, S. 148). Sie fokussiert die performative Logik von Sprache, also die Produktion sozialer Realitäten in und durch Diskurse (Villa 2011, S. 148). Diskursive Praxis meint dabei die symbolische Herstellung von Gegenständen und Realität, so Bublitz (1999, S. 9). In diskurstheoretischer Sicht auf Geschlecht beziehungsweise auf den Geschlechterkörper wird die performative Logik von Sprache und somit die Produktion sozialer Realitäten in und durch Diskurse betrachtet. In Bezugnahme auf Geschlecht rückt indes die Frage nach der symbolischen Konstruiertheit vergeschlechtlichter Identitäten in den Vordergrund. Judith Butlers Geschlechterstudien machen verstehbar, dass und in welcher Weise der dominante Diskurs über den Geschlechterkörper die Norm der Zweigeschlechtlichkeit transportiert. Vermittelt über die Norm der Heterosexualität gehen nicht selten soziale Diskriminierungen und Ausgrenzungen der Menschen einher, die dieser Norm nicht entsprechen (vgl. Gugutzer 2006, S. 15). Die poststrukturalistische Perspektive wird im zweiten Kapitel erneut aufgegriffen, wenn sich so dem Themenkomplex sozialer Ungleichheit auf unterschiedlichen Ebenen angenähert wird. Mit Foucault teilt Butler eine poststrukturalistische Sicht auf den Diskurs und betrachtet diesen als Ort der Konstruktion von Wirklichkeit. (vgl. Villa 2003, S. 20). Zugleich legt sie Macht ebenso wie Foucault als produktiv wie auch als repressiv aus. Die Produktivität der Macht von Diskursen liegt darin begründet, dass sie systematisch jene Gegenstände hervorbringt, von denen sie sprechen. Sie haben somit die Fähigkeit, die soziale Welt zu ordnen. Diskurse bezeichnen nicht lediglich (gesprochene) Sprache, denn sie sind Systeme des Denkens und Sprechens, die die Wahrnehmung konstituieren, indem sie die Art und Weise der Wahrnehmung präformieren (vgl. Villa 2003, S. 20). In den Arbeiten von Bourdieu ergeben sich die Wahrnehmungsweisen hingegen aus der Inkorporation sozialer Strukturen. Damit konturieren sie überdies das Feld des Denk-, Sag- und Lebbaren, ebenso, wie sie Bereiche des nicht Denk- und Lebbaren abstecken (vgl. Villa 2003, S. 23). Anders jedoch als Foucault, der die Wahrheitsregimes – insbesondere der Medizin und Psychiatrie – kritisch hinterfragt, bezieht Butler ihre Genealogie auf Geschlecht, beziehungsweise auf das Regime der Heterosexualität.

Die ,Macht der Geschlechternormen‘

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soziale Welt scheint somit von sprachlich-diskursiven Kategorien geordnet, die mitsamt Kategorien darstellen, die die Sicht auf die Welt formieren und kodieren. Dass diese Kategorien Körper hervorbringen und überdies mitbestimmen, welche Körper als eingeschlossen und welche als ausgeschlossen gelten, zeigt sich in den Ausführungen von Judith Butler, deren Arbeiten und Auffassungen vorab mit einigen Anmerkungen kontextualisiert werden. Einige Vorbemerkungen zu den Arbeiten und dem Denken von Judith Butle r Dass insbesondere Geschlecht eine der wirkmächtigsten sozialen Ordnungskategorien darstellt, wurde in Diskursen der Frauen- und Geschlechterforschung mit je unterschiedlichen Fokussierungen problematisiert und diskutiert. Mitsamt wurde die fundamentale Naturalisierung und Ontologisierung, die insbesondere die zweigeschlechtliche Ordnung erfährt, kritisch hinterfragt. 118 Die Arbeiten von Judith Butler bieten eine poststrukturalistische Perspektive auf Körper und auf die Macht von Geschlechternormen. So legt Butler ihren Ausführungen folgende Annahme zugrunde: „[D]as biologische Geschlecht ist ein ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird. Es ist nicht eine schlichte Tatsache oder ein statischer Zustand eines Körpers, sondern ein Prozeß, bei dem regulierende Normen das ,biologische Geschlecht‘ materialisieren und diese Materialisierung durch eine erzwungene ständige Wiederholung jener Normen erzielen“ (Butler 1997, S. 21). Damit bietet sie theoretische Öffnungen der Thematisierung des Geschlechterkörpers. Das, was als natürlich und biologisch gegeben gedeutet wird, rückt nämlich in einer solchen Lesart als Ergebnis eines Naturalisierunsgprozesses in den Blick, in dem Körper und Diskurs eine unlösbare Verbindung eingehen (vgl. Jäger 2004, S. 66). Butlers an Foucault angelehnten geneaologischen Untersuchungen der Formierungen der Geschlechtsidentität und des Subjekts richten sich mitsamt darauf, die normativen 118

So richtet sich die Kritik der konstruktivistischen Frauen- und Geschlechterforschung im deutschsprachigen Raum gegen Annahmen, dass die Geschlechterdifferenz als naturgegebenes, präkulturelles Faktum zu deuten sei, sondern weisen diese als soziale Konstruktion im Kontext der symbolischen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit aus (vgl. Hagemann-White 1988; Gildemeister 1992; BeckerSchmidt 1993). So pointiert Regine Gildemeister (1992), dass Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit Ergebnisse sozialer, kultureller Prozesse auf der Grundlage symbolvermittelter sozialer Interaktion und kultureller und institutioneller Sedimentierung sind (vgl. ebd. S. 59-60). Im anglo-amerikanischen Raum findet sich insbesondere in Debatten der geschlechtskonstruktivistischen Ethnomethodologie das Konzept des ,doing gender‘, in welchem Geschlecht als interaktive Konstruktionsleistung markiert wurde (vgl. dazu Garfinkel 1984; Zimmerman und West 1987; Kessler und McKenna 1989). Diesen Debatten lässt sich entnehmen, dass insbesondere die Differenz der Körper als Bezugspunkt der Essentialisierung und Ontologisierung von (sozial produzierter) Zweigeschlechtlichkeit war, wodurch die soziale Konstruiertheit dieser wiederum naturalisiert und legitimiert wurde. Rückt in erst genannter Lesart insbesondere das Geschlechterverhältnis und die Geschlechterdifferenz in den Blick, so liegt der Fokus Letzterer eher auf den Alltagspraktiken von sozialen Akteur*innen. Die Wirkmächtigkeit von Sprache wird eher marginal verhandelt (dazu auch Kapitel 1 und Kapitel 2).

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Körper theoretisch

Bedingungen – insbesondere durch differentelle Kriterien des Geschlechts – zu klären, unter denen die Materialität des Körpers gestaltet und gebildet wird (vgl. Butler 1997, S. 42). Butler distanziert sich in ihrer Körpertheorie von der Vorstellung eines (vorsozialen und gegebenen) körperlichen und biologischen Geschlechts, ebenso von der Annahme, dass aus dem als ,männlich‘ oder ,weiblich‘ bezeichneten biologischen Körper natürlicherweise ein gegengeschlechtliches sexuelles Begehren resultiert (vgl. Gugutzer 2004, S. 126). Den epistemologischen Ausgangspunkt ihrer Arbeiten bildet sodann die Annahme, dass Körper eben keine wesenhafte Bestimmung jenseits der Akte haben, die sie zu Geschlechterkörpern machen (vgl. Villa 2011, S. 185). Daran anschließend rücken Normen, Konstruktionen und Machtverhältnisse in den Fokus, die Körper prägen und bestimmte körperliche Seinsweisen formieren; anders formuliert, sich an und über Körper materialisieren. Die Norm, auf die Butler sich zunächst bezieht, ist die kulturell akzeptierte Vorstellung und die darin enthaltene Norm der Zweigeschlechtlichkeit (vgl. Gugutzer 2004, S. 128). Diese entwirft sie zum einen als heterosexuelles Regime oder heterosexuelle Matrix. Zum anderen wird sie als sozial produzierte Norm perspektiviert und als Normalität anhand sozialer Strategien durchgesetzt. Butler zeichnet dafür den Begriff der Heteronormativät (vgl. Villa 2011, S. 175). Die kritische Genealogie der Geschlechterdifferenz richtet sich somit auf die Ontologisierungen, Naturalisierungen und Essenzialisierungen des Geschlechterkörpers und der Geschlechterdifferenz. In der erst genannten erkennt sie einen wesentlichen Mechanismus der Herstellung von Geschlecht (vgl. Gugutzer 2004, S. 126). Somit finden in den Arbeiten von Butler auch historische Machtkontexte Berücksichtigung, innerhalb derer Körper als Natur bezeichnet werden. Diese so gefasste Körpernatur erachtet Butler eben nicht als naturgegeben, sondern als Resultat wissenschaftlicher und politischer Diskurse, von Normen und Machtverhältnissen (vgl. Gugutzer 2004, S. 126).119 Bei Butler rückt jedoch dezidiert die zweigeschlechtliche Ordnung in Form von bestimmten Wissensdiskursen (vgl. Jäger 2004, S.65- 66), insbesondere der heterosexuellen Matrix, in den Fokus. Somit ist es die Macht der kulturellen Norm der Heterosexualität, die die Materialisierung des Geschlechterkörpers beherrscht. Die leitende Frage, die sich durch die Körper- und Geschlechtertheorie Butlers zieht, ist folglich, wie (Geschlechter-) Körper hergestellt werden. Konstruktionen kennzeichtet Butler 119

Die Nähe zu den Arbeiten von Foucault zeigt sich in Butlers Konzept des Geschlechterkörpers, indem sie diesen als ,diskursiven Körper‘ – also als durch Sprache konstruierten Körper – entwirft. Zwar verfährt sie in Anlehnung an Foucault genealogisch, jedoch geht sie davon aus, dass es keine vordiskursive Materialität gibt, sondern der biologische Körper beziehungsweise das biologische Geschlecht Wirkung und eben nicht Grundlage kultureller, insbesondere des Diskurses der Zweigeschlechtlichkeit, ist (vgl. Gugutzer 2004, S. 128). Ähnlich wie bei Foucault lassen sich Körper in ihrer Materialität somit als Effekt des Diskurses deuten.

Die ,Macht der Geschlechternormen‘

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als einen zeitlichen Prozess, der mit der laufenden Wiederholung von Normen operiert, in deren Verlauf Geschlecht hervorgebracht und gleichsam destabilisiert wird. Butlers Körper- und Geschlechtertheorie steht eng in Zusammenhang mit ihrem dezidiert theoretischen und politischen Anliegen, die Hegemonie der Heterosexualität in der bestehenden Geschlechterordnung deutlich zu machen (vgl. Jäger 2004, S. 65), nicht zuletzt, um den Körper für andere Wahrnehmungen und Verwendungen zu öffnen (vgl. Villa 2011, S. 184) und ihn so zu einem gelebten Ort sich kulturell erweiternder Möglichkeiten zu markieren (vgl. Butler 1997). Insbesondere gilt dieses für diejenigen körperlichen Seinsweisen als nicht intelligible Körper, die Zonen der gefürchteten Identitäten bewohnen. Es folgt nun eine werkgeschichtliche Systematisierung der Arbeiten der Sprachphilosophin Judith Butler. 1.4.1

Der Geschlechterkörper

Mitsamt ist den Arbeiten Butlers die etwas heikle und durchaus erklärungsbedürftige These unterlegen, dass die Materialität des biologischen Geschlechts durch eine ritualisierte Wiederholung von Normen konstruiert ist und dies eine gewaltsame Eingrenzung kultureller Intelligibilität darstellt. Sie spitzt zu: „Die Kategorie des ,sex‘ ist von Anfang an normativ; sie ist, was Foucault ein ,regulierendes Ideal‘ genannt hat. In diesem Sinne fungiert das ,biologische Geschlecht‘ demnach nicht nur als eine Norm, sondern ist Teil einer regulierenden Praxis, die die Körper herstellt, die sie beherrscht, das heißt, deren regulierende Kraft sich als eine Art produktive Macht erweist, als Macht die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren – sie abzugrenzen, zirkulieren zu lassen und zu differenzieren“ (Butler 1997, S. 21). Möchte man die Arbeiten Butler werkgeschichtlich systematisieren, richten sich ihre genealogischen Bemühungen in ,Das Unbehaben der Geschlechter‘ zunächst auf die Produktion sozialer Intelligibilität.120 Als intelligibel bezeichnet sie jene geschlechtlichen Identitäten, „die in bestimmtem Sinne Beziehungen der Kohärenz und Kontinuität zwischen dem anatomischen Geschlecht (sex), der Geschlechtsidentität (gender), der sexuellen Praxis und dem Begehren stiften und aufrecht erhalten“ (Butler 1991, S. 38). Damit verbunden ist die Frage danach, wie sich intelligible Geschlechtsidentitäten durch die diskursive Matrix der Heterosexualität konstituieren. Als Norm und Zwang wirkt diese mächtige diskursive zweigeschlechtliche Matrix dahingehend, dass die Geschlechterdifferenz immer wieder als binäre, identitätsstiftende sowie als 120

In ,Das Unbehagen der Geschlechter‘ unterzieht Butler (1991) ontologisch gefasste Identitätskategorien, wie ,Mann‘, ,Frau‘ oder ,Geschlecht‘ einer kritischen Analyse. Die Existenz und Notwendigkeit festgelegter und unveränderbarer Geschlechtsidentitäten stellt sie in Frage. Ihre theoretischen Bemühungen richten sich darauf, wie diese Kategorien sozial produziert werden und als natürlich gegebene Wahrheiten scheinen. Daran anknüpfend problematisiert sie Identitätspolitiken, etwa in Bezug auf schwul-lesbische Identitäten wie auch auf die Kategorie Frau. Indem sie die Untersuchungen sexueller Identitäten sowie deren Herstellung auf den Bereich des Körperlichen und der Materialität ausweitet, leistet sie eine Politisierung des Natürlichen, so Jäger (2004, S. 65).

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Körper theoretisch

natürlich legitimierte Dualität wahrgenommen, gelebt und fortgeschrieben wird (vgl. Villa 2011, S. 172). Dem biologischen Körper kommt bei der Aufrechterhaltung der heterosexuellen Matrix eine konstitutive Bedeutung zu. Er ist normativ, da die Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit und die Norm der Heterosexualität die Möglichkeiten dessen bestimmen, was als Körper und Geschlecht anerkannt und somit intelligibel ist (vgl. Jäger 2004, S. 67). Die Geschlechterdifferenz scheint einem so gefassten Verständnis zufolge als normative Struktur, beziehungsweise als normativer Diskurs der Geschlechterdifferenz. Diese bringen das körperliche Geschlecht hervor, da sie ihrerseits die Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz und des Körpers als Geschlechterkörper ermöglichen und gleichsam beschränken (vgl. Villa 2011, S. 153). In ,Körper von Gewicht‘ konzentriert Butler (1997) sich indes auf die Konstruktion des Geschlechts durch die ritualisierte Wiederholung von Normen der Heterosexualität. Darin verbindet sie die Frage nach der Materialität des Körpers mit der Performativität der sozialen Geschlechtsidentität (vgl. Butler 1997, S. 21). Für ein performatives Verständnis von Körper ist der Versuch zentral, Materialisierungsprozesse als Ergebnis performativer Akte zu verstehen (vgl. Schmincke 2009, S. 99). Diese Prozesse sieht Butler als durch Machtbeziehungen und normative Zwänge konstituiert, sie bringen unterschiedliche körperliche Wesen hervor und regulieren diese zugleich. Das biologische Geschlecht deutet die Rechtsphilosophin als eine kulturelle Norm, die die Materialisierung der Körper regiert (vgl. Gugutzer 2004, S. 126). Sie weist ferner darauf hin, dass die Naturalisierung und Materialisierung von Geschlecht ein Effekt der Macht (des Diskurses) sind, welche durch die Heterosexualität als regulieredes Ideal formiert wird. Das Körperliche präsentiert sich in einer solchen Perspektive als Ort von Macht.121 Mitsamt hebt sie die Bedeutung von regulierenden und begrenzenden Normen für die Konstruktion von Geschlecht sowie überdies die Konstituierung von Subjektivität hervor. 122 In Anlehnung an sprachphilosophische, philosophische und psychoanalytische Sichtweisen lässt sich eine Perspektive auf das Subjekt einnehmen, das sich in der Unterwerfung bildet und formt. Welches spezifische Verständnis von Materialisierung und Performativität den Arbeiten von Judith Butler zugrunde liegt und wie sich darin das Subjekt konstituiert, wird im folgenden Part systematisiert. Der Fokus liegt dabei auf dem Prozess der Materialisierung sowie den Wirkungsweisen von Normen, die den Rahmen abstecken, welche Körper als legitim und welche als illegitim markiert werden. 121

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In ,Psyche der Macht‘ (vgl. Butler 2013) präsentiert Butler eine luzide Darstellung über das Entstehen von Bewusstsein und Subjektivität in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Somit fundiert sie die Theorie der Macht und des Subjekts. Damit verfolgte Butler ein doppeltes Anliegen: Zum einen verfasst sie eine Theorie des Körpers als Theorie der Materialisierung mit der Performativität der Geschlechtsidentität. Unter Rekurs auf sprachphilosophische und psychoanalytische Theorietraditionen fragt sie danach, wie Subjekte konstituiert werden. Zum anderen denkt sie die Konstitution von Subjekten als nicht unabhängig von Macht und Zwang (vgl. Butler 1997).

Die ,Macht der Geschlechternormen‘ 1.4.2

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Eine ,performative Theorie des Sozialen‘

Die Frage nach der Materialität des Geschlechterkörpers verknüpft Butler mit einem sprachphilosphischen Konzept der Performativität und verbindet dies mit der sozialen Geschlechtsidentität (vgl. Butler 1997, S. 21).123 Performativität bezeichnet „die ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkung erzeugt, die er benennt“ (Butler 1997, S. 22) und sie zugleich reguliert und restringiert.124 Performative Äußerungen – die ebenso als performative Handlungen auslegbar sind – sind solche, die das, was sie benennen, hervorrufen oder in Szene setzen. So unterstreichen diese die konstitutive und produktive Macht der Rede (vgl. Butler 1991, S. 123). Butler markiert somit die Wirkmächtigkeit des Diskurses, jene Phänomene selbst zu formieren und hervorzubringen, die er benennt. Die Macht, die den Diskursen inhärent ist, ist gemeinhin von einer Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Produktion und Repression durchdrungen. Sie ermöglichen nicht nur Sinn, sondern – indem sie die Gegenstände hervorbringen, die sie benennen – verunmöglichen sie zugleich andere Möglichkeiten. Sie ermöglichen das ,eine‘ und schließen das ,andere‘ aus. „Das sozial konstruierte ,Andere‘ steckt das ,Eigene‘ ab oder anders formuliert, das ,Anormale‘ definiert das ,Normale‘ (vgl. Villa 2011, S. 169). Insofern Diskurse sich durch Ausschluss und Verwerflichmachung konstituieren, markiert diese Abgrenzung eine Grenze; eine Grenze, die einschließt und ausschließt und darüber entscheidet, was zum Gegenstand, von dem wir sprechen, gehört und was nicht. Ein performativer Akt ist indes nicht als ein vereinzelter oder gar absichtsvoller Akt zu verstehen, sondern funktioniert im Wesentlichen dadurch, dass kulturelle Normen wiederholt aufgerufen und zitiert werden (vgl. Schmincke 2009, S. 99). Daran lässt 123

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In den 1990er Jahren wurde der Begriff des Performativen von Judith Butler in Zusammenhang mit der Frage nach Körperlichkeit gebracht und somit erweitert. Die Verzahnung zwischen sprachlichen sozialen Handlungen und jenen körperlicher Art machte Butler zum zentralen Gegenstand ihrer Kontroversen. In diesen übte sie Kritik an der Naturalisierung und Ontologisierung von Kategorien, wie etwa der des Geschlechterkörpers. Ausgehend davon, dass performative Praktiken das hervorbringen, was sie benennen, diskutiert Butler die Macht und Performativität von Sprache bei der (diskursiven) Konstruktion der zweigeschlechtlichen Ordnung, welche in ihrer Binarität verschleiert ist. Butler betrachtet somit sämtliche Identitätskategorien als ontologische Identität (-skategorien). In einer solchen Perspektive sind diese als Begriffe zu verstehen, die individuelle oder kollektive Identitäten benennen. Diese Kategorien perspektiviert Butler nicht als vorgängig, also ontologisch oder biologisch gegeben, sondern als Ergebnis spezifischer kultureller Konstruktionsleistungen. In der von ihr hervorgebrachten kritischen Genealogie fragt sie nach den diskursiven Prozessen der Naturalisierung der sozial konstruierten Geschlechterdifferenz. Sie fokussiert, wie gender (Geschlechtsidentität) und Identitäten konstruiert werden. Den Prozess der performativen Erzeugung von Identität begreift Butler als einen Prozess von Verkörperung. Somit ist Identität nicht als bloß deterministisch zu begreifen, denn Butlers Verständnis von Performativität folgend liegt darin die Fähigkeit, jene Dichotomien, entlang derer Identitäten konstituiert werden, zum Einsturz zu bringen. Dass performative Äußerungen – die sie als performative Handlungen ausweist – diskursive Praktiken sind, die das vollziehen und produzieren, was sie benennen, lässt sich also mit den Arbeiten von Butler plausibilisieren. Als performative Handlungen sind sie wirklichkeitskonstituierend und selbstreferentiell (vgl. Butler 1997, S. 36).

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Körper theoretisch

sich anschließen: Performativität ist „immer wieder die Wiederholung einer oder mehrer Normen; und in dem Ausmaß, in dem sie in der Gegenwart einen handlungsähnlichen Status erlangt, verschleiert oder verbirgt sie die Konventionen, deren Wiederholung sie ist“ (Butler 1997, S. 36). Die Norm, auf die Butler sich bezieht, ist die kulturell akzeptierte Norm von Geschlechtlichkeit, die heterosexuelle Matrix. Diese setzt sich in dem Maße durch, in dem sie als Norm zitiert wird. Ihre Macht bezieht sie aus den Zitierungen, die sie wiederum erzwingt (vgl. Butler 1997, S. 37). Sprechen kennzeichnet das Zitieren sprachlicher Kategorien und bestehender Bedeutungen, die in einer sozialen Welt vorfindbar sind (vgl. Villa 2003, S, 33-34). Das ständige Wiederholen – die Zitatförmigkeit der Norm – bewirkt ihre Persistenz. Die Logik performativer Sprechakte besteht mitsamt darin, dass das in der Zeit wirksame Zitieren bereits bestehender Kategorien einschließlich ihrer Bedeutung erfolgreich ist (vgl. Villa 2011, S. 185). Dass Performativität ebenso erst dem Subjekt – als sprechendem Ich – seine Existenz verschafft, darauf finden sich Hinweise in ,Körper von Gewicht‘. Das Subjekt bildet sich in der körperlichen Aneignung und der Wiederholung von Geschlechternormen.125 Als Prozesse der Annahme eines Geschlechts bezeichnet Butler Identifizierung mit bestehenden diskursiven Mitteln. In einer so gefassten Perspektive bedeutet dies, dass die heterosexuelle Matrix verfügbare sprachliche Kategorien bietet und konstituiert. Die Anwendung dieser bedeutet gemeinhin eine Unterwerfung unter bestimmte (geschlechtliche) Normen. Überdies sind es Prozesse des ständigen Wiederholens von Normen, durch die Subjekte sowie Handlungen überhaupt erst in Erscheinung treten (vgl. Butler 1997, S. 32). Das heißt, geschlechtliche Normen bringen zum einen Subjekte hervor, zum anderen unterwerfen sie diese. Dabei operiert die heterosexuelle Matrix mit den Mitteln des Ausschlusses: Sie ermöglicht spezifische Subjektpositionen, genauso wie sie andere verunmöglicht, verwirft, verleugnet (vgl. Butler 1997, S. 23). Sie bringt folglich (intelligible) Subjekte hervor, wobei sie einen

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Butlers Arbeiten lassen sich ebenso subjekttheoretisch lesen: Das Subjekt wird als sprachliche Gelegenheit oder als ,bewohnbare Zonen der Sprache‘ konzeptionalisiert (vgl. Villa 2011, S. 161). Somit wird sich von der Vorstellung eines Subjekts zugunsten der Perspektivierung der Bedingungen seines Entstehens und des Wirkens distanziert (vgl. Butler 1997, S. 29). Das Subjekt geht seiner geschlechtlichen Identifizierung sowie deren Verkörperung nicht voraus. Es entsteht in Prozessen der Annahme eines Geschlechts. „Dem sozialen Geschlecht unterworfen, durch das soziale Geschlecht aber auch zum Subjekt gemacht, geht das ,Ich‘ diesem Prozess der Entstehung von Geschlechtsidentität weder voraus, noch folgt es ihm nach, sondern entsteht nur innerhalb der Matrix geschlechtsspezifischer Beziehungen und als diese Matrix selbst“ (Butler 1993, S. 29). Die Formierung des Subjekts verlangt nach einer Identifizierung mit dem normativen Phantasma des Geschlechts (sex) und bildet sich folglich dadurch, dass ein Prozess der Annahme des Geschlechts durchlaufen ist (vgl. Butler 1997, S. 23).

Die ,Macht der Geschlechternormen‘

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Bereich verworfener Wesen produziert, die noch nicht Subjekt sind, sondern das konstitutive Außen zum Bereich des Subjekts markieren (vgl. Butler 1997, S. 23).126 Sie ermöglicht etwas, indem sie etwas anderes verunmöglicht und ausschließt. Die heterosexuelle Hegemonie arbeitet mit Verwerfungen, einer Produktion des ,Außen‘, einem Bereich, der einschließt, was nicht lebbar und intelligibel ist und der den Bereich intelligibler Wirkungen begrenzt (vgl. Butler 1997, S. 49).127 Dieses Verständnis von Performativität verbindet Butler mit einem spezifischen Begriff von Materie. Somit fußen ihre Arbeiten auf einer prinzipiellen Infragestellung eines gängigen Konzeptes von Materie (vgl. Jäger 2004, S. 65). Materie wird als zeitlicher Prozess sowie als ständige Wiederholung von Normen ausgelegt. Dass und unter welcher Fokussierung damit die Frage nach der Materialität des Körpers in den Blick rückt, wird im Folgenden herausgearbeitet. Anschließend an Butlers Lesart ist der geschlechtlich bestimmte Körper performativ. Das weist darauf hin, dass auch Körper keinen ontologischen Status über die verschiedenen Akte, die seine Realität bilden, hinaus besitzen (vgl. Butler 1991). Materialisierung Dass Materie als etwas zu denken ist, das zu Materie geworden ist, markiert Butler anknüpfend an Foucaults Überlegungen zum produktiven und materialisierenden Effekt regulierender Macht (vgl. Butler 1997, S. 32).128 Die Materie des Körpers betrachtet sie nicht in einem ontologischen Sinn als natürlich, vorgängig und folglich auch nicht als Grundlage eines kulturellen Zeichensystems, sondern innerhalb dessen wird 126

127 128

Die Konstruktion des Subjekts arbeitet mit Arten der Verwerflichmachung (abjection), des Ausschlusses und der Auslöschung. Normen markieren Zonen der Intelligibilität, eine Matrix mit Ausschlusscharakter, die bestimmte Subjekte und gleichsam einen Bereich verworfener Subjekte hervorbringt, die noch nicht Subjekte sind, sondern dessen konstituives Außen abgeben (vgl. Butler 1997, S. 23). Diese Hervorbringung eines ,Außen‘ wird im zur Dichotomisierung neigenden Denken von Bourdieu nicht berücksichtigt (vgl. Schmincke 2009). Materialisierung bezeichnet den Prozess, bei dem beispielweise aus Diskursen zu Geschlechtsidentitäten (gender) vergeschlechtlichte Körper (sex) werden (vgl. Bublitz 2002, S. 77). Das biologische Geschlecht wird als ein ideales Konstrukt ausgelegt, das zwangsweise und prozesshaft materialisiert wird. In diesem Prozess materialisieren regulierende Normen das biologische Geschlecht. Die Materialisierungen erzeugen sie durch eine erzwungene ständige Wiederholung der Normen (vgl. Butler 1997, S. 21). In diesen Prozessen werden (Geschlechter-) Körper in ihrer Materialität erzeugt. Die Materialität des Körpers ist folglich nicht unabhängig von jenen regulierenden Normen denkbar; diese manifestieren sich auch in sozialen Körperordnungen, die Personen verkörpern, aushandeln, denen sie sich unterwerfen oder die sie bespielen. Die Macht von Performativität liegt nicht nur darin, dass sie das hervorbringt, was sie benennt oder verkörpert, sondern darüber hinaus, dass sie eine praktische Wahrnehmung dessen herstellt, was der (Geschlechter-) Körper ist und ebenso wie dieser einen Ort in herrschenden kulturellen Koordinaten einnimmt (vgl. Butler 2006, S. 249). In der kritischen Genealogie dekuvriert Butler regulierende Normen dahingehend, dass durch diese Personen überhaupt lebensfähig werden. Dies liegt darin begründet, dass sie Territorien des Intelligiblen markieren und ebenso das, was einen Körper für einen Bereich kultureller Intelligibilität qualifiziert (vgl. Butler 1997, S. 22).

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Körper theoretisch

Materie mit bestimmten Bedeutungen überzogen. Materie denkt sie ferner als „Prozess der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den wir Materie nennen“ (Butler 1997, S. 32). Anschließend an Foucault weist Butler die Kategorie des sex als normativ aus, als produktive Norm und somit als regulierendes Ideal, das Körper produziert und kontrolliert. Das biologische Geschlecht fungiert mithin nicht nur als eine Norm, „sondern ist Teil einer regulierenden Praxis, die Körper herstellt, die sie beherrscht, […], deren regulative Kraft sich als eine Art produktive Macht erweist, als Macht, die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren – sie abzugrenzen, zirkulieren zu lassen und zu differenzieren“ (Butler 1997, S. 21). Die regulierenden Schemata sind indes keine zeitlosen Strukturen, sondern historisch revidierbare Kriterien der Intelligibilität. Es sind Kriterien, die Körper produzieren und unterwerfen, die von Gewicht sind (vgl. Butler 1997, S. 37). Somit erscheint die Materie des vermeintlich natürlichen (Geschlechter-) Körpers als Effekt der Macht der Norm der Heterosexualität, welche sie als produktivste Wirkung von Macht überhaupt auslegt (vgl. Butler 1993, S. 22). Die Materialität von Körpern – so lässt sich bündeln – deutet Butler als Wirkung einer Machtdynamik, die nicht von regulierenden Normen zu trennen ist und die ihre Materialisierung beherrscht. Mitsamt konstituieren regulierende Normen des vermeintlich natürlichen Geschlechts in performativer Wirkungsweise die Materialität des Körpers und überdies das biologische Geschlecht des Körpers. Die (so hervorgebrachte) sexuelle Differenz materialisiert die sexuelle Differenz im Dienste der Konsolidierung des heterosexuellen Imperativs (vgl. Butler 1997, S. 22). Einem so gefassten Verständnis lässt sich entnehmen, dass das biologische Geschlecht als regulierendes Ideal zu deuten ist, dessen Materialisierung erzwungen ist und zu dessen Materialisierung es infolge bestimmter, geschlechtlich differenzierter und regulierter Praktiken kommt (vgl. Butler 1997, S. 21). Butler pointiert: „Das biologische Geschlecht ist ein ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird. Es ist ferner ein Prozess, in dem regulierende Normen (der Heterosexualität) das vermeintlich biologische Geschlecht materialisieren und diese Materialisierung durch eine erzwungene und ständige Widerholung der Norm der Heterosexualität erzielt wird“ (vgl. Butler 1997, S. 21).129 Insbesondere Zitierungen sowie die Wiederholungen werden im Zusammenhang mit Geschlechterkonstruktionsprozessen und performativen Äußerungen wirksam. Die Macht der Performativität sprachlicher Äußerungen, die den Geschlechterkörper hervorbringt, besteht in einer ständig wiederholenden und zitierenden Praxis, durch die der Diskurs die Wirkung erzeugt, die er benennt, reguliert und restringiert (vgl. Butler 1997, S. 129

Der Aspekt der Wiederholbarkeit ist bei Butler bedeutsam. In Anlehnung an Jaques Derrida geht sie von der Wiederholbarkeit performativer Akte aus, durch die Abweichungen und Transformationen initiiert werden. Die Wiederholung einer Handlung ist dabei als ‚reenactment‘ sowie ‚re-experiencing‘ eines Repertoires von Bedeutungen zu begreifen, die bereits gesellschaftlich eingeführt sind (vgl. Fischer-Lichte 2012).

Die ,Macht der Geschlechternormen‘

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22). Performativität funktioniert dabei durch die normative und ebenso normierende Zitatförmigkeit.130 Einem so gefassten Verständnis zufolge lässt sich eine Perspektive auf den Geschlechterkörper einnehmen, in der regulierende Normen des vermeintlich biologischen Geschlechts – welches vielmehr als kulturelle Norm die Materialisierung des Körpers reguliert – in performativer Wirkungsweise die Materialität des Körpers konstituieren (vgl. Butler 1997, S. 22). Die Wiederholung – die wiederholte Darbietung der Geschlechtsidentität – ist eine Re-Inszenierung und ein Wieder-Erleben eines bereits gesellschaftlich etablierten Bedeutungskomplexes und überdies die mundane und ritualisierte Form dieser Legitimation (vgl. Butler 1991, S. 206).131 Die Materialität des Körpers ist folglich nicht unabhängig von der Materialisierung regulierender Normen zu denken (vgl. Butler 1997, S. 22). Dabei gilt (die) Materialität (des Körpers) als die produktivste Wirkung von Macht, da sie am Körper naturalisiert wird. Als einen der wirksamsten performativen Akte in Bezugnahme auf die Herstellung von Geschlecht(-sidentitäten) begreift Butler Anrufungen.132 Diese sind identitätswirksame Titel und Anreden und somit sprachliche Bezeichnungen, die Menschen zur Sprache bringen (vgl. Villa 2011, S. 161). Regulierende Schemata sind keine zeitlosen Strukturen, sondern historisch revidierbare Kriterien der Intelligibilität – Kriterien, die Körper produzieren und unterwerfen, die von Gewicht sind (vgl. Butler 1997, S. 37). Die Materialisierung von Normen reguliert überdies, was intelligible, lebbare, anerkennbare, was ,normale‘ und davon abweichende Körper sind. Erst wenn das biologische Geschlecht in seiner Normativität verstanden wird, ist es nicht als etwas zu deuten, was ein Mensch hat oder ist. Es erscheint in dieser Lesart als Norm, durch die Menschen überhaupt lebensfähig werden, es sind Normen, die Körper erst für ein Leben im Bereich kultureller Intelligibilität qualifizieren. So lässt sich bündeln, dass Geschlecht in dieser Perspektive als kulturelle Norm erscheint, die die 130 131

132

Performativität ist folglich nicht ein einmaliger Akt, sondern vielmehr die Wiederholung einer oder mehrerer Normen, die die Konventionen verbirgt oder verschleiert, deren Wiederholung sie ist. Bei Butler sind als zwei Seiten performativer Praktiken ebenso die Tendenz zur Reproduktion sowie die Möglichkeit der Veränderung zu benennen. Als zitierende Praktiken beziehen sich performative Akte stets auf Vorgängiges, ebenso auf symbolische Ordnungen – im Falle Butlers auf die zweigeschlechtliche und heterosexuelle Ordnung. Das Symbolische erzwingt dabei „ein Zitieren seines Gesetzes, das die List seiner eigenen Kraft wiederholt und festigt“ (Butler 1997, S. 39). Die Möglichkeit der Veränderung von sozial determinierten Geschlechtsidentitäten, Geschlechterkörpern oder aber von Identitätskategorien – und somit gesellschaftlichen Machtverhältnissen – sieht Butler darin, die Wiederholung zu verfehlen beziehungsweise in einer De-Formation oder aber parodistischen Wiederholung. Somit gilt Performativität weder als positiv noch als negativ einzuordnen. Sie wirkt sowohl als Einschränkung, Festschreibung und Zuschreibung als auch als Möglichkeit der Transformation (vgl. Butler 1997, S 39-40). Für die Auseinandersetzung mit den für Geschlecht relevante Formen performativer Sprechakte sind ,Anrufungen‘ konstitutiv. Diese bezeichnet Villa (2011) in Anlehnung an Butler als identitätswirksame Titel oder Anreden, das heißt solche sprachlichen Bezeichnungen, die Menschen ,zur Sprache bringen‘ (vgl. Villa 2011, S. 161). Anrufung (Interpellation), etwas das ,Zum-Mädchen-Machen‘, wird von verschiedensten Autoritäten zu verschiedenen Zeitpunkten stes wiederholt und damit wird die naturalisierte Wirkung verstärkt (oder gar angefochten) (vgl. Butler 1997, S. 29).

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Materialisierung von Körpern regiert (vgl. Butler 1997, S. 22-23). Die Materie des Körpers wird somit als die Wirkung einer Machtdynamik gefasst. Sie ist folglich zum einen nicht zu trennen von regulierenden Normen, die ihre Materialisierung beherrschen und zum anderen nicht von der Signifikation dieser materiellen Wirkungen (vgl. Butler 1997, S. 22). Dass Normen mit Ausschluss und Verwerfung operieren und somit Grenzen des Anerkennbaren, des Intelligiblen konstituieren, verweist auf die Normativität des Körpers. Und dies insofern, als dass die Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit die Möglichkeiten dessen bestimmen, was als Körper und Geschlecht anerkannt wird und was nicht.133 Wie lassen Körper sich nun vor diesem Hintergrund als intelligible Körper deuten? Welche Körper werden den Bereichen des Intelligiblen, des Anerkennungsfähigen zugeordnet und welche eben nicht – und welche weiteren Normen liegen der Anerkennbarkeit von Körpern zugrunde? Diese Fragen werden im Folgenden aufgegriffen und bearbeitet. Innerhalb ihrer Geschlechterstudien fokussiert Butler jedoch nicht lediglich auf Normen der Anerkennung, sondern auf allgemeinere, historisch artikulierte und durchgesetzte Bedingungen der Anerkennbarkeit, denn diese gehen der Anerkennung voraus (vgl. Butler 2009, S. 13). In diesem Sinne verbindet sie den Begriff der Anerkennung mit dem Begriff der Intelligibilität. „Wie Normen der Anerkennbarkeit den Weg zur Anerkennung ebnen, so bedingen und erzeugen Schemata der Intelligibilität erst diese Normen der Anerkennbarkeit“ (Butler 2009, S. 14). Anknüpfend an den von ihr entworfenen Begriff der Intelligibilität markiert sie, dass Schemata der Intelligibilität erst Normen von Anerkennbarkeit konstituieren, diese jedoch wiederum machtvolle Konfigurationen sind. ,Intelligible Körper‘ Die Macht von Geschlechternormen besteht nunmehr darin, dass sie bestimmte körperliche Seinsweisen ermöglicht, genauso wie sie andere ausschließt. Sie geben die definitorische Grenze für Bereiche des (körperlichen) Subjekts ab. Sie markieren Zonen des Intelligiblen, des sozial Anerkennungsfähigen genauso wie sie das Verworfene hervorbringen. Darunter fasst Butler jene nicht lebbaren Zonen des sozialen Lebens, die das konstitutive und verwerfliche Außen darstellen (vgl. Butler 1997, S. 23). Was indes von den Grenzen des biologischen Geschlechts (durch die Macht von Geschlechternormen) eingeschlossen wird, was intelligibel gilt, wird von einer stillschweigenden und verschleierten Ausschlussoperation gesetzt, welche dem Subjekt ein konstitutives Außen verschafft (vgl. Butler 1997, S. 35).134 Butler bezeichnet diese 133 134

Somit weist Butler die Dimensionen des Körprlichen ebenso wie Foucault als Dimension von Macht (der regulierenden Normen der Heterosexualität) aus Butler stellt die Unverrückbarkeit des biologischen Geschlechts aus der Perspektive von den Grenzen des gesellschaftlich Akzeptierten, Intelligiblen, des Anerkennbaren infrage. Somit fokussiert sie auf die diskursiven Möglichkeiten, die von dem konstitutiven Außen hegemonialer Positionen eröffnet werden. Damit blickt sie auf die aufsprengende Wiederkehr des Ausgeschlossenen, das aus der inneren

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als ,Zonen der Unbewohnbarkeit‘ oder ,Orte gefürchteter Identifizierungen‘. Das Verworfene – das sich nicht in der Zone der Intelligibilität Befindliche – bezeichnet unbewohnte und nicht lebbare Zonen des sozialen Lebens, „die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Status des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des ,Nicht-Lebbaren‘ jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen“ (Butler 1997, S. 23). Dieser zweite Bereich sucht den ersten Bereich (der Intelligibilität) als das Gespenst seiner eigenen Unmöglichkeit heim, er ist die eigentliche Grenze zur Intelligibilität und somit deren konstitutives Außen (vgl. Butler 1997, S. 16). Die Norm sortiert, sie formiert Bereiche des Ein- und Ausgeschlossenen, des ,Intelligiblen‘ und ,Nicht-Intelligiblen‘. Sie schafft Zonen der Bewohnbarkeit, genauso wie sie Zonen der Unbewohnbarkeit oder gar der gefürchteten Identitäten schafft. Der Materialität des (Geschlechter) Körpers sind somit Grenzen gesetzt, denn es sind Normen, die bestimmen, welche Körper (geschlechtlich) intelligibel sind und welche eben nicht. Diese Abgrenzungen bringen Bereiche des Ausgeschlossenen und Entlegitimierten (sex) hervor (vgl. Butler 1997, S. 40). „Darüber nachzudenken, wie und zu welchem Zweck Körper konstruiert werden, wird daher genauso wichtig sein, wie darüber nachzudenken, wie und zu welchem Zweck Körper nicht konstruiert werden, und darüber hinaus wird es wichtig sein, danach zu fragen, wie Körper, die bei der Materialisierung versagen, das notwendige ,Außen‘, wenn nicht gar die nötige Unterstützung für die Körper bereitstellen, die sich mit der Materialisierung der Norm als Norm qualifizieren, die ins Gewicht fallen“ (Butler 1997, S. 40). Dass die normative Heterosexualität nicht das einzige regulierende Regime ist, das bei der Herstellung des Körpers und körperlicher Konturen wirksam ist sowie Bereiche körperlicher Intelligibilität begrenzt, darauf verweist Butler ebenso wie auf die Notwendigkeit danach zu fragen, welche anderen Regimes regulierender Produktionen der Materialität von Körpern Kontur verleiht (vgl. Butler 1997, S. 43); nicht zuletzt um die Macht in ihrer Vielschichtigkeit und ihren wechselseitigen Artikulationen zu ergründen (vgl. Butler 1997, S. 44). ,Prekäre Körper` In ihren späteren Arbeiten richtet Butler ihr Augenmerk weiterfürhend auf die Macht von Ausschlüssen und mithin verstärkt auf die Bedeutung von Normen sowie von sozialen und politischen Verhältnissen. 135 Auf die normativen Bedingungen, auf die

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Logik des heterosexuell Symbolischen heraus erfolgt (vgl. Butler 1997, S. 35). Innerhalb dieser Aufsprengungen geht es darum, diejenigen Ausschlüsse und Auslöschungen zu hinterfragen, die die Beschränkung des (heterosexuellen) Geschlechts ausmachen (vgl. Butler 1997, S. 35). Diese späteren Schriften kennzeichnen einige theoretische Verschiebungen und Akzentuierungen. Zum einen verfasst Butler eine Ontologie des Körpers, welche gleichsam eine soziale Ontologie ist. Zum anderen rücken dabei (machtvolle) normative genauso wie soziale und politische Bedingungen in den Blick. Diesen sind Körper zum einen ausgesetzt, zum anderen sind sie auf Grundlage dieser gefährdet und verwundbar. Somit beschäftigt sie sich mit den sozialen Bedeutungen, die Körper an-

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Rahmensetzungen der Anerkennung fokussiert Judith Butler in ,frames of war‘. In diesem Werk knüpft sie an ihren Essay in ,gefährdetes Leben‘ an. Hier vertritt sie die These, dass spezifische Leben erst dann als beschädigt oder zerstört wahrgenommen werden können, wenn sie zuvor überhaupt als lebendig wahrgenommen worden sind (vgl. Butler 2009, S. 9), wenn sie demnach in bestimmte Raster (frames) als einfügbar erachtet werden.136 Sie konzentriert ihren Blick überdies auf die normativen Bedingungen (der Anerkennbarkeit), die Subjekte und Körper hervorbringen – anders formuliert: auf die normativen Bedingungen der Anerkennbarkeit von (als solchem erst wahrnehmbaren) Leben. Die Wahrnehmungen eines Lebens hängt indes davon ab, ob dieses Leben gemäß spezifischer Normen hervorgebracht wird; somit qualifizieren Normen Leben erst als Leben. Sie entscheiden darüber, welche Leben als lebbar, als wahrnehmbar und als anerkennbar gelten. Körper erscheinen auch in dieser Lesart nicht als ontologisch, sondern „Körper sein heißt vielmehr, gesellschaftlichen Gestaltungskräften und Formierungen ausgesetzt sein. […] Der Körper ist gesellschaftlich und politisch geprägten Kräften ausgesetzt, ebenso wie den Forderungen sozialen Zusammenlebens“ (Butler 2009, S. 11). Butler führt exemplarisch Sprache, Arbeit und das Begehren auf. Diese erst ermöglichen Bestand und Gedeihen (vgl. Butler 2009, S. 11). Insofern Körper sozialen und politischen Bedingungen ausgesetzt sind, erscheinen sie auch gefährdet. Dies bündelt Butler in dem Begriff der ,precariousness‘. Eine solche Konzeption von Gefährdung ist mithin von einem spezifischen und politischen Begriff der Prekarität verknüpft (vgl. Butler 2009, S. 11). Insgesamt spricht Butler sich für eine Anerkennung des Gefährdetseins aus (vgl. Butler 2009). Politisch würde dies sich etwa in Fragen wie nach der Gewährung von Zuflucht, in Fragen der Arbeitsmöglichkeiten, der Ernährung, der

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nehmen (vgl. Butler 2009, S. 11). In ,Raster des Krieges‘ fasst Butler die ontologische Frage des Verhältnisses von Materialem und Körperlichem, von Wissensformen, Deutungen und Selbstbezügen als epistemologisches Problem auf. Ebenso fasst sie das Verhältnis von ,framing‘, als der Begrenzung der Sphäre des Erscheinens als ein epistemologisches und das ,Sein‘ als ein ontologisches Problem. Darauf aufbauend entwirft sie eine neue Ontologie des Körpers. In dieser werden die sozialen und politischen Bedingungen, denen Körper ausgesetzt sind, in den Blick gerückt. Um verstärkt soziale und politische Forderungen nach Schutzrechten sowie das Recht auf Integrität und Wohlergehen für minorisierte soziale Gruppen vertreten zu können, markiert Butler die Notwendigkeit einer solchen neuen Ontologie des Körpers, „eine Ontologie, die mit einem neuen Verständnis von Gefährdung, Schutzlosigkeit, Verletzlichkeit, wechselseitiger Abhängigkeit, Exponiertsein, körperlicher Integrität, Begehren, Arbeit, Sprache und sozialer Zugehörigkeit einhergeht“ (Butler 2009, S. 10). Das Sein des Körpers – auf das die Ontologie verweist – ist auf Normen sowie auf soziale und politische Organisationen verwiesen (vgl. Butler 2009, S. 11). Epistemologisch sind diese Rahmen oder Raster (der Wahrnehmung) indes politisch mitbestimmt. Sie sind das Ergebnis zielgerichteter Verfahren der Macht. Sie entscheiden zwar nicht allein über die Bedingung der Wahrnehmbarkeit, jedoch wirken sie an der Grenze der Sphäre des Erscheinens. Ontologisch geht es um die Frage, was überhaupt Leben ist. So richtet sich die daran anknüpfende Analytik von Macht zunächst auf die Operationen der Macht und auf die Offenlegung der Mechanismen von Macht, durch die Leben erst hervorgebracht wird, und denen spezifische Rahmensetzungen (framings) zugrunde liegen (vgl. Butler 2009, S. 9-10).

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medizinischen Versorgung sowie eines entsprechenden Rechtsstatus konkretisieren (vgl. Butler 2009, S. 20).137 Butler stärkt die These, dass Normen die Anerkennbarkeit des Subjekts konstituieren, beziehungsweise sie diese erst zu einem möglichen Subjekt der Anerkennung machen (vgl. Butler 2009, S. 13). Normen der Anerkennung – dafür plädiert sie – sollten auf der Wahrnehmung von Gefährdung gründen; ferner ist diese Gefährdung auch mit der Angewiesenheit auf Andere zu verbinden. Resümierendes Zwischenfazit und Kritik Es lässt sich an dieser Stelle resümieren: Anschließend an Perspektiven der Körpersoziologie erscheinen Körper im Rahmen der poststrukturalistischen Deutungen von Judith Butler als Produkte machtvoller Diskurse der Zweigeschlechtlichkeit. Geschlecht erscheint als kulturelle Norm, die die Materialisierung von Körpern regiert (vgl. Butler 1997, S. 22-23). Anschließend an Butlers performatives Verständnis des (Geschlechter-) Körpers lassen sich Materialisierungsprozesse als Ergebnis performativer (wirklichkeitskonstituierender) Akte verstehen. Somit bieten ihre Arbeiten Anschlussmöglichkeiten an die Frage, wie sich Unterscheidungen als körperliche Differenzen materialisieren. Innerhalb dieser werden kulturelle Normen (der Zweigeschlechtlichkeit) performativ durch körperliche und in körperlichen Praktiken verankert (vgl. Schmincke 2009, S. 134), und dies insofern, als dass die Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit die Möglichkeiten dessen bestimmen, was als Körper und Geschlecht anerkannt wird und was nicht. Daran lässt sich anschließen und der Blick darauf legen, dass und in welcher Weise soziale (und am Körper ansetzende) Zuschreibungen mithilfe performativer Praktiken durch ständige Wiederholungen in Körper eingeschrieben werden.138 Körper geraten so als „aktiver Prozess der Verkörperung bestimmter kultureller und geschichtlicher Möglichkeiten, als komplizierter[r] Aneignungsprozess“ (Butler 2002, S. 303, geändert A.B.) in den Blick. Die Arbeiten von Butler geben auch Hinweise darauf, dass entlang von Normen Ein- und Ausschlüsse ausgehandelt werden. Vordergründig sollte es nunmehr darum gehen, diese Ausschlüsse befragbar zu machen und kritisch zu befragen. An poststrukturalistischen Deutungen des Körpers wird gemeinhin die Kritik einer gewissen Entkörperung herangetragen, da sie diesen als ein diskursives Konstrukt festschreiben. In ,Körper von Gewicht‘ positioniert Butler sich zur Kritik an einer Praxis der Entkörperung (vgl. Butler 1997, S. 10). Dass Körper leben und sterben, essen und schlafen, Schmerz empfinden und Freude verspüren, Krankheit erleiden und diese Aspekte nicht lediglich als Konstruktionen zu begreifen sind, steht Butler

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Zugleich weist Butler darauf hin, dass Gefährdetsein selbst nicht wirklich anerkannt werden kann, denn alles Gefährdete wäre nie vollständig wahrnehmbar (vgl. Butler 2009, S. 21). Damit einher geht ein Perspektivenwechsel auf Praktiken und Prozesse, durch den der Körper zum Träger kultureller Bedeutungen wird.

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zufolge außer Frage (vgl. Butler 1997, S. 15). Das also, was die Fixiertheit, die Konturen und Bewegungen körperlicher Materialität ausmacht, fasst sie als etwas ganz und gar Materielles (vgl. Butler 1997, S. 22).139 Die Annahme, dass die Materialität des Körpers durch diskursive Kategorien konfiguriert wird, bedeutet indes nicht eine Leugnung des Körpers beziehungsweise der körperlichen Realität. Es verweist jedoch darauf, dass es keine von der symbolischen Ordnung oder der Mächtigkeit der Diskurse unberührte körperliche Materie gibt (vgl. Villa 2011, S. 187).140 Ein weiterer Kritikpunkt, der herausgegriffen wird, besteht darin, dass Butlers Arbeiten dazu tendieren, Geschlechternormen deterministisch zu denken und so die Möglichkeit von Widerstand und Handlungsfähigkeit verschlossen wird. Körper als Produkte scheinen der Macht der Geschlechternormen unterworfen und von diesen bestimmt.141 Jedoch weist Butler darauf hin, dass das wiederholte Benennen einer Norm zugleich eine Grenze setzt. Dies wiederholt einschärfend die Norm unter Bedingungen diskursiver Legitimität (vgl. Butler 1997, S. 29). Genau aber in der Notwendigkeit der Zitierung einer Norm – um ihr Funktionieren sicher zu stellen – liegt die Möglichkeit der Verschiebung, des Widerstandes, die Möglichkeit der Re-Materialisierung. Anschließend an die körpersoziologische Dimensionalisierung des Körpers als Produzent wäre auch zu erörtern, in welcher Weise Widerstand durch den Körper angeregt werden könnte. So lässt sich fragen, inwiefern sich in Butlers Idee des Körpers als Materialisierung von Normen Anhaltspunkte zur Widerständigkeit von Körpern ausloten lassen. Wenn sie davon ausgeht, dass das biologische Geschlecht ein Prozess ist, bei dem regulierende Normen das biologische Geschlecht durch eine ständige Wiederholung von Normen materialisieren, so verweist sie auch darauf, dass Materi-

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Vor dem Hintergrund der Frage danach, welche Körper unter welchen gesellschaftlichen Bedingtheiten von Gewicht sind, präsentiert Butler jedoch einige Neuformulierungen zur Materialität von Körpern, welche sie mit der Performativität der Geschlechtsidentität verknüpft. Körper als Konstruktion, als konstruierten Körper zu begreifen, verlangt zum einen die Bedeutung von Konstruktion als konstitutiven (und produktiven) Zwang neu zu denken (vgl. Butler 1997, S. 16), insofern als dass hochgradig geschlechtlich differenzierte Schemata einen Bereich markieren, unter dem bestimmte Körper Bestand haben und leben – die intelligiblen Körper. Und Schemata stellen als regulierende Zwänge einen Bereich der verworfenen, der nicht-lebbaren Körper her. Zum anderen lässt sich so verdeutlichen, dass Körper nur unter produktiven Zwängen (geschlechtlich differenziert) regulierenden Bestand haben und leben (vgl. Butler 1997, S. 16). Im Sinne Butlers könnte es darum gehen, „eine radikale Resignifikation des symbolischen Bereichs zu unterstützen […] um die eigentliche Bedeutung dessen zu erweitern, was in der Welt als ein geschätzter und wertvoller Körper gilt“ (vgl. Butler 1997, S. 48). Jedoch sind diese Schemata historisch revidierbare Kriterien der Intelligibilität zu betrachten und somit als Kriterien, die Körper produzieren und unterwerfen, die von Gewicht sind. Indes sind diese Schemata performativ, im Vollzug bringen sie bestimmte –- intelligible und ebenso die verworfenen, ausgeschlossenen, nicht-intelligiblen– Körper hervor. Fragen danach, welche Körper nicht intelligibel sind, welche in jene Zonen der Verworfenheit, der Unbewohnbarkeit fallen, darauf richten sich die Analysen Butlers nicht (vgl. Schmincke 2009, S. 127-128).

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alisisierungen nie ganz vollendet sind und Körper sich nie gänzlich den Normen fügen, mit denen ihre Materialisierung erzwungen ist. Damit verweist Butler auf mögliche Instabililitäten und Zwischenräume. Da dieser Prozess nie ganz abgeschlossen ist, fügen sich Körper den Normen nie vollständig: Es sind sogar die durch diesen Prozess hervorgebrachten Instabilitäten, die die Möglichkeit der Re-Materialisierung „ die einen Bereich kennzeichnen, in dem die Kraft des regulierenden Gesetzes gegen diese selbst gewendet werden kann, um Neuartikulationen hervorzutreiben, die die hegemoniale Kraft eben dieses Gesetzes in Frage stellen“ (Butler 1997, S. 21).142 Damit deutet Butler implizit auf die Handlungsfähigkeit und potentielle Widerständigkeit des Körpers (vgl. weiterführend Jäger 2004; Villa 2011). Als ein letzter Kritikpunkt wird aufgeführt, dass die Arbeiten zum einen auf Normen von Zweigeschlechtlichkeit begrenzt bleiben sowie zum anderen, dass darin die Handlungen der Akteure (in Bezugnahme auf die Konstitution und Reproduktion sozialer Verhältnisse – einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse) nicht hinreichend Berücksichtigung finden. Daran wird in dieser Arbeit angeschlossen und zunächst bezugnehmend auf die körpersoziologische Perspektive auf den Körper als Produkt und Produzent herausgestellt, dass Körper in beiden Perspektiven an der Stabilität gesellschaftlicher Ordnungen mitwirken. Wie etwa soziale Ordnungen körperlich hergestellt und abgesichert werden, lässt sich mit praxeologischen Sichtweisen plausibilisieren, in denen sich auch das Verständnis des Körpers als Produkt und Produzent einfügt. Dass sowohl in strukturalistischen wie auch in poststrukturalistischen Auslegungen das Körperverständnis unterbestimmt bleibt, wird in diesem Part aufgegriffen. Bezugnehmend auf anthropologische und phänomenologische Perspektiven werden Zugänge zu Leiblichkeit präsentiert. 1.5

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Anthropologische und phänomenologische Perspektiven „Ich bin, aber ich habe mich nicht“ (Plessner 1975/2004, S. 63), so charakterisiert Helmuth Plessner Wesensmerkmale des leibhaften Daseins des Menschen, von denen hier nur einige benannt werden. Insbesondere in ,Die Stufen des Organischen 142

Zwar erlangt das biologische Geschlecht als die sedimentierte Wirkung einer andauernden und rituellen Praxis den Anschein eines Naturalisierten, dennoch sind für diese Prozesse Instabilitäten konstitutiv, denn durch die permanenten Wiederholungen tun sich Brüche oder Risse auf, was Butler als dasjenige denkt, das der Norm entgeht, über die sie hinausschießt oder etwas, das von der wiederholten Bearbeitung der Norm nicht vollständig definiert oder festgelegt werden kann (vgl. Butler 1997, S. 32-33). So pointiert sie: „Diese Instabilität ist die dekonstruierende Möglichkeit des Wiederholungsprozesses selbst, die Macht, die genau jene Wirkung aufhebt, von denen das ,biologische Geschlecht‘ stabilisiert wird, sie ist die Möglichkeit, die Konsolidierung der Norm des ,biologischen Geschlechts‘ in eine produktive Krise zu versetzen“ (Butler 1997, S. 33).

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und der Mensch‘ verweist Plessner (1975/2004) auf die für die menschliche Existenz unaufhebbare Doppelaspektivität von Körper(Haben) und Leib(Sein) (vgl. ebd.). Darin erscheint der Mensch „als Leib in der Mitte seiner Sphäre, die, entsprechend seiner empirischen Gestalt, ein absolutes Oben, Unten, Vorne, Hinten, Rechts, Links, Früher und Später kennt, und der Mensch als Körperding an einer beliebigen Stelle eines richtungsrelativen Kontinuums möglicher Vorgänge“ (ebd., S. 12). Obwohl Leib und Körper keine material voneinander trennbaren Systeme ausmachen, sondern ein und dasselbe sind, fallen sie nicht zusammen (vgl. ebd.). Das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper lässt sich somit als ein zweifaches auslegen: Der Mensch ist sein Körper im Sinne von ,LeibSein‘ und er hat seinen Körper im Sinne von ,KörperHaben‘.143 Die Differenzierung in Körper und Leib begründet Plessner mit der für den Menschen spezifischen Position der Exzentrizität. Auf dieser basiert das KörperHaben. 144 Da der Mensch sowohl zentrisch als auch exzentrisch – aus dem direkten Umweltbezug herausgesetzt – zur Umwelt positioniert ist, ist die menschliche Existenzweise durch die ‚Doppelaspektivität‘ von LeibSein und KöperHaben gekennzeichnet. In dieser können Menschen sich in zwei Modi, im LeibSein und KörperHaben, erfahren: Den eigenen Körper erfahren sie als von der Umwelt unterschieden, sie können diesen gegenständlich wahrnehmen (vgl. Jäger 2005, S.111). Überdies hat der Mensch die Fähigkeit, in Gegenstandsposition zu sich zu treten, sich selbst zu reflektieren. Die exzentrische Positionalität ist jedoch nicht als bloße Reflexionsfähigkeit zu deuten. Plessner fasst damit eine doppelte Relation, „sich als solcher zu sich als einer Relation (der Positionalität) zu verhalten, sich darin selbst als ein ,Selbst‘ zu erfassen und insofern zugleich innerhalb und außerhalb seiner selbst zu stehen“ (Magyar Haas 2012, S. 198). In diesem Sinne sind Menschen exzentrisch zur Umwelt positioniert. Einen Körper zu ,Haben‘ bedeutet auch, dass der Mensch auf diesen zurückgreifen, ihn instrumentell oder expressiv nutzen und einsetzen kann. Die Möglichkeiten menschlicher Ausdrucksfähigkeit zeigen sich etwa in Mimik, Haltung oder im Lachen und Weinen (dazu vertiefend Plessner 1975/2004).145 In Plessners Auslegungen des Menschen als Wesen, das exzentrisch – in einem doppelten Verhältnis – zur Umwelt positioniert ist, ist jedoch auch die Sicht eingelagert, dass dieses Verhältnis den Menschen um seine Sicherheit bringt und ihn vor die lebenslange Aufgabe stellt, einen 143

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Körper ist demzufolge ein Objekt, etwas, das Personen haben und welches für Andere sichtbar ist. Plessner bezeichnet dies als Gegenstandsstellung. Der Leib rekurriert auf das, was Personen von ihrem eigenen Körper an sich selbst spüren können, folglich, was sie selbst sind. Plessner verwendet dafür den Begriff der „Selbststellung“ (vgl. Jäger 2005, S. 101). Das Tier hingegen ist zentrisch zur Umwelt positioniert. Diese spezifische Stellung zur Umwelt ist als das nicht relativierbare Hier- und Jetzt-Prinzip zu begreifen. Auf dieser Ebene ist der Leib zu verorten. Dieser umfasst das unmittelbare, authentische Binnenerleben des eigenen Körpers (vgl. Plessner 1975, S. 2004). Dass Plessners Auslegung des Menschen als Wesen, welches zum einen in der Position der Exzentrizität lebt und zum anderen als maskenhaft zu fassen ist, die Möglichkeit bietet, darauf verweist Magyar-Haas (2012).

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ständigen Ausgleich zwischen der Doppelaspektivität – zwischen körperlichem Sein und dem Zwang, diesen zu haben - zu finden (vgl. ebd., S. 69).146 Als Wesen, das von Natur aus künstlich ist, muss der Mensch sich zu dem, was er ist, noch machen und dazu bedarf er einer kulturellen Ordnung. 147 Die Differenzierung ist instruktiv, da Körper und Leib paradoxerweise nicht dasselbe sind, obwohl sie ein und derselbe Gegenstand sind (vgl. Jäger 2005, S. 111).148 Leiblichkeit und Affektivität Ergänzend zu Plessners Differenzierung von Körper und Leib bieten phänomenologische Lesarten in Anlehnung an Hermann Schmitz (2009) weiterführende (primär analytische) Zugangsweisen zu Leiblichkeit und Affektivität. Ausgehend vom Begriff des Leibes untersucht Schmitz Phänomene affektiven Betroffenseins. Ihren Ausgangspunkt nimmt seine Phänomenologie darin, wie Gefühle als leiblich-affektive Betroffenheiten erfahren werden. Der Begriff des Leibes ist dabei zentral, da die Betroffenheit von Gefühlen (trotz ihrer sozialen Vermitteltheit), leiblich ist (vgl. Landweer 1999, S. 29), beziehungsweise sich in eigenleiblichen Regungen manifestiert. 149 Schmitz differenziert Körper als sicht- und tastbares Objekt. Der (eigene) Leib hingegen bezeichnet etwas, was ein Mensch „in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann, ohne sich auf die Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) – und auf das des perzeptiven Körperschemas, d.h. des aus Erfahrungen des Sehens und Tastens abgeleitete Vorstellungsgebilde vom eigenen Körper – zu stützen“ (vgl. Schmitz 2009). Weiterführend legt er den Leib als erlebten, gespürten Körper aus, als etwas, was aus der Perspektive einer Person ganzheitlich, ohne Zuhilfenahme einzelner Sinnesorgane oder der Hände erfahren wird (vgl. Landweer 1999, S. 20). Weiterführend ist der Leib räumlich organisiert und in der konkurrierenden simultanen Engung und Weitung spürbar (vgl. Schmitz 2009). Zudem wird er in Gestalt einer Insel gespürt. Leibinseln sind Stellen des Körpers, die leiblich empfunden werden. Der Leib ist überdies mit leiblichen Regungen, dem affektiven Betroffensein von Gefühlen besetzt (vgl. ebd.). Gefühle beschreibt Schmitz als räumlich auftretende Atmosphären, welche sich leiblich, spürbar in einer Dynamik von Engung (Spannung) und Weitung (Schwellung) (vgl. Schmitz 2009, S. 19) bemerkbar machen. Angst, Schmerz, 146

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In Anwendung eines solchen Blicks auf die menschliche Existenzform erscheint für diese eine Hälftenhaftigkeit, ein Ungleichgewicht, konstitutiv (vgl. Plessner 1975, S. 311), welche Plessner als Nacktheit auslegt, derer wegen der Mensch sich schäme (vgl. ebd. 310). Diese Annahmen weiterführend ist die Existenzform des Menschen ursächlich für das Gefühl der Scham. Indem der Mensch sich ein Gleichgewicht schaffen muss und dafür ein Komplement nicht-natürlicher Art braucht, ist er von Natur aus und aus Gründen seiner Existenzform künstlich (vgl. Plessner 1975, S. 310). Damit begründet Plessner die Angewiesenheit des Menschen auf die Kultur oder eine kulturelle Ordnung, genauso wie er erlernen muss, seinen Körper zu nutzen und einzusetzen. Analytisch lassen sich Körper als Zweiheit von Körper und Leib differenzieren und ihre Verhältnismäßigkeit als Verschränkung bestimmen (Lindemann 2011; Jäger 2004). Etwa sind für die Gefühle der Freude und Trauer die entsprechenden leiblichen Regungen Frische und Mattigkeit (vgl. Schmitz 2009, S. 25).

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Lust, Hunger, Schreck, Behagen oder Begehren – so auch das Gefühl der Scham, welches im zweiten inhaltlichen Part des Beitrags in den Fokus gerückt wird – sind Beispiele für Gefühle als leibliche Regungen, die in der Gegend des sicht- und tastbaren eigenen Körpers auftreten (vgl. ebd. 1989). Theorien zu Leiblichkeit werden in der Arbeit lediglich als theoretische Ergänzung eingefügt. In die Analyse fließen sie nicht ein, wenngleich dies spannend und vielversprechend gewesen wäre. Jedoch lässt sich bezugnehmend auf Theorien zu Leiblichkeit herausstellen, dass Personen ihre soziale Position im Gefüge sozialer Ungleichheitsverhältnisse nicht lediglich verkörpern, sondern dass das Wissen um den eigenen Status auch auf der leiblichen Ebene verankert ist. Darauf verweist etwa Villa (2007). Über körpersoziologische Zugänge kann die Wirkmächtigkeit sozialer Ordnungen im Alltag der Menschen besser in den Blick genommen werden. Sie kann jedoch nur dann angemessen verstanden werden, wenn auch die affektiven Konsequenzen und die affektive Basis sozialer Ordnung gesehen werden (vgl. Villa 2007). Leibtheoretischen Zugängen folgend lässt sich eine analytische Perspektive auf KörperLeiber einnehmen und plausibilisieren, dass und warum soziale Ordnungen in das leibliche Erleben ihrer Körper einfließen. Die leibliche Ebene der eigenen soziostrukturellen Verortung etwa in Ungleichheitslagen wie Klasse und Geschlecht ist wesentlich dafür, dass Personen einen ,sozialen Sinn‘ (vgl. Bourdieu 1993; Gugutzer 2015) entfalten, ein gewissermaßen intuitives Gefühl für ihre soziale Stellung im gesellschaftlichen Gefüge entwickeln (vgl. Villa 2007). Es lässt sich zunächst bündeln: Körpertheoretische Ansätze liefern einen analytischen Rahmen für die empirische Sichtung im Offenen Kinder- und Jugendtreff. Sie bieten die Möglichkeit, Körper nicht als etwas naturhaft Gegebenes zu betrachten und etwas über die ,Naturhaftigkeit‘ von Körpern auszusagen, sondern sie zeigen eindrücklich, dass und durch welche Prozesse Körper sozial hervorgebracht werden. Sie zeigen auch, welche gegenwärtig relevanten (körperbezogenen) Seinsordnungen, wie etwa Ordnungen zwischen ,Migrant*innen‘ – ,Nicht-Migrant*innen‘; ,Mädchen*‘ und ,Jungen*‘; ,Behinderten‘ und ,Nicht-Behinderten‘; ,Ansehnlichen‘ – ,Nicht-Ansehnlichen‘ nicht nur durch Praktiken und Sprache erzeugt, sondern in Praktiken im Alltag hergestellt werden (vgl. Machold 2015). Sie ermöglichen so „die Wirkungen gesellschaftlicher Normen und deren körperliche Verankerung aufzuzeigen und damit zu einer kritischen Entnaturalisierung vermeintlich unverrückbarer Phänomene beizutragen“ (vgl. Schmincke 2014, S. 56). Körpertheoretische Sichtweisen ermöglichen es, der Verkörperung sozialer Ordnungen Rechnung zu tragen. Leibtheoretischen Zugängen folgend lässt sich auch eine analytische Perspektive auf Körper und Leiber von Personen im Jugendtreff einnehmen und plausibilisieren, dass und warum soziale Ordnungen in das leibliche Erleben ihrer Körper einfließen.

Resümee & Diskussion körpertheoretischer Perspektiven 1.6

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Resümee & Diskussion körpertheoretischer Perspektiven

Im Folgenden werden die zentralen erarbeiteten Erkenntnisse der Körpersoziologie gebündelt, kritisch diskutiert und Anschlussperspektiven ausgelotet: Durch die Arbeiten von Pierre Bourdieu und insbesondere dessen Konzept des Habitus ist es möglich, der Verkörperung sozialer Differenzen und Hierarchien Rechnung zu tragen. Seine Ausführungen zur ,Männlichen Herrschaft‘, welche er als Paradebeispiel symbolischer Gewalt auslegt, zeigen dass gesellschaftliche Herrschaft nicht nur über Körper ausgeübt, sondern über diesen reproduziert wird, und dies gerade weil sie in Körpern verankert ist. Dieses veranschaulicht Bourdieu anhand der Strukturkategorien Klasse und Geschlecht. 150 Ihre Verkörperung bewirkt die Naturalisierung sozialer Differenzen und Hierarchien, inklusive ihrer Teilungen. Sie schreiben sich als ,verborgene Imperative‘ in Körper ein. Indem diese zu Körper werden, repräsentieren sie sich in Körperhaltungen und Verhaltensweisen, in der körperlichen Hexis. Bourdieu arbeitet in anschaulicher Weise heraus, dass dies ein wesentlicher Mechanismus der Stabilisierung von (hierarchisch strukturierten) Klassen- und Geschlechterverhältnissen darstellt. Eingedenk der Kritik, dass Bourdieu letztlich in einem strukturalistisch gefassten Verständnis sozialer Verhältnisse verhaftet bleibt, lässt sich weiterführen, dass so die Tatsache unberücksichtigt erscheint, dass selbst ein Gegensatzpaar immer aufeinander verwiesen ist und eine dritte Instanz generiert (vgl. Schmincke 2009, S. 127). Diese Aspekte findet jedoch in den Arbeiten von Michel Foucault und Judith Butler in der Vorstellung eines ,konstitutiven Außen‘ Berücksichtigung, über welches sich die Norm stabilisiert (vgl. Schmincke 2009, S. 127). Überdies weist Schmincke (2009) auf eine weitere Möglichkeit hin, die strukturalistische Engführung der Arbeiten von Bourdieu zu weiten. So erweist es sich als gewinnbringend machttheoretische Perspektiven im Anschluss an Michel Foucault hinzuzuziehen. Die darin 150

Im Kontext der eher strukturalistischen Lesart des Körpers, so wie Bourdieu sie verfasst, rücken, so lässt sich seinen Arbeiten entnehmen, die sozialen Bedingungen als prägend für Körperpraxen, Körperwahnehmungen und Körpereinstellungen in den Fokus. Die Dimension des Körperlichen wird primär in Zusammenhang mit Fragen nach der Reproduktion sozialer Ungleicheit gebracht. Seine theoretischen und empirischen Bemühungen bieten in instruktiver Weise nicht lediglich eine Perspektive auf die klassenspezifische Formung von Körpern. Mit seinem Habituskonzept ist es zum einen möglich, der Verkörperung sozialer Differenzen und Teilungen Rechnung zu tragen. Überdies erlauben seine Konzeptionalisiungen des Habitus Körper als Produkt und Spreicher sowie als Produzent zu begreifen. Somit öffnet er Perspektiven darauf, dass und wie gesellschaftliche Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse – insbesondere mit Blick auf die Strukturkategorien Klasse und Geschlecht im Körper verankert und über diesen reproduziert werden. Die Inkorporation sozialer Verhältnisse bewirkt indes eine Naturalisierung sozialer Differenzierungsprinzipien und hat mithin herrschaftsund ungleichheitsstabilisierende Wirkung (vgl. Schmicke 2009, S. 126). Bourdieu markiert den Habitus als handlungsgenerierendes Prinzip, Butler hingegen betrachtet die Performativität (heterosexueller) Schemata als Prinzip, das Handlungen anleitet. Schmincke (2009) weist ferner darauf hin, dass bei Bourdieu kaum thematisiert wird, inwiefern in Konstruktionsweisen von Geschlecht und Klasse gesellschaftliche Differenzsetzungen von ,normal‘ und ,davon abweichend‘, von ,anders‘ und ,gleich‘ hervorgebracht werden oder aber, welchen gesellschaftlichen Regulierungen und Normierungen Körper unterliegen.

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offenkundig werdende Macht der Norm wäre in einer solchen Perspektive mit dem Habituskonzept zu verknüpfen. Dies begründet sich damit, dass die Herrschaft der Norm der Klassenstrukur immanent und zugleich äußerlich ist (vgl. Schmincke 2009). Folglich legen seine Arbeiten für die vorliegende Arbeit den Blick für die Herrschaft der Norm frei. Sie zeigen auch, dass ,Technologien des Selbst‘ (körperliche) Praktiken sind, durch die Einzelne sich in ein Verhältnis zu sich selbst setzen. Nicht zuletzt lassen sie sich als körperliche Praktiken verstehen, über die Menschen sich im Alltag sozial positionieren. Kritisch betrachtet findet in den Arbeiten von Foucault jedoch eine Homogenisierung statt, insofern sein Blick von den Rändern der Gesellschaft ausgeht. Paradigmatisch dafür stehen Kranke, Irre und Kriminelle. Mit dieser Vorgehensweise legt er die Verschränkung von Macht und Wissen und als deren zentrales Instrument die Norm frei. Damit dechiffriert er Normalisierung und Marginalisierung als gesellschaftliche Strategien: In einer solchen Perspektive werden jedoch alle Körper gleichermaßen der Disziplin, der Norm oder der Bio-Macht unterworfen (vgl. Schmincke 2009, S. 127). Dabei – so Schmincke (2009) – treten empirisch differente Körper, die in unterschiedlichen Weisen normal oder marginal sind, in Erscheinung (vgl. ebd.). Daran anknüpfend stellt sich die Frage, wie Normen sich in Körper einschreiben, sich an und über Körper naturalisieren, also wie Körper normalisiert und marginalisiert werden (vgl. ebd.). Eine Annäherung an diese Fragen ermöglichen mithin die Arbeiten von Pierre Bourdieu. Dieser zeichnet nach, dass gesellschaftliche Verhältnisse – einschließlich ihrer Teilungs- und Klassifikationsprinzipien in Körper eingeschrieben sind und diese zugleich die (auf den Körper und die soziale Welt angewendeten) Wahrnehmungs- und Handlungsschemata leiten. Für eine poststrukturalistische Annäherung an die Gegenstände Körper und Geschlecht gelten die Arbeiten der US-amerikanischen Rechtsphilosophin Judith Butler paradigmatisch (vgl. Jäger 2004, S. 64). Ihre Arbeiten bieten instruktive Perspektiven auf Konstruktionsweisen des Geschlechterkörpers, insbesondere auf die machtvollen Wirkungsweisen von Normen und den durch und über diese produzierten Ausschlüsse und Verwerflichmachungen. Im Kontext der performativen (Körper-) Theorie von Judith Butler wird ebenso die Wirkmächtigkeit regulierender Schemata und Klassifizierungen für die Produktion bestimmter Körper evident. Anders als Bourdieu, der in den Klassifikationen das inkorporierte Soziale erkennt, sieht sie darin die Verkörperung einer Norm. Somit geht ihr Ansatz über Bourdieu hinaus, indem sie die Bedeutung regulierender Schemata als Normen – Bourdieu beschreibt dies mit den Denk-, Wahnehmungs- und Handlungsschemata des Habitus – für die Konstruktion bestimmter Körper markiert. Ferner erkennt sie – wie auch Foucault – in diesen Schemata die Verkörperung einer Norm (vgl. Schmincke 2009, S. 127). Diese Schemata weist sie als „historisch revidierbare Kriterien der Intelligibilität aus, die sie als Kriterien spezifiziert, die Körper produzieren und unterwerfen, die von Gewicht sind (Butler 1995, S. 37). Indem sie den Begriff der Performativität in ihre Arbeiten ein-

Resümee & Diskussion körpertheoretischer Perspektiven

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bezieht, markiert sie diese Schemata – den Habitus – nicht nur als performativ, sondern sie veranschaulicht auch, dass soziale Ordnungskategorien sich an Körpern materialisieren. Darüber hinaus lässt sich in einer solchen Perspektive in den Blick nehmen, dass und in welcher Weise Personen sich (als Subjekte) innerhalb soziosymbolischer Ordnungen positionieren oder darin positioniert werden. Daran lässt sich anschließen und darauf hinweisen, dass diese Körper nicht nur mit bestimmten Bedeutungen versehen, sondern diese bestimmte Körper hervorbringen, genauso wie sie andere ausschließen. Schmincke (2009) zufolge bleibt jedoch nicht hinreichend geklärt, welche Körper (historisch) normalisiert, marginalisiert oder ausgeschlossen werden oder aber welche Gesellschaftstypen welche Körper hervorbringen (vgl. Schmincke 2009, S. 128). Letzteres wiederum lässt sich mit den Perspektiven von Foucault diskutieren und plausibilisieren. Sie erweisen sich zudem als anschlussfähig für eine Sichtweise, in der Körper in verschiedenen Arten und Weisen für gesellschaftliche Zwecke produktiv gemacht werden und sich dabei neue gesellschaftliche Konstellationen herausbilden. Diese Hervorbringung steht indes im Dienste gesellschaftlicher Prozesse; eine gesellschaftstheoretische Perspektive ist folglich unabdingbar. Ein performativer Blick ermöglicht Einschreibungen sozialer Prinzipien, welche als Klassifizierungen wirken, als Habitualisierung zu analysieren, die im Vollzug immer wieder aktualisiert werden (vgl. ebd., S. 128). Im körperlichen Handeln werden zugleich immer wieder Normen stabilisiert und reproduziert. In beiden Zugehensweisen zeigen sich Ansätze zum Körper, in denen dieser als Produkt und als Produzent erscheint. So wird die Studie durch ein gesellschaftstheoretisches Körperverständnis perspektiviert (siehe Abschnitt 1.1.1.-1.1.2.). Dieses gilt auch für die Forschungsfrage, die den theoretischen und empirischen Auseinandersetzungen der Studie zugrunde liegt. Es lässt sich an dieser Stelle bündeln: Mitsamt ist es grundlegend in Differenz und Norm, in Klassifizierungen und Unterscheidungen Prinzipien zu erkennen, die in alltäglichen Praktiken Wirksamkeit erlangen und entlang derer Ein- und Ausschließungen verhandelt werden. Zugleich bringen sie Körper hervor. Denn durch normierende Differenzsetzungen zwischen so genannten normalen und abweichenden, zwischen normalen – etwa gekennzeichnet durch körperliche Besonderheiten, erkennbare ,Defizite‘ oder ,Abnormitäten‘ – , die in einem Bewertungsverhältnis zu den jeweils herrschenden Normalitäten – dem Normkörper - gebracht werden, konstituiert sich eine vermeintlich biophysische Gegebenheit des Körpers (vgl. Gugutzer und Schneider 2007, S. 32). Die körpersoziologische Positionierung ermöglicht es für die vorliegende theoretische und empirische Analyse Prozesse der Ein- und Ausschließung von Körpern sowohl als Resultat inkorporierter sozialer Teilungsprinzipien sowie als Ausdruck für eine an spezifischen Normen und Unterscheidungen ausgerichtete soziale Ordnung

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Körper theoretisch

zu begreifen. Konkret wird dies im empirischen Part der Arbeit untersucht. Das nun folgende zweite theoretische Kapitel hebt auf eine Auseinandersetzung mit dem facettenreichen Thema Soziale Ungleichheit ab. In diesem soll zum einen eine integrierte Sicht auf die sozialen Verhältnisse gezeichnet werden, in denen potenzielle Adressat*innen des exemplarisch gewählten Handlungsfeldes heranwachsen und innerhalb derer ihre jeweiligen Praktiken situiert sind. Zum anderen soll für die Analyse ein Verständnis sozialer Ordnungen einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse unter Berücksichtigung ihrer körperlichen Dimension erarbeitet werden. Sodann wird der Blick nicht lediglich auf soziale Ungleichheit und soziale Ausschließung konzentriert, sondern auch deren Körperlichkeit herausgestellt. Die im ersten Kapitel dargelegten Perspektiven sind auf unterschiedlichen Ebenen zu verorten. Sie bieten indes nicht nur spezifische Sichtweisen auf Körper, sondern auch auf soziale Ungleichheits- und Machtverhältnisse. Diese bilden nicht zuletzt Bezugspunkt des Handlungsfeldes der Offenen Kinder- und Jugendarbeit.

2

Soziale Ungleichheit und Körper

Das folgende zweite theoretische Kapitel der Arbeit hebt auf eine Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Körper und soziale Ungleichheit ab. Innerhalb der Auseinandersetzungen wird auch ein Verständnis sozialer Ein- und Ausschließung erarbeitet. Das Kapitel ist in folgender Weise sortiert: Vor dem Hintergrund einer prägnanten allgemeinen Annäherung an diese Facetten wird das Thema soziale Ungleichheit erstens als Bezugspunkt Sozialer Arbeit markiert und zweitens in Zusammenhang mit körpersoziologischen Sichtweisen gebracht. Eine Annäherung an das Thema soziale Ungleichheit ist aus dem Grund notwendig, um eine angemessene und umfassende Perspektive auf die Bedingungen legen zu können, in denen potentielle Adressat*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit leben, innerhalb derer sie praktische Lebensentwürfe hervorbringen und die ihre Handlungsfähigkeit in spezifischer Weise präformieren. Das Thema soziale Ungleichheit lässt sich aus verschiedenen Perspektiven in den Blick nehmen und diskutieren. So fokussieren makrotheoretische Perspektiven auf Institutionen und Strukturen. Mikrotheoretische Zugänge, so wie es sozialkonstruktivistische Perspektiven nahelegen, richten den Blick auf die Ebene der Praktiken. Poststrukturalistische Sichtweisen hingegen fokussieren auf das Symbolische. Intersektionalität bietet ein Konzept, in dem diese unterschiedlich gelagerten Positionen zusammenfassend Berücksichtigung finden. Dessen Kerngedanken werden in einem weiteren Schritt entfaltet. Für die vorliegende Studie wird es als heuristischer Rahmen eingeführt, um die Komplexität sozialer Ungleichheitsverhältnisse bewusst halten zu können. Mitsamt wird an die im ersten Kapitel herausgearbeitete körpersoziologische Einsicht angeschlossen: Der menschliche Körper ist der Ort, an dem sich soziale Strukturen materialisieren (vgl. Villa 2011, S. 28).151 Er ist von gesellschaftlichen (Ungleichheits-) Verhältnissen geprägt, genauso wie er an deren Hervorbringung beteiligt ist.152 Da Verkörperung jedoch immer mehr ist als die Überschneidung in sich geschlossener Kategorien, wird das Konzept Intersektionalität auch kritisch reflektiert und es 151

152

Dieser – durchaus erklärungsbedürftigen – These ist das Verhältnis von Strukturen, Handlungen (und Repräsentationen) inhärent. Körpertheoretische Sichtweisen bieten hier weiterführende Erkenntnisse, jedoch sollte stets bewusst gehalten werden, auf welcher Ebene die jeweiligen Zugänge zu verorten sind und welchen epistemologischen Anspruch sie verfolgen. Im vorangehenden Kapitel wurde versucht verschiedene Ansätze (zu Körper, zu Körper und Gesellschaft) zu rekonstruieren und unter einer spezifischen Perspektive synthetisierend zusammen zu stellen. Dies wurde insbesondere im ersten theoretischen Kapitel der Arbeit dargelegt, in dem in die zentralen Grundannahmen der Körpersoziologie eingeführt wurde. Zugespitzt münden körpersoziologische Debatten in der Einsicht, dass der Körper naturhaft, diese Natürlichkeit jedoch sozial gemacht ist (vgl. Villa 2011, S. 27). Für die Soziologie scheint dies anregend, weil sich am Körper so grundlegende soziologische Themen bearbeiten lassen. Eine der Grundfragen richtet sich etwa auf das Verhältnis von Struktur und Handlung, von verobjektivierten Strukturen (Makroebene) und interaktiven Handlungen (Mikroebene) (vgl. ebd.).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. B. Burghard, Körper und Soziale Ungleichheit, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 19, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31200-8_3

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werden Grenzen des Ansatzes aufgezeigt. Ein wesentlicher Kritikpunkt, der an das Konzept Intersektionalität herangetragen wird, ist die Einschränkung der Sichtweise auf die Kategorien Klasse, ,Rasse‘/Ethnizität, Geschlecht und – so wie neuere Ansätze nahe legen – auf Körper. Dies wird damit begründet, dass Kategorien erstens vereinheitlichende Konstrukte darstellen, die von außen zugeschrieben werden und dass diese zweitens hierarchisch sind. Sie organisieren Über- und Unterordnungen. Ein möglicher Umgang mit dieser Problematik besteht indes darin, nicht auf die Kategorien, sondern auf dahinter stehende Klassifikationssysteme und Bedeutungsverhandlungen zu schließen.153 Folglich wird sich in einem weiteren Schritt in diesem Kapitel in theoretischer Hinsicht Klassifikationen zugewendet. Diese Sichtweisen werden – wieder bezugnehmend auf Perspektiven der im vorangehenden Kapitel erarbeiteten strukturalistischen und poststrukturalistischen Positionen – in Verbindung mit (der Körperlichkeit) sozialer Ungleichheitsverhältnisse gebracht. Diese Betrachtung erweist sich nicht zuletzt als anschlussfähig an Fragen sozialer Positionierung und Zugehörigkeit, welche überdies als wesentliche Themen die Lebensphase Jugend konstituieren. Daher werden diese im vierten Kapitel der Arbeit theoretisch – bezugnehmend auf körpertheoretische, ungleichheitstheoretische und praxeologische Erkenntnisse – in den Blick genommen. Abschließend wird die ungleichheitsrelevante Macht von Klassifikationen diskutiert und in den theoretischen Rahmen der Arbeit einbezogen. In einer solchen Perspektive ist es möglich, ein angemessenes Verständnis von Ausschließung zu konkretisieren. Ausschluss lässt sich so als sozialer und symbolischer Ausschluss differenzieren: Symbolischer Ausschluss ist auf der Ebene von Deutungen und Bewertungen anzusiedeln. Sozialer Ausschluss ist hingegen auf der Ebene der Praktiken zu verorten. In diesem Kontext sind Klassifikationen eine immense Bedeutung beizumessen. In der Diskussion wird somit herausgestellt, dass insbesondere negative Klassifikationen eine auf Ausschließung gerichtete Wirkung haben. Sie lassen sich nicht nur als ausschließende Positionierungen in konkreten Situationen auslegen, sondern als stigmatisierende Elemente der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit, über die letztlich Ein- und Ausschlüsse verhandelt werden. Um nicht einer Ausblendung gesellschaftlicher, politischer, rechtlicher und ökonomischer Kontexte Vorschub zu leisten, wird in einem abschließenden Teil – bezugnehmend auf Positionierungen ,Kritischer Sozialer Arbeit‘ – Ausschluss als etwas Prozesshaftes, als Ausschließung diskutiert; die vorangegangen Auseinandersetzungen werden folglich ergänzt. Sodann lassen sich auf soziale Ausschließung gerichtete Kategorien, innerhalb derer spezifische Klassifikationen wirkmächtig werden, als Konstruktionen, die Ausgrenzung spezifischer Gruppen legitimieren (sollen), kritisch in den Blick nehmen. Das Kapitel

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Dass es nicht nur eine theoretische Frage ist, sondern diese sich auch in methodischer Hinsicht stellt, wird im empirischen Part der Arbeit diskutiert.

Soziale Ungleichheit

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schließt mit einem Zwischenfazit, in dem die gewonnenen Ergebnisse pointiert und auf das Erkenntnisinteresse der Arbeit bezogen werden. 2.1

Soziale Ungleichheit

Das Thema soziale Ungleichheit ist ein zentrales Thema der Soziologie, das unter verschiedenen Perspektiven Gegenstand vielfältiger Diskussionen ist. Bei einer intensiveren Auseinandersetzung zeigt sich das Thema als überaus komplex. Körper bildet eine weitestgehend vernachlässigte Dimension in Auseinandersetzungen um Soziale Ungleichheit.154 Bezieht man die Komplexität (der Strukturen) sozialer Ungleichheit auf den Körper im Alltagshandeln, so lässt sich pointieren, dass wir am Körper der Mitmenschen deren Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen erkennen, indem wir ihre körpergebundenen Zeichen lesen (vgl. Villa 2007). Im Alltag werden soziale Unterscheidungen vornehmlich an Körpern (an wahrgenommenen oder erwarteten körperlichen Merkmalen) festgemacht. Diese geben vermeintlich über die soziale Position einer Person Aufschluss. Damit einher gehen Zuordnungen und soziale Positionierungen: ,schwarz‘/,weiß‘ ,Mann‘/,Frau‘, ,alt‘/,jung‘, ,behindert‘/,normal‘. All jene Markierungen des Körpers sind nicht als biologische Zuordnungen in den Blick zu nehmen, sondern als gesellschaftliche Positionierungen, in denen manche benachteiligt und manche privilegiert werden: Der Alltag ist durchzogen von Klassifikationen. Man hört Menschen und sieht ihnen anhand vieler körpergebundener Zeichen wie Kleidung, Körperhaltung, Stimmführung, Geschmacksvorlieben an, welchen Platz sie in der sozialen Welt einnehmen. Dabei wird die soziale Ordnung verkörpert, indem soziale Strukturen einverleibt werden. Der Körper gilt indes als Zielscheibe sozialer Zuschreibungsprozesse und Klassifikationen, wobei Klassifikationen eine machtvolle Ordnungsfunktion einnehmen. Sie sind verwoben mit der Einordnung in bestehende Machtstrukturen. Anhand der Wahrnehmung und Deutung körperlicher Merkmale werden Personen unterschieden und in Interaktionen sozial positioniert. Damit wird ihnen eine legitime (oder illegitime) Position im Sozialen zugewiesen oder eben deren Einnahme nicht ermöglicht. In diesen Zuschreibungs- und Positionierungsprozessen spielen körperbezogene Unterscheidungsmerkmale eine wesentliche Rolle. Geschlecht, Rasse, Klasse zeichnen sich in westlichen Gesellschaften durch strukturelle Dominanz aus. Sie gelten als wesentliche Dimensionen sozialer Ungleichheit, da sie die Gesellschaft in fundamentaler Weise strukturieren und die

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Dies ist erstaunlich, denn die im Rahmen der Körpersoziologie prominente Einsicht, dass der Körper naturhaft ist und diese Natürlichkeit sozial produziert wird (vgl. Villa 2011, S. 27- 28) scheint für die Soziologie gerade aus dem Grund anregend, da sich am Körper grundlegende soziologische Fragen, wie etwa nach dem Verhältnis von Struktur und Handlung, nach verobjektivierten Strukturen (Makroebene) und interaktiven Handlungen (Mikroebene) sowie Fragen nach gesellschaftlicher Strukturierung und somit auch sozialer Ungleichheit diskutieren lassen. Einzig fündig wird man bei Steuerwald (2010), der eine handlungssoziologische Untersuchung im Anschluss an Bourdieu und Mead vorlegt (vgl. ebd.).

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Soziale Ungleichheit und Körper

Lebenschancen von Individuen beeinflussen. Für die Subjekte dienen Strukturkategorien als gesellschaftliche Platzanweiser, denn sie schreiben ihnen eine soziale Position zu. Diese sozialen Positionierungen erfolgen in Verhältnissen sozialer Ungleichheit sowie durch formale und symbolische Ein- und Ausgrenzungen (so etwa von Rassismus und Sexismus). Sie prägen ferner die subjektiven Handlungs- und Positionierungsmöglichkeiten (vgl. Riegel und Geisen 2010). 2.1.1

Sozialpädagogische Perspektiven

Im Kontext der Sozialen Arbeit markiert die Frage nach sozialer Ungleichheit einen wesentlichen Bezugspunkt. Soziale Arbeit agiert in Verhältnissen sozialer Ungleichheit. Zugleich konstituieren und strukturieren soziale Verhältnisse die Bedingungen, unter denen die potenziellen Adressat*innen leben und die ihre Möglichkeiten sozialer Teilhabe in spezifischer Weise präformieren. So bewegen sich diese in komplexen Gefügen sozialer Ungleichheit und Prozessen sozialer Ein- und Ausschließung und agieren innerhalb dieser. In dem Zusammenhang zeigen sich (objektive) sozialstrukturelle Lebenslagen, wie Klasse, ,Rasse‘, Geschlecht, Alter oder Behinderung als wirkmächtige Dimensionen.155 Entlang dieser nehmen potentielle Adressat*innen Sozialer Arbeit mitunter benachteiligte Statuspositionen ein und werden dementsprechend von Sozialer Arbeit adressiert. Soziale und ungleichheitsgenerierende Kategorien formieren somit nicht nur die Lebenswelten von Menschen, sondern sie stellen auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dar, in denen Soziale Arbeit agiert. Soziale Arbeit bietet folglich potenziell benachteiligten Gruppen sowie ihren vielfältigen Handlungsfeldern, wie etwa der Kinder- und Jugendhilfe, Unterstützungen bei ,sozialen Problemen‘ an. Auf diese Weise bearbeitet etwa die Profession gesellschaftliche Ungleichheits- und Benachteiligungsverhältnisse. Zielführend ist dabei die Ermöglichung und/oder Erweiterung sozialer Teilhabemöglichkeiten Jener, deren Handlungsoptionen eingeschränkt sind (vertiefend zu einer Perspektive der Sozialen Arbeit als ,Gerechtigkeitsprofession‘ vgl. Schrödter 2007; Heite 2009; Kessl und Otto 2009; Otto und Ziegler 2008).

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Die unterschiedlichen Teilhabemöglichkeiten subjektiver und kollektiver Akteure an Gütern und Formen der Lebensgestaltung, etwa mit Blick auf die Erreichbarkeit von Bildungsabschlüssen und beruflichen Positionen, sowie die entsprechenden gesellschaftsstrukturellen Verhältnisse stehen im Zentrum von Theoriebildung und Forschung zu sozialer Ungleichheit. (vgl. Kreckel 2004; vgl. auch Hradil 2001; in sozialpädagogischer Perspektive u. a. Otto und Ziegler 2004, Heite 2007, Anhorn et al. 2007; Kessl et. al 2007). Diese komplexe Problematik ist Gegenstand vielfältiger und differenzierter Ansätze der klassischen und aktuellen soziologischen Theoriebildung und Forschung, in denen gesellschaftliche Dynamiken im Hinblick auf gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse, Benachteiligungsformen und Diskriminierungen sowie gesellschaftliche Inklusion und Exklusion betrachtet werden. Zur Erklärung des Phänomens verzeichnet die soziologische Theorie eine breite theoretische Landschaft von Ungleichheitstheorien, in denen Merkmale, Ursachen und Erscheinungsformen als verschiedene Dimensionen sozialer Ungleichheit je unterschiedlich perspektiviert und theoretisch begründet werden.

Soziale Ungleichheit

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In Thematisierungsweisen über Adressat*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit wird sich gemeinhin an jugendtheoretischen Diskursen orientiert. In Debatten um Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe wird auch das Thema ,Soziale Ungleichheit‘ perspektiviert (vgl. etwa Züchner 2018). Anhorn (2010) zufolge darf jedoch nicht vernachlässigt werden, sich kritisch mit Thematisierungsweisen über Jugend auseinander zu setzen. Denn die öffentliche Rede in modernen Gesellschaften über die Jugend, sei es in den Massenmedien, den Wissenschaften, der Politik oder der professionellen Sozialen Arbeit, zählt zu einem bevorzugten Verfahren, wie eine Gesellschaft sich über die Frage ihrer ,guten Ordnung‘, ihrer moralischen Grenzziehungen, ihrer Zugehörigkeiten und Ausschließungen, ihres ,unveräußerlichen‘ Kanons gemeinsam zu teilender Werte verständigen kann (vgl. Anhorn 2010). Diese gelten indes als Grundlagen und Bestandteile ihrer Macht- und Herrschaftsordnung. Die Problematisierung der Jugend stellt in einer solchen Perspektive ein wesentliches Medium sowie (Funktions-)Element in der Herstellung, Legitimation und fortwährenden Selbstvergewisserung von gesellschaftlichen Verhältnissen dar, für die soziale Ungleichheiten und Ausschließungen, Ausbeutung und Diskriminierung konstitutiv sind.156 Anhorn (2010) führt weiter aus, dass die Rede über die Jugend zu einem unerschöpflichen Medium und legitimen Ort der Thematisierung gesellschaftlicher ,Unordnung‘ und ,Regellosigkeit‘, der vielstimmigen Artikulation von kollektiven und individuellen Unsicherheiten und Ängsten, skeptischen Diagnosen gesellschaftlicher Gegenwartszustände, nostalgischen Vergangenheitsverklärungen und sorgenschweren Zukunftsprognosen wird, die nicht zuletzt der verlässlichen Herstellung eines übergreifenden politisch-wissenschaftlich-professionellen Einvernehmens dient (vgl. Anhorn 2010). Darüber hinaus werden in diesem Zusammenhang Grenzziehungen der Zugehörigkeit beziehungsweise der Teil- oder Nicht-Zugehörigkeit insbesondere anhand körperlicher und vermeintlich biologischer Unterscheidungsmerkmale (dazu zählen etwa Sprache, Religion, Hautfarbe oder Abstammung) etabliert und begründet (vgl. Anhorn 2005, S. 36). So lässt sich pointieren, dass dies als eines der wirkmächtigsten Strukturierungsmomente sozialer Ungleichheits- und Ausschließungsverhältnisse gilt (vgl. Anhorn 2005).157 Jugendliche sind davon in besonderer Weise betroffen.

156

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Im Rahmen der gängigen Postulierung einer Dauerkrise der Jugend, die sich zyklisch intensiviert und zu Moralpaniken verdichtet (zum Beispiel in den ,Drogenwellen‘ ab Ende der 1960er, in der ,Jugendgewalt‘ ab den 1990er Jahren), können breit gefächerte Szenarien einer Dramatisierung ,sozialer Probleme‘ entworfen werden (vgl. Anhorn 2010). Mitsamt wird sich in den Argumentationen von einer dichotomen Sichtweise von Ausschließung distanziert, in der Gesellschaft unter der Perspektive des Innen oder Außen begriffen wird. Insgesamt wird nicht der Anspruch erhoben die gesamte Spannbreite der Theorien zu sozialer Ausschließung wiederzugeben.

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Soziale Ungleichheit und Körper

Eingedenk dieser von Anhorn (2010) kritisch formulierten Hinweise, in denen die Relevanz der Berücksichtigung sozialer Ungleichheits- und Benachteiligungsverhältnisse offenkundig wird, scheint es umso notwendiger, einen integrierten Blick auf die sozialen Bedingungen zu legen, in denen Jugendliche heranwachsen und die ihre Handlungsfähigkeit und so die Möglichkeiten ihrer sozialen Teilhabe in spezifischer Weise präformieren. Dass sie eine körperliche Dimension haben, gilt in dieser Arbeit als grundlegend, wird jedoch in besonderer Weise unter Bezugnahme auf zentrale Perspektiven der Körpersoziologie diskutiert. Auf Körper bezogene Zuschreibungsprozesse sowie deren Relevanz in beobachtbaren sozialen Praktiken von Jugendlichen sind in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung, denn diese – so die These – materialisieren sich an Körpern. So pointiert Schmincke (2009) in ihrer bemerkenswerten Studie, dass körperliche Merkmale in Ausgrenzungsprozessen zum Stigma werden (vgl. Schmincke 2009, S. 32). „Die körperliche Stigmatisierung könnte man als selbst vollzogenen Schließungsmechanismus verstehen, der die Loslösung von den legitimen gesellschaftlichen Anerkennungszusammenhängen von Arbeit, Familie und Institution auf den Punkt bringt“ (Bude 1998, S. 376).158 Nicht selten werden anhand der Wahrnehmung und Deutung körperlicher Merkmale Zuschreibungen vollzogen. Entlang verallgemeinernder Kategorisierungen und abwertender Zuschreibungen werden Personen zu ,Anderen‘, zu ,Nicht-Zugehörigen‘ gemacht. Ausgrenzung und Benachteiligung gehören in einer solchen Perspektive zum Alltag, auch in pädagogisch professionellen Handlungsfeldern. Zu fragen ist, wie Jugendliche sich selber in einer Gesellschaft oder in einem sozialen Kontext positionieren, in dem sie als fremd und anders markiert werden. Somit wird auch in der vorliegenden Arbeit dem Anspruch Rechnung getragen, Körper als Teil von Herrschaftsprozessen in den Blick zu nehmen. Dazu zählen Normierungs-, Ungleichheits- und Ausschließungsprozesse. Anhand einer ethnographischen Studie werden diese Facetten entlang empirischer Daten konkretisiert. Dafür werden sowohl eine dezidiert adressat*innenorientierte Perspektive auf Jugendliche als Besucher*innen eines spezifischen professionellen Handlungsfeldes eingenommen, als auch Perspektiven der professionell Handelnden dieses Handlungsfeldes eingefangen. Es scheint nicht zielführend eine der 158

Darauf verweist Heinz Bude (1998) in seinen Auseinandersetzungen über ,die Überflüssigen‘. Die Anmerkungen zu Körper führt er jedoch nicht weiter aus. Seine Arbeit ist im Kontext von Diskussionen zu verorten, innerhalb derer eine zunehmende Prekarisierung sozialer Verhältnisse diagnostiziert wird. Konzentrieren sich die Auseinandersetzungen im anglophonen Bereich um den Begriff der ,underclass‘, so münden diese Diskussionen um soziale Ungleichheit im deutsch-sprachigen Raum in Debatten um den Begriff Exklusion/Inklusion (vgl. dazu Castell 2000; Castell und Dörre 2009; Bude und Willisch 2008). In diesem Zusammenhang werden Mechanismen gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion – bezogen auf gesellschaftliche Teilhabe – diskutiert. Überdies werden insbesondere Ursachen, Prozesse und Erscheinungsform gesellschaftlicher Exklusion als Ungleichheitsphänomen innerhalb spezifischer Legitimationsdiskurse problematisiert (vgl. dazu vertiefend Castell 2000, 2009; Bude und Willisch 2008; Barlösius 2004; Schroer 2007; unter sozialpädagogischer Perspektive vgl. Kessl, Reutlinger und Ziegler 2007; Klein 2009; Heitmeyer und Imbusch 2005; Anhorn und Bettinger 2005/2008; Scherr 2008; Otto und Ziegler 2008; Cremer-Schäfer 2005/2008).

Soziale Ungleichheit

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Perspektiven gegenüber einer anderen auszuklammern, möchte man ein Bild von einem pädagogischen Handlungsfeld als ,Ganzes‘ zeichnen. Für die Kinder- und Jugendhilfe sind die hier lediglich angedeuteten Sichtweisen bislang wenig erschlossen. An diese Leerstelle(n) knüpft das vorliegende Kapitel an und konzentriert sich auf den überaus breiten Themenkomplex sozialer Ungleichheit einschließlich ihrer Einund Ausschlüsse und reflektiert diese hinsichtlich seiner körperlichen Dimension. Mitsamt werden einige (notwendige) Eingrenzungen vorgenommen. 2.1.2

Soziale Ungleichheit und Körper

In einer ganz allgemeinen Annäherung liegt soziale Ungleichheit (im weiteren Sinne) immer dann vor, „[…] wenn bestimmte soziale Differenzierungen es mit sich bringen, dass einzelne Individuen oder Gruppen in dauerhafter Weise begünstigt, andere benachteiligt sind“ (Kreckel 1997, S. 17).159 An dieser Stelle sei in Kürze auf die hier relevante Unterscheidung in Mikro- und Makroperspektive verwiesen, die sich hinsichtlich ihres jeweils zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Standpunktes wie auch der wissenschaftssystematischen Positionierung unterscheiden (vgl. Villa 2011, S. 39). Fokussieren erstere auf das Handeln, beziehungsweise auf Interaktionen in der Alltagswelt und sind somit akteur*innenzentriert, so blicken letztere auf Institutionen, gesellschaftliche Strukturen und ihren historischen Wandel, auf ökonomische Prozesse und soziostrukturelle Dimensionen des Sozialen (vgl. Villa 2011, S. 39).160 Da-

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Die klassische soziologische Klassen- und Schichtungsforschung konzentriert sich auf Analysen von sozialer Ungleichheit im engeren Sinn, das heißt auf Formen vertikaler sozialer Ungleichheit, die sich mit Hilfe eines Gesellschaftsmodells von hierarchisch übereinander angeordneten Klassen, Schichten oder Statusgruppen erfassen lassen (vgl. Kreckel 2004, S. 17). Kreckel (2004) verwendet den Begriff ,strukturierte soziale Ungleichheit‘ und sieht darin den Vorteil, dass diese Festlegung weder eine rein klassen- oder schichtanalytische Perspektive suggeriert, sondern dass darin zwei ,Aggregatzustände‘ des Auftretens sozialer Ungleichheit benannt sind: Die erste Form tritt in Form distributiver Ungleichheit in Erscheinung und und bezieht sich auf ungleiche Verteilung von gesellschaftlichen Gütern und Ressourcen, Reichtum und Wissen. Bei der zweiten Form sozialer Ungleichheit – der relationalen Form – geht es um Personen, um asymmetrische Beziehungen zwischen Menschen, um direkte Abhängigkeits- und Herrschaftsbeziehungen und auch um Prozesse der sozialen Diskriminierung (vgl. Kreckel 2004, S. 19-20). Kreckel differenziert in strukturierte Verteilungsungleichheit (distributive Ungleichheit) und strukturierte Beziehungsungleichheit (relationale Ungleichheit). Liegt erstere überall dort vor, wo die Möglichkeiten des Zugangs zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern in dauerhafter Weise eingeschränkt und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt beziehungsweise begünstigt sind, so liegt letztere überall dort vor, wo die von Individuen, Gruppen oder Gesellschaften innerhalb eines gesellschaftlichen oder weltweiten Strukturzusammenhanges eingenommenen (erworbenen oder zugeschriebenen) Positionen mit ungleichen Handlungs- und /oder Interaktionsbefugnissen- oder Möglichkeiten ausgestattet sind und die Lebenschancen der davon Betroffenen dadurch langfristig beeinträchtigt beziehungsweise begünstigt werden (vgl. Kreckel 2004, S. 20). In den Arbeiten von Bourdieu wird dies mit den Begriffen Subjektivismus und Objektivismus gefasst. Der Körper wird als Scharnier ausgewiesen (siehe auch Kapitel 1.).

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Soziale Ungleichheit und Körper

ran anknüpfend wird sodann zunächst eine strukturtheoretische Sicht auf Ungleichheit entfaltet, bevor sich der subjekttheoretischen Seite zugewendet wird. Die Ebene des Symbolischen findet daran anschließend Berücksichtigung. 161 Anlehnend an Kreckel (2004) lässt sich weiter ausführen, dass soziale Ungleichheit als gesellschaftlich verankerte Form der Begünstigung oder aber Bevorrechtigung einzelner Personen zu verstehen ist, sowie der Benachteiligung und Diskriminierung anderer. Zur ideologischen Rechtfertigung sozialer Ungleichheit werden oftmals physische Merkmale herangezogen.162 Die Begünstigung oder Benachteiligung von Personen oder Personengruppen wird durch den Zugang zu, sowie der Verfügungsgewalt über sozial relevante und gesellschaftlich ungleich verteilte Ressourcen bestimmt (vgl. Villa 2011, S. 45-46). Mitsamt ist in quantitative sowie qualitative Dimensionen sozialer Ressourcen zu unterscheiden: Die quantitative Dimension bezeichnet die Menge an Kapital, wohingegen die qualitative Dimension verschiedene Kapitalformen beziehungsweise sozial relevante Ressourcen umfasst. In der Ungleichheitssoziologie von Reinhard Kreckel (1997) werden die ungleichheitsrelevanten Ressourcen als ungleich verteilte Güter und asymmetrische Beziehungen als strategische Ressourcen

161 162

In diesem Part des Kapitels wird sich über weitere Teile auf Villa (2011) bezogen, da es wenige Arbeiten gibt, in denen das Thema Körper und soziale Ungleichheit derart pointiert dargestellt wird. Diese breit gefasste Auslegung ließe sich unter Bezugnahme auf verschiedene Theorien zu sozialer Ungleichheit je unterschiedlich diskutieren. Klassische soziologische Ungleichheitstheorien fokussieren gesellschaftliche soziale Ungleichheitsverhältnisse in kapitalistisch organisierten Gesellschaften (dafür exemplarisch Marx 1981; Weber 1980; Geiger 1967; in der Linie der strukturfunktionalistischen Schichtungstheorie siehe Parsons 1952, 1970). Analysen dieser traditionellen soziologischen Klassenund Schichtungsforschung konzentrieren sich dabei auf Analysen strukturierter sozialer Ungleichheit im engeren Sinn, somit auf Formen horizontaler und vertikaler sozialer Ungleichheit (vgl. Kreckel 2004, S. 17). Erste Erweiterungen von Klassen- und Schichtmodellen finden sich bei Schelsky 1967 oder Bolte 1963). Einen Überblick über weitere Ansätze, in denen andere Formen der Ungleichheit wie etwa die Ungleichheit der Geschlechter berücksichtigt wurden, bietet Gottschall (2000). Individualisierungstheoretisch informierte Konzepte erstellte Beck (1983). Zur Entstrukturierungsdebatte weiterführend Beck 1986; Berger 1996; Berger und Vester 1998; vgl. auch Berger und Hitzler 2010; Schulze 1992; Gross 1996). Ungleichheitstheoretische Perspektiven, die auf die zunehmende Pluralisierung und Differenzierung von Lebenslagen, Lebensläufen und Lebensstilen abheben (vgl. Hradil 1999; Berger und Hradil 1990; Hradil 1999; Kreckel 1997, 2004; Vester 1993). Grundsätzlich lassen sich zwei theoretische Ausrichtungen unterscheiden: Zum einen die sozialstrukturellen und klassentheoretischen Ansätze. In diesen geht es darum, auf der Makroebene objektive Gegebenheiten und Strukturierungen einer Gesellschaft und die inhärenten Ungleichheitsrelationen zu dechiffrieren. Zum anderen die Lebensstil- und Milieuforschung, in der – auf der Mikroebene – Lebenswelten, Handlungen, Wahrnehmungen und Deutungen der kollektiven Akteur*innen dahingehend analysiert werden, wie sich strukturelle Differenzen auf die Akteure, deren Mentalitäten und deren Handeln auswirken und wie diese selber an der Reproduktion der sie umgebenden Verhältnisse beteiligt sind. Eine Vermittlung der strukturtheoretischen und der handlungstheoretischen Richtungen gelang Pierre Bourdieu, der klassenanalytische (objektive) Analysen mit Lebensstilanalysen (subjektive Ebene) verbindet. Die Gesellschaftstheorie, die Konzeptionalisierung des Sozialen Raums, das Habituskonzept und das daraus abgeleitete Verständnis sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Differenzierung liegen den Überlegungen der Intersektionalitätsdebatte zugrunde.

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definiert (vgl. Kreckel 1997, S. 20). Kreckel (1997) zufolge gelten als Ressourcen materieller Reichtum, symbolisches Wissen, hierarchische Organisation sowie selektive Assoziation. Letzteres umfasst etwa Zugehörigkeiten als relationale Beziehungen. Ähnlich finden sich bei Bourdieu die unterschiedlichen Kapitalformen (siehe Kapitel 1.2.). Für die Ebene der Strukturen würde dies bedeuten, Körper als (subjekttheoretischen) Ausdruck von sozialen Verhältnissen (zum Beispiel von Klassen und Geschlechterverhältnissen) zu perspektivieren. Körper lassen sich als Ort ausweisen, an dem sich soziale Strukturen materialisieren. In einer solchen Ebene ist sowohl die Auseinandersetzung mit dem Strukturbegriff als auch eine Auseinandersetzung damit notwendig, wie sich Strukturen den Subjekten vermitteln. In der Soziologie wird dies unter dem Begriff der Vergesellschaftung zusammengefasst (vgl. Villa 2011, S. 31). Unter körpertheoretischer Perspektivierung hängt die Verankerung von Individuen von präreflexiven Handlungs- und Wahrnehmungsroutinen ab, die nicht rein kognitiv zu fassen sind (vgl. Villa 2011, S. 31). Soziale Ressourcen sind eng mit dem Handeln von Individuen verknüpft. An dieser Stelle treffen makro- und mikrotheoretische Perspektiven in ihrer Sicht auf soziale Ungleichheit. Somit rückt die handlungstheoretische Dimension sozialer Ungleichheit in den Fokus. Diese ist zentral, um die Stabilität sozialer Ungleichheit zu erklären, die in einer solchen Perspektive in Handlungen von Akteur*innen im Alltag zu verorten ist. An der Schnittstelle von Praktiken und Strukturen ist gemeinhin das ,Habituskonzept‘ zu verorten. Als subjektive Dispositionen gehen Habitusformen aus der Konditionierung einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen hervor. Das Haben von materiellen und kulturellen Ressourcen wird durch Inkorporation zum Sein (vgl. Villa 2011, S. 64-66). Diese strukturtheoretische Sicht auf soziale Ungleichheit mündet in der Annahme, dass Ressourcen ungleichheitsrelevant sind, weil sie Handlungsspielräume sowie Handlungsbedingungen strukturieren. In einer solchen Perspektive sind Ressourcen ungleichheitskonstituierende Handlungsbedingungen (vgl. Villa 2011, S. 51). Ergänzend an die Darlegung einer strukturtheoretischen Sicht auf soziale Ungleichheit wird im Folgenden eine subjekttheoretische Sicht auf das Verhältnis von sozialer Ungleichheit und Körper entfaltet. In einer solchen Perspektive sind Fragen danach vordergründig, wie (verobjektivierte) soziale Strukturen subjektiv relevant werden oder anders formuliert, wie sich die Vermittlung von strukturellen Herrschaftsverhältnissen in den Verfassungen von Subjektivität sowie auf der Ebene alltäglicher Interaktionen und Lebensrealitäten von Personen denken lassen (vgl. Villa 2011, S. 52).163 Mitsamt wird sich von einer einseitigen Perspektive auf das Subjekt, das dieses in einem Spannungsfeld zwischen Vergesellschaftung und Individuation positioniert, 163

Innerhalb der Soziologie wird diese Frage unter der Vermittlung von Struktur und Individuum verhandelt.

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zugunsten eines Verständnisses distanziert, das auf die wechselseitige Bedingtheit beider abhebt (vgl. Villa 2011, S. 53). In einer solchen Sichtweise stellt die Konstitution des Subjekts erstens einen ambivalenten und komplexen Vergesellschaftungsprozess dar, durch welchen Makro-Strukturen individuell angeeignet und auch variiert werden. Zweitens umfasst die Vergesellschaftung die Herausbildung von Handlungsfähigkeit, genauso wie die (notwendige) Unterwerfung unter historisch etablierte Verhältnisse (dazu und leitend Butler Kapitel 1.5.1). Drittens sind (sozialisierte) Personen an der Konstruktion sozialer Strukturen beteiligt, innerhalb derer sie in ,kontrollierter Freiheit‘ und somit innerhalb von Grenzen vergesellschaftet werden (vgl. Villa 2011, S. 53).164 Dass nun soziale und verobjektivierte Strukturen sozialer Ungleichheit eine relative Stabilität aufweisen, obgleich sie im Handeln hervorgebracht werden, liegt darin begründet, dass der Körper als stabilitätssicherndes Scharnier fungiert. Anschließend an die körpertheoretische Lesart von Bourdieu erscheint der Körper als präreflexiver Speicher von Normen und sozialem Wissen. Als solcher sorgt er für die Stabilität des Wechselverhältnisses zwischen Mikro (Konstruktionen) und Makro (Strukturen) (siehe dazu auch Kapitel 1.2.). Das Habituskonzept von Bourdieu bietet sich in besonderer Weise für die Analyse des Zusammenhangs von gesellschaftlichen Strukturen und individuellem Handeln an. Mit dem Habitusbegriff sowie dem Begriff der Hexis geht er auf die körperliche Dimension sowohl auf handlungstheoretischer wie auch auf subjekttheoretischer Ebene sozialer (Ungleichheits-) Verhältnisse ein. Der Habitus ist präreflexiv in der Subjekthaftigkeit, der körperlichen Hexis, angesiedelt. Mit dem Konzept des Habitus lässt sich der Verkörperung des sozialen Status und der damit verbundenen Normen und Werte Rechnung tragen. Es macht die Präreflexivität des Habitus sowie seine sozialisatorische Wirkung verstehbar (vgl. Villa 2011, S. 67). Diese Aspekte wurden im ersten Kapitel der Arbeit ausführlich erörtert. Sie werden an dieser Stelle nicht erneut vertieft. Anders als die strukturtheoretischen Sichtweisen von Bourdieu erlauben es sozialkonstruktivistische Perspektiven der Frage nachzugehen, wie nicht nur die Naturhaftigkeit des Körpers in Praktiken und Interaktionen hergestellt wird, sondern wie darüber hinaus gesellschaftliche Strukturen verfestigt werden (vgl. Villa 2011, S. 32). Mikrosoziologische Perspektiven fokussieren auf das Handeln von Individuen, auf kleinere soziale Einheiten sowie auf die Rekonstruktion von Sinn und Wissen. Dafür gilt die These grundlegend, dass soziale Strukturen ohne das Handeln im Alltag keinen 164

Die Frage nach der Handlungsfähigkeit des Subjekts erweist sich jedoch als problematisch, insbesondere vor dem Hintergrund, dass soziale Strukturen nicht per se existieren, sondern immer auch gemacht werden. Demnach findet sich bei Villa (2013) nicht die Verwendung des Begriffs der ,objektiven Strukturen‘, sondern der ,verobjektivierten Strukturen‘. Dies liegt darin begründet, dass aus soziologischer Perspektive erst das Handeln zur Verobjektivierung sozialer Strukturen führt. (vgl. Villa 2011, S. 63).

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Bestand haben.165 Paradigmatisch dafür stehen insbesondere die Studien der geschlechtskonstruktivistischen Ethnomethodologie zum ,doing gender‘. Im ,doing gender‘ werden zum einen soziale Ressourcen, so etwa kulturelle Objekte, Räume und Sprache zum Einsatz gebracht. Zum anderen findet diese alltagsweltliche Vergeschlechtlichungspraxis als Differenzierungspraxis in gesellschaftlichen Räumen und Kontexten, so etwa Institutionen, Organisationen aber auch in juristischen und medizinischen Diskursen, statt (vgl. Villa 2011, S. 32). Im Hinblick auf die Frage sozialer Ungleichheit sind sie relevant, da sich Interaktionen immer im Rahmen strukturierter Macht- und Herrschaftsverhältnisse vollziehen, die situationsübergreifend und historisch sedimentiert erscheinen (vgl. Villa 2011, S. 91).166 Sie sind eben nicht unabhängig von sozialen Ordnungen zu denken, sondern vielmehr auf diese bezogen. Denn nicht zuletzt bringen sie sich mit ihnen Teilnehmer*innen zur Geltung und somit zu sozialer Existenz. Jede Darstellung setzt die Dargestellten in ein bestimmtes Verhältnis zu der durch sie gezeigten sozialen Ordnung. Entweder weist sie Teilnehmer*innen als kompetente Gesellschaftsmitglieder aus oder sie bringt diese in die marginale Position von ,Unwissenden‘ oder ,Kritikern‘ (vgl. Hirschauer 1998, S. 105 zit. nach Villa 2011, S. 127).167 Dass die originär geführten Debatten zum ,doing gender‘ sich auch als anschlussfähig im Hinblick auf Fragen nach ,doing inequality‘, also an Fragen nach der Herstellung sozialer Ungleichheit erweisen, findet sich bei Hirschauer (1998) sowie bei West und Zimmermann (1987). Das Paradigma des ,doing difference‘ (vgl. Fenstermaker und West 2002) besagt im Kern, dass Geschlechts-, Klassen- und ethnische Unterschiede in Interaktionsprozessen simultan erzeugt werden und in westlichen Gesellschaften aus vielen Formen sozialer Ungleichheit, Unterdrückung und Herrschaftsverhältnisse resultieren (vgl. Fenstermaker und West 2002, S. 236). Somit lässt sich der Blick in handlungstheoretischer Perspektive auf ,verkörperte Ungleichheit‘ legen, die sich am und durch den Körper manifestiert.168 Dieser Blick auf die Verschränkung von Differenzkategorien wurde auch im Rahmen ethnomethodologischer Mikrosoziologie thematisiert. Insbesondere auf der subjektzentrierten Ebene, wo es um Alltagserfahrung sowie um die Konstruktion intersubjektiver Sinnwelten geht, ist die Gleichzeitigkeit verschiedener Strukturen bedeutsam (vgl. Villa 2011, S. 136). Die Darstellung von Geschlecht sowie von anderen Kategorien ist durch die Ungleichverteilung von 165 166 167

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Gesellschaftliche Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse finden in derartigen Sichtweisen wenig Berücksichtigung. Primär wird der Blick auf alltägliche Praktiken gelegt. Hierfür ist die These grundlegend, dass soziale Ungleichheiten als strukturierte Ungleichverteilung von distributiven und relationalen Ressourcen und Handeln in einem Zusammenhang stehen. Die Stabilität sozialer Ordnung lässt sich bezugnehmend auf verschiedene Theoretiker*innen je unterschiedlich begründen. So markiert Lindemann, dass die leiblich-affektive Dimension Subjekte an die soziale Ordnung bindet. Judith Butler hingegen weist die epistemologische Macht von Diskursen als Garant von Stabilität sozialer Ordnungen aus (vgl. Villa 2011, S. 127). Auch dafür bieten die Arbeiten von Bourdieu Zugehensweisen, da er Klassenstruktur und Geschlecht nicht getrennt voneinander denkt.

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Ressourcen strukturiert. Zugleich verweist sie aber immer auch auf handlungsrelevante Dimensionen sozialer Ungleichheit im Sinne von Strategien der Distinktion (vgl. Villa 2011, S. 147). Innerhalb von Interaktionen kommen Ressourcen zum Tragen, die nicht nur ungleich strukturiert sind. Sie bringen auch Hierarchie, Ungleichheit und Dominanz zum Ausdruck, denn die Ressourcen sind weder neutral noch gleichwertig, sie sind vor ihrer Verwendung semantisch als ungleich kodiert. Und hier kommen Normen ins Spiel. Villa (2011) zufolge sind Normen verobjektivierte Strukturen, normative Zwänge. Mit dem Verweis auf Interaktionen sind diese nicht hinreichend erfasst (vgl. Villa 2011, S. 141). Anders als in den bisher eröffneten Perspektiven verschiebt sich der Fokus in den folgenden Darstellungen auf die Ebene der symbolischen Ordnung. Diese umfasst Sprache, Legitimationssysteme, Ideologien und kulturelle Repräsentationen (vgl. Villa 2011, S. 148). Dafür bieten poststrukturalistische Perspektiven Anschlussmöglichkeiten.169 Dass sich Normen als machtvoll erweisen und die Konstruktionen von Körpern in spezifischer Weise präformieren, wenn nicht gar bedingen, wirft die Frage nach der Wirkmächtigkeit von Normen auf. Damit ist eine weitere Ebene markiert, auf die intensiv diskurstheoretische Betrachtungen fokussieren. Hierfür gelten insbesondere die genealogisch angelegten und diskurstheoretischen Arbeiten von Judith

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Diskurstheoretische Perspektiven erlauben die Geschlechterdifferenz als normative Struktur, als normative Diskurse der Geschlechterdifferenz in den Blick zu nehmen. Dafür ist der sozialkonstruktivistische Grundgedanke leitend, dass Sprache, Wahrnehmung und Körper in Zusammenhang stehen. Dieser Zusammenhang liegt indes auf der Ebene der symbolischen Ordnung begründet. Wenn von symbolischen Ordnungen die Rede ist, dann sind damit Sprache, Legitimationssysteme, Ideologien, kulturelle Repräsentationen (des Geschlechterverhältnisses und der Geschlechterdifferenz) gemeint (vgl. Villa 2011, S. 149). Bezugnehmend auf Geschlecht werden damit Fragen danach gestellt, welche Rolle die diskursive Ebene der symbolischen Ordnung für die Gestaltung der (körperlichen) Geschlechterdifferenz hat. Es wird auch eruiert, welche Macht Kategorien und semiotische Bezugsrahmen für die Formung der Geschlechterdifferenz haben oder in welchem Verhältnis soziale Ungleichheit und die symbolische Ebene stehen (vgl. Villa 2011, S. 148). Diskurstheoretische Perspektiven fokussieren auf die epistemologische Macht performativer Sprechakte. Diese Macht besteht darin, dass sie eine spezifische Realität erzeugt (vgl. Villa 2011, S. 32). Diskurstheorien analysieren die performative Logik von Sprache, das heißt die Produktion sozialer Realitäten in und durch Diskurse (vgl. Villa 2011, S. 148). Im Rahmen der Diskurstheorie bezeichnet Macht vor allem eine epistemologische Macht, also erkenntnistheoretische Macht, und nicht die Definitionsmacht von Gruppen oder Akteur*innen (vgl. Villa 2011, S. 148-149). Am diskurstheoretischen Machtverständnis ist zu bemängeln, dass es nicht hinreichend berücksichtigt, dass Macht beziehungsweise Machtverhältnisse die Grundlage sozialer Ungleichheiten darstellen. Dies lässt sich dahingehend konkretisieren, dass Machtverhältnisse den Umgang, die Nutzung sowie die Aneignung von Wissen und Sprache strukturieren. Folglich fallen die Produktionsbedingungen und Wirkungskontexte von Diskursen in die diskurstheoretischen Analysen (vgl. Villa 2011, S. 149). Der Hegemoniebegriff wäre ein Brückenschlag zur soziologischen Analyse von Sprache als strategisches Instrument symbolischer Herrschaft (vgl. Villa 2011, S. 139).

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Butler und Michel Foucault als prominent, die bereits im ersten Kapitel entfaltet wurden.170 Sie zeigen auf, dass Materie durch Sprache hergestellt wird und folglich auch die Materialität des Körpers. An Fragen sozialer Ungleichheit scheint die Auseinandersetzung mit der symbolischen Ebene daher als unverzichtbar. Aus den Ausführungen zu den Arbeiten von Butler und Foucault innerhalb des ersten Kapitels war hervorgegangen, dass Diskurstheorien auf die performative Logik von Sprache fokussieren. Sie heben auf die Produktion sozialer Realitäten in und durch Diskurse und somit auf die symbolische Herstellung von Gegenständen ab. In diesem Rahmen wird die Frage nach Macht verhandelt. Macht wird im Rahmen der Diskurstheorien vor allem als epistemologische Macht, also als erkenntnistheoretische Macht perspektiviert und nicht als Definitionsmacht von Menschen oder Gruppen. Villa (2011) zufolge sind jedoch Machtverhältnisse die Grundlage strukturierter sozialer Ungleichheit (vgl. Kreckel 1997, S. 69). Das heißt, dass Machtverhältnisse den Umgang, die Nutzung und die Aneignung der Bedingungen sozialen Handelns – und so auch von Wissen und Sprache – strukturieren (vgl. Villa 2011, S. 149). Mit den von Ungleichheit strukturierten Gesellschaften, innerhalb derer Sprache wirkmächtig wird, befassen sich diskurstheoretische Studien nicht. Die Produktionsbedingungen und Wirkungskontexte von Diskursen finden also nicht hinreichend Berücksichtigung. Hier erweisen sich die Arbeiten von Bourdieu als sinnvolle Ergänzung. Anders als Butler legt er in seinen sprachtheoretisch ausgerichteten Arbeiten den Fokus nicht auf die Intelligibilität als zentrale Dimension des Diskursiven, sondern auf Fragen der Akzeptabilität und somit auf die Frage danach, wer kann wann und wo legitimerweise etwas sagen (vgl. Villa 2011, S.9). Die hier in gebotener Kürze dargelegten und sehr unterschiedlich gelagerten theoretischen Positionen zu sozialer Ungleichheit und Körper sollen deutlich machen, dass sich dieses Verhältnis als überaus komplex gestaltet und schwerlich auf eine Perspektive oder eine Ebene reduziert werden kann, insbesondere auch deswegen nicht, weil sich am Körper die gesamten sozialen Bezüge, in denen er agiert, materialisieren und dokumentieren. Dass die Studie ethnographisch angelegt und am Prinzip der Offen-

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Im Rahmen genealogisch verfahrender Diskurstheorien erweist sich die Naturhaftigkeit des Geschlechterkörpers als diskursive Naturalisierung oder anders formuliert als sprachliche Ontologisierung (vgl. Villa 2011, S. 32). So lässt sich eine Perspektive darauf einnehmen, dass Materie durch Sprache konstituiert wird. In diskurstheoretischen Perspektiven im Anschluss an Butler und Foucault tritt jedoch die soziale Macht der Sprache in den Hintergrund (vgl. Villa 2011, S. 32-33). Hier erweisen sich Rückbezüge zu den Arbeiten von Bourdieu – insbesondere, wenn man seine Arbeiten sprachsoziologisch deutet und anwendet – als instruktive Ergänzung. Sprache ist als ein Medium sozialer Kommunikation und damit auch als eine zentrale ungleichheitskonstituierende soziale Ressource auszulegen (vgl. Villa 2013, S. 32). In all jenen Zugängen bleibt die ,sinnliche Dimension des Sozialen‘ jedoch nicht berücksichtigt. Bezugnehmend auf Theorien zu Leiblichkeit lässt sich der Verankerung sozialer Normen angemessen annähern. Sie gelten als verankertes präreflexives und sinnliches Wissen in der Subjektivität der Individuen (vgl. Villa 2013, S. 32-33).

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heit orientiert ist, zeigte sich sodann auch am Material. Diese machte eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Perspektiven auf theoretischer, methodologischer und methodischer Ebene unumgänglich. Im Anschluss an die Diskussion des Verhältnisses von sozialer Ungleichheit und Körper richtet sich der Fokus des folgenden Abschnitts auf das Konzept der Intersektionalität. Diese ungleichheitstheoretische Perspektive, in der die verschiedenen Ebenen sozialer Ungleichheit theoretisch (und empirisch) integriert werden, erlaubt es eine differenzierte Sicht auf die sozialen Bedingungen einzunehmen, in denen Jugendliche heranwachsen und die sie immer auch verkörpern. 2.2

Über die Komplexität von Verhältnissen sozialer Ungleichheit

Intersektionalität als heuristische Perspektive Dass eindimensionale Erklärungsmodelle, wie etwa das Patriarchat, nicht ausreichen, um soziale Ungleichheits- und Machtverhältnissen angemessen zu beschreiben und zu erklären, ist eine wesentliche Erkenntnis von unterschiedlich gelagerten Ansätzen, die sich mit Wechselwirkungen zwischen ungleichheitsgenerierenden Dimensionen, wie Geschlecht, Klasse, Sexualität, oder ,Rasse‘/Ethnizität befasst haben. Ein Ansatz, der dem Anspruch Folge leistet, diese Dimensionen in ihren Verschränkungen zu reflektieren, ist das Konzept der Intersektionalität. 171 An dieses wird zwar in unterschiedlicher Weise angeschlossen, jedoch lässt sich als ein Kernelement von Intersektionalität festhalten, dass bei der Ergründung und Erklärung sozialer Ungleichheit zum einen auf mehrere Kategorien zurück gegriffen werden muss, da diese in unterschiedlichen Arten und Weisen bedeutsam sein können. 172 Zum anderen wird herausgestellt, dass sich soziale Ungleichheitsverhältnisse nur dann angemessen erfassen lassen, wenn berücksichtigt wird, dass diese auf verschiedenen Ebenen ausgehandelt und reproduziert werden und diese Ebenen zusammenwirken. Somit bezeichnet Intersektionalität die Analyse der Verwobenheit und des Zusammenwirkens verschiedener Differenzkategorien sowie unterschiedlicher Dimensionen sozialer Ungleichheit und Herrschaft. Auch wenn dabei vor allem Wechselwirkungen zwischen Un-

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Als geschlechtertheoretisches Fundament des Intersektionalitätsansatzes gelten derzeit insbesondere die Thematisierungen der „Achsen der Ungleichheit“ (Klinger et al. 2007), deren ,Überkreuzungen‘ (Klinger und Knapp 2008, 2013) und die daraus resultierende ,Soziale Verortung der Geschlechter‘ (Knapp und Wetterer 2003). Sprechen Klinger und Knapp (2008) im Hinblick auf sozialstrukturelle Untersuchungen etwa von Kategorien wie Geschlecht, Rasse, Klasse und markieren diese als ,Achsen der Differenz/Ungleichheit‘, so erachten etwa Lutz und Wenning (2001) 13 Linien der Differenz als relevant, insbesondere wenn soziale Praktiken von Gruppen in den Blick genommen werden sollen.

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gleichheit generierenden Kategorien wie Geschlecht, ,Rasse‘ und Klasse im Vordergrund stehen, sind Kategorien wie Sexualität, Nationalität oder Alter grundsätzlich integrierbar.173 Vor dem Hintergrund einer prägnanten Skizzierung des Entstehungskontextes werden einige allgemeine Anmerkungen zum Konzept der Intersektionalität dargelegt. Daran wird angeschlossen und zum einen die Frage aufgegriffen, welche Kategorien im Intersektionalitätsansatz Berücksichtigung finden, zum anderen werden die Ebenen eingeführt, die den Intersektionalitätsansatz zu einem mehrebenenanalytischen Ansatz machen. Wechselwirkungen zwischen Ungleichheitskategorien: Intersektionalität In einer ersten und sehr allgemein gehaltenen Annäherung hebt der Begriff der Intersektionalität auf eine Auseinandersetzung mit Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender Dimensionen wie Geschlecht, Klasse, ,Rasse‘ und Körper auf verschie173

In der einschlägigen Literatur kommen Kategorien wie etwa soziale Herkunft, Klasse, Schicht, Milieu, Geschlecht, Ethnizität, Kultur oder Migrationshintergrund eine zentrale Bedeutung zu – anders formuliert, geht es um soziale Kategorien. Dabei handelt es sich um begriffliche Unterscheidungen, mit denen in den Sozialwissenschaften Gesellschaft beobachtet und beschrieben wird (vgl. Emmerich und Hormel 2013, S. 10). Somit wird nach Formen und Ausprägungen sozialer Ungleichheit gefragt. Die Frage nach Unterscheidungen und Unterschieden, nach Kategorien, nach Differenzen oder Heterogenitäten erweist sich gemeinhin als problematisch. So ist etwa die soziologische Ungleichheitssoziologie darauf angewiesen mit Kategorien zu arbeiten, in denen Ungleichheiten (statistisch) abgelesen werden können, deren Repräsentationswert jedoch (in erkenntniskritischer Perspektive) hinterfragt werden muss (vgl. Emmerich und Hormel 2013, S. 14). Die Kategorien erweisen sich als analytische Konstrukte und analytische Kategorien. Die Auswahl von Kategorien ist dabei selektiv. Zu den grundlegenden Erkenntnisproblemen der Soziologie zählt zudem, dass das Erkennen von in Kategorien gefassten Unterschieden das Wiedererkennen kategorialer Unterscheidungen voraussetzt (vgl. ebd. S. 11). Dass dies für die Erziehungswissenschaft nicht lediglich eine erkenntnistheoretische Fragestellung markiert, weil die kategoriale Perspektive eine unauflösbare Subsumtionslogik in die pädagogische Beobachtungspraxis einträgt, werfen Emmerich und Hormel (2013) auf. Denn nicht zuletzt werden soziale Unterscheidungen mit pädagogischen Relevanzsetzungen verknüpft. Aufgrund solcher Verknüpfungen kann die Bezugnahme auf soziale Differenz in pädagogischer (Beobachtungs-) Praxis mit Sinn und Plausibilität ausgestattet werden (vgl. ebd., S. 11-12). Diskurse um Heterogenität, Diversity oder Intersektionalität hingegen beziehen sich auch auf zentrale Unterscheidungen und Kategorien. Angestoßen durch die Rezeption kultursoziologischer und poststrukturalistischer Theorieangebote in den Sozialwissenschaften (dazu weiterführend Moebius und Reckwitz 2008) wird jedoch die ontologisierende Tendenz sozialer Differenzkategorien nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch in der Erziehungswissenschaft grundlegend in die Kritik gestellt (vgl. Emmerich und Hormel 2013, S. 11). So beziehen sich beispielsweise Lutz und Wenning (2001) auf Theorien der Dekonstruktion und problematisieren die kategoriale Konzeptualisierung von Differenz. Im Kontext poststrukturalistischer Perspektiven entfaltet dieser Begriff sein erkenntniskritisches Potenzial, da er sich gegen fixierende Bezeichnungspraxen und identitätslogische Repräsentationen wendet (vgl. Emmerich und Hormel 2013, S. 11). Folglich erlaubt der Begriff der Differenz die Unabschließbarkeit von Bezeichnungen einzubeziehen. Dem gegenüber definieren Kategorien eine Logik der Identität, da bestimmte Unterscheidungen selektiv und kontinuierlich verfestigt werden (vgl. Emmerich und Hormel 2013, S. 11).

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denen Ebenen ab, sowie mit Überschneidungen und dem Zusammenwirken verschiedener gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen und -praktiken (vgl. Degele und Winker 2007; 2009). So weisen Degele und Winker (2009) Intersektionalität als einen Ansatz aus, der kontextspezifisch und gegenstandsbezogen ist, der an sozialen Praxen ansetzt und auf die Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen, symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen fokussiert (vgl. Degele und Winker 2009, S.15). In seiner Tradition geht das Konzept Intersektionalität auf Debatten ,Schwarzer‘ Feministinnen in den 1970er und 1980er Jahren zurück.174 In diesen wurde ein zu enges Verständnis der Unterdrückung ihrer ,Weißen‘ Kolleginnen kritisiert (vgl. Degele und Winker 2007).175 In den 1980er und 1990er Jahren wurde sich auch im deutschsprachigen Feminismus von eindimensionalen sozialwissenschaftlichen Analysen distanziert, in denen der Blick auf jeweils nur eine Dimension von Ungleichheit gelegt wurde. Zunehmend wurden ungleichheitsgenerierende Kategorien wie ,Rasse‘, Klasse, Geschlecht und Sexualität in ihrer Verwobenheit reflektiert. Diese Arbeiten fließen mitsamt in das Konzept der Intersektionalität mit ein, in dem Fragen multipler Diskriminierung und sozialer Verletzbarkeit unter Berücksichtigung der Strukturkategorien Geschlecht, Klasse und Ethnie verhandelt werden. 176 In der vorliegenden Arbeit wird sich auf das Konzept Intersektionalität von Nina Degele und Gabriele Winker (2009) bezogen. Sie gehen von einem Verständnis von Intersektionalität „[…] als Wechselwirkungen zwischen (und nicht als Addition von) Ungleichheitskategorien aus“ (Degele und Winker 2009, S. 14). In ihrer Konzeption von Intersektionalität als Mehrebenenanalyse zeigen sie auf, wie die Verwobenheit von Ungleichheitskategorien auf verschiedenen Ebenen theoretisch zu fassen und überdies empirisch zu

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In seiner Entstehung fokussierte das Konzept Intersektionalität indes auf ,Schwarze Frauen‘. In die Debatten rückte jedoch zunehmend die Frage danach, ob weitere Kategorien einbezogen werden sollten (vgl. Degele und Winker 2009, S. 12). Die US-amerikanische Jura-Professorin Kimberlè Crenshaw trug dazu bei, das Zusammenwirken und die Wechselseitigkeit diverser Unterdrückungsformen explizit zu machen, indem sie in Bezugnahme auf Gerichtsfälle ,Schwarzer Frauen‘ gegen amerikanische Firmen die dort wirksamen Diskriminierungspraxen anprangerte. Mit der Metapher der Straßenkreuzung – als Metapher für die Überkreuzungen verschiedener Achsen der Differenz – gelang Crenshaw erstmalig, Komplexität und Heterogenität von Machtbeziehungen, Herrschafts- und daraus resultierenden Unterdrückungsformen offen zu legen. Gegenwärtig wird das Konzept Intersektionalität in der Frauen- und Geschlechterforschung unter verschiedenen Aspekten verwendet und kontrovers diskutiert. So problematisieren Walgenbach et al. (2007) die Relevanz und Selektion der verschiedenen Strukturkategorien. Unter dezidiert ungleichheitstheoretischer Positionierung unterscheidet Leslie McCall (2005) drei Zugangsweisen einer intersektionalen Analyse sozialer Ungleichheits- und Differenzverhältnisse: Der anti-kategoriale Ansatz, der in dekonstruktivistischen und poststrukturalistischen Theorien begründet liegt, der intra-kategoriale Zugang, der Konstellationen von Differenz und Ungleichheit im Rahmen der jeweiligen Strukturkategorien fokussiert, sowie drittens der inter-kategoriale Ansatz, der die Verhältnisse und Wechselwirkungen zwischen den jeweiligen Kategorien zu analysieren sucht (vgl. Knapp 2008, S. 45).

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analysieren ist. Eine wesentliche Stärke des Intersektionalitätsansatzes besteht nunmehr darin, dass die Wechselwirkungen von ungleichheitsgenerierenden Kategorien wie Klasse, Geschlecht, ,Rasse‘ und Körper auf drei Ebenen in den Blick genommen werden: auf der Ebene der Strukturen, auf der Ebene der Identitätskonstruktionen sowie auf der Ebene der symbolischen Repräsentationen. 177 Mitsamt sei an dieser Stelle betont, dass in der Arbeit keine intersektionale Studie durchgeführt, sondern das Konzept als heuristischer Rahmen für die Analyse erarbeitet und eingeführt wird.178 Dafür gilt in Erinnerung zu rufen, dass Menschen in spezifischen sozialen Kontexten leben und diese von Macht, sozialer Ungleichheit und Ungleichwertigkeit durchzogen sind (vgl. Villa 2011, S. 29). Das Konzept der Intersektionalität ermöglicht es die verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher Wirklichkeit (die Ebene der Strukturen, die Ebene der Handlungen sowie die Ebene des Symbolischen) als miteinander verknüpft zu betrachten. Konstruktionen von Kategorien wie Geschlecht, Sexualität oder ,Rasse‘/Ethnizität geschehen insbesondere anhand des Körpers und aus diesem Grund ist es wichtig, der Verschränkung sozialer Kategorien und insbesondere deren Verkörperung Rechnung zu tragen (vgl. Villa 2011, S. 30). Welche Kategorien? Dass in Betrachtungsweisen sozialer Ungleichheitsverhältnisse mehrere Kategorien berücksichtigt werden sollten, gehört inzwischen zum ,common sense‘. Einigkeit besteht darin, dass soziale Ungleicheitsverhältnisse und Benachteiligungen nicht angemessen erfasst werden können, wenn nicht das Zusammenwirken unterschiedlicher Ungleichheitskategorien sowie der spezifische (historische) und gesellschaftliche

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Diese Ebenen verbinden Degele und Winker (2009, 2010) im Anschluss an Bourdieus Theorie des ,Praktischen Sinns‘ und des Habituskonzeptes wie an die ,Strukturierungstheorie‘ von Anthony Giddens praxeologisch. Somit liegt den Arbeiten die Annahme zugrunde, dass Subjekte sich durch Identitätskonstruktionen in sozialen Kontexten – in kapitalistisch strukturierten Gesellschaften – über soziales Handeln und Sprechen entwerfen. Folglich haben sie an der Beständigkeit oder Unbeständigkeit sozialer Strukturen teil. Zugleich sind diese als Hervorbringungen im Kontext symbolischer Repräsentationen zu betrachten. Fundamental ist an diesem Punkt die Dialektik von Struktur und Handeln, denn es sind die Strukturen, die den Rahmen des Handelns bilden (vgl. Degele und Winker 2010, S. 27). Damit fungieren soziale Praktiken als Schlüsselelement, durch welches sowohl die Differenzkategorien wie auch die drei Ebenen miteinander verbunden werden (vgl. Degele und Winker 2010, S. 27-28). Vor dem Hintergrund der Markierung der Bedeutsamkeit sozialen Handelns, wie sie auch in handlungstheoretischen Begründungszusammenhängen zu finden sind, wird evident, warum eine Analyse beobachtbarer sozialer Praxen den methodologischen Ausgangspunkt intersektionaler Mehrebenenanalysen bildet. Zu Beginn der Studie schien der Fokus beispielsweise eindeutig auf der Mikroebene sozialer Praktiken im Jugendtreff zu liegen, jedoch zeigte sich auch, dass eine Ausblendung hegemonialer Diskurse und Normen eine starke Verkürzung wäre. Zudem sind Körper immer auch materiell und symbolisch zugleich, sodass diese Ebenen nicht voneinander zu trennen sind, selbst wenn es forschungspraktisch begründbar gewesen wäre. Die Komplexität und die Wirkmächtigkeit sozialer Strukturen auszublenden wäre also fragwürdig.

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Kontext berücksichtigt werden. Die Frage nach der Auswahl relevanter Ungleichheitskategorien erweist sich indes als eine grundlegende und durchaus kontrovers diskutierte Ausgangsposition.179 Auch für die vorliegende Arbeit scheint eine Beschäftigung mit Kategorien unter verschiedenen Gesichtspunkten schwierig. Dies liegt nicht zuletzt in der mit der körpertheoretischen Positionierung einhergehenden Problematisierung von (Identitäts-) Kategorien, so wie insbesondere Judith Butler darlegt, in der sich zunächst von festschreibenden und ontologischen Kategorien distanziert wird.180 Bevor die Autor*innen sich auf eine Auswahl spezifischer Kategorien beschränken, schlagen sie, bezugnehmend auf theoretische Erkenntnisse der Frauenund Geschlechterforschung, einen Mehrebenenansatz auf Grundlage folgender Unterscheidungen vor: Gesellschaftliche Strukturen inklusive der Institutionen (Makroebene), interaktiv hergestellte Prozesse der Identitätsbildung (Mikroebene) sowie kulturelle Symbole (vgl. Degele und Winker 2007, S. 2). Diese Differenzierung dient dazu, reduktionistische Ungleichheitsbeschreibungen zu umgehen (vgl. Degele und Winker 2009, S. 18). Anschließend an wissenschaftstheoretische Überlegungen Degele und Winker (2009) in ihrem Mehrebenenansatz alle drei Ebenen: Gesellschaftliche Sozialstrukturen inklusive Organisationen und Institutionen (Makro- und Mesoebene), Prozesse der Identitätsbildung (Mikroebene) sowie kulturelle Symbole (Repräsentationsebene). Jedoch sind diese nicht in additiver Weise zu konzeptionalisieren. In Abhängigkeit vom Untersuchungsgegenstand sowie der Untersuchungsebene werden auf allen drei Ebenen Differenzkategorien in unterschiedlicher Weise relevant. Auf diesen Ebenen werden in sozialen Praktiken vorfindbare Differenzierungskategorien in ihren Wechselwirkungen untersucht (vgl. Degele und Winker 2007, S. 3). Ein solches Vorgehen ermöglicht es zu analysieren, in welche Strukturen und symbolische Kontexte die sozialen Praxen eingebunden sind, wie sie Identitäten hervorbringen und sie verändern (vgl. Degele und Winker 2007, S. 4). Es lässt sich somit pointieren, dass die eigentliche Herausforderung intersektionaler Analysen darin besteht, Wechselwirkungen unterschiedlicher Kategorien auf den drei Ebenen in den Blick zu bekommen (vgl. Degele und Winker 2009, S. 4). Um dem Anspruch gerecht zu werden, sowohl die Wechselwirkungen und Differenzierungskategorien auf einer Ebene sowie über alle Ebenen hinweg analysieren zu können, umrahmen Degele und Winker (2009) ihren Ansatz mit einer theoretischen 179

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Daran anknüpfend sollte eine kritische Haltung gegenüber Kategorien nicht ausstehen. McCall (2005) zufolge markiert dies ohnehin einen Kern von Intersektionalität. Sie votiert für eine kritische Haltung gegenüber Kategorien, die sich in einer antikategorialen Wendung zeigen sollte (vgl. McCall 2005). Kategorien sind nicht abgeschlossen oder statisch konstruiert, sondern variabel sowie kontextspezifisch. Die Auswahl der zu berücksichtigenden Kategorien hängt vom Erkenntnisinteresse, vom Untersuchungsgegenstand und der gewählten Untersuchungsebene ab. Für die Sozialstrukturanalyse sind andere Kategorien relevant als für Prozesse der Identitätsbildung (vgl. Degele und Winker 2009, S. 18). Als vorläufige Antwort darauf kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass man Ungleichheitskategorien nicht leugnen kann, sie jedoch je nach Kontext verschieden wirksam sind und wirksam werden können (vgl. Degele und Winker 2009, S. 18).

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Klammer. Sie gehen in ihren Überlegungen stets von einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft mit der grundlegenden Dynamik ökonomischer Profitmaximierung aus (vgl. Degele und Winker 2009, S. 25).181 Mitsamt gilt die Annahme als grundlegend, dass die kapitalistische Akkumulationslogik eine sich selbst reproduzierende und perpetuierende Struktur aufrecht erhält (vgl. Degele und Winker 2007, S. 4). Dies hat in dreifacher Hinsicht Auswirkungen auf die intersektionale Analyse: Erstens auf der Ebene der Reproduktion der Arbeitskraft (Struktur), zweitens der symbolischen Reproduktion der sozio-ökonomischen Verhältnisse (Repräsentationen) sowie drittens der Verunsicherung der sozialen Akteur*innen (Identitäten) (vertiefend Degele und Winker 2009, S. 26-27; 2007, S. 4). Dabei spielen auf allen Ebenen Differenzierungen, Naturalisierungen und Hierarchisierungen eine zentrale Rolle. Und nicht zuletzt konstruieren Individuen auf der Grundlage von Differenzkategorien unterschiedlichste Identitäten und reproduzieren verschiedenartige symbolische Repräsentationen und damit zugleich materialisierte Strukturen (vgl. Degele und Winker 2007, S. 4). Geschieht dies unter Rückgriff auf Naturalisierungen, so knüpft es ebenso an vermeintlich sicheres wissenschaftliches Wissen wie auch an Alltagswissen an. Dies verleiht Identitäten, Strukturen und Repräsentationen zusätzliche Glaubwürdigkeit und festigt letztlich die Reproduktion des Gesamtsystems. Bei der Betrachtung der Mikroebene sozial konstruierter Identitäten stehen insbesondere Prozesse des Identifizierens und Klassifizierens im Rahmen von Interaktionen im Vordergrund, nicht hingegen die Kategorien oder das Ungleichheitsverhältnis selbst. Dass Kategorien verwoben sind, lässt sich mit dem von Festermaker und West (2001) erarbeiteten Konzept des ,doing difference‘ plausibilisieren. Dieses illustriert, dass und in welcher Weise Geschlecht „[…] gleichzeitig mit Ethnie und Klasse entsteht und wirkt. Erst wenn man die Konstruktion von Geschlecht, Klasse und Ethnie als simultane Prozesse begreift, wird es möglich zu erkennen, dass die Relevanz dieser Ordnungsmuster je nach Interaktions-Kontext variieren kann“ (Fenstermaker und West 2002, S. 237). Dabei sollten auch Prozesse des ,undoing difference‘ berücksichtigt werden (dazu weiterführend Hirschauer 2014). Fasst man Identitätskategorien als Kategorien, die ein Verhältnis zu sich selbst bestimmen (vgl. Maihofer 2002, S. 25), so können sie für Individuen in bestimmten Lebenssituationen ebenso keine oder nur eine nachgeordnete Rolle spielen. Aufgrund fortschreitender Individualisierungsprozesse scheint es nicht sinnvoll, die Kategorien auf Geschlecht, Klasse und Ethnie zu 181

Zum anderen sind die Ebenen durch die sozialen Praxen von Einzelnen miteinander verbunden. Hierfür gelten die praxeologischen Arbeiten von Bourdieu als grundlegend. Daran anschließend entwerfen sich Subjekte durch Identitätskonstruktionen über soziale Praxen, über soziales Handeln und Sprechen. So verstärken oder vermindern sie den Einfluss symbolischer Repräsentationen, sie stützen gesellschaftliche Strukturen oder aber stellen sie infrage. Mitsamt stehen die Ebenen sowie die Praktiken der Akteur*innen in einem wechselseitigen Verhältnis, denn sie bilden auch den Rahmen sozialer Praktiken. Diese stellen sodann den methodologischen Ausgangspunkt der intersektionalen Mehrebenenanalyse dar (vgl. Degele und Winker 2009, S. 27).

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begrenzen. Als Konsequenz sollte die Anzahl der für die Analyse zur Verfügung stehenden und erforderlichen Kategorien auf dieser Untersuchungsebene prinzipiell offen gehalten werden. Methodisch ist dies etwa durch ein induktives Vorgehen im Sinne gegenstandsbezogener Theoriebildung (Grounded Theory) möglich. Dass dabei auch Prozesse des ,undoing difference‘ Berücksichtigung finden sollten, wird an diesem Punkt aufgegriffen und mit einem kurzen Exkurs zu der Perspektive des ,undoing difference‘ bezugnehmend auf Stephan Hirschauer (2014) flankiert. Exkurs: doing und undoing difference In seinem Artikel ,Un/doing Difference‘ beschäftigt Stephan Hirschauer (2014) sich mit der Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten. Er entwickelt einen analytischen Rahmen für die vergleichende Forschung zur Herstellung, Überlagerung und Außerkraftsetzung kultureller Differenzierung von Menschen, für das ,undoing‘ sozialer Zugehörigkeiten. Dabei skizziert er zunächst allgemeine Aspekte der Humankategorisierung und bezieht sodann das Konzept des ,boundary making‘ ein. Überdies diskutiert er das Denken von Mehrfachzugehörigkeiten in einer Perspektive der Kontingenz. Somit grenzt er sich von verschiedenen Theorien ab, die das Konzept der Mehrfachzugehörigkeit in unterschiedlichen Weisen auslegen, so etwa Theorien zu Intersektionaliät, Differenzierungstheorien oder Auseinandersetzungen mit multikultureller Hybridität. Hirschauer (2014) entwickelt eine Theorie der Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten, in der er die Temporalität von Kategorisierungen in seine Analysen mit einbezieht.182 Der Gewinn einer solchen Lesart liegt nicht zuletzt darin begründet, dass diese für einen Moment einen flüchtigen Schwebezustand, einen Moment der ,Ununterschiedenheit‘ und der ,In-Differenz‘ zwischen der Relevanz und Irrelevanz sozialer Unterscheidung zulässt, worin letztlich Unterschiede erkennbar gemacht werden (vgl. Hirschauer 2014, S. 170).

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Hirschauer (2014) legt seinem Entwurf einer kontingenzbewussten Forschungsanlage die Annahme zugrunde, dass sich die Verknüpfung sozialer Zugehörigkeiten in Mehrfachmitgliedschaften beziehungsweise von Differenzierungslinien in sozialen Prozessen theoretisch wie empirisch nur fassen lassen, wenn sie in der Forschung einander ähnlich Platz machen wie in der Alltagswelt. Dass Unterscheidungen zur Komplexitätsreduktion und zur Stiftung kultureller Ordnungen beitragen, bleibt unumstritten, jedoch dürfen einige Unterscheidungen für die Beobachter*innen ebenso ruhen wie für die Akteur*innen, die sie verwenden. Denn diese können nicht immer alle Unterscheidungen zugleich zur Darstellung bringen. Für die Forschung bedeutet dies, dass sie die Leitunterscheidung eines Forschungsfeldes zugunsten der Konkurrenz ihrer Leitunterscheidungen in der sozialen Praxis empirisch aufs Spiel setzen muss. Durch die komplexe Beforschung der Zugehörigkeiten von Individuen kann dadurch eine Mehrfachfokussierung gelingen. Dies ist – so Hirschauer (2014) – gleichbedeutend mit einer Mehrfachdezentrierung sozialer Unterscheidungen (vgl. Hirschauer 2014, S. 181). Folglich müssen Untersuchungen von der wechselseitigen Relativierung ausgehen. Das bedeutet, dass sie den eigenen Unterscheidungsgebrauch reflexiv mit beobachten und systematisch damit rechnen müssen, dass jede Differenzierung auch von anderen Unterscheidungen überlagertwird, an Relevanz verliert oder sogar verschwinden kann (vgl. Hirschauer 2014, S. 181).

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Angesichts der ausgeprägten Relativität von Unterscheidungen ist es zielführend, einen analytischen Rahmen zu entwickeln, der für die Multidimensionalität und Kontingenz von Kategorien offen ist und ein Denken in Mehrfachzugehörigkeiten ermöglicht (vgl. Hirschauer 2014, S. 173). Strukturkategorien werden in dieser Perspektive als Zugehörigkeiten betrachtet, die zumeist an Körpern ansetzen. An intersektionale (oder interdependente) Zugänge tragen Hirschauer (2014) sowie Villa (2010) die Kritik heran, dass darin Kategorien in sich geschlossen gedacht und dass bei der Betrachtung von Mehrfachzugehörigkeit die Spezifik der jeweiligen Kategorisierung sowie die unterschiedlichen Formen der Zugehörigkeit nicht hinreichend in den Blick genommen werden (Hirschauer 2014, S. 180). Nicht zuletzt birgt intersektionale Forschung so das Risiko, die Differenzen zu reproduzieren, deren Auflösung sie eigentlich verfolgen (weiterführend Hirschauer 2014, S. 181).183 Um eine angemessene Perspektivierung von Prozessen der Humandifferenzierung zu ermöglichen, entwirft Hirschauer (2014) ein Modell, in welchem die Kontingenz von Kategorien relevant gesetzt wird. Er legt seinen Argumentationen dafür ein spezifisches Verständnis des Kulturellen zugrunde. Dieses wird nicht in den Sphären des Sozialen und des Symbolischen gesehen, sondern es wird davon ausgegangen, dass das Kulturelle in verschiedenen Aggregatzuständen auftritt (vgl. Hirschauer, S. 2014, S. 187). Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die sozialtheoretische Annahme, dass kulturelle Unterschiede auf sinnhafte Unterscheidungen zurückgehen. Eingedenk ihrer Kontingenz lässt sich eine Perspektive darauf einnehmen, dass Unterscheidungen gezogen oder zurückgezogen, dass sie aufrechterhalten oder unterlaufen werden. So können sie bei der Begegnung mit anderen Unterscheidungen verstärkt oder verdrängt werden. Hiermit rückt folglich das komplexe Zusammenspiel von personenbezogenen Unterscheidungen in den analytischen Fokus. In seinen Ausführungen greift Hirschauer (2014) auf das (praxeologisch-konstruktivistische) Konzept des ,doing difference‘ (West und Fenstermaker 1995) zurück. Dieses basiert auf der ethnomethodologischen Grundannahme, dass alle sozialen Differenzierungen praktiziert werden müssen und somit Teil der Wirklichkeit im Vollzug darstellen (vgl. Hirschauer 2014, S. 182). In der Erweiterung der Konzeptualisierung des ,doing gender‘ „[…] as a routine, methodological, and ongoing accomplishment“ (Fenstermaker und West 1995, S. 9) um die Kategorien Klasse und Rasse bestimmen West und Fenstermaker (1995) ,Unterschiede‘ beziehungsweise ,differences‘ „as an 183

Soziale Unterscheidungskategorien werden als historisch genesen oder als sozial konstruiert gefasst. Zudem sind sie in Anlehnung an Hirschauer (2014) praktisch dekonstruierbar und somit negierbar (vgl. Hirschauer 2014, S. 184). Dabei können Kategorien im Modus der Sukzession auftreten und nicht nur gleichzeitig. Zudem können sie sich in signifikanter Weise gekreuzt präsentieren. Diese Kreuzung erachtet Hirschauer jedoch als gehaltvoller als die der im Ansatz der Intersektionalität. Zudem liegt ihre Stabilität oder Kontingenz in zwei ontologischen Registern begründet: der Kultur und der Natur.

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ongoing interactional accomplishment“ (vgl. ebd. 9). Die Herstellung von Unterschieden wird in einer solchen Perspektive praktisch vollzogen. Darüber wird nicht nur Macht ausgeübt, sondern gleichzeitig wird soziale Ungleichheit produziert. Somit rückt das praktische Tun von Differenz und Zugehörigkeit in den Mittelpunkt. Als Vermittler*innen dieser (differenzierenden) Praxis gelten die Individuen (vgl. Hirschauer 2014, S. 182). Das Konzept des ,doing difference‘ basiert folglich auf der Grundvorstellung, dass Zugehörigkeiten und Differenzen praktisch getan werden.184 Diesen Ansatz markiert Hirschauer (2014) jedoch als nicht hinreichend für eine angemessene Inblicknahme sozialer Unterscheidungen. Er schreibt diesem eine sozialtheoretische Enge zu und sieht zudem eine Leerstelle darin, das in diesem Prozesse des ,undoing‘ nicht hinreichend berücksichtigt werden.185 Hirschauer (2014) weist ausdrücklich darauf hin, dass Zugehörigkeiten auch immer nicht getan werden können. Die Relativierung und die Temporalität von Kategorien sollten stets berücksichtigt werden (vgl. 184

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Gemeinhin haben Kategorien, wie etwa die von Fenstermaker und West (2001) angeführten Kategorien Geschlecht, Klassen und ,Rasse‘, eine Ordnungsfunktion inne und tragen somit grundlegend zur kulturellen Ordnung bei, da sie :erstens Kategorisierungen (subsumierende perzeptive Zuordnungen von Objekten zu sprachlichen Bezeichnungen), zweitens Identifizierungen (schwankende affektive Assoziationen im Selbstverständnis von Akteur*innen) und drittens selektive Sozialbeziehungen (soziale Assoziationen) erlauben. In einer solchen Perspektive lassen Kategorisierungen sich als Einordnungen mit Hilfe einer Unterscheidung markieren, die im Rahmen einer Vergleichsperspektive gemacht wird. Zudem erscheinen zwei Objekte dadurch – welche in einer Hinsicht gleich gesetzt wurden – nach bestimmten Kriterien ,gleich‘ oder ,ungleich‘ (vgl. Hirschauer 2014, S. 173). Zugleich lassen Kategorien sich als (kulturelle) Phänomene betrachten, die aus kontingenten und sinnhaften Unterscheidungen bestehen, welche von historisch und geographisch spezifischen Kontexten geprägt sind. Zu Praktiken kultureller Kategorisierung zählen Grenzziehungen im Rahmen von Gemeinschaftsbildungen (,wir‘/,die‘), Grenzziehungen entlang sprachlicher, religiöser, ethnischer und nationaler Marker oder innergesellschaftliche Teilungen nach Geschlecht oder Leistungsklassen. Kategorien werden in situierten Praktiken verwendet um sich und andere zu identifizieren. Sie werden unter anderem in Deutungsmustern und Redensarten verstetigt. Im Alltag werden die Effekte von sinnhaften Unterscheidungen als ,individuelle ,Eigenschaften’ von etwa ,Menschensorten‘ wahrgenommen. In soziologischer Perspektive hingegen werden Eigenschaften als Mitgliedschaften gefasst, das heißt als mit anderen geteilte (und nicht bloß individuelle) Eigenschaften, die Menschen zu Exemplaren sozialer Gebilde, insbesondere von Kollektiven, machen. Folglich sind der Wahrnehmung individueller Eigenschaften soziale Differenzierungen zwischen gruppenartigen Entitäten immanent (vgl. Hirschauer 2014, S. 101-171). Die Forschung wird mit der enormen Heterogenität von Varianten der Humandifferenzierung sowie mit unterschiedlichen Intensitäten von Mitgliedschaften konfrontiert (vgl. Hirschauer 2014, S. 171). Heterogen sind Humandifferenzierungen, da die Spannbreite der Klassifikationen (Unterscheidunsgdimensionen) sehr breit ist. Sie kann Zugehörigkeiten wie Alter, Geschlecht, Klasse, Statusgruppe, Generation, Milieus, Berufsgruppen, aber auch anders gelagerte Differenzen von Normalität und Devianz, Ethnizität, religiöse Zugehörigkeit, nationale Differenzierung, Rasse, Leistung oder Attraktivität umfassen (vgl. Hirschauer 2004, S. 171). Zudem sind Mitgliedschaften von unterschiedlicher Intensität. Einige sind institutionell festgelegt, so etwa die Staatsangehörigkeit. Zudem gibt es sozial gelebte aktive Mitgliedschaften in Gruppen sowie distanziertere Zugehörigkeiten oder ruhende Mitgliedschaften. Nicht zuletzt bleiben Zugehörigkeiten rein kategorial oder reine Beobachter*innenkonstruktionen, wenn sie lediglich von Beobachter*innen festgestellt werden (vgl. Hirschauer 2014, S. 170). Hierfür erweist es sich als gewinnbringend, das Kategorisieren selber zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis zu machen (vertiefend Hirschauer 2014, S. 172-173).

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Hirschauer 2018, S. 182).186 „In dem Maße, in dem sinnhafte Unterscheidungen praktisch vollzogen werden, kann dieser Vollzug unterbrochen oder eingestellt werden, können Mitgliedschaften situations- und feldspezifisch deaktiviert werden“ (Hirschauer 2014, S. 182). Es lässt sich pointieren, dass Zugehörigkeiten immer auch nicht getan werden können, wenngleich dies empirisch kaum beobachtbar ist. Zugleich findet am Rande des ,undoing‘ ein Wechsel zu anderen Unterscheidungen statt. Der von Hirschauer (2014) eingeführte Begriff des ,undoing‘ versucht also einen flüchtigen Schwebezustand der Kontingenz begrifflich festzuhalten, einen Moment der Ununterschiedenheit, der In-Differenz. Der Gewinn liegt Hirschauer (2014) zufolge darin, dass die evidente Konkurrenz, das Ablösen von Leitunterschieden in sozialen Prozessen theoretisch besser fassbar wird (vgl. Hirschauer 2014, S. 184) 187 Die Konkurrenz von Unterscheidungen und die wechselseitigen Verweisungszusammenhänge sollten berücksichtigt werden, wenn man Mehrfachzugehörigkeiten in ihrer Dynamik erfassen will (vgl. Hirschauer 2014, S. 184).188

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Kategorien werden in situierten Praktiken verwendet, um sich und andere zu identifizieren. Sie werden in Deutungsmustern und Redensarten verstetigt. Mitsamt machen Kategorien unterschiedlich, genauso wie sie gleich machen (vgl. Hirschauer 2014, S. 174). Kategorien werden auch von Organisationen aufgegriffen, in administrative Vorgänge eingepflanzt und durch Massenmedien verbreitet. Somit werden Kategorien institutionalisiert. Am Ende kann sich eine spezifische Identität als ein spezifischer Aggregatzustand (subjektiver Sinnbildung) herausbilden. Dies könnte mit dem Begriff der Objektivierung gefasst werden. Berücksichtigt man jedoch die Vielschichtigkeit sozial sinnhafter Phänomene, so reicht es nicht aus, lediglich eine Sinnschicht zu untersuchen, da ihre Stabilität genauso wie ihre Kontingenz überschätzt wird. In der Perspektive von Hirschauer (2014) zeigt sich: Kulturelle Humandifferenzen können diverse Kombinationen eingehen (Kreuzungen); sie können verschieden gerahmt werden (Kultur/Natur), sie können in andere Sinnschichten des Kulturellen – sprich in andere Aggregatzustände – übergehen, sie können sich verflüssigen, sie können deinstitutionalisiert werden oder in Interaktionen übergehen, sie können sich in Körpern und Artefakten sedimentieren (vgl. Hirschauer 2014, S. 188). Die stetige Bewegung multipler Kategorisierungen bewegt sich dabei zwischen Verstärkung und Überlagerung, Stabilisierung und Vergessen, Thematisierung und Dethematisierung (vgl. Hirschauer 2014, S. 181). Folglich muss die Frage ins Zentrum gerückt werden, welche Differenzen wo und wann in Kraft treten. Damit wird ihre Kontingenz gesetzt. Eine Korrektur kann diese durch Relativierung oder Temporalisierung erfahren (vgl. Hirschauer 2014, S. 181). Mitsamt werden (kategoriale) Zugehörigkeiten in sozialen Praktiken und somit in spezifischen Situationen (sozial) relevant und folgenreich. Dabei sind nicht alle Zugehörigkeiten immer relevant oder eindeutig auf ein Unterscheidungsmerkmal zurückzuführen. Die Konstruktion kultureller Kategorien ist sodann als ein potenziell unabschließbarer Prozess zu denken, der von zwei dauerhaften Funktionen angetrieben wird. „Zum einen von der grundlegenden Ordnungsleistung der Bannung desorientierter Ambiguität ([…]; zum anderen von der Selbstverortung des Unterscheiders, der sich mit der Identifizierung von ,Anderen‘ seiner selbst vergewissert“ (Hirschauer 2014, S. 173). Unterscheidungen sind zudem relational und machtvoll, da mit ihnen Asymmetrien gesetzt werden, die bis hin zu Aufund Abwertungen reichen (vgl. Hirschauer 2014, S. 174). Auf die Frage danach, wie Praktiken und Prozesse der Humandifferenzierung, der Kategorisierung und Differenzierung konzeptualisiert werden können, positioniert Hirschauer (2014) das Konzept der Grenze und bringt dies in Verbindung mit Fragen der sozialen Verhärtung kultureller Differenzierungen sowie mit Mehrfachzugehörigkeiten. Hirschauer (2014) verwendet den Begriff des ,boundary making‘. Der Gewinn einer grenzanalytischen Perspektive liegt mitunter darin, dass es die Dynamisierung

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...und wieder Intersektionalität Auch wenn Zugehörigkeiten im Kontext von Kategorien nicht vollzogen werden, so können hingegen in sozialen Prozessen sehr unterschiedliche Kategorien, Unterscheidungen und Klassifizierungen zum Tragen kommen.189 Es lässt sich bündeln, dass es bei Identitätskonstruktionen entlang verschiedenartiger Differenzkategorien erstens um die Verminderung von Unsicherheiten in der eigenen sozialen Positionierung durch Ab- und Ausgrenzung von Anderen sowie zweitens um die Erhöhung von Sicherheit durch Zusammenschlüsse und eine verstärkte Sorge um sich selbst geht. Damit streben Individuen nicht nur selbst nach Absicherung, sondern sie halten auch ein umfassendes und vielfältiges Differenzierungssystem aufrecht (vgl. Degele und Winker 2007, S. 6). Auf der Ebene der Identitäten sollte die Anzahl der zu untersuchenden Kategorien offengehalten und diese induktiv aus dem Material heraus geschlossen werden. Für die Strukturebene gestaltet es sich anders. Auf dieser Ebene scheint eine Auswahl und die Festlegung auf diverse Kategorien durchaus begründbar. Strukturebene Auf der Ebene der Strukturen ist die Frage danach vordergründig, welche Sozialstrukturen die zu untersuchenden Phänomene und das damit verbundene Handeln (ein)rahmen. Für die Strukturebene wählen Degele und Winker (2007, 2009) die vier (Struktur-) Kategorien Klasse, Geschlecht, Rasse und Körper aus.190 Diese Differenzierungen bestimmen nicht nur die strukturellen Herrschaftsverhältnisse in kapitalistisch organisierten Gesellschaften, sie verteilen die verschiedenen Arbeitstätigkeiten ungleich auf verschiedene Personengruppen, ebenso wie die vorhandenen gesellschaftlichen Ressourcen. Anhand dieser Kategorien lassen sich damit verbundene Ausbeutungs- und Diskriminierungsstrukturen aufzeigen und rekonstruieren. Die

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der Grenze sowie von Mitgliedschaften berücksichtigt und deren Variation in einer komparativen Perspektive entfaltet (vgl. Hirschauer 2014, S. 174). Dieses Vorgehen wird exemplarisch anhand von Auseinandersetzung mit dem Alltag erwerbsloser Personen nachgezeichnet. Es wird die Annahme zugrunde gelegt, dass Differenzierungen unter neoliberalen Vorzeichen an Stabilität verlieren und unterschiedlichste Brüche und Widersprüche zu beobachten sind. In einer solchen Situation versuchen Individuen, mit verstärkten Rückgriffen auf traditionelle und/oder neuartige Differenzierungslinien durch Abgrenzung von Anderen Unsicherheiten zu vermindern, um die eigene Sicherheit zu erhöhen. Mitsamt gilt die Annahme grundlegend, dass sich in kapitalistisch organisierten Gesellschaften fundamentale strukturelle Herrschaftsverhältnisse anhand dieser vier Kategorien bestimmen lassen. Die in den Sozialwissenschaften gängige ,Trias‘ von Rasse, Klasse und Geschlecht wird somit um die Kategorie Körper erweitert. Denn sowohl Alter wie körperliche Verfasstheit, Gesundheit und Attraktivität sind in den letzten Jahrzehnten vor allem bezogen auf die Arbeit immer bedeutsamer geworden. Körper entscheiden über die Verteilung von Ressourcen. So weist Chris Shilling (2005) in seinen Überlegungen zu einer verkörperten Theorie des Sozialen auf eine bislang vernachlässigte Bedeutung von Körpern hin, denn nicht zuletzt fungieren sie als Mittel der Positionierung von Individuen und der Bildung sozialer Strukturen (vgl. Degele und Winker 2007, S. 7).

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vier Strukturkategorien beschreiben Prozesse und Verhältnisse innerhalb der kapitalistischen Akkumulationslogik (vgl. Degele und Winker 2007, S. 7), aus denen sich Herrschaftsverhältnisse ableiten lassen. Degele und Winker (2009, 2010) zufolge sind dies Klassismus für Klasse, Sexismus/Heteronormativität für Geschlecht, Rassismus für ,Rasse‘ und Bodismus für Körper. Jedoch ist kein Herrschaftsverhältnis als dominant vorauszusetzen, denn vordergründig gelten ihre Verwobenheiten. Dass diese Herrschaftsverhältnisse durch handlungsorientierte und strukturbildende Normen und Ideologien abgesichert werden, wird im anschließenden Part weitergeführt. Gemein ist den vier Kategorien, dass sie zur möglichst kostengünstigen Reproduktion der Arbeitskraft beitragen (vgl. weiterführend Degele und Winker 2007); dies etwa, indem sie erstens den Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt steuern, zweitens die Verteilung gesamtgesellschaftlicher Ressourcen über den Lohn differenzieren und drittens die Reproduktionsarbeit ungleich zuweisen. 191 Bilanzierend lässt sich festhalten, dass anhand der vier Strukturkategorien Klasse, Rasse, Geschlecht und Körper strukturelle Dominanz- und Herrschaftsverhältnisse bestimmt werden können. Mitsamt beschreiben diese Kategorien Prozesse und Verhältnisse innerhalb der kapitalistischen Akkumulation. Sie verteilen überdies die verschiedenen Arbeitstätigkeiten. Dabei umfassen sie sowohl Produktions- als auch Reproduktionstätigkeiten, genauso wie vorhandene gesellschaftliche Ressourcen, die ungleich auf verschiedene Personengruppen verteilt sind (vgl. Degele und Winker 2009, S. 53). Möglich ist es mit diesen Kategorien damit verbundene Ausbeutungs- und Diskriminierungsstrukturen aufzuzeigen und zu rekonstruieren (vgl. Degele und Winker 2009, S. 53). Ein- und Ausschlüsse entlang dieser vier Strukturkategorien halten mitnichten eine ungleiche Ressourcenverteilung aufrecht (vgl. Degele und Winker 2009, S. 53). Ebene der symbolischen Repräsentationen Auf der Ebene der symbolischen Repräsentationen stellen sich Fragen danach, wie untersuchte Phänomene mit Normen und Ideologien verbunden sind. 192 Anhand der

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Auf der Strukturebene geht es um die Einbindung sozialer Praxen in strukturelle Herrschaftsverhältnisse. Zwecks analytischer Aussagekraft reklamieren die Autor*innen für diese Ebene den Anspruch, die Auswahl von Kategorien gering zu halten. Scheint es für die Strukturebene sinnvoll, Kategorien deduktiv zu setzen, so verhält es sich auf der Ebene der Identitätskonstruktionen und der symbolischen Repräsentationen anders. Über diese positionieren sich Einzelne in ihren sozialen Praxen. Für jene Ebenen scheint ein induktives Vorgehen sinnvoll, in dem auch die Anzahl der Kategorien offengehalten wird. Die Vielzahl von Kategorien sowie deren Relevanz zeigt sich dann in den jeweiligen Untersuchungen. (vgl. Degele und Winker 2009, S. 28). Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass Gesellschaften durch gemeinsame Werte, durch eine kulturell-soziale Ordnung als sinnstiftendes Prinzip und gemeinsamen Erfahrungshorizont sinnhaft integriert sind. Die sozialen Repräsentationen sind demnach Träger sowie Manifestationen der sinnstiftenden Strukturen, aufgrund derer die Mitglieder einer Gesellschaft sinnhaft miteinander interagieren

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dargestellten Strukturkategorien Klasse, Geschlecht, ,Rasse‘, Körper sollen für die dritte Ebene hegemoniale Normen und Stereotype herausgearbeitet werden, die Individuen tagtäglich performativ hervorbringen. Mit diesen vier Kategorien kann nicht jede einzelne im Zusammenhang mit Arbeit hervorgebrachte Norm, Ideologie oder Repräsentation erfasst werden, beschreibbar sind aber auch die hegemonialen Diskurslinien und die damit verbundenen Einsprüche und Gegenentwürfe (vgl. Degele und Winker 2007, S. 9). Die Kategorien tragen zum einen zur Subjektivierung bei, zum anderen stützen sie Macht- und Herrschaftsverhältnisse. An dieser Stelle lassen sich Rückbezüge zu den Arbeiten von Judith Butler herstellen, in denen auf die Wirkmächtigkeit von Diskursen, insbesondere auf die Kraft von sich ständig wiederholender und zitierender sprachlicher Praxis, verwiesen wird (Butler 1991, S. 22). Die diskursive Thematisierung und Verbindung der Kategorien auf der symbolischen Repräsentationsebene erweisen sich jedoch grundlegend auch im Intersektionalitätsansatz als problematisch.193 Die Repräsentationsebene ist eine wirkmächtige Dimension

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können. Sie umfassen Bilder, Ideen, Gedanken, Vorstellungen und Wissenselemente, die die Mitglieder einer Gesellschaft miteinander teilen. Als beispielhaft gilt das Alltagswissen zu Geschlecht und Sexualität (vgl. Degele und Winker 2007). Degele und Winker (2007) führen an, dass etwa die Kategorie Klasse ihre naturalisierte Bedeutung weitgehend verloren hat. Klassen gelten als gesellschaftliche Positionen, die sich relational aufeinander beziehen und die die Einzelnen beeinflussen können. Insbesondere vor dem Hintergrund neoliberaler Entwicklungen werde immer wieder aufs Neue die Eigenverantwortung eines jeden Individuums betont. Mit der Abkehr vom sozialorientierten Wohlfahrtsstaat sind alle gefordert, sich permanent zu verändern, lebenslang zu lernen und sich selbst zu ernähren. In seinen Gouvernementalitätsstudien sieht Michel Foucault als zentralen Punkt der neoliberalen Regierungsrationalität ein Modell der Selbstführung. Das Subjekt wird dazu aufgerufen, sich im Rahmen der Ökonomisierung des Sozialen als ,Unternehmer seiner selbst‘ (Foucault 2014, S. 314) zu entwerfen. So scheint es wenig wunderlich, dass gesellschaftliche Diskurse immer wieder darauf verweisen, dass sich auch Erwerbslose aus eigener Kraft (wieder) in den Arbeitsmarkt integrieren können und auch prekär Beschäftigte Aufstiegschancen in eine so genannte Normalbeschäftigung haben. Hier wirkt die Meritokratie als ein anerkanntes, performativ wirksames Prinzip, das als Norm im Allgemeinwissen verankert ist. Anders verhält es sich mit den Kategorien Rasse und Geschlecht, deren Relationalität und Unterscheidbarkeit sich auf eine naturalisierte Differenz bezieht. Mit dieser Naturalisierung gewinnen beide Kategorien ihre besondere Bedeutung für die Gesellschaft, da sie nicht hinterfragbar scheinen. Obwohl ,Rassen‘ weder etwas ,Reales‘ noch etwas ,Natürliches‘ sind, sondern als imaginiert erscheinen, begreifen sich Menschen in hegemonialen Diskursen innerhalb einer Rasse, einer ethnischen, nationalen oder auch regionalen Gruppe als Community. Die zentrale Spaltung ist dabei die zwischen ,Wir‘ und ,die Anderen‘. Daran hängen wiederum andere bewertende Differenzierungen wie etwa ,modern‘/,vormodern‘, ,Zentrum‘/,Peripherie‘, ,zivilisiert‘/,unzivilisiert‘ , ,Weiß‘/,Schwarz‘, ,rational‘/,emotional‘, ,triebbeherrscht‘/,triebhaft‘ oder ,vernunftgeleitet‘/,instinktgeleitet‘. Die so konstruierte Differenz folgt indes dem Muster einer asymmetrischen Bezeichnungspraxis. Eine als naturgegeben behauptete Differenz stützt den Herrschaftsanspruch. Die vermeintliche Natürlichkeit von Zweigeschlechtlichkeit und daran geknüpft von Heterosexualität (vgl. Villa 2006, S. 158-176) bildet möglicherweise den härtesten Stabilitätskern des Alltagswissens. Im Gegensatz zu den anderen Katgeorien ist diese von einer weitgehenden Performanz geprägt. Diskursive Beschreibungen körperlicher Phänomene fokussieren verstärkt auf die Gestaltbarkeit und Veränderbarkeit von Alter, Leistungsfähigkeit und Aussehen. In diesem Zusammenhang zeigen sich neoliberale Botschaften, denen zufolge jedes Individuum für sich selbst verantwortlich ist. (vgl. Degele und Winker 2009, S. 10).

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bei der Bildung und Aufrechterhaltung ungleichheitsgenerierender Kategorien, denn Diskurse und symbolische Repräsentationen wirken sowohl als Ideologien und Normen der Rechtfertigung für Ungleichheiten wie auch als Sicherheitsfiktion. Sie gehen ebenso in Bildungen der Strukturen und der Identitäten ein (vgl. Degele und Winker 2007, S. 10).194 Diese zusammengetragenen – wenn auch verkürzten – Erkenntnisse lassen sich bündeln: Intersektionale Perspektiven ermöglichen eine integrierte Sicht auf die Komplexität sozialer Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse. Durch eine intersektionale Perspektive lassen sich strukturelle Dominanz- und Herrschaftsverhältnisse auf drei Ebenen – der Mikroebene der Interaktionen, der Makroebene der gesellschaftlichen Strukturen und der Mesoebene der symbolischen Repräsentationen – entlang der Strukturkategorien Klasse, Geschlecht, Rasse und Körper herausarbeiten. An den Grenzen dieser werden gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse verhandelt, ungleiche Ressourcenaufteilung sowie Formen von Privilegierung und Deprivilegierung aufrechterhalten. Als eine wesentliche Stärke des Intersektionalitätskonzeptes – als Erkenntnis- und Analyseperspektive – ist herauszustellen, dass gesellschaftsbestimmende und realitätsschaffende und damit ungleichheitsgenerierende Machtweisen analytisch nicht auf ein dominantes Strukturmerkmal reduziert, sondern in ihrer Komplexität und Verwobenheit erkannt werden. Der Gewinn des Ansatzes liegt indes darin, dass er Wechselwirkungen und Zusammenhänge von Kategorien und Ebenen konkretisiert.195

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Methodologisch werden die Ebenen der Strukturen, der symbolischen Repräsentationen sowie der Identitäten mit einem praxeologischen Ansatz verbunden und sodann die sozialen Praktiken der Akteur*innen zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung gemacht (vgl. Degele und Winker 2009). Dies bedeutet für die intersektionale Mehrebenenanalyse auf Praktiken der Unterscheidung zu fokussieren, mit denen die Akteur*innen sich selbst darstellen und somit ihre Identität konstruieren. Das konkrete methodische Vorgehen wird hier nicht weitergehend vertieft. Es wird lediglich darauf hingewiesen, dass sich das Vorgehen einer intersektionalen Analyse dadurch auszeichnet, dass es von der Perspektive der Akteur*innen ausgehend Praxen betrachtet und diese relationiert. Das bedeutet, dass gefragt wird, auf welche Kategorien sich Akteur*innen bei ihren Relationierungsprozessen beziehen, welche Normen, Leitbilder und Deutungsmuster darin wirksam werden, sowie in welchen strukturellen Rahmenbedingungen sie sich bewegen. In einem weiteren Schritt werden die Untersuchungsebenen zueinander in Beziehung gesetzt und die Wechselwirkungen zwischen Strukturkategorien berücksichtigt. Methodisch bedeutet dies, eine überraschungsoffene und theoriegeleitete Forschung in einem zu kombinieren. Auf der Ebene der Strukturen ist die Auswahl der Kategorien eingegrenzt, auf der Ebene der Identitäten und der Repräsentationen sind diese offen. Die Vorgehensweise ihrer Kombination versteht sich im Konzept Intersektionalität nach Degele und Winker (2009) als ein Wechselspiel deduktiver und induktiver Vorgehensweisen. Theorie fungiert indes als heuristisches Werkzeug, das ermöglicht, den Gegenstandsbereich zu erschließen und in theoretische Sprache zu übersetzen. Theoretisch ermöglicht der Ansatz Intersektionalität Vielfältigkeit und vermeidet Beliebigkeit von Kategorien, er fordert zur Benennung der jeweils gewählten Untersuchungsebene auf und trägt dazu bei, Reduktionismen zu vermeiden. Beispielsweise können soziale Praxen auf der Identitätsebene in ihrer Vielfalt beobachtet und mit von Akteur*innen benannten und über andere Materialien konkretisierten

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Für die theoretische und empirische Beforschung der Dimensionen des Körperlichen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit fungiert Intersektionalität nicht als Analyseperspektive, sondern als heuristischer Rahmen. Dadurch ist eine integrierte Sicht auf die Komplexität und Verschränkungen der (ungleichheitsstrukturierenden) Kategorien und der damit korrespondierenden Dominanz- und Ungleichheitsverhältnisse im Offenen Kinder- und Jugendtreff möglich. Die sozialen Strukturkategorien sind dabei soziale Ordnungsmedien, durch die soziale Wirklichkeit einerseits und (asymmetrische) soziale Strukturierung andererseits konstruiert, produziert und reproduziert werden. Darüber werden auch sozialer Ein- und Ausschluss reguliert sowie Lebensvoraussetzungen und soziale Ressourcen (ungleich) verteilt. Gleichsam werden diese Verhältnisse über hegemoniale Differenzordnungen diskursiv und praxeologisch-interaktiv re-produziert. Zielführend ist es, verschiedene Formen von Ein- und Ausschließung und die Reproduktion sozialer Ungleichheitsverhältnisse konzeptuell und begrifflich einzufangen, Widersprüche empirisch zu rekonstruieren und erklärbar zu machen (vgl. Degele und Winker 2010, S. 79). Dass zu den extremsten Formen sozialer Ungleichheit die Unterscheidung von Zugehörigkeit und Ausschluss gilt, darauf verweisen Bereswill und Ehlert (2017, S. 501). Dass und in welcher Weise sich intersektionale Perspektiven als anschlussfähig für die Offene Kinder- und Jugendarbeit erweisen, wird in einem kurzen Exkurs aufgenommen. Exkurs: Intersektionale Perspektiven für die Soziale Arbeit Die Differenzkategorien Klasse, Geschlecht, ,Rasse‘ und Körper formieren nicht lediglich strukturelle Ungleichheitsverhältnisse, sondern damit auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit. Strukturelle Ungleichheitsverhältnisse organisieren die Lebenswelten potenzieller Adressat*innen der Profession. 196 Diese

196

Diskursen und Strukturen verknüpft werden. Auf diese Weise ermöglicht das Konzept Intersektionalität die Wechselwirkungen verschiedener Kategorien und Ebenen zu analysieren. In seiner Ausrichtung bilden Identitätskonstruktionen den Ausgangspunkt der intersektionalen Analyse. Auf dieser Eben werden in besonderer Weise Naturalisierungen und Stereotypisierungen wirkmächtig. Die intersektionale Analyse bleibt jedoch nicht auf dieser Ebene verhaftet, sondern geht über diese hinaus, indem sie sie in Verbindung mit Ungleichheitsstrukturen setzt. Das Problem der Reifizierung von Kategorien nimmt dieser Ansatz ebenso ernst, indem er Kategorien auf der Ebene der Identitäten zunächst offen hält und rekonstruiert, welche von den Beforschten eingebracht werden. Daran anschließend werden diese an gesellschaftliche Strukturen und symbolische Repräsentationen zurückgebunden. Damit – so Degele und Winker (2009) – können naturalisierte und hierarchisierte Differenzkonstruktionen in ihrer alltäglichen Wirkung sichtbar und als Ideologien identifizier- und angreifbar gemacht werden. Anzumerken ist ferner, dass der Ansatz am Prinzip der Dekonstruktion als Perspektive für die Auseinandersetzung mit Differenzierungskategorien orientiert ist. Dieses erweist sich als vielversprechend auf allen drei Ebenen (vgl. Degele und Winker 2007, S. 15). Soziale Arbeit agiert in sozialen Differenzverhältnissen. Der Umgang mit gesellschaftlich ungleich strukturierten Machtverhältnissen ist ambivalent. Im Bezug auf Differenz liegt die Gefahr der Reifizierung und somit darin, an der Reproduktion gesellschaftlicher Dominanz- und Ungleichheitsverhältnisse beteiligt zu sein (vgl. Riegel 2012, S. 49). Mit dem Bezug auf Differenz und dem Benennen dieser besteht zwar zum einen eine wesentliche Voraussetzung zur Anerkennung von Differenz und

Über die Komplexität von Verhältnissen sozialer Ungleichheit

123

nehmen mitunter benachteiligte Statuspositionen ein und werden dementsprechend von Sozialer Arbeit adressiert. Soziale Ungleichheit bezieht sich auf eine ungleiche Verteilung von Lebenschancen und eine ungleiche Verteilung von Ressourcen in gesellschaftlichen sozialen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen. Dabei geht es nicht nur um Differenz, sondern vielmehr um die Konsequenzen, gemeinhin um Formen der Privilegierung und Deprivilegierung, um den Zugang oder die Verwehrung von und zu Ressourcen und gesellschaftlicher Teilhabe. Eine intersektionale Erkenntnisund Analyseperspektive (vgl. vertiefend Riegel 2009) ermöglicht eine Forschungsaufmerksamkeit, die unterschiedliche Dimensionen in ihrem Zusammenspiel erfassen und in Analysen berücksichtigen kann: Zum einen die strukturelle Makro-Ebene der gesellschaftlichen Bedingungen, zum anderen die Mikro-Ebene der Interaktionen der gesellschaftlichen Subjekte und darüber hinaus die Ebene der symbolischen Repräsentationen, subjektiven Deutungs- und Sinngebungsmomente, welche wiederum Handlungen und Gestaltungen generieren. Intersektionaliät erweist sich also dann als sinnvoll, wenn es um Fragen sozialer Ungleichheit oder sozialer Gerechtigkeit geht, um Prozesse der Diskriminierung oder Anerkennung sowie Auswirkungen gesellschaftlicher Globalisierungs- und Differenzierungsprozesse für Gruppen oder Subjekte (vgl. Riegel 2012, S. 40-41).197 Als soziale und gesellschaftliche Strukturierungen präformieren diese Verhältnisse auch die Möglichkeitsräume der Subjekte. Nebst einer differenzierten Inblicknahme sozialer Ungleichheits- und Machtverhältnisse eignen sich intersektionale Sichtweisen jedoch auch, um für einseitige und naturalisierende Deutungsmuster von Kultur, Migration und Geschlecht zu sensibilisieren und diese in ihrem zuschreibendem Charakter zu dekonstruieren (vgl. ebd. 2012, S. 51).198

197

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der damit verbundenen Diskriminierungen und Benachteiligungen, zum anderen birgt eine dezidiert differenzbezogene Perspektive immer auch die Gefahr der Essentialisierung und Naturalisierung binärer Differenzordnungen und damit auch von Zuschreibungen von ethnisierten, vergeschlechtlichenden, milieu- und auch körperbezogenen Zuschreibungen und Stigmatisierungen von potenziellen Adressat*innen Sozialer Arbeit (vgl. Riegel 2012, S. 49). Hier liegen die Möglichkeiten und die Perspektiven für Soziale Arbeit in ihrer Bezugnahme auf die Herausforderung im Umgang mit komplexen sozialen und gesellschaftlichen Ungleichheits- und Differenzverhältnissen (vgl. Riegel 2012, S. 41). „Eine mehrebenenanalytische Betrachtung ermöglicht es, gesellschaftliche und soziale Verhältnisse auf darin liegende Strukturwidersprüche sowie auf institutionalisierte, kollektive und subjektiv begründete Praxen ihrer Herstellung als interdependente soziale Phänomene zu analysieren und ihre ein- und ausgrenzenden und normierenden Folgen für Prozesse der Unterdrückung, Diskriminierung und Marginalisierung zu rekonstruieren“ (Riegel 2012, S. 45). Dass eine integrative und insbesondere transdisziplinäre, intersektionale Forschungsperspektive in der Jugendforschung aussteht, darauf verweisen etwa Riegel et al. (2009).

124 2.3

Soziale Ungleichheit und Körper Verkörperung ist immer mehr

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Intersektionalität Mitsamt nimmt das Konzept der Intersektionalität im Rahmen dieser Arbeit den Status eines ungleichheitstheoretischen Ansatzes ein, der die (konkrete) Komplexität sozialer Ungleichheit sowohl der Normen und Strukturen sowie der sozialen Praktiken berücksichtigt.199 Intersektionalität wird in die Arbeit folglich als heuristischer Rahmen eingeführt. Erstens bietet dieser die Möglichkeit eine integrierte Sicht auf Verhältnisse sozialer Ungleichheit einzunehmen, in denen Adressat*innen der Kinderund Jugendhilfe situiert sind, und die ihre Teilhabemöglichkeiten in spezifischer Weise präformieren (vgl. Villa 2013, S. 218).200 Damit fungiert Intersektionalität als eine Art Gedächtnisstütze, um eben die Komplexität und Intersektion vieler konstitutiver Kategorien bewusst zu halten. Zweitens ermöglicht dieser Ansatz den Blick dafür zu schärfen, dass soziale Ungleichheits- und Machtverhältnisse auf verschiedenen Ebenen konstituiert und reproduziert werden und diese nicht unabhängig voneinander zu betrachten sind. So weist auch Villa (2013) ausdrücklich darauf hin, dass die Stärke des Intersektionalitätsansatzes darin besteht, dass dieser die konkrete Komplexität von Normen und Strukturen als auch der Praktiken berücksichtigt. Der Blick auf lediglich eine Dimension reicht also nicht aus, wenn es um das Verständnis der kollektiven wie individuellen Ausprägungen sozialer Ungleichheit geht. Der Status einer Person im Rahmen der Sozialordnung ergibt sich eben nicht aus einer einzigen Dimension, sondern aus einer Vielzahl von Verortungen und Zugehörigkeiten beziehungsweise Ausschlüssen (vgl. Villa 2009). Somit wäre es eine verkürzte Betrachtung, den Blick auf nur je eine Dimension zu richten, wenn es um das Verständnis der kollektiven sowie individuellen Ausprägungen sozialer Ungleichheit geht (vgl. Villa 2007).

199

200

Auch für die empirische Analyse bieten sich einige Anknüpfungspunkte. So erscheint es für die Ebene der Strukturen im Jugendtreff sinnvoll, nach ordnenden Kategorien zu suchen und diese ,einzugrenzen‘. Damit ist angesprochen, wie und durch welche Kategorien der Jugendtreff zunächst sozial strukturiert und geordnet wird. Jedoch zeigte sich auch, dass dies auf der Ebene der Bedeutungen sowie auf der Ebene der Praktiken von begrenztem Nutzen ist. Denn auf der praktischen Ebene, auf der mimetische Prozesse der Verkörperung eine entscheidende Rolle spielen, konstituieren Kategorien wie etwa Sexualität, Gender, Klasse, ,Rasse‘ oder Ethnizität körperliche Praktiken zwar, determinieren diese aber nicht (vgl. Villa 2010, S. 217). Für die theoretische und insbesondere für die empirische Zugehensweise zu Interaktionen in ihrer somatischen Dimension im Jugendtreff erweist sich diese Erkenntnis als eine große Herausforderung. Als einen möglichen Umgang damit stellt Villa (2013) heraus, diejenigen Kategorien, die soziale Strukturen konstituieren, zu de-ontologisieren, um sie dann zu prozessualiseren. Konkret bedeutet dies, der Komplexität körperlicher Praktiken innerhalb von Kategorien Rechnung zu tragen (vgl. Villa 2013, S. 217-218).

Verkörperung ist immer mehr

125

Drittens lassen sich Ordnungen bezugnehmend auf Sichtweisen der Körpersoziologie als verkörperte Ordnungen perspektivieren. Damit lässt sich nun soziale Ungleichheit als ein fortwährender, komplexer und in gewisser Weise ,unordentlicher‘ Prozess deuten (vgl. Villa 2007). Die Formen sozialer Ungleichheit sind indes sowohl auf der Makroebene des Sozialen wie auf der Mikroebene hochgradig komplex. Ungleichheitslagen und Differenzachsen laufen intersektional, das heißt verschiedene Dimensionen sind miteinander verknüpft, und dadurch verändern sie sich wechselseitig. Insofern Körper von sozialen Verhältnissen geprägt werden, repräsentieren sie Soziales und folglich soziale Ungleichheits-, Macht und Herrschaftsverhältnisse. Wenngleich das Konzept Intersektionalität die konkrete Komplexität sowohl von Normen und Strukturen als auch der Praktiken berücksichtigt, so ist es auf der praktischen Ebene, auf der mimetische Prozesse der Verkörperung eine ganz wesentliche Rolle spielen, nur begrenzt anschlussfähig. Zwar konstituieren Kategorien wie Sexualität, Gender, Klasse, ,Rasse‘ oder Ethnizität körperliche Praktiken, jedoch determinieren sie diese nicht (vgl. Villa 2013, S. 217). Zugleich gehen auch Erfahrungen über die kategorialen Bedingungen, in denen sie situiert sind, hinaus (vgl. Villa 2013, S. 217). Auch wenn der Bezug auf Kategorien für die Strukturebene denkbar und das Konzept Intersektionalität sich dafür anwendbar erweist, so ist es auf der Ebene der Verkörperung von begrenztem Nutzen (vgl. Villa 2013, S. 218).201 Daran wird in den nun kommenden Ausführungen angeschlossen. Es erfolgt eine kurze kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Intersektionalität. Mit diesem soll die Bedeutung einer intersektionellen Perspektive nicht geleugnet werden, jedoch sollte der Bezug auf Kategorien der Unterscheidungen stets behutsam sein. Denn diese, so Villa (2013), folgen ihrer eigenen (kategorialen, beziehungsweise strukturellen) Logik, sowie das Handeln seiner eigenen, praktischen Logik folgt (vgl. Villa 2013, S. 203-204). Mitsamt plädiert Villa (2013) dafür, die uneindeutige Natur, die Instabilität sowie die theoretische Konstruktion von Kategorien sichtbar zu machen, was in der somatischen Dimension sozialen Handelns begründet liegt (vgl. Villa 2013, S. 204).202 201

202

Die Problematik, die mit dem Bezug auf Kategorien einhergeht, wird im Intersektionalitätsansatz verschoben. Es wird nicht die Frage gestellt, welche Kategorien ungleichheitswirksam sind und wie diese sich wechselseitig beeinflussen, sondern der Blick wird auf die Relevanz von Kategorien gelegt, die auf den je unterschiedlichen Ebenen variabel sein kann. Mitsamt gibt Villa (2013) zu bedenken, dass Strukturen und Praxen unterschiedlichen Logiken folgen und es darum gehen sollte, diese sichtbar zu machen. Dafür schlägt Villa (2013) einen konzeptuellen Rahmen vor, der beide Dimensionen sowie die Unterschiede zwischen ihnen verdeutlicht. Auf diesen wird in gebotener Kürze verwiesen. Bezugnehmend auf die Perspektiven von Butler weist Villa (2013) darauf hin, dass der Subjektwerdung ein Scheitern inhärent ist. Subjektivierung im Sinne einer eindeutigen und kohärenten, stabilen und intelligiblen Verkörperung eines Subjekts kann nur scheitern. Zudem gilt auch die Verkörperung als fragil und unabgeschlossen. Subjektivierung ist immer auch als etwas zu betrachten, in das Menschen praxeologisch verwickelt sind. Bezugnehmend auf das anthropologische Konzept der Mimesis, welches Imitation oder Nachahmung bedeutet, sowie auf den Begriff der Performativität, entwickelt sie das Konzept der ,performativen Mimesis‘. Mimetische Nachahmungen sind nie bloße Nachahmungen von etwas Gegebenem, ihnen wohnt ein Überschuss inne

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Soziale Ungleichheit und Körper

Kategorien stellen vereinheitlichende Konstrukte dar, die von außen zugeschrieben werden. Villa und Hark (2017) zufolge sind sie hierarchisch aufgebaut und organisieren Über- und Unterordnungen. Dass die Frage nach Unterscheidungen und Unterschieden, nach Kategorisierungen, nach Differenz oder Heterogenität sich als problematisch erweist, da ihnen eine welterzeugende Kraft innewohnt, darauf heben die Auseinandersetzungen des folgenden Exkurses ab (weiterführend zu pädagogischen Semantiken der Differenz vgl. Emmerich und Hormel 2013); und gerade in diesem Sinne können Begriffe auch herrschaftskritisch sein (vgl. Hark und Villa 2017, S. 22). In die Überlegungen fließt ebenso ein, dass Körper in Bezug auf Kategorien bedeutungsvoll werden. Ferner wird sich unter körpersoziologischer Perspektive den Aspekten der Klassifikation und der Positionierung zugewendet, um diese dann begrifflich in den analytischen Rahmen der Arbeit einzuführen. Exkurs: Kategorien, Differenzen und Unterscheidungen – Einige problematisierende Anmerkungen Begrifflich erweisen sich Kategorien insofern als problematisch, als dass sie von außen zugschrieben werden, dass sie vereinheitlichen und dass sie Konstrukte darstellen. Sie sind hierarchisch strukturiert und organisieren Über- und Unterordnungen. Nicht selten werden in allgemeinen Redeweisen pauschalisierende Zuschreibungen vorgenommen und so vermeintliche Eigentlichkeiten oder Essenzen von Gruppen a priori gesetzt. Kausale Kurzschlüsse werden dafür genutzt, von diesem wie auch immer gearteten ,So-Sein‘ auf das spezifische Handeln eines konkreten Menschen zu schließen (vgl. Hark und Villa 2017, S. 11). Verstärkt werden die für fundamentalisierende Praxen charakteristischen Essentialisierungen, wenn sie sich in einem Modus der Differenzkonstruktion darstellen, wenn also der Rahmen der Unterscheidung etwa auf ,ihr‘/,wir‘, ,fremd‘/,eigen‘ oder ,schwarz‘/,weiß‘ eingeschränkt wird (vgl. Hark und Villa 2017, S. 12). Ein Effekt derartiger Differenzkonstruktionen besteht darin, polarisierende Zuschreibungen zu verschärfen. Damit, so Hark und Villa (2017), werde die Sicht auf Binnendifferenzen, auf in sich komplexe intersektionale Verhältnisse, verstellt (vgl. Hark und Villa 2017, S. 12). Zudem machen versämtlichende und essenzialisierende Differenzbegriffe dynamische Prozesse der Differenzierung unsichtbar (vgl. weiterführend ebd.). Dabei sind ,Differenz-Begriffe‘ nicht per se falsch, weil sie sich auch als das Produkt sozialer Praxis präsentieren. Überdies sind sie strukturbildend für die Gesellschaft und damit ein ermöglichender Rahmen für die Praxis. Dennoch sind zum einen systematisch verschiedene Formen der Differenzbehauptung und unterschiedliche Formen der Differenzierung zu unterschei-

und darin, so Villa (2013), liegt ihre performative, wirklichkeitserzeugende Kraft. Und so ist Verkörperung immer mehr. In ihrer Form und an sich ist Verkörperung intersektionell und geht wegen ihrer mimetischen Dimension über jeden kategorealen Rahmen hinaus (vgl. Villa 2013, S. 214-216).

Verkörperung ist immer mehr

127

den. Zum anderen kommen Differenzen in unterschiedlichen Kontexten zum Einsatz und werden unterschiedlich wirksam gemacht (vgl. ebd.).203 Überdies gilt auch zu berücksichtigen, „[…] in welcher Weise Personen und die immer komplexen sozialen Positionen, die diese Personen einnehmen, mit nur einer Differenz verschmolzen werden“ (Hark und Villa 2017, S. 13). Differenzen, Unterscheidungen und Kategorien werden dabei nicht per se als Problem gesehen, sondern es geht um eine kritische Auseinandersetzung ihrer Indienstnahme für die Absicherung von Herrschaft und die differenzielle Verteilung von Prekarität für die Organisation von Anerkennung und die Regulierung sozial ungleicher Verhältnisse (vgl. Hark und Villa 2017, S. 15). In Bezug auf Körper lässt sich festhalten, dass gerade der Körper das Medium ist, an dem Unterscheidungen und Unterschiede ausgehandelt werden. 204 Die Konstituierung und Sichtbarmachung sozialer Unterschiede lässt sich als Resultat gesellschaftlicher Differenzierungs-, Klassifikations- und Askriptionsprozesse verstehen.205 Es zeigte sich ferner, dass darin gesellschaftliche Kategorien wie Alter, Geschlecht, Migration, soziale Klasse, Behinderung genauso wie gesellschaftliche Normen – die sich in Bezeichnungen über Ansehnlichkeit, Begehren, Sportlichkeit, Reinheit, oder Geschlechtlichkeit – eingebettet sind. Im konkreten Tun verkörpern Menschen immer auch Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen (vgl. Villa 2007). Kategorien durchziehen die meisten Konstruktionen von sozialen Gruppen, sie lagern sich in die Wahrnehmung und die Bewertung dieser ein, genauso wie sie die eigene soziale Praxis strukturieren (vgl. Schmincke 2009, S. 209). Sie fungieren als Ordnungen und Unterscheidungen. Dabei wird insbesondere an Körpern klassifiziert, zugeschrieben, an Körpern und mit Körper wird essentialisiert, naturalisiert und unterschieden. Unterscheidungen sind Normen inhärent und dies bleibt sozial nicht folgenlos. Aber dennoch entziehen sich gerade Körper der kategorialen Subsumtionslogik; Verkörperung ist

203

204 205

Unter dem Begriff Dominanzkultur fassen Hark und Villa (2017) „eine gesellschaftliche Formation aus, die durch ein Geflecht verschiedener Machtdimensionen strukturiert ist, die in Wechselwirkung zueinander stehen, und die unsere gesamte Lebensweise in Kategorien der Über- und Unterordnung organisiert sowie aller Handeln, unsere Einstellungen und Gefühle bestimmt“ (ebd., S. 13). Kategorien enthalten auch Bezugnahmen auf Formen und Ausprägungen sozialer Ungleichheitsrelationen (vgl. Hormel und Emmerich 2013, S. 13-14). Askriptionen beruhen immer auf sozialen Klassifikationen. Soziale Klassifikationen von Unterschieden setzen nicht selten an Körpern an. Die soziale Klassifikation sozialer Unterschiede bildet indes die Grundlage, auf der Unterscheidungen durch Zuschreibungen zur Sichtbarkeit gebracht werden (vgl. Emmerich und Hormel 2013, S. 36) In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff der Zuschreibung verwendet und nicht der aus dem Kontext der Ungleichheitssoziologie stammende Begriff der Askription. Dies liegt nicht zuletzt in seiner problematischen, beziehungsweise zu problematisierenden Dynamik begründet. Denn durch die Verwendung dieses Begriffs wird dazu tendiert, gesellschaftliche Zuschreibungen von Gruppenmerkmalen auf das Individuum zu übertragen.

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Soziale Ungleichheit und Körper

immer mehr als die Verkörperung sich überschneidender Kategorien (vgl. Villa 2010).206 Unterscheidungen wie Geschlecht oder ,Rasse‘ sind zumeist mit körperlichen Aspekten gekoppelt. Sie werden an Körpern gelesen und als körperliche Natur ontologisiert. Um diese nicht als Körpern inhärente Eigentlichkeiten auszulegen (vgl. Hark und Villa 2017, S. 15), sondern sie als sozial hergestellt und immer wieder sozial bedeutungsvoll werdend in den Blick zu bekommen, scheint es als vielversprechend, den Fokus auf am Körper ansetzende Klassifikationen zu richten. Darin zeigen sich nämlich auch dahinterstehende Bedeutungsverhandlungen und Normen, die wiederum von gesellschaftlichen Ordnungen durchdrungen sind. Dabei sind auch die sozialen Verhältnisse bewusst zu halten, in denen sie relevant gemacht werden. Anschließend an das Konzept Intersektionalität umfassen diese die Ebene der Praktiken, der Semantiken sowie der sozialen Strukturen. Auch hier erweisen sich die im ersten Teil der Arbeit ausgearbeiteten theoretischen Perspektiven als anschlussfähig. Folglich wird sich in einem weiteren Schritt dieses Kapitels in körpertheoretischer Hinsicht Klassifikationen und Positionierungen zugewendet und diese, wieder bezugnehmend auf Perspektiven der im vorangehenden Kapitel erarbeiteten strukturalistischen und poststrukturalistischen Perspektiven, in Verbindung mit der Körperlichkeit sozialer Ungleichheitsverhältnisse gebracht. Denn der Körper ist Zielscheibe sozialer Zuschreibungsprozesse und Klassifikationen. Klassifikationsmuster werden gebraucht und dabei werden bestimmte Merkmale in distinkter Weise spezifischen Gruppen zugewiesen. Den Klassifikationen liegt die Zuschreibung prinzipieller Unterschiede zugrunde, welche Eigenschaften oder Verhaltensweisen dichotom voneinander unterscheiden. Zugleich können sich kulturelle Klassifikationen dann zu einer stabilen Ressource und somit zu einer Dimension sozialer Ungleichheit verfestigen, wenn Praktiken, Gütern und Körpern ungleiche Wertigkeiten zugesprochen werden. Die Auseinandersetzung mit diesem Gedanken wird im nachstehenden Part präsentiert. 2.4

Klassifikationen und Positionierungen

Körper im Kontext von Ein- und Ausschließung Klassifikationen gelten als symbolisch vermittelte Dimension der Reproduktion sozialer Ungleichheit und somit als wirkmächtige Dimension von Ein- und Ausschließungen. Sie zeigen sich in Formen von Bewertungen und Bezeichnungen im Alltag. Sie haben eine soziale und eine symbolische Bedeutung. Über sie werden soziale Ungleichheiten reproduziert und Ein- und Ausschlüsse bestimmter Personen(gruppen) 206

Somit wird eine kritische Haltung gegenüber Kategorien eingenommen. Im empirischen Teil wird auch versucht, diesem Anspruch Folge zu leisten. Dabei geht es dann darum nachzuzeichnen, welche Klassifikationen in situierten Praktiken in Bezug auf Körper bedeutungsvoll werden. Somit haben sozialen Praktiken immer auch eine symbolische Dimension. Zugleich erlaubt eine Analyse dieser, ebenso Rückschlüsse auf gesellschaftliche Strukturen zu ziehen.

Klassifikationen und Positionierungen

129

generiert. Wenn also in den folgenden Ausführungen die Begriffe der Klassifizierung und der Positionierung bezugnehmend auf Konzepte der Körpersoziologie eingeführt werden, dann aus dem Grund, weil diese in (situierten und beobachtbaren) sozialen Praktiken zum Tragen kommen. 207 Die soziale Dimension von Klassifikationen besteht nunmehr darin, dass ihre Bedeutungen im Alltag sowie innerhalb sozialer Konflikte sozial relevant werden, insofern sie eine positionierende Wirkung haben. Es lässt deutlich werden, wie Personen sich im Alltag in Praktiken klassifizieren, und sich selber und andere in spezifischen sozialen Ordnungen positionieren. Zugleich vollziehen sie damit Positionierungen innerhalb der symbolischen Ordnung. Darüber hinaus darf die materielle Grundlage von Klassifikationen nicht vernachlässigt werden. Die Berücksichtigung des Zusammenhangs und des Zusammenwirkens dieser Dimensionen ist durch Intersektionalität begründbar. Es wird eine Sicht auf Positionierungen einschließlich ihrer körperlichen Dimension entfaltet, die diese in einer Doppelperspektive begreift: Für die Ebene der Praktiken lässt sich herausstellen, dass Klassifikationen innerhalb dieser bedeutungsvoll werden und Personen soziale Positionen in spezifischen Situationen situativ und mitunter auch räumlich zuweisen. Daran lässt sich anschließen und hervorheben, dass diese Positionierungen immer auch einen ein- und ausschließenden Charakter haben. Zugleich sind Klassifikationen nämlich auf der Ebene des Symbolischen, der Semantiken und der Repräsentationen bedeutungsvoll. Innerhalb dieser wirken sie insofern positionierend, als dass sie Subjekten einen Ort oder eine Position innerhalb spezifischer Diskurse zuweisen. Diese Positionierungen vollziehen sich innerhalb von Einund Ausschlüssen; sie ermöglichen etwas, ebenso wie sie etwas Anderes verunmöglichen und sind so an der Hervorbringung sozialer Ordnungen beteiligt. Dass eine Betrachtung dieser Positionierungen auch Rückschlüsse auf die Ebene sozialer Strukturen erlaubt, ermöglicht es eine integrierende Sicht auf soziale Ungleichheitsverhältnisse einzunehmen. Dabei spielen auf allen Ebenen Differenzierungen, Naturalisierungen und Hierarchisierungen eine zentrale Rolle. Denn nicht zuletzt konstruieren Individuen auf der Grundlage von Differenzkategorien unterschiedlichste Identitäten und reproduzieren verschiedenartige symbolische Repräsentationen und damit materialisierte Strukturen (vgl. Degele und Winker 2007, S. 4).

207

In einer struktur- und handlungstheoretischen Perspektive werden soziale Ungleichheitsverhältnisse über Praktiken reproduziert. Hier wird sich insbesondere am ,doing difference‘ von Festermaker und West orientiert (2002). Dieses besagt im Kern, dass Geschlechts-, Klassen- und ethnische Unterschiede in Interaktionsprozessen simultan erzeugt werden und in westlichen Gesellschaften in vielen Formen sozialer Ungleichheit, Unterdrückung und Herrschaftsverhältnisse resultieren (vgl. Festermaker und West 2001, S. 236). Vordergründig sind hier Prozesse des Identifizierens und des Klasssifizierens und nicht die Kategorien oder das Ungleichheitsverhältnis selbst gemeint. Die Kategorien, die innerhalb von Interaktionen zum Einsatz kommen, sind vor ihrer Verwendung semantisch als ungleich kodiert, sie sind normativ. Somit ist auch die Ebene des Symbolischen zu berücksichtigen.

130

Soziale Ungleichheit und Körper

Klassifizierungen Klassifikationen lassen sich in einer an Pierre Bourdieu orientierten Sichtweise als Resultat der Inkorporation sozialer Strukturen, einschließlich ihrer Ordnungsmuster, sichtbar machen.208 Auf diese soll durch die Rekonstruktion von Klassifikationen geschlossen werden. In einer solchen Perspektive lässt sich in den Blick nehmen, dass Körper (körperliche Erscheinungsweisen) sowie deren Wahrnehmungsweisen aus der jeweiligen gesellschaftlichen Stellung resultieren, die jemand einnimmt. Die Arbeiten von Bourdieu lassen über die Aspekte der ,Verkörperung des Sozialen‘ sowie der ,Somatisierung von Herrschaftsverhältnissen‘ (Kapitel 1.2.) hinausgehend erkennbar werden, dass und in welcher Weise Akteur*innen in alltäglichen Bewertungskämpfen ihre soziale Positionen zum Ausdruck bringen, dass sie sich über Klassifikationen unterlegene Positionen zuweisen oder dass sie auf diese Weise sich und andere ein- oder ausschließen.209 In Anlehnung an eine solche Perspektive lassen sich alltägliche Praktiken als symbolische Kämpfe markieren, in denen Klassifikationen wirkmächtig sowie Hierarchien sozialer Positionen praktisch ausgehandelt werden. Gemeinhin gelten die Annahmen grundlegend, dass die Aneignung von materiellen Ressourcen und verwertbarem Wissen zum einen die jeweilige Ausstattung mit ökonomischem und kulturellem Kapital bestimmt, zum anderen entsteht deren ,Rang‘ im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Bewertungskämpfen. In diesen wird das symbolische Kapital sozialer Anerkennung ausgehandelt. Daraus entsteht eine Hierarchie der Wertschätzung, die Individuen und Gruppen zuerkannt wird.210 Es lässt sich so auch eine Sichtweise einnehmen, die davon ausgeht, dass Klassifikationen (insbesondere jene, die an Körpern ansetzen) als symbolische Gewalt fungieren und negative Klassifikationen als stigmatisierende Elemente der symbolischen Ordnung sozialer

208 209 210

Die Inkorporation gesellschaftlicher Verhältnisse setzt er mit dem Konzept des Habitus als Dimension der Re-Produktion sozialer Ungleichheit relevant (siehe Kapitel 1.2.). Unter Berücksichtigung der Arbeiten von Bourdieu lassen sich Klassifikationen etwa als Form symbolischer Herrschaft beschreiben. Dass in der modernen Gesellschaft soziale Bewertungen mit der Sozialstruktur verknüpft sind, markieren Neckel und Soeffner (2008) bezugnehmend auf Bourdieu. Vor dem Hintergrund eines Verständnisses der Sozialstruktur als eines sozialen Raumes in sich beweglicher Positionen (vgl. Bourdieu 1992) identifizieren sie zwei wesentliche Prozesse, in denen die Hierarchie sozialer Positionen praktisch ausgehandelt wird. Diese betrachten sie als aufeinander verweisend: Zum einen bestimmt die Aneignung von materiellen Ressourcen und verwertbarem Wissen die jeweilige Ausstattung mit ökonomischem und kulturellem Kapital. Deren ,Rang‘ entsteht zum anderen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Bewertungskämpfen, in denen das symbolische Kapital ,soziale Anerkennung‘ ausgehandelt wird. Die so entstehende Hierarchie der Wertschätzung begründet die symbolische Ordnung einer Gesellschaft, die sich nach der ,Logik des differentiellen Abstands‘ (vgl. Bourdieu 1992, S. 146) organisiert. Daran lässt sich anschließen, dass sich in der Sozialstruktur nicht lediglich eine Verteilungsordnung materieller Güter repräsentiert, sondern zugleich ein gesellschaftliches System von Klassifikationen, welches auf die materiellen und kulturellen Aneignungschancen sozialer Gruppen rückwirkt. (vgl. Neckel und Soeffner 2008).

Klassifikationen und Positionierungen

131

Ungleichheit zu betrachten sind (vgl. Neckel und Soeffner 2008). Alltägliche Interaktionen geraten so als Bewertungskämpfe in den Blick, in denen die jeweiligen Akteur*innen ihre soziale Stellung zum Ausdruck bringen. Dass in diese Bewertungskämpfe Normen einfließen, die entlang der Dichotomie ,normal‘- und ,abweichend‘ organisiert sind und sich an Körpern materialisieren und darüber Ein- und Ausschlüsse verhandelt werden, wird im nun anschließenden Part diskutiert. Diese Perspektive lässt sich mit den durchaus unterschiedlich gelagerten Körpertheorien von Michel Foucault und Butler dennoch plausibilisieren. 211 In einer solchen Vorgehensweise wird sich folglich an poststrukturalistischen Deutungen (des Körpers) orientiert und so – in etwas anders gelagerter Positionierung – auf die Ebene des Symbolischen fokussiert (Kapitel 1.3). Anschließend an die Sichtweisen von Judith Butler, die auf der Ebene des Diskurses und des Symbolischen zu verorten sind, lässt sich nachzeichnen, dass Klassifizierungen Normen inhärent sind und diese sich an Körpern materialisieren (Kapitel 1.4.). Normen gelten als Bewertungs- und Klassifikationsschemata, die im Verweis auf Kategorien aufgerufen werden. Kategorien wirken als Naturalisierungen auf der Ebene der Sprache; sie sind nicht ontologisch, sondern werden in diskursiver Performativität hervorgebracht. Damit gehen auch immer Unterscheidungen in ,Wir‘/,Andere‘ und somit in ,zugehörig‘/,nicht-zugehörig‘ einher, die nicht von den regulierenden Normen zu trennen sind. Die Wirkmächtigkeit dieser Normen besteht nicht nur darin, dass sie Körper unterwerfen und hervorbringen. Sie formieren auch Bereiche des Intelligiblen und des Nicht-Intelligiblen (siehe Kapitel 1.4.). Diesen Bereichen werden Einzelne oder Gruppen als zugehörig eingeschlossen oder als nicht-zugehörig ausgeschlossen. Hervorzuheben ist ferner, dass im Rahmen derartiger Ordnungen Rahmen der Anerkennbarkeit immer wieder neu ausgehandelt werden, genauso wie die Positionierungen innerhalb dieser. Damit einhergehende Ein- und Ausgrenzungen werden durch unterschiedliche Körper und den Umgang mit ihnen mitbestimmt. Der Körper ist indes Zielscheibe sozialer Zuschreibungsprozesse und Klassifikationen. In einer solchen Perspektive haben Klassifikationen eine machtvolle Ordnungsfunktion. Sie sind verwoben mit der Einordnung in bestehende Machtstrukturen. Dass Klassifikationen im Zusammenhang mit sozialen Positionierungen stehen und diese im Kontext sozialer Ungleichheits- und Machtverhältnisse zu situieren sind, darauf fokussiert der nun folgende Part.

211

Die Arbeiten von Butler und Foucault zeigen indes, dass die Wahrnehmungsweisen von Körpern dichotom entlang von der Norm und Differenz organisiert werden.

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Soziale Ungleichheit und Körper

Positionierungen Mit dem Begriff der sozialen Positionierung (Verortung) ist es möglich, „[…] das Zusammenspiel von sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, Zuschreibungen und Entwicklungen, Selbstsicht(en) und Identifikation(en) des Individuums jeweils vom Standpunkt und aus der Perspektive des Subjekts zu betrachten“ (Riegel und Geisen 2010, S. 12). Die soziale Positionierung des Subjekts erfolgt in Verhältnissen sozialer Ungleichheit sowie durch formale und symbolische Ein- und Ausgrenzungen (so etwa von Rassismus und Sexismus). Sie präformieren auch die subjektiven Handlungs- und Positionierungsmöglichkeiten (vgl. Riegel und Geisen 2010, S. 12). Körper sind Zielscheibe von sozialen Zuschreibungsprozessen und Klassifikationen. Dabei haben Klassifikationen eine machtvolle Ordnungsfunktion. Sie sind verwoben mit der Einordnung in bestehende Machtstrukturen. Der Begriff der sozialen Positionierung wird im Rahmen der Arbeit körpersoziologisch grundiert. Anschließend an die gewählten Theoretiker*innen lassen sich körperliche Positionierungen unterschiedlich auslegen. Bourdieus Modell des sozialen Raumes und des Raumes der Positionen, in dessen Kontext der Habitus zu setzen ist, öffnet den Blick dafür, dass Personen im Kontext sozialer Unterschiede verortet werden. Als relevante Teilungs- und Strukturierungsprinzipien, die die Zuordnung von Personen und Gruppen regulieren, gelten die Kapitalien. Die Einordnung im Raum der Positionen orientiert sich allerdings daran, über wieviel Kapital eine Person verfügt. Die eingenommenen und zugewiesenen sozialen Positionen lassen sich jedoch auch als ein Möglichkeitsfeld betrachten, welches Handlungsmöglichkeiten von Personen präformiert. In diesem Zusammenhang sind Klassifizierungen, im Sinne von Bezeichnungen, wirkmächtig und distinktiv. „Klassifizierungen nach dem Alter (aber auch nach dem Geschlecht, und natürlich nach der Klasse…) laufen immer darauf hinaus, Grenzen zu setzen und eine Ordnung zu produzieren, an der sich jeder zu halten hat, in der jeder seinen Platz behalten hat“ (Bourdieu 1993, S. 136-137). Klassifizierungen wirken folglich wie eine Art Platzanweiser. Zugleich entwickeln Menschen auch ein Gespür für die eigene Position. Bourdieu deutet in diesem Zusammenhang den ,praktischen Sinn‘ als ,sozialen Sinn‘. Als Produkt der Einverleibung des Sozialen fungiert er als ‚sense of one‘ s place‘. Als solcher äußert er sich als Sinn und als subjektives Gespür für Grenzen, die sich auf soziale Ungleichheiten und Positionierungen im sozialen Gefüge beziehen. Somit fördert er die Selbstpositionierung in bestehenden sozialen Ordnungen (vgl. Alkemeyer et al. 2010, S. 236). Wenngleich sich diese Ebene auf Sprache bezieht, so erlauben Bourdieus Arbeiten auch alltägliche Praktiken und die innerhalb dieser vollzogenen Positionierungen unter dem Aspekt der Distinktion zu diskutieren. Nicht selten kommt in diesen der Körper als Kapital zum Einsatz, das – an spezifischen Normen orientiert – bearbeitet und gestaltet wird.

Klassifikationen und Positionierungen

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In den Arbeiten von Foucault ist ebenso eine Sichtweise auf soziale Positionierungen eingelagert (siehe auch Kapitel 1.4.). Mit den Bedingungen des Wahr-Sprechens (der Veridiktion) befasst sich Michel Foucault in ,Diskurs und Wahrheit‘. Im ,Sprechenüber‘ wird Normativität formiert und in dieser vollzieht sich Subjektivierung. Im Diskurs werden Subjekte ,angerufen‘, eine der Norm gemäße Position einzunehmen. Äußerungen ist eine Anrufungsfunktion inhärent, durch diese werden Adressat*innen aufgefordert, die Ordnung des Diskurses, von der aus die Anrufung konstruiert ist, anzuerkennen. Mit der so vollzogenen Anerkennung der Ordnung ist ihnen zugleich Anerkennung als Subjekt in dieser Ordnung versprochen. Wer beispielsweise im Rahmen des hegemonialen legitimen Wissens die Geschlechterordnung anerkennt und in einer Form realisiert, kann mit Anerkennung durch die autoritätsstiftende machtvolle Sprecher*innenposition rechnen (vgl. Fegter et al. 2015, S. 25). Die Arbeiten von Foucault ermöglichen es auch den Blick auf Praktiken der Formierung des Subjekts zu öffnen und somit auf jene Praktiken, die körperlich sind. Mit dem Begriff der Regierung gelingt es Foucault, Verhältnisse von Selbst- und Fremdführungen, von Herrschafts- und Selbsttechniken zu erhellen. ,Technologien des Selbst‘ fasst er als jene Praktiken auf, in denen und über die der Einzelne sich selbst sozial positioniert. Darüber werden gesellschaftliche Disziplinarstrategien vom Einzelnen als eigener Wille und Wunsch gedeutet (vgl. Klein 2010, S. 466). Die Optimierung des Körpers ist in einer solchen Perspektive zu einer zentralen Aufgabe für die (neoliberalen) Subjekte geworden. Die permanente Kategorisierung, Überprüfung und Kontrolle von Körpern stellt eine Form von Selbstdisziplinierung dar. Als solche lässt sich diese Arbeit am Körper (Körperarbeit) als ,Technologie des Selbst‘ und als wesentliches Mittel zur sozialen Positionierung verstehen (siehe Kapitel 1.3.2.). Praktiken, mit denen und durch die Körper bearbeitet werden, sind folglich als eine zentrale Technik der Selbstpositionierung in den Blick zu nehmen. In diese gehen nicht nur individuelle Wünsche und Bedürfnisse ein, sie leisten auch einen Beitrag zur sozialen Positionierung des Subjekts sowie zur mikrophysischen Verankerung von sozialen Werten und Normen (vgl. Klein 2010, S. 46).212 Durch die körpertheoretischen Lesarten, die im ersten Kapitel dargelegt wurden, werden Körperpraktiken in einem größeren analytischen Rahmen verstehbar, und zwar als eine Form der Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit, sich inszenieren zu 212

Insbesondere lassen sich Körperarbeiten in Anlehnung an Foucaults Studien zur Gouvernmentalität, dazu zählen Arbeiten am Körper, die sich an Fitness, Gesundheit und Ästhetik orientieren, als Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung zugleich perspektivieren. Zugespitzt formuliert ist die Aufforderung, die Verantwortung für den eigenen Körper zu übernehmen, Teil einer (post-) modernen Herrschaftsform, die anstelle des Zwangs auf Selbstführung basiert (vgl. Meuser 2017, S. 69). Folglich lassen sich Körperarbeiten von Jugendlichen nicht lediglich als soziale Positionierungen in den Blick nehmen, sondern auch als Technologien des Selbst, in welchen sich Selbst- und Fremdführungen miteinander verschränken. Somit lassen sich die Dimensionen des Körperlichen im Kontext von Machtverhältnissen betrachten.

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Soziale Ungleichheit und Körper

müssen (sich selbst Sichtbarkeit und Ausdruck zu verleihen), um im Sozialen erscheinen zu können (vgl. Hofarth 2016, S. 142). Dabei gelten Ideale als normative Anweisungen an Menschen, der sie in Kleinstarbeit entsprechen müssen. Das Subjekt wird durch den ständigen Versuch, diesen Normen zu entsprechen, wahrnehmbar und erkennbar (vgl. Tuider 2003, S. 50). Die auf Körper bezogenen Normen wirken, das zeigt Foucault, nicht als Zwang. Sie werden verinnerlicht und gelten als eine eigenverantwortliche Entscheidung für das eigene Aussehen und das eigene Selbst (vgl. Schmincke 2011, S. 152). Die Unterwerfung unter soziale Normen scheint frei gewählt und dient als Mittel der Selbstermächtigung (vgl. Schmincke 2011, S. 152).213 In Anlehnung an Butler gelten als Praktiken der Positionierung jene Praktiken, in denen Personen in situative Positionen im sozialen Gefüge oder in übersituative Subjektpositionen verwiesen werden (vgl. Machold 2015, S. 138). Die Arbeiten von Butler erweisen sich aus dem Grund anschlussfähig, weil so in den Blick gerät, dass soziale Zuschreibungen, die dichotom und normativ sind, mithilfe performativer Praktiken durch ständige Wiederholungen in Körper eingeschrieben werden. Sie sind dabei normativ. Normen beeinflussen indes die Wahrnehmungsweisen und auch die Wahrnehmbarkeit von Körpern. Dabei werden bestimmte Körper und Körperpraktiken als ,legitim‘/,nicht legitim‘, als ,anerkennungsfähig‘/,nicht-anerkennungsfähig‘ markiert; im Zuge dessen wird das ‚Andere‘ ausgeschlossen und dem Bereich des ,Nicht-Normalen‘ zugeordnet. In einer solchen Lesart re-signifizieren Personen sich, indem sie sich in Praktiken des Bezeichnens positionieren. Dabei wird auch das Subjekt innerhalb soziosymbolischer Ordnungen positioniert.214 Dass Klassifikationen und Positionierungen auf sozialer wie auf symbolischer Ebene in Verbindung mit sozialer Ungleichheit stehen, lässt sich bezugnehmend auf die Arbeiten von Neckel und Sutterlüty (2008) plausibilisieren. Sie werden im abschließenden Teil dieses Kapitels skizziert, bevor das Kapitel mit einem resümierenden Zwischenfazit abgeschlossen wird.

213

214

In Anlehnung an Cremer-Schäfer (2005) sind im Alltagshandeln potenzieller Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe vielfältige Bewältigungsstrategien auffindbar, mit denen sie alltäglich potenziellen Situationen sozialer Ausschließung in gesellschaftlich und sozial ungleich strukturierten Räumen begegnen. Dimensionen sozialer Ausschließung sind folgende: Ausschluss von bezahlter Arbeit, das Nicht-Verfügen über Mittel der Sicherung des Lebensunterhalts, die Verweigerung von Aspekten einer offiziellen Existenz beziehungsweise der Behinderung der Möglichkeiten dazu, der Ausschluss von Aspekten individueller Entwicklungsmöglichkeiten und Befähigungen (vgl. ebd.). Dabei werden körperbezogene Unterscheidungen affirmativ und widerständig resignifiziert. Handlungsfähigkeit sieht Butler in der Möglichkeit der Irritation.

Klassifikationen und Positionierungen 2.4.1

135

,Die Macht der Unterscheidungen‘

Körper, Klassifikationen & soziale Ungleichheit Dass soziale Klassifikationen im Hinblick auf Fragen nach sozialer Ungleichheit bedeutungsvoll werden, greifen Neckel und Sutterlüty (2008) bezugnehmend auf klassifikationstheoretische Ansätze auf.215 Neckel (2003) zufolge stellt sich die Frage der Zugehörigkeit auch im Hinblick auf soziale Ungleichheit. So weist er Zugehörigkeiten als eine Dimension relationaler Beziehungsungleichheiten aus. Neben materieller Verteilungsungleichheit stellt diese eine zweite Grundform sozialer Teilungen dar

215

Der Begriff der Klassifikation wurde insbesondere von Emile Durkheim in den soziologischen Diskurs eingebracht. Die Funktionen des Klassifizierens thematisieren Durkheim und Mauss (1903/1987). Beide verstehen darunter, dass die Dinge unterschiedlicher Gruppen zusammengefasst werden, die durch klare Grenzen voneinander getrennt sind. Jedoch beschränkt sich das Klassifizieren nicht lediglich auf die bloße Konstituierung von Gruppen, denn diese Gruppen werden auch nach speziellen Beziehungen geordnet. So stellen sich diese als wechselseitig gleichgeordnet oder als einander über -, beziehungsweise untergeordnet dar (vgl. Durkheim und Mauss 1903/1987, S. 172-176). „Die einen herrschen, die anderen werden beherrscht, und wieder andere sind unabhängig voneinander. Jede Klassifikation impliziert eine hierarchische Ordnung, für die wir weder in der äußeren Welt noch in unserem Bewusstsein ein Vorbild finden“ (Durkheim und Mauss 1903/1987, S. 176, zit. nach Neckel und Sutterlüty 2005, S. 411). Mitsamt weisen sie auch darauf hin, dass insbesondere Institutionen klassifizieren und somit nicht nur Klassifikationswissen, sondern auch Klassifikationssysteme hervorbringen. Mary Douglas (1974/1986) schließt an die klassifikationstheoretischen Arbeiten von Durkheim und Mauss an und verweist darauf, dass soziale Klassifikationen in modernen Gesellschaften an soziale Institutionen gebunden sind und überdies von diesen ausgehen. Somit kontrollieren insbesondere Institutionen den gesellschaftlichen Vollzug des Unterscheidens und halten nicht nur Unterscheidungen parat (vgl. Emmerich und Hormel 2013, S. 48). Ihre gesellschaftliche Legitimation erhalten Institutionen insbesondere durch die Fähigkeit zur Naturalisierung sozialer Unterscheidungen. Als bestandsfähig erweisen sie sich nur dadurch, dass sie ihren jeweiligen Bedingungen für Erkenntnis Geltung verschaffen können (vgl. Emmerich und Hormel 2013, S. 48-49). Dies ist insofern folgenreich, als dass Wissen über Gesellschaft zunehmend durch wissenschaftliche Kategorien bestimmt wird. Somit kommt der sozialwissenschaftlichen Arbeit des Klassifizierens auch die Bedeutung zu, dass sie die Bevölkerung nicht nur beobachtet, sondern auch steuert. Die Institutionen klassifizieren und sortieren Individuen, sie konstruieren Gruppen (etwa ,Wahnsinnige‘, ,Kriminelle‘) und markieren sie mit Namen, um sie innerhalb ihres Klassifikationstableaus wieder einordnen zu können (vgl. Emmerich und Hormel 2013, S. 49). In einer solchen Perspektive sind auch Begriffe wie Jugend und Kindheit eine Abstraktion, mit der gesellschaftlich-institutionell geprägte Erwartungsstrukturen verbunden sind (vgl. ebd. 2013, S. 49). Daran lässt sich anschließen und die These vertreten, dass in Bezug auf pädagogische Institutionen angenommen werden kann, dass sie einen genuinen Beitrag zur Klassifikation von ,Welt‘ leisten. Dieser besteht darin, dass sie nach pädagogischen Kriterien kategorisieren und ordnen (vgl. ebd., S. 50-51). Die kritische Hinterfragung von Klassifikationen lässt sich ebenso auf Organisationen anwenden. Dies wird im Verlauf der Arbeit jedoch nicht weiterverfolgt. Theorien sozialer Klassifikationen bilden indes auch Gegenstand der Wissenssoziologie. Bei der Bedeutung von Klassifikationen wurde insbesondere auf die Tradition der Wissenssoziologie zurückgegriffen. Dabei wurde auch dafür sensibilisiert, dass die (Sozial-) Wissenschaft selber auf der Grundlage eigener Klassifikationsarbeit Klassifikationen zu allererst erzeugt und diese in Semantiken von Ungleichheit einfließen. Daran anschließend sind die Beobachtungsleistungen und Wirklichkeitskonstruktionen von gesellschaftlichen Klassifikateuren selber zu reflektieren (vgl. Emmerich und Hormel 2013, S. 36-37).

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Soziale Ungleichheit und Körper

und somit sind differente Zugehörigkeiten genauso von Belang wie die Verteilung des sozialen Kapitals (vgl. Neckel 2003, S. 161). Neckel zufolge werden Beziehungsungleichheiten insbesondere auf der Ebene von Deutungen etabliert. „In der Deutung sozialer Gemeinschaften entsteht Zugehörigkeit durch die Bewertungsakte der ,Klassifikation‘ […]“ (Neckel 2003, S. 162). Diese speisen sich indes aus kollektiven Vorstellungen, die über menschliche Gruppen sowie über die verschiedenen Elemente ihrer Sozialwelten existieren (vgl. Neckel 2003, S. 162). Eine weitere grundlegende Methode der Etablierung von Beziehungsungleichheiten zwischen Personen und Gruppen sieht Neckel (2003) darin, dass Beziehungsungleichheiten zwischen Gruppen im Handeln konstituiert werden. Dann gehen Zugehörigkeiten stets mit sozialen Schließungen einher und beziehen sich also auf die Praxis, soziale Beziehungen exklusiv zu halten sowie deren Erträge zu monopolisieren (vgl. Neckel 2003, S. 162). Innerhalb eines so gefassten Verständnisses sozialer Ungleichheit werden auch Selbst- und Fremdpositionierungen vollzogen. „Soziale Ungleichheit, sofern sie den Erfahrungsraum unserer Lebenswelt durchzieht, wird maßgeblich erst durch […] kommunikative Akte der Einstufung erzeugt und nimmt in ihnen eine konkrete Gestalt im Erleben an. Anders würden auch materielle Unterschiede kaum als Folge ungleicher Sozialverhältnisse interpretiert, sondern einfach nur Abstände ausdrücken“ (Neckel 2003, S. 163). Klassifikationen sind somit als Kategorien der Bewertung auszulegen, die insbesondere an Körpern ansetzen. Klassifikationen drücken Unterscheidungen aus und sind entlang der Logiken von Differenz organisiert. Sie sind jedoch nicht statisch, sondern variieren mit den historischen, sozialen und kulturellen Kontexten der Praxis (vgl. Neckel 2003, S. 163).216 Klassifikationen sind nicht lediglich als Muster der Bewertung 216

Der soziologischen Ungleichheitsforschung folgend lassen Klassifikationen sich in verschiedene Arten differenzieren. So unterscheidet Neckel (2003) in graduelle und kategoriale Unterscheidungen: Graduelle Klassifikationen verhandeln Akteur*innen unter dem Aspekt quantitativer Differenzen, das heißt, dass wahrgenommene Merkmale oder Eigenschaften entlang von Dichotomien wie ,größer‘/ ,kleiner‘ oder ,mehr‘/ ,weniger‘ vermessen und in eine kontinuierliche Rangfolge gebracht werden, welche die prinzipielle Vergleichbarkeit der Bewertungsobjekte zur Voraussetzung hat (vgl. Neckel 2003, S. 163). Diese Bewertungen verfügen über eine ordinale Struktur (vgl. Neckel 2003, S. 163). Typischerweise handelt es sich um (erworbene) Merkmale wie Bildung, Einkommen oder den beruflichen Status. Durch graduelle Klassifikationen kommt die Logik der Differenz symbolisch zum Ausdruck.Als solche ist diese konjunktiv organisiert, da sie auf einem sozial geteilten Erfahrungsraum und der Zuschreibung grundlegender Zugehörigkeit basiert (vgl. Neckel 2003, S. 163). Klassifikationen, die hingegen kategoriale Unterscheidungen artikulieren, fällen ,qualitative‘ Urteile der Andersartigkeit über Personen und Gruppen. Dabei haben diese Bewertungen eine nominale Struktur, insofern Merkmale und Eigenschaften entlang der Maßstäbe ,gleich‘/,ungleich‘ oder ,ähnlich‘/,verschieden‘ sortiert werden. Somit kommt keine Rangfolge zustande, sondern eine ,mentale Landkarte‘ von (sich ausschließenden) Kategorien. In diesem Zusammenhang spielt die Körperlichkeit der so genannten ,askriptiven Merkmale‘ eine bedeutsame Rolle, denn Kategorien wie ,Mann/Frau‘ (Geschlecht) , ,schwarz/weiß‘ (Hautfarbe) sind zumeist am Körper ablesbar. „Da kategoreale Unterscheidungen vorausgesetzte Gemeinsamkeiten entbehren, bieten sie sich in besonderer Weise dafür an, dass soziale

Klassifikationen und Positionierungen

137

zu deuten, vielmehr lassen sich anhand von Klassifikationen die Entwicklungen rekonstruieren, die sich in den Zugehörigkeitsmustern sozialer Gemeinschaften vollziehen (vgl. Neckel 2003, S. 163). Dafür ist es wichtig zwischen symbolischem und sozialem Ausschluss zu unterscheiden: Auf der symbolischen Ebene sind Klassifikationen auf der Ebene von Deutungen und Bewertungen, sozialer Ausschluss hingegen auf der Ebene von Praktiken zu verorten (vgl. Sutterlüty 2008 et al. 69). Auf letzterer lassen sich negative Klassifikationen als desintegrativ bezeichnen, wenn sie materielle Aneignungschancen einer Gruppe einschränken, wenn sie zum Ausschluss von Teilnahme an politischen Willensbildungsprozessen führen und wenn sie zudem Grund dafür sind, dass sich Sozialkontakte auf Mitglieder der eigenen ethnischen Gruppe reduzieren (vgl. Sutterlüty et al. 2008, S. 69). Auf der symbolischen Ebene haben Klassifikationen verschiedene exkludierende Auswirkungen. Bezugnehmend auf die Studie von Sutterlüty et al. (2008) lassen sich Klassifikationen auf dieser Ebene in graduelle und kategoriale Klassifikationen differenzieren. Als solche haben sie Einfluss auf ein- und ausschließende Prozesse. „Während negative Klassifikationen des graduellen Typs nur abwertend sind, fixieren kategoriale prinzipielle Unterschiede und schließen die negativ bewerteten Personen oder Gruppen symbolisch von der vollwertigen gesellschaftlichen Zugehörigkeit aus“ (Sutterlüty et al. 2008, S. 69). In einer solchen Perspektive eignen sich insbesondere kategoriale Klassifikationen dafür, auch auf der sozialen Ebene exkludierend zu wirken. Da diese Kategorien auf der symbolischen Ebene in sich bereits einer exkludierenden Semantik folgen, können sie vereinfacht dazu führen, dass den betroffenen Personen oder Gruppen materielle Teilhabe, politische Partizipation sowie soziale Teilnahme verwehrt oder der Zugang dazu erschwert wird (vgl. Neckel et al. 2008, S. 69). Der Studie von Sutterlüty et al. (2008) zufolge wirken graduelle Klassifikationen nicht exkludierend (vgl. ebd., S. 69). Wenn sie jedoch eine kategoriale Wendung erfahren, können sie exkludierend wirken. Kategoriale Klassifikationen tendieren indes zu sozial exkludierenden Folgen, wobei Zuschreibungen sie begünstigen. Der konkrete Gebrauch von kategorialen Klassifikationsmustern ist indes mit der Intention verbunden, den Klassifizierten den Zugang zu bestimmten Bereichen des sozialen Lebens zu entziehen oder zu verwehren (vgl. Sutterlüty et al. 2008, S. 70).217

217

Gemeinschaften die Ungleichheit von Akteuren als deren Ungleichwertigkeit interpretieren“ (Neckel 2003, S. 164). Die Logik der Differenz ist indes disjunktiv organisiert, so Neckel (2003, S. 164). Insgesamt ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die hier präsentierte Binnendifferenzierung sozialer Klassifikationen eine soziologische Idealtypik darstellt. In realen sozialen Gebrauchsweisen sind sie miteinander verknüpft oder können ineinander übergehen. Insgesamt erweist sich diese als hilfreich, um aktuelle Entwicklungen von Zugehörigkeit zu analysieren. Die hier entfaltete Perspektive legte Sighard Neckel insbesondere auf die Einstufung ethnischer Minoritäten und die Klassifikationen sozialökonomischer Unterschiede in Deutschland (vgl. Neckel 2003, S. 165).

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Soziale Ungleichheit und Körper

Klassifikationen bringen Unterscheidungen zum Ausdruck und sind entlang der Logik von Differenz organisiert. Klassifikationen, die graduelle Unterscheidungen ausdrücken, bewerten schwächere Personen oder Gruppen zwar als unterlegen, jedoch nicht als minderwertig. Prinzipiell wird ihnen Veränderbarkeit zugesprochen. Werden Personen oder Gruppen als kategorial ungleich eingestuft, beruht dies auf abwertenden Zuschreibungen vermeintlich unveränderbarer Zustände und essentialistisch gedeuteter Eigenschaften (vgl. Neckel 2003, S. 164). So können Personen oder Gruppen schwerwiegende Benachteiligungen kaum bekämpfen, da die Öffentlichkeit für sie nicht die gleichen Maßstäbe anwendet wie für die Bevölkerungsteile, die ihr als zugehörig gelten (vgl. Neckel 2003, S. 164). Dies ist als wesentliche Dimension sozialer Exklusionsprozesse auszuweisen. Kategorial als ungleichwertig gedeutete Personen und Gruppen sind in ihrer Teilhabe an garantierten Rechten gefährdet und erfahren nicht selten eine Absenkung garantierter Standards (vgl. Neckel 2003, S. 164). Von sozialen Schließungen und von Monopolbildung ist dann die Rede, wenn spezifische Gruppen faktisch kategoriale Grenzen errichten können. Der Status einer gleichwertigen Zugehörigkeit wird ihnen dabei aberkannt. Die Deutungen und Zuschreibungen orientieren sich an Eigenschaften (vgl. Neckel 2003, S. 161). Dies wirkt sich negativ auf die Betroffenen aus. Bei mindermächtigen Gruppen geschehen derartige Zuschreibungen zumeist, ohne dass sie diese abweisen können; denn es hängt von der jeweiligen Machtstärke ab, in welchem Ausmaß Zugehörigkeiten gewählt oder auferlegt werden und vor allem, welche gesellschaftlichen Folgen diese haben können (vgl. Neckel 2003, S. 162). Innerhalb dieser Deutungen spielen Prozesse der Klassifikationen eine wichtige Rolle.218 Klassifikationen lassen sich im Anschluss an Neckel (2003) als ein Begriffsystem von Unterscheidungen auslegen, die hierarchisch geordnet werden. Sie stellen gleichwohl eine notwendige und unvermeidliche Orientierung im sozialen Raum dar (vgl. Neckel 2003, S. 163).219 In diesen Prozessen ist besonders dem Körper eine besondere Bedeutung beizumessen. Als Indikatoren für die Zugehörigkeit zu stark und schwachen repräsentierten Gruppen dienen äußerlich erkennbare Merkmale wie Hautfarbe, Alter, Geschlecht, Habitus, welchen unterschiedliche Werte zugesprochen werden (vgl. Neckel 2003, S. 162). Aufgrund der Wahrnehmung und Deutung körperbezogener Merkmale werden Personen in der Skala der sozialen Rangordnung an die entsprechende Stelle gesetzt. Bewertungen begleiten den sozialen Austausch konstant. Der sich darüber vollziehende (je gültige) Statusaufbau sozialer Gemeinschaften konstituiert sich im Wesentlichen durch Kommunikation (vgl. Neckel 2003, S. 162-163), mithin nicht durch Güterverteilung oder durch das Rechtssystem. Die 218

219

Klassifikationsprozesse finden sowohl mittels offizieller Bezeichnungen oder medialer Berichte als auch in der Sphäre flüchtiger Begegnungen und Interaktionen, privater Gespräche und symbolischer Zeichen im Alltag statt (vgl. Neckel 2003, S. 162). Soziologisch sind diese sehr schwer fassbar. Weiterführend verweist Neckel (2003) darauf, dass Klassifikationen Wahrnehmungen und Handlungsweisen von Akteur*innen ordnen (vgl. ebd., S. 162).

Klassifikationen und Positionierungen

139

Macht der Unterscheidungen besteht nun darin, dass durch diese über- und untergeordnete Positionierungen zugewiesen werden. Klassifikationen und Interaktionen Klassifikationen spielen auf der Ebene der Interaktionen eine zentrale Rolle. So stellen Neckel und Sutterlüty (2008) bezugnehmend auf Goffman fest: „Es ist ein ganz allgemeines Phänomen unseres Alltags, dass soziale Interaktionen mit Bewertungen verbunden sind, mit denen sich die beteiligten Akteure ihre jeweilige Einschätzung signalisieren, subjektive Nähe und Distanz erzeugen, Anerkennung, Gleichgültigkeit oder Missachtung zum Ausdruck bringen. Wie persönlich immer ein solcher Austausch geprägt sein mag, stets gehen soziale Elemente in ihn ein, die sich vor allem am gesellschaftlichen Status der betreffenden Person festmachen. Ob Akteure einander über- oder untergeordnet sind, oder ob sie sich als Gleiche begegnen, bestimmt Inhalt und Verlauf des gegenseitigen Handelns wesentlich mit. Die Sozialstruktur einer Gesellschaft schlägt sich daher in den alltäglichen Begegnungen nieder, bis in die kleinsten lebensweltlichen Episoden hinein werden Interaktionen durch die jeweilige Verteilung sozialer Positionen geprägt. Die Bewertungen wiederum, die soziale Interaktionen begleiten, treffen immer auch Aussagen über die soziale Stellung, die Akteure inmitten größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge einnehmen, und über das Ausmaß an Anerkennung und Wertschätzung, das Akteure in diesen sozialen Zusammenhängen jeweils genießen“ (Neckel und Sutterlüty 2008, S. 15).220 Soziale und körperliche Interaktionen zwischen Einzelnen und Gruppen sind folglich mit Bewertungen verbunden. Soziale Bewertungen, in Form sozialer Wertschätzung und Missachtung, sind nicht losgelöst von der Sozialstruktur zu betrachten. In einer solchen Perspektive sind negative Klassifikationen als stigmatisierendes Element der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit zu verstehen (vgl. Neckel und Soeffner 2008), über die letztlich Ein- und Ausschluss verhandelt wird. So lässt sich eine Perspektive darauf einnehmen, dass in der sozialstrukturell geprägten Anordnung des Alltags nicht lediglich eine Verteilungsordnung materieller Güter repräsentiert ist, 220

Hormel und Emmerich (2013) schließen daran an und heben hervor, dass Klassifikationen innerhalb sozialer Interaktionen so etwas wie eine Erwartungssicherheit versprechen. Die Sichtbarkeit des sozialen Status wird in Interaktionen unwillkürlich registriert. Dies führt zum einen zu einer wechselseitigen Vergewisserung der jeweiligen sozialen Positionierung sowie zum anderen zu einer Antizipation möglicher Interaktionsverläufe. Folglich ist Klassifikationen eine stabilisierende Funktion beizumessen. In Bezug auf klassifikatorische Selbst- und Fremdpositionierungen erzeugen sie asymmetrische Beziehungsstrukturen (vgl. Emmerich und Hormel 2013, S. 58). In sozialen Interaktionen sind Zuschreibungen sozialer Positionen als Regelfall anzunehmen. Dies liegt darin begründet, dass Interaktionen auf wechselseitiger Wahrnehmbarkeit der Körper basieren. Dass sie entsprechend zuschreibungsanfällig sind, bedeutet nicht, dass Handlungsoptionen strukturell determiniert sind. Sichtbarkeit ist immer schon sozial vorstrukturiert und somit ein Ergebnis sozial voraussetzungsvoller Klassifikationsprozesse (vgl. Emmerich und Hormel 2013, S. 59). Zuschreibungen, die naturalisierende Formen annehmen, stattet der Körper mit Evidenz aus.

140

Soziale Ungleichheit und Körper

sondern zugleich ein spezifisches System von Klassifikationen, welches auf die materiellen und kulturellen Aneignungschancen sozialer Gruppen rückwirkt. Folglich schlägt sich die Sozialstruktur einer Gesellschaft in den alltäglichen Begegnungen von Einzelnen und Gruppen nieder. Es gilt als ein ganz allgemeines Phänomen des Alltags, dass soziale Interaktionen mit Bewertungen verbunden sind. Mit diesen signalisieren sich die beteiligten Akteur*innen ihre jeweiligen Einschätzungen, sie erzeugen subjektive Nähen oder Distanzen, sie bringen Anerkennung, Gleichgültigkeit oder Missachtung zum Ausdruck (Neckel und Sutterlüty 2008, S. 15). In diesen Austausch gehen immer auch soziale Elemente ein, welche sich vor allem am gesellschaftlichen Status der betreffenden Personen festmachen lassen. Jedwedes Handeln ist in einer solchen Perspektive davon mitbestimmt, ob Akteure einander über- oder untergeordnet sind oder ob sie sich als ,Gleiche‘ begegnen. Folglich werden Interaktionen im Alltag durch die jeweilige Verteilung sozialer Positionen geprägt. Es ist zu berücksichtigen, dass die Bewertungen, die soziale Interaktionen begleiten, immer auch Aussagen über die soziale Stellung treffen, die Akteur*innen inmitten größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge einnehmen. Sie entscheiden darüber hinaus auch über das Ausmaß an Anerkennung und Wertschätzung, das die Akteur*innen jeweils genießen (vgl. Soeffner und Neckel 2008). Einem so gefassten Verständnis zufolge begründet diese Hierarchie der Wertschätzung die symbolische Ordnung, die durch die ,Logik des differentiellen Abstands‘ (Bourdieu 1992, S. 146) organisiert ist. Innerhalb dieser sich so konstituierenden sozialen Ordnungen werden über Körper Ein- und Ausschließungen konstituiert und reproduziert. Es lässt sich an dieser Stelle bündeln: Negative Klassifikationen lassen sich nicht nur als (nicht-zugehörig-positionierende) ausschließende Positionierungen in konkreten Situationen auslegen, sondern als stigmatisierende Elemente der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit, über die letztlich Ein- und Ausschlüsse verhandelt werden. Mit den bisher entfalteten Sichtweisen lassen sich Klassifikationen als wirkmächtige Dimension im Alltag perspektivieren. Jedoch finden in den bislang dargelegten Sichtweisen primär soziale Bedingungen Berücksichtigung, in denen sich Ein- und Ausschließungen vollziehen. Es sollten aber gerade auch gesellschaftliche, politische, rechtliche und ökonomische Kontexte reflektiert werden. Denn nur in dieser Weise, so Bettinger (2010), lassen sich die an Soziale Arbeit gerichteten Aufgaben und Aufträge verstehen (vgl. ebd., S. 441).221

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Bettinger (2010) zufolge lassen sich die an Soziale Arbeit gerichteten Aufgaben und Aufträge nur verstehen, wenn zugleich ihre Einbettung in die historischen, gesellschaftlichen, politischen, rechtlichen und ökonomischen Kontexte reflektiert wird. Gemeinhin ist Soziale Arbeit in ihrem Handeln an ihr vorgegebenen gesellschaftlichen Ordnungsmodellen, an Vorstellungen von ,Konformität‘ und ,Devianz‘, von ,Legaliät‘ und ,Kriminalität‘, an ,sozialen Problemen‘ und somit einerseits an ihr vorgegebenen objektivierten Kategorien und Gegenständen sowie andererseits an Erklärungsansätzen über vermeintlichen Ursächlichkeiten von Problemen orientiert (vgl. Bettinger 2010, S. 441).

Klassifikationen und Positionierungen 2.4.2

141

Klassifizierungen im Kontext von Ein- und Ausschließung

Vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Strukturwandels, der zu einer Etablierung eines neoliberalen Gesellschaftsbildes führte, entwickelte sich ein neuer Typus von Gesellschaft. Dieser zeichnet sich indes durch ein neues Maß und eine neue Qualität an Ungleichheitsverhältnissen und Marginalisierungsprozessen aus (vgl. Bettinger 2010, S. 441).222 Besondere Merkmale sind neue Formen einer hochgradig selektiven Integration, mit der die Grenzen der sozialen Zugehörigkeit beziehungsweise der sozialen Ausschließung neu markiert und mit veränderten Bedeutungen versehen werden (vgl. Anhorn und Bettinger 2002, S. 232-233). Es handelt sich um einen Prozess, der unbedingt im Zusammenhang mit fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen zu begreifen ist. Ausschließungsprozesse rücken in diesem neuen Typus von Gesellschaft in den Vordergrund. Diese zeigen sodann, dass „[…] die Erzeugung einer überschüssigen Bevölkerung durch Produktionsweise und Arbeitsmarkt, offen gewalttätig ausgetragene Konflikte um Zugehörigkeit sowie Feindbild-Kampagnen gegen Fremde, Arme, Abweichende, dass ’Vergesellschaftung’ eine veränderte Bedeutung erhalten hat“ (Cremer-Schäfer und Steinert 1997, S. 244). Das Problem der Ordnung wird in diesem Zusammenhang auf den Staat verlagert.223 222

223

Bettinger (2010) zufolge ist es nicht ausreichend, die rechtlichen Vorgaben als Bedingungen und Beschränkungen Sozialer Arbeit in den Blick zu nehmen. Es gilt auch, den durch die Wirtschaftskrise in den 1970er Jahren ausgelösten gesellschaftlichen Strukturwandel einzubeziehen, der zu einem neuen, neoliberalen Gesellschaftstypus führte. Mit seinen Maximen der Konkurrenz, Effizienz, Eigenverantwortlichkeit und Selbstdisziplin unterstellt dieser die Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit des ,Standortes Deutschland‘. Überdies sieht Bettinger (2010) in der Diskreditierung des Sozialstaates eine Ursache zunehmender gesellschaftlicher Probleme und Krisenphänomene. Konsequenzen waren indes die Privatisierung der Sozialpolitik sowie strukturelle gesellschaftliche Probleme. Eine Lösung dieser wurde mitunter in der Realisierung eines Marktfundamentalismus gesehen. Mit diesem ging eine umfassende Deregulierung der Märkte, dem Abbau des Sozialstaates sowie der Privatisierung der ökonomischen und sozialen Risiken einer ,Markt-Logik‘ einher, nach der sich alle gesellschaftlichen Bereiche (auch die Soziale Arbeit) richteten (vgl. Bettinger 2010, S. 441-442). Bettinger (2010) bezieht sich auf Wacquant (2008), der eine solche Entwicklung für die USA konstatiert hatte. Bettinger (2010) führt weiter aus, dass diese mittlerweile auch für die meisten europäischen Staaten gilt, in denen sich ein ,liberal-paternalistisches System‘ etablieren konnte. So führt Bettinger (2010) bezugnehmend auf Loic Wacquant (2008) weiter aus, dass die ,unsichtbare Hand des Marktes‘ für unsichere Arbeitsverhältnisse ihre institutionelle Entsprechung in der ,eisernen Hand des Staates‘ findet. Er steht bereit, die Unruhen, die aus der zunehmenden Verbreitung sozialer Unsicherheit resultieren, unter Kontrolle zu halten. Dass ein wachsendes Interesse daran besteht, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten sowie vermehrt Mittel dafür bereitzustellen und dies das Legitimationsdefizit kompensiert, unter dem die politisch Verantwortlichen leiden, darauf verweist Wacquant (2008). Dies sieht er darin begründet, dass der Staat seinen Aufgaben im Bereich der Wirtschaft und der Sozialpolitik nicht mehr nachkommt (vgl. Wacquant 2008, S. 214). Die Frage nach der sozialen Ordnung wird indes verlagert. Sie beginnt mit den Dramatisierungsdiskursen über die vermeintliche Zunahme von (Jugend-)Gewalt, über (Jugend-/Ausländer*innen-) Kriminalität oder über ,gefährliche Klassen‘, die sich aus den Populationen der Armen, Arbeitslosen und Bildungsbenachteiligten rekrutieren (vgl. Wacquant 2008, S. 221; zit. nach Bettinger 2010, S. 442). Mitsamt handelt es sich um Diskurse, die als Teil beziehungsweise als Konsequenz neoliberaler Ideologie dechiffriert werden können, mit dem Ziel

142

Soziale Ungleichheit und Körper

Prozessen sozialer Ausschließung kommt eine Schlüsselrolle bei der Analyse der veränderten Grenzziehungen und Bestimmungen von sozialer Zugehörigkeit oder Ausgrenzung in der neoliberalen Gesellschaft zu (vgl. Bettinger 2010, S. 442). Im Kontext der Ausschließungslogik geht es um die Teilhabe, beziehungsweise um das Vorenthalten der Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen (vgl. Bettinger 2010). Es wird deutlich, dass soziale Ausschließung als ein gradueller Prozess zu verstehen ist (vgl. Bettinger 2010, S. 443). An dessen Anfang können vermeintlich ,milde Formen‘ wie Ungleichheit, Diskriminierung oder moralische Degradierung stehen. Diese können auch als Vorform der Totalabschaffung einer Person beziehungsweise einer Kategorie von Personen betrachtet werden (vgl. Cremer-Schäfer und Steinert 1997, S. 244).224 Folglich gilt es Ein- und Ausschließung nicht als statisch zu begreifen, sondern ihren Prozesscharakter zu berücksichtigen. Denn sonst geraten die gesellschaftlichen Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse ebenso aus dem Blick, wie die Agenturen und Institutionen der sozialen Ausschließung (vgl. Bettinger 2010, S. 443-444). Damit einher geht die Gefahr, strukturelle Phänomene und Probleme zu entpolitisieren und zu individualisieren. Das bedeutet, dass das Problem der Integration auf die ,Ausgeschlossenen‘ verlagert wird, die es (unter bestimmten Voraussetzungen) wieder in die Gesellschaft zu integrieren gilt, aber erst nachdem ihre ,Integrationsfähigkeit‘ wieder hergestellt wurde (vgl. Bettinger, 2010, S. 444). Einen weiteren Ansatz sehen Anhorn und Bettinger (2008) darin, nach den gesellschaftlichen Verhältnissen zu fragen, in die integriert werden soll. 225

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der Ausschließung ,überflüssiger‘ Populationen. Dies hat zur Konsequenz, dass die Betroffenen zu ,Bürger*innen zweiter Klasse‘ gemacht werden. Es unterwirft sie einer permanenten, aktiven und genauen Kontrolle durch staatliche Behörden, die diesen zugleich moralische oder eine strafrechtliche Abweichung zuschreibt (vgl. Wacquant 2008, S. 221). Anhorn und Bettinger (2008) legen ihren Annahmen ein ,dynamisch-prozessuales Verständnis sozialer Ausschließung‘ zugrunde. Anhorn (2008) versteht soziale Ausschließung als ein graduelles Konzept, das unterschiedliche Grade der Ausschließung erfasst, die auf einem Kontinuum angesiedelt sind. Es kann von unscheinbaren und subtilen Formen der Diskriminierung im Alltag über die Beschneidung und Vorenthaltung von Rechten und Ansprüchen reichen, genauso wie von der zwangsweisen Asylierung in totalen Institutionen bis hin zur physischen Vernichtung. Zugleich wird Ausschließung als ein relationales Konzept gedeutet, da Menschen, beziehungsweise Gruppen von Menschen, immer im Verhältnis zu anderen Gruppen, Institutionen und der Gesellschaft als Ganzes ausgeschlossen sind. Ein dynamisch-prozessuales Verständnis sozialer Ausschließung, , „[…] fordert geradezu dazu auf, die Interaktionsprozesse zwischen den Betroffenen und den Rep-räsentanten und Verwaltern materieller und immaterieller Ressourcen und institutioneller Normalitätserwartungen, ferner die Institutionen, deren Organisationsstrukturen, Verfahrensregeln und Praktiken, die soziale Ausschließung erzeugen sowie die gesellschaftlichen Strukturen, die die ungleiche Verteilung von Ressourcen und Partizipationschancen systematisch (re-)produzieren, in den Fokus der Analyse zu rücken“ (vgl. Anhorn 2008, S. 37). So stellt auch Kronauer (2002) heraus, dass dies bedeutet, die Ursachen, Abstufungen und Formen der Ausgrenzung bis in den Kern der Gesellschaft zurückzuverfolgen (vgl. Kronauer 2002, S. 47). Kronauer (2002) zeichnet für westliche Gesellschaften eine problematische Entwicklung nach, die prekäre Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Armut in Formen sozialer Ausgrenzung hervorbringt. Er zeigt ferner, dass sich das Problem der sozialen Exklusion besonders in den Städten verdichtet und

Klassifikationen und Positionierungen

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Mitsamt lassen sich unterschiedliche Strategien sozialer Ausschließung ausmachen. In Anlehnung an Bettinger (2010) wird anhand der Kriminalisierung, die als eine Strategie sozialer Ausschließung perspektiviert werden kann, nachgezeichnet, wie soziale Ausschließung operiert. Begreift man Kriminalisierung als Diskurs, so sind diesem Zuschreibungen von Gefährlichkeit, Bedrohung, Unordnung und Unsicherheit inhärent. Diese wiederum werden (mitunter selektiv) auf spezifische Gruppen der Gesellschaft angewendet. Sie dienen als ein zentrales Medium, mit dem die insgesamt prekär gewordenen Grenzen der Zugehörigkeit gefestigt und abgesichert werden (vgl. Anhorn und Bettinger 2002, S. 234). Kriminalisierung ist überdies als ein komplexer Prozess zu begreifen, in dem zum einen die Kategorie Kriminalität konstruiert und diese als Deutungsschablone auf soziale Konflikte und problematische Situationen angelegt wird. Sie ist zum anderen in einem Zusammenhang mit der diskursiven Generierung kriminologisch-kriminalpolitischer Kategorien, wie etwa ,Ausländerkriminalität‘, ,Jugendgewalt‘, oder ,Jugendkriminalität‘ zu sehen (vgl. Bettinger 2010, S. 444). Im Hinblick auf die intendierte Zementierung hermetischer Grenzmarkierungen und damit der Ausschließung spezifischer, als besonders gefährlich oder problematisch bezeichneter Gruppen der Gesellschaft, erweisen diese sich als funktional (vgl. Stehr 2008, S. 319f.). In der Perspektive zeigt sich ,Kriminalität‘ als eine auf soziale Ausschließung gerichtete Kategorie, mit der sich die Diskreditierung und Ausgrenzung von etwa Unterprivilegierten, Arbeitslosen und Armen vorbehaltlos legitimieren lässt (vgl. Anhorn und Bettinger 2002, S. 241). Dafür werden bestimmte Zusammenhänge auch hergestellt. Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Unterprivilegierung bezeichnen gemeinhin eine Form der sozialen Ausschließung, die sich aufgrund der anonymen und a-moralischen Sachlogik des Marktgeschehens ,quasi naturwüchsig‘ herstellt und die davon Betroffenen zwar als bedauerliche, letztlich aber als selbstverantwortliche ,Opfer‘ ihres ,persönlichen‘ Mangels an marktgängigen‘ Merkmalen und Fähigkeiten erscheinen lassen. In der Kombination mit der Kategorie ,Kriminalität‘ erweitern diese sich zu einer moralisierenden und personalisierenden Skandalisierung von sozialen Zuständen und Verhaltensweisen (vgl. Cremer-Schäfer und Steinert 1997, S. 86). Cremer-Schäfer (2002) zufolge sind derartige Zeremonien moralischer Degradierung Voraussetzung dafür, bestimmten Populationen Zugehörigkeit und Partizipation zu verweigern oder zu entziehen (vgl. Cremer-Schäfer 2002, S. 145).226 Cremer-Schäfer (2002) führt weiter aus, dass es sich bei solchen moralischen

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die sozialen Grundlagen der Demokratie gefährdet. Auch Herkommer (1999) konstatiert, dass „[…] gerade die Aufmerksamkeit für die Dynamik, mit der immer größere Teile der Bevölkerung den Erschütterungen und Umwälzungen der gesellschaftlichen Verhältnisse ausgesetzt sind, die sie die unscharfen Grenzen zwischen der Teilhabe am ‚normalen’ sozialen Leben und der Ausschließung davon erfahren lassen, gerade diese Perspektive schärft erst den Blick für die Dramatik der gegenwärtigen Ausgrenzungsprozesse“ (Herkommer 1999, S. 19-20). Cremer-Schäfer (2002) richtet kritisches Augenmerk auf die Figur der ,Armen‘. Bezugnehmend auf Baumann hebt sie hervor, dass sich in der Figur des Armen die Verteidigung von Ordnung und Norm und die Ausschließung von ,unpassenden‘ Menschen vermischen. „Die Armen sind Menschen, die nicht ernährt, behaust und bekleidet sind, wie es der Standard ihrer Zeit und ihres Ortes als richtig

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Soziale Ungleichheit und Körper

Degradierungen, Diskriminierungen und Stigmatisierungen um Prozesse sozialer Ausschließung handelt (vgl. Bettinger 2010, S. 445). So weist auch Bettinger (2010) ausdrücklich darauf hin, dass die Verknüpfung von ,Kriminalität‘ mit Unterprivilegierung, ferner die Benennung ,kriminogener Faktoren‘, die diskursive Konstruktion ,gefährlicher‘ Gruppen und ,Feind-Bilder‘ nicht nur der Legitimation von Ausschließung dienen, sie bieten vielmehr die Basis für die Transformation von eher diffuser Angst und Unsicherheit vor den dramatischen Folgen (der Krise) des Kapitalismus in eine ( konkrete) Angst. Diese richtet sich sodann auf vermeintlich eindeutig identifizierund benennbare Personen und Gruppen, die es in einer gemeinsamen Kraftanstrengung zu kontrollieren, zu disziplinieren, zu bekämpfen oder auch sozialpädagogisch ,zu beglücken‘ gilt (vgl. Bettinger 2010, S. 445). Diesen hier nur in Kürze angedeuteten Debatten lässt sich entnehmen, dass nicht nur die sozial ungleichen Bedingungen von Klassifikationen im Kontext von Zugehörigkeit reflektiert werden sollten, sondern auch gesellschaftliche, politische, rechtliche und ökonomische Kontexte. Einem so gefassten Verständnis zufolge lässt sich Ausschluss als etwas Prozesshaftes, als Ausschließung perspektivieren. Sodann lassen sich auf soziale Ausschließung gerichtete Kategorien innerhalb derer spezifische Klassifikationen wirkmächtig werden, kritisch als Konstruktionen in den Blick nehmen, die die Ausgrenzung spezifischer Gruppen legitimieren (sollen). Im Folgenden werden die zentralen Inhalte des Kapitels gebündelt. 2.5

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

Inhalt des zweiten theoretischen Kapitels war eine Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit und Körper und daran anschließend mit der Thematik von Ein- und Ausschließung. Die skizzierten Inhalte des Kapitels zielen zum einen darauf ab, eine integrierte Sicht auf die Lebenswelten von potentiellen Adressat*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu erarbeiten. Zum anderen fließen die Zusammenhänge der präsentierten Gedanken in die empirische Analyse ein. Die Darstellungen des Konzeptes der Intersektionalität, das mit diesem Kapitel in den heuristischen Rahmen der Arbeit eingeführt wird, dient der Konkretisierung einer Perspektive, in der soziale Ungleichheit durch verschiedene Kategorien und verschiedene Ebenen strukturiert wird. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Ebenen zusammenwirken und nicht getrennt voneinander zu betrachten sind. Bezieht man dies auf die Frage nach Ein- und Ausschließung, so lässt sich eine Perspektive darauf einnehmen, dass diese durch soziale Praktiken (im Rahmen von alltäglichen Interaktionen) verhandelt werden. Innerhalb von Interaktionen kommen jedoch auch Ressourcen zum oder ordentlich definiert; vor allem aber sind es Menschen, die nicht mit der Norm mithalten können, fähig zu sein, solchen Standards zu entsprechen […] Die Armen sind die Verkörperung und Prototyps des ,Unpassenden‘ und des ,Abnormalen‘ […] Die Norm agiert indirekt, indem sie Ausschluss eher wie eine Selbstmarginalisierung aussehen lässt“ (Baumann zit. nach Cremer-Schäfer 2002, S. 136).

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

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Tragen, die nicht nur ungleich strukturiert sind, sondern auch Hierarchie und Ungleichheit zum Ausdruck bringen. Sie sind semantisch als ungleich kodiert. Folglich ist der Fokus ebenso auf Normen zu richten, womit sich der Blick auf die Ebene der symbolischen Ordnung verschiebt. Dass und in welcher Weise diese Ebenen in Zusammenhang stehen, lässt sich mit dem Intersektionalitätsansatz begründen. Da Verkörperung jedoch immer mehr ist als die Verschränkung in sich geschlossener Kategorien, erfolgt die Ergänzung durch einige Kommentierungen zu Klassifikationen. So werden die Begriffe der Klassifizierung und der Positionierung bezugnehmend auf Konzepte der Körpersoziologie eingeführt, nicht zuletzt um offen zu legen, dass diese in (situierten und beobachtbaren) sozialen Praktiken zum Tragen kommen und darüber Ein- und Ausschließungen auf verschiedenen Ebenen ausgehandelt werden. Die soziale Dimension dieser Klassifikationen besteht nunmehr darin, dass sie auf verschiedenen Ebenen positionierende Wirkung haben und somit zentral innerhalb von Praktiken der Ein- und Ausschließungen sind. Im Alltag positionieren Personen sich und andere über Klassifikation innerhalb spezifischer und komplexer sozialer Ordnungen. Daraus entfaltet sich eine Sicht auf Positionierungen (einschließlich ihrer körperlichen Dimension), die diese auf verschiedenen Ebenen begreift: Für die Ebene der Praktiken wird herausstellt, dass Klassifikationen innerhalb dieser bedeutungsvoll werden, indem sie Personen situativ eine soziale Position zuweist. Zugleich sind Klassifikationen auf der Ebene des Symbolischen, der Semantiken und der Repräsentationen bedeutungsvoll. Innerhalb dieser wirken sie positionierend, da sie Subjekten einen Ort, eine Position innerhalb spezifischer symbolischer Ordnungen zuweisen, die über ihren situativen Charakter hinausweist und sich als übersituative Positionierung deuten lässt. Führt man diese Überlegungen weiter, dann lassen sich auch Ein- und Ausschließungen sind als positionierende Praktiken verstehen. Insofern Einzelne oder Gruppen in einem konkreten sozialen Gefüge ein- oder ausgeschlossen werden, werden sie im situativ positioniert. Da Positionierungen und die damit einhergehenden Ein- und Ausschlüsse Einzelnen oder Gruppen auch einen Platz innerhalb soziosymbolischer Ordnungen zuweisen oder die Einnahme eines solchen eben nicht ermöglichen, lassen Ein- und Ausschließungen sich ferner als übersituativ positionierende Praktiken auslegen. 227 Positionierungen vollziehen sich innerhalb sozialer Ordnungen, einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse. Eine kritische Betrachtung der Positionierungen und den damit einhergehenden Ein- und Ausschließungen ermöglicht somit Einblicke in bestehende gesellschaftliche Ordnungen. Und das ist letztlich nötig, um sie (sozial-)pädagogisch bearbeitbar zu machen. Dass Positionierungen immer auch Rückschlüsse auf die Ebene sozialer Strukturen erlauben, lässt eine integrierte Sicht auf soziale Ungleichheitsverhältnisse zu. So wei227

Die Differenzierung in (Ein- und Ausschließung als) situativ und übersituativ positionierende Praktiken geschieht in Anlehnung an Machold (2015).

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Soziale Ungleichheit und Körper

sen auch Degele und Winker (2007) darauf hin, dass auf allen Ebenen Differenzierungen, Naturalisierungen und Hierarchisierungen eine zentrale Rolle spielen. Denn nicht zuletzt konstruieren Individuen auf der Grundlage von Differenzkategorien unterschiedlichste Identitäten und reproduzieren verschiedenartige symbolische Repräsentationen und damit zugleich materialisierte Strukturen (vgl. Degele und Winker 2007, S. 4). Es lässt sich bündeln: Klassifikationen und Positionierungen stehen in einem Zusammenhang und dabei auf sozialer wie auf symbolischer Ebene in Verbindung mit sozialer Ungleichheit (vgl. Neckel und Sutterlüty 2008). Möchte man Dimensionen des Körperlichen darin erschließen, sind Bezugnahmen auf Konzepte der Körpersoziologie unabdingbar. Durch Erkenntnisse der Körpersoziologie können sich im Alltag zeigende Praktiken von Personen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Eine Dimension, die bislang nicht hinreichend beleuchtet wurde, ist die der sozialen Praktiken. Diese bilden Ausgangspunkt der empirisch ethnographischen Betrachtung und die Hinwendung zu der Ebene der Praktiken erfordert daher eine genauere Bestimmung eines Praktikenbegriffs. Im nun folgenden dritten Kapitel werden die Ausführungen mit praxistheoretischen Zugängen grundiert und diese in den heuristischen Rahmen der Arbeit integriert. Eine Theorie sozialer Praktiken bildet sodann den sozialtheoretischen Rahmen und eine ,Brille‘, durch die das ,Wie‘ von Praktiken perspektiviert werden kann (vgl. Schulz 2013, S. 531). Für die Studie, die ethnographisch angelegt ist, bietet die praxistheoretische Rahmung folglich die Möglichkeit das ,Wie‘ der (jugendlichen) Praktiken zu diskutieren sowie deren körperliche Fundierung zu begründen. Darüber hinaus kann so eine adressat*innenorientiertere Perspektive auf Praktiken im Kontext von Ein- und Ausschließung innerhalb eines konkreten pädagogischen Handlungsfeldes eingenommen werden.

3

Körper und soziale Praktiken

Das folgende dritte Kapitel fokussiert in theoretischer Hinsicht auf soziale Praktiken. Es ist in verschiedene Teile gegliedert. In einem ersten Teil werden Elemente einer Theorie Sozialer Praktiken nach Andreas Reckwitz (2003, 2004) dargelegt.228 Dieser betont: „Gegen diverse traditionelle Sozialtheorien wird nun die Materialität sozialer Praktiken, das heißt ihre Verankerung in Körpern und in Artefakten betont und die ‚Logik der Praxis‘ im Sinne eines Verhaltens modelliert, das situationsadäquat ,knowhow‘ Wissen zum Einsatz bringt“ (vgl. Reckwitz 2004, S. 41-42). Soziale Praktiken können durch praxistheoretische Perspektiven auch als kleinste Einheit des Sozialen und Bedingungsmoment sozialer Ordnungsbildung bestimmt werden. Sie tragen auch der Materialität der Praktiken in ihrer Verankerung in Körpern und Artefakten (Reckwitz 2004, S. 44) Rechnung.229 Da die Körperlichkeit der Praktiken sowohl die Performativität des Handelns als auch die Inkorporiertheit von Wissen umfasst, werden diese Aspekte diskutiert. Ergänzend finden Theorien zur Mimesis Berücksichtigung und damit der bis dahin theoretisch unterbestimmte Begriff der Inkorporation – der sowohl im Kontext körpertheoretischer Debatten sowie im Rahmen der Praxistheorie(n) als bedeutsam hervorgehoben wird – vervollständigt. Das Konzept der Mimesis erweist sich als anschlussfähig, da mit ihm erklärbar wird, wie sich Prozesse der Einverleibung vollziehen. Der Begriff der Performativität, der auf den Darstellungsaspekt sozialer Praktiken sowie auf deren wirklichkeitshervorbringenden Charakter verweist, wird ebenso in seinem Entstehungskontext verortet und in die Auseinandersetzungen einbezogen. Dass praxistheoretische Zugänge sich nicht zuletzt als geeigneter Bezugsrahmen für ethnographische Zugänge erweisen, wird in diesem Kapitel herausgearbeitet und im empirischen Part der Arbeit daran angeschlossen. Ethnographische Zugänge zeigen sich besonders dann als produktiv, wenn ein Forschungsinteresse nicht lediglich auf die sprachlich und reflexiv verfügbaren Auskünfte von beforschten Personen jenseits ihres Handlungskontextes abzielt, sondern auf (routinisierte) Praktiken im Vollzug vor Ort (vgl. Schulz 2013, S. 53).230 Die im 228

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Als besonders anschlussfähig erweisen sich Praxistheorien, da sie der Körperlichkeit sozialer Praktiken Rechnung tragen. Überdies wird in diesen insbesondere die (körperliche) Materialität und die informelle, implizite Logik von Praktiken sowie die in der Praxis eingebaute Tendenz zur Widerständigkeit und Veränderungsoffenheit akzentuiert (vgl. Reckwitz 2004, S. 40). Vor dem Hintergrund dieser Qualifizierung von Praktiken als kleinste Einheit des Sozialen lässt sich eine Position auf soziale Praktiken einnehmen, durch die soziale Ordnungen im pädagogischen setting konstituiert und stabilisiert werden und die so zur Kontingenz sozialer Ordnung beitragen. Eine Erweiterung praxeologischer Perspektiven durch ein gesellschaftstheoretisches Verständnis des Körpers ist somit nötig. Eine gesellschaftstheoretisch ausgerichtete Körpertheorie fokussiert nicht auf den individuellen Körper, sondern auf die Bedeutung der Körper oder des Körperlichen für die Gesellschaft. Körper und Gesellschaft betrachtet sie indes als miteinander verschränkt. Vergesellschaftete Körper sind somit Bestandteil gesellschaftlicher Strukturen (vgl. Schmincke 2009, S. 101-102). Somit können auch Praktiken im offenen Kinder- und Jugendtreff an den in der Praxistheorie relevant gesetzten Dimensionen Performativität und Inkorporation orientiert werden.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. B. Burghard, Körper und Soziale Ungleichheit, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 19, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31200-8_4

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Körper und soziale Praktiken

ersten Kapitel der Studie ausgearbeitete Zugangsweise zum Körper als Produkt und Produzent des Sozialen fügt sich in ein praxeologisches Verständnis sozialer Praktiken ein. Somit lassen sie sich als Praktiken mit dem Körper (Körper als Produkt) als auch Praktiken des Körpers (Körper als Produzent) auslegen. Ferner gilt zu berücksichtigen, dass Verhältnisse sozialer Ungleichheit durch Praktiken – durch körperliche und sprachliche Praktiken – hervorgebracht, verfestigt oder verändert werden. Überdies fungiert der Körper auch im Rahmen praxeologischer Sichtweisen als Speicher praktischer und Praktiken anleitender Wissensbestände. Im folgenden Part werden die Ausführungen mit einigen praxistheoretischen Grundannahmen sondiert und dafür Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken pointiert (vgl. Reckwitz 2003) und diese sodann hinsichtlich der leitenden Forschungsfrage der Arbeit diskutiert. 231 3.1

Praxistheoretische Grundannahmen

Praxistheoretische Zugänge wurden im Zuge des ‚practice turn‘ insbesondere von Schatzki (2002) sowie Schatzki, Cnorr-Cetina und von Savigny (2001), im deutschsprachigen Raum von Reckwitz (2003, 2004, 2010) sowie von Reuter und Hörning (2004) in den sozialwissenschaftlichen Diskurs eingeführt. 232 Die soziale Welt besteht in praxistheoretischer Theoriebildung aus räumlich und zeitlich verstreuten, disparaten sowie partiell miteinander verknüpften Praktiken und Praktikenkomplexen. Sodann bilden sozio-kulturelle Praktiken Ausgangspunkt einer praxeologischen Perspektive. Unter dem Begriff der Praktiken sind zudem diskursive und nicht-diskursive Praktiken zu fassen. Ein avanciert praxeologischer Theorie- und Analyserahmen umfasst folglich Praktiken, Diskurse, Artefakte, ebenso Subjektivierungen und liefert deren Materialität ein theoretisches Fundament (vgl. Reckwitz 2010, S. 188). Eingedenk

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Praxistheorien sind gemeinhin von Handlungstheorien abzugrenzen (dazu vertiefend Miebach 2010). Sie lassen sich dadurch kennzeichnen, dass sie soziales Geschehen mit der Hinwendung zu den praktischen Vollzügen körperlich-tätiger Akteur*innen beschreiben (vgl. Schatzki 2002, S. XII). Anders als in beispielsweise strukturfunktionalistischen Zugangsweisen basieren soziale Ordnungen, soziales Geschehen sowie sozialer Wandel auf sozialen Praktiken und deren mikrosozialer Abgestimmtheit. Die Praxistheorie zeichnet sich gemeinhin durch einen Perspektivenwechsel im Hinblick auf die Frage nach dem Generierungsmoment von Praktiken aus. Dabei bedient sich die Praxistheorie diverser Theoriebausteine, um mit diesen konzeptuelle Bausteine für ein praxeologisches Verständnis des Sozialen, des Handelns sowie eines entsprechenden praxeologischen Forschungsprogramms zu konzeptionalisieren. Zwar liefert Bourdieus Sozialtheorie eine Version einer Praxistheorie, die auf den Begriffen des Habitus, des sozialen Feldes, des praktischen Sinns und der Inkorporiertheit von Wissen aufbaut. Dass Bourdieu jedoch eher strukturalistisch argumentiert, wendet Reckwitz (2008) kritisch ein. Da eine Theorie sozialer Praktiken nicht wie ein Feld miteinander konkurrierender und sich ausschließender Theoriesystematiken, sondern vielmehr als eine sozialtheoretische Theorieperspektive fungiert, ist die Bezugnahme auf Bourdieu kein Widerspruch zu praxistheoretischen Postulaten und die Nuancierung des Habituskonzeptes als Handlungen anleitendes Prinzip vertretbar.

Praxistheoretische Grundannahmen

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dieser Fokussierung der Materialität von Praktiken – als emergente Ebene des Sozialen – bildet der Körper also den Gegenstandsbereich des Sozialen. 233 Als Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken markiert Andreas Reckwitz erstens die implizite sowie informelle Logik der Praxis und die Verankerung des Sozialen im praktischen Wissen und Können. Zweitens hebt er die Materialität sozialer Praktiken in ihrer jeweiligen Abhängigkeit von Körpern und Artefakten hervor. Als drittes Grundelement weist Reckwitz (2003) ein Spannungsfeld von Routinisiertheit und systematisch begründbarer Unberechenbarkeit von Praktiken aus (vgl. Reckwitz 2003, S. 282). Insgesamt wird sich im Rahmen der Praxistheorie von einem Handlungszugunsten eines Praktikenbegriffs abgegrenzt. Das ,Problem‘ sozialer Ordnung wird in einer solchen Perspektive durch die Repetitivität der Praxis gelöst (vgl. Reckwitz 2004, S. 40). So wird ein Verständnis zugrunde gelegt, in dem das ,Soziale’ von Praktiken in der Repetitivität sowie der Kollektivität von Verhaltensweisen verortet wird (vgl. Reichard 2004, S. 133). Bevor diese Facetten zu beleuchten sind, werden kurze Anmerkungen des der Praxistheorie zugrunde liegenden Verständnisses des ,Sozialen‘ vorgeschoben. Im Rahmen praxistheoretischer Positionen besteht Einigkeit darüber, dass die soziale Welt sich aus konkret benennbaren, einzelnen und miteinander verflochtenen Praktiken zusammensetzt. Gesellschaftliche Wirklichkeit vollzieht sich in dieser Perspektivierung in komplexen Netzwerken sozialer Praktiken, ebenso durch und mit einer Logik der Praxis. Diese gilt als durch gleichförmige, repetitive und routinisierte Handlungsmuster strukturiert. Dadurch bleiben spezifische Sinnstrukturen stabil und werden im Handeln re-produziert (vgl. Moebius 2008, S. 60). ‚Das Soziale‘ ist in praxeologischer Perspektive folglich in der Repetitivität von wissensabhängigen ,performances‘ zu verorten (vgl. Reckwitz 2004, S. 43). Ihre materiale Verankerung finden 233

Mitsamt ist der Praxistheorie ein spezifisches Verständnis von Kultur unterlegen. So basiert eine praxeologische Forschungsheuristik auf einem Kulturverständnis, in welchem diese als Praktiken, als ein Ensemble komplexer ,Kulturtechniken‘ gelten (vgl. Reckwitz 2010, S. 188). Somit wird der Blick auf materiale Prozesse verlagert, in denen je spezifische Sinnsysteme als Wissensordnungen eingesetzt und re-produziert werden (vgl. Reckwitz 2010, S. 189). So charakterisiert Schatzki (2001) das praxistheoretische Kulturverständnis folgendermaßen: „In social theory, consequently, practice approaches promulgate a distinct social ontology: the social is a field of embodied, materially interwoven practicies centrally organized around shared practical understandings. This conception contrasts with accounts that privilege individuals, (inter)actions, language, signifying systems, the life world, institutions/roles, structures, or systems in defining the social” (vgl. ebd., S. 3). Das Soziale sowie soziale Ordnungen werden in sozialen Praktiken verortet. Ebenso bieten Praxistheorien ein spezifisches Subjektverständnis, dem zufolge diese als Träger*in verschiedener Verhaltens- und Wissenskomplexe gedeutet werden. In ihren Merkmalen sind sie Produkte historisch- und kulturell spezifischer Praktiken. Ein einzelnes Subjekt ist die Sequenz von Akten, in denen es in seiner Alltags- und Lebenszeit an sozialen Praktiken teilnimmt (vgl. Reckwitz 2003, S. 296). Überdies sind allgemeine Subjekteigenschaften als soziale Anforderungen sowie als Produkte historischer und kulturell spezifischer Praxiskomplexe zu begreifen. Die sozialen Praktiken produzieren zugehörige Eigenschaften von Innerlichkeit und Konstanz (vgl. Reckwitz 2003, S. 296).

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Körper und soziale Praktiken

sie in den Körpern sowie in den Dingen, den Artefakten. Ferner ist das ,Soziale‘ in Praktiken, der Kollektivität von Verhaltensweisen sowie auf der Ebene kollektiver Wissensordnungen (Codes, Semantiken, Sinnhorizonte) zu situieren. Es erweist sich dann als begreifbar, wenn es – über soziale Strukturen hinaus – als veränderliche kulturelle Ensembles von Praktiken und Diskursen betrachtet wird (vgl. Reckwitz 2010, S. 187). Zudem gründet es sich auf dem Zusammenspiel von körperlichen Verhaltensroutinen und praktischem Können und ebenso darauf, dass diese Praktiken von den Subjekten angeeignet werden. Die Praktiken, durch die ‚das Soziale‘ konstituiert wird, werden durch ein spezifisches praktisches Wissen, im Sinne eines im Körper verankerten Könnens, zusammengehalten (vgl. Reckwitz 2003, S. 289). Es ist daher nur .unter Berücksichtigung der Materialität sowie der impliziten, nicht-rationalistischen Logik (durch die Beobachtung von Praktiken) rekonstruierbar. Die Materialität der Praktiken erstreckt sich auf die Körperlichkeit sowie auf den Umgang mit Dingen und Artefakten. Das Soziale wird zudem durch verschiedene soziale Ordnungen strukturiert. Diese Ordnungen sind nicht als statisch zu verstehen. Es wird im Handeln der Akteur*innen hergestellt, verfestigt oder modifiziert.234 Schatzki (2001) zufolge gelten soziale Ordnungen „as an arrangement of people und organisms, artifacts and things through which they coexist“ (ebd., S. 43). Es lässt sich pointieren: Soziale Ordnungen, soziale Normen und Institutionen werden auf der Grundlage körperlicher Abstimmungen hergestellt und präsentieren sich als eine eigenständige, über das individuelle Handeln hinausgehende, soziale Realität. Dabei besteht zwischen sozialen Praktiken und sozialen Ordnungen ein zirkuläres Verhältnis: Zum einen gelten sie als durch Handeln re-produziert, zum anderen wirken sie auf Handlungen ein (vgl. Böhle 2010, S. 350).235 Soziale Ordnungen basieren auf objektivierbarem und explizierbarem sowie praktischem Wissen, welches im praktischen Handeln erworben wird und auf dem körperlich-leiblichen Zugang zur Welt beruht (vgl. Böhle 2010, S. 358).236 Vor dem Hintergrund praxistheoretischer Sichtweisen lässt sich eine Perspektive auf soziale

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In einer praxeologischen Perspektive werden kognitiv-symbolische, sowie soziale Ordnungen, kulturelle Codes und Strukturen einer Gesellschaft nicht auf der mentalen, sondern auf der Ebene der sozialen Praktiken angesiedelt. Über diese entfalten Deutungsmuster, Sinnstrukturen, kollektive Wissensschemata sowie symbolische Machtverhältnisse ihre Wirkungen. Zudem bestehen sie in sozialen Praktiken (vgl. Moebius 2008, S. 60-61). Eine einzelne soziale Praktik ist gemeinhin Teil eines übersubjektiven Handlungsgefüges. Diese Mischung aus Routine, Reflexion, aus Repetitivität und kultureller Innovativität bezeichnet die Verwicklung menschlicher Handlungen in der sozialen Praxis. Eine Praktik ist dabei sowohl eine kollektiv vorkommende Aktivität als auch eine potenziell intersubjektive als legitimes Exemplar einer bestimmten Praktik geltende Praktik (vgl. Reckwitz 2010). In diesem Zusammenhang hat implizites Wissen eine tragende Funktion. Es drückt sich körperlich aus. Interaktionspartner*innen wissen Handlungen, Inszenierungen, Reaktionen der Interagierenden üblicherweise einzuordnen, was wiederum auf ihre Praktiken wirkt.

Praxistheoretische Grundannahmen

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Praktiken von Adressat*innen im Alltag in pädagogischen Handlungsfeldern einnehmen, in der davon ausgegangen wird, dass soziale Ordnungen – einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse – körperlich ausgehandelt werden. Dabei gilt die Annahme grundlegend, dass soziale Praktiken als kleinste Einheit des Sozialen bestimmbar sind und innerhalb derer praktisches Wissen als Handlungen anleitendes Prinzip perspektiviert wird. Diesem Aspekt wird sich im Folgenden zugewendet. Soziale Praktiken Soziale Praktiken gelten in praxistheoretischer Perspektive als kleinste Einheit des Sozialen. Sie setzen sich aus einem organisierten Bündel von Tätigkeiten sowie aus Gesagtem und Getanem zusammen. Dies wiederum bildet einen Zusammenhang mit einander verwobenen Handlungen (vgl. Schatzki 2001, S. 71). Schatzki (1996) zufolge gelten soziale Praktiken als „temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings“ (vgl. ebd. 89), als typisiertes, routinisiertes und sozial verstehbares Bündel von Aktivitäten (zit. nach Reckwitz 2003, S. 289). Unter sozialen Praktiken lassen sich Praktiken des Regierens, des Organisierens, der Partnerschaft, der Verhandlungen, des Selbst aber eben auch der Inszenierung bündeln. Eine einzelne soziale Praktik ist folglich – so Reckwitz (2003) – eine Praktik der Verhandlung, eine Praktik des Umgangs mit beispielweise einem Werkzeug aber auch eine Praktik des Umgangs mit dem eigenen Körper (vgl. Reckwitz 2003, S. 290).237 Eine Praktik stellt sich somit als eine typisierte routinisierte Form des Sich-Verhaltens dar. Sie begründet ferner eine subjektiv wahrgenommene Handlungsnormalität. Die Ermöglichung und die Regulierung sozialer Praktiken liegen in impliziten Wissensordnungen sowie ihrer materialen Verankerung in Körpern und Artefakten begründet (vgl. Reckwitz 2010, S. 189). Aufgrund dieser Verankerung (in Körpern und Artefakten) lassen soziale Praktiken sich als doppelt materialistisch charakterisieren.238 Zum einen erstreckt sich die Materialität sozialer Praktiken auf die Körperlichkeit. Somit gerät das Somatische als Konstituens des Sozialen in den Blick. Zum anderen umfassen (körperliche) Aktivitäten auch immer den Umgang mit Dingen – Artefakten (vgl. Bongaerts 2007, S.

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Praktiken sind interaktiv oder intersubjektiv. Sie beziehen sich auf Praktiken mit anderen Personen. Darüber hinaus sind Praktiken interobjektiv, wenn es sich um routinisierte Aktivitäten von Personen im Umgang mit Objekten handelt. Zudem können soziale Praktiken die Formen der von Foucault benannten Techniken des Selbst annehmen, wenn es sich um Aktivitäten handelt, in denen eine Person mit oder ohne Objekten oder aber auf sich selbst bezogen agiert (vgl. Reckwitz 2003, S. 292). Die Materialität sozialer Praktiken umfasst die Materialität der Körper ebenso die der Dinge. Deren sinnhafter Gebrauch sowie ihre praktische Verwendung stellen zum einen Bestandteil einer sozialen Praktik, sowie zum anderen eine soziale Praktik selbst dar (vgl. Reckwitz 2003, S. 291). Das den Praktiken intrinsische Moment der Körperlichkeit und Materialität verweist auf die Inkorporiertheit kultureller Codes, eine in der alltäglichen Praxis körperlich-habituelle Einverleibung und Materialisierung symbolischer Wissensbestände (vgl. Moebius 2008, S. 61).

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Körper und soziale Praktiken

249) oder aber Aktanten. So resümiert Reckwitz (2003), dass soziale Praktiken regelmäßig die Form routinisierter Beziehungen zwischen Subjekten und den von ihnen verwendeten materialen Artefakten annehmen (vgl. ebd., S. 289). An die Frage danach, was Praktiken generiert, setzen Praxistheoretiker*innen das inkorporierte, praktische und implizite Wissen. 239 An dieses ist das Können der Akteur*innen geknüpft. Das praktische inkorporierte Können hält, Reckwitz (2008, S. 151; 2003, S. 290; 2010, S. 190) zufolge, die sozialen Praktiken durch in den Körpern der Subjekte inkorporierte praktische Formen des Verstehens und Wissens sowie durch Verhaltensroutinen zusammen. Somit bestehen Praktiken maßgeblich aus routinisierten Bewegungen und Aktivitäten des Körpers und sind als ‚skilful performance‘ von kompetenten Körpern auszulegen (vgl. Reckwitz 2003, S. 290).240 Diese müssen indes für die Umwelt wahrnehmbar sein und eine ,skilful performance‘ darstellen. Die Voraussetzung, dass eine Praktik als ,skilful performance‘, also sozial verständlich wahrgenommen und anerkannt wird, liegt darin begründet, dass die Teilnehmer*innen einer Interaktion kollektive Wissensbestände miteinander teilen, auf Grundlage derer sie eine Praktik interpretieren. Reckwitz (2004) pointiert: „Eine Praktik ist ein Set bestimmter, Kriterien genügender Bewegungen, die von der Umwelt als eine solche Praktik perzipiert werden kann und intelligibel ist“ (Reckwitz 2004, S. 45). Die soziale Verständlichkeit einer Praktik ist entsprechend auf die körperliche ,performance‘ zu richten. Insofern eine soziale Praktik aus bestimmten, routinisierten – durch bestimmte Wissenskriterien regulierte – Formen von Bewegungen und Aktivitäten des Körpers besteht, der mit inkorporiertem Wissen ausgestattet und somit praxiskompetent ist, ist der praxistheoretischen Lesart die körpersoziologische Dimensionierung des Körpers als Produzent inhärent. So pointiert Reckwitz (2010), dass eine Praktik ein Ensemble 239

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Einem so gefassten Verständnis zufolge lassen soziale Praktiken sich als wissensbasierte Tätigkeiten ausweisen, da in ihnen zum einen praktisches, implizites und eingekörpertesWissen – ein Können im Sinne des ‚know how‘ – zum Einsatz kommt (vgl. Reckwitz 2003, S. 292). Dieses ist körperlich und leiblich verankert (vgl. Reckwitz 2010, S. 186). Es gilt als konstitutiver Bestandteil einer Praktik, so Reckwitz (2003, S. 292). Die spezifischen Formen des Wissens sind den jeweiligen Praktiken zuzuordnen und rekonstruierbar. Zum andern sind Praktiken in umfassende sozial geteilte, implizite, methodische und interpretative Wissensbestände eingebettet. Gleichsam gelten diese Praktiken nicht als punktuelle, diskrete oder habituelle Exemplare, die nur einmalig vorkommen. Sie sind in sozialen und historischen Zusammenhängen, Strukturen und Verhältnissen situiert, welche wiederum von komplexen sozialen Ungleichheiten, Macht- und Herrschaftsverhältnissen strukturiert werden. Wenn Personen Praktiken erwerben, dann bedeutet es, dass sie ihre Körper in bestimmter Weise zu nutzen, bewegen oder aber zu halten lernen. Diese Tatsache lässt sich mit der Anthropologie Plessners verbinden. Da der Mensch von Natur aus künstlich ist und sich zu dem, was er ist, erst machen muss, benötigt er eine soziale Ordnung. Er muss lernen, den eigenen Körper zu nutzen, beispielsweise durch die sozialisatorische Aneignung von Körpertechniken. Wenn Reckwitz (2003) die Annahme bestärkt, dass nicht unmittelbar sichtbare Aktivitäten des Körpers – Muster des Fühlens oder Formen des Denkens –soziale Praktiken sind, dann bezieht sich die Körperlichkeit einer Praktik nicht bloß auf eine Praktik mit dem Körper, sondern ebenso auf körperleibliche Praktiken und innere leibliche Vorgänge.

Praxistheoretische Grundannahmen

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miteinander verknüpfter und regelmäßiger Aktivitäten der Körper in Form routinisierter modi (nexus des Tuns und Sagens) körperlicher Darstellungen ist. Körper sind in dieser Perspektive insofern als Akteur*innen zu begreifen, als dass das praktische Wissen sie handlungsfähig und somit zu Akteur*innen macht (vgl. Reckwitz 2004, S. 44). Das praktische Wissen ermöglicht ferner einen adaptiven Umgang mit Unsicherheit.241 Es ist nicht direkt zugänglich, sondern in performativen Praktiken rekonstruierbar (vgl. Alkemeyer et al. 2010). Soziale Praktiken lassen sich durch ein gewisses Maß an Routinisiertheit, Geordnetheit und Reproduktivität – im Sinne der Routinisierung und Abgestimmtheit – charakterisieren. Diese garantiert der Sozialwelt ihre Stabilität. Die durch Praktiken generierte routinisierte Stabilität wird zum einen insbesondere durch implizites, praktisches im Körper verankertes Wissen und Verstehen ermöglicht (vgl. Reckwitz 2003, S. 294), zum anderen beziehen sich diese Zugänge ebenso auf die Artefakte.242 Das Wissen ist weniger als kognitiv-rationales Wissen oder als Können zu deuten, sondern als inkorporiertes Körperwissen, das körperlich und leiblich mobilisierbar ist. Somit ist das körperbezogene Wissen eine Form praktischen Wissens, das einem inkorporierten praktischen Sinn folgt und ein präreflexives Beherrschen der sozialen Welt ermöglicht. 243 Dass soziale Praktiken eine spezifische Abgestimmtheit aufweisen, bildet Grundlage eines weiteren Grundelementes sozialer Praktiken. Als dieses weist Reckwitz (2010) die implizite und informelle Logik sozialer Praktiken aus. Die Logik der Praktiken zeigt eine spezifische Abgestimmtheit. Auch hierfür ist das in einem gewissen Maß 241

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In praxistheoretsichen Zugängen werden diese Wissenskomplexe nicht als universal, sondern als historisch-spezifisch sowie als kontingent verstanden (vgl. Reckwitz 2003, S. 292). Wissen wird in drei verschiedene Wissensformen differenziert: Erstens ein Wissen im Sinne eines interpretativen Verstehens; das bedeutet ein routinemäßiges Zuschreiben von Bedeutungen zu Gegenständen, von Personen oder dem Selbst. Zweitens als ein methodisches Wissen, welches Reckwitz (2003) als script-förmige Prozeduren fasst, mittels derer Personen diverse Praktiken hervorbringen. Drittens identifiziert Reckwitz (2003) motivational-emotionales Wissen als eine eigenständige Wissensform. Den Begriff des impliziten Wissens hat Michael Polanyi (1985) geprägt. Damit bezeichnet er ein wahrnehmungs-, entscheidungs- und handlungsorientierendes Wissen im Sinne eines Körperkönnens, das nur bedingt explizierbar ist. In anderer Weise konzipiert Marcel Mauss Körperwissen als Körpertechniken. Schütz und Luckmann bezeichnen dieses als Fertigkeiten und Routinen. Bei Garfinkel findet sich der Begriff der ,skills‘. Bei Foucault ist das Körperwissen mit dem Begriff der Disziplin assoziiert. Ebenso kommt diese Wissensform in Bourdieus Konzept des Habitus oder des praktischen Sinns zum Tragen. Die unterschiedlich gelagerten Theorien zielen allesamt auf eine nicht kognitive Wissensform, die der Reflexion schwer zugänglich und schwer verbalisierbar ist. Diese wird im Handlungsvollzug generiert, ebenso wie es diese konstiuiert (vgl. Alkemeyer et al. 2010, S. 231). In praxistheoretischer Perspektive gelten Wissenssysteme als Systeme von Klassifikationen und Repräsentationen, welche in ihrer praktischen inkorporierten Aggregatform als ein Körperwissen (vgl. vertiefend Keller und Meuser 2011) von Kriterien, Scripts, Schemata und Bewertungen vorkommen (vgl. Reckwitz 2010, S. 190). Die Fähigkeit, eine Praktik als Sequenz von Körperbewegungen zu vollziehen, setzt (nach innen) die Inkorporierung des praktischen Wissens voraus. Das praktische Wissen stellt zum einen klassifikatorisches und evaluatives Wissen dar, zum anderen ist es als ein praktisches Verstehen auszulegen. Dabei wirkt es handlungsanleitend und ermöglicht Partizipation an Praktiken (vgl. Reckwitz 2010, S. 190).

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Körper und soziale Praktiken

aufeinander abgestimmte praktische Wissen konstitutiv. Es ist durch eine praktische Logik, welche sich durch Situationsbezogenheit und Prozeduralität auszeichnet, charakterisiert (vgl. Alkemeyer et al. 2010, S. 231) und kommt in körperlichen Routinen und Fertigkeiten zum Ausdruck (vgl. Hörning 2004, S. 24-25). Zum einen wird das Praktiken anleitende und in Praktiken mobilisierte, inkorporierte, praktische Wissen mimetisch erworben, zum anderen ist es performativ: Seine Performativität gestaltet soziale Beziehungen und Verhältnisse sowie den Verlauf der Praktiken. Dabei wird es auf ganz vielfältige Weise performativ (vgl. Wulf 2005, S. 67). Es lässt sich an dieser Stelle festhalten: Soziales Handeln ist als performativ-mimetisches Handeln zu betrachten, das in seinem Vollzug auf seine Herkunft verweist. Es bringt das Soziale individuell zum Ausdruck. Gleichsam drückt es das Individuelle sozial aus, da es eine dezidiert körperliche Durchführung, Aus- und Aufführung ist. Somit generiert und gestaltet soziales Handeln die Kontinuität und Differenzialität der sozialen Wirklichkeit (vgl. Wulf 2005, S. 11; Wulf und Zirfas 2007, S. 31).244 Einmal vermittelt und inkorporiert tendiert praktisches Wissen dazu, von den Akteuren immer wieder eingesetzt zu werden und repetitive Muster der Praxis hervorzubringen (vgl. Reckwitz 2003, S. 294). Praktische Wissenskomplexe umfassen sowohl Fähigkeiten und Kompetenzen um Aufgaben zu bewältigen, als auch situationsadäquate Körperbewegungen und -haltungen zu generieren, durch die soziale Situationen inszeniert und aufrecht erhalten werden. Gleichsam ist das durch praktisches Wissen angeleitete Handeln nicht als bloße mechanische Regelbefolgung zu verstehen (vgl. Reckwitz 2003, S. 294), sondern es versorgt Akteur*innen mit Kreativitätspotenzialen.245 Darin, dass soziale Praktiken routinisiert und unberechenbar erscheinen, sieht Reckwitz (2003) ein weiteres Kernelement sozialer Praktiken. Diesem widmen sich die im Folgenden präsentierten Gedanken.

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Die Begriffe verweisen auf zwei wesentliche Dimensionen sozialer Praktiken. Praktisches Wissen wird inkorporiert, somit bezieht es sich auf das ,Innen‘. Insofern soziale Praktiken aufgeführt werden, wird mit ihnen etwas dargestellt, performiert. Diese Dimension von Praktiken verweist auf das ‚Außen‘, auf die von Reckwitz markierte Expressivität. Inkorporation und Expressivität gelten gemeinhin als elementare Dimension des praktischen Wissens. Unter Berücksichtigung körpersoziologischer Perspektiven auf den Körper als Produkt und Produzent lässt sich das praktische Wissen als ‚praktische Vernunft‘ und ‚sinnhafte Verstehensleistungen‘ des Körpers (als Produzent) und dessen praktischer Verstehensfähigkeit auslegen. Das Konzept des ,praktischen Sinns‘ bietet Anknüpfpunkte für eine solche Zugehensweise, da markiert wird, dass der Körper situationsbezogen und -adäquat agiert. Überdies lassen sich Rückbezüge zur Leiblichkeit von Praktiken herstellen: Praktisches Wissen ist immer auch ein sinnliches Wissen, „dessen mimetischer Charakter seine performative Macht sichert“ (Wulf 2004, S. 15). Es ist zum einen körperlich und zum anderen eng mit sinnlichen und leiblichen Prozessen verbunden, denn für die Entstehung eines praktischen Wissens spielen die Sprachlichkeit, Körperlichkeit sowie Sinnlichkeit und Leiblichkeit der jeweils handelnden Akteur*innen, sowie die mimetische Inkorporation eine gewichtige Rolle (vgl. Zirfas 2004, S. 60). Diese Zugangsweise zu den inkorporierten und handlungsanleitenden Wissensbeständen ermöglicht körperleibliche Praktiken teils als intentionale und teils als präreflexiv und habitualisierte Praktiken, die sich aus inkorporierten Wissensbeständen speisen, in den Blick zu nehmen.

Praxistheoretische Grundannahmen

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Zwar lassen Praktiken oder soziale Praktikenkomplexe sich dadurch charakterisieren, dass sie über eine implizite und mitunter nicht verbalisierbare Wissensordnung strukturiert sind und zu ihrer Wiederholung tendieren, in der Praxis – die Reckwitz (2010) als eine Serie temporaler Ereignisse durch Körper und Artefakte in raumzeitlichen Situationen ausweist – liegt jedoch auch Potenzial für überraschende Verschiebungen, Modifizierungen und Eigensinnigkeiten (vgl. Reckwitz 2010, S. 190). Somit sind soziale Praktiken zum einen anschlussfähig an Fragen nach der Reproduktion des Sozialen, sowie zum anderen nach dessen Irritation und Veränderung. Auch Reichardt (2004) sensibilisiert für die zwei Seiten der Logik der Praxis, die zwischen repetitivem Entfalten und produktiver Kreativität, zwischen Wiederholung und Neuerschließung changiert (Reichardt 2004, S. 131). Daran lässt sich anschließen und herausstellen, dass praxistheoretische Zugänge auf die Ambivalenzen der Praxis, zwischen einer relativen Geschlossenheit der Wiederholung von Praktiken und einer Offenheit für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeiten des alltäglichen Vollzugs fokussieren (vgl. Reckwitz 2003, S. 294).246 An die bisher entfalteten praxistheoretischen Perspektiven lässt sich anschließen und festhalten: Durch die Beobachtung von Praktiken geraten diese als körperlich feinjustiertes Abstimmungsverhalten in den Blick, genauso das emotionale Erleben und die affektiven Reaktionen. Diese stellen nicht bloß Reaktionen dar, sondern sind in sozialen Situationen inkorporierte soziale Strukturen (vgl. Bongaerts 2007, S. 258). Und in diesen Praktiken werden soziale Ordnungen – beispielsweise im pädagogischen Alltag des Offenen Kinder- und Jugendtreffs – aufgeführt, bespielt, bestätigt oder sich ihrer entzogen. In praxistheoretischer Perspektivierung umfasst die Körperlichkeit von Praktiken sowohl die Performativität des Handelns als auch die Inkorporiertheit von Wissen, welches wiederum handlungsanleitend wirkt. Wie dieses Wissen einverleibt wird, bleibt jedoch theoretisch unterbestimmt. Auch der wirklichkeitskonstituierende Charakter sozialer Praktiken – ihre performative Dimension – wird nicht hinreichend erörtert. Aus diesem Grund werden in einem weiteren Schritt zum einen der Begriff der Inkorporation bezugnehmend auf anthropologische Sichtweisen um das Konzept der Mimesis ergänzt und zum anderen der Begriff der Performativität unter Berücksichtigung kulturwissenschaftlicher, poststrukturalistischer und sprachphilosophischer Sichtweisen präzisiert. Mitsamt finden sich in der Praxistheorie wenige Anhaltspunkte dazu, wie praktische Wissensbestände erworben werden.247 Hier scheint das anthropologische Konzept 246

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Dass praxistheoretische Zugänge die Spannungsgeladenheit von Routinisiertheit und Unberechenbarkeit berücksichtigen, lässt sich mit der körpersoziologischen Dimensionierung des Körpers als ,Agens‘ (vgl. Meuser 2006) in Verbindung bringen. Praktiken des Körpers ist innovatives und widerständiges Potenzial inhärent, da der Körper – trotz kultureller Formung, Disziplinierung, Kontrollierung oder Optimierung – ein Stück weit ,asozial‘ ist (vgl. Meuser 2006, S. 112). Reckwitz (2004) sieht den Erwerb des praktischen Wissens in sozialen Praktiken selber begründet. Laut seiner Theorie erwerben Akteur*innen in diesen nicht lediglich Fähigkeiten zur Aufgabenlösung

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Körper und soziale Praktiken

der Mimesis anschlussfähig. Dies steht im Fokus des folgenden Parts. Somit wird der Begriff der Inkorporation mit einem performativ-mimetischen Modell der Einverleibung fundiert und für den theoretischen Teil der Analyse erarbeitet (Gebauer und Wulf 1998; Wulf 2005). Bereits an dieser Stelle soll jedoch herausgestellt werden, dass mimetische Prozesse sich stets in sozialen Kontexten vollziehen, die von sozialen Verhältnissen strukturiert, symbolisch codiert sowie von Werten und Normen durchzogen sind. Ebenso werden in mimetischen Prozessen immer auch gesellschaftliche Machtverhältnisse vermittelt. Sodann ist Mimesis in ihrer machtreproduzierenden Wirksamkeit zu reflektieren (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S. 113). 3.2

Ein performativ-mimetisches Modell der Einverleibung

Der Begriff Mimesis stammt originär aus der Ästhetik und bezeichnet die Nachahmung der Schaffenskraft der Natur (vgl. Wulf 2005, S. 70).248 Gebauer und Wulf (2003) entfalteten das Konzept der Mimesis als Begriff der Sozialwissenschaft. Bezugnehmend auf Perspektiven der Anthropologie und der Ritualtheorie entwickelten sie so eine Zugangsweise zur Genese des ‚Sozialen‘, in der die leiblich-affektive Dimension von Gesellschaft, von sozialem Handeln und Ästhetik, von Körper und Ordnung, von Wiederholung und Erneuerung sowie von Ähnlichkeit und Differenz Berücksichtigung finden (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S. 9-10). Mitsamt unterscheidet sich eine solche anthropologisch fundierte Sozialtheorie in einigen Hinsichten von Theorien sozialer Praktiken. Sie treffen sich jedoch in der Annahme der Materialität von Praktiken. Wird in praxistheoretischer Perspektivierung die Materialität von

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oder der Situationseinschätzung und -bewältigung. Sie bilden ebenso praktisches Wissen heraus. Dieses ist nicht primär ein mental ge- und bewusstes Wissen, sondern ein durch körperliche Übung inkorporiertes Wissen. Durch seine körperliche Verankerung ist es materialisiert (vgl. Bongaerts 2007, S. 249). Eine etwas anders gelagerte Perspektive findet sich bei Wulf (2005). Ihm zufolge vollzieht sich in Herausbildung des Wissens eine Disziplinierung des Körpers. Es entsteht diszipliniertes und kontrolliertes praktisches Wissen, welches einverleibt im Körper sedimentiert bleibt und eine Inszenierung bestimmter Formen symbolisch-szenischen Handelns ermöglicht (vgl. Wulf 2005, S. 95-96). Es lässt sich bündeln, dass als wesentliches Moment des Erwerbs praktischen Wissens der Vollzug von Praktiken, die Übung sowie daraus resultierend die Disziplinierung des Körpers herangezogen werden kann. Dies scheint jedoch nicht hinreichend. Ebenso bleibt die Frage nach den Modi der Einverleibung bei Bourdieu, wie bereits im zweiten Kapitel hervorgehoben wurde, untertheoretisiert. Dies scheint wunderlich, da der Begriff der Inkorporation insbesondere in den Konzeptionen des Habitus und des praktischen Sinns als konstitutiv markiert wird. Die anthropologische Bedeutung des Mimesiskonzeptes wurde bereits von Platon und Aristoteles diskutiert. Demzufolge verweist es auf die beim Menschen entwickelte Fähigkeit zur Nachahmung (vgl. Wulf 2005, S. 70, Wulf 2005, S. 71-72; Gebauer und Wulf 2003). In anderer Verwendung rekurrieren Adorno und Horkheimer (1988) auf diesen Terminus. In der ,Dialektik der Aufklärung‘ bezeichnen die Autoren der ,Kritischen Theorie‘ Mimesis als einen Prozess, der Angleichung, Ähnlichkeit und Differenz ermöglicht; als Möglichkeit zur Entfaltung, als Ermöglichung eines Changierens zwischen Innen und Außen (vgl. Wulf 2005, S. 72-73). In der hier eingenommenen anthropologischen Lesart trägt das Konzept der Mimesis zum Verständnis und zur Erklärung von Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungsprozessen sowie sozialer Handlungen und ästhetischer Erfahrungen bei (vgl. Wulf 1994).

Ein performativ-mimetisches Modell der Einverleibung

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Handlungen in Verbindung mit Körper und Artefakte betont, so wird in anthropologischer Perspektivierung der performative Charakter sozialen Handelns und somit dessen Aufführungs- und Inszenierungscharakter hervorgehoben. Somit rückt der Körper der Handelnden, seine Bewegungen, Rhythmen, Mimik, Gestik und Inszenierbarkeit in den Fokus (vgl. Wulf 2005, S. 67). Gebauer und Wulf (2003) schließen an anthropologische Sichtweisen auf das Mimesiskonzept an und nutzen es mitunter zur Erklärung der Konstitution sozialer Lebenswelten. Überdies diskutieren sie die Bedeutungen mimetischer Prozesse für die Aneignung der Welt bei Kindern, für die Inszenierung und Aufführung von Ritualen sowie für die performative Gemeinschaftsbildung (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S.10).249 Das Konzept der Mimesis greift so zum einen den Aspekt der körperleiblichen Verinnerlichung der sozialen Ordnung auf, zum anderen begründet diese anthropologische Ergänzung die performative Dimension sozialer Praktiken.250 Da mimetische Vorgänge eng mit körperlichen Prozessen verbunden sind, eignet sich das Konzept dazu, die somatische Dimension sozialer Praktiken sowie deren Einschreibungsprozesse einer differenzierteren theoretischen Betrachtungsweise zugänglich zu machen.

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In Abgrenzung zu Praxistheorien, in denen sich von einem Handlungs- zugunsten eines Praktikenbegriffs distanziert wird, rekurrieren die Autoren in ihrer anthropologisch fundierten Sozialtheorie auf den Begriff des Handelns. Anders als handlungstheoretische Ansätze fragen Gebauer und Wulf (1998, 2003) sowie Wulf (2005) nach der Genese des Sozialen. Dabei messen die Autoren mimetischen, performativen und rituellen Prozessen konstituierende Bedeutung zu. Gleichsam betrachten sie diese als körperliche Prozesse, die jeweils in konkreten sozialen Situationen, in je spezifischen Kulturen und geschichtlichen Zeitpunkten, eingebettet in Raum und Zeit, vollzogen werden. Die jeweiligen Rahmen legen fest, wie sie zu begreifen sind (vgl. Wulf 2005, S.7). Gebauer und Wulf (2003) legen ihren Ausführungen die These zugrunde, dass das durch Handeln konstituierende Soziale ohne den Rückbezug auf die körperliche Dimension nur unzulänglich begriffen werden kann. Dies umfasst mimetische, performative und rituelle Prozesse (vgl. Wulf 2005, S. 7). Die Praxistheorie und die anthropologisch fundierte Sozialtheorie treffen sich in der Stärkung der Perspektivierung der Materialität von Praktiken. Überdies teilen sie die Annahme, dass soziales Handeln auf inkorporiertem (mimetisch erworbenem) praktischem Wissen beruht, das für seine Wirksamkeit keine Repräsentation im Bewusstsein der Handelnden bedarf (Wulf 2005, S. 8). Seine Performativität gestaltet aber soziale Beziehungen und Verhältnisse (vgl. Wulf 2005, S. 7). In anthropologischer Positionierung führt Wulf (2005) weiter aus, dass soziales Handeln komplex ist. Die Bedeutungen des Handelns sind nicht immer unmittelbar zugänglich (vgl. Wulf 2005, S. 7-8). Soziale Handlungen werden in konkreten von Macht- und Herrschaftsverhältnissen durchzogenen sozialen oder in sozialen Räumen vollzogen, die von symbolisch strukturierten Beziehungsnetzen durchzogen sind (vgl. Wulf 2005, S. 8). Diese geben den körperlichen Inszenierungen und Aufführungen des sozialen Handelns ihre Bedeutung. Folglich vermitteln die jeweiligen Rahmungen Erkenntnisse darüber, wie sie zu verstehen sind. Soziale Praktiken sind von dieser Doppelaspektivität von Inkorporation und Performativität gekennzeichnet. Verweist der Begriff Inkorporation auf das ,Innen‘ einer Praktik, so bezieht sich Performativität des Handelns auf Handlungen, die für ein ‚Außen‘ hervorgebracht werden. In dieser Perspektive sind soziale Handlungen als symbolische Arrangements des menschlichen Körpers zu begreifen (vgl. Wulf 2005, S.11).

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Körper und soziale Praktiken

Gebauer und Wulf (2003) zufolge ist soziale Mimesis Bedingungsmoment sozialen Handelns. Ganz allgemein bezeichnet Mimesis die Fähigkeit, menschliche Verhaltensweisen, Praktiken und Situationen sinnlich-sinnvoll nachzuvollziehen, auszudrücken und darzustellen. Dabei sind mit dem Begriff Komponenten wie Nachahmung und Anähnlichung, Prozesse der Nach- und Umgestaltung, das Herstellen von Ähnlichkeitsbeziehungen, ,etwas zur Darstellung bringen‘, ausdrücken oder vorahmen in allen möglichen kulturellen und sozialen Bereichen assoziiert (vgl. Wulf 1994, S. 23). Mimesis erzeugt Material im Inneren des Körpers, welches in der Performativität von Handlungen sichtbar wird (vgl. Wulf 2005, S. 77). Als mimetisch gelten Wulf (2001) zufolge jene Prozesse, die sich als Bewegungen auf andere Handlungen oder Welten beziehen, die sich als körperliche Aufführungen der Inszenierungen begreifen lassen, die gleichsam eigenständige Handlungen sind, die aus sich heraus verstanden werden, die aber auch auf andere Handlungen oder aber auf andere Welten bezogen sein können (vgl. ebd., S. 261). Sie vollziehen sich mit Hilfe von Wahrnehmung (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S. 126).251 Als wiederholende Herstellung vorgängiger Welten und Spektrum möglicher Bezüge entwerfen Menschen mit ihren Sinnen und Praktiken die Welt, die entweder als wirklich angenommen, postuliert und hypostasiert wird oder fiktional ist (vgl. Villa 2008, S. 206; Gebauer und Wulf 1998, S.16). Dabei findet in der Herstellung von Ähnlichkeitsbeziehungen und Korrespondenzen zu anderen Personen, zu Anlässen, zu sozialen Situationen oder zu der sozialen Umwelt eine Annäherung an die Außenwelt statt (vgl. Wulf 2005, S. 9). Die Anähnlichungsprozesse umfassen die Art und Weise, wie Menschen sich inszenieren, wie sie sich zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Welt verhalten: Diese Fähigkeit bezieht sich auch darauf, dass Menschen, die in sozialen Situationen und Handlungen präsenten institutionellen und individuellen Normen teilweise auf einer präreflexiven Ebene zu erfassen vermögen, ohne dass diese ihnen bewusst sein müssen (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S. 111; vgl. Wulf 2001). Als relevant zu setzen ist die Herstellung einer Beziehung zu einer anderen Welt (vgl. Wulf 2005, S. 8). Mimesis bezeichnet somit körperliche Prozesse des ,Sich-in-Beziehungen Setzens‘ zu anderen Menschen, zu deren und eigenen Praktiken, zu szenischen Inszenierungen, zu Bildern und Texten.252 Sie umfasst eine Klasse von Handlungen, Verhältnissen und Konstellationen zwischen Menschen, Ereignissen oder Dingen und richtet sich auf symbolisch codierte sowie normativ regulierte Körperbewegungen. Zu solchen zählen Gesten, 251

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Mimesis ist zudem als mimetische Handlung, mimetische Bezugnahme, als mimetischer Wahrnehmungsakt sowie als kreative Nachahmung als Vorgänge des aktiven Aufgreifens und kreativen Modellierens wirklich existierender oder für wirklich gehaltener Dinge, Ereignisse sowie Praktiken im Rahmen eigenständiger symbolischer Welten zu begreifen (vgl. Wulf 2005, S. 26). Handeln ist immer körperlich und symbolisch. Es entsteht unter Bezug auf das individuelle und kollektive Imaginäre der Handelnden. In face-to-face Situationen entsteht eine mimetische Spirale, in deren Verlauf sich eine anfängliche soziale Situation durch die wechselseitigen mimetischen Bewegungen und Bezugnahmen der an einer Situation beteiligten Personen entwickelt (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S. 112).

Ein performativ-mimetisches Modell der Einverleibung

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Rhythmen und Laute. Diese vermitteln sich beispielsweise den sich mimetisch Verhaltenden durch sinnliche Wahrnehmung und Anähnlichung und gehen dabei in die jeweiligen praktischen Wissensbestände ein (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S. 113). In mimetischen Prozessen des ‚Auf-etwas-Bezug-Nehmendes‘ und dabei ‚Neu-Gestaltendes‘ überlagern sich Repetitivität und Aktivität. In diesen verschränken sich eine vorgegebene Welt sowie die Subjektivität der sich auf sie mimetisch Beziehenden (vgl. Wulf 2001, S. 260). In diesen ‚sich-in-Beziehung-setzenden‘ körperlichen Praktiken werden soziale Verhaltensweisen nachvollzogen, entsprechend werden Lebensformen erweitert (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S. 113). Vor dem Hintergrund der theoretischen Fundierung von Inkorporationsprozessen lässt sich herausstellen, dass diese Formen des körpergebundenen praktischen Wissens mimetisch sind und über mimetische Prozesse erworben werden (vgl. Wulf 2005, S. 67).253 Das Konzept der Mimesis ermöglicht es an die Frage nach dem ,wie‘ von Prozessen der Einverleibung anzuschließen.254 „In mimetischen Prozessen schreibt sich Soziales in den Körper ein und wird habitualisiert“ (Klein 2002, S. 175).255 Dabei wird „vom Handelnden bereits Erworbenes als Eigenes konstituiert und durch Habitualisierung verfügbar“ (Gebauer und Wulf 2003, S. 9). Die soziale Welt sowie Verhaltensweisen

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In Prozessen des Erwerbs praktischer Wissensbestände entstehen in Praktiken bei Beteiligten innere Bilder, Gefühle, performative Sequenzen, welche als ‚Material‘ dienen, Ausdruck und Darstellungen sozialer Handlungen auszugestalten (vgl. Wulf 2005, S. 70). Wulf (2005) zufolge ist das praktische Wissen nicht bloß theoretischer oder reflexiver Art, sondern körperliches, mimetisches Wissen. „Mit Hilfe sozialer Mimesis wird ein mehrdeutiges praktisches Körperwissen erzeugt, das Teil einer Lebenspraxis ist, die als solche vielschichtig, widersprüchlich und theoriewiderständig ist“ (Gebauer und Wulf 2003, S. 113). Zugleich ist es aber durch Beobachtung zugänglich. „Praktisches Wissen ist zudem performativ, es ist körperlich, ludisch, rituell und zugleich historisch, kulturell; es bildet sich in faceto-face Situationen und ist semantisch nicht eindeutig; es ist ästhetisch und entsteht in mimetischen Prozessen. Performatives Wissen hat zudem imaginäre Komponenten, enthält einen Bedeutungsüberschuss und lässt sich nicht auf Intentionalität reduzieren; es artikuliert sich in Inszenierungen und Aufführungen des alltäglichen Lebens, der Literatur und der Kunst“ (Wulf, Göhlich und Zirfaß 2001, S. 13). Dieses sich in Situationen bildende praktische Wissen ist überdies als habituelles Wissen zu begreifen und somit das Ergebnis von Erfahrungen sowie Ausgangspunkt zukünftiger Handlungen. Es ist kein regelgeleitetes oder gar analytisches Wissen, sondern Handlungswissen. Aus diesem Grund ist es analytisch auch schwer fassbar. Das praktische Wissen ist körpergebunden und kommt in körperlichen Routinen und Fertigkeiten zum Ausdruck. Dabei wird es auf ganz vielfältige Weise performativ (vgl. Wulf 2005, S. 67). Mimesis „richtet sich auf die Einmaligkeit des Anderen und führt dazu, dass Bilder anderer Menschen, sozialer Handlungen und Welten in die innere Bilder- und Vorstellungswelt aufgenommen werden. Sie verwandeln Außenwelt in Innenwelt und führen zu einer Erweiterung der Innenwelt“, konstatiert Wulf (2005, S. 95) Bourdieus Begriff der Inkorporation bedeutet demzufolge Habitualisierungen, Sozialisationsvorgänge und Einschreibungsvorgänge in den Körper. Die körperliche Hexis sowie der leibliche Habitus werden somit maßgeblich in mimetischen Prozessen herausgebildet. Inkorporations- beziehungsweise Einverleibungsprozesse und damit einhergehend der Erwerb praktischer Wissensbestände vollziehen sich performativ-mimetisch (vgl. Gebauer und Wulf 1998; Wulf 2001).

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Körper und soziale Praktiken

setzen sich in mimetischen Prozessen im Körper einer Person fest, sie wird einverleibt und somit Bestandteil seiner inneren Welt. Inkorporationsprozesse sind somit als mimetische und dezidiert körperliche Prozesse auszusweisen. So kommt auch Wulf (2001) zu dem Schluss, dass über die Mimesis gestischer Inszenierung ihre Inkorporierung erfolgt. Im Verlauf dieser Prozesse ähneln sich die Körper von handelnden Personen der Welt an und machen diese zum Teil ihrer Körper. Durch die Einleibung von Welt kommt es zu einer ‚Erweiterung‘ des Körpers (vgl. Wulf 2001, S. 265). Soziale Praktiken sowie die soziale Welt werden aufgenommen und verarbeitet: Indem Personen sich den rituell konstruierten Außenwelten anähneln, überführen sie diese mit den Sinnen und der Einbildungskraft in innere Bilder, Klangkörper, Tast-, Geruchs- und Geschmackswelten. Auf diese Weise inkorporieren sie die Außenwelt in ihre eigene Bilder-, Klang- und Bewegungswelt (vgl. Wulf 2004, S. 12). Da Einschreibungsprozesse auf einer präreflexiven Ebene sowie im mimetischen und praktischen Vollzug direkt von Körper zu Körper übertragen werden, entfalten sie eine umso nachhaltigere Wirkung (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S. 126; Wulf 2005, S. 46).256 In ihrer Funktionalität erzeugt Mimesis damit jene Sicherheiten, Regelhaftigkeiten und Realitäten, die die Grundlagen des Handelns bilden (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S. 108).257 An dieser Stelle lässt sich festhalten, dass das Mimesiskonzept einen theoretischen Bezugspunkt für die Reflexion der somatischen Dimension des Sozialen, von Gesellschaft und Vergesellschaftungsprozessen bildet (vgl. Villa 2008). 256

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Hier lassen sich Rückbezüge zu Plessners Position der Exzentrizität herstellen (siehe auch Kapitel 1.5.). Dadurch, dass mimetische Prozesse auf einer präreflexiven Ebene zu verorten sind, sind sie leiblich – auf der zentrischen Positionalität – angesiedelt. Dadurch, dass der Mensch exzentrisch zur Umwelt positioniert sowie Körper und Leib als verschränkt zu denken sind, wirken mimetische Prozesse ebenso auf den Körper. Im Zusammenhang mit sozialen Praktiken in ihrer Performativität von Jugendlichen spielen mimetische Prozesse eine zentrale Rolle, da in diesen praktische Wissensbestände erworben werden. Insofern mimetische Prozesse dezidiert körperliche Bezüge sind, findet in Prozessen des Zeigens und des Nachmachens (des mimetischen Nachvollzugs) ein Lernen mit dem Körper statt. Dieses kann dabei derart gestaltet werden, dass die Praktiken des Körpers dazu beitragen, die subjektive Handlungsfähigkeit von Jugendlichen zu stärken (vgl. Wulf 2007, S. 11). Mit Hilfe sozialer Mimesis wird ein mehrdeutiges praktisches Körperwissen erzeugt, das Teil einer Lebenspraxis ist, die als solche vielschichtig, widersprüchlich und theoriewiderständig scheint (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S. 113). Der Erwerb des praktischen und handlungsrelevanten Wissens geschieht nicht immer direkt bewusst, sondern in alltäglichen Situationen, durch mimetische Bezugnahme auf Praktiken anderer Personen, in denen beispielsweise Ähnlichkeitsbeziehungen hergestellt werden. Der Erwerb des Wissens ist jedoch nicht nur dann möglich, wenn Ähnlichkeiten hergestellt werden. Diese sind oftmals nur ein erster und häufiger Impuls für mimetische Bezugnahmen. Verschiedene andere Gesichtspunkte können Anlass mimetischer Bezugnahmen sein oder aber eine Art magischer Kontakt. Mimetische Bezugnahme vollzieht sich ferner auch bei einer ablehnenden Bezugnahme auf Rituale, andere Menschen oder andere Welten (vgl. Wulf 2005, S. 95). So auch in der Jugendarbeit, in der etwa über Praktiken und mimetische Bezugnahmen soziale Körperordnungen dadurch angeeignet werden, „dass sie ihre Körper in sozialen Situationen gebrauchen und ein verkörpertes praktisches Wissen erwerben, das regelhaft ist und zu sozialem Handeln führt, ohne dass die Handelnden sich seiner Regeln bewusst sind“ (Wulf 2005, S. 8).

Ein performativ-mimetisches Modell der Einverleibung

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Villa (2008) zufolge sind mimetische Prozesse nicht bloß beliebige Bezugnahmen einer praxeologischen Konstruktion auf eine vorgängige, reale Welt, sondern körperliche Bezüge. Somit bildet das Mimesiskonzept generell einen theoretischen Bezugspunkt für die Reflexion der somatischen Dimension des Sozialen, von Gesellschaft sowie von Vergesellschaftungsprozessen, die konstitutiv für deren Kontinuität und Bestehen sind. Die Reproduktion sozialer Ordnung kann anhand der Analyse von Einverleibungsprozessen eingefangen werden – ihre sich performativ vollziehende Reproduktion hingegen weniger (vgl. Villa 2008, S. 204-206). Nebst der dezidiert sozialen Funktion der Mimesis sind mimetische Prozesse konstitutiv für die Konstitution von Subjekten und deren Weltaneignung. Mimetische Prozesse stabilisieren die Repetitivität von Praktiken. Besonders hervorzuheben ist das innovative und kreative Potenzial, welches mimetischen Prozessen inhärent ist. So sind mimetische Prozesse nicht bloß nachahmend und reproduktiv, sondern auch kreativ. Mimetische Prozesse sind zwar als wiederholende Herstellung vorgängiger Welten zu begreifen, in welcher Menschen die Welt – mit ihren Sinnen und ihren Praktiken – noch einmal ,machen‘. Jedoch sind mimetische Handlungen nicht als bloße Nachahmung, Reproduktion oder Imitation zu verstehen, sondern vielmehr „als kreative Prozesse, in deren Verlauf eine individuelle Umarbeitung erfolgt“ (Wulf 2005, S. 95). In der Bezugnahme eines mimetischen Prozesses auf einen anderen Menschen, eine Szene oder eine andere Welt entsteht jedes Mal etwas Differentes (vgl. Wulf 2005, S. 95), etwas, dass sich vom Bezugspunkt der Handlung unterscheidet (Wulf 2001, S. 257). In der körperlich-mimetischen Bezugnahme entsteht Spielraum für die Entstehung von Neuem. So können auch neue Verhaltensweisen erworben werden (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S. 113). Folglich liegt in mimetischen Bezugnahmen Potenzial zur Irritation, zur Kreativität des Handelns sowie Potenzial für (somatische) Bildungsprozesse verborgen. „Die Dynamik mimetischer Prozesse ergibt sich häufig aus der Spannung zwischen Ähnlichkeit und Differenz und schafft dadurch Energien für kreative Lernprozesse“ (Wulf und Zirfas 2007, S. 326). Es lässt sich bündeln: In mimetischen Prozessen erfolgt die Herausbildung des praktischen und handlungsanleitenden Wissens, welches in praxistheoretischen Debatten als relevant gesetzt wird, ebenso die Bildung der körperlichen Hexis und des leiblichen Habitus (vgl. Wulf und Zirfas 2005, S. 31). Einverleibung vollzieht sich performativmimetisch. Die hier aufgeführten Überlegungen beziehen sich auf die nach innen gerichteten Prozesse sozialer Praktiken, auf den Aspekt der Inkorporation. Soziale Mimesis ist jedoch nicht lediglich auf innere Prozesse oder auf bloße Bezugnahmen auf eine andere Welt zu beziehen, sondern sie äußert sich ebenso in Handlungen. Somit ist sie nach außen gerichtet, expressiv und performativ. Soziale mimetische Handlungen (vgl. Wulf 2001) sind auch dann mimetisch, „wenn sie als Bewegung Bezug auf andere

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Körper und soziale Praktiken

Bewegungen nehmen, wenn sie sich als körperliche Aufführungen oder Inszenierungen begreifen lassen und wenn sie eigenständige Handlungen sind, die aus sich heraus verstanden werden können und die auf andere Handlungen und Welten Bezug nehmen“ (Wulf 2001, S. 254). Somit haben Praktiken – in denen mimetische Bezugnahmen erfolgen – einen Darstellungs-, Aufführungs- und Zeigecharakter (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S. 102). In diesem Sinne sind sie performativ. Bevor der Begriff der Performativität bezugnehmend auf sprachtheoretische und kulturwissenschaftliche Perspektiven diskutiert und in die Analyse eingeführt werden soll, wird der Fokus in gebotener Kürze auf Rituale gelegt. Dabei wird an die anthropologischen Perspektiven von Gebauer und Wulf angeschlossen. In der Analyse ergibt sich ein kurzer Bezug darauf, da sie es ermöglichen, Praktiken im Jugendtreff unter dem Aspekt performativer Gemeinschaftsbildung zu perspektivieren, die sich durch Ein- und Ausschlüssen formieren. Exkurs: Rituale Im Zusammenhang mit einer mimetischen Betrachtungsweise von Inkorporationsprozessen sowie der performativen Gemeinschaftsbildung messen Gebauer und Wulf (2003) Ritualen und Gesten eine hohe Bedeutsamkeit zu (weiterführend Wulf und Zirfaß 2001; Wulf et al. 2007).258 In einer solchen Perspektive gelten Rituale als soziale Praktiken sowie als Aufführungen und zugleich als Konstitutionsmoment des Sozialen.259 Ritualen sind überdies eine gewichtige Bedeutung in Prozessen der Sozi-

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In anthropologischer Perspektivierung sind Rituale als Form sozialen Handelns zu fokussieren. Diese sind nämlich ebenso an der Vergesellschaftung Einzelner sowie an der Entstehung und Ausgestaltung von Gemeinschaft und Gesellschaft beteiligt (vgl. Wulf 2001, S. 269). Gesten sind mimetische Bewegungen des Körpers, mit denen sich der Mensch der Welt ähnlich macht, sich die Welt einverleibend aneignet und in denen er sich ausdrückt und zur Darstellung bringt (vgl. Wulf 2001, S. 271). Somit gehören sie zu den wichtigsten Ausdrucks- und Darstellungsformen menschlicher Subjekte. Ferner sind Gesten körperliche Handlungen, die auf eingekörperten und mimetisch erworbenen Wissensbeständen basieren. Gesten werden im mimetischen Erwerb inkorporiert, denn über die Mimesis einer gestischen Inszenierung erfolgt deren körperliche Verarbeitung. In Gesten wird praktisches Wissen aktiviert. Es entfaltet insbesondere aus diesem Grund Wirksamkeit, da es auf einer präreflexiven Ebene inkorporiert ist und auf dieser Ebene zur Anwendung gebracht wird (vgl. Wulf 2005, S. 40-44). Als Teil einer Körpersprache sind Gesten kulturspezifisch und sie sind für die Angehörigen dieser Kultur verständlich. Sie geben Auskunft über zentrale Werte einer jeweiligen Gesellschaft und deren Mentalitätsstrukturen. Überdies sind Gesten in sozialen Situationen ein Mittel der Sinngebung sowie Ausdruck des körperbezogenen praktischen Wissens. Die Herausbildung von Gesten ist ebenso als wichtigste Form der Zivilisierung, Kulturalisierung und Habitualisierung des Körpers zu betrachten, ebenso wie die Aufführungen sozialer Handlungen (vgl. Gebauer und Wulf 1998, 2003). Rituale gelten als eine spezifische Form sozialer Praktiken. Sie haben einen performativen Charakter aufgrund ihrer Inszenierungen von und mit Körpern. So erzeugen sie Gemeinschaft (vgl. Wulf et al. 2001, S. 115-117). Sie re-produzieren kollektiv geteilte Wissensbestände, Praktiken sowie soziale Ordnungen (vgl. ebd., S. 198).

Ein performativ-mimetisches Modell der Einverleibung

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alisation, Erziehung und Bildung sowie im Kontext von Familie, Schule, Medien, Jugend und Jugendkulturen beizumessen, so Wulf und Zirfas (2004). 260 Gebauer und Wulf (2003) markieren Rituale als spezifische Form sozialer Praktiken sowie deren Deutung. Als solche verkörpern, materialisieren, dramatisieren und inszenieren sie Symbolsysteme. Wie andere Formen sozialen Handelns sind sie körperlich, performativ, expressiv, regelhaft, nicht-instrumentell, effizient, repetitiv, homogen, liminoid, öffentlich und operational. Sie haben eine zeitliche und eine räumliche Struktur. Zudem verkörpern und konkretisieren sie Institutionen und Organisationen. Im Ritual werden kollektiv akzeptierte Handlungs- und Verhaltensformen inszeniert (vgl. Wulf 2005, S. 53). Somit machen sie menschliches Verhalten kalkulierbar. Sie sind nicht immer eindeutig und verbinden Unterschiedliches und Widersprüchliches (vgl. Gebauer und Wulf 2003, S. 133; vertiefend zur Bedeutung von Ritualen vgl. Gebauer und Wulf 1998, 2003; Wulf 2005; Wulf und Zirfas 2007). Ferner sind Rituale als institutionelle Muster zu begreifen, in denen kollektiv geteiltes Wissen sowie kollektiv geteilte Handlungspraxen inszeniert werden. Innerhalb dieser werden Selbstdarstellungen und Selbstinterpretationen der institutionellen und gemeinschaftlichen Ordnung bestätigt. In ihnen werden ferner Übergänge zwischen sozialen Situationen und Institutionen gestaltet sowie Differenzen zwischen Menschen und Situationen bearbeitet. Rituale haben einen inszenatorischen Charakter. Somit sind sie als Aufführungen – des Sozialen – zu diskutieren. Im Vollzug von Ritualen werden indes Gemeinschaften performativ gebildet. Im Kontext von Gesellschaften und Gemeinschaften gelten Rituale als soziale und traditionelle Veranstaltungen, in denen kollektive Körper inszeniert, symbolische Handlungen vollzogen, ästhetische Programme aufgeführt sowie ethische Modelle dargestellt werden. Dabei ist laut Wulf (2004) davon auszugehen, dass Rituale mitunter das Soziale erzeugen und gesellschaftliche Organisations- und Institutionsstrukturen erhalten. Da Rituale immer auch in Gesellschaften und sozialen Strukturen aufgeführt werden, sind sie in eine Gesellschaft konstituierende Machtbeziehungen eingebunden; sie bringen Machtstrukturen zum Ausdruck (vgl. Wulf 2005, S. 50). Dabei können sie soziale Hierarchien und Ordnungen ebenfalls verändern (vgl. Wulf 2004, S. 14-15). Über Rituale und rituelles Handeln und Verhalten werden dabei diese Machtverhältnisse, sowie die je spezifischen sozialen Normen und sozialen Ordnungsmuster in die Körper eingeschrieben beziehungsweise inkorporiert. Über ihr mimetisches Vermögen entfalten Rituale bzw. rituelle Aufführungen ihre Wirksamkeit (vgl. Wulf 2005, S. 53). Das innovative und dynamische Potenzial 260

Weiterführend zur Bedeutung ritueller Praktiken in Schule, Medien, Familie und Jugend siehe Untersuchungen von Wulf et al. (2007). Insbesondere hat der Sonderforschungsbereich der Freien Universität Berlin 447 ‚Kulturen des Performativen‘ Arbeiten zur Bedeutung von Ritualen vorgelegt. Auf diese Perspektive Bezug nehmend lässt sich auf erziehungswissenschaftliche Studien rekurrieren, in denen diese Perspektiven Berücksichtigung finden (dazu vertiefend Magyar-Haas und Kuhn 2011; Schulz 2010).

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Körper und soziale Praktiken

von Ritualen ist an ihren performativen und mimetischen Charakter gebunden (vgl. Wulf 2004, S. 9). Im anschließenden Part wird sich dem Darstellungs- und Zeigeaspekt sozialer Praktiken zugewendet: Inkorporation ist eine Dimension sozialer Praktiken und bezieht sich auf die Prozesse, die sich nach innen richten, so konstatiert auch Reckwitz (2003). Die andere Dimension richtet sich auf die Performativität, also die Expressivität von sozialen Handlungen. Dies wird im Fokus der nachfolgenden Erörterung stehen. In mimetischen Prozessen wird etwas zur Aufführung gebracht, wobei sie performativ bleiben (vgl. Wulf 2001, S. 257; Wulf 2005, S. 70). Sie gelten als soziale Handlungen, die etwas zur Aufführung bringen. Darin besteht ihr wirklichkeitskonstituierender Charakter. Aus diesem Grund sind sie performativ. Performativität ist somit eine wesentliche Dimension mimetischer Prozesse.261 Soziale Praktiken haben als Pendant zur inneren Dimension einen performativen Charakter und dies insofern, als dass sie von Körpern aufgeführt werden. Dabei bedienen sich Praktiken wiederum Praktiken der Körper. So schaffen sie sich ihre Körper, um damit intersubjektiv sichtbar bestimmte kompetente soziale Verhaltensweisen zu bedienen (vgl. Butler 1991; in Reckwitz 2010, S. 190). Auf die Performativität – die körperliche Performanz – bezieht sich die Körperlichkeit des Vollzugs einer Praktik nach außen. Dies steht im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. 3.3

Zur Performativität sozialer Praktiken

Im Folgenden wird das Theoriefeld um den Begriff Performativität in der Absicht theoretisch kontextualisiert, den Aufführungs- sowie wirklichkeitskonstituierenden Charakter von körperlichen sozialen Praktiken zu plausibilisieren. 262 Mitsamt gelten die Theoriekonzepte der Sozialen Praktiken und der Performativität eng aufeinander bezogen. Anhand der Nachzeichnung verschiedener theoretischer Ansätze und Bezugstheorien zum Begriff Performativität lassen sich Zugehensweisen zu sprachlichdiskursiven sowie körperlichen Handlungen der Hervorbringung sozialer Wirklichkeit herstellen. Der Begriff des Performativen umfasst im Wesentlichen einige Verständnisse, die aus verschiedenen theoretischen Kontexten stammen. Er findet sich

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Die Performativität von Formen der körperlichen Aufführungen konstituiert sich in körperlich-mimetischen Prozessen. Die Verwendung des Ansatzes ist heterogen verbreitet. Wenn sie nicht einseitig festlegt, sie nicht zu feststehenden kulturellen Paradigmen und zu grundlegenden Leitbegrifen ausgewiesen werden, können die definitorischen Unklarheiten auch als Potenzial begriffen werden, mit denen in differenzierter Weise gerbeitet werden kann (vgl. Terhart 2014, S. 59).

Zur Performativität sozialer Praktiken

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in anthropologischen, poststrukturalistischen, sprachwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen sowie in erziehungswissenschaftlichen Debatten. 263 Verweist der Begriff im Kontext der Sprachphilosophie auf den performativen Charakter von Sprache bzw. sprachlichen Handlungen, so wird er im poststrukturalistischen Diskurs von Judith Butler verwendet und in Zusammenhang mit Geschlechterkonstruktionsprozessen gebracht. In kulturwissenschaftlicher Lesart, wie beispielsweise von Erika Fischer-Lichte, erscheint der Begriff im Kontext mit künstlerischen Inszenierungen und Aufführungen. Eine anthropologische Perspektive fokussiert hingegen auf den wirklichkeitskonstituierenden und inszenatorischen Charakter körperlicher Handlungen und berücksichtigt dabei Theorien zur Leiblichkeit. Im Kontext der Erziehungswissenschaft rücken Themen wie Sprache, Körper, Sozialität, Kreativität, Macht oder Handeln in den Blick (vgl. Wulf, Göhlich und Zirfas 2001). Diese hier vorgenommene Aufzählung unterschiedlich gelagerter Theorieperspektiven lässt erkennbar werden, dass der Begriff auf ein breites Theorie- und Diskursfeld stößt, in dessen Mittelpunkt unterschiedliche Formen sowie Theorien sozialen Handelns stehen.264 Der Begriff der Performativität liegt genuin in der Sprachphilosophie von John L. Austin begründet.265 In diesem Zusammenhang fokussiert Performativität darauf ab, 263

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Die performative Fokussierung in der Erziehungswissenschaft wurde durch den ‚performative turn‘ in den Kultur-und Sozialwissenschaften initiiert. Die (pädagogische) Wirklichkeit wird in dieser Perspektive nicht bloß als Text begriffen, sondern es werden ebenso die Geschichtlichkeit pädagogischer Situationen sowie der gewachsene kulturelle Hintergrund einbezogen. Die pädagogische Praxis gilt als Wirklichkeit mit einem den jeweiligen Zusammenhang übergeordnetem Sinnzusammenhang, in dem sowohl manifeste Bedeutungen wie auch über das Gegebene hinaus verweisende latente historischkulturelle sowie bildungs- und erziehungspraktische Inhalte zusammentreffen (vgl. Wulf und Zirfas 2007, S. 7-8). Pädagogische Handlungen und Prozesse bilden den Gegenstand des Verstehens, der Erkenntnis sowie der interpretierenden Reflexion (vgl. ebd.). In diesem Kontext gelten soziales und künstlerisches Handeln als ,performance‘, Sprechen gilt als performatives Handeln und Performativität ist ein abgeleiteter Begriff, der diese Zusammenhänge übergreifend thematisiert (vgl. Wulf, Göhlich und Zirfas 2001, S. 10). Diese hier aufgeführten Termini vergegenwärtigen erstens die Relevanz der ästhetischen Dimension menschlichen Handelns, zweitens den Orientierungscharakter sozialer Darstellungen und Modelle sowie drittens die Bedeutsamkeit der Formen des Handelns für dessen Gelingen. Die Gestaltungen sozialer Handlungen sind wesentliche Elemente von Performativität. Anders als im praxistheoretischen Diskurs findet in performativitätstheoretischen Zugängen der Begriff des Handelns Verwendung. Als Handlungen gelten sprachliche und körperliche Handlungen, die einen wirklichkeitskonstituierenden Charakter haben. Die Sprechakttheorie des Sprachphilosophen John L. Austin gilt als wesentlicher Bezugspunkt der Theoretisierungen des Performativen. Austin etablierte den Begriff performativ im Rahmen seiner Sprachphilosophie und akzentuierte den performativen Charakter von Sprache beziehungsweise sprachlichen Handlungen. Er differenziert in konstative und performative Äußerungen: Konstative Äußerungen dienen der Beschreibung von Phänomenen außerhalb der Sprache. Performative Äußerungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie das, was sie benennen, hervorbringen oder aber vollziehen. Im weiteren Verlauf re-formuliert Austin diese Differenzierung in konstative und performative Äußerungen, indem er diese in lokutionäre, illokutionäre und perlokutionäre Akte teilt. Der lokutionäre Akt meint den Weltbezug einer Äußerung, ein illokutionärer Akt bezieht sich auf die Wirklichkeit, die in einem Vollzug geschaffen wird. Der perlokutionäre Akt bezieht sich auf eine später eintretende Wirkung (vgl. Fischer-Lichte 2012, S. 40). Performative Äußerungen haben einen Handlungs- und

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Körper und soziale Praktiken

dass Personen mittels Sprache bzw. sprachlicher Äußerungen Handlungen vollziehen. Sprache ist performativ. In der Perspektive seiner Sprechakttheorie ist Sprechen als Handeln beziehungsweise als mit dem Sprechen verbundenes Handeln zu begreifen, welches in soziale Aufführungen eingebettet in verschiedenen sozialen settings mit verschiedenen sozialen Akteur*innen vollzogen wird. In den 1990er Jahre wurde der Begriff des Performativen im poststrukturalistischen Diskurs von Judith Butler re-formuliert und dabei der Zusammenhang von Performativität und Körperlichkeit markiert.266 An der Verzahnung zwischen sprachlichen sowie sozialen Handlungen und jenen körperlicher Art orientiert Butler den Zusammenhang von Performativität, Geschlechtlichkeit und Körperlichkeit. Diesen macht sie indes zum zentralen Gegenstand ihrer Kontroversen, in denen sie dezidiert Kritik an der Naturalisierung und Ontologisierung beziehungsweise an der Produktion von ontologischen Kategorien wie der des Geschlechterkörpers übt. Ausgehend davon, dass performative Praktiken das hervorbringen, was sie benennen, diskutiert Butler die Macht und Performativität von Sprache bei der (diskursiven) Konstruktion der zweigeschlechtlichen Ordnung, welche in ihrer Binarität verschleiert ist (dazu vertiefend Kapitel 1.5.). Im Folgenden wird sich einer weiteren Referenztheorie zugewendet, durch die der Aufführungs- und Inszenierungscharakter performativer Handlungen theoretisch gerahmt wird. Im Kontext der Kultur- und Theaterwissenschaften profiliert Erika Fischer-Lichte (2004) eine Theorie des Performativen. 267 Mitsamt legt Fischer-Lichte

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Vollzugscharakter. Sätze sagen nicht nur etwas aus, sie vollziehen die Handlung, von der sie sprechen. Sie sind zum einen selbstreferentiell, da sie sich auf sich selbst beziehen. Zum anderen sind sie wirklichkeitskonstituierend, da im Zuge ihrer Äußerung die soziale Wirklichkeit hergestellt wird, von der sie sprechen (vgl. Fischer-Lichte 2012, S. 38). Die diskurstheoretische Perspektive analysiert die performative Logik von Sprache, also die Produktion sozialer Realitäten in und durch Diskurse (Villa 2011, S. 148). Diskursive Praxis meint dabei die symbolische Herstellung von Gegenständen und Realität, so Bublitz (1998, S. 9). In diskurstheoretischer Sicht auf Geschlecht beziehungsweise auf den Geschlechterkörper wird die performative Logik von Sprache und somit die Produktion sozialer Realitäten in und durch Diskurse analysiert. Bis in die 1980er Jahre wurde der Begriff in der Kulturtheorie und -philosophie verwendet. Innerhalb dieser Positionen wurde ein spezifisches Verständnis von ,Kultur als Text‘ favorisiert (vgl. Fischer Lichte 2004, S. 34-36). In den 1990er Jahren wurde dieses re-formuliert und die Metapher von Kultur als performance in den Mittelpunkt des Diskurses gerückt. Diesem vorgängig war eine Perspektive von Kultur als Aufführung. Der Begriff der Aufführung weist partielle Ähnlichkeiten mit dem Begriff des Performativen auf. In einigen Aspekten lassen sich Unterschiede artikulieren. Aufführungen sind immer performativ, während nicht alles als performativ geltende als Aufführung in Erscheinung treten muss (vgl. Fischer-Lichte 2012, S. 53). ,Performances‘ als Aufführungen bezeichnen ein einmaliges, zeitlich begrenztes Ereignis, das zu einem festgesetzten Zeitpunkt vor Zuschauer*innen stattfindet. Aufführungen sind körperlich vollzogene Handlungen, die in einem Raum und immer vor einer oder mehreren Personen aufgeführt werden. Sie bedürfen der leiblichen Co-Präsenz Anderer. Als Geschehnisse zwischen Zuschauer*innen und Akteur*innen bringen leiblich-präsente Akteur*innen gemeinsam gestisch, sprachlich, körperlich Wirklichkeit hervor, die über körperlich-mimetische Prozesse entsteht. Dadurch, dass Aufführungen spezifische Erfahrungen bei den Zuschauer*innen hervorzurufen

Zur Performativität sozialer Praktiken

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(2004) ihren Ausführungen ein spezifisches Verständnis von Kultur zugrunde. Bezugnehmend auf sprachphilosophische und poststrukturalistische Deutungen von performativen Akten als (symbolische) körperliche Akte markiert sie Merkmale und Eigenschaften, die ‚das Performative‘ konstituieren. Mitsamt weist Fischer-Lichte (2004) darauf hin, dass mit der so evozierten performativen Wende bis dato weitestgehend übersehene performative Züge von Kultur in den Blick gerieten, die „eine gegenständige Weise der (praktischen) Bezugnahme auf bereits existierende oder für möglich gehaltene Wirklichkeiten begründen und den erzeugten kulturellen Handlungen und Ereignissen einen […] Wirklichkeitscharakter verleihen“ (Fischer-Lichte 2004, S. 36). In kulturwissenschaftlicher Sichtweise werden kulturelle Handlungen als performativ oder als ,performances‘ diskutiert und Handlungs- und Inszenierungsformen in den Mittelpunkt der Analysen gestellt (vgl. Wulf und Zirfas 2007, S.15).268 Dabei wird auf den Begriff der Aufführung rekurriert und somit der Aufführungscharakter performativer Handlungen akzentuiert. 269 In diesem Zusammenhang bezeichnet der Begriff des Performativen „bestimmte symbolische Handlungen, die nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken oder repräsentieren, sondern diejenige Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erst hervorbringen. Sie entsteht, indem die Handlung vollzogen wird“ (vgl. Terhart 2014, S. 60-61). Ein so gefasstes Verständnis von Performativität bietet ein Erklärungspotenzial für die Gleichzeitigkeit von überdauernden sozialen Strukturen und sozialem Wandel (vgl. Terhart 2014, S. 60-61). Indem Aufführungen stets wiederholt werden, leiten sie zu Fortführungen und Verfestigungen von Normen ein (vgl. Terhart 2014, S. 61).270

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vermögen, konstituieren diese mit Schauspieler*innen eine gemeinsame Wirklichkeit (vgl. FischerLichte 2012). Wesentliche kennzeichnende Charakteristika des Aufführungscharakters der performativen Handlungen – der performances – sind die leibliche Ko-präsenz der Akteur*innen, die Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Lautlichkeit, Rhythmus, Wahrnehmung und die Erzeugung von Bedeutung sowie die Ereignishaftigkeit von Aufführungen. Überdies sind die Unvorhersehbarkeit, Ambivalenzen, die spezifische Art der Wahrnehmung, die Bedeutungsproduktion sowie die den performativen Prozessen inhärente transformative Kraft als konstitutive Eigenschaften des Performativen zu benennen (dazu FischerLichte 2012, S. 44-46). Der Begriff des Performativen berücksichtigt in dieser Lesart insbesondere den Prozess sozialer Aufführungen. Der Begriff der Inszenierung, so wie er in den TheaterwissenschaftenVerwendung findet, wird zunehmend innerhalb der Sozial- und Kulurwissenschaften übernommen und fokussiert insbesondere auf den besonderen Modus der Herstellung von Aufführungen. Davon ausgehend, dass Körper hergestellt werden, scheint es bedeutsam, wie Menschen sich körperlich entgegentreten. Versteht man dies als soziale Inszenierungspraxen, dann führen Menschen ihre Körper gegenseitig auf und konstituieren darüber sozialen Raum. Anschließend an Terhart (2014) lässt sich dann über die Analyse von Körperdarstellungen die Rekonstruktion inkorporierter sozialer Strukturen vornehmen (vgl. Terhart 2014, S. 64). Werden Insznenierungen des Körperlichen als Distinktionsmittel begriffen, dann lässt sich eine Perspektive darauf einnehmen, dass diese in Rastern von sozialen Unterscheidungen und Zugehörigkeitsvorstellungen gedacht werden können. Durch den Körper werden habitualiserte soziale Erfahrungen veräußert. Dies wird zur Grundlage sozialer Positionierung (vgl. Terhart 2014, S. 64-65).

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Körper und soziale Praktiken

Performative Akte haben überdies eine körperliche Dimension. Fischer Lichte (2012) zufolge ist ein performativer Akt ausschließlich als ein verkörperter zu denken (vgl. ebd., S. 44). „Die körperlichen Handlungen, die als performativ bezeichnet werden, bringen keine vorgängig gegebene Identität zum Ausdruck, vielmehr bringen sie Identität als ihre Bedeutung allererst hervor“ (Fischer-Lichte 2004, S. 37).271 In ihrem wirklichkeitskonstituierenden Charakter bringen performative Akte Wirklichkeit (im Vollzug des Tuns, im Vollzug des Sprechens) hervor. Folglich sind auch Körper als durch performative Handlungen hergestellt zu begreifen: „[…] the body is not merely matter but a continual and incessant materializing of possibilities. One is not simply a body, but, in some very key sense, one does one’s body” (Baltimore 1990 in FischerLichte, S. 37) oder anders formuliert: „Durch die stilisierte Wiederholung performativer Akte werden bestimmte historisch-kulturelle Möglichkeiten verkörpert und auf diese Weise sowohl der Körper als ein historisch markierter […] erzeugt“ (Fischer Lichte 2012, S. 43). Der Körper in seiner je besonderen Materialität – so Fischer Lichte (2004, S. 37) – ist das Ergebnis einer Wiederholung bestimmter Gesten und Bewegungen; der Körper wird in Handlungen als individueller, geschlechtlicher, ethnisch oder kulturell markierter Körper erst hervorgebracht. Der Begriff des Performativen mündet auch in Debatten um die ,Pädagogik des Performativen‘ (vgl. Wulf und Zirfas 2004, 2007). Bezugnehmend auf Perspektiven der Anthropologie scheint diese Wendung im Rahmen einer solchen als instruktiv. Damit rücken zum einen Interaktionen, der Inszenierungs- und Aufführungscharakter sozialen Handelns, dramaturgische Sprach- und Handlungsvollzüge, sowie die Körperlichkeit und Materialität der Praktiken im Allgemeinen in den Blick. Zum anderen lässt sich daran anschließen und ebenso pädagogisches Handeln und dessen wirklichkeitskonstituierende Dimension perspektivieren (vgl. Wulf und Zirfas 2007, S. 10).272 271

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In einer solchen Perspektive wird soziale Wirklichkeit als theatrale Wirklichkeit wahrgenommen. Sie wird durch die Darstellung Einzelner oder durch gesellschaftliche Gruppen hervorgerufen, die sich auf diese Weise für sich und Andere zum Erscheinen bringen (vgl. Fischer-Lichte 2004/2012). Mitsamt betont das Theatralitätsmodell die Verwiesenheit des Menschen auf Andere. Dies liegt darin begründet, dass eine Aufführung ein Gegenüber, ein (imaginatives) Publikum impliziert (vgl. Terhart 2014, S. 57). Für die Transformation moderner Mediengesellschaften stellt das Theatralitätsmodell mit seinen in der Gesamtheit und in je wechselnden Konstellationen auftretenden Bestandteilen von Inszenierung, Verkörperung, Performance und Wahrnehmung ein hilfreiches Analyseinstrument des Alltags dar (vgl. Fischer-Lichte 2004, 2012). In vielfältigen Ausführungen verweisen die Autoren auf den konstitutiven Charakter sozialer (körperleiblicher) Handlungen für die Herstellung von Gesellschaft, Kultur und sozialen Ordnungen. Wulf et al. (2001) begreifen Gesellschaft und Kultur – unter der Perspektive des von ihnen dargelegten Performativitätsverständnisses – als Ergebnis performativer Handlungen. Der Aspekt der Wiederholung, des mimetischen Nachvollzuges, ist dabei bedeutsam. Im Zentrum stehen „performativ mimetische Prozesse, in denen eine Bezugnahme auf Vorhergehendes erfolgt, die jedoch nie zu demselben Ergebnis führt. Vielmehr kommt es in diesen Prozessen zu einer nachahmenden Veränderung und Gestaltung des Vorausgehenden“ (Wulf et al. 2001, S. 13). Darin liegen das innovative und kreative Potenzial mimetischer Prozesse und ihre Bedeutung für performatives Handeln (vgl. Gebauer und Wulf 2001).

Zur Performativität sozialer Praktiken

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Bezugnehmend auf Perspektiven der Anthropologie bezieht sich der Begriff der Performativität dezidiert auf körper(leib)liche Handlungen und deren wirklichkeitskonstituierenden Charakter.273 In dieser Lesart sind performative Praktiken durch folgende Aspekte gekennzeichnet: Sie evozieren (gültige) Normen, Regeln und Sicherheiten; sie sind wirklichkeitskonstituierend insofern, als dass sie, indem sie vollzogen werden, Wirklichkeit herstellen. Zudem sind performative Praktiken selbstreferentiell, selbstidentifizierend und selbstexemplikativ. Sie vollziehen das, was sie bedeuten und deuten somit nicht über sich hinaus. 274 Ihre Bedeutung liegt im Vollzug (vgl. Gebauer und Wulf 2001, S. 17). In performativen Handlungen werden soziale Arrangements erzeugt, in welchen Personen sich selbst darstellen, in ihrem Verhältnis zu sich, zu Anderen oder zur Welt (vgl. Wulf, Göhlich und Zirfaß 2001, S. 18). Durch die performativitätstheoretische Kontextualisierung rücken der inszenatorische und wirklichkeitskonstituierende Charakter sozialer Praktiken, die körperlich sind, in den Fokus. Es lässt sich bündeln: Die Performativität von Handlungen – und dies in sprachlich-diskursiver wie auch körperlicher Dimensionierung – besteht darin, dass sie als sozialen Tätigkeit oder vielzählige Tätigkeiten zu bestimmen sind, die sinnhaft und sinnstiftend sind.275 Gemein ist den divergenten theoretischen Zugangsweisen, dass sie die performative Kraft von Sprache, Imagination, künstlerischen Inszenierungen und Aufführungen, sozialen Handelns und rituellen Geschehens bedenken sowie den Zeigeaspekt sozialer Handlungen und darin inhärente mimetische Prozesse hervorheben (vgl. Wulf 2007, S. 47).

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Damit sind drei wesentliche Aspekte angesprochen, die den performativen Charakter sozialer Handlungen charakterisieren: Erstens gelten soziale Handlungen als Aufführung. Als solches sind sie Ergebnis von Inszenierungen und Prozessen körperlicher Darstellung. In ihnen werden soziale Situationen arrangiert. Mitsamt beziehen sozial Handelnde sich im Sprechen und Handeln aufeinander und erzeugen dabei soziale Situationen (vgl. Wulf 2005, S.11). Diese sind als Ergebnis kulturellen Handelns zu akzentuieren, in dessen Verlauf heterogene gesellschaftliche Kräfte geordnet beziehungsweise soziale Ordnungen re-produziert werden (vgl. Wulf 2005, S. 11). Zweitens spielt Sprache (als performative Handlung) bei sozialen und rituellen Handlungen eine zentrale Rolle. Drittens umfasst das Performative auch eine ästhetische Dimension, die für performances – für künstlerische performances – konstitutiv ist. Soziales Handeln ist mimetisch-performativ. In seinem Vollzug verweist es erstens auf seine Herkunft, auf Vergangenes. Zweitens bringt es das Soziale individuell sowie den sozialen Charakter des Individuellen zum Ausdruck. Drittens handelt es sich um eine körperliche Durch-, Aus- und Aufführung. Viertens bringt es nicht nur die Kontinuität und Differenzialität der sozialen Wirklichkeit hervor, sondern gestaltet diese (vgl. Wulf, Göhlich und Zirfaß 2001, S. 20). Das Performative entsteht zudem in mimetischen Prozessen (vgl. Wulf 2001). Dies lässt sich auch auf pädagogische Prozesse anwenden. Dafür loten Wulf und Zirfas (2005, 2007) den Begriff der pädagogischen Performativität aus. Mit diesem werden Prozesse von Interaktionen, dramaturgische Handlungsvollzüge, die Materialität und die Körperlichkeit von dezidiert pädagogischen Prozessen in den Mittelpunkt des Interesses gestellt (vgl. Wulf und Zirfas 2007, S. 9). Zugleich wird der Zusammenhang von körperlichem und sprachlichem Handeln, von Macht und Kreativität in pädagogischen Kontexten betont (vgl. Wulf, Göhlich und Zirfas 2001; Wulf und Zirfas 2004, 2007).

170 3.4

Körper und soziale Praktiken Soziale Praktiken, Soziale Ungleichheit und Körper

Die nun folgenden Ausführungen zu Körper und soziale Ungleichheit schließen an praxistheoretische sowie an ungleichheitstheoretische Sichtweisen an. In Anlehnung an Reckwitz (2008) umfassen Praktiken diskursive und körperliche Praktiken. Neuere Zugänge zu sozialen Praktiken, wie etwa Hörning und Reuter (2004) vorlegen, orientieren sich zum einen am Praktikenbegriff, zum anderen berücksichtigen sie ein spezifisches Verhältnis von Kultur und Gesellschaft. Dies fassen sie unter den Begriff des ,doing culture‘ (vgl. Hörning und Reuter 2004, S. 10). Dieser steht als Sammelbegriff für unterschiedliche Verwendungsweisen von Kultur, so etwa dem ,doing gender‘ oder dem ,doing ethnicity‘ oder anderen Zugehensweisen, in denen das ,praktische Tun‘ von sozialen Phänomenen in den Blick gerückt wird. Dabei verbindet Kultur als Praxis das Kulturelle mit dem Sozialen und fragt nach der kulturellen Bedingtheit sozialer Praxis (vgl. Hörning und Reuter 2004, S. 11). „Im Praktizieren von Kultur wird Macht und soziale Ungleichheit repräsentiert, in ihr wird sie verwirklicht. Soziale Praxis ist immer schon mit Bewertungen, mit Interpretationen, Selbst- und Fremddeutungen verknüpft, auch wenn diese eher unbemerkt und unreflektiert mitlaufen“ (Hörning und Reuter 2004, S. 11, geändert A.B.).276 Die Erklärung ihrer Kontingenz lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven vornehmen, so etwa praxistheoretisch, artefakt- oder körpertheoretisch (vgl. Hörning und Reuter 2004, S. 11).277 Jedoch lässt sich für die Fragestellung der Arbeit festhalten, dass innerhalb sozialer Praktiken (in ihrer Materialität) soziale Ordnungen – einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse – ausgehandelt werden. Die Frage nach der Körperlichkeit wird praxistheoretisch zunächst damit beantwortet, dass sie die Materialität sozialer Praktiken, die in Körpern genauso wie in Dingen/Artefakten begründet liegt, einbezieht. Dass innerhalb sozialer Praktiken an Körpern unterschieden und bewertet wird und sich darin soziale Ordnungen nicht nur zeigen, sondern auch reproduzieren, bleibt in dieser Perspektive wenig berücksichtigt. Hirschauer (2014) zufolge rücken Praktiken als kulturelle Phänomene in den Blick, die aus kontingenten und sinnhaften Unterscheidungen bestehen, die von historisch und geografisch spezifischen Kontexten geprägt sind (vgl. Hirschauer 2014, S. 170). Hirschauer (2014) führt weiter aus, dass in situierten Praktiken Kategorien verwendet werden, nicht zuletzt um sich und andere zu identifizieren. Er bezieht sich weitgehend auf das (praxeologisch-konstruktivistische) Konzept des ,doing difference‘ 276

277

Hörning und Reuter (2004) merken an, dass die Unterscheidung zwischen sozialer und kultureller Praxis ebenso sinnlos ist wie die dualistische Gegenüberstellung sozialer Ungleichheit und kultureller Unterschiede (vgl. Hörning und Reuter 2004, S. 11). Sie kann auch in dieser Arbeit eher unterschiedlich perspektiviert werden. Hirschauer (2014) diskutiert die Kontingenz des Sozialen als Aggregatzustand. Diesen verknüpft er mit grenzanalytischen Perspektiven und verweist damit auf die Arbeit an den Grenzen. Das Soziale scheint in einer solchen Perspektive nicht fest konturierbar, sondern als etwas, dessen Grenzen mit und durch Praktiken konstituiert wird.

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

171

(West und Fenstermaker 1995). Es basiert auf der ethnomethodologischen Grundannahme, dass alle sozialen Differenzierungen praktiziert werden müssen und somit Teil der Wirklichkeit im Vollzug darstellen (vgl. Hirschauer 2014, S. 182). In der Erweiterung der Konzeptualisierung des (doing) gender „as a routine, methodological, and ongoing accomplishment“ ( West und Fenstermaker 1995, S. 9) um die Kategorien Klasse und Rasse bestimmen sie ,Unterschiede‘ beziehungsweise ,difference‘ „as an ongoing interactional accomplishment“ (West und Fenstermaker 1995, S. 9), also als etwas, das praktisch vollzogen und über das Macht ausgeübt und soziale Ungleichheit produziert wird. In einer solchen Perspektive rückt das praktische Tun von Differenz und Zugehörigkeiten in den Mittelpunkt. An dieser Stelle wird die These zugrunde gelegt, dass dem Körper innerhalb dieser Aushandlungen eine wesentliche Funktion beizumessen ist. Nicht zuletzt werden Unterscheidungen am Körper festgemacht und Körper in Kategorien der Unterscheidung wahrgenommen, eingesetzt oder bewertet. Dies strukturiert das Soziale in alltäglichen Praktiken und auch darüber werden Ein- und Ausschließungen ausgehandelt. Es wird insbesondere an Körpern entlang von Klassifikationen wahrgenommen und markiert, zugeschrieben, an und mit Körper wird essentialisiert und naturalisiert und vor allem unterschieden. Die Kategorien sind indes sozial hergestellt. Ihnen sind zudem Normen inhärent. Ihre soziale Wirkmächtigkeit zeigt sich mitunter darin, dass sie die soziale Zugehörigkeit Einzelner sowie von Gruppen festschreibt. Sie definiert die Zusammensetzung von Gruppen, schreibt Individuen Mitgliedschaften zu und subjektiviert sie in spezifischen kulturellen Kategorien (vgl. Hirschauer 2014, S. 170). In Klassifikationen, so auch der Klassifikation von Körpern, zeigen sich jedoch auch soziale Ordnungen, die ganz fundamental Körperordnungen sind, so Meuser (2004, S. 211). Sie werden in sozialen Praktiken erzeugt. Soziale Ordnungen sind in spezifischen Weisen strukturiert – so durch Verhältnisse sozialer Ungleichheit, Macht und Herrschaft. Eine erste Annäherung an diese bildet den Inhalt des zweiten Kapitels, in dem sich dem Verhältnis von Körper und sozialer Ungleichheit angenähert wurde. Bevor im folgenden vierten Kapitel der Fokus auf die Adressat*innen des gewählten Forschungsfeldes konzentriert wird, werden die zentralen Inhalte des dritten Kapitels resümiert. 3.5

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

Inhalt dieses dritten theoretischen Kapitels bildet eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der sozialen Praktiken. Mitsamt lässt sich bündeln: Soziale Praktiken sind, im Rahmen des Konzeptes Sozialer Praktiken, wie Reckwitz (2003) darlegt, als kleinste Einheit des Sozialen und Bedingungsmoment sozialer Ordnungsbildung bestimmbar. Folglich gelten soziale Praktiken als Ort, an dem soziale Ordnungen – einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse – ausgehandelt werden. Es wurde herausgearbeitet, dass die Materialität sozialer Praktiken, die Reckwitz (2003) als wesentliches Moment praxistheoretischer Postulate markiert, indes in ihrer Verankerung in Körpern und Ar-

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Körper und soziale Praktiken

tefakten begründet liegt. Die körpersoziologische Grundlegung des Körpers als Produkt und Produzent des Sozialen, wie eingangs dargelegt, fügt sich in ein praxeologisches Verständnis sozialer Praktiken ein. 278 Mitsamt umfasst die Körperlichkeit der Praktiken sowohl die Performativität des Handelns als auch die Inkorporiertheit von Wissen. Diese Begriffe wurden bezugnehmend auf anthropologische, poststrukturalistische und sprachphilosophische Perspektiven diskutiert. An Fragen nach der Inkorporation des Sozialen wurde das Konzept der Mimesis eingeführt und dabei insbesondere die durch körperliche Anähnlichungsprozesse initiierte Einverleibung des Sozialen sowie praktischer Wissensbestände einbezogen. Es lässt sich pointieren: Einverleibung vollzieht sich performativ-mimetisch. Ergänzend wurde der Begriff der Performativität eingeführt und somit der wirklichkeitskonstituierende Charakter sozialer Praktiken theoretisch grundiert. Performative Zugänge verweisen auf den Darstellungs- sowie wirklichkeitskonstituierenden Charakter sozialer Praktiken, welcher aus routinisierten Bewegungen und Aktivitäten eines kompetenten Körpers sowie dem praktischen Sinn besteht und nur zum Teil reflexiv zugänglich ist (vgl. ebd.). Mitsamt rücken mit dem Begriff der Performativität der Inszenierungs- und Aufführungscharakter sowie die wirklichkeitskonstituierenden Elemente in den Fokus. 279 Zudem wird in dieser Perspektive die für soziale Praktiken konstitutive Bedeutung praktischer, inkorporierter Wissensbestände als wesentlich erachtet, welche sich in Form ,praktischer‘ und ,sinnhafter‘ habitualisierter Handlungs- und Kommunikationsmuster manifestieren. Die soziale Verständlichkeit einer Praktik richtet sich somit dezidiert auf die Körperlichkeit – auf die körperliche performance.280 Dies stellt sich mitunter als Ausgangspunkt der Forschungsstrategie der Ethnographie dar.281 Diese Forschungsstrategie scheint mit Blick auf Adressat*innen pädagogischer Handlungs278

279

280 281

Zum einen lässt sich mit Bourdieu herleiten, dass der Habitus als modus operandi fungiert, zum anderen wird in seiner Sozialtheorie ebenso die Körperlichkeit und Materialität von Praktiken hervorgehoben. Mit dem Begriff der Praktiken sowie der Hervorhebung deren Vollzugs sind zwei Begriffe markiert, die den sozialtheoretischen Rahmen modellieren, durch die das ,Wie‘ von Praktiken diskutiert werden kann (vgl. Schulz 2013, S. 53). So lässt sich begründen, dass und warum die ethnographische Betrachtung sozialer Praktiken auf Praktiken in ihrer Performativität und somit auf die ‚skilful performance‘ von Körpern zu richten ist. Performative Perspektiven sind auch an methodische Fragen anschlussfähig. Dies nutzt die Forschungsstrategie der Ethnographie. Der ethnographische Blick richtet sich auf beobachtbare Regelmäßigkeiten beziehungsweise Regelhaftigkeiten in sozialen Praktiken und somit auf implizite und praktische Wissensbestände, die sich in Form von habitualisierten Kommunikations- und Handlungsabläufen manifestieren. Diese sind nicht direkt, sondern durch die Rekonstruktion von Praktiken zugänglich. Die Rekonstruktion der Praktiken von Jugendlichen verspricht einen Zugang zur ,schweigenden Dimension des Sozialen‘. Darüber hinaus sucht die Strategie der Ethnographie die subjektiven Deutungen der Handelnden sowie ‚das Stumme‘, das nicht Verbalisierte, empirisch in den Blick zu nehmen. Mit dieser Zugangsweise wird sich präreflexiven, habitualisierten, mimetischen, in Gesten und Ritualen sich manifestierenden Mustern angenähert, welche überdies stets in materiellen Strukturen wie Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Szenarien, Körperlichkeit und Requisiten situiert sind (vgl. Wulf und Zirfas 2007, S. 11).

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

173

felder gewinnbringend, weil somit Praxen und Praktiken der Herstellung und Inszenierungen, Performances, Prozesse der Konstituierung von Artikulation von Selbstund Weltdeutungen, Praxen der Entwicklung und Präsentation von Wissen, Können und Handeln sowie – und dies ist als besonders relevant zu setzen – die Performativität der körperlich symbolisch-interaktiven Alltagspraktiken von Adressat*innen in den Blick geraten (vgl. Böllert und Thole 2013, S. 202). An Fragen nach den Körperpraktiken Jugendlicher scheinen praxistheoretische Postulate folglich deswegen anschlussfähig, da mit diesen begründbar wird, warum die ethnographische Betrachtung sozialer Praktiken, welche den empirischen Part der Arbeit markiert, auf Praktiken in ihrer Performativität und somit auf die ‚skilful performance‘ von Körpern in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu richten sind. Durch eine praxistheoretische Rahmung kann das ,Wie‘ der jugendlichen Praktiken diskutiert, deren körperliche Fundierung begründet und Praktiken an den in der Praxistheorie relevant gesetzten Dimensionen Performativität und Inkorporation orientiert werden. Das Verstehen dieser körperlichen Darstellung und deren Deutung sind für die soziale Ordnungsbildung konstitutiv. Durch die Forschungsstrategie der Ethnographie geraten soziale Praktiken und ihre Performativität empirisch in den Blick, ebenso inkorporierte, praktische Wissensbestände, welche sich in Form von habitualisierten Handlungs- und Kommunikationsmustern manifestieren. Sie sind durch die Beobachtung von Praktiken rekonstruierbar.282 Für das Handeln ist nicht der kognitive und reflexive Wissensbestand entscheidend, sondern das eingekörperte Wissen, das im Tun selbst liegt (vgl. Schulz 2013, S. 53). Dabei verschiebt sich der Blick. Körper geraten in einen doppelten Fokus: Zum einen sind sie unmittelbar in Praktiken von Jugendlichen beteiligt, sodass ihre Rekonstruktion eine Beschreibung von Körper impliziert. Zum anderen haben soziale Praktiken Jugendlicher Konstruktionen sozialer Ordnungen – einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse – zum Inhalt.283 Es lässt sich bündeln: Durch die praxistheoretische Rahmung – und entsprechend der empirisch-ethnographischen Rekonstruktion – kommt das ,wie‘ der Praktiken von potenziellen Adressat*innen pädagogisch professioneller Handlungsfelder sowie 282

283

Dass und wie sich durch die Einnahme einer solchen Perspektive der Blick auf den Alltag der Offenen Kinder- und Jugendarbeit verschiebt, zeigt eine ethnographische Studie von Cloos und Köngeter (2006). Dass auch Körper in und durch performative Akte hervorgebracht werden, lässt sich ebenso mit performativitätstheoretischen Sichtweisen erschließen, in denen die wirklichkeitskonstituierende Wirkmächtigkeit performativer Akte unterstrichen wird. In performativen sozialen Praktiken werden bestimmte, historisch-kulturelle Möglichkeiten verkörpert. Auf diese Weise wird der Körper (als historisch-kulturell markierter Körper) erzeugt (vgl. Fischer-Lichte 2012, S. 43). Abschließend soll darauf hingewiesen sein, dass ein solches performatives Verständnis von Körper ebenso Bezugspunkte einer sich kritisch positionierenden Theorie und Praxis Sozialer Arbeit bildet. In einer solchen geht es darum, (re-) produzierende Ausschlüsse, Zuschreibungen, eindeutige Zuordnungen und Klassifikationen, Stigmatisierungen, Hierarchisierungen und Normierungen in den Blick zu bekommen (vgl. Plößer 2011, S. 42).

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Körper und soziale Praktiken

die der Professionellen in den Blick. Mitsamt scheint es sinnvoll beide Perspektiven zu vereinen, nicht zuletzt um ein ganzheitliches Bild pädagogischer Handlungsfelder in ihrer Komplexität zu zeichnen. Folglich wird im empirischen Part, bezugnehmend auf performativitätstheoretische und praxeologische Ansätze, der Fokus auf die körper(sprach-)liche Dimension sozialpädagogischer Wirklichkeit(-skonstruktion) gelegt. Es wird die Annahme zugrunde gelegt, dass die sozialen Praktiken körperlich sind und in und durch diese soziale Ordnungen, einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse, konstituiert und reproduziert werden. Im nun folgenden vierten Kapitel der Arbeit wird sich der Adressat*innengruppe der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zugewendet. Dabei stehen zunächst Fragen danach im Vordergrund, wie die Phase zu definieren ist, in der junge Menschen als Jugendliche adressiert werden. Welche Bilder werden dabei von Jugend entworfen? Auf welches Verständnis von Jugend bezieht sich die Offene Kinder- und Jugendarbeit? Durch welche Herausforderungen und Themen ist diese spezifische Lebensphase gekennzeichnet? Wie ist das Verhältnis von Jugend und Körper zu perspektivieren? Inwiefern ist dies an Fragen sozialer Ordnungen – einschließlich ihrer Einund Ausschlüsse – rückzubinden?

4

Jugend und Körper

Jugend wird gemeinhin als eigenständige und passagere Lebensphase ausgewiesen, die durch spezifische Besonderheiten gekennzeichnet ist. Diese Einsicht setzte sich erst seit dem 20. Jahrhundert durch. Jugend bezeichnet gemeinhin ein recht junges gesellschaftliches Phänomen, mit dem sich zunehmend wissenschaftlich beschäftigt wurde. Als ein eigenständiger Forschungsbereich entwickelte sich daraus die Jugendforschung. Im deren Zentrum steht mitunter die Frage danach, welche besonderen Merkmale diese Lebensphase kennzeichnen. Im Zuge der Entwicklung und der zunehmenden Ausdifferenzierung der Jugendforschung lassen sich vielfältige Sichtweisen auf und Theorien zu Jugend ausmachen, die dieses soziale Phänomen erhellen. Dass das Jugend- und junge Erwachsenenalter als eine eigenständige Lebensphase zudem besonderer politischer Aufmerksamkeit sowie spezifischer Konzepte und Angebote bedarf, wird seit geraumer Zeit in den Kinder- und Jugendberichten aufgenommen. Diese stellen sozialhistorisch verankerte Standortbestimmungen der gesellschaftlichen Lage von Kindheit, Jugend und Jugendhilfe dar (vgl. BMFSFJ 2017, S. 81). Im aktuellen 15. Kinder- und Jugendbericht wird Jugend als Integrationsmodus definiert. Diese Bestimmung hebt darauf ab, dass moderne Gesellschaften über die generationale Ordnung der Lebensalter das Verhältnis von Individuen und Gruppen zur gesellschaftlichen Entwicklung arrangieren. Jugend erscheint in einer solchen Perspektive als eine soziale Struktur, „über die das soziale Zusammenleben und die soziale Ordnung gestaltet wird und über die funktionale Zusammenhänge hergestellt sowie soziale Erwartungen formuliert werden“ (BMFSFJ 2017, S. 84). Jugend stellt für viele junge Menschen eine soziale Realität dar, innerhalb derer „[…] junge Menschen im institutionellen Gefüge des Aufwachsens eine soziale, politische und berufliche Handlungsfähigkeit verwirklichen, zur individuellen Verantwortungsübernahme befähigt werden sowie eine Integritätsbalance von subjektiver Freiheit und sozialer Zugehörigkeit erfahren können“ (BMFSFJ 2017, S. 86). Unumstritten ist indes auch, dass Jugend zu den zentralen Bedingungen des Aufwachsens in modernen Gesellschaften gehört. Folglich ist eine Auseinandersetzung mit dem Jugendbegriff immer auch mit gesellschaftstheoretischen Perspektiven zu flankieren. Diese Lebensphase ist sodann von Familie, Gleichaltrigengruppen, Schule, Freizeit, Ausbildung und Studium gerahmt. Jugendliche genießen überdies einen besonderen gesetzlichen Schutz, denn sie sind von bestimmten Pflichten befreit und haben gegenüber Erwachsenen eingeschränkte Rechte. Als Altersgruppe stehen Jugendliche in einem besonderen Verhältnis zu anderen Generationen; zudem unterliegen sie besonderen sozialen Bedingungen der Zugehörigkeit und Teilhabe (vgl. weiterführend BMFSFS 2017, S. 50).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. B. Burghard, Körper und Soziale Ungleichheit, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 19, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31200-8_5

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Jugend und Körper

Mit dem Themenkomplex Jugend wird in verschiedenen Arten und Weisen immer wieder der Körper in Verbindung gebracht. Dass der Körper im Allgemeinen gegenwärtig Konjunktur erfährt, darauf verweisen Niekrenz und Witte (2011). Mit seinen Praktiken und Darbietungsformen in einem auf Bildlichkeit fokussierten Medienzeitalter findet der Körper zahlreiche Gelegenheiten zur öffentlichen Darstellung (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 7). Dabei werden Körper demonstrativ inszeniert und vielfältigen Techniken einer auf Wirkung hin angelegten Gestaltung unterworfen (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 7). Diese kulturellen Formen und Praktiken der Inszenierung sind gegenwärtig in der alltäglichen Lebensführung sehr bedeutsam (vgl. Mayer, Thompson und Wimmer 2013, S. 7).284 In deren Dienste stehend werden Körper gestaltet, zugleich gestalten auch sie und reproduzieren das Soziale in Interaktionen (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 7). Jugendlichkeit stellt ein körperliches (und gesellschaftliches) Ideal dar. Die Attraktivität von Jugendlichkeit hängt damit zusammen, dass sie gemeinhin mit Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Erlebnisorientierung konnotiert wird. Mit diesem Kult um Jugendlichkeit sind spezifische Körperarbeiten verbunden, die den Körper als Statussymbol sowie als Bühne der Identität hervorheben und aufwerten.285 Dass der Körper von Jugendlichen, beziehungsweise der jugendliche Körper somit als wesentlicher Teil der sozialen Konstruktion des Jugendbegriffs fungiert (vgl. Langer et al. 2010, S. 10), wird bislang weitestgehend wenig reflektiert. Möchte man die gesellschaftliche Konstruktion von Jugend angemessen in den Blick nehmen, so ist eine Auseinandersetzung mit Körperlichkeit unabdingbar. Körper von Jugendlichen materialisieren die Lebensphase Jugend. Erst aufgrund ihrer Korporalität wird Jugend als weibliche oder männliche sichtbar (vgl. Langer et al. 2010, S. 10). „Als Idealbild wird der jugendliche Körper ebenso zur Projektionsfläche von kollektiven Träumen wie als ,Stein des Anstoßes‘ zu etwas Risikobehaftetem. Als Medium der Subjektivierung wird der Körper vergesellschaftet, zugleich individuell erlebt und gestaltet und

284

285

Diese These belegen beispielsweise die in vielen Kontexten geforderte Erstellung von Profilseiten (genannt seien Soziale Netzwerke, Partner*innenbörsen, Beratungs- und Coachingangebote zur vermeintlichen Entwicklung und Präsentation des eigenen Potentials) sowie verschiedenste Strategien der Evaluation von Permanenz und Intensität. Gegenwärtig sind Menschen permanent aufgefordert, an sich und ihrer (körperlichen) Erscheinung zu arbeiten, sich kontinuierlich und verändert in gesellschaftlich anerkannten Vorstellungen von ‚Schönheit‘, ‚Erfolg‘ und ‚Leistungsfähigkeit‘ zu entwerfen. Diese divergenten Formen der ‚Arbeit am Selbst‘ lassen sich hinsichtlich gegenwartsanalytischer Postulate als Technologien des Selbst machtkritisch in den Blick nehmen (vgl. Villa 2008; Mayer, Thompson und Wimmer 2013). Niekrenz und Witte (2011) zufolge gilt der jugendliche Körper als Ideal, das in einem Kult um Jugendlichkeit erstrebt, verehrt und mit verschiedenen Mitteln zu erreichen versucht wird. Exemplarisch dafür gilt die kosmetische Behandlung von Körpern im Dienste der ,Verjüngung‘. Da Jugend sich zudem in einem spezifischen Lebensstil manifestiert, lässt sie sich als Habitus in den Blick nehmen. Die zunehmende Bedeutung des Juvenilen drückt sich indes in Kleidung, Medienkonsum und Freizeitverhalten aus (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 9).

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

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spiegelt sowohl persönliche biographische wie auch kulturspezifische Erfahrungen wider“ (Langer et al. 2010, S. 10). In der Lebensphase Jugend ist dem Körper eine besondere Funktion beizumessen, gilt diese doch als körperliche Phase. In Diskursen über Jugend – so etwa in der Entwicklungspsychologie sowie in sozialisations- oder adoleszenztheoretischer Perspektive – wird der Körper sodann als Entwicklungsaufgabe markiert oder aber als Medium der Gestaltung von Übergängen diskutiert. Es finden sich ferner Zugehensweisen, die Hinweise darauf geben, dass Körperpraktiken beziehungsweise Körperthematisierungen, wie zum Beispiel Inszenierungen über Kleidung, Accessoires oder andere Formen der Bearbeitung des Körpers von Jugendlichen als Selbstvergewisserungen oder als Identitätssuche perspektiviert werden können. Es lässt sich jedoch pointieren, dass der Körper in der Lebensphase Jugend mehr und mehr zu einer höchst sozialen Angelegenheit wird. Der physische Körper wird gerade im Jugendalter zum ,sozialen Körper‘ (vgl. Griese 2007). Vor dem Hintergrund dieser hier nur angedeuteten Aspekte müsste der Körper eigentlich auch in der Jugendforschung in ausführlicher Breite verhandelt werden. Umso verwunderlicher scheint es, dass diese eine gewisse ,Blindheit‘ gegenüber dem Körper aufweist (vgl. Griese 2007, S. 16). Daran wird in der vorliegenden Studie und insbesondere in diesem Kapitel angeknüpft und eine körpersoziologische sowie ungleichheitstheoretisch und praxeologisch informierte Perspektive auf Körper und Jugend eingenommen. In einer solchen Lesart lassen sich Körperthematisierungen von Jugendlichen zum Beispiel als Technologien des Selbst oder als Praktiken der Distinktion und folglich auch als Praktiken der sozialen Positionierung in den Blick nehmen. Daran lässt sich anknüpfen und zuspitzen, dass Körper in der Lebensphase Jugend in Verhältnis zur gegenwärtigen Realisierung gesellschaftlicher Ungleichheits- und Machtverhältnisse stehen. Dies bildet ein bislang weitgehend vernachlässigtes Thema in der Jugend- sowie in der Kinder- und Jugendhilfeforschung. Die Leerstelle wird in diesem Kapitel der Arbeit aufgenommen und unter Berücksichtigung verschiedener theoretischer Zugangsweisen bearbeitet. Das folgende (vierte) theoretische Kapitel sortiert sich in verschiedene Teile: Einführend wird ein prägnanter Überblick über Theorien zu Jugend gegeben und sich so dem Konstrukt Jugend unter Berücksichtigung verschiedener disziplinärer Perspektiven angenähert. Dabei finden sozialwissenschaftliche und erziehungswissenschaftliche Diskurse Berücksichtigung. Es wird jedoch nicht der Anspruch verfolgt, Theorien zu Jugend in ihrer Breite darzustellen. Überdies werden jugendtheoretische Perspektiven in sozialpädagogisch zugänglicher Weise in den Blick genommen. Geleitet von der Frage danach, wie Jugendliche gegenwärtig heranwachsen, wird in einem weiteren Schritt ein kritischer Blick auf die sozial (ungleichen) Bedingungen gelegt, in denen junge Menschen in der Lebensphase Jugend heranwachsen und welche ihre

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Jugend und Körper

sozialen Teilhabemöglichkeiten sowie ihre sozialen Positionierungen in spezifischer Weise präformieren. Denn, so Scherr (2009, S. 16), wenn man verstehen und erklären möchte, warum Jugendliche sich so verhalten, wie sie es tun, ist es notwendig, gesellschaftliche Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Diese werden in der Studie zum einen als intersektionelle Verhältnisse (siehe Kapitel 2) perspektiviert und Dimensionen des Körperlichen darin erschlossen. Dies ermöglicht einen umfassenden Blick auf soziale Ungleichheits- und Machtverhältnisse sowie deren Komplexität bewusst zu halten (vgl. Villa 2010, S. 218), wenngleich Verkörperung immer mehr ist als die Überschneidung von (in sich geschlossenen) Kategorien (vgl. Villa 2010, S. 218). Zum anderen werden damit die sozialen Bedingungen, in denen Jugendliche heranwachsen, in denen sie praktische Lebensentwürfe hervorbringen und in denen sich schließlich Jugend vollzieht, kritisch in den Blick genommen. Da für Jugendliche der Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit eine zentrale Bedeutung zukommt und Jugend sodann als körperliche Phase gilt, wird in einem weiteren Kapitelpunkt das bislang weitgehend vernachlässigte Thema von Jugend und Körper diskutiert und mit körpertheoretischen Sichtweisen in Verbindung gebracht. Mit massiven und offensichtlichen Veränderungen des juvenilen Körpers fordert insbesondere die Jugendphase eine Beschäftigung mit dem eigenen Körper sowie mit der eigenen leiblichen Verfasstheit (vgl. Niekrenz und Witte 2011). Zudem wird der adoleszente Körper verstärkt zum Ausdruck sowie zum Medium der Aushandlung von Zugehörigkeit und Abgrenzung (vgl. ebd.). Im Dienste dessen wird der Körper zunehmend Adressat von Gestaltungspraktiken, Medium der Selbstpräsentation und der sozialen Positionierung. Es lässt sich pointieren: Der Körper wird in der Lebensphase Jugend mehr und mehr zu einer sozialen Angelegenheit. Die Lebenslagen Jugendlicher sind dabei durch erhebliche soziale Ungleichheits- und Benachteiligungsverhältnisse gekennzeichnet; dies bezeugt der 15. Kinder- und Jugendbericht. In diesem wird auch in besonderer Weise herausgestellt, dass die soziale Selbstpositionierung eine Kernherausforderung des Jugendalters markiert (vgl. BMFSFJ 2017, S. 95). Dass Körper als wesentliches Medium fungieren, über das Jugendliche sich positionieren und darin auch Ein- und Ausschlüsse wirksam werden, sollte in diesem Zusammenhang stärker berücksichtigt werden; es wird daher in diesem Kapitel aufgenommen. Im zweiten inhaltlichen Teil des Kapitels wird die Sichtweise auf Jugend und Körper konzentriert und dabei eine körpersoziologische Perspektive eingenommen. Für die Analyse werden durch diese Theoretisierungen relevante Zusammenhänge hergestellt. Körperpraktiken von Jugendlichen können somit zum einen als soziale Praktiken diskutiert werden, in denen der Körper als ein Kapital zum Einsatz kommt, das Distinktionsgewinne verspricht. Zum anderen können sie machtkritisch als ,Technologien des Selbst‘ kritisch diskutiert werden, die von einer Paradoxie von Unterwer-

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

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fung und Ermächtigung gekennzeichnet sind. Gemein ist diesen unterschiedlich gelagerten Zugehensweisen jedoch, dass sie sich als Praktiken deuten lassen, mit denen Jugendliche ihre Körper zu sehen geben und über die sie sich in konkreten Kontexten sozial positionieren. Dass Körper jedoch immer auch die sozialen Bezüge repräsentieren, in denen sie agieren und so an der Reproduktion der sozialen Ordnung beteiligt sind, in denen sie situiert sind, wird in einem weiteren Punkt des Kapitels aufgegriffen und diskutiert. So werden Körper von Jugendlichen an der körpersoziologischen Systematisierung des Körpers als Produkt und Produzent orientiert. 286 Daran wird angeschlossen und der Blick auf Verkörperungen in der Lebensphase Jugend unter den Aspekten von Positionierung und Zugehörigkeit sowie von Ein- und Ausschließung gelegt. Somit soll erschlossen werden, dass und in welcher Weise Körper die sozialen Teilhabeund Handlungsmöglichkeiten von Jugendlichen sowie ihre Möglichkeiten des Zugangs zu sozialen Ressourcen und sozial relevanten Gütern in spezifischer Weise präformieren. Das Kapitel endet mit einer sozialpädagogischen Problematisierung und Diskussion. In einem resümierenden Zwischenfazit werden die zentralen Sichtweisen des Kapitels und deren Relevanz für das Erkenntnisinteresse der Arbeit gebündelt. Eine Annäherung an den Begriff Jugend bildet Inhalt des nun anschließenden Parts. Dabei verfolgt das vorliegende Kapitel nicht den Anspruch, die Vielzahl von jugendsoziologischen Theorien vollständig zu präsentieren, da sich eine Vielzahl von unterschiedlich gelagerten Theorie- und Forschungsperspektiven ausmachen lässt, die zu erfassen und in der folgenden Darstellung zu berücksichtigen, nicht möglich erscheint. Es soll lediglich ein kurzer Überblick über bedeutsame und zentrale Jugendtheorien geboten werden.287 Die Ausführungen zielen zunächst darauf herauszustellen, dass Jugend erstens unter verschiedenen Sichtweisen betrachtet und diskutiert werden kann und damit je unterschiedliche Perspektiven in den Blick geraten. 288 Zweitens sollen sie Jugend als etwas Hergestelltes betrachtbar werden lassen, genauso wie sie den Blick dafür schärfen sollen, dass ihre Hervorbringung sich stets vor dem 286

287 288

In diesem Teil wird insbesondere an die in Kapitel 2 herausgearbeiteten Erkenntnisse zur Macht der Klassifikationen angeschlossen. Vor dem Hintergrund dieser Verknüpfungen ist es möglich, Körper im Alltag Jugendlicher als sozial hergestellt und immer wieder sozial bedeutungsvoll werdend in den Blick zu nehmen und zu ergründen, dass und in welcher Weise sie sich innerhalb von Praktiken zum einen sozial und situativ positionieren, etwa wenn über den Einsatz ihrer Körper Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen hergestellt werden soll. Zum anderen lässt sich der Fokus auf Klassifikationen und Normen frei legen, anhand derer Jugendliche sich selbst und andere in einer je gegebenen soziosymbolischen Ordnung als zugehörig positionieren oder als nicht-zugehörig ausschließen. Dabei werden sozialwissenschaftliche und erziehungswissenschaftliche Ansätze systematisiert, teils zusammengeführt, aber auch an den nötigen Punkten voneinander differenziert. Mitsamt ist den unterschiedlich gelagerten Theorien gemein, dass Jugend nicht als eine ontologische Gegebenheit gefasst wird, sondern als soziales Konstrukt, das immer auch Gesellschaft widerspiegelt.

180

Jugend und Körper

Hintergrund historisch-spezifischer sowie sozialer Gegebenheiten vollzieht. Dass Jugend viertens immer körperlich stattfindet und der Körper dennoch eine Leerstelle im Kontext der Jugendforschung markiert, wird in einem abschließenden Teil diskutiert. 4.1

Zum Phänomen der Jugend

Eine wissenschaftliche Jugendforschung ist – im Unterschied zur Alltagssprache – auf die Klärung ihres Grundbegriffs angewiesen (vgl. Scherr 2009, S. 17). Eine begriffliche Auseinandersetzung sowie eine Einordnung in verschiedene jugendtheoretische Diskurse sollten folglich nicht ausstehen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 382). Aus diesem Grund wird die vorliegende Studie im Folgenden im Kontext von jugendtheoretischen Debatten verortet und ferner ein für die Arbeit tragfähiger Jugendbegriff erarbeitet. Da eine Annäherung an das Thema ,Jugend‘ nur unter Berücksichtigung verschiedener disziplinärer Zugänge möglich ist, wird sich an jugendsoziologischen, sozialwissenschaftlichen und erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen angelehnt.289 Dafür wird das Feld der Jugendforschung in Kürze umrissen. Vorab sei angemerkt, dass sich eine Breite und Heterogenität von Zugängen und Diskursen über Jugend ausmachen lässt, was eine fokussierte Sichtung sowie eine detaillierte Systematisierung erschwert. Die Anlehnung an die wissenschaftlich-empirische Jugendforschung soll helfen, detaillierte, zeitaktuelle und theoretisch fundiert zentrale Elemente von ,Jugend‘ abzubilden, ohne sie dem Konstrukt reifizierender Kategorisierung zu unterwerfen (vgl. Sander und Witte 2011, S. 670-671). Es ist zu berücksichtigen, dass in diesem Part über die Jugendforschung und nicht über Jugend allgemein reflektiert wird (vgl. Griese 2007). Eine systematisch beschreibbare Jugendforschung etablierte sich im beginnenden 20. Jahrhundert. Das lag nicht zuletzt darin begründet, dass Jugend erst zu dieser Zeit als eine eigenständige Lebensphase ausgewiesen wurde (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 396). Im Zuge vielfältiger Entwicklungen stellt die Jugendforschung mittlerweile ein interdisziplinäres Feld dar. Zu den Kerndisziplinen zählen die Psychologie und die Soziologie. Beschäftigen sich psychologische Jugendtheorien mit emotionalen und kognitiven Entwicklungsdynamiken, die mit der Pubertät beginnen, so fokussiert die (Jugend-) Soziologie auf Jugend im Kontext gesellschaftlicher Bedingungen (weiterführend Scherr 2009; Liebsch 2012).290 Sie befasst sich auch mit Einstellungen und 289 290

Das Interesse an Jugendlichen beziehungsweise daran, was das ,Spezifische‘ an der Lebensphase Jugend ist, wird von verschiedenen Disziplinen theoretisch und empirisch in den Blick genommen. So wird der Fokus in der Jugendsoziologie erstens auf Jugend als Lebensphase im Kontext der gesellschaftlichen Ordnung der Altersgruppen, zweitens auf die Auswirkungen der gesellschaftlichen (ökonomischen, politischen, rechtlichen) Bedingungen auf Jugend als Lebenslage und Lebensphase sowie drittens auf unterschiedliche Lebensbedingungen und Praktiken gelegt. Ferner wird auf Einstellungen und Praktiken, die bei Jugendlichen in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Situation vorzufinden sind, fokussiert. In einer solchen Perspektive sind Praktiken relevant, mit denen Heranwachsende sich als

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Praktiken von Jugendlichen im Kontext des Sozialen (weiterführend zur sozialwissenschaftlichen Jugendforschung vgl. Mansell und Griese 2003; Mansell, Griese und Scherr 2003; Sandring, Helsper und Krüger 2015). Überdies lässt sich auf dem Gebiet der Erziehungswissenschaft ein breites Feld ausmachen (vertiefend für eine erziehungswissenschaftliche Jugendforschung vgl. Andresen 2005; Krüger 2012; Griese 2007).291 Erziehungswissenschaft fokussiert, so Scherr (2009), auf die altersgruppentypischen Voraussetzungen und Folgen von Lernen, Erziehung und Bildung, auf dieAuswirkungen der Sozialisation in Schulen sowie auf Einrichtungen der außerschulischen Jugendpädagogik (vgl. Scherr 2009, S. 18; weiterführend zur Kindheits- und Jugendforschung vgl. Krüger und Grunert 2010).292 Die Jugendforschung blickt auf eine lange Entwicklungslinie zurück (ein historischer Überblick über die sozialwissenschaftliche Jugendforschung findet sich bei Griese und Mansell 2003, S. 170-175; zur Geschichte der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung Griese 2007; zur historischen Entwicklung erziehungswissenschaftlicher Jugendforschung vgl. Krüger 2012).293 Gegenwärtig stellt sie eine fest etablierte und

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Jugendliche definieren und darstellen und sich auch in bestimmter Weise gegen Kinder und Erwachsene abgrenzen (vgl. Scherr 2009, S. 25). Die Jugendsoziologie versucht fünftens spezifische Problemlagen von Jugendlichen sowie die gesellschaftliche Wahrnehmung von Jugendproblemen – beispielsweise in den Massenmedien, der Pädagogik und der politischen Kommunikation – angemessen in den Blick zu nehmen. Zuletzt fokussiert die Jugendsoziologie auf gesellschaftliche Bemühungen, so etwa Pädagogik, Sozialarbeit, Strafrecht und Jugendpolitik, um auf Jugendliche gezielt einzuwirken (vgl. Scherr 2009, S. 18). Krüger (2003, S. 81) zufolge ist das Spezifische einer erziehungswissenschaftlichen Jugendforschung über ihr Gegenstandsfeld bestimmbar. Sie fokussiert auf Bildungs-, Lern- und Sozialisationsprozesse von Jugendlichen im Alter von etwa 13 bis 29 Jahren in den verschiedenen Institutionen des Bildungs-, Erziehungs- und Sozialwesens (vgl. Krüger 2003, S. 81). Jugendforschung im Fach Erziehungswissenschaft zeichnet sich zudem dadurch aus, dass an dem von ihr produziertem wissenschaftlichen Wissen ein Rezeptionsinteresse in der pädagogischen Praxis, zum Beipsiel bei professionellen Pädagog*innen oder bei verschiedenen Institutionen der Bildungspolitik, besteht (vgl. Krüger 2012, S. 81). Ein historischer Überblick über die sozialwissenschaftliche Jugendforschung findet sich bei Griese und Mansel (2003). Die Autoren weisen darauf hin, dass die Jugendforschung ,Jugend‘ seit ihren Anfängen idealtypisch unter einem Doppelaspekt diskutiert: Wird Jugend in makrotheoretischer Perspektive als ein historisch-gesellschaftliches Phänomen gesehen, welches mit der Industrialisierung, dem Komplexwerden und der Ausdifferenzierung der Gesellschaft entstand, so wird Jugend mikrotheoretisch als eine eigenständige Sozialisationsphase betrachtet. Diese hat sich durch die gesellschaftlichökonomisch notwendig gewordene verlängerte Ausbildung zwischen ,Kindheit‘ und ,Erwachsenenalter‘ geschoben und sich zunehmend ausgeweitet (vgl. Griese und Mansel 2003, S.175; Griese 2007). Mitsamt finden sich unterschiedliche Themenbereiche innerhalb der Jugendforschung. Als zentrale – kontinuierlich wiederkehrende – Jugenddebatten weisen Griese und Griese (2003) Diskussionen um Gewalt, Armut und Gesundheit aus. Die erziehungswissenschaftliche Jugendforschung blickt auf eine lange Tradition zurück. Ihre Anfänge lassen sich im 18. Jahrhundert ausmachen und werden mit den Arbeiten von Rousseau assoziiert. Rousseau lenkt die Aufmerksamkeit der Pädagogik auf die Kindheit und die Jugend als eigenständige Lebensphase. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die qualitative Jugendforschung eng mit der Kindheitsforschung verbunden. Prominent für erste Ansätze einer modernen und empirisch orientierten Wissenschaft in Deutschland sind Ernst Christian Trapp und Herrmann Niemeyer. Innerhalb ihrer Zugänge

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anerkannte sozialwissenschaftliche Disziplin dar (vgl. Griese und Mansel 2003, S. 169). Auch wenn Jugendforschung verschiedenen Zyklen unterlag, ist der Bedarf an wissenschaftlichem Wissen über Jugend dauerhaft und ungebrochen (vgl. Griese 2007, S. 11). Griese (2007) zufolge deutet dies darauf hin, dass „[d]ie Gesellschaft , in Gestalt von Politik, Medien, Interessensgruppen, versucht, über den permanenten Jugenddiskurs sich über ihre eigene Situation und Zukunft zu vergewissern, d.h., sie zu Jugend finden sich ethnographische sowie biographische Ansätze für die Theorie und Empirie der Erziehung. Sie erlebt ferner ihre Blütezeit, da intensive Diskussionen um eine wissenschaftlich geführte Jugendkunde geführt werden. In dieser Zeit bilden sich zahlreiche Institute, wie etwa das Hamburger Institut für Jugendkunde sowie das Wiener Institut für Kindheits- und Jugendforschung. Zudem gibt es einige Einzelforscher*innen, von denen besonders die Arbeit ,Über den Begriff der Jugend‘ von Siegfried Bernfeld erwähnenswert ist. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten kommt es in Deutschland zu einem Abbruch qualitativer Forschung. In der Nachkriegszeit etablieren sich zwei stark voneinander abgrenzende Forschungsfelder: Zum einen die entwicklungspsychologische Kindheitsforschung sowie zum anderen die soziologisch orientierte Jugendforschung. Mit letzterer geht ein Perspektivenwechsel einher. Wird vormals auf die entwicklungspsychologische Dimension des Jugendalters fokussiert, so rückt zunehmend die Rolle der Jugend in gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen in den Mittelpunkt der Analysen (vgl. Krüger 2012, S. 82-83). In den 1970er Jahren wird in der Soziologie sowie in der (bis dahin) sozialwissenschaftlich orientierten Erziehungswissenschaft an soziophänomenologische und symbolisch-interaktionistische Theorietraditionen angeschlossen. Ein theoretischer Perspektivenwechsel in der Jugendforschung lässt sich für die Mitte der 1970er Jahre ausloten: Im Zuge dessen werden Jugendliche nicht mehr als Objekte gesellschaftlicher Umstände betrachtet, sondern als handelnde Subjekte, die sich mit gesellschaftlichen Erwartungen auseinandersetzen (vgl. Krüger 2012, S. 84). Der Perspektivenwechsel vollzieht sich indes auch in methodischer Hinsicht. Er drückt sich in einer verstärkten Hinwendung zu detaillierten und fallbezogenen Forschungsdesigns aus. Zu Schlüsselkonzepten der qualitativen Forschung wird an die aus der interaktionistisch-wissenssoziologischen Traditionen stammenden Begriffe der ,subjektiven Situationsdefinition‘, der biographischen Prozessstrukturen‘ sowie der Begriff der ,Lebenswelt‘ angeschlossen. In dieser Zeit formieren sich zwei besondere Forschungsansätze: Zielt eine eher biographische Perspektive auf die gesamte Lebensgeschichte oder auf spezifische Statuspassagen von Jugendlichen und fokussiert auf die Veränderungsprozesse in der Jugendbiographie zumeist unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse, so nehmen phänomenologische oder ökologisch orientierte Lebensweltstudien die Ganzheitlichkeit des alltäglichen Lebens von Jugendlichen in unterschiedlichen pädagogischen oder anderen soziokulturellen Lebenswelten in den Blick (vgl. Krüger 2012, S. 84). Krüger (2012) zufolge lassen sich (grob) vier Forschungsbereiche der qualitativen erziehungswissenschaftlichen Jugendforschung unterscheiden, mit denen je spezifische forschungsmethodische Zugriffe einhergehen: Ein erster großer Bereich ist der Biographieforschung zuzurechnen. Einen zweiten breiten Schwerpunkt bilden seit den 1970er Jahren ethnographisch basierte Lebensweltstudien, welche sich in Anlehnung an sozialphänomenologische Theorietraditionen sowie an Methoden der ethnographischen Feldforschung in den letzten Jahrzehnten stark weiterentwickelt haben. Der dritte Schwerpunkt der qualitativen Jugendforschung umfasst mikroskopisch orientierte Interaktionsstudien. Hier finden insbesondere das Konzept des ,labeling approach‘, ethnomethodologische Betrachtungsweisen und das Verfahren der Konversationsanalyse sowie Auswertungsstrategien der Objektiven Hermeneutik beziehungsweise der Dokumentarischen Methode Berücksichtigung. Als vierten Schwerpunkt führt Krüger (2012) einen Bereich auf, der sich auf die Inhaltsanalyse von sinnhaltigen Dokumenten bezieht. Wurde in den Anfängen der Blick auf Tagebücher von Jugendlichen sowie auf Schulaufsätze gelegt, so geraten zunehmend Formate wie etwa Bilder, Filme und Videos in den Fokus qualitativer erziehungswissenschaftlicher Jugendforschung (vgl. Krüger 2012, S. 85-86).

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nutzt ,Jugend‘ und ,Jugendforschung‘ als Frühwarnsystem, Spiegel und Seismograph für die eigenen Probleme. Jugendforschung und Jugenddebatten haben Stellvertreterfunktionen“ (Griese 2007, S. 11). In Deutschland ist der jugendtheoretische Diskurs aufgrund seiner besonderen Ausgangslage (Jugendbewegung, Reformpädagogik) stark interdisziplinär angelegt, das heißt, er ist im Wesentlichen von der Soziologie, der Psychologie und der Pädagogik geprägt. Zudem ist er von gesamtgesellschaftlichen Veränderungen und Ereignissen beeinflusst und genießt eine große öffentlichpolitisch-mediale Aufmerksamkeit. Im folgenden Part werden einige Thematisierungsweisen von Jugend gestreift. Jugend als soziales Konstrukt und soziale Klassifikation Jugend bezeichnet ein recht junges gesellschaftliches Phänomen, das in den modernen Gesellschaften im 20. Jahrhundert entstanden ist und mit dem sich seither zunehmend wissenschaftlich beschäftigt wird (vgl. Sander und Vollbrecht 2000; Sander und Witte 2011, S. 668).294 Eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen fachlichen Termini zeigt, dass es für ,Jugend‘ keine verbindliche und einheitliche Definition gibt. Als Begriff oder Konzept wird ,Jugend‘ in den Diskursen höchst uneinheitlich und teils auch widersprüchlich verwendet, ebenso wie im alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch. So kann der Terminus junge Menschen zwischen 13 und 18 beziehungsweise 21 Jahren als Personengruppe bezeichnen. Somit bezieht er sich auf eine Zeitspanne der Biographie, welche ,Jugend‘ genannt wird. Jugend kann ferner den jeweiligen Möglichkeitsraum der Entwicklung markieren, den eine Gesellschaft der nachwachsenden Generation offeriert. Jugend kann überdies als ,Erziehungsaufgabe‘, als historisch entstandenes Phänomen oder als Lebensphase mit spezifischen psychosozialen Entwicklungsaufgaben verstanden werden. Nicht zuletzt ist Jugend überdies als ein juristischer Terminus bestimmbar (vgl. Sander und Witte 2011, S. 668). Die Vielfalt der Verwendungsweisen des Begriffs ,Jugend‘ soll hiermit verdeutlichen, dass es sich bei ,Jugend‘ nicht um etwas naturhaft Vorgegebenes handelt oder als eine ,natürliche Tatsache‘ bezeichnet wird, sondern ,Jugend‘ wird vielmehr als etwas historisch und gesellschaftlich Bedingtes sowie pädagogisch Relatives und Konstruiertes gesehen, das in den Blick zu nehmen und zu reflektieren gilt (vgl. Mansel und Griese 2003, S. 185; vgl. Andresen 2005, S. 11; vgl. Sander und Witte 2011, S. 668; Scherr 2009 ). Diese Perspektive mündet indes in drei Einsichten: Erstens ist Jugend ein gesellschaftlich hergestelltes soziales Konstrukt und als solches zu

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Insgesamt durchzogen das 20. Jahrhundert verschiedene Diskurse über Jugend sowie verschiedene Vorstellungen von Jugend, wenngleich diese sich vom realen Jugendleben unterschieden. Bilder von Jugend, sowie konkrete Lebensumstände Jugendlicher haben in wechselseitiger Verschränkung seit 1900 die Geschichte der Jugend bestimmt (vgl. Vollbercht und Sander 2000, S. 8).

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betrachten.295 Jugend ist zweitens eine wissenschaftlich-disziplinäre Wirklichkeitskonstruktion, die auf unterschiedlichen Logiken der Disziplinen basiert, in welchen sich wiederum normative Setzungen über Jugend verstecken. Dass Jugend drittens nicht nur als Ergebnis von gesellschaftlichen und wissenschaftlichen, sondern auch von pädagogischen Konstruktionsprozessen zu betrachten ist, darauf verweist Griese (2007, S. 29).296 So wird Jugend als ,Problem‘ beispielsweise als zu erziehende Größe hervorgebracht (vgl. Vollbercht und Sander 2000, S. 9). Liebsch (2012) verweist darauf, dass Jugend zudem eine sprachlich vorgenommene – und damit gesellschaftliche – Unterscheidung zwischen Menschen in ,Junge‘ und ,Alte‘ darstellt und es vielfältige historische, kulturelle und soziale Variationen des Terminus gibt. Wird allgemein von der Jugend geredet, so sind damit eine Reihe von Zuschreibungen, Gemeinplätze und Sprichwörter verbunden, die die Vorstellung einer spezifischen Kultur des Jugendalters transportieren. Daran anschließend lässt sich zuspitzen: Die Bezeichnung ,die Jugend‘ stellt eine sozial bedeutsame und aufgeladene Klassifikation dar, welche mit der Einordnung in Machtstrukturen und Gewalteneinteilung verbunden ist (vgl. Liebsch 2012, S. 11). So wirkt diese Klassifikation wie eine Art Platzanweiser. Der Ort, den jemand, der als Jugendliche/r bezeichnet wird, zugewiesen bekommt, ist der des ,Übergangsstatus‘ von halb Kind, halb Erwachsener, nicht mehr Kind, noch nicht Erwachsener (vgl. Liebsch 2012, S. 12). Bis hierhin lässt sich festhalten, dass Jugend zwar geschichtlich relativ sowie gesellschaftlich bedingt erkennbar wird; jedoch lassen sich einige konstitutive Elemente markieren, die junge Menschen zu Jugendlichen machen: das Gleichaltrigenleben, die Schule – welche als Kristallisationskern von Gleichaltrigenkulturen wirkt – sowie eine (gewisse) Freistellung von Arbeit, Familie, Ehe, Verantwortlichkeit und letztlich Autonomie der Lebensführung (vgl. Sander und Vollbrecht 2000, S. 7-8). Darauf verweist auch der 15. Jugendbericht. Legt man eine Betrachtungsweise auf ,Jugend‘ als soziales Konstrukt an, ist ferner zu berücksichtigen, dass dieses nicht allein durch äußere Bedingungen – wie etwa Elternhaus, pädagogische Institutionen, jugendgemäße Einrichtungen, Kleidung, Musik oder Ausbildung – hervorgebracht wird. Den Diskursen über Jugend ist nämlich ein Verständnis von Jugendlichen als Subjekte, als Akteure oder als Ko-Konstrukteur*innen unterlegen, welches sie als eigenwillige und handelnde Menschen begreift (vgl.

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Die Konstruktion Jugendlicher konzentriert sich besonders auf den Übergang von Kindern zu Jugendlichen sowie auf den Lebensabschnitt ,Jugendlich-Sein‘. In der Diskussion um junge Erwachsene hingegen wird der Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen beleuchtet (vgl. Mangold 2016). Jugend erscheint demnach nicht als ein empirischer Tatbestand, der objektivistisch untersucht und abgebildet werden kann. Im Zuge der Etablierung von Pädagogik, Psychologie, Soziologie und des Rechts als moderne wissenschaftliche Disziplinen kommt es zu ,Labelingprozessen‘, über die ,Jugend‘ zu einer wissenschaftlichen Kategorie und damit auch zu einem theoretischen sowie methodisch-empirischen Phänomen konstruiert wird (vgl. Sander und Vollbrecht 2000, S. 8-9).

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Andresen 2005, S. 11). So haben Jugendliche selber Anteil daran, wie sie in gesellschaftlichen Situationen handeln oder sie sich möglichen Politisierungs-, Pädagogisierungs- oder Domestizierungsbemühungen entziehen (vgl. Andresen 2005, S. 11).297 Nicht zuletzt wird dieses über spezifische Diskurse (über Jugend) hergestellt. Somit ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass über Diskurse gesellschaftliche Erwartungen und Zuschreibungen an Jugendliche nicht nur sichtbar, sondern primär erst hergestellt werden. Jugendliche sind sodann aufgefordert, sich mit diesen Zuschreibungen auseinanderzusetzen und sich zu positionieren (vgl. Mangold 2016, S. 103). Eine weitere Annäherung an das Phänomen Jugend lässt sich über das Alter vornehmen. Jugend und Alter Dass Jugend in Zusammenhang mit Alter thematisiert wird, darauf zielen die nun folgenden Überlegungen. Operationalisiert man den Jugendbegriff zum Zweck empirischer Studien durch Altersbegrenzungen, dann sind Altersgruppenunterschiede – nebst sozialstrukturellen, geschlechtsbezogenen oder andere Dimensionen – innerhalb der Jugendphase zu berücksichtigen (vgl. Scherr 2009, S. 28).298 Auch wenn sich der Versuch als problematisch erweist, Jugend mit Alter (-sgrenzen) zu markieren, scheint es für einige Bereiche durchaus sinnvoll und begründbar. Beispielsweise muss die empirische Forschung für statistische Vergleiche von Alterskohorten ausgehen. 299 Mitsamt ist es zum einen für empirische Untersuchungen wichtig klare Altersgrenzen festzulegen, da mit diesen darüber entschieden wird, wer als Jugendlicher gelten soll. Jedoch fungieren diese lediglich als Hilfsmittel. Zum anderen gehen mit wissenschaftlichen Grundbegriffen zentrale Annahmen darüber einher, was den jeweiligen Forschungsgegenstand kennzeichnet (vgl. Scherr 2009, S. 17). Und auch für das pädagogische Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ist die Frage nach dem Alter ihrer Adressat*innen bedeutungsvoll. Das pädagogische Handlungsfeld geht im Wesentlichen von der Festlegung verschiedener Altersspannen ihrer Adressat*innen aus (vgl. Deinet und Sturzenhecker 2013).

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Wissen darüber zu generieren, wie Jugendliche in gesellschaftlichen Situationen agieren, ist beispielsweise Ausgangspunkt der Jugendkulturforschung. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht ist dieses Wissen interessant, da es einen zeitgemäßen Zugang zu Äußerungen und Vorstellungen, der Sprache und den Symbolen, den inneren Bildern und den äußeren Performances der Jugendlichen verspricht (vgl. Andresen 2005, S. 11). In der Jugendsoziologie werden Jugendliche nicht selten durch die Festlegung von Altersspannen konstruiert. Scherr (2009) unterscheidet erstens in eine pubertäre Phase (18- 20 Jahre) und bezeichnet damit Jugendliche im engeren Sinn. Zweitens in eine nachpubertäre Phase (19-21 Jahre), diese markiert die Heranwachsenden. Drittens und zuletzt in eine Phase nach dem Erreichen der Rechtsmündigkeit bis zum Abschluss der Erstausbildung (21 Jahre bis ca. Ende des zweiten Lebensjahrzehnts). Diese werden als junge Erwachsene bezeichnet (vgl. Scherr 2009, S. 28). Dass diese Sicht auf Jugend westlich verzerrt ist, bleibt Niekrenz und Witte (2018) zufolge ein (zu reflektierendes) Risiko (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 384).

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Im Kontext der Offenen Kinder- und Jugendarbeit bildet das SGB VIII, §7 die entscheidende Rechtsgrundlage für die Jugend- und Sozialarbeit mit Heranwachsenden. Dabei wird folgende (Alters-)Unterscheidung vorgenommen: „Im Sinne dieses Buches ist 1. Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist, (…) 2. Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist, 3. Junger Volljähriger, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist.“ Damit ist der Jugendbegriff in Bezug auf Alter für die Offene Kinder- und Jugendarbeit gesetzlich festgelegt und in Gruppen differenziert – in anderer Perspektive – rechtlich normiert. Als solches dient es als Strukturprinzip dieses pädagogischen Handlungsfeldes. Eine weitere rechtliche Normierung erfährt der Jugendtreff durch das Jugendschutzgesetzt (JuSchG). In diesem werden laut § 1 Kinder als Personen gesehen, die noch nicht 14 und Jugendliche Personen, die 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind. Laut § 2 gilt für diese Gruppe zum Beispiel die Prüfungs- und Nachweispflicht, die regelt, dass bei Personen, bei denen nach diesem Gesetz Altersgrenzen zu beachten sind, ihr Lebensalter auf Verlangen hin (von Veranstalter*innen) überprüft werden kann. Laut § 9 JuSchG darf an Personen unter 16 Jahren auch kein Alkohol verkauft werden.300 Im nun anschließenden Part wird sich begrifflichen und theoretischen Sichtweisen auf Jugend zugewendet. Was ist Jugend? Begriffliche und theoretische Zugänge Im alltäglichen Sprachgebrauch benennt Jugend eine von Kindheit und Erwachsenenleben unscharf unterschiedene Lebensphase. Zudem legt der Begriff Annahmen über besondere Verhaltensmuster und Eigenschaften nahe, die als jugendtypisch gelten (vgl. Scherr 2009, S. 17). Ein wissenschaftlich begründeter Jugendbegriff hingegen ermöglicht, wer als Jugendlicher gelten soll und von welchen Annahmen über die besonderen Eigenschaften der Lebenssituation Jugendlicher sowie der Lebensphase Jugend ausgegangen wird (vgl. Scherr 2009, S. 17).301 In sozialwissenschaftlicher Per300

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Auch im beforschten Jugendtreff wird ,Jugendlich-Sein‘ über bestimmte Alternsgrenzen bestimmt. Die Differenzierung von Jugendlichen nach Altersgruppen ist notwendig, da damit bestimmte Regulierungen einhergehen: Alter bestimmt, ab wann und wie lange Besucher*innen sich zum Beispiel im Jugendtreff aufhalten und ob sie Alkohol erwerben dürfen. Alter hat auch eine ausschließende Komponente, insofern dass denjenigen, die als zu alt gelten, der Zutritt zum Jugendtreff verschlossen bleibt. Der Begriff der Jugend ist vom Begriff der Adoleszenz sowie vom Begriff der Pubertät zu unterscheiden. Diese Differenzierung wurde besonders durch die psychologisch ausgerichtete Jugendforschung eingeführt (vgl. Andresen 2005, S. 10). Mit der Pubertät wird zumeist die einsetzende Geschlechtsreife bezeichnet (vgl. Andresen 2005, S. 10). Betont der Begriff der Pubertät die biologische Dimension und fokussiert besonders auf biologische und biochemische Prozesse des Heranreifens (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 382), so markiert Adoleszenz einen Begriff, der im deutschen Sprachraum insbesondere auf die psychologische Dimension des Erwachsenwerdens hindeuten soll. Er drückt aus, dass im Zusammenhang mit der Entwicklung von jungen Menschen Besonderheiten der psychischen Gestalt sowie des physischen Erlebens zu berücksichtigen sind. In adoleszenztheoretischer Lesart wird betont, dass in dieser Phase die Aufgabe, die Veränderung des Körpers in das Selbstbild zu integrieren sowie die Entwicklung einer geschlechtlichen Identität, in den Vordergrund rückt (vertiefend zur

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spektive, in deren Debatten vornehmlich das Verhältnis von Jugend und der jeweiligen Gesellschaft betrachtet wird (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 382), bezeichnet Jugend eine soziale Gruppe in einem ganz bestimmten Lebensalter. Jugend gilt als Raum für Entwicklung mit Platz für spezifische Ausdrucksweisen und jugendkulturelle Eigenheiten. Scherr (2009) zufolge kennzeichnet die moderne Jugend eine „in sich komplexe und widersprüchliche Konstellation von ökonomischer und sozialer Abhängigkeit, eingeschränkten Rechten, pädagogischer Einwirkung und Qualifizierungszwängen einerseits, gesellschaftlich ermöglichten Freiräumen für die Persönlichkeitsentwicklung und das Leben in Gleichaltrigengruppen andererseits“ (Scherr 2009, S. 25). Ferner ist Jugend eine befristete Übergangsphase sowie eine Phase der sozialen Platzierung. Sie erfordert für die künftige soziale Stellung als Erwachsener bedeutsame Weichenstellungen (vgl. Scherr 2009, S. 25). Als kulturelles Konzept bedeutet Jugend, dass für die jeweiligen Jugenden Erwartungen, so etwa Normalitätsmodelle, Normen, Werte und Ideale bedeutsam sind. Diesen liegen gesellschaftliche beziehungsweise milieuspezifische Annahmen darüber zu Grunde, was Jugend kennzeichnet, was ihr angemessen ist und zuletzt, welche Chancen und Risiken das Jugendalter kennzeichnen (vgl. Scherr 2009, S. 25). Jugend und Jugenden Mitsamt sollte vermieden werden, verallgemeinernde Aussagen über eine vermeintliche Jugend (als homogene soziale Gruppe) zu treffen. Jugend prägt sich höchst ungleich und uneinheitlich aus (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 381) und stellt keine homogene Lebenslage oder Sozialgruppe dar (vgl. Scherr 2009, S. 24-25). Indem sie durch vielfältige Lebenslagen, Interessen und Bedürfnisse geprägt sind, ist von unterschiedlichen historisch veränderlichen, sozial ungleichen und geschlechtsbezogen differenzierten ,Jugenden‘ auszugehen (vgl. Scherr 2009, S. 24-25). Der Plural deutet indes drauf hin, dass das Aufwachsen sozial ungleich und geschlechtsbezogen differenziert, kulturell verschieden und historisch veränderlich ist (vgl. Niekrenz/Witte 2018, S. 384). Somit sind immer auch gesellschaftsgeschichtlich und gesellschaftsstrukturell bedingte Unterschiede zwischen den jeweiligen Jugenden zu berücksichtigen (vgl. Scherr 2009). Ferner geht es stets auch darum, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu reflektieren, unter denen sich spezifische Jugenden zeigen. Anschließend

weiblichen Adoleszenz vgl. King 2002, 2011; Flaake 2004; Flaake und King 1995; Bütow 2005; vertiefend zur männlichen Flaake und King 2005; Böhnisch 2004/2013). Adoleszenz beschreibt indes eine über die Pubertät hinausgehende Phase (vgl. Andresen 2005, S. 10; vertiefend Fend 2003). Eine darauf ausgerichtete Forschung interessiert sich für die körperlichen und hormonellen Veränderungen sowie für den damit einhergehenden sozialen und psychischen Wandel von jungen Menschen (vgl. Andresen 2005, S. 10). In der Adoleszenzforschung wird beispielsweise Wissen über die Ablösung vom Elternhaus, über die Orientierung an Gleichaltrigengruppen und über den Umgang mit Sexualität, Identität und Selbstfindung der Jugendlichen generiert (vgl. Andresen 2005, S. 10-11).

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an diese begrifflichen Annäherungen an den Terminus Jugend erfolgt eine Systematisierung unterschiedlicher Diskurse über Jugend in deren Verlauf. Jugend als Lebensphase Als eigenständige Lebensphase entstand Jugend seit der Industrialisierung als Folge der Trennung zwischen Familie, Schule, beruflicher Ausbildung und Erwerbsarbeit. Jugend wird gemeinhin als eine gesellschaftlich institutionalisierte und intern differenzierte Lebensphase ausgewiesen (vgl. Scherr 2009). In dieser durchlaufen Heranwachsende vermeintlich universale Stufenfolgen von körperlicher, sozialer und kognitiver Entwicklung, Reifung und Identitätsbildung (vgl. Sander und Witte 2011, S. 671).302 Die Abgrenzung und Ausdehnung dieser sowie ihr Verlauf und ihre Ausprägung sind wesentlich durch soziale (sozialstrukturelle, ökonomische, politische, kulturelle, rechtliche und institutionelle) Bedingungen und Einflüsse bestimmt (Scherr 2009). Als Lebensphase lässt Jugend sich als Institution markieren, die durch Leitbilder, Rechtsnormen und Wertvorstellungen in der jeweiligen Gesellschaft verankert ist. Mit Jugend geht eine soziale Statusposition einher, die durch die ökonomische und soziale Abhängigkeit von Anderen (Erwachsenen, Familie) sowie durch eingeschränkte Rechte bestimmt ist.303 Mit dem Status ,Jugend‘ ist der Zugang zu Bildung und Ausbildung verbunden. Jugend lässt sich folglich als Lebensphase des Übergangs bezeichnen, die sich zwischen Kindheit und Erwachsensein verorten lässt. Als sozialer Status markiert Jugend eine spezifische Position des ,nicht-mehr‘ und ,noch-nicht‘ (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 383). Jugendliche sind ,nicht-mehr-Kind‘ und ,noch-nicht-Erwachsene‘. Da sie in gewisser Weise von Arbeit, Familie, Ehe und Verantwortlichkeit freigestellt sind, können sie eine gewisse Autonomie der Lebensführung erreichen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 383). Der Status des/der Jugendlichen erlaubt es, Regeln und Grenzen auszutesten und zu erproben, um sich auf diese Weise von Kindern und von Erwachsenen abzugrenzen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 384). Jugendlichen wird dafür ein gewisser Schonraum zugesprochen. Jugend lässt sich folglich als Phase sozialer Platzierung ausweisen, die eine Integrations- und Platzierungsfunktion erfüllt (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 382). Als Integrationsmodus erscheint Jugend indes als

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Eine solche Sichtweise darf nicht verhindern, kontinuierlich historisch und gesellschaftlich spezifische Entwicklungsaufgaben und Selbstbestimmungsprozesse von Jugendlichen als verstehbare Erfahrung sowie als subjektiv getöntes Erlebnis zu beforschen (vgl. Sander und Witte 2011, S. 671). Jugendliche selbst sind davon abzugrenzen, auch wenn sie mit und in dieser Statusposition agieren und als solche Gesellschaft mitkonstituieren (vgl. Mangold 2016, S. 103).

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„eine Struktur, über die das soziale Zusammenleben und die soziale Ordnung gestaltet wird und über die funktionale Zusammenhänge hergestellt sowie soziale Erwartungen formuliert werden“ (BMFSFJ 2017, S. 84).304 Als zentrale Sozialsiationskontexte von Jugendlichen gelten die Familie, Schule, Geschlecht, Religion, Peer-Groups und Jugendkulturen (weiterführend vgl. Ecarius et al. 2011).305 Die Beziehungen zu Gleichaltrigen gewinnen besonders im Jugendalter erheblich an Bedeutung (vgl. BMFSFJ 2017, S. 54). „Sie bilden den Kern der Gesellschaftsformen, in denen Jugendliche sich bewegen und auf unterschiedliche und in einer von ihnen selbstbestimmten Art und Weise agieren und sich einbringen können“ (BMFSFJ 2017, S. 54-55). In diesem Zusammenhang gelten Jugendkulturen und Jugendszenen als genuine jugendliche Ausdrucksformen, in denen Jugendliche sich individuell, gleich gesinnt und mit anderen ausprobieren. Sie finden über Musik, Kleidungsstile, Symbole und Sprache kreative Formen ihres Lebensgefühls. Über ihre Inszenierungen grenzen sie sich für die Gesellschaft sichtbar ab (vgl. BMFSFJ 2017, S. 56). In der westlichen Welt konnte Jugend als peerorientierte Phase mit peerkulturellen Besonderheiten insbesondere deswegen entstehen, da spezifische Institutionen wie etwa die Schule als Orte fungieren, die Gleichaltrige in dieser spezifischen Lebensphase gemeinsam durchlaufen. Niekrenz und Witte (2018) verweisen in diesem Zusammenhang auf die Institutionalisierung von Jugend. Für diese kommt insbesondere der Schule und der Durchsetzung sowie der zeitlichen Ausdehnung der Schulpflicht eine wesentliche Bedeutung zu (vgl. ebd., S. 383). Die Institution Schule wirkt als Kristallisationskern von Gleichaltrigenkulturen. Zu Jugendlichen werden Personen gemeinhin erst über eine eingeschränkte Freistellung von Arbeit, Familie, Ehe und Verantwortlichkeit sowie über eine gewisse Autonomie der Lebensführung (vgl. Sander und Witte 2011, S. 668). Dass Jugend zudem als Lebensphase von sozialen Bedingungen geprägt ist, dies stellt Scherr (2009) heraus (vgl. ebd., S. 24).306 So weist auch der 15. Kinder- und Jugendbericht ausdrücklich darauf hin, dass die Bedingungen , unter denen junge Menschen

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Als sozial- und ordnungspolitisches Projekt unterliegt die Konstruktion der Jugend historischen Kontinuitäten (vgl. BMFSFS 2017, S. 87). Die Sozialisationsforschung als ausgewählte theoretische Perspektive auf Jugend fokussiert auf Prozesse des ,Geworden-Seins‘ und des ,Werdens‘ von Individuen im Schnittpunkt von Institutionen, sozialen Strukturen, sozialen Praktiken und Normierungen (dazu weiterführend Ecarius et al. 2011). Dies wird mit den Begriffen Sozialisation, Biografie, Identität, Habitus, Lebenslauf oder der SubjektKonstitution assoziiert (vgl. Liebsch 2012). Hierzu gibt es eine Pluralität von Forschungsperspektiven: die Sozialisationstheoretische Forschung, die Biographieforschung, die Identitätstheorien sowie die Lebenslaufforschung. Diese in den Blick zu nehmen, bildet beispielsweise den Kern jugendsoziologischer Theorie und Forschung. Die Pädagogik interessiert sich indes für die Voraussetzungen und Konsequenzen von Erziehung, Lernen und Bildung in verschiedenen pädagogischen Einrichtungen, so Niekrenz und Witte (2018, S. 382).

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heranwachsen, durch soziale Ungleichheiten und strukturelle Benachteiligungen geprägt sind und diese die Möglichkeiten ihrer gesellschaftlichen Teilhabe in spezifischer Weise präformieren. Er macht zudem deutlich, dass es notwendig ist, diese in den Blick zu nehmen, um sie pädagogisch und politisch bearbeitbar zu machen (vgl. BMFSFJ 2017, S. 95). Die Lebensphase Jugend hat sich in den westlichen Gesellschaften in den letzten fünfzig Jahren ausgedehnt. In der Phase der Jugend stehen Jugendliche vor diversen Entwicklungsaufgaben, die sie bewältigen müssen. Als zentrale Aufgaben der Entwicklung führt beispielsweise Fend (2003) auf, den Körper bewohnen zu lernen, den Umgang mit Sexualität, den Umbau mit sozialen Beziehungen, den Umgang mit Schule, die Berufswahl, Bildung sowie Identitätsarbeit (weiterführend Fend 2003). Nicht zuletzt regeln diese Entwicklungsaufgaben den Übergang von der Kindheit in das Erwachsenenleben.307 Die Jugendphase lässt sich gemeinhin als Ausgangspunkt pädagogischer Reflexion ausweisen (vgl. Andresen 2005, S. 12).308 Da pädagogisches Handeln immer auch auf 307

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Dass die Lebensphase Jugend durch eine besonders dichte Staffelung von Entwicklungsaufgaben gekennzeichnet ist, darauf verweisen Hurrelmann und Quenzel (2016). Sie führen weiter aus, dass von deren Bewältigung der gesamte weitere Lebenslauf abhängt und insbesondere die Auseinandersetzung mit der körperlichen und psychischen sowie mit der sozialen und gegenständlichen Außenwelt in intensiver Weise und in dieser Form nicht wiederkehrend abläuft. Insbesondere deswegen widmet sich die sozialisationstheoretische Jugendforschung den Auseinandersetzungen und Bewältigungen von Jugendlichen mit ihren körperlichen und psychischen Eigenschaften sowie ihren sozialen und ökologischen Umweltbedingungen (vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 5). Der Körper wird dabei im Zusammenhang mit den zentralen Entwicklungsaufgaben thematisiert, bleibt indes jedoch implizit. Umso mehr scheint es wunderlich, dass Jugend im Kontext der Jugendforschung zumeist als körperloser Forschungsgegenstand betrachtet wurde (vgl. Langer et al. 2010, S. 10). Dass die mit der Jugendphase verbundenen Entwicklungsphänomene und Probleme als wesentlicher Ausgangspunkt für das pädagogische Denken angesehen werden kann, darauf verweist Andresen (2005, S. 12). Vor diesem Hintergrund markiert sie Jugend als wirksame historische Denkfigur. Der Begriff versammelt, strukturiert und bewertet indes Informationen, Erkenntnisse, Vorstellungen sowie Vorurteile.Diese unterliegen zwar historischem Wandel, die Grundidee von Jugend als einer besonderen Phase im Lebenslauf bleibt jedoch konstant (vgl. Andresen 2005, S. 12). Eine solche Betrachtungsweise von Jugend als historisch wirksame Denkfigur bezieht sich nicht lediglich auf Theoriebildung und Reflexion von Jugend. Es ist auch zu berücksichtigen, dass sie Einfluss auf Individuen nehmen oder Praktiken – beispielsweise die pädagogische Praxis der offenen Jugendarbeit – lenken (vgl. Andresen 2005, S. 12). Als exemplarische Bereiche, in denen die Denkfigur Jugend in der Pädagogik an Wichtigkeit gewinnen konnte, führt Andresen (2003) die Bedeutung der Jugendphase in Biographien sowie in autobiographischen Erinnerungen auf (vgl. Andresen 2003, S. 12-14). Fasst man Jugend als historisch wirksame Denkfigur, ist ferner zu berücksichtigen, dass darüber auch Normalität konstruiert wird. Das bedeutet, dass die Sicht auf Jugend als Lebensphase immer durch Vorstellungen über eine ,normale‘ Entwicklung, über einen ,normalen‘ Lebenslauf oder über eine ,normale‘ Jugenderfahrung gelenkt wird. Es lässt sich zuspitzen, dass Wissenschaften, wie die Erziehungswissenschaft, die Entwicklungspsychologie oder die Medizin mit ihren jeweiligen Erkenntnissen und Diskursen über Jugendliche und Jugend maßgeblich zu Vorstellungen über Normalität beitragen. Nicht zuletzt daraus entstand das pädagogische Interesse an ,Abweichung‘ (vgl. Andresen 2005, S. 14).

Jugendtheoretische Ansätze

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Jugendliche zielt, richten sich erziehungswissenschaftliche Reflexionen, theoretische Fragen und empirische Untersuchungen auf die Lebensphase Jugend sowie die damit verbundenen Subjekte (vgl. Andresen 2005, S. 12).309 Ein sozialpädagogisches Verständnis von Jugend fokussiert auf Unterstützungsstrukturen und Unterstützungsprozesse zur Lebensbewältigung in dieser Altersphase. Somit rücken die Lebens- und Alltagswelten von Jugendlichen verstärkt in den Blick (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 382). Ein Ziel der Sozialpädagogik besteht nunmehr darin, stabilisierende Lebensbedingungen zu schaffen, in denen sich Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten eröffnen, welche zu einem selbstbestimmten Leben führen sollen (vgl. Struck und Schröer 2011, S. 730 in Niekrenz und Witte 2018, S. 383). 4.2

Jugendtheoretische Ansätze

Insgesamt gibt es ein breites Spektrum von theoretischen Ansätzen zu Jugend (vertiefend zur Jugendforschung Andresen 2005). Es kann hier allerdings nicht der Anspruch erfüllt werden, alle Ansätze zu präsentieren. 310 Es werden sodann einige sozialwissenschaftliche und pädagogische Theorien zu Jugend im Kontext von Zeitdiagnosen aufgeführt.311 Dass die jugendtheoretischen Diskurse stark modernisierungstheoretisch ausgerichtet sind, wird in der vorliegenden Studie kritisch perspektiviert. 309

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Grundlegende Annahmen der Jugendforschung werden in der Erziehungswissenschaft in spezifischer Weise in den Blick genommen. Die historische Jugendforschung beschäftigt sich mit der historischen Ausgestaltung von Jugend. Am Beispiel der sexuellen Aufklärungspraxis lässt sich zum einen nachzeichnen, dass und in welcher Weise Jugendliche im Laufe des 20. Jahrhunderts zu Informationen über Sexualität kamen. Zum anderen wird auch deutlich, dass dies viel über gesellschaftliche Vorstellungen, Normen und Werte aussagt. Folglich ist die Analyse der Jugendphase auch mit pädagogischen Vorstellungen und Interessen verbunden (vgl. Andresen 2005, S. 15). Eine andere theoretische Perspektive auf Jugend wird unter sozialkonstruktivistischer Sichtweise offen gelegt. In dieser ist die Annahme grundlegend, dass es sich bei Kindheit und Jugend um soziale Konstrukte handelt, und die Besonderheiten der Lebensphase Jugend über Diskurse – maßgeblich der Philosophie oder der Medizin – hervorgebracht werden (vgl. Andresen 2005, S. 15). Der Diskurs über die Lebensphase der Jugend setzt also ein Verständnis von Jugend als eine spezifische und von anderen Lebensphasen zu unterscheidende zeitliche Spanne voraus. Gleichsam stützt dieser sich auf Institutionen wie der Schule oder der Berufsausbildung. Im Zuge der Entwicklung moderner Gesellschaften sind zudem juristische Vereinbarungen, zum Beispiel die Festlegung der Volljährigkeit oder das Jugendarbeitsschutzgesetz, von Bedeutung (vgl. Andresen 2005, S. 15). Möchte man die Ansätze im Kontext der Entwicklung der Jugendforschung systematisieren, so ist auf sozialpsychologische und kulturanthropologische Ansätze zu verweisen. Unter diese werden der feldtheoretische Ansatz von Kurt Lewin, der kulturanthropologische Ansatz von Margaret Mead sowie der psychoanalytisch-soziologische Ansatz im Anschluss an Erik H. Erikson gefasst. Als klassische soziologische Jugendtheorien können generationstheoretische Ansätze im Anschluss an Karl Mannheim, die phänomenologische Gegenwartsanalyse von Helmut Schelsky, der funktionalistische Ansatz von Shmuel N. Eisenstad sowie handlungstheoretische Ansätze, bezugnehmend auf Friedrich H. Tenbruck, verstanden werden (vgl. vertiefend Griese 2007, S. 31-131). Im wissenschaftlichen Diskurs über Jugendliche der letzten Jahre lassen sich verschiedene Konjunkturen nachzeichnen: In den 1980er Jahren beschäftigte Jugendforschung sich verstärkt mit dem Freizeitverhalten von Jugendlichen. In den 1990er Jahren hingegen war die Aufmerksamkeit auf Gewalt

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Jugend und Körper

Als gesellschaftstheoretische Perspektiven werden im weiteren Verlauf des Kapitels körpertheoretische Sichtweisen verstärkt hinzugezogen und diese in den analytischen Rahmen der Arbeit einbezogen. Konzepte der Körpersoziologie ermöglichen es, sich im Alltag von Jugendlichen zeigende Phänomene aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick zu nehmen. Jugend als Moratorium Seit den späten 1960er Jahren wird Jugend zunehmend als Moratorium in Form zeitlich begrenzter Freisetzung und Entpflichtung Heranwachsender von gesellschaftlichen Aufgaben und Teilhabeformen gefasst (vgl. BMFSFJ 2015, S. 89). Das Konzept von Jugend als Moratorium, als ein Schonraum, geht in der Jugendforschung auf das 18. Jahrhundert zurück. Es erweist sich jedoch auch heute noch in erweiterten Entwürfen als anschlussfähig.312 Unter dem Begriff des Bildungsmoratoriums vereint sich die Annahme, dass die Lebensphase Jugend auf Bildung sowie auf Vorbereitung auf den Erwachsenenstatus gerichtet ist. Jugend ist überdies daraufhin ausgelegt, die lebensphasenspezifischen Möglichkeiten der Gegenwart so intensiv wie möglich zu erleben, Bedürfnisse zu entfalten und Wohlbefinden zu erreichen (vgl. Sander und

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und Medien gerichtet. In den 2000er Jahren konzentriert sich die Forschung indes auf den Zusammenhang von Jugend und Arbeit (vgl. Mangold 2016, S. 103). Zu weiteren aktuellen Jugenddiskursen zählen Griese (2007) zufolge Jugend als Problem, Jugendprobleme sowie Jugend und Gewalt (Griese 2007). Seit dem 19. Jahrhundert erfahren die Jugendphase und ,die Jugendlichen‘ zunehmend mehr an Aufmerksamkeit. Unter dem Begriff der Modernisierung wird indes der Zusammenhang von Jugend und Aufbruch thematisiert. In diesem Kontext ist es von Bedeutung, dass sich im Jugendbegriff unterschiedliche Modernisierungsphänomene bündeln (vgl. Andresen 2005, S. 29). Das gesellschaftliche Interesse entwickelte sich besonders in den USA. Als prominente Theorie gilt die Adoleszenztheorie von G. Stanley Hall (weiterführend Andresen 2005, S. 29-56). Im 20. Jahrhundert entwickelte sich die pädagogische Jugendkunde. Diese bezeichnet eine spezifische Form der Jugendforschung mit einer eindeutigen pädagogischen Intention (weiterführend vgl. Andresen 2005, S. 57-66). Im deutschsprachigen Raum gelten die jugendkulturell und psychoanalytisch angelegten Arbeiten von Siegfried Bernfeld, die sozialwissenschaftliche Jugendtheorie von Charlotte Bühler sowie die aus dem Umfeld der Geisteswissenschaft stammende Pädagogik von Eduard Spranger als prominent (vgl. Andresen 2005, S. 67). Im zweiten Teil des 20. Jahrhundert gewann die sozialwissenschaftliche Jugendforschung weiter an Kontur. Diese Phase gilt auch als Entstehungskontext eines Verständnisses von Jugend als Bildungsmoratorium (vgl. Andresen 2005, S. 94). Die jugendtheoretische Perspektive von Jugend als Moratorium wurde in der psychoanalytischen Phasenlehre von Erik H. Erikson erarbeitet. Das lebenslange Phasenmodell besagt im Kern, dass jedes Individuum bestimmte (psychosexuelle) Phasen durchlaufen muss. Da in der fünften Phase ein rasches Körperwachstum und die Geschlechtsreife einsetzen, ist diese Phase in jugendtheoretischer Hinsicht (von den insgesamt 8 Phasen im menschlichen Lebenslauf) besonders bedeutsam. Der Mensch ist aufgefordert, sich mit der eigenen Person (Ich-Identität) sowie mit seiner Umwelt und deren Reaktionen auf die körperlichen Veränderungen auseinandersetzen. Die Jugendzeit bezeichnet Erikson als Krisenzeit schlechthin, da Heranwachsende eine Identitätskrise mit ihren Verunsicherungen und Orientierungsproblemen bewältigen müssen. Da Jugendlichen eine gewisse Karenzzeit – eben ein psychosoziales Moratorium – zugestanden wird, sind sie in der Lage, diese Krise zu bewältigen. Zudem wird Jugendlichen ein soziales Moratorium zugesprochen, welches sie selbst auch zur Bewältigung benötigen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 385).

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Witte 2011, S. 668). Im Rahmen dieses Moratoriums können Jugendliche sich ausprobieren, erproben und experimentieren. Gleichsam müssen sie sich mit den Konsequenzen des Moratoriums auseinandersetzen, die darin bestehen – so Niekrenz und Witte (2018) – dass sie noch nicht als erwachsen gelten, obwohl sie körperlich reif sind. Dass diese Diskrepanz zwischen biologischer und sozialer Reife zum einen ein wesentliches Problem dieser Phase sowie zum anderen eines der zentralen Konfliktfelder zwischen der Generation der Jugend und der Generation der Erwachsenen darstellt, darauf verweisen Niekrenz und Witte (2018, S. 385).313 Jürgen Zinnecker (1991) konkretisiert indes das Konzept des Moratoriums zugunsten der Konzepte Übergangsmoratorium und Bildungsmoratorium. Damit ebnet er einer differenzierten Jugendforschung den Weg, in der milieuspezifische Jugendverläufe berücksichtigt werden. Zinnecker richtet seinen Fokus auf die gesellschaftliche Institutionalisierung der Lebensphase Jugend und weniger auf die psychosoziale Verfassung von Jugendlichen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 385). Das Übergangsmoratorium (als Strukturmodell von Jugend in Westeuropa bis in die 1960er Jahre gängig) ist in dieser Perspektive als ein kurzer Abschnitt im Lebenslauf, welcher die Einstiegsphase in das berufliche und familiäre Erwachsenenleben regelt, konzeptualisiert. Dem gegenüber ist das Bildungsmoratorium als eine eigenständige Lebensphase zu verstehen. Es ist zudem seit der Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre das vorherrschende Modell von Jugend (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 385-386). Dass Jugendliche zunehmend länger in Schule und Ausbildung verweilen, lässt sich als Ausdruck einer stärker werdenden Fokussierung auf den Erwerb von Bildung und Bildungsabschlüssen deuten. Zugleich kann sich ein Milieu von Altersgleichen, in welchem sich spezifische jugendliche und jugendkulturelle Lebensweisen sowie politisch-gesellschaftliche Orientierungsmuster treffen, herausbilden (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 386).314 Das Modell von Jugend als Moratorium wurde im Kontext einer historisch-gesellschaftsvergleichenden Jugendforschung entwickelt und wird auch heute herangezogen, beispielsweise zur lebensweltorientierten Beschreibung von Jugendlichen im

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Ebenso deuten sie einige Kritikpunkte an dieser Theorie an. Unterschiede hinsichtlich kultureller Kontexte oder Persönlichkeitsentwicklungen sowie zwischen verschiedenen Milieus werden darin nämlich nicht berücksichtigt (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 385). Neben diesen beiden Grundmustern entwickelte Zinnecker zudem das Strukturmodell des selektiven (Bildungs-) Moratoriums. Damit wollte er die Jugendphase in den osteuropäischen Gesellschaften der 1980er Jahre beschreiben, welche sich im Kontext des Zusammenbruchs der sozialistischen Regimes formierte. Mit dem Modell des selektiven Moratoriums lassen sich Auswirkungen einer verzögerten und selektiven Modernisierung von Jugendleben erfassen. Für das erweiterte Bildungsmoratorium westeuropäischer Gesellschaften ist der Zuwachs von soziokultureller Autonomie bedeutsam. In osteuropäischen Ländern liegt der Fokus der Jugendphase hingegen auf dem Erwerb von Bildungstiteln (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 386).

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Spannungsfeld von Tradition und Moderne (vgl. zum Beispiel Schäfer 2010).315 Dass Jugend als Schonraum aufgefasst werden kann, bedeutet nicht den Luxus des Aufwachsens, sondern umschreibt die Tatsache, „dass sich gesellschaftlich bedingt eine Altersphase etabliert und ausdifferenziert hat, in der Betroffene Eigenleben und Eigenwert entwickeln können“ (Sander und Witte 2011, S. 668). Begünstigt durch gesellschaftliche Bedingungen hat sich so eine zuvor als nicht eigenständiger Lebensabschnitt anerkannte Altersphase etabliert und ausdifferenziert, in welcher Betroffene Eigenleben und Eigenwert entwickelt haben (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 383). Niekrenz und Witte (2018) bemerken jedoch kritisch, dass insbesondere Letztgenanntes vordergründig für ,durchschnittliche und gesunde Normaljugendliche gelte‘ und marginalisierte Teilgruppen darin nicht wiedergefunden würden (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 383; vgl. Sander und Witte 2011, S. 668). Zudem erfährt das Jugendmodell des Moratoriums (auch in wohlhabenden) Gesellschaften immer auch Einschränkungen. Vor dem Hintergrund anwachsender Ungewissheiten und Risiken bricht die Moratoriumsphase auf und verliert zunehmend seine gesellschaftliche Legitimationsgrundlage (vgl. Sander und Witte 2011, S. 668). Es lässt sich bündeln: Wenngleich in der Jugendforschung bis ins 21. Jahrhundert an das Konzept des Moratoriums häufig angeschlossen wurde, da es wesentliche Bestimmungselemente des Konstrukts Jugend enthält (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 386, vgl. auch Andresen 2005, S. 94-109), so lässt sich zuspitzen, dass es vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Transformationsprozesse zunehmend brüchiger wird. Jugend und Generation Im weiteren Verlauf der Entwicklung und Etablierung der Jugendforschung wird diese zunehmend in gesellschaftstheoretischer Perspektive fortgeführt und dabei besonders an die Begriffe Sozialisation und Generation angeschlossen. Letzteres wird in gebotener Kürze anhand ausgewählter theoretischer Ansätze beleuchtet: In den 1960er Jahren standen jugendtheoretische Positionen im Vordergrund, innerhalb derer Jugend als übergreifende Generationsgestalt begriffen wurde (vgl. Helsper et al. 315

Eine andere Verwendung findet der Begriff des Moratoriums bei Heinz Reinders (2006). Sein Konzept des dualen Moratoriums fokussiert auf Jugendliche zwischen Bildung und Freizeit. Es gliedert sich ferner in ein Bildungs- und ein Freizeitmoratorium. Verweist ersteres darauf, dass Jugendliche sich in Vorbereitung auf die Zukunft an der Erbringung von Leistung sowie an schulischen Standards orientieren, so stellt zweites Freizeitaktivitäten mit Gleichaltrigen in den Mittelpunkt (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 386). Im Modus der Gegenwartsorientierung sind eigene Bedürfnisse, das Erreichen von Wohlbefinden und Selbstentfaltung vordergründig. Auf der Werteeben schließen diese beiden Moratorien sich nicht aus. Auf der Handlungsebene können sie jedoch in Konkurrenz zueinander stehen (vgl. ebd.). Reinders zufolge gilt ein Moratorium als integriert, wenn Jugendliche beide Angebote und Erwartungen miteinander in Einklang bringen und überdies die Jugendphase als Zeit des Lernens für die Zukunft sowie zugleich als Möglichkeit zur Selbstentfaltung nutzen können (vgl. ebd.). Von einem diffusen Moratorium spricht Reinders (2006) dann, wenn Jugendliche die Jugendphase nicht im Sinne von Freizeit oder Bildung interpretieren oder keine klaren Orientierungen entwickeln (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 386).

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2015, S. 9). In der Generationentheorie schließt der Begriff Jugend zwei Bedeutungen ein: Zum einen Jugend als Lebensphase, zum anderen Jugend als gesellschaftlich und sozialgeschichtlich bestimmbare Größe (vgl. Schröer 2016, S. 83). Verweist erstere darauf, dass mit Jugend ein bestimmter Lebensabschnitt bezeichnet wird, der zwischen Kindheit und Erwachsenenalter liegt, so umfasst die zweite, dass mit Jugend eine bestimmte soziale Gruppe innerhalb der Gesellschaft bezeichnet wird. Jugend wird so zu einer gesellschaftlichen Größe, die gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und Veränderungen unterworfen ist und zudem als gesellschaftlich-geschichtliches Phänomen betrachtet wird (vgl. Schröer 2016, S. 83). Der Begriff der Generation findet dann Verwendung, wenn Jugend als Bevölkerungsgruppe mit ihren sozialstrukturellen Besonderheiten in den Blick genommen wird (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 387). Aus soziologischer Sicht bezeichnet Generation die Summe der „in einem bestimmten Zeitraum geborenen Menschen im Hinblick auf ihre Einstellungen und Ansichten zur Kultur, Moral und Gesellschaft etc.“ (Wulf und Zirfas 2010, S. 209). In pädagogischer Perspektive zielt der Generationenbegriff indes auf die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern, auf Fragen reziproker intergenerationeller Einstellungen sowie auf Fragen nach Erziehungsinhalten, -zielen und -problemen. Mit dem Konzept der Generation hat sich insbesondere Karl Mannheim beschäftigt. Seinen wissenssoziologischen Arbeiten liegt die Annahme zugrunde, dass die Übertragung akkumulierter Kulturgüter in der Generationenfolge erforderlich für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung gesellschaftlicher Ordnungen ist. Generation betrachtet er somit als ein zentrales Strukturprinzip der Gesellschaft. Zudem weist dieses Ähnlichkeiten zum Phänomen der Klassenlage als schicksalsmäßige Lagerung im sozialen Raum auf. Eine Generationenlage ist durch ihre Zugehörigkeit zu einander verwandten Geburtsjahrgängen definiert. Menschen, die einer Generation zugehörig sind, erscheinen im historischen Strom des gesellschaftlichen Geschehens ähnlich gelagert. Aus diesem Grund erfahren sie die Welt auf eine bestimmte Weise. Sie teilen eine gemeinsame Erlebnisschichtung, beziehungsweise sie konstituieren einen gemeinsamen Erlebnisraum. Dieser zieht eine bestimmte Art des Erfahrens, Denkens und Wahrnehmens mit sich und bindet somit in eine spezifische Kultur ein. Jede neue Generation ist mit der Aufgabe konfrontiert, in die ihr gegebene Kultur hineinzuwachsen. Überdies vollzieht sich dabei ein Wechsel der Generationen. Dieser bezeichnet die Übergabe von dominanten Positionen der Gesellschaft an die nachwachsende Generation und ist meist mit einem strukturellen Wandel verbunden (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 387). Mannheim zufolge kommt es wegen verschiedener Orientierungen in der Erziehung und Ausbildung der Jugend zu Spannungen zwi-

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schen den Generationen, die dadurch relativiert werden könnten, dass nicht nur Jugendliche von Erzieher*innen lernen würden, sondern auch umgekehrt (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 387).316 Eine andere Betrachtung des Konzeptes Generation findet sich bei Helmut Schelsky (1957). Er legte den Blick auf die (Nachkriegs-) Jugend in Deutschland zwischen 1945-1955. Die von ihm vertretene These einer ,Skeptischen Generation‘ entwirft Jugend als eine Generation, die sich angesichts der ideologischen Verblendungen, Enttäuschungen und Schrecken des Nationalsozialismus von politischen Ideologien und Idealbildungen abgewendet habe (vgl. Helsper 2015, S. 9). Das politische Bewusstsein dieser – von Kriegsfolgen sowie von einer sozialen und ökonomischen Misere geprägten Generation – lässt sich somit als entpolitisiert und entideologisiert umschreiben. Ferner findet sich ein nüchterner Wirklichkeitssinn sowie die Bereitschaft zu einer schnellen Übernahme von Familie, Ausbildung und Beruf (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 388).317 In den darauffolgenden Jahren wurde der Begriff

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An Mannheims Konzeptionen der Generation lässt sich insofern Kritik üben, als dass mit dem Generationenbegriff eine spezifisch ,männliche Kohorte‘ verbunden wird, die einen bürgerlichen Bildungshintergrund aufweist und einen Aufstiegswillen hegt (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 387). Parallel zu einer solchen generationalen (Groß-) Diagnose formieren sich Positionen, in denen insbesondere an die Kritische Theorie oder die beginnende Marxrezeption klassentheoretischer Positionen angeknüpft wird. In diesen wird Jugend im Zusammenhang mit klassentheoretischen Verortungen und klassenkämpferischen Auseinandersetzungen entweder als Opfer von Herrschaftsverhältnissen (Produktivkraft) oder tendenziell als revolutionäre und Gesellschaft verändernde Altersgruppe begriffen (vgl. Helsper et al. 2015, S. 9-10). Eine andere theoretische Sichtweise auf Jugend entwickelt sich in Arbeiten, die von der strukturfunktionalistischen Theorie im Anschluss an Talcott Parsons inspiriert sind. Jugend erscheint in einer solchen Lesart in einer Doppelgestalt: Zum einen wird die Notwendigkeit einer eigenständigen Jugendphase, mit der auch die Entstehung einer tendenziell eigenständigen Jugendkultur oder einer jugendlichen Teilkultur einhergeht, untermauert. Denn diese erst ermöglicht notwendige Veränderungen und Erneuerungen in modernen Gesellschaften. Zum anderen wird dadurch die kulturelle Reproduktion – die Einführung in universalistisch-ausdifferenzierte Wertmuster in modernen Gesellschaften – problematisch und bedroht (vgl. Helsper et al. 2015, S. 10). Denn die innerhalb eigenständiger Jugendkulturen herausgebildeten Wertmuster und Haltungen können durchaus von bestehenden Wertmustern abweichen. Dass die Jugendkultur zu einer Bedrohung für die gesellschaftliche Reproduktion und somit als ein ,Problem‘ in den Blick genommen wird, zeigt sich besonders an den Themen wie Devianz und Abweichung (vgl. ebd.) In diesen Thematisierungen manifestiert sich ein Blick auf Jugend, in der diese als gefährdete und gefährliche Altersgruppe betrachtet wird. Delinquenz und Abweichung sind mitsamt Themen, die in der Jugendforschung vielfach diskutiert wurden und werden. Die hier nur in Anlehnung an Helsper (2015) verkürzt angedeuteten unterschiedlichen jugendtheoretischen Positionen im Kontext der 1960er Jahre kennzeichneten eine homogenisierte und stark generalisierte Perspektive auf Jugend. Im Zuge historischer Großdiagnosen, übergreifender Gesellschaftsdiagnosen oder angesichts gesellschaftlicher Problemlagen wird diese deduktiv abgeleitet und homogenisierend bestimmt (vgl. Helsper et al. 2015, S. 10).

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der Jugend in verschiedener Weise mit dem Begriff der Generation etikettiert. Prominent gelten beispielweise die Shell-Jugendstudien (dazu vertiefend Andresen 2005).318 In den 1970er Jahren werden die erwähnten jugendtheoretischen Perspektiven teils aufgegriffen und modifiziert. Zum einen wird, so Helsper et al. (2015), die Devianzund Abweichungsperspektive auf Jugend zunehmend durch symbolisch-interaktionistisch orientierte Theorien des so genannten ,labeling approach‘ abgelöst. 319 Zum anderen entsteht im Zuge einer ,Alltagswende‘ und einer ,Lebensweltorientierung‘ in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften eine theoretische Perspektive auf Jugend, in der zunehmend die Eigenlogik von Jugend, die jugendlichen Lebenswelten sowie jugendkulturelle Stile und Ausdrucksformen in den Blick genommen werden (vgl. Helsper et al. 2015, S. 11). Somit fand eine Hinwendung zu den Besonderheiten, der Vielfalt und den konkreten Erscheinungsformen jugendlicher Lebenszusammenhänge statt. Im Zuge dieser interessierte Jugend in ihrem Eigenrecht und ihren eigenlogischen Ausdrucksgestalten, welche es verstehend zu erschließen galt (vgl. Helsper et al. 2015, S. 11).320 In den 1970er Jahren wurde die Jugendphase überdies sozialisationstheoretisch analysiert. Folglich erhielt der Begriff der Sozialisation neben Bildung und Erziehung eine ganz zentrale Position (vgl. Andresen 2005, S. 115-116).321

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Dass Etiketten, wie etwa das der Generation, hilfreich sind, um Aufmerksamkeit für jugendtypische Themen zu erregen, betonen Niekrenz und Witte (2018). Jedoch seien diese nicht in der Lage, typische Merkmale ganzer Altersgruppen zusammenzufassen. Nicht zuletzt aus diesem Grund, so der, die Autor*in, ist ein sensibler, differenzierter Blick für die Beschreibung jugendlicher Lebenslagen nötig. Die Entstehung von Devianz im Jugendalter wird im Kontext der Theorie des ,labeling approach‘ als Ausdruck von Typisierungs- und Etikettierungsprozessen begriffen. Die als deviant etikettierten Handlungsformen Jugendlicher gelten mithin als Ausdruck ihrer spezifischen Auseinandersetzung mit Typisierungs- und Etikettierungsprozessen und somit als problemlösendes Handeln (vgl. Helsper et al. 2015, S. 10-11). Helsper et al. (2015) weisen zudem darauf, dass in diesem Kontext die Rezeption der aus den Cultural Studies stammenden Jugendkulturanalysen bedeutsam war. Das in diesem Kontext entwickelte Interesse an der konkreten Rekonstruktion jugendlicher Lebenswelten, Kulturen, Szenen, Vergemeinschaftungsformen, Biographien und Praktiken setzte sich in Verbindung mit weiterentwickelten Verfahren der qualitativen Sozialforschung fort und wurde mitunter in ethnographischen Zugängen aufgegriffen und elaboriert (vgl. Helsper et al. 2015, S. 11-12). Im weiteren Verlauf der Jugendforschung gewannen anders gelagerte Forschungs- und Theorieperspektiven an Kontur. An diesen wird das spannungsreiche Verhältnis zwischen Jugendforschung und Gesellschaft einmal mehr deutlich (vgl. Andresen 2005, S. 131). Die Bedeutung der Jugendphase in den einzelnen Biographien, in sozial organisierten Generationenverhältnissen, hing eng mit der Etablierung der Jugendforschung zusammen. Im 20. Jahrhundert war dies stets an den gesellschaftlichen Wandel gekoppelt, dessen Phänomene sich immer auch auf die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen auswirken und als Chancen oder Risiken wirksam werden können. Einzelne Akteur*innen der Jugendforschung sahen sich insbesondere im Anblick des Aufwachsens im Kontext von Risiken, wie etwa der Jugendarbeitslosigkeit, sozialer Benachteiligung, mangelnder Anerkennung oder Suchtverhalten, dazu aufgefordert, in jugendpolitischer Anwaltschaft zu agieren (vgl. Andresen 2005, S. 132).

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Im Diskurs um Jugend als Lebensphase in Zeiten beschleunigter Modernisierung werden mithin Phänomene diagnostiziert, die mit den Begriffen der Entgrenzung (vgl. Schröer 2004, 2016) sowie Entstrukturierung (vgl. Olk 1985) gefasst werden. Auf beide wird kurz eingegangen, bevor der Blick auf das Verhältnis von Jugend und Körper wechselt. Daran anknüpfend wird dieses ,spezifische‘ Verhältnis in körpersoziologischer Perspektive betrachtet und diskutiert. Somit werden Dimensionen des Körperlichen im Zusammenhang mit Jugend gebracht und auf die Forschungsfrage bezogen, die für die vorliegende Studie leitend ist. Entstrukturierung und Destrukturierung Jugend lässt sich als gesellschaftlich-historisches Produkt markieren, das immer auch gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegelt. Setzte sich im 19. Jahrhundert (erst) eine Vorstellung von Jugend als eine eigenständige und vom Erwachsensein abgrenzbare Lebensphase durch – dies galt insbesondere für männliche und bürgerliche Heranwachsende – , so erweiterte sich dieses Verständnis von Jugend im 20. Jahrhundert über Milieu-, Schicht- und Geschlechtergrenzen hinweg um die Perspektive der verwirklichbaren Lebensoption (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 388). Im Zuge des 21. Jahrhunderts wurde Jugend im Kontext beschleunigter Modernisierung beleuchtet, beziehungsweise die These untermauert, dass sich im Phänomen Jugend Anzeichen einer solchen manifestieren würden (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 388). Prozesse der Pluralisierung und Individualisierung von Biografien und Lebenslagen reihten sich an Auswirkungen von Transnationalisierung und Globalisierung an (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 388).322 Im Kontext der Jugendforschung beschäftigen sich insbesondere individualisierungstheoretische Ansätze mit Fragen nach Pluralisierung und Individualisierung und bringen diese in Zusammenhang mit dem Thema Jugend. Ihnen liegen die Annahmen zugrunde, dass eine zunehmende Gleichberechtigung zwischen den Generationen herrscht und sich der Erziehungsstil von Eltern zunehmend gewandelt hat. Dies führt vermehrt zu einer neuen Eigenständigkeit in der Jugendphase sowie zu einem selbstverantworteten Handeln (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 388). In seinem Werk ,Risikogesellschaft‘ beschreibt Ulrich Beck (1986), wie Menschen sich von traditionellen Bindungen und Versorgungszusammenhängen befreien und infolge dessen das Individuum an Bedeutung gewinnt. Mitsamt prägen Individuen verschiedene Lebensstile aus und werden so zu Reproduktionseinheiten des Sozialen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 388-389). Gemeinhin ist die Individualisierung von einem Paradoxon durchdrungen: In nunmehr pluralisierten Gesellschaften werden Jugendliche zum einen 322

Die unterschiedlichen Disziplinen bestimmen den Gegenstandsbereich Jugend. Die Vielzahl der verschiedenen Zugänge und deren jeweilig divergierenden Schwerpunktsetzungen sind schwierig in ein umfassendes Bild von Jugend zu integrieren. Auf die Notwendigkeit einer inter- und transdisziplinären Jugendforschung verweisen Riegel et al. (2010).

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zunehmend eigenverantwortliche Gestalter*innen ihres Lebens. Somit wird ihnen eine verstärkte soziokulturelle Mündigkeit zu der Gestaltung ihrer Lebensumstände zugesprochen. Zum anderen führt die zunehmende Entscheidungsfreiheit zu einem Zwang, das eigene Leben gestalten zu müssen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 389). In einer solchen Perspektive sind junge Heranwachsende zur Selbstentfaltung und Selbstständigkeit verpflichtet und gleichsam mit einer Vielfalt von Optionen sowie einander (teils) ergänzenden aber auch widersprechenden Werten, Normen und Bedeutungen konfrontiert (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 389).323 Am Modell des Jugendmoratoriums wurde mit dem Blick für eine individualisierte Jugendphase in den 1980er-, 1990er Jahren insbesondere von Thomas Olk (1985) Kritik geübt. Davon ausgehend, dass die gesellschaftlichen Erwartungen an Jugendliche uneindeutiger geworden sind und das Modell vom institutionalisierten Lebenslauf, demzufolge der Mensch Entwicklungsstufen durchläuft, abschließt und auf diese aufbauend eine neue Entwicklungsphase beginnt, ins Wanken geraten ist, verkündet er eine Entstrukturierung der Jugendphase. Damit beschreibt er, dass die Übergänge von der Kindheit zur Jugend sowie von der Jugend ins Erwachsenenalter zunehmend verschwimmen und eben nicht mehr zum linearen und standardisierten Lebenslaufmodell passen. Zudem zerfasert die Jugendphase zum Ende hin und ist ferner von zunehmenden Spannungen und Inkonsistenzen gekennzeichnet (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 389). Das Konzept vom Jugendmoratorium als Schonraum kann jedoch aufrechterhalten werden, da die Trennung der Jugend von arbeitsgesellschaftlichen Anforderungen nicht berührt wird (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 389). 324

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Die Ausfüllung der eigenen Identität als persönliche Entscheidung stellt sich Jugendlichen als Aufgabe dar (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 389). Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde Jugend mit einem Modell des institutionalisierten Lebenslaufes verknüpft (dazu vertiefend Schröer 2016). Es besagt im Kern, dass in modernen Gesellschaften den Menschen in den bestimmten Lebensaltern unterschiedliche gesellschaftliche Erwartungen zugeordnet werden können. Diese spiegeln die Funktionserfordernisse der Lebensphase industriekapitalistischer Modernisierungsprozesse wider (vgl. Schröer 2016, S. 91). Daran orientierte sich auch die Kinder- und Jugendhilfe. Jedoch wurde diese Ablaufstruktur in den 1980er Jahren mit dem Begriff der Ent-, beziehungsweise Destrukturierung, insbesondere von Thomas Olk (1985), kritisch hinterfragt. Diese verwies modernisierungstheoretisch auf Pluralisierungs- und Differenzierungsprozesse, auf unterschiedliche Zeit- und Raumdynamiken in der Jugendphase, die in dem (linear) entworfenen Modell des institutionalisierten Lebenslaufes nicht hinreichend berücksichtigt wurden (vgl. Schröer 2016, S. 92). Dies wurde auch von der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Jugendforschung aufgegriffen (dazu weiterführend Schröer 2016, S. 92-93). Inhärent ist jedoch allen die Annahme, dass Jugend als eigenständige Vergesellschaftungsform fungiert, und sie eben nicht der Eingang in die Erwerbstätigkeit bedeutet. So wie die Theorie des Moratoriums nahe legt, bleibt Jugend von arbeitsgesellschaftlichen Ansprüchen nicht unangetastet.

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Jugend und Körper

Entgrenzung von Jugend Dass die Jugendphase in vielen Kontexten zum einen nicht mehr durch klare und sichere Rahmungen gestaltet ist, sondern das Aufwachsen, die Organisationsformen in Familie, Schule, Bezugsgruppen und Arbeitswelt unsicherer geworden zu sein scheinen sowie zum anderen die formale Ausbildung vielfach nicht mehr die notwendige Bedingung bietet, um auf den neuen Arbeitsmärkten erfolgreich sein zu können, wird unter dem Begriff der ,Entgrenzung‘ gebündelt (vgl. Andresen 2005, S. 133).325 Eine so gelagerte Sichtweise auf Jugend legt indes Wolfgang Schröer an. Er weist darauf hin, dass sozialökonomische Entwicklungen grundlegend in die Lebensphase der Jugend hinein diffundieren und verschiedene Effekte hervorrufen (vgl. Schröer 2016, S. 93). Dies fasst er unter der These der Entgrenzung von Jugend zusammen. Im Zuge des Strukturwandels der Arbeitsgesellschaft verliert der Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter somit zunehmend an Kontur. Gleichzeitig wird der Übergang von der Kindheit zur Jugend unschärfer. Dies führt mitunter dazu, dass immer weniger Tätigkeiten, Kompetenzen und Lebensformen ausschließlich einer Lebensform zugeordnet werden können (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 389). Auszugehen ist von neuen Formen des Übergangs in das Erwachsenenleben, die von wachsender Offenheit und Ungewissheit gekennzeichnet sind.326 Vor diesem Hintergrund erfährt das Konzept des Moratoriums einerseits Einschränkungen, andererseits aber auch seine gesellschaftliche Legitimation (vgl. Sander und Witte 2011, S. 668). Die wachsenden Ungewissheiten und Risiken haben mitunter zur Folge, dass die Moratoriumsphase sozial und zeitlich-biographisch aufbricht. Die Übergänge in das Erwachsenenalter sind für viele Jugendliche somit nicht nur unstrukturierter, länger und unsicherer, sondern individuell folgenreicher (vgl. Sander und Witte 2011, S. 668). Die Phase des Schonraums verkürzt sich enorm, nicht zuletzt deswegen, weil zunehmend arbeitsgesellschaftliche Verpflichtungen in die Lebensphase Jugend eindringen (vgl. Sander und Witte 2011, S. 668). Folglich macht der Begriff der Entgrenzung nicht nur die zeitliche Ausdehnung der Jugendphase sowie neue familiale Beziehungskonstellationen beschreibbar, sondern auch die Bedeutung von Arbeit für die Jugend (vgl. Schröer 2016, S. 94). Die Trennung zwischen einer als Vorbereitungsphase definierten Jugendzeit und den erst nach dieser Zeit auftauchenden arbeitsgesellschaftlichen Anforderungen lässt sich nur noch begrenzt aufrechterhalten (vgl. Sander und Witte 2011, S. 668). Das Näherrücken des Arbeitsmarktes an Jugendliche, das sich in 325

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Mit der Entgrenzungsthese wird die Vergesellschaftungsform Arbeit als eine zentrale Dimension einfacher und reflexiver Modernisierungsprozesse erneut analysiert. Mitsamt wird die Notwendigkeit herausgestellt, Arbeit erneut in ihrem Verhältnis zu anderen Vergesellschaftungsebenen und -formen zu betrachten. Ebenso sollte in den Blick genommen werden, wie Arbeit diese durchdringt (vgl. Schröer 2016, S. 94). Dies gilt besonders für die Phase des jungen Erwachsenenalters (vgl. Schröer 2016, S. 93; weiterführend Walther und Stauber 2016).

Jugendtheoretische Ansätze

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einer Verkürzung von Schul- und Ausbildungszeit ausdrückt, wird als besonders gravierend beschrieben. Dass die Jugendphase nicht frei von arbeitsmarktbezogenen Anforderungen, sondern arbeitsgesellschaftlich überlagert wird, manifestiert sich beispielsweise in einer früher erwarteten Verantwortlichkeit in einem Nebenjob, aber auch in der starken schulischen Leistungsbetonung (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 389). Wurden Jugend und Arbeit vormals als voneinander getrennte Vergesellschaftungsmechanismen betrachtet, so rücken sie nun zusammen. In einer solchen Sichtweise wird Jugend nicht mehr als Lebensphase entworfen, die aus der Arbeitsgesellschaft herausgenommen ist, vielmehr werden biographische Übergänge in einer entgrenzten Arbeitswelt unübersichtlicher; dies nicht zuletzt deswegen, weil die Krisen der Arbeitswelt in das Jugendalter hineinreichen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 390). Es lässt sich bündeln: Anders als in Diskussionen um Jugend als Moratorium, in dem Jugend als Lebensphase von der Erwerbsarbeitsgesellschaft separiert wurde, rücken in Debatten der Entgrenzung die ,entgrenzte Arbeitswelt‘, das ,entgrenzte Lernen‘, die sich ,entgrenzenden privaten Lebensführungen‘ als Entwicklungsaufgaben in den Blick (vgl. Schröer 2016, S. 94). Damit einher geht auch die Tatsache, dass sich der Übergang in das Erwachsenenalter neu gestaltet. Übergänge werden länger, unstrukturierter, unsicherer und individuell folgenreicher. Bezugnehmend auf Lothar Böhnischs Konzept der Bewältigung weisen Niekrenz und Witte (2018) auf die Folgen von Entstrukturierung und Entgrenzung auf Jugend hin. Diesem Ansatz zufolge wird Jugend als Moratoriumsphase zeitlich-biographisch und sozial aufgebrochen und muss von Jugendlichen stärker individuell bewältigt werden. Böhnisch (2008) zufolge ist Jugend kein abgeschlossener Schonraum mehr, sondern bildet eine biographisch variierende Bewältigungsphase (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 390).327 Das Strukturmuster einer von Arbeit getrennten Jugendphase hat indes an Eindeutigkeit verloren. Arbeitsformen haben sich mitunter digitalisiert. In diesen sind zwar Übergangsprozesse von Jugendlichen in das Erwachsenenleben entgrenzt, jedoch werden diese nicht als transparente raum-zeitlich gebundene Prozesse erfahren.328 327

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Eine andere Perspektive auf Jugendliche im globalen Kontext legt die Transnationalisierungsforschung. Sie interessiert sich indes für subjekt- und handlungsorientierte Perspektiven, beispielsweise im Feld der Migration (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 390). Jedoch steht eine Transnationale Jugendforschung bisher noch aus (vgl. Riegel et al. 2010). Bezugnehmend auf Castel (2000), verweist Schröer darauf, dass die Jugendzeit zu einem verlängerten sowie dauerhaft-transitorischen Zustand, einer permanenten Zwischenposition, wird. Zudem ist eine Verdichtung von Jugend beobachtbar (vgl. Schröer 2016, S. 97). Zwar wird in der Jugendforschung zunehmend eine Verlängerung der erwerbsarbeitsfreien Zeit und der Bildungszeit von Jugendlichen aufgenommen. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass parallel zum Wandel dieser Sphären des Jugendalters auch die Tatsache ernst zu nehmen ist, dass zum einen freie Zeit zunehmend biografisch legitimiert werden muss. Zum anderen sind Jugendliche vor die Herausforderung gestellt, die Räume, die sie zur Auseinandersetzung mit sich sowie mit jugendtypischen Herausforderungen, wie etwa der Pu-

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Schröer markiert die Notwendigkeit, soziale Entgrenzungsprozesse zu betrachten, die die Jugendlichen im Übergang zum 21. Jahrhundert von ,Zonen der Integration‘ in ,Zonen der Verwundbarkeit‘ wechseln lassen. Daran anknüpfend sind Jugendliche nicht als vermeintliche Problemgruppe in gefährdeten Zonen zu perspektivieren, sondern als jene Prozesse anzusehen, die den Übergang von der einen in die andere Zone bewirken (vgl. Schröer 2016, S. 84-85). Für die Kinder- und Jugendhilfe bedeutet dies, dass sie ihren Blick auf die Jugendlichen selber richten und ausgehend von den Bewältigungslagen der Jugendlichen danach fragen sollte, wie Jugend angesichts des sozialen Wandels ermöglicht werden kann (vgl. Schröer 2016, S. 85). Denn bislang sind Jugendliche in entgrenzte Bewältigungslagen freigesetzt, in welchen – sozialisatorisch hinterfragt – die biografische Bewältigung am Projekt der Selbsterfüllung orientiert ist und weniger an dem Erreichen gesellschaftlich vorgegebener und über Lebensalter hinweg vermittelter Entwicklungsaufgaben (vgl. Schröer 2016, S. 97-98).329 Die hier aufgeführten Diskurse der Jugendforschung werden im Folgenden in gebotener Kürze um weitere Aspekte, die sie beeinflussen, ergänzt. Weitere Einflüsse Die Jugendforschung war auch stark durch geschlechter- und kulturtheoretische Zugänge beeinflusst. Diese bilden laut Andresen (2005) zwei thematische und strukturelle Pflöcke, mit denen Fragen der Anerkennung, der Gerechtigkeit und Gleichheit sowie das Risiko von Benachteiligung verknüpft sind. Sie charakterisieren das Spannungsfeld moderner Jugendforschung (vgl. Andresen 2005, S. 133). Dass die Jugendforschung die weibliche Jugendforschung lange Zeit nicht hinreichend berücksichtigte, markiert Ilona Ostner. Dies sieht sie darin begründet, dass sich in der Betrachtung der Jugend an einer männlichen Normalbiographie orientiert wurde. Es hatte

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bertät oder der Ablösung von der Familie, beanspruchen, von ihnen selbst in ein Verhältnis zu gesellschaftlichen Anforderungen zu setzen sind (vgl. Schröer 2016, S. 97; weiterführend Quenzel 2015). In die Sozialisationslogik von Jugendlichen – so pointiert Schröer (2016) – tritt demnach nicht die traditionelle (industrielle) Erwerbsarbeit, sondern der neue Erfolgstypus der sozialen Konturenlosigkeit der digitalen und dienstleistungsorientierten Produktions- und Arbeitsformen. Jugendpolitische Diskussionen sollten zum einen an das persönliche Leben von Jugendlichen in den Ambivalenzen zwischen Zumutungen, Erwartungen und Erreichbarkeiten, sowie zum anderen an die Bewältigungen von Entgrenzungen, die Jugendliche leisten, anschließen. Im Kontext Sozialer Arbeit ist beispielsweise die Annahme grundlegend, dass die Entstrukturierung und Entgrenzung der Jugendphase sowie die Individualisierungs- und Subjektivierungsprozesse im Konzept eines rasanten sozialen Wandels zwei Fragen aufwerfen: Zum einen stellt sich die Frage, inwieweit Jugendliche als ,Gegenstand‘ überhaupt noch wissenschaftlich und empirisch beschreibbar sind. Zum anderen, wie die subjektive Realität Heranwachsender angemessen als ,Jugend‘ , ,Jugendphase‘ , ,Jugendzeit‘ zu erfassen und zu rekonstruieren ist (vgl. Sander und Witte 2011, S. 670). Insbesondere deswegen bedarf es einer Jugendforschung, die durch vielfältige Daten das Phänomen ,Jugend‘ in den Bick nimmt, ohne dieses Konstrukt reifizierender Kategorisierung zu unterwerfen, so wie dies etwa seit den 1950er Jahren im Rahmen der Shell Studien oder vom Deutschen Jugendinstitut praktiziert wird (vgl. Sander und Witte 2011, S. 671).

Jugendtheoretische Ansätze

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zur Folge, dass Jugend mit männlicher Jugend gleichgesetzt wurde. In geschlechtertheoretischer Perspektive weist sie darauf hin, dass die Mädchen in der theoretischen und empirischen Jugendforschung marginalisiert und so an der Reproduktion von Geschlechterhierarchien beteiligt wurden (vgl. Andresen 2005, S. 134). Dass die Mädchen in der Jugendforschung überhaupt sichtbar gemacht wurden, konnte durch die Frauen- und Geschlechterforschung vorangetrieben werden. Ging es in den frühen Entwicklungslinien um das Sichtbarmachen von Mädchen, so waren spätere Bestrebungen darauf ausgerichtet, Geschlecht als Kategorie sozialer Benachteiligung systematisch einzubeziehen (vgl. Andresen 2005, S. 134). Die Jugendforschung wurde zudem durch (Theorie-) Perspektiven zur weiblichen Adoleszenz bereichert, in denen soziologische und psychoanalytische Theorieansätze miteinander verbunden wurden (vgl. Andresen 2005, S. 135).330 Der Kulturbegriff ist für die Jugendforschung ebenso zentral und kommt gemeinhin im Begriff der Jugendkultur zum Tragen. Jugendkulturen gelten als sehr bedeutsam für Jugendliche in modernen Gesellschaften. Nicht selten grenzen Jugendliche sich von Erwachsenen, Eltern, von Lehrer*innen sowie deren Welten und Lebenshaltungen ab und orientieren sich zunehmend an Gleichaltrigen. Dabei bleiben sie von dominanten Generationen- und Geschlechterverhältnissen nicht frei. Für ihre Individuation benötigen Jugendliche konkrete Räume und Gleichaltrige, in und mit denen sie sich entfalten, ausprobieren und austauschen können. Sie benötigen zudem Räume und Zeit für Aneignung und Kreativität, Entfaltung um schöpferisches Neues zu schaffen (vgl. Andresen 2005, S. 137). Nicht zuletzt deswegen gelten Jugendliche als Motor gesellschaftlichen Wandels.331 Im weiteren Verlauf gewann die Lebensstilforschung an Einfluss in der Jugendforschung. Im Kontext dieser wurde zunehmend davon ausgegangen, dass das soziokulturelle Milieu den Stil von Jugendlichen in spezifischer Weise beeinflusst. 332 So rückten Jugendliche zunehmend als eigenwillige Akteure und Subjekte in den Blick (vgl.

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Für die Perspektivierung der Bedeutung der Körperlichkeit von Jugendlichen sind diese Sichtweisen zentral und werden im Kapitel Jugend und Körper (4.1.) skizziert. Diese Aspekte gelten mitunter als Ansatz für die Jugendkulturforschung (dazu etwa vertiefend Ferchhoff 2011). Strittig bleibt jedoch die Frage danach, ob der Begriff der Jugendkultur oder der Begriff der Jugendsubkultur treffender ist. Letzterer verweist darauf, dass Jugendliche eine Gegenkraft zu den dominierenden gesellschaftlichen Normen bilden und Widerstand gegen gesellschaftliche Normierungen leisten wollen. Dies wurde insbesondere im Kontext des ,Centre for Contemporary Cultural Studies‘ diskutiert und so eine gesellschaftskritische und kulturtheoretische Jugendsubkulturforschung etabliert (vgl. Andresen 2005, S. 113). In diesen Debatten markiert der Begriff des (Lebens-) Stils ein verbindendes Element (vgl. Andresen 2005, S. 139-140). Jugend ließe sich auch als Lebenslage oder Lebensstil betrachten (dazu weiterführend Liesch 2012). Unter der Perspektive von Jugend als Lebensstil tritt das ,doing adolescence‘ in den Vordergrund, welches im Kern danach fragt, wie Jugend interaktiv hergestellt wird. In dieser Denktradition rücken beispielsweise Ritualität und symbolische Beziehungsanzeigen in den forscherischen Blick. Darin wird

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Andresen 2005, S. 140). Dieser Perspektivenwechsel war nicht zuletzt deswegen notwendig, weil im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen – so zum Beispiel der Bildungsexpansion und der Migration – Jugendkulturen immer komplexer wurden und zum Beispiel nicht mehr nur auf ihr Herkunftsmilieu beschränkt blieben (vgl. Andresen 2005, S. 140). Die folgenden Ausführungen heben auf eine Auseinandersetzung mit jugendlichen Lebenswelten ab. 4.3

Themen der Jugend

Jugendliche sehen sich mit verschiedenen Entwicklungsaufgaben konfrontiert. Ganz allgemein bezeichnen diese „die für die verschiedenen Altersphasen typischen körperlichen, psychischen und sozialen Anforderungen und Erwartungen, die von der sozialen Umwelt an Individuen der verschiedenen Altersgruppen herangetragen werden und/oder sich aus der körperlichen und psychischen Dynamik der persönlichen Entwicklung ergeben“ (Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 24).333 Im Herausbilden einer Körperidentität wird indes als eine wesentliche Entwicklungsaufgabe erkannt(vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 391). Im Zuge des Erwachsenwerdens und insbesondere in der Pubertät verändert sich der Körper in sichtbarer und unsichtbarer, aber auch deutlich spürbarer Weise, was für Jugendliche mitunter irritierend sein kann. Jugendliche müssen sich mit körperlichen Umbrüchen arrangieren und ihr neues Erscheinungsbild sowie ihre möglicherweise veränderte Wirkung auf das Umfeld akzeptieren und integrieren lernen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 391). In der Phase der Jugend – als körperliche Phase – werden am und mit dem Körper Konflikte ausgetragen und bewältigt; Aggressionen werden mitunter ausgelebt und kanalisiert. Sie werden sowohl gegen den eigenen Körper gerichtet, wie etwa bei der Verweigerung von Nahrung oder dem absichtsvollen Zufügen von Schmerz oder aber den Körpern anderer gegenüber, was sich beispielsweise in aggressivem oder gewalttätigem Handeln zeigt (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 391, Niekrenz und Witte 2011, S. 8; weiterführend beispielsweise King 2011; Gugutzer 2011; Liebsch 2012; Hafeneger 2011). Die Auseinandersetzung mit einer eigenen Geschlechtsidentität und einer Geschlechtsrolle gilt ebenso als wesentliche Aufgabe des Jugendalters. Mitsamt hat die

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besonders den Eigenaktivitäten von Jugendlichen Bedeutsamkeit zugesprochen (vgl. detaillierter Liebsch 2012, S. 15-31). Die Entwicklungsaufgaben lassen sich mitsamt in vier zentrale Bereiche unterscheiden: Qualifizieren, Binden, Konsumieren und Partizipieren. Sie haben ferner eine individuelle sowie eine gesellschaftliche Dimension (dazu weiterführend Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 24-30). Als solche müssen sie von den Individuen erkannt, verstanden, angenommen und in konkrete Verhaltensweisen umgesetzt werden (dazu weiterführend Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 24).

Themen der Jugend

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Orientierung an Männlichkeit und Weiblichkeit sowie die Zuordnung zu diesen Kategorien folgenreiche Auswirkungen auf das Empfinden und das Verhalten und zugleich auf Chancen und Erwartungen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 391). Nicht nur stehen Jugendliche vor der Herausforderung, sich im Kontext des Geschlechterverhältnisses eigenständig geschlechtlich zu positionieren, sondern sie müssen die eigene Geschlechtlichkeit auch (überzeugend) darstellen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 391).334 Jugendtheoretischen Debatten lässt sich mitunter entnehmen, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit ein ganz zentrales Thema für Jugendliche darstellt. Dabei müssen sie sich nicht lediglich mit den Veränderungen des eigenen Körpers auseinandersetzen, sondern auch damit, dass in der Phase der Adoleszenz die Vergesellschaftung des Körpers stärker in den Vordergrund rückt (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 109). Als zentrale Dimensionen gelten indes die (körperliche) Auseinandersetzung mit Geschlechtlichkeit sowie Sexualität. Die Beschäftigungmit der eigenen Geschlechtlichkeit wird in der Phase der Jugend insbesondere durch die Veränderungen des eigenen Körpers angestoßen. Im Folgenden werden in gebotener Kürze einige Sichtweisen auf das Verhältnis von Körper und Geschlecht gestreift. 335 Der Umgang mit Sexualität markiert eine weitere (körperbezogene) Entwicklungsaufgabe (dazu vertiefend Tuider 2016). Da dieses Thema in Kapitel 4.6.2. besonders aufgenommen wird, soll an dieser Stelle lediglich darauf hingewiesen werden. Sexualität ist in die Entstehung von Intimbeziehungen eingebunden. Im westlichen Kulturkreis gilt sie als Ergebnis einer freien Aushandlung zwischen Partner*innen. Damit ist Sexualität in zentrale Entwicklungsprozesse der Personalität und Sozialität eingebunden, da sie mit der Befriedigung von Trieben in soziale Bindungen eingebettet ist (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 391). Folgt man Niekrenz und Witte (2018), so ist das Eingehen von Intimbeziehungen und das Experimentieren in ersten hetero- oder homosexuellen Partnerschaften mit einer schrittweisen Ablösung vom Elternhaus verbunden (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 391; vertiefend Hurrelmann und Quenzel 2016), da diese Prozesse als Vorbereitung eines eigenen Lebens in Partnerschaft und, oder Familie auszulegen sind. Überdies sind Jugendliche herausgefordert, Übergänge im Erwachsenenalter zunehmend selber zu gestalten. Die Bewältigung von Übergängen gilt als ganz zentrales

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Darauf, dass Jugendliche dies in verschiedenen Arten und Weisen ausprobieren und ihre Suchbewegungen verschiedene Ausprägungen annehmen können, kann hier nur angedeutet werden (weiterführend Hackmann 2003) Den Überlegungen liegt die Annahme zugrunde, dass Geschlecht keine natürliche Tatsache darstellt. Das System der Zweigeschlechtlichkeit wird als kulturelles System und die Norm der Heterosexualität als gesellschaftliche Konstruktion begriffen. Diese Ausführungen hier schließen auch an die im ersten Kapitel der Arbeit skizzierten geschlechtertheoretischen Lesarten an.

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Jugend und Körper

Element für die Phase der Jugend und wird nicht selten auch über den Körper ausgehandelt, da dieser ein Medium darstellt, über das Jugendliche am meisten Verfügungsmacht haben (dies wird im Kapitel 4.4.3. ausführlicher diskutiert). Im Kontext der Lebensphase Jugend lässt sich eine zunehmende Hinwendung zu Gleichaltrigen beobachten. Die Beziehungen zu ihnen gewinnen erheblich an Bedeutung (vgl. BMFSFJ 2017, S. 54), was gleichzeitig zu einer psychischen Ablösung vom Elternhaus führen kann.336 Indem Kinder und Jugendliche zu Gleichaltrigen vielfältige Beziehungs- und Kontaktformen aufbauen, eröffnen sie für sich unterschiedliche Lebensräume, in denen zahlreiche Bildungs- und Sozialisationsprozesse ausgelöst werden. Sie haben einen bedeutenden Einfluss auf die weitere Entwicklung. Mitsamt wird zwischen Freundschaften, Cliquen (dazu weiterführend Scherr 2010) sowie Jugendkulturen beziehungsweise Jugendszenen (dazu weiterführend Hitzler und Niederbacher 2010) differenziert. Dennoch gilt die Orientierung an Peers als konstitutives Merkmal der unterschiedlich gelagerten Begriffe und deren entsprechenden theoretischen Positionen (weiterführend Harring et al. 2010; Lochner 2018). Jugendkulturelle Zugehörigkeiten haben zentrale Bedeutungen für die Sozialisation in der Jugendphase; insofern gelten sie als zentrale Bildungs- und Sozialisationsinstanzen. „Gerade durch die gemeinsame Erfahrung von Desintegrationsphänomenen und biografischen Diskontinuitäten vermögen Jugendliche unter Ihresgleichen diese in kollektiven Handlungsrahmen sinnstiftend zu bearbeiten und dadurch Orientierung und Zugehörigkeiten zu schaffen“ (Bitzan 2006, S. 13-14). Zugehörigkeiten zu Jugendkulturen geben Orientierung und machen Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühle erfahrbar. Sie vermitteln die Ablösung vom Elternhaus, bieten Entwicklungsraum für die eigene Persönlichkeit und Identität. Die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit stellt sich in dieser Lebensphase in vielfältiger Weise, jedoch lässt sich pointieren, dass die Bedeutung der Gleichaltrigen als Andere für die eigene Selbstverortung und die Aushandlung von Zugehörigkeit im Alltag sowie die soziale Zugehörigkeit zunehmend relevanter wird und gleichsam zu etwas wird, was vermehrt herstellbar ist. Im Kontext von Gleichaltrigenbeziehungen spielen die Thematisierung und Inszenierung von Körper, Sexualität und Geschlecht eine bedeutsame Rolle (vgl. King 2011, S. 89).337 Es lässt sich zuspitzen, dass insbesondere Körper eingesetzt werden, um Zugehörigkeit zu Gleichalterigen herzustellen oder gar aufzulösen.

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Die Ablösung vom Elternhaus stellt eine weitere Entwicklungsaufgabe für Jugendliche dar. Diese erfolgt auf emotionaler und intimer, auf psychischer, auf räumlicher sowie auf materieller Ebene (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 391-392; dazu vertiefend Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 142-172). Das Eingehen einer Partnerschaft lässt sich als eine Vorbereitung auf das eigene Leben deuten. King (2011) zufolge können jugendkulturelle Praktiken sowie bestimmte Aspekte von Peer-Beziehungen als Äquivalente für Initiationsrituale in modernen Gesellschaften angesehen werden, in denen immer auch Körper, Geschlecht und Sexualität angeeignet werden (vgl. King 2011, S. 89).

Themen der Jugend

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Im Kontext jugendlicher Gemeinschaften werden Auseinandersetzungen mit Medien- und Konsumverhalten virulent.338 So weist auch der aktuelle 15. Kinder- und Jugendbericht darauf hin, dass die Integration digital vernetzter Medien eine wesentliche Veränderung im Alltagsleben Jugendlicher darstellt (vgl. BMFSFJ 2017, S. 59). „Die digitalen Medien bzw. die digital-vernetzte Infrastruktur nimmt Einfluss auf die Art und Weise, wie Jugendliche ihren Alltag und die Zeiten mit der Familie gestalten, wie sie Peer- und Partnerschaftsbeziehungen pflegen, ihren Schul-, Ausbildungs- und Studienalltag organisieren, wie sie sich orientieren und Zugehörigkeit herstellen sowie sich politisch, kulturell und religiös positionieren. Bildungs- und Teilhabeerfahrungen sind damit heute unmittelbar mit Medienerfahrungen verknüpft“ (BMFSFJ 2017, S. 59). Auch Bütow et al. (2013) stellen heraus, dass Peer Groups in ihrer Kommunikation und Interaktion in sehr komplexer, komplizierter und vielfältiger Weise auf gesellschaftliche Muster und Normierungen zurückgreifen und diese in den Medien, in mittel- und unmittelbaren Vorbildern und Inszenierungen zu finden sind (vgl. ebd., S. 150; weiterführend zu Jugendkulturen und Medien exemplarisch Hafeneger 2008). Mit der Entwicklung von jugendkulturellen Kontakten wird zugleich die Fähigkeit erworben, mit Freizeit-, Wirtschafts- und Konsumangeboten selbstständig umzugehen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 392). Somit werden Jugendliche zu Konsument*innen. Mit der Übernahme dieser gesellschaftlichen Mitgliedsrolle bewältigen sie eine weitere Entwicklungsaufgabe (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 392). Zum einen haben Jugendliche teil an Medien- und Konsumwelten, zum anderen gehen sie neue Beziehungsformen ein, wie etwa Szenemitgliedschaften, Zugehörigkeit zu Fankulturen oder Orientierungen an Markengemeinschaften. In diesem Zusammenhang nimmt der Körper und dessen Bearbeitung eine gewichtige Funktion ein. Jugend zeichnet sich durch bestimmte stilistische Besonderheiten, Merkmale und Symboliken und habituelle Verhaltensmuster aus (Bitzan 2006, S. 14).339 Derartige Gruppen-

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Hafeneger (2008) zeigt auf, dass Mediatisierung und Kommerzialisierung in der Zeit des Jugendalters allgegenwärtig sind. Jugend stellt in dieser Sichtweise eine umworbene Medien- und Konsument*innengruppe dar. Die Allgegenwart des Marktes und der Medien (und der zugehörigen Medienwelten), die Mediensozialisation, Mediengewohnheiten und die Kommerzialisierung des Lebens der ,jungen‘ Generation gewinnen eine neue Bedeutung. Sie beeinflussen die Entwicklung der Subjekte und reichen tief in die symbolisch und ästhetisch aufgeladenen Ausdrucks- und Erlebniswelten hinein (vgl. Hafeneger 2008, S. 146). Neben dem Internet ist das Handy mittlerweile Teil einer notwendigen Infrastruktur für die Alltagsorganisation, die Alltagskommunikation und die Mobilität jugendlicher Lebenswelten. „Ständige Erreichbarkeit, sich treffen, Musik hören, sich austauschen, seine Befindlichkeiten und Sorgen mitteilen ist zu einem jugendkulturellen Stilmittel und einer spielerischen Kommunikation geworden. Aufwachsen kann als ein sukzessiver Ablösungsprozess von räumlichen Vorgaben gesehen werden und mobil zu sein stellt somit eine zentrale Bedingung zur eigenständigen Lebensführung dar“ (Hafeneger 2008, S. 146). Das Internet ist eine zentrale Dimension von Jugendkulturen. Dass es das Handeln der Jugendlichen in verschiedenen Weisen beeinflusst und bei der Betrachtung von Jugendlichen berücksichtigt werden

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bildungen im Jugendalter werden unter dem Begriff der ,posttraditionalen Gemeinschaften‘ diskutiert. Ronald Hitzler (2008) zufolge bezeichnen ,posttraditionale Gemeinschaften‘ spätmoderne Beziehungsformen, die dauerhaften und situativen Charakter haben können. Anschließend an Hitzler (2008) entstehen ,kleine Lebenswelten‘ oder ,Erlebniswelten‘ aufgrund ähnlicher Lebensstile oder geteilter Konsumpraktiken und ästhetischer Präferenzen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 392). Dabei ist das Zusammensein zeitlich begrenzt, thematisch fokussiert (etwa auf Musik oder Sport) und wird durch schnelle und dislokale Kommunikation (beispielsweise Internet und Mobiltelephon) gefördert (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 392). In den unterschiedlich gelagerten Auseinandersetzungen mit Peers wird zum einen individualisierungstheoretisch argumentiert. In einer solchen Perspektive werden Jugendszenen als Prototyp juveniler Vergemeinschaftung in sich pluralisierenden und hochgradig individualisierten Gesellschaften gedeutet (Niekrenz und Witte 2018, S. 392-393). So schreibt auch Bitzan (2006): „Die gezielte Auswahl, Nutzung und Gestaltung von differenzierten sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen sowie von öffentlichen (Sozial-)Räumen durch die heranwachsende Generation in Peergroups gewinnt in modernen Gesellschaften einerseits an Bedeutung, andererseits wachsen in Anbetracht zunehmender Individualisierung von Biografien und von Desintegrationserfahrungen die Herausforderungen, soziale Beziehungen zu gestalten und zu entwickeln“ (Bitzan 2006, S. 13).340 Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die zunehmende Peerorientierung von Faktoren wie Geschlecht, Ethnizität, Milieu, Religion, also Bedingungen sozialer Ungleichheit, gerahmt ist und sie eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen einnimmt, genauso wie sie deren Praktiken in spezifischer Weise präformiert. Dass Jugend nicht lediglich ein bestimmter Abschnitt im Leben ist, oder eine bloße Entwicklungsstufe zwischen Kindheit und Erwachsensein markiert, wird im folgenden Part diskutiert. In diesem werden Herausforderungen, vor denen die Lebensphase der Jugend steht, aufgezeigt.

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muss, darauf verweisen Niekrenz und Witte (2018). Sie führen aus, dass insbesondere moderne Kommunikationsmedien, wie das Internet, Jugendlichen vielfältige Anregungen für ästhetische Praktiken, stilistische Feinheiten und Demonstrationen jugendlichen Eigensinns offerieren. In diesem Zusammenhang verweisen die Autor*innen auch darauf, dass gegenwärtige Jugendkulturen zum einen in hohem Maße auf kommerziellen Medienprodukten beruhen, diese sich zum anderen im aktiven Handeln der Jugendlichen konstituieren (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 392). Über das Internet können Jugendliche sich direkt darüber informieren, was als populär und als Trend gilt. Somit sind Massenmedien als Orte einer populären Kultur auszuweisen, über die Jugendliche Zugehörigkeit und Differenz aushandeln und kommunizieren (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 392). Da die Abgrenzung von den Erwachsenen unter spätmodernen Bedingungen zunehmend schwieriger wird, grenzen Jugendliche sich vermehrt voneinander ab. Dies hat mitunter eine Verfielfältigung jugendkultureller Szenen zur Folge, in denen Jugendliche jugendintern Kämpfe um Bedeutungen austragen.

Themen der Jugend

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Jugend unter spezifischen sozialen Bedingungen Jugendliche wachsen unter spezifischen sozialen und politischen Bedingungen heran. Diese bestimmen Möglichkeiten und Grenzen sozialer Teilhabe (vgl. BMFSFJ 2017, S. 7). Somit hat die Jugend auch eigene Bedürfnisse (vgl. BMFSFJ 2017, S. 7).341 Dem 15. Kinder- und Jugendbericht ist zu entnehmen, dass Jugendliche mit der Bewältigung dreier Kernherausforderungen konfrontiert sind: Unter Qualifizierung ist erstens das Erlangen einer Allgemeinbildung sowie einer sozialen und beruflichen Handlungsfähigkeit zu fassen. Die Verselbstständigung stellt die zweite Herausforderung dar, die sich im Wesentlichen auf die Übernahme und Verantwortung für sich selbst bezieht. Das Finden einer Balance zwischen individueller Freiheit und sozialer Zugehörigkeit sowie Verantwortung wird unter dem Begriff der Positionierung versammelt, welche die dritte Herausforderung dieser Lebensphase markiert (vgl. BMFSFJ 2017, S. 13). Im 15. Kinder- und Jugendbericht wird Jugend ferner als Integrationsmodus bestimmt, in dem es darum geht, sich in ein Verhältnis zur Gesellschaft zu positionieren und positioniert zu werden. Jugendliche setzen sich genau damit auseinander, indem sie handeln, lernen, entscheiden, experimentieren und vielfältige Bedürfnisse ausbalancieren (vgl. BMFSFJ 2017, S. 13-14). In welcher Weise sie dies bewältigen und gestalten, ist von eigenen Einstellungen, Verhaltensweisen oder Fähigkeiten genauso abhängig, wie von politischen, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und dem institutionellen Gefüge des Aufwachsens (vgl. BMFSFJ 2017, S. 13). Aus diesem Grund ist es nötig, um die Kernherausforderungen des Jugendalters, genauso wie um Interessen und Bedürfnisse, zu wissen und diese stetig zu ergründen. Darüber hinaus sind politische Maßnahmen sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Leistungen auf Jugendgerechtigkeit hin zu überprüfen (vgl. BMFSFJ 2017, S. 15). Lebenssituationen von Jugendlichen in Deutschland Es stellt sich auch die Frage danach, welche Einflussfaktoren für die Lebensphase Jugend gegenwärtig prägend sind. Nebst einer Inblicknahme der sozialen (ungleich strukturierten) Bedingungen, unter denen Jugendliche heranwachsen und bestimmte Lebensweisen hervorbringen, ist eine Betrachtung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, die die Lebensphase Jugend betreffen, unerlässlich. Erst ein derart integrierter sensibler Blick ermöglicht es, sich den Herausforderungen und den Bedürfnissen der Jugend anzunähern. Als besonders wirkmächtige Einflüsse auf die Lebenslagen und Lebenswelten von jungen Menschen sowie auf ihre Möglichkeiten der sozialen und politischen Teilhabe werden jüngst der demographische Wandel, die Globalisierung,

341

Nicht zuletzt aus diesem Grund bedarf diese Lebensphase besonderer (theoretischer sowie politischer) Aufmerksamkeit.

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Jugend und Körper

die Digitalisierung sowie die ausgeprägte Leistungs- und Bildungsorientierung erachtet. Diese Einflussfaktoren sollen in gebotener Kürze beleuchtet werden. Der demographische Wandel führt demnach zu einer zunehmend alternden Gesellschaft. Die Globalisierung beeinflusst die Bedingungen des Aufwachsens junger Menschen und ist für ihre soziale und politische Teilhabe maßgeblich. Zum einen unterscheiden sich diese Faktoren von Staat zu Staat, von Gesellschaft zu Gesellschaft sowie von Kultur zu Kultur, zum anderen sind sie von politischen und ökonomischen Faktoren geprägt. Zugleich werden Jugendliche auch von regionalen Bedingungen sowie von Entwicklungen außerhalb nationaler Grenzen in Europa sowie im globalen Kontext beeinflusst (vgl. BMFSFJ 2017, S. 9). Überdies sind die Lebenswelten vieler junger Menschen nicht mehr lediglich auf das örtliche Wohnumfeld beschränkt. Die Lebens- und Erfahrungsräume von Jugendlichen werden durch die Globalisierung erweitert. Begünstigt wird dies durch die globale Wirtschaft, durch grenzübergreifende Kulturen, durch Migration und Flucht, durch eigene Auslandserfahrungen und nicht zuletzt durch das Internet (vgl. BMFSFJ 2017, S. 9). Damit ist eine weitere Dimension markiert: Seit Beginn des 21. Jahrhunderts sind Jugendliche von globalen Transformationsprozessen betroffen. Folglich ist auch Jugend nicht (mehr) als nationalstaatlich verfasst zu verorten, sondern in fortschreitender globalisierter Kontextuierung zu denken (vgl. Sander und Witte 2011, S. 772).342 Als wesentliche Bausteine gegenwärtiger Globalisierungsdynamiken, die die Lebenslagen, die Orientierungsweisen und Handlungsformen von Jugendlichen beeinflussen und von diesen mitgestaltet werden, weisen Sander und Witte (2011) erstens die rasante Entwicklung im Bereich der Informationstechnologien sowie zweitens die Weltwirtschaft mit ihren globalisierten Handlungsräumen des Kapitals aus (vgl. weiterführend Sander und Witte 2011, S. 673). Durch die rapiden Entwicklungen im Bereich der Informationstechnologie erfährt die Lebensphase Jugend gegenwärtig massive Beeinflussung. Dies wird unter dem Begriff der Digitalisierung verhandelt. Digitalisierung Eine Vielfalt an Informationen ist durch Phänomene der Digitalisierung nahezu grenzenlos und jederzeit verfügbar. Dies führt mitunter zu individualisierteren und flexibleren Lern- und Arbeitsprozessen, die wiederum ein größeres Maß an Selbstbestimmung ermöglichen. Folglich sind Beschleunigung und Entgrenzung Teile der (digitalen) Lebenswelten von Jugendlichen, deren Realität das digitale Netz darstellt. Mitsamt nutzen junge Heranwachsende digitale Medien aktiv und kreativ. So gestalten sie 342

Einerseits formt die Globalisierung konstituierende Elemente von Jugend neu, andererseits wirken Jugendkulturen als kulturelle Produktivkraft beschleunigend auf die mit zunehmenden Tempo stattfindenden globalen Wandlungsprozesse ein. Diese vollziehen sich in den jeweiligen Ländern recht unterschiedlich (vgl. Sander und Witte 2011, S. 672-673).

Herausforderungen der Jugend

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die scheinbar miteinander verschmelzenden Realitäten der online- und offline-Welten. Dabei erwerben sie nicht nur bedeutsame Fähigkeiten, sie positionieren und präsentieren sich und somit erweitern sie auch ihre Handlungsräume (vgl. BMFSFJ 2017, S. 10). Eröffnet das Internet Jugendlichen mannigfaltige und nahezu unüberschaubare Kommunikations- und Präsentationsformen und ermöglicht es ihnen zudem deterritoriales Agieren, so begünstigt es auch fluide und kurzweilige Formen juveniler Gesellung sowie die Erweiterung von Erfahrensräumen (vgl. Sander und Witte 2011, S. 673). Es lässt sich zuspitzen, dass die Lebenswelten von Jugendlichen unter den Bedingungen der Globalisation zunehmend mediatisiert werden. Dass dieses Thema auch unter ungleichheitstheoretischer Perspektive in den Blick zu nehmen ist, sollte nicht vernachlässigt werden. Unter dem Begriff der ,digitalen Ungleichheit‘ versammelt sich eine Perspektive, in der davon ausgegangen wird, dass die Nutzung des Internets schicht- und raumspezifisch unterschiedlich ist und dies zu einer wachsenden Benachteiligung von Ausgeschlossenen hinsichtlich ihrer Teilhabe- und Selbstverwirklichungschancen führen kann (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 393). Im Zuge einer zunehmenden Digitalisierung von Massenmedien sowie einer regional und sozial differenten Nutzung von Netzmedien vertiefen sich soziale Ungleichheiten in Bezug auf die Partizipation an zentralen Kommunikationsmöglichkeiten (vgl. Kutscher und Otto 2010). Kutscher und Otto (2010) machen darauf aufmerksam, dass mit der zunehmenden Mediatisierung der Lebenswelt und einer regional differenziell und sozial-differenziellen Nutzung der (Netz-) Medien zu befürchten ist, dass neue soziale Verwerfungen entstehen bzw. bereits vorhandene vertieft werden (vgl. Sander und Witte 2011, S. 673).343 Mit seinen Praktiken und Darbietungsformen in einem auf Bildlichkeit fokussierten Medienzeitalter finden Jugendliche zahlreiche Gelegenheiten zur öffentlichen Darstellung ihrer Körper (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 7). Dabei werden sie demonstrativ inszeniert und vielfältigen Techniken einer auf Wirkung hin angelegten Gestaltung unterworfen (vgl. ebd., S. 7). 4.4

Herausforderungen der Jugend

Dass Jugend vor diversen Herausforderungen steht, darauf heben die weiterführenden Auseinandersetzungen ab. Bildung und Qualifikation bilden eine erste wesentliche Herausforderung des Jugendalters. Damit wird verknüpft, dass junge Menschen 343

Der Begriff der ,digitalen Ungleichheit‘ zielt auf die Beschreibung einer schicht- und raumspezifischen Nutzung des Internets, welche zu wachsender Benachteiligung hinsichtlich der Teilhabe- und Selbstverwirklichungschancen führen kann (vgl. Sander und Witte 2011, S. 674). Sander und Witte (2011) zufolge entscheidet das Angebunden-Sein oder das Nicht-Angebunden-Sein an mediale Netzwerke über den Zugang zu Wissensressourcen genauso wie über Chancen der Partizipation (vgl. Sander und Witte 2011, S. 674). Dass die Chancen der Teilhabe von Jugendlichen ungleich verteilt sind und dies nicht lediglich unterschiedliche Arten und Weisen der Nutzung von Medien umfasst, sondern auch auf globalen Märkten ausgehandelt wird, lässt sich als eine weitere Dimension von Ungleichheit in den Blick nehmen, die das Leben von Jugendlichen gegenwärtig stark beeinflusst (vgl. Sander und Witte 2011, S. 674).

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Jugend und Körper

eine soziale und berufliche Handlungsfähigkeit erlangen sollen (vgl. BMFSFJ 2017, S. 96). Die ,Wissensgesellschaft‘ fordert zunehmend eine enorme Leistungs- und Bildungsorientierung von Jugendlichen. Bildung prägt nicht nur ihren Lebensalltag, sie entscheidet auch über Teilhabemöglichkeiten und zukünftige Chancen. Sie nimmt überdies Einfluss auf ihre Persönlichkeitsentwicklung (vgl. BMFSFJ 2017, S. 11). Dieses ist ein Grund, warum Bildung und Qualifizierung im politischen und gesellschaftlichen Diskurs (über Jugend) als eine der wichtigsten Aufgaben betrachtet werden. Nicht zuletzt deswegen sind Jugendliche gegenwärtig über längere Zeiträume in Bildungseinrichtungen, wie Schule, Berufsvorbereitung, Berufsausbildung oder Studium eingebunden. In der Jugendforschung wird diese längere Verweildauer in Bildungseinrichtungen als ,Scholarisierung des Jugendalters‘ ausgewiesen: Die formale Ausbildung intensiviert und verlängert sich. Zudem sind Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung komplexer geworden (vgl. BMFSFJ 2017, S. 12). Dass dies ein ohnehin von vielen jungen Menschen empfundenes Spannungsfeld zwischen einem ,Zuviel‘ an formaler Bildung sowie einem ,Zuwenig‘ an Freiräumen und Freizeit verstärkt, darauf verweist das BMFSFJ (2017, S. 12). Um ein eigenständiges, unabhängiges und materiell abgesichertes Leben führen zu können, müssen Jugendliche sich auf die Arbeits- und Berufswelt vorbereiten. Damit ist eine weitere und zweite Dimension angesprochen: Bildung, Ausbildung und Qualifizierung haben eine hohe Bedeutung für das Auf- und Heranwachsen von Jugendlichen. In diesem Zusammenhang ist zweitens auf die Schule zu verweisen. Jugendliche verbringen zunehmend mehr Zeit in ihr, aber nicht nur deswegen stellt sie einen ganz zentralen Lebensbereich von Jugendlichen dar. Reh und Schelle (2000) konstatieren, dass die Jugendzeit zunehmend zur Schulzeit geworden ist. Dabei erfüllt die Schule wichtige Funktionen für die Ausbildung, Qualifizierung, gesellschaftliche Integration sowie für die soziale Platzierung (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 395). Mitsamt ist sie von der Logik der Leistungsgesellschaft geprägt, der zufolge Erfolg und Misserfolg mit individuell erbrachten Leistungen zusammenhängen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 394). Die Leistungsbereitschaft und die erbrachten Lernergebnisse entscheiden nicht nur über die schulische Laufbahn, sondern in erheblichem Maß auch über spätere Berufschancen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 394). Dass die Bildungsbiographie im Bereich der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt von zentraler Bedeutung ist, stellt sich als ein Grund heraus, der Jugendliche zunehmend frustriert und dahingehend verunsichert, ob die eigens erbrachten Leistungen für ein Leben in ,sicheren Bahnen‘ ausreichen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 394). Konkurrenzverhältnisse bestehen dabei nicht nur zwischen den Schüler*innen selber, sondern sie sind auch im globalen Maßstab in Konkurrenzbeziehungen eingebunden (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 394). Da die Schulbildung entscheidend für die soziale Position ist, die Jugendliche einnehmen können, messen sie dieser eine große

Positionierung und Zugehörigkeit – Herausforderung der Jugend

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Bedeutung zu. Zugleich führt die Angst vor dem eigenen Abstieg gesamtgesellschaftlich und individuell zu einer zunehmenden Bedeutung formaler Bildung und Bildungsabschlüsse in entwickelten (post-) industriellen Gesellschaften (vgl. Scherr 2009, zit. nach Niekrenz und Witte 2018: 395). Dass sich in der Schule jedoch soziale Ungleichheiten verfestigen und die Chancengleichheit eine Illusion ist, darauf verweist beispielsweise Bourdieu. Diese in der Schule reproduzierten oder hergestellten Ungleichheiten verfestigen sich in der beruflichen Ausbildung, insbesondere für junge Männer aus bildungsfernen Elternhäusern, für Jugendliche mit Migrationshintergrund sowie für Mädchen und junge Frauen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 395). Als dritte Herausforderung gelten Ausbildung und Beruf. Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wirken sich auch auf Jugendliche aus. Wurde der Übergang vom Jugendlichsein zum Erwachsensein vormals durch den Eintritt in die Arbeitswelt organisiert, so sind gegenwärtig Jugendliche immer mehr herausgefordert, ihre Übergänge selber zu gestalten – und dies nicht zuletzt im Kontext ständig prekärer werdender Arbeits- und Lebensverhältnisse. Weiterführende Überlegungen zu Schwierigkeiten für Jugendliche sich auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren, stellen Niekrenz und Witte (2018, S. 395) heraus. Im Zusammenhang mit dem Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft gewährleisten Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen den Übergang von Jugendlichen in die Berufswelt zunehmend weniger. Die Autor*innen verweisen darauf, dass Jugendliche im Zuge dieses Strukturwandels zunehmend mit Unsicherheiten und Ungewissheiten konfrontiert werden und sich insbesondere die Gestaltung von Übergängen diffiziler erweist. Mit der Zunahme von Erwerbsrisiken, Beschäftigungsflexibilisierungen sowie wechselnden Anforderungen hinsichtlich veränderter Tätigkeitsprofile geht eine Labilisierung der Normalarbeitsverhältnisse einher, was wiederum zur Erosion der Normalerwerbsbiographie führen kann (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 396). Derartige arbeitsgesellschaftliche Veränderungen wirken sich insbesondere auf den Übergang der Jugendlichen von der Schule in den Beruf aus. Die Übergänge stimmen immer weniger mit den Normalitätsannahmen einer linearen Statuspassage von Jugend zum Erwachsensein überein. Die Phase des Übergangs von der Schule in den Beruf verliert in gravierender Weise ihre rationale Planund Steuerbarkeit und muss zunehmend von Jugendlichen individuell bewältigt werden (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 396). Insbesondere benachteiligte Jugendliche bedürfen in dieser herausforderungsreichen Übergangsphase sozialer Unterstützung. 4.5

Positionierung und Zugehörigkeit – Herausforderung der Jugend

Im Zuge des Wandels der Erwerbsarbeit, dem erhöhten Risiko der Arbeitslosigkeit im Jugendalter, der Intensivierung und Verdichtung der Bildungsphase, dem Aufschub von Heirat und Familiengründung, dem Wandel von Familienformen, erhöhten Mobilitätsanforderungen in Bezug auf Bildungs- und Erwerbsbiographien sowie

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Jugend und Körper

Migrationsprozessen sind Jugendliche damit konfrontiert, ihre eigene Biographie gestalten zu müssen. Schröer (2004) pointiert, dass junge Menschen gegenwärtig in einer bisher nicht erkannten Form gefordert sind, sich selbst zu verorten und existenziell abzusichern (vgl. Schröer 2004, S. 24; Mangold 2016, S. 101). Sich selbst zu positionieren ist eine Aufgabe, in der nicht selten der Körper zum Einsatz kommt. Mitsamt wachsen Jugendliche in sozialen Verhältnisse auf, die die Möglichkeiten ihrer sozialen Teilhabe in spezifischer Weise präformieren. Klasse, ,Rasse‘ und Geschlecht strukturieren daher die alltägliche Lebensgestaltung der Jugendlichen sowie ihre Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe.344 In diesen bilden sie auch ihre eigenen Positionierungen selber aus, genauso wie diese ihre Positionierungen beeinflussen. Den vorangestellten Perspektiven auf Jugend als Lebensphase, die einige Besonderheiten aufweist, lässt sich entnehmen, dass Zugehörigkeit – so etwa zu sozialen Gemeinschaften – bedeutungsvoll und zudem in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen ist. Die Frage der Zugehörigkeit stellt sich für Jugendliche nämlich nicht nur im Rahmen adoleszenter Identitätsentwicklung und in der Bezugnahme auf soziale Gruppen und Räume, sie ist darüber hinaus sowohl bedeutsam im Kontext ihrer gesellschaftlichen Integration, dem ‚Hineinentwickeln‘ in die Gesellschaft, in der sie leben, als auch im Hinblick auf die Verfügbarkeit über Ressourcen und (gesellschaftliche) Handlungsfähigkeit (vgl. Riegel und Geisen 2007, S. 7). Die Aushandlung von Zugehörigkeit gestaltet sich jeweils in ganz unterschiedlicher Weise, je nach (Zugehörigkeits-)Kontext und je nach gesellschaftlich-sozialer und biografischer Positionierung (vgl. Riegel und Geisen 2010, S. 8).345 Die folgenden Ausführungen gehen von der Annahme aus, dass Jugendliche im Alltag ihre Körper in vielfältigen Arten und Weisen einsetzen – so beispielsweise in Praktiken der Bearbeitungen und Inszenierungen, im Tanz oder Sport, beim Chillen oder Rauchen – und dies nicht zuletzt, um Zugehörigkeit und Abgrenzung von und zu Gruppen herzustellen oder wieder aufzulösen; anders formuliert, um sich sozial 344

345

Zuletzt ist anzumerken, dass vielfältigen und durchaus unterschiedlich gelagerten theoretischen und empirischen Auseinandersetzungen mit sozialer Benachteiligung im Hinblick auf die verschiedenen ungleichheitsgenerierenden Kategorien im Kontext von Jugend indes in der Einsicht münden, dass von Jugend nicht mehr verallgemeinernd gesprochen werden kann (vgl. Liebsch 2012, S. 57). Vielmehr variiert Jugend und Jugendlichkeit jeweils von der sozialen Herkunft, also von schichten- und milieusowie kulturspezifischen familiären Kontexten sowie geschlechtsspezifisch (vgl. Liebsch 2012, S. 57). Dabei werden unterschiedliche Zugehörigkeitskontexte relevant, so etwa nationalstaatlich gefasste Gesellschaften, internationale und globale Orientierungen, ebenso wie lokale und regionale Bezugspunkte, der familiäre Herkunftskontext; das heißt die Familie mit ihren sozialen und kulturellen Bezügen, Institutionen wie Schule und Betrieb, die Peer-Group, informelle Cliquen und jugendkulturelle Szenen im lokalen, globalisierten oder virtuellen Raum, Sport oder Kultur-Vereine, religiöse Einrichtungen oder politische Gruppierungen. Die verschiedenen gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontexte sind bedeutsam für vielfältige Identifikationen und subjektive Selbstverortungen. Sie sind aber auch entscheidend, um über sozial umstrittene und womöglich knappe Ressourcen zu verfügen und Wirkungsmacht und Handlungsfähigkeit zu entfalten (vgl. Riegel und Geisen 2007).

Positionierung und Zugehörigkeit – Herausforderung der Jugend

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zu positionieren. Dabei werden immer auch Kriterien ausgehandelt, die darüber bestimmen, wer als zugehörig eingeschlossen und wer als nicht-zugehörig ausgeschlossen wird.346 Darüber hinaus verkörpern Jugendliche in konkreten sozialen Praktiken im Alltag die sozialen Bezüge, in denen sie agieren. Als wesentliche Strukturkategorien wurden im zweiten Kapitel der Arbeit die Unterscheidungen Klasse, ,Rasse‘/Ethnie und Geschlecht thematisiert, genauso wie deren Zusammenwirken auf der Ebene der Strukturen, der Interaktionen sowie der symbolischen Repräsentationen erörtert wurde. Soziale Unterscheidungen fungieren nicht lediglich als Ordnungs- und Strukturierungsprinzipien des Sozialen, sondern sie markieren auch Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen, sozialen Einteilungen und Unterscheidungen. Im konkreten Tun verkörpern Jugendliche folglich immer auch Zugehörigkeit/en zu sozialen Gruppen; das heißt, dass körperliche Merkmale vermeintliche Aufschlüsse über ihre soziale Position bieten.347 Über die Wahrnehmung und Deutung körperlicher Merkmale werden sie von anderen als sozial zugehörig oder nicht zugehörig, als ein- oder ausgeschlossen positioniert. Diese Dimension ist als wesentliches Strukturmerkmal ihrer Lebenssituation zu berücksichtigen. Sie strukturiert die Lebensgestaltung der Jugendlichen sowie ihre Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe (vgl. Liebsch 2012). Eine differenziertere Betrachtung der Positionierungen von Jugendlichen und den damit einhergehenden Ein- und Ausschließungen ermöglicht Einblicke in bestehende gesellschaftliche Ordnungen. Dies ist letztlich nötig, um sie pädagogisch bearbeitbar zu machen. Durch die im ersten Kapitel erarbeiteten Konzepte der Körpersoziologie können sich im Alltag zeigende Praktiken der Adressat*innen des exemplarisch gewählten pädagogischen Handlungsfelders aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Bevor nun diese Aspekte bezugnehmend auf Begriffe

346

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Dass Zugehörigkeitsmerkmale über soziale Differenzbildungen hergestellt werden und Gegenstand von Aushandlungsprozessen sind, darauf verweisen Geisen und Riegel (2007, S. 7). Sie führen weiterhin aus, dass dabei nicht lediglich Kriterien der Zugehörigkeit oder symbolische Mitgliedschaft ausgehandelt werden, sondern auch die Frage gestellt wird, welche Folgen es hat, wenn jemand als zugehörig gilt oder als nicht-zugehörig ausgegrenzt wird (vgl. Riegel und Geisen 2007, S. 7). Zugehörigkeiten haben dabei sowohl eine subjektiv-biographische als auch eine objektive Komponente. Erstere bezeichnet eine Affinität und Verbundenheit bzw. subjektive Selbstverortung innerhalb eines sozialen oder räumlichen Kontextes. Letztere bezeichnet die sozio-strukturelle Positionierung des Individuums im gesellschaftlichen Raum (vgl. Riegel und Geisen 2007, S. 7). Zugehörigkeitstheoretisch bezeichnet der Begriff eine Relation zwischen einem Individuum und einem sozialen Kontext, in welchem Praxen der Unterscheidung von ,zugehörig‘ und ,nicht-zugehörig‘ konstitutiv sind. Im Zugehörigkeitsbegriff wird zudem das Verhältnis von Individuum und sozialem Kontext fokussiert. In Abgrenzung zum Begriff der Identität, der danach fragt, wie Individuen personale Kohärenz, Kontinuität und Konsistenz herstellen oder mit Inkohärenz, Diskontinuität und Inkonsistenzen umgehen können, befragt der Begriff der Zugehörigkeit die sozialen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen und die von diesen vermittelten individuellen Voraussetzungen, unter denen Individuen sich selbst einem Kontext zugehörig verstehen, erkennen und achten können (vgl. Mecheril 2008, S. 79).

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Jugend und Körper

und Zusammenhänge der Körpersoziologie mit der Frage nach Ein- und Ausschließungen in der Lebensphase Jugend verknüpft werden, wird der Fokus auf das Verhältnis von Jugend und Körper gerichtet. 4.6

Jugend und Körper

Die Lebensphase Jugend gilt als ,körperliche Phase‘. „Jugend findet körperlich statt und dokumentiert sich dort, wo Jugendliche sich ausdrücken – und dies tun sie immer mit dem Körper“ (Niekrenz und Witte 2011, S. 11). Dem Zitat lässt sich entnehmen, dass (der) Körper in einem engen Zusammenhang mit dem Themenkomplex Jugend steht. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass (ihre) Körper eine gesellschaftliche Dimension aufweisen, die auf vielfältige Weise Machtverhältnisse berührt (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 7). Bevor diesen Gedanken in dezidiert körpersoziologischer Perspektive nachgegangen wird, werden im ersten Teil des Kapitels Bedeutungen des Körpers in der Jugendphase in gebotener Kürze aus entwicklungspsychologischen, identitätstheoretischen, adoleszenztheoretischen sowie performativen Perspektiven nachgegangen. Mitsamt finden sie unterschiedlich detailliert Berücksichtigung und werden an einigen Stellen körpersoziologisch kommentiert. 4.6.1

Bedeutung(en) des Körpers in der Lebensphase Jugend

Der Körper wird in der Lebensphase Jugend in verschiedenen Weisen bedeutungsvoll. Er ist das Medium, über das Jugendliche am meisten Verfügungsmacht haben (vgl. Stauber 2004, S. 48). Überdies inszeniert der Körper die Ablösung von der Kindheit und den Gewinn von Selbstständigkeit und Autonomie gegenüber den Eltern“ (Niekrenz und Witte 2011, S. 9). Darin werden Verhältnisse von ,nicht-mehr-Kind‘ und ,noch-nicht-Erwachsen‘ verhandelt. Im Kontext entwicklungs- und sozialisationstheoretischer Perspektiven wird der Körper als Entwicklungsaufgabe markiert. Eine etwas anders gelagerte Sichtweise auf die Bedeutung des Körpers wird in identitätstheoretischen Arbeiten erkennbar Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Transformationsprozesse wie Individualisierung, Pluralisierung und der Entgrenzung von Lebensläufen stehen Kinder und Jugendliche zunehmend vor Herausforderungen der Gestaltung des eigenen Lebens und der Identität (vgl. Keupp 2002). 348 In 348

In individualisierungstheoretischer Perspektive wird die zunehmende Bedeutung der Körperbetonung in modernen Gesellschaften als Folge der Entgrenzung und Pluralisierung von Lebenswelten interpretiert. Moderne Körperlichkeit wird zunehmend als letzte verlässliche Instanz der Selbstverortung in der Welt gesehen. Bette (2005) zeichnet nach, wie immer mehr Menschen im Rahmen von Sport, Freizeit, Mode, Gesundheitsorientierung oder Protestkultur auf ihre physisch-organische Nahwelt zurückgreifen, um die überfordernden Konsequenzen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses abzufangen oder kritisch zu kommentieren. Den Körperspuren folgend lotet er eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Körperdistanzierung und Körperaufwertung aus. Studien zu Körper im Kontext der

Jugend und Körper

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einer solchen Perspektive fungieren Körper als Medium oder als Bühne zur Darstellung von Identität (dazu vertiefend Niekrenz und Witte 2011; Rohr 2004; Hengst und Kelle 2002; Rittner 1999; vertiefend zu Körper, Leib und Identität vgl. insbesondere Gugutzer 2002). Da gesellschaftliche Transformationsprozesse zudem von der ambivalenten Norm begleitet sind, sich im sozialen Gefüge eigenständig zu verorten, bieten sie Anlass für eine verstärkte Körperthematisierung (vgl. Hitzler 2002). In identitätstheoretischer Perspektive lassen sich Selbstinszenierungen zum Beispiel als zentrale Strategien der Identitätsarbeit in den Blick nehmen (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 8). Mit dem Themenkomplex der Inszenierung wird gemeinhin gefasst, dass die Kategorie Körper eng mit Ästhetiken des körperlichen Tuns und des expressiven Gestaltens verbunden ist. Mit Styling, Mode und Schmuck manipulieren und ästhetisieren Jugendliche ihre Körper und nutzen ihn damit aktiv als Gestaltungsfläche. Ästhetische Jugendpraxen können in einer solchen Perspektive vorrangig als Teil einer sozialen Praxis interpretiert werden, die Identitätsbildungen und Integration ermöglicht (vgl. Schulz 2010). Jugendliche setzen ihre Körper in verschiedenen Weisen mitunter erprobend ein, um Formate ihres Selbstausdrucks auf Wirksamkeit hin zu prüfen (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 8-9). Jedoch ergeben sich aus ihren alltäglichen Bewegungen wie Arten des Gehens, Mimik und Gestik wichtige Rückmeldungen hinsichtlich der Stimmigkeit der Körperkommunikation (vgl. Niekrenz und Witte, S. 8). Wird Identität nicht als etwas Statisches betrachtet, sondern als etwas, das von den Individuen balanciert werden muss, so bietet der Körper als Ort der Selbstgestaltung Halt und Sicherheit (vgl. Bette 2005). 4.6.2

Körper, Jugend und Geschlecht

Dass sich in der Phase der Adoleszenz ein mehrdimensionaler Veränderungsprozess mit dem (eigenen, geschlechtlichen und vergeschlechtlichten) Körper vollzieht und Jugendliche sich dadurch zunehmend beziehungsweise in einer anderen Weise mit dem symbolischen System der Zweigeschlechtlichkeit auseinandersetzen müssen, bildet Ausgangspunkt der Studien zu Adoleszenz.349 Im Mittelpunkt dieser stehen ge-

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Lebensphase Jugend, in denen sich einer solchen Lesart angeschlossen wird, verbinden indes individualisierungstheoretische mit identitätstheoretischen Perspektiven. Kritisch bleibt jedoch anzumerken, dass individualisierungstheoretische Sichtweisen zum einen die Ebene des Leibes und somit die Frage danach, wie Jugendliche Individualisierung erleben beziehungsweise leiblich spüren, nicht hinreichend berücksichtigen. Zum anderen scheinen die sozialen ungleichen Bedingungen, unter denen Jugendliche Inszenierungen gestalten und die diese in spezifischer Weise präformieren, nicht hinreichend diskutiert. Da insbesondere Auseinandersetzungen mit Geschlecht und Sexualität in dieser Lebensphase virulent werden und der Körper als wesentlicher Bestandteil jugendlicher Geschlechterkonstruktionen gilt, sollte eine geschlechtertheoretisch informierte Diskussion von Körpern in der Phase der Adoleszenz nicht ausstehen. Hier lassen sich vielfältige Rückbezüge zur Körpersoziologie herstellen, denn nicht zuletzt wurde diese von den geschlechtertheoretischen Debatten über den Geschlechterkörper voran-

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Jugend und Körper

schlechtsspezifische Sozialisations- und Lernprozesse sowie Fragen nach geschlechtlicher Identität.350 In dieser Lebensphase erlangen Körper und Geschlecht für Heranwachsende eine besondere Bedeutung. Sie werden in verstärktem Maße mit geschlechtstypischen Veränderungen des Körpers konfrontiert (vgl. King 2011, S. 79).351 King (2011) zufolge ist die Adoleszenz als eine weichenstellende biographische Phase zu betrachten, in der Geschlechter maßgeblich hervorgebracht werden – in der im kulturellen Sinne aus männlichen und weiblichen Kindern Männer und Frauen (gemacht) werden (vgl. King 2011, S. 79; vertiefend zur weiblichen Adoleszenz Bütow 2006; Flaake 2004; Flaake und King 1995; King 2002, 2011; vertiefend zur männlichen Adoleszenz Böhnisch 2004/2012; Flaake und King 2005). Die Veränderungen des Körpers vollziehen sich auf individueller sowie auf sozialer Ebene und stellen Jugendliche vor vielfältige Herausforderungen: Körper wachsen, die Geschlechtshormone befördern die Ausbildung der so genannten sekundären Geschlechtsmerkmale, was zu sicht- und spürbaren körperlichen Veränderungen führt. Die Körperbehaarung nimmt zu, Jungen kommen in den Stimmbruch, bekommen den ersten Samenerguss und Mädchen die erste Monatsblutung. Die äußere Form des Körpers verändert sich, so nehmen Mädchen beispielsweise an Körperfett zu (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 8). Im Zuge der körperlichen Veränderungen werden Jugendliche gesellschaftlich in die unterschiedlichen Praxen der Geschlechterordnung folgenreich eingeordnet; sie brin-

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getrieben. Körperlichkeit, Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit sind nicht als naturhaft gegeben, sondern als Ergebnisse sozialer, kultureller Prozesse auf Grundlage symbolvermittelter sozialer Interaktion und kultureller und sozialer Sedimentierung zu betrachten (vgl. Gildemeister 1992). Dabei bedeutet die Infragestellung der zweigeschlechtlichen Körperlichkeit keineswegs eine Unterschätzung der Körperlichkeit, sondern ein geschärftes Bewusstsein der dichotomen Optik, durch die sie in der Gesellschaft wahrgenommen wird (vgl. Hagemann-White 1988). Im ersten Teil des Kapitels wurde der Begriff der Pubertät vom Begriff der Adoleszenz abgegrenzt. Die biologischen Konstruktionen des Jugendalters rücken die Pubertät und die Adoleszenz in den Fokus. In soziologischer Perspektivierung wird auf den sozialen Status und auf die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Zuschreibungen geblickt (vgl. Mangold 2016, S. 102). Auch wenn der Begriff der Jugend dezidiert vom Begriff der Pubertät und der Adoleszenz abzugrenzen ist, lässt sich festhalten, dass die Phase der Jugend gemeinhin dadurch gekennzeichnet ist, dass körperliche Veränderungen Jugendliche zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper (und Leib) auffordern. Folglich rückt in der Phase der Adoleszenz die Aufgabe, die Veränderung des Körpers in das Selbstbild zu integrieren sowie die Entwicklung der eigenen geschlechtlichen Identität in den Vordergrund zu stellen. Angesichts dieser Veränderungen sind Jugendliche aufgefordert den eigenen und sich verändernden Körper bewohnen zu lernen (weiterführend Fend 2000; Hurrelmann 2001). Unter dem Begriff der ,Geschlechtsreife‘ werden körperliche Veränderungen zum essenziellen Definitionskriterium von Jugend. Die Körpersoziologie bestimmt die Jugendphase zwar nach sozialen Kriterien, dennoch wird deren Beginn mit der ,Geschlechtsreife’ gleichgesetzt. Aus einer körpersoziologischen Perspektive sind diese Veränderungen nicht unabhängig von sozialen und kulturellen Deutungsmustern zu verstehen, denn diese rahmen und strukturieren das Erleben und Wahrnehmen des eigenen Körpers (vgl. Schmincke 2011, S. 143).

Jugend und Körper

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gen jedoch auch neue Entwürfe von Geschlecht ins Spiel und positionieren sich ,wider der Eindeutigkeit‘ (Engel 2002). Sie sind damit befasst, ihren geschlechtlichen Habitus zu entwickeln, neu zu konstruieren und zu verkörpern (vgl. King 2011, S. 79). Mitsamt ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Körper nicht nur die äußerliche Form ändern, sondern sich auch das Spüren und Erleben des eigenen Körpers verändert. Theorien zu Leiblichkeit (siehe auch Kapitel 1.5) lassen den Schluss zu: „Aus den Prozessen der Veränderung muss eine Neuordnung von Relationen resultieren – das Verhältnis zwischen ,LeibSein‘ und ,KörperHaben‘ muss neu bestimmt und ausbalanciert werden“ (Niekrenz und Witte 2011, S. 8). Dies mündet nicht selten in Konflikten.352 Dass nicht nur die Adoleszenz an sich zu einem kritischen Moment im Hinblick auf die soziale Herstellung und individuelle und körperbezogene Aneignung von Geschlecht auszulegen ist, darauf verweist King (2011). Sie stellt heraus, dass die Aneignung zum einen über die adoleszente Besetzung des Geschlechts und seiner Verkörperung erfolgt, zum anderen sie sich nicht einfach im Modus der freien Wahl vollzieht. Sie ist eingebettet in sozialisierende Mechanismen, bei denen sich feld- und milieuspezifische Wirkfaktoren und Geschlechterkonstruktionen verknüpfen (vgl. King 2011, S. 79-80).353 Der Körper gilt als wesentlicher Bestandteil jugendlicher Geschlechterkonstruktionen. Dazu zählen etwa adoleszenztypische Ästhetisierungen. Als solche bilden diese einen Teil der in der Adoleszenz notwendigen ,Übersetzung des Selbst‘ (vgl. King 2011, S. 85). Im Zuge dessen wird der Körper zunehmend als Medium oder als Instrument genutzt. Dies ist besonders interessant vor dem Hintergrund, dass vielen Jugendlichen der Zugriff auf andere Symbole oder Bühnen des Selbstausdrucks zumeist noch nicht möglich ist (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 9). Indem Jugendliche ihre Körper bearbeiten, nutzen sie ihn als Gestaltungsfläche und Erlebnisraum. Während die Veränderungen des Körpers Jugendliche zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit auffordern, mehren sich insbesondere in dieser Phase gesellschaftliche, soziale und individuelle Einflüsse auf den (als männlich oder weiblich zugeordneten) Körper. Zum einen wird mit der massiven geschlechtlichen Körperveränderung die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtlichkeit angestoßen und eine Identifikation mit dem ,Mann-Sein‘ oder ,Frau-Sein‘ virulent. Nicht selten erproben also insbesondere Jugendliche demonstrative Inszenierungen von Männlichkeit und Weiblichkeit (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 9). Zum anderen kommt der Beschäftigung mit (der eigenen) Sexualität eine besondere Bedeutung 352

353

Dass die durch vielfältige Veränderungen angestoßene Aufforderung zum Balancieren von Körper und Leib mitunter konflikt- und krisenhaft verlaufen und erlebt werden kann, darauf verweisen Niekrenz und Witte (2011, S. 8). Dazu tragen beispielsweise medial vermittelte Körperbilder von ,perfekten‘ Körpern und Körperpraxen bei, in denen (kaum erreichbare) Körpernormen präsentiert werden. Anschließend an körpertheoretische Sichtweisen lässt sich formulieren, dass sich kulturelle Geschlechterkonstruktionen zunehmend in Körper einschreiben, genauso wie sie von diesen verkörpert werden. Zugleich prägen sie die leibliche Selbst- und Fremdwahrnehmung von Jugendlichen.

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zu und somit auch der Auseinandersetzung mit geltenden Sexualitätsnormen, welche zumeist an (heteronormativer) Zweigeschlechtlichkeit orientiert sind (vgl. weiterführend Hackmann 2003). In diesem Zusammenhang geraten Körperinszenierungen und -ästhetiken in den Blick (vgl. Bütow 2012). Auf Körperlichkeit und Sexualität bezogene Bilder, Deutungen und Normen kursieren in verschiedenen sozialen Kontexten, so beispielweise in medialen Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern, in schulischen Kontexten, in Gleichaltrigengruppen oder innerhalb der Familie (vgl. Bütow et al. 2012; Bütow 2006). Mitsamt ist die Annahme leitend, dass in Körper in dieser Lebensphase Geschlechterbedeutungen eingeschrieben werden, die diese zugleich repräsentieren. Die Interpretationen und die Bearbeitungen von Körperbedeutungen bei jungen Männern und Frauen vollziehen sich im Kontext somatischer Kulturen der Geschlechter in unterschiedlichen sozialen Feldern. Da Medien eine gewichtige Bedeutung von Jugendkulturen darstellen und mediale Körperinszenierungen eine von vielen Vorlagen bieten, auf die Jugendliche zurückgreifen, ist zu benennen, dass mediale Körperinszenierungen Orientierungsfolien liefern, die immer auch Geschlechterrollen und Körperpraktiken vorgeben (vgl. ebd.). Mitsamt bieten mediale Körperinszenierungen nicht nur Vorgaben in Bezugnahme auf Körperpraktiken, sie bilden auch einen Teil der Realität ab, die das subjektive Erleben von Kindern und Jugendlichen beeinflusst (vgl. Burghard 2018). Sie fungieren dabei als Folie einer kontinuierlichen und potentiell unabschließbaren (markt-) gerechten Perfektionierung des Körpers (vgl. Bublitz 2006) und werden gerade dann für junge Heranwachsende relevant, wenn sie sich mit der eigenen geschlechtlichen Identität und dem eigenen Körper auseinandersetzen müssen. Daran lässt sich anknüpfen und zuspitzen, dass der adoleszente Körper aus mehreren Gründen verstärkt im Fokus von Normalisierungspraktiken steht und er diese mitunter zugespitzter und/oder konfliktiver erlebt. Mitsamt sind die mit der Pubertät beginnenden körperlichen Veränderungen überdeterminiert, so Schmincke (2011). Sie sind sozial und kulturell mehrfach aufgeladen. Bezugnehmend auf körper- und leibtheoretische Zugangsweisen lässt sich die Annahme bestärken, dass körperliches (und leibliches) Erleben erstens nicht unabhängig von der sozialen Prägung stattfindet (vgl. Schmincke 2011, S. 143-144). Zweitens inkorporieren Jugendliche die mit den Veränderungen an sie geknüpften gesellschaftlichen Erwartungen, die insbesondere im Horizont von Geschlecht und Sexualität stehen. Sie entfalten auf einer präreflexiven Ebene Verankerung und Wirksamkeit. An dieser Stelle sei vorweggenommen, dass insbesondere Geschlecht als eindeutig männlich oder weiblich in der Jugendphase zu einer Norm wird, die körperlich angeeignet werden muss. Diese Sichtweise lässt sich insbesondere mit den Arbeiten von Judith Butler plausibilisieren. Die damit einhergehenden starken Normierungen, ihre körperliche Verankerung, das Scheitern an dieser Norm sowie die enorme Relevanz der körperlichen Prozesse für die Identitätsentwicklung führen mitunter zu Konflikten

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(vgl. Schmincke 2011, S. 144). Auch King (2011) merkt an, dass Prozesse der Vergeschlechtlichung der Körper von jungen Heranwachsenden spannungsvoll verlaufen können und der Körper nicht selten als Bühne adoleszenter Konflikte bedeutungsvoll wird (weiterführend King 2011, S. 79). Überdies fungiert der Körper als Bedeutungsträger sozialer Strukturierungen. In Bezugnahme auf (das Ordnungsprinzip) Geschlecht lässt sich festhalten, dass Körper in der Phase der Adoleszenz geschlechtlich ,bedeutet‘ (sexuiert) werden. Prozesse der Konstruktion der Geschlechterbedeutungen gehen gemeinhin mit bestimmten Codierungen einher, die sowohl die geschlechtliche Arbeitsteilung als auch die Machtbeziehungen begründen und repräsentieren sollen.354 Einige dieser Codierungen wirken unmittelbar und direkt, etwa im Kontext bestimmter Geschlechterdiskurse, wie sie über kulturelle Leitbilder und Normen in den Medien explizit zum Ausdruck gebracht und in jugendkulturellen Stilen vorgefunden werden. Andere wiederum sind sehr viel ,vermittelter‘, denn sie realisieren sich im Wesentlichen auch darüber, unter welchen Bedingungen und mit welchen Ressourcen junge Heranwachsende die in der Adoleszenz auftretenden Spannungen bewältigen können (vgl. King 2011, S. 84). Es lässt sich zuspitzen: In der Phase der Adoleszenz tritt die Vergesellschaftung des Körpers stärker in den Vordergrund. Der adoleszente Körper ist in einer solchen Perspektive zunehmend Zielscheibe und Speicher sozialer Einschreibungsprozesse. Überdies steht er im Fokus von (geschlechtsspezifischen) Normalisierungspraktiken und Begrenzungen (vgl. King 2011, S. 79). So pointiert auch Friebertshäuser (2012), dass Körper in dieser Lebensphase zunehmend vergeschlechtlicht, sozialisiert, domestiziert, aber auch klassifiziert werden (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 109). Im folgenden Part wird sich in erziehungswissenschaftlicher Perspektive dem Themenkomplex der Inszenierung unter Berücksichtigung performativer Zugangsweisen zugewendet. 4.6.3

Inszenierungen des Körpers in der Lebensphase Jugend

Neben den vielfältigen körperlichen Veränderungen (er) scheint der Körper in der Lebensphase Jugend zunehmend als gestaltbares Objekt, das im Dienste der Inszenierung des Selbst spezifischen Bearbeitungen unterliegt. Damit – so die These – verleihen Jugendliche sich Sichtbarkeit und Ausdruck.355 Der Körper wird zu einem Ort sozialer Herstellungspraxen sowie Gegenstand sozialer Bezugnahmen und Zuweisungen (vgl. Höhn und Vogelgesang 1999). Gefördert durch die vielfältigen körperlichen Veränderungen im Rahmen der Pubertät beschäftigen Jugendliche sich 354

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King (2011) zufolge findet die Verknüpfung von Körper- und Geschlechterbedeutungen über die Adjektivierung von Sexualorganen etwa mittels der geläufigen Assoziation von männlich/weiblich mit innen/außen, oben/unten, hoch/tief, aber auch explizite Bewertungen wie rein – unrein, gesundkrank, wertvoll/überflüssig statt (vgl. King 2011, S. 84). Nicht zuletzt lassen Körper sich als Mittel der Selbstvergewisserung des Subjekts in den Blick nehmen (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 9).

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fortwährend mit ihren Körpern. Somit erweitern sich die eigenen Fähigkeiten, den Körper zu formen, ihn in Szene zu setzen oder sich selbst zu inszenieren. Zugleich wächst die Bewusstheit über den eigenen Körper und seiner Eigenarten, Möglichkeiten und Begrenzungen (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 109). Dass Körper eng mit Ästhetiken des körperlichen Tuns und expressiven Gestaltens verbunden sind, lässt sich mit dem Themenkomplex ,Inszenierung‘ fassen. Der Inszenierungsbegriff wurde indes vom Performancebegriff abgeleitet. Insofern sich die zeitgenössische Kultur als eine Kultur der Inszenierung (oder auch als eine Inszenierung von Kultur) beschreiben lässt, wetteifern in allen gesellschaftlichen Bereichen einzelne und gesellschaftliche Gruppen in der Kunst, sich selbst und ihre Lebenswelt wirkungsvoll in Szene zu setzen (Fischer-Lichte 1998, zit. nach Fritzsche 2003, S. 207).356 Der Themenkomplex der Inszenierung ist eng verknüpft mit Praktiken ästhetischen Tuns. Somit geraten insbesondere Ästhetisierungen, die den Körper betreffen, in den Blick. Mitsamt wird nicht lediglich die ästhetische Dimension des sozialen Miteinanders betont, vielmehr wird der Begriff der Inszenierung zu einer anthropologischen Konstante (vgl. Terhart 2014, S. 61).357 Die aus dem Performancebegriff abgeleiteten Konzepte sowie der Begriff der Inszenierung eröffnen eine explizit körperliche Perspektive auf Sozialität (vgl. Terhart 2014, S. 62). Unter performativer Perspektivierung lassen Körperinszenierungen sich als kulturelle und soziale Praktiken in den Blick nehmen, mit denen das Verhältnis einer Person zum eigenen Körper und das Sein in der Welt zur Erscheinung gebracht werden können (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 105). Selbstinszenierungen sind immer bezogen auf andere, auf diese oder jene Gruppe und auf diesen oder jenen (von bestimmten Szenen repräsentierten) Lebensstil (vgl. Hafeneger 2008, S. 150). Selbstinszenierungen sind zudem Arten und Weisen, in denen Körper eingesetzt werden. Sie werden folglich immer körperlich aufgeführt (vgl. Hafeneger 2008, S. 151). Selbstinszenierungen sind zunächst einmal Ausdrucksformen auf der Ebene von Selbstdarstellungen: Ihre Medien dazu sind der reale Körper, Bewegungen, Mimik und Gestik, Formen der Körpergestaltung (Kleidung, Schminke, Utensilien) aber auch der virtuelle Körper in Medien oder im Internet.358 356

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Der Inszenierungsbegriff wird als Formgebung sozialer Aufführung verwendet. Dies wird von einigen Theoretiker*innen als eine Wende von vermeintlich sprach- und textbasierten Gesellschaften zu einer durch Aufführungen, Inszenierungen und Ritualen geprägten Verständigung angesehen (vgl. Terhart 2014, S. 61). Diese Perspektiven finden auch Einzug in Gesellschaftsdiagnostiken. Fischer-Lichte beschreibt Gesellschaft als eine ,Kultur des Performativen‘. In dieser Perspektive finden Inszenierungen und Re-Inszenierungen als Neuinszenierungen der Inszenierungen ununterbrochen im Alltag statt. Gesellschaftliche Akteur*innen bewegen sich wie selbstverständlich in einem System von Vor- oder Hinterbühnen (vgl. Terhart 2014, S. 62). Ferner handelt es sich bei Selbstinszenierungen um einen kunstfertigen und transformierenden Umgang des Menschen mit sich in Bezug auf seine Umwelt. Bezugnehmend auf die Arbeiten von Erika Fischer-Lichte führt Friebertshäuser (2012) weiter aus, dass die ästhetische Dimension von Körperinszenierungen darin liegt, dass Imaginäres, Fiktives und Reales zueinander in Beziehung gesetzt werden. Körperinszenierungen gelten zudem als performative Praxis: In der Hervorbringung konstituiert

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Selbstinszenierungen haben Darstellungs- und Handlungscharakter und gelten als eigenständige Form des sozialen Handelns. Sie haben überdies eine performative Dimension und symbolisieren Zugehörigkeit, so etwa durch die Übernahme eines bestimmten Habitus, einer bestimmten Körpersprache, eines bestimmten Kleidungsstils oder einer Präferenz für bestimmte Musik- und Tanzstile (vgl. Hafeneger 2008, S. 150). Selbstinszenierungen gehören zum einen zur sozialen Normalität, zum anderen sind sie zu einer sozialen Notwendigkeit geworden. Über Selbstinszenierungen positionieren Menschen sich in modernen Gesellschaften. Sie können sich so als (sozial, geschlechtlich, lebensstilspezifisch) zugehörig zeigen und Anerkennung erlangen, oder sich abgrenzen.359 Jugendliche sind in dieser spezifischen Lebensweise besonders herausgefordert, sich sozial sowie als (nicht-) zugehörig zu positionieren. Als körperliche Phase gilt die Jugend also nicht lediglich aufgrund der vielfältigen körperlichen Veränderungen, sondern auch weil in dieser Lebensspanne insbesondere Körper zur Herstellung oder gar Auflösung der Zugehörigkeit zu Gemeinschaften bearbeitet und inszeniert werden. 360 „Der adoleszente Körper wird zum expressiven Gestalter von Interaktionen mit sich selbst und anderen. Er inszeniert Zugehörigkeit oder Abgrenzung […]“ (Niekrenz und Witte 2011, S. 9).361 Die Frage nach Zugehörigkeit stellt sich für Jugendliche in verschiedenen Arten und Weisen. In Jugendszenen werden sie zum Beispiel symbolisch kommuniziert, so etwa über Frisuren, Kleidung oder Accessoires. 362 Über die

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sich etwas. Dabei fungiert das Publikum als Rahmen. Der soziale Raum, in dem Inszenierungen stattfinden, bildet zum einen den Verstehenskontext für die Zuschauer*innen. Zum anderen bringen die Akteure darin spezifische Inszenierungen hervor (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 105). Selbstinszenierungen erfüllen einen sozialen und einen individuellen Zweck und sind per se doppelwertig (vgl. Stauber 2004, S. 52-53): Sie symbolisieren und generieren Sinnhaftigkeit (des Handelns) und schaffen Zugehörigkeit oder aber Abgrenzungen. Insbesondere im Kontext von Jugendkulturen geschieht dies in der Übernahme eines bestimmten Habitus, bestimmter Körpersprachen, eines bestimmten Kleidungsstils oder der Präferenz von Musik- und Tanzstilen. An Orten der Selbstinszenierung entstehen Kontakte, denn nicht zuletzt entwickeln sich Freundschaften mitunter über sichtbare äußere Kennzeichen; und die gemeinsamen jugendkulturellen Interessen motivieren zu gemeinsamen Aktivitäten (vgl. Stauber 2004, S. 54). Auf diese Bedeutungsfacetten wurde im Kontext der Erziehungswissenschaft beispielsweise unter Berücksichtigung performativer und ritualtheoretischer Zugangsweisen fokussiert (vgl. Stauber 2004; Friebertshäuser 2012). Performative Perspektiven erweisen sich für jugendtheoretische Debatten insofern als instruktiv, da durch diese nicht lediglich der Aufführungs- und Inszenierungscharakter von Körpern in den Blick rückt, sondern diese mit der Gestaltung von Übergängen in Verbindung gebracht werden. Beispielhaft dafür sind jugendkulturelle Perfomances (vgl. Schulz 2012). Vor dem Hintergrund der zentralen Bedeutung des Körpers markierte bereits Luc Boltanski Jugendkulturen als ,somatische Kulturen‘ (vgl. Boltanski 1976; dazu auch Helfferich 1994; Sting 2005). Nicht selten sind Zugehörigkeiten an den Konsum von spezifischen Waren und Marken gebunden. Dieser lässt sich als global erkennbare Äußerungsform, als Ausdruck eines jugendlichen Lifestyles und als zentrales Element von Jugendkulturen in den Blick nehmen (vgl. Niekrenz und Witte 2018, S. 393). Die von Jugendlichen entwickelten Konsumpräferenzen und konsumierten Marken haben eine zentrale Bedeutung im Hinblick auf Selbstverständnisse und ihre körperlichen Selbstpräsentationen.

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Inszenierung des Körpers sowie die Präsentation spezifischer Konsumgegenstände verhandeln Jugendliche zudem auch Zugehörigkeit und Abgrenzung sowie Ein- und Ausschließungen. Der Körper gilt gemeinhin als ein Medium, über das Jugendliche am meisten Verfügungsmacht haben. Gerade dadurch wird er zum Werkzeug und Material für Selbstgestaltungspraxen (vgl. Stauber 2004). Indem Jugendliche ihre Körper bearbeiten, nutzen sie diese als Gestaltungsfläche. Folglich unterliegen Körper verschiedenen Bearbeitungs- und Gestaltungsprozessen. Eingesetzt im Dienste der eigenen sozialen (Selbst-) Positionierung werden Körper vermehrt zu einem gestaltbaren Objekt, einem ästhetischen Projekt oder einem Kapital, über das die Jugendlichen verfügen. Diese Investitionen in den ,Körper als Kapital‘ scheinen lohnenswert, denn sie versprechen Anerkennung und Wertschätzung. Es ist besonders vor diesem Hintergrund interessant, da ihnen der Zugriff auf andere Symbole, auf andere Bühnen des Selbstausdrucks zumeist noch nicht möglich ist (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 9). In einer solchen Perspektive fungieren Körper als Medium, über das Jugendliche sich selber sozial positionieren, über das sie Zugehörigkeit und Abgrenzung zu diversen Jugendkulturen herstellen.363 Der jugendliche Körper kommt jedoch auch in Praktiken der Positionierung als Kapital zum Einsatz, was sie Erwachsenen gegenüber überlegen machen kann (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 9). Zur Bearbeitung ihrer Körper stehen Jugendlichen jedoch unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung, sodaß auch auf dieser Ebene soziale Ungleichheitsverhältnisse ausgehandelt, bearbeitet und fortgeführt werden. An die bisher präsentierten Zugangsweisen zu körperlichen Selbstinszenierungen von Jugendlichen lässt sich anschließen und hervorheben: Ein großer Teil des sozialen Lebens von Jugendlichen findet in Selbstinszenierungen statt (vgl. Stauber 2004, S. 50). Körperinszenierungen bilden soziale Praktiken von Jugendlichen, mit denen sie sich mit ihrem eigenen Körper in ein Verhältnis zur Welt setzen (vgl. Friebertshäuser, Langer und Richter 2004, S. 33). Indem sie ihre Körper bearbeiten und in spezifischer Weise einsetzen um sich (sozial) zu positionieren, stellen sie Zugehörigkeit und Abgrenzung zu Gemeinschaften her. Da der Körper etwas ist, über das sie am meisten

363

Im Zusammenhang mit Gemeinschaftsbildungen und sozialen Zugehörigkeiten haben Rituale eine besondere Bedeutung (zur performativitätstheoretischen Zugangsweise mit Ritualen siehe Kapitel 2). Rituale versprechen ,Ordnung‘ und ,Handlungssicherheit‘. Jugendliche bilden in der Gestaltung der für sie relevanten Übergänge in der Moderne neue, eigene und selbst organisierte, produktive Formen, Zeichen und Rituale. Diese können sie selbst kreieren, aus produktvermittelten Medien übernehmen, so etwa Begrüßungs-, Aufnahme- und Abschiedsrituale, Markierungen von Zugehörigkeit über die Kleidung, Sprache, Frisur oder über Körperinszenierungen und Körperästhetiken, wie etwa Tattoos, Piercings, Brandings). Aber auch Partys oder Mutproben sind dazu zu zählen (vgl. Hafeneger 2008, S. 150-151).

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Verfügungsmacht haben, wird dieser bearbeitet und in spezifischer Weise zum Einsatz gebracht.364 Die Frage der Zugehörigkeit stellt sich für Jugendliche jedoch nicht lediglich im Rahmen adoleszenter Identitätsentwicklung und in der Bezugnahme auf soziale Gruppen und Räume, Zugehörigkeit ist auch bedeutsam im Kontext ihrer gesellschaftlichen Integration, dem ,Hineinentwickeln’ in die Gesellschaft, in der sie leben. Anschließend an körpertheoretische Debatten lassen Inszenierungen von Jugendlichen sich erstens als Arten und Weisen markieren, in denen sie sich körperlich gegenübertreten.365 Sie gelten als körperliche Präsentation im Austausch mit Anderen. Zweitens fungieren sie als soziale Inszenierungspraktiken, in denen Jugendliche – indem sie sich selber und vor einander aufführen – einen sozialen Raum konstituieren. Folglich lässt sich die Rekonstruktion inkorporierter sozialer Strukturen über die Analyse von Körperdarstellungen vornehmen (vgl. Terhart 2014, S. 64). Drittens erweisen sich Inszenierungen des Körperlichen als soziale Distinktionsmittel. Körper können dabei nur in Rastern sozialer Unterscheidungen und Zugehörigkeitsvorstellungen gedacht werden (vgl. Terhart 2014, S. 64-65). „Die durch und mit dem Körper vorgenommene Entäußerung habitualisierter sozialer Erfahrungen wird zur Grundlage gesellschaftlicher Positionierung“ (Terhart 2014, S. 65). Indem in Theorien zu Inszenierung der Begriff der Performativität Berücksichtigung findet, lässt sich der wirklichkeitskonstituierende Charakter sozialer Handlungen theoretisch einholen. Bezugnehmend auf körpersoziologische und praxeologische Sichtweisen lässt sich weiterführen: Die auf körperlicher Ebene vollzogene (Re-) Präsentation gesellschaftlicher Strukturen verbindet sich mit der Herstellung sozialer Wirklichkeit durch die Materialität sozialen Handelns (vgl. Terhart 2014, S. 62). Im Mittelpunkt der Einschreibung sowie der Erzeugung gesellschaftlicher Strukturen stehen folglich körperliche Praktiken. Zum einen werden soziale Zugehörigkeiten und damit einhergehende Hierarchisierungen inkorporiert. Zum anderen treten Körper durch soziales Handeln sowie der Wahrnehmung dieser in Erscheinung (vgl. Terhart 2014, S. 62). Für die vorliegende Studie ist relevant, dass körperliche Inszenierungen von Jugendlichen auch als soziale Praktiken betrachtet werden können, die im Alltag entlang sozialer Differenzlinien verlaufen. Diese strukturieren nicht zuletzt den Status und die Mög-

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Ihre Selbstinszenierungsprozesse lassen sich so als Teil der gesellschaftlichen Konstruktion von Jugend perspektivieren. In diesen reagieren Jugendliche nicht nur auf gesellschaftliche Zuschreibungen und Erwartungen, sondern sie gestalten mit und entwerfen sich im Kontext dieser Erwartungen, genauso wie sie durch Erwartungen und Zuschreibungen entworfen werden (vgl. Mangold 2016, S. 103). Um Positionierungsprozesse von Jugendlichen in einem breiten Bild zu erfassen, ist es indes nötig, die alltäglichen Lebenssituationen sowie die darin liegenden Aushandlungsprozesse von Jugendlichen zu beleuchten. Mangold (2016) schlägt hier die Metapher der Grenzbearbeitung vor. In körpersoziologischen Arbeiten, in denen der Fokus auf Selbstdarstellungen gelegt wird, lässt sich gemeinhin eine theatrale Perspektive auf Gesellschaft einnehmen. Körperinszenierungen werden sodann als körperliche Praktiken untersucht (vgl. Gugutzer 2006, S. 18).

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lichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe (vgl. Terhart 2014, S. 62). Möglichkeiten der Inszenierung sind zudem immer auch durch den sozialen Raum mitbestimmt, den sie zugleich wieder konstituieren (vgl. Terhart 2014, S. 62). 4.6.4

Körper, Jugend und die Gestaltung von Übergängen

Im nun anschließenden Part wird sich körperlichen Selbstinszenierungen bezugnehmend auf erziehungswissenschaftliche und jugendtheoretische Sichtweisen angenähert, (vgl. exemplarisch Friebertshäuser 2012; Stauber 2004). Für den jugendtheoretischen Diskurs ist dies gewinnbringend und bietet Anschlussmöglichkeiten für die Inblicknahme der Gestaltung von Übergängen, die eine zentrale Herausforderung des Jugendalters markieren. In einer solchen Lesart werden Selbstinszenierungen – unter Berücksichtigung performativitätstheoretischer Zugänge – mit Theorien zu Jugend verknüpft.366 Den im ersten Teil des Kapitels aufgeführten Theorien zu Jugend lässt sich entnehmen, dass die Gestaltung von Übergängen vom ,Kindsein‘ zum ,Erwachsenensein‘ für die Lebensphase Jugend kennzeichnend ist. Innerhalb dieser kommen Körper als zentrales Medium zum Einsatz, somit symbolisieren sie eine bedeutsame Ressource für Jugendliche. Im Dienste der Gestaltung von Übergängen werden Körper bearbeitet und inszeniert. Vor einem solchen Hintergrund lassen sich Körperinszenierungen von Jungen und Mädchen im Jugendalter als individuelle und kollektive Bearbeitungsformen der Statuspassage des Übergangs von der Kindheit in die Jugendphase deuten (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 105). Körperinszenierungen dienen der Demonstration der eigenen Verfügung über den Körper und lassen sich somit als ritualisierte Formen der Abgrenzung von der Kindheit interpretieren. Der Übergang vom Kind-Sein zum Nicht-mehr-Kind-sein soll mittels sichtbarer Zeichen, so etwa Frisur, Schminke, Kleidung, Tattoos, Piercing, für sich und andere kenntlich gemacht werden (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 105-106; weiterführend Stauber 2004; Helfferich 1994). Zugleich beinhalten Selbstinszenierungen ein Konfliktpotential, denn gerade Lebensstile, Ausdrucksformen, Selbstdarstellungen und Körperinszenierungen, Zeichen und Symboliken und die von Jugendlichen ausgehandelten Sinnhaftigkeiten und Symboliken sind 366

Im Kontext erziehungswissenschaftlicher und ethnographischer Geschlechterforschung legt beispielsweise Barbara Friebertshäuser (2012) – bezugnehmend auf Erkenntnisse der Statuspassagenund Ritualforschung – den Blick auf Körperinszenierungen im Jugendalter im Kontext der Schule. Friebertshäuser (2012) zufolge fehlen – anders als in archaischen – in modernen Kulturen verbindliche Rituale zur Begleitung von Heranwachsenden. Daher erfinden Jugendliche eigene rituelle Praktiken, die als Formen der Selbstinitiation gedeutet werden können, so Friebertshäuser (2012, S. 105). Unter sozialpädagogischer Positionierung fokussiert Barbara Stauber (2004) auf jugendliche Selbstinszenierungen und Handlungspotenziale im Zusammenhang mit (biografischen) Übergängen. Ihre ethnographisch angelegte Studie im Kontext der Techno-Szene veranschaulicht in luzider Weise, dass und in welcher Art der Körper von Jugendlichen vor dem Hintergrund der von Jugendlichen zu bewältigenden Übergänge von der Kindheit zum Erwachsenwerden als Zentrum der Autonomie fungiert (vgl. Stauber 2004).

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immanent geschlechtsspezifisch konnotiert, sodass ein geschlechtssensibler Blick auf diese unabdingbar ist (vgl. Stauber 2004, S. 44). Diesen unterschiedlich gelagerten Sichtweisen lässt sich entnehmen, dass die vielfältigen körperbezogenen Gestaltungsweisen von Jugendlichen spezifische individuelle und gleichsam soziale Funktionalitäten erfüllen. Es lässt sich bündeln: Jugend als körperliche Phase bietet Anlass für eine verstärkte Körperthematisierung. Sucht man nach Gründen, so findet man zeitdiagnostische Beobachtungen zu aktuellen Wandlungsprozessen im Verhältnis von Gesellschaft und Körper; genannt seien modernisierungstheoretische oder individualisierungstheoretische Perspektiven. In diesen Diagnosen wird der jugendliche Körper nicht selten als Indiz für gesellschaftlichen Wandel betrachtet. Ein Erklärungsmuster, das sich häufig findet, basiert auf der These einer zunehmenden Körperfixiertheit zeitgenössischer westlicher Gesellschaften (vgl. Schmincke 2011, S. 146). Eine im Kontext des Individualisierungsdiskurses prominente Auffassung zum Verhältnis von Körper und Gesellschaft mündet indes darin, dass Personen gegenwärtig einen ,Körperboom‘ und einen ,Körperkult‘ erleben (vgl. weiterführend Hitzler 2002; Bette 2005). Der Grund dafür wird in der Erosion von traditionellen Bindungen, Werten und Bezügen gesehen. Folglich sind Einzelne zunehmend auf sich selber zurückgeworfen. Der Körper und die Sorge um ihn bildet letztlich eine Sinn-Ressource (vgl. Schmincke 2011, S. 146). Wird in einer Perspektive eine Paradoxie von Körperverdrängung und Körperaufwertung diagnostiziert (vgl. Bette 2005), so werden in anderer Sichtweise Jugendkulturen selbst als Individualisierungsphänomene angesehen. In der Beschäftigung mit dem eigenen Körper, mit Mode, Kleidung, Orientierung und Style drückt sich in einer solchen Perspektive die Suche nach Identität und Sinn genauso wie nach Zugehörigkeit und sozialer Teilnahme aus (vgl. Schmincke 2011, S. 146-147). Derartige Sichtweisen scheinen zwar instruktiv, jedoch wird mit ihnen nicht greifbar, welche sozialen Ordnungen in gegenwärtigen Körperpraktiken in welcher Weise relevant werden. Sie tragen auch nicht zur Klärung bei, warum Normen für eine soziale Ordnung hegemonial werden und wie dies in den Kontext gesellschaftlicher Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse zu verorten ist (vgl. Schmincke 2011, S. 147).367 Diese Facetten werden in einem weiteren Schritt in den Blick genommen und sodann wird das Verhältnis von Jugend und Körper körpersoziologisch grundiert und diskutiert. Daran anschließend erfolgt eine Betrachtung der ,Verkörperungen‘ in der Lebensphase Jugend gelegt. Vor dem Hintergrund der Markierung der Relevanz der sozialen Positionierung in der Lebensphase Jugend wird in einem weiteren Schritt – bezugnehmend auf körpersoziologische und praxeologische Sichtweisen – eine Per-

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Individualisierungstheoretischen Erklärungsweisen haftet zudem ein kultureller Gestus an, der insbesondere in der Betrachtung von jugendkulturellen Phänomenen einen angemessenen Blick auf das Phänomen verstellt (vgl. Schmincke 2011, S. 147).

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spektive auf Positionierungen und Zugehörigkeit im Kontext von Ein- und Ausschließung entfaltet, die diese als dezidiert soziale und überaus komplexe Angelegenheit erkennt. Ein- und Ausschließung vollzieht sich im Alltag von Jugendlichen auf sozialer und symbolischer Ebene. Insbesondere auf der symbolischen Ebene entfalten Klassifikationen und Normen jene ein- und ausschließende Wirkmächtigkeit. Somit werden sie zugleich sozial relevant. 4.7

Körper (von Jugendlichen) als Produkt und Produzent

In diesem Teil des Kapitels wird an die in den ersten Kapiteln der Studie erarbeiteten Perspektiven hinsichtlich der Theoretisierung Jugendlicher angeschlossen und in Zusammenhang mit Ein- und Ausschließung gebracht. Dafür werden in einem ersten Schritt Körper von Jugendlichen als Produkt und Produzent diskutiert „Dabei scheint es, als würden die mit bestimmten sozialen Verhältnissen gegebenen Konditionierungsprozesse das Verhältnis zur sozialen Welt in ein dauerhaftes und allgemeines Verhältnis zum eigenen Leib festschreiben – in ganz bestimmter Weise, seinen Körper zu halten und zu bewegen, ihn vorzuzeigen, ihm Platz zu schaffen kurz, ihm ein soziales Profil zu verleihen“ (Bourdieu 1987, S. 739). Körperlichkeit und Leiblichkeit, so lässt sich dem Zitat Bourdieus entnehmen, sind von erheblicher sozialer Relevanz. Dass Körper keine a-soziale Materie darstellen, sondern vielmehr als von sozialen Bedingungen – dazu zählen Verhältnisse sozialer Ungleichheit, Macht und Herrschaft – geprägt in Erscheinung treten, verweist indes auf ihre Sozialität. Denn Körper bilden nicht nur unweigerlich Referenz in sozialen Interaktionen und Kommunikationen (vgl. Schmincke 2014, S. 52-53). Wenn Menschen sich begegnen, begegnen sie sich körperlich. Sie nehmen sich körperlich wahr, sie reagieren körperlich auf ihre Gegenüber, auf die Umwelt und verorten sich mit ihrer sichtbaren und materialen Körperlichkeit – auch für andere – in der sozialen Welt. Anschließend an die körpertheoretische Auseinandersetzung lassen sich Körper von Jugendlichen als Produkt und Produzent von Gesellschaft perspektivieren. Eingedenk solcher Sichtweisen sind ihre Körper von gesellschaftlichen Prozessen geprägt, genauso wie sie an deren Reproduktion beteiligt sind. Dabei sind die Körper (und Praktiken) Jugendlicher, so die Hypothese, zum einen in Abhängigkeit und Relationalität von sozialen Bedingungen zu betrachten, zum anderen Ausdruck sozialer und symbolischer Ordnungen. Dafür ist die Annahme grundlegend, dass soziale Ordnungen in körperlichen Praktiken beständig hervorgebracht werden (vgl. Klein 2010, S. 247).368 Denn nicht zuletzt, so Schmincke (2009), reproduziert sich eine Gesellschaft immer auch über Körperbilder und alltägliche körperliche Praktiken (vgl. ebd., S. 11). 368

Ein so gefasstes Verständnis von Körper bedarf einer analytischen Betrachtung, in der die soziale Geprägtheit des Körpers vordergründig scheint und somit das wechselseitige Durchdringungsverhältnis von Körper und Gesellschaft ebenso Berücksichtigung findet, wie die Konstruktionsweisen von Körper.

Körper (von Jugendlichen) als Produkt und Produzent

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Diese Annahmen basieren auf der körpersoziologischen Einsicht, dass menschliche Körper keine naturhaften und folglich vorsozialen Entitäten darstellen, sondern Gesellschaft genauso auf Körper wirkt, wie Körper in Gesellschaft. In körpertheoretischer Sicht wird der Körper (sowie der Leib) als Produkt und Produzent von Gesellschaft ausgewiesen. Unter Berücksichtigung leibtheoretischer Differenzierung in Körper und Leib vermitteln diese Verhältnisse sich immer auch sinnlich und leiblich. In der Formulierung des Körpers als Produkt und Produzent bleibt er jedoch recht abstrakt. Er existiert als ein bestimmter, von verschiedenen Unterscheidungen strukturierter Körper, so etwa als ,vergeschlechtlichter‘, als ,ethnisierter‘ oder eben als ,alter‘ oder ,junger‘ Körper (vgl. Schmincke 2011, S. 145). Einem so gefassten Verständnis zufolge treten Körper im Alltag von Jugendlichen nicht in Naturform, sondern sozial in Erscheinung. Körper von Jugendlichen erscheinen als Träger von kulturell erzeugten und sozial vermittelten Einschreibungen. Sie sind durch soziale, ungleichheitsgenerierende Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität, Alter markiert, habituell geformt oder ästhetisiert. Als soziale Signatur sind Strukturen sozialer Ungleichheit (sowie Macht- und Herrschaft) in Körper somit eingeschrieben. Sie werden von diesem verkörpert, genauso wie sie über Körper (als Produzent) reproduziert werden (vgl. Burghard 2018). Körper, dessen Gestalt und Erscheinungsweise, Routinen und Bewegungen, sind folglich geprägt von der sozialen und kulturellen Herkunft der körperlichen Subjekte, nicht zuletzt auch davon, welchen Zuweisungen und Erwartungen (so etwa bezogen auf Klasse, Geschlecht, Ethnizität) Einzelne unterliegen. Diese Differenzierungen verweisen zum einen auf Ordnungs- und Strukturierungsprinzipien des Sozialen, zum anderen auf die Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen. Im folgenden Abschnitt wird der Blick auf Verkörperungen in der Lebensphase Jugend gelegt. Dass der Körper zudem die sozialen Bezüge präsentiert, in denen er situiert ist, und körperbezogene Merkmale über Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit entscheiden oder gar Jugendliche in sozialen alltäglichen Praktiken Kriterien der Zugehörigkeit aushandeln, wird im abschließenden Part des Kapitels in den Blick genommen. Ziel der Zusammenführung der in den verschiedenen Kapiteln erarbeiteten Erkenntnisse ist es, eine (körpertheoretisch, praxeologisch und ungleichheitstheoretisch informierte) Herangehensweise zu entwerfen, mit der nicht nur theoretisier-, sondern auch analysierbar wird, inwiefern im Offenen Kinder- und Jugendtreff über Körper auf sozialer und symbolischer Ebene Ein- und Ausschlüsse verhandelt und so auch über Körper soziale Ordnungen, einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse, konstituiert und reproduziert werden. Auf diese Weise lässt sich sodann auch nachvollziehen, dass und in welcher Weise die Betrachtung von Körpern Aufschlüsse über bestehende gesellschaftliche Ordnungen versprechen.

230 4.7.1

Jugend und Körper ,Verkörperungen‘ in der Lebensphase Jugend

Anschließend an die Dimensionalisierung als Produkt und Produzent von Gesellschaft lassen sich Körper von Jugendlichen als sozial hergestelltes wie auch herstellendes Medium von gesellschaftlichen Zusammenhängen betrachten und thematisieren (vgl. Magyar-Haas 2013, S. 137). Diese ausführliche Präsentation der unterschiedlichen körpertheoretischen Sichtweisen bietet die Möglichkeit, Körper von Jugendlichen als Ort gesellschaftlicher Ordnungsversuche und der Aushandlung sozialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu thematisieren, zu theoretisieren und zu beforschen. Ihre Körper sind immer auch nicht-intendierte Träger von Zeichen und Zuschreibungen, welche auf die soziale Herkunft, soziale Zugehörigkeiten und Machtverhältnisse verweisen (vgl. Gugutzer 2006, S. 15). Diese Perspektive ist für nahezu alle sozialen Kontexte relevant zu setzen. Doch insbesondere die Phase der Jugend gilt als eine Phase, die aus vielerlei Gründen zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der sich verändernden eigenen und sozialen Körperlichkeit auffordert. Damit ergeben sich zum Beispiel Fragen danach, inwieweit Körper von Jugendlichen von sozialen Ungleichheitsverhältnissen geprägt werden und diese repräsentieren, inwiefern Körper von Jugendlichen Normalisierungen unterworfen und auf welche Art und Weise mit, an und über Körper die sozialen Ordnungen praktisch hergestellt werden und damit zur Stabilisierung dieser beitragen. Körpern ist eine bedeutsame Funktion im Kontext der Lebensphase Jugend beizumessen, und dies in persönlicher sowie in sozialer Hinsicht. Jugend gilt als eine Phase, in der Jugendliche ihre Körper in vielfältiger Weise bearbeiten und gestalten. Dazu zählen die in Kapitel 4.6. thematisierten vielfältigen Praktiken und Inszenierungen. Darüber handeln Jugendliche über ihre Körper die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen aus, indem sie diese in spezifischer Weise gezielt einsetzen. In diesen Praktiken fließen auch die inkorporierten Wissensbestände ein, die sich aus der Inkorporation sozialer Bedingungen ergeben (siehe Kapitel 3.). Unter körpertheoretischer Heuristik werden diese alltäglichen Arten und Weisen, wie ,Körper zu sehen gegeben werden‘ in einem größeren analytischen Rahmen verstehbar. Insbesondere Inszenierungen des Körpers werden dabei als Praktiken ausgelegt, in denen der Körper als strategisches Kapital zum Einsatz kommt (Kapitel 1.2.). Zugleich lassen diese sich als Technologien des Selbst in den Blick nehmen, die von der Gleichzeitigkeit von Selbstermächtigung und Unterwerfung gekennzeichnet sind (Kapitel 1.3.). Die Erkenntnisse der Körpersoziologie bieten somit eine Perspektive an, mit der es möglich wird, in Körperpraktiken von Jugendlichen Praktiken der sozialen Positionierung innerhalb sozialer Ordnungen zu erkennen und diese im Kontext von sozialen Ein- und Ausschließungen zu verorten (siehe dazu Kapitel 2.4.). Auf eine Vertiefung dieser Gedanken zielt der nun anschließende Part.

Körper (von Jugendlichen) als Produkt und Produzent 4.7.2

231

Soziale (Körper-) Praktiken von Jugendlichen

Wenden sich adoleszenztheoretische oder erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Verhältnisse von Körper und Geschlecht sowie auf die Körperlichkeit der Gestaltung von Übergängen (Kapitel 4.6.2-4.6.3.), so eröffnen körpersoziologische Sichtweisen weitere Perspektiven. Sie bieten die Möglichkeit aufzuzeigen, dass und in welcher Weise Jugendliche ihre Körper im Dienste der sozialen Positionierung einsetzen. Sie lassen auch erkennbar werden, dass Körper von Jugendlichen dabei in besonderer Weise im Fokus von Normalisierungspraktiken stehen. Soziale Praktiken der Bearbeitung des Körpers von Jugendlichen folgen oftmals gängigen Vorstellungen von Schönheit, Attraktivität, Männlichkeit, Weiblichkeit sowie statusgebunden Symboliken.369 Körper und Körperpraktiken von Jugendlichen sind zwar als individuell zu betrachten, gleichsam sind sie aber auch als soziale Praktiken im Rahmen gesellschaftlicher Formationen und Machtverhältnisse zu perspektivieren. Dazu zählen ebenso (körperbezogene) Normalitäts- und Ordnungsvorstellungen genauso wie Verhältnisse sozialer Ungleichheit. Diese Erkenntnis wird im folgenden Part bezugnehmend auf Perspektiven der Körpersoziologie plausibilisiert. Körperliche Interaktionen sowie Selbstinszenierungen des Körpers sind gegenwärtig zu einem der auffälligsten Schauplätze sozialer Distinktionsprozesse geworden (vgl. Alkemeyer 1995, S. 23). Über diese alltäglichen Praktiken wird folglich auch soziale Ungleichheit reproduziert. Dass Körper in diesem Zusammenhang zunehmend als eigenständige Kapitalform gesehen werden kann, darauf verweist Pierre Bourdieu. Der Körper stellt in besonderer Weise eine Kapitalform dar, über das Jugendliche am meisten verfügen (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 9). In den Arbeiten über Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit und den Konzeptionalisierungen der verschiedenen Kapitalien erfährt die Bedeutung des Körpers eine besondere Beachtung (siehe dazu auch Kapitel 1.3.). Zum einen deutet Bourdieu darauf hin, dass sich insbesondere das kulturelle Kapital die Beschaffenheit des Körpers als Speicher zu Nutze macht, zum anderen zeigt er auf, dass der Körper als eigenständige Form des Kapitals zum Einsatz kommt (vgl. Gugutzer 2015).370 Diese Betrachtungsweise lässt sich auch auf die Bedeutung des Körpers in der Jugendphase anwenden: In einer solchen geht es vordergründig nicht um die Gestaltung der eigenen Identität, sondern um soziale Selbstverortungen von Jugendlichen. Die soziale Selbstverortung sowie die Suche nach Sinn, Identität, Halt und Sicherheit erfolgen dabei immer häufiger über Investitionen 369 370

Dazu zählen beispielsweise körperbezogene optische Präsentationsstrategien, welche sich als Technologien des Selbst kritisch in den Blick nehmen lassen (vgl. Villa 2008). Bourdieu setzt den Körper nicht als gegeben voraus, sondern beschreibt ihn als einen Prozess sozialer Konstruktion und Inszenierung und eben diesen als einen Effekt von Macht (vgl. Klein 2010, S. 467). Die Phase der Jugend gilt indes als wichtige Phase der Entwicklung des Habitus (vgl. Günther 2012, S. 118).

232

Jugend und Körper

in das ‚körperliche Kapital‘, welche durch Eigenleistung erziel-, spür- und sichtbare Erfolge wie soziale Anerkennung und Selbstvergewisserung vermitteln (vgl. Penz 2010). Eingedenk eines Verständnisses von sozialem Ausschluss, das diesen auf der Ebene der Praktiken verortet (Kapitel 2. 4.), lässt sich weiterführen, dass eine missglückte Inszenierung in spezifischen Kontexten Ausschließung begünstigen kann. Schönheitspraxen von Jugendlichen um soziale Anerkennung sind somit ernst zu nehmende soziale Praktiken, bei denen weitaus mehr ,auf dem Spiel‘ steht als die Ästhetisierung des Körpers. Sie haben maßgeblich Konsequenzen, weil auf der symbolischen Ebene nicht nur der subjektive ‚sense of beauty‘ zur Disposition steht, sondern vielmehr gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse verhandelt werden (vgl. Penz 2010).371 Zu einem Element sozialer Ungleichheit werden Körper dann, wenn ihnen ungleiche Wertigkeit zugeschrieben wird. Die jeweiligen aktuellen körperlichen Ausdrucksweisen von Jugendlichen lassen sich in einer solchen Lesart ferner als – durch Verinnerlichungsprozesse – an materielle und kulturelle Bedingungen und die spezifische soziale Position gebunden betrachten, die sie innerhalb ihrer sozialen Bezüge einnehmen. Unter Berücksichtigung des Habituskonzeptes kann die Verinnerlichung von Bewertungs- und Klasssifikationsschemata, die ästhetische Normen anleiten, als Inkorporation und Habitualisierung thematisiert werden. Ferner ermöglichen die Arbeiten von Bourdieu Unterscheidungen als Distinktionen zu deuten, welche in Verbindung mit der sozialen Position von Akteur*innen in Verbindung stehen. Die praktische Konstitution von Unterscheidungen (Distinktionen) hebt Bourdieu als gewichtige Dimension der Reproduktionsbedingungen von Strukturen sozialer Ungleichheit hervor (vgl. Hillebrandt 2001, S. 230), die sich somit als zentraler Zugang zeigt.372

371

372

So nimmt beispielweise Otto Penz (2010) ,Schönheit als Praxis‘ kritisch in den Blick und setzt Schönheitspraktiken mit Fragen sozialer Ungleichheit in Verbindung. Nicht zuletzt präsentiert Nina Degele (2004), dass ‚sich schön machen‘ keine individuelle, sondern eine höchst soziale Angelegenheit darstellt. Vor diesem Hintegrund kommt sie zu der Erkenntnis, dass Schönheitshandeln dezidiert zweigeschlechtlich codiert ist. Dass und in welcher Weise Jugendliche sich mit spezifischen Normen, so etwa Normen in Bezug auf Geschlecht, Alter oder Schönheit auseinandersetzen und diese Normen ihren Körpern nicht einfach äußerlich oder vorgängig sind, kommt mit dieser Lesart nicht in den Blick. Der Lebensstil zeigt sich indes in der Realisierung der inkorporierten Vorlieben und Geschmacksrichtungen, so etwa bezüglich des Ernährungsverhaltens, der Kleidung, der Freizeitaktivitäten oder des Kunst- und Konsumverhaltens. Zugleich wird anhand dieser Praktiken auf die soziale Herkunft aus einer bestimmten sozialen Schicht geschlossen, so etwa Günther (2012, S. 118) An die Arbeiten von Pierre Bourdieu anknüpfend untersuchte beispielsweise Alexandra König (2007) ästhetische Praktiken und Präferenzen von Jugendlichen. Insbesondere Kleidung wird für Jugendliche zum zentralen Medium der Selbst-Präsentation (vgl. König 2011, S. 155). Die Studie verdeutlicht jedoch auch, dass ästhetische Praktiken und Präferenzen von Jugendlichen (weiterhin) an die soziale Position gebunden sind, die sie einnehmen. Somit sind ästhetische Praktiken und Präferenzen als zentrales Element sozialer Ordnung auszuloten (vgl. König 2011, S. 156). In der Studie von König wird auch die Frage

Körper (von Jugendlichen) als Produkt und Produzent

233

Die Inkorporation ästhetischer Normen, inklusive ihrer Bewertungs- und Klassifikationsschemata, lässt sich unter Berücksichtigung des Habituskonzeptes von Bourdieu als Formen symbolischer Herrschaft beschreiben, die eingedenk der Inkorporation sozialer Strukturen Wirksamkeit entfalten. Diese bildet somit eine wesentliche Facette des Alltags von Jugendlichen. Die Bewertungs- und Klassifikationsschemata dienen überdies der sozialen Positionierung (vgl. Schmincke 2011, S. 152). Körperpraktiken als Technologien des Selbst Jugendliche setzen ihre Körper im Sinne der Gestaltung entlang körperästhetischer Normen ein. Im Zuge distinktiver Praxen wird der Körper beispielsweise zunehmend mittels diverser Technologien unter der ‚Ideologie des Schönheitshandelns‘ ästhetisiert und modifiziert (vgl. Degele 2004). Dabei wird er zunehmend körperästhetischen Normen unterworfen. Schönheitsstandards erweisen sich mitunter als hegemoniale Figurationen einer normativen Körperordnung, die zum einen Körperpraktiken von vornehmlich Jugendlichen und zum anderen mithin – eingedenk der Verschränkung von Körper und Leib – das subjektive Spüren des eigenen Körpers beeinflussen (vgl. Burghard 2018). Hier zeigt sich Macht als zentraler Zugang. Anhand der im ersten theoretischen Kapitel vorgenommenen Darstellung der poststrukturalistischen Perspektiven von Foucault (Kapitel 1.3.) wurde gezeigt, dass Normen immer auch verkörpert werden. Zugleich werden Körper an der Norm ausgerichtet und darüber Verständnisse von normal und abweichend hergestellt (vgl. Schmincke 2009, S. 117). In diesen Zusammenhängen werden Körper normalisiert und diszipliniert. Als Medium der Inszenierung sind Körper mit verschiedenen Modi des Selbstbezugs verknüpft. Junge Heranwachsende, die mit dem Wandel, der Entwicklung und einem sich verändernden Selbsterleben der eigenen Körperlichkeit kon-

danach verhandelt, wie soziale Ungleichheit im Jugendalter über ästhetische Praktiken und Präferenzen reproduziert wird. Zu einem Element sozialer Ungleichheit werden ästhetische Praktiken erst dann, wenn Gütern und Praktiken ungleiche Wertigkeiten zugeschrieben werden und die Beurteilung dieser als höherwertig legitim scheint. Somit werden kulturelle Praktiken und Präferenzen (für bestimmte Moden) zu distinktiven Zeichen. Die ,ästhetische Intoleranz‘ (König 2011, S. 156) der ,oberen‘ Klassen gegenüber den Lebensstilen der ,unteren‘ Klassen trägt somit grundlegend zur Reproduktion von Klassenstrukturen bei. Dabei zeigt sich eine Form symbolischer Gewalt (vgl. König 2011, S. 156). Die Studie zeigt dabei ferner, dass soziale Ungleichheitsstrukturen in individualisierter Weise reproduziert werden und sich in der Verhandlung ästhetischer Praktiken und Präferenzen eine ,Individualisierung von Klasse‘ vollzieht (vgl. König 2011, S. 167). Mitsamt werden Kleidungsstile von Jugendlichen in dieser Studie im Rahmen eines sozialen Passungsverhältnisses betrachtet. Geschmack entsteht durch soziale Ein- und Ausschließungen, die insbesondere durch das Gefühl der Scham reguliert werden (vgl. Günther 2012, S. 118). Günther (2012) merkt jedoch kritisch an, dass die Studie von König sich stark auf den Geschmack konzentriert, der in der jeweiligen Herkunftsfamilie erworben wurde. Veränderungen, welche beispielsweise durch die Zugehörigkeiten zu anderen Jugendkulturen initiiert werden können, sind kaum berücksichtigt. Zudem vernachlässigt die Studie das innovative und kreative Potenzial von jugendlichen Artikulationen (vgl. Günther 2012, S. 118-119).

234

Jugend und Körper

frontiert sind, probieren sich mit ihren Körperpraktiken selber aus. In der Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit setzen sie sich auch mit sozialen Körpernormen auseinander. Diese eignen sie sich – mehr oder minder bewusst – praktisch und körperlich an und orientieren die eigenen Körper sowie die der anderen daran. In einer solchen Perspektive lassen sich Körperpraktiken als Praktiken der Subjektivierung diskutieren. Körper erscheinen in diesem Zusammenhang als probates Medium der Praktiken der Subjektivierung, welche folglich immer auch eine körperliche Dimension innehaben. Für eine systematische Ausarbeitung einer ‚Arbeit am Selbst‘ (im Sinne der Technologien des Selbst) scheint die Kategorie der Subjektivität oder der Subjektivierung geeignet. Subjektivierung ist in Anlehnung an Judith Butler und Michel Foucault als machtvoller Prozess sozialer Hervorbringung zu denken, mit dem Verständigungen über sich und das eigene Handeln einhergehen (vgl. Mayer, Thompson und Wimmer 2013, S. 8).373 In Anlehnung an Foucaults Begriff der Regierung (siehe Kapitel 1.3.) lassen sich Körperarbeiten als Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung zugleich perspektivieren. Zugespitzt formuliert ist die Aufforderung, die Verantwortung für den eigenen Körper zu übernehmen, Teil einer (post-) modernen Herrschaftsform, die anstelle des Zwangs auf Selbstführung basiert (vgl. Meuser 2017, S. 69; Villa 2008). Die Optimierung von Körpern ist in einer solchen Perspektive zu einer zentralen Aufgabe für die (neoliberalen) Subjekte geworden. Die permanente Kategorisierung, Überprüfung und Kontrolle von Körpern stellt eine Form von Selbstdisziplinierung dar. Körperbezogene Selbsttechnologien von Jugendlichen präsentieren sich somit als Ausdruck neuer Formen der Herrschaft, welche sich in einer individuellen Selbst-Beherrschung realisieren kann (vgl. Günther 2012, S. 120). Dabei werden auch in dieser spezifischen Lebensphase ökonomisch motivierte Normen wie Flexibilität oder Optimierung mittels des Körpers umgesetzt (vgl. Günther 2012, S. 120 bezugnehmend auf Lemke 2007). Körpertechnologien erscheinen in einer solchen Perspektive als Handlungen am und mit dem Körper. Sie lassen sich als zweckgerichtete und absichtsvolle Vorgänge deuten, die soziale Inklusion organisieren (vgl. Duttweiler 2004, S. 143).374

373

374

Anders als gegenwartsdiagnostische Sichtweisen, wie etwa die der Individualisierung, legen körpersoziologische Zugänge den Blick darauf frei, dass die ,Verinnerlichung‘ gesellschaftlicher Normen, wie Autonomie und Eigenverantwortlichkeit, konstitutiv für die Bildung von Subjektivität ist. In einer solchen Perspektive lässt sich Individualisierung als eine Form der Selbsttechnologie auslegen, in der Individuen Ausdruck und Produkt sozialer Logiken sind. Folglich wird die Form der Verinnerlichung sozialer Herrschaft in Techniken der Selbstführung als Ausdruck der Ökonomisierung des Sozialen – oder anders formuliert einer Neoliberalisierung der Gesellschaft interpretiert (vgl. Schmincke 2011, S. 147). In einer Studie untersucht Duttweiler (2003) Ratgeber, Gesundheitsmagazine, Präventionsprogramme, Fitness-Anweisungen, Packungsbeilagen entsprechender Angebote zur Körperpflege und Körpergesundheit in diskursanalytischer Perspektive. Sie rekonstruiert, dass und in welcher Weise da-

Körper (von Jugendlichen) als Produkt und Produzent

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Folglich können Praktiken von Jugendlichen mit und durch ihre Körper als ,Arbeit am Selbst‘ und darüber hinausgehend zugleich als Verkörperung sozialer Normen begriffen werden, die auf der sozialen Ebene Ein- und Ausschlüsse strukturieren. In einer solchen Sichtweise lassen sich ihre Beschäftigungen mit dem eigenen Körper als Norm und als Zwang beschreiben, mittels derer sie gesellschaftliche Teilhabe erlangen mögen.375 Dass Foucault Technologien des Selbst auch als Praktiken markiert, in denen und über die Einzelne sich selber sozial positionieren und darüber gesellschaftliche Disziplinarstrategien vom Einzelnen als eigener Wille und Wunsch gedeutet werden (vgl. Klein 2010, S. 466), lässt weiterführende Gedanken in Bezug auf Jugendliche zu. Soziale Praktiken, in denen sie ihre Körper einsetzen und in spezifischer Weise zu sehen geben, sind folglich als zentrale Techniken der Selbstpositionierung in den Blick zu nehmen. In diese gehen nicht nur individuelle Wünsche und Bedürfnisse ein. Sie leisten auch einen Beitrag zur sozialen Positionierung des Subjekts sowie zur mikrophysischen Verankerung von sozialen Werten und Normen (vgl. Klein 2010, S. 46). Die auf Körper bezogenen Normen wirken – das zeigt Foucault – nicht als Zwang. Sie werden verinnerlicht und gelten als eine eigenverantwortliche Entscheidung für das eigene Aussehen und das eigene Selbst (vgl. Schmincke 2011, S. 152). Die Unterwerfung unter soziale Normen scheint frei gewählt sowie als Mittel der Selbstermächtigung (vgl. Schmincke 2011, S. 152). Die genealogischen Arbeiten von Foucault zeigen indes auch, wie über Körper auf der symbolischen Ebene Ein- und Ausschlüsse verhandelt werden. Dies wird in einem späteren Part aufgegriffen. Körper, Jugend und die Macht der Geschlechternormen Dass Auseinandersetzungen mit einer sich verändernden Körperlichkeit und Sexualität im Jugendalter eine ,Aufgabe‘ für Jugendliche markiert, lässt sich adoleszenztheoretischen Positionen entnehmen (Kapitel 4.6.2.). Überdies werden Auseinandersetzungen mit Geschlecht und Sexualität in dieser Lebensphase virulent. Diesen Facetten wird sich nun unter Einnahme einer körpersoziologischen Perspektive zugewendet. So können auf Geschlecht bezogene Normen als Begrenzungen für Jugendliche

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rin verschiedene Wissensbestände miteinander verknüpft werden. Die Studie zeigt ferner, dass Körpertechnologien als Momente aktueller Machtformationen zu perspektivieren sind und diese dazu beitragen, dass soziale Teilhabe durch Selbstverantwortung, Freiheit und Wahl organisiert wird. Damit meint Foucault zum einen Disziplinierungsmaßnahmen, durch die Körper mittels medizinischer, psychologischer und pädagogischer Instrumente einem Normen- und Kontrollsystem angepasst werden sowie zum anderen Manipulationen am Körper durch beispielsweise Fitness- und Extremsportarten oder der Schönheitschirurgie (vgl. Günther 2012, S. 120).

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Jugend und Körper

kritisch diskutiert werden.376 Für eine poststrukturalistische Annäherung an die Gegenstände Körper und Geschlecht gelten die Arbeiten der US-amerikanischen Rechtsphilosophin Judith Butler als paradigmatisch (siehe auch Kapitel 1.4.). Sie bieten Perspektiven auf Konstruktionsweisen des Geschlechterkörpers, insbesondere auf die Verkörperung von Normen. Mitsamt misst sie regulierenden Schemata in Form von Normen, die in den Arbeiten von Bourdieu mit dem Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata des Habitus gefasst werden, eine hohe Bedeutung für die Konstruktion bestimmter Körper bei. Wie auch Foucault, so erkennt sie in diesen Schemata die Verkörperung einer Norm (vgl. Schmincke 2009, S. 127).377 In der (körperlich und leiblich fundierten) Aneignung von Geschlecht sind verschiedene Ebenen miteinander verwoben: Auf der Ebene der Sprache werden Normen explizit sowie in impliziter Weise (etwa über Verbote oder über die Anerkennung von Eigenschaften und Handlungsweisen) verbal vermittelt. Auf der Ebene des Handelns werden Normen interaktiv zur Darstellung gebracht und ausgelegt. Auf der Ebene des Leibes werden Normen als Botschaften vermittelt, welche sinnlich und emotional gefühlt werden, und sich als Spuren im Körper einschreiben können (vgl. Abraham 2011, S. 244). In geschlechtertheoretischer Lesart sind beispielsweise mediale Inszenierungen geschlechtlich markierter Körper kritisch in den Blick zu nehmen, da über sie körperbezogene ‚Normalitätskonzepte‘ praktiziert, propagiert und dabei bestimmte (hegemoniale) Bilder von Geschlechtlichkeit festgeschrieben werden. Viele in der (medialen) Öffentlichkeit kursierende Inszenierungen von Frauen- und Männerkörpern sind geschlechterstereotyp, sexualisiert und symbolisieren ein geschlechtliches und heterosexuelles Schönheitsideal, welches wiederum fest in sexuellen Geschlechtsidentitäten verankert ist (vgl. Gugutzer 2005). Dabei werden bestimmte ‚Normalitätskonzepte‘ von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie ein instrumentelles Selbstverhältnis vermittelt und sich gerade nicht an der faktischen Normalität von Frauenkörpern in ihrer irreduziblen Vielfalt orientiert, sondern vielmehr an phantasmischen Normen

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Eine Studie an einer Gesamtschule von Hackmann (2011) veranschaulicht, in welcher Weise gesellschaftliche Bilder von Geschlecht, von Weiblichkeit und Männlichkeit, von Homo- und Heterosexualität in Auseinandersetzungsprozessen von Mädchen angeeignet, verworfen oder umgearbeitet werden (vgl. Hackmann 2011, S. 11). Die Studie zeigt eindrücklich, auf welche Weise Mädchen die Phase der Adoleszenz – als Raum voller Geschlechter und Möglichkeiten – als Raum für Auseinandersetzungen mit den an die körperlichen Veränderungen gebundenen Gefühle, sexuellen Wünsche und Phantasien, sowie den gesellschaftlichen Angeboten zu ihrer Verarbeitung, insbesondere gesellschaftliche Weiblichkeitsbilder, nutzen können. Die Studie zeigt auch, dass diese individuellen Verarbeitungen in engem Zusammenhang mit Auseinandersetzungen mit dem kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit und der Norm der Heterosexualität stehen (vgl. Hackmann 2011, S. 11). Jedoch sind diese Schemata historisch revidierbare Kriterien der Intelligibilität und als solche Kriterien, die Körper produzieren und unterwerfen, die von Gewicht sind. Indes sind sie performativ. Im Vollzug bringen sie bestimmte – intelligible und ebenso die verworfenen, ausgeschlossenen, nichtintelligiblen – Körper hervor.

Körper (von Jugendlichen) als Produkt und Produzent

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eines geschlechtlichen Ideals (vgl. Villa 2008).378 Der adoleszente Körper steht somit im Fokus von (geschlechtsspezifischen) Normalisierungspraktiken; und gerade Jugendliche erleben diese mitunter zugespitzter und konfliktiver als Erwachsene. Der körpersoziologischen Perspektivierung zufolge sind Körperpraktiken nicht unabhängig von sozialen und kulturellen Deutungsmustern zu betrachten, die wiederum das leibliche Erleben des eigenen Körpers beeinflussen (vgl. Schmincke 2011). Die Arbeiten von Butler verdeutlichen, dass in den Praktiken von Jugendlichen Normen aufgerufen und sie im Hinblick auf die Frage der Anerkennbarkeit bedeutsam werden. Die Macht von (Geschlechter-) Normen besteht nun darin, dass sie bestimmte körperliche Seinsweisen ermöglicht, genauso wie sie andere ausschließt. Sie geben die definitorische Grenze für den Bereich des (körperlichen) Subjekts ab. Sie markieren Zonen des Intelligiblen, des sozial Anerkennungsfähigen, genauso wie sie das Verworfene hervorbringen, jene nicht lebbaren Zonen des sozialen Lebens, die das konstitutive und verwerfliche Außen darstellen. Was indes von den Grenzen des biologischen Geschlechts (durch die Macht von Geschlechternormen) eingeschlossen wird, was als intelligibel gilt, wird von einer stillschweigenden und verschleierten Ausschlussoperation gesetzt (vgl. Butler 1993, S. 35). Die Norm sortiert, sie formiert Bereiche des Ein- und Ausgeschlossenen, des Intelligiblen- und Nicht-Intelligiblen. Sie schafft Zonen der Bewohnbarkeit, genauso wie sie Zonen der Unbewohnbarkeit oder gar der gefürchteten Identitäten schafft. Die unterschiedlich gelagerten theoretischen Positionen, in denen die Bedeutung von Normen in Bezug auf die Körperlichkeit Jugendlicher in kritischer Weise diskutiert wird, lassen sich an dieser Stelle in Kürze bilanzieren: Die Verinnerlichung sozialer, in diesem Falle ästhetischer Normen, lässt sich als Inkorporation und Habitualisierung thematisieren und darüber hinaus als Form symbolischer Herrschaft beschreiben. Weiterhin wirken Normen nicht als Zwang, denn indem sie verinnerlicht werden, gelten sie als selbstverantwortete Entscheidung für das eigene Aussehen und das eigene Selbst. Darin zeigt sich jedoch eine Ambivalenz von Selbstermächtigung und Unterwerfung. Nicht zuletzt lassen sich Geschlechternormen als eine spezifische Begrenzung von Daseinsmöglichkeiten lesen, da sie Jugendliche als Mädchen oder als Frauen, als Jungen oder als Männer ansprechen, sie zur der Entfaltung einer bestimmten Seinsweise nötigen und dabei andere Möglichkeiten ausschließen oder sozial nicht lebbar machen (vgl. Abraham 2011, S. 242). Einem so gefassten Verständnis folgend

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Die geschlechtsbezogenen Optimierungs- und Ästhetisierungsbestrebungen des Körpers betreffen zwar zunehmend auch junge heranwachsende Männer, dennoch sind derzeit Frauenkörper bevorzugte Arenen der medialen Inszenierung sowie der alltagsweltlichen Aushandlung sozialer Normen (vgl. Hark und Villa 2010).

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Jugend und Körper

wäre der Frage nachzugehen, inwiefern Jugendliche darauf angewiesen sind, den jeweiligen Normen – Körper-Normen – zu entsprechen um (als Subjekte) anerkannt zu werden. Eine kritische Betrachtung der Macht von Körpernormen ist gerade für die Perspektivierung von Jugendlichen bedeutungsvoll, da sie zu den Adressat*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zählen. Die Problemsignatur dieses Handlungsfeldes Sozialer Arbeit besteht mitunter darin, die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung zu gewährleisten und diese ebenso gegen gesellschaftliche Vereinnahmungen und Normalisierungen zu verteidigen (vgl. Mayer, Thompson und Wimmer 2013). Normative Körperordnungen und -präsenzen sowie damit verbundene Souveränitäts- und Anerkennungsvorstellungen verunsichern nicht nur die Vielfalt von Körper- und Selbstbildern sowie Körperverhältnissen von Jugendlichen, sie begrenzen sie auch. Die Eingrenzung der vielfältigen Möglichkeiten körperlichen Seins bietet nicht nur einer macht- und herrschaftskritischen Sozialen Arbeit Anschlussmöglichkeiten, sondern auch dem Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Anschließend an Butler könnte es vordergründig sein, den Körper für andere Wahrnehmungen und Verwendungen zu öffnen (vgl. Villa 2011, S. 184) und ihn so zu einem gelebten Ort sich kulturell erweiternder Möglichkeiten zu markieren (vgl. Butler 1993). Das gilt insbesondere für diejenigen körperlichen Seinsweisen, die als nicht intelligible Körper die ,Zonen der gefürchteten Identitäten‘ bewohnen. Nebst dieser herrschaftskritisch ausgerichteten Diskussion von Körpernormen lässt sich jedoch festhalten, dass Körper in der Lebensphase der Jugend eine zunehmende und besondere Thematisierung erfahren. Zugehörigkeit und Positionierung gelten als bedeutungsvolle Herausforderungen der Lebensphase. Wie dem 15. Kinder- und Jugendbericht zu entnehmen ist, gilt die soziale Positionierung als eine wesentliche Herausforderung des Jugendalters und innerhalb dieser tritt immer auch der Körper in Erscheinung. Körper stellen in der Lebensphase Jugend nicht lediglich eine persönliche, sondern eine ganz fundamentale und höchst soziale Angelegenheit dar. Somit rückt die Sozialität des Körpers zunehmend in den Vordergrund. Um soziale Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Kontexten herzustellen, um also als zugehörig eingeschlossen zu werden, bearbeiten Jugendliche ihre Körper. Sie setzen sie zudem auf vielfältige Arten und Weisen ein, um sich sozial zu positionieren. Mithin stehen Jugendlichen unterschiedliche symbolische und materiale Ressourcen der Bearbeitung ihrer Körper zur Verfügung. Es ist daher zwingend notwendig, die materiellen Grundlagen von Praktiken und Positionierungen zu berücksichtigen. Für die Ebene der Praktiken lässt sich bündeln, dass Jugendliche ihre Körper in vielfältigen Weisen einsetzen, um sich sozial zu positionieren und auf diese Weise auf dieser Ebene Ein- und Ausschlüsse verhandelt werden. Jedoch fließen in jene Praktiken

Körper (von Jugendlichen) als Produkt und Produzent

239

auch körperbezogene Unterscheidungen ein, die der Körper repräsentiert. Eine kritische Betrachtung der Positionierungen von Jugendlichen ermöglicht demnach Einblicke in bestehende gesellschaftliche Ordnungen. 4.7.3

Zugehörigkeit und Positionierung in der Lebensphase Jugend

Den folgenden Ausführungen ist die Annahme unterlegen, dass Körper von sozialen Verhältnissen geprägt werden. Sie repräsentieren Soziales und folglich soziale Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Sie treten als vergeschlechtlichte, ethnisierte, klassenspezifische, von Alter gezeichnete, prekäre Körper in Erscheinung. Demnach gelten Körper von Jugendlichen als sichtbarer Ausdruck sozialer Differenz, über die soziale Ein- und Ausschließung erfolgt (vgl. Klein 2010, S. 467). Zugehörigkeiten in der Lebensphase Jugend Im konkreten Tun verkörpern Jugendliche immer auch soziale Unterscheidungsprinzipien und somit auch ihre soziale Position sowie Zugehörigkeit/en zu sozialen Gruppen, insofern ihre ,körpergebundenen Zeichen‘ gelesen werden.379 Ihre Körper erscheinen als Träger von kulturell erzeugten und sozial vermittelten Einschreibungen und Unterscheidungen. Oftmals fungieren insbesondere körperliche Unterschiede als Anhaltspunkt für soziale – mitunter folgenreiche – Unterscheidungen und Zuschreibungen in Interaktionen mit Gleichaltrigen im Alltag von Jugendlichen. Die sich am Körper materialisierenden sozialen Ordnungskategorien – wie sich der Prozess der Materialisierung vollzieht, zeigen die Ausführungen zu Butler (Kapitel 1.4.) – strukturieren zum einen die alltägliche Lebensgestaltung der Jugendlichen sowie ihre Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe (vgl. Liebsch 2012). In einer solchen Perspektive fungieren soziale Unterscheidungen als Ordnungskategorien und diese als Grundlage der Organisation des Sozialen im Kontext der Lebenssituationen von Jugendlichen. Diesen Unterscheidungen sind Normen inhärent, die in alltäglichen Praktiken auf verschiedene Weise wirkmächtig werden. Somit kommen in sozialen Praktiken zugrunde liegende soziale Ordnungsmuster zum Tragen. Unterscheidungskategorien sind dabei für die Seinsordnung einer Gesellschaft relevant: Sie regulieren den Zugang zu Ressourcen und bestimmen auch, wie jemand leben muss um aner-

379

Im Zusammenhang mit Aushandlungen von Zugehörigkeit ist die Bedeutung des Körpers ganz zentral. Zugehörigkeit wird indes an bestimmten körperlichen Merkmalen festgemacht. Zugleich werden Kriterien der Zugehörigkeit ausgehandelt. Soziale Zugehörigkeiten und soziale Ausgrenzung sind umso stabiler und akzeptierter, je stärker sie als natürlich erscheinen. Dass sozial konstruierte Körper über Körper Naturalisierungen erfahren und dass gerade dies als ein wesentlicher Mechanismus der Verschleierung sozialer Macht- und Herrschaftsverhältnisse fungiert, ist eine Sichtweise die der Rückgriff auf die Arbeiten von Bourdieu ermöglicht. Soziale Zuschreibungsprozesse setzen im (jugendpädagogischen) Alltag an Körpern an. Als solche markieren diese Unterscheidungs- und Ordnungskategorien, Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen, Einteilungen und Unterscheidungen. Sie fungieren überdies als Ordnungs- und Strukturierungsprinzipien des Sozialen.

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Jugend und Körper

kennbar zu sein (vgl. Machold 2015). Ferner machen sich Jugendliche im Alltag aufgrund körperbezogener Unterscheidungen auch für die Erfüllung spezifischer Normen verantwortlich. Diese Normen sind den Körpern nicht äußerlich oder gar vorgängig (vgl. Schmincke 2011, S. 145), sondern sie schreiben sich in Körper ein und leiten die Wahrnehmungen und Bewertungen. Normen beeinflussen die Wahrnehmungsweisen und auch die Wahrnehmbarkeit von Körpern. Dabei werden bestimmte Körper und Körperpraktiken als ,legitim‘, als ,nicht-legitim‘, als ,anerkennungsfähig‘/,nicht-anerkennungsfähig‘ markiert und dabei das ‚Andere‘ ausgeschlossen und dem Bereich des ,Nicht-Normalen‘ zugeordnet. Die Wirkmächtigkeit von Normen lässt sich auch mit Auseinandersetzungen um Ethnizität verknüpfen. Einem so gefassten Verständnis zufolge bestimmen Normen, was als ein ,natio-ethno-kulturell‘ markierter Körper wahrgenommen wird. Diese Perspektiven auf die Verhältnishaftigkeit von Körpern und Normen kann somit auch mit der Kategorie Ethnizität in Verbindung gebracht werden. Normen, Konventionen und Diskurse, die bestimmen, was unter Kultur, Nation und Ethnizität verstanden und in performativen sozialen Praxen zitiert und aufgeführt werden soll, haben sich historisch sedimentiert und in Körpern habitualisiert. 380 Sie bringen Unterscheidungen zwischen natio-ethno-kulturell intelligiblen und nicht-intelligiblen Körpern hervor (vgl. Machold 2015, S. 75). Die Arbeit ist vom Anspruch getragen, Unterscheidungen wie Geschlecht oder ,Rasse‘ – die immer auch mit körperlichen Aspekten gekoppelt sind, an Körpern gelesen und als körperliche Natur ontologisiert werden – nicht als Körpern inhärente Eigentlichkeiten auszulegen (vgl. Hark und Villa 2017, S. 15), sondern diese als sozial hergestellt und immer wieder sozial bedeutungsvoll werdend in den Blick zu nehmen. Sie fungieren als Ordnungen und Unterscheidungen. An eine solche Perspektive lässt sich anknüpfen und in Bezug auf Jugendliche festhalten: Im Alltag von Jugendlichen 380

Vorstellungen von sowie Wissen über Kultur, Nation und Ethnizität sind in diffuser Weise miteinander verknüpft und überdies gleichzeitig als ,Wir‘- Einheiten strukturiert, die auf Phantasieren basieren (vgl. Machold 2015). Insofern machen sie keine Wesenshaftigkeit von zum Beispiel als nicht-deutsch positionierten Individuen aus, sondern zeigen lediglich Vorstellungen, Ideen und Glauben über ihre Wesenshaftigkeit an (vgl. Machold 2015, S. 75). Folglich sind es Imaginationen und Fantasien, die die Wirkmächtigkeit – etwa im Hinblick darauf, weniger Rechte zu haben, hervorbringen und legitimieren (vgl. Machold 2015, S. 75). Die Unterscheidungen, auf denen diese basieren, sind machtvoll und mit der Legitimation von Herrschaft verbunden. Dies wird deutlicher, wenn man eine rassismuskritische Perspektive anlegt. In den Blick kommen dann nicht nur Unterscheidungen, welche explizit zwischen einem rassialisierten Wir (,weiß‘) und nicht-Wir (,schwarz‘) unterscheiden, und so auf Rassevorstellungen zurückgreifen. Auch natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit kann so selber als rassismusrelevant verstanden werden. Sie wirkt fort als Teil eines gesellschaftlich wirksamen Macht- und Herrschaftsverhältnisses, welches als Strukturkategorie sowohl den Zugang zu Ressourcen über Ethnizität und ,Rasse‘ reguliert als auch subjektiviert (vgl. Melter und Mecheril 2009). So wirkt die Idee von ,Rasse‘ unter einem anderen Namen, wie etwa Kultur, fort (vgl. Machold 2015, S. 75-76, bezugnehmend auf Balibar 1990).

Körper (von Jugendlichen) als Produkt und Produzent

241

werden Körper sowie bestimmte körperliche Erscheinungen, Merkmale oder Zeichen bedeutungsvoll. Dies bezieht sich zum einen auf gesellschaftliche Kategorien wie Alter, Geschlecht, Migration, soziale Klasse, Behinderung, genauso wie auf gesellschaftliche Normen, die etwa in Bezeichnungen wie Ansehnlichkeit, Begehren, Sportlichkeit, Reinheit oder Geschlechtlichkeit eingebettet sind. Diese Kategorien durchziehen die meisten Konstruktionen sozialer Gruppen, sie strukturieren die Wahrnehmungs- und Bewertungsweisen, genauso wie die soziale Praxis. Dabei wird insbesondere an Körpern klassifiziert und zugeschrieben. Da Körper sozial hergestellt und machtvoll aufgeladen sind, werden sie symbolisch bedeutsam. Eingedenk eines Verständnisses von symbolischer Ausschließung, das diese auf der Ebene der Bedeutungen verortet, ist auf eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik nicht zu verzichten. Auf diese Weise lassen sich etwa Klassifizierungen und Normen als symbolisch vermittelte Dimension der Reproduktion sozialer Ungleichheit im Kontext der Lebenslagen von Jugendlichen diskutieren. Die Macht der Unterscheidungen in der Lebensphase Jugend Dass Klassifikationen eine ganz besonders machtvolle Ordnungsfunktion inne haben, wird in den folgenden Überlegungen diskutiert. Im Sinne von Bezeichnungen fungieren sie wie eine Art Platzanweiser; insofern wirken sie positionierend. Auf der Ebene des Symbolischen sind sie verwoben mit der Einordnung in bestehende Machtstrukturen; sie entfalten zugleich auf der Ebene der Praktiken ihre Wirksamkeit. Somit lässt sich auch für diese Perspektive festhalten, dass die auf Körper basierenden Einordnungen im Alltag von Jugendlichen als Positionierungen in bestehenden soziosymbolischen Ordnungen gelesen werden können. Klassifikationen markieren ferner soziale Zugehörigkeiten. Sie definieren die Zusammensetzung von Gruppen, sie schreiben Individuen Mitgliedschaften zu und subjektivieren sie in spezifischen kulturellen Kategorien (vgl. Hirschauer 2014, S. 170).381 Wie Bourdieu zeigt, gelten Klassifikationen als verinnerlichte soziale Teilungsprinzipien, die aufgrund ihrer Naturalisierung verschleiert sind. Sie sind machtvoll und wirken positionierend. Sie werden in körperlichen Routinen als Normen reproduziert. In einer solchen Perspektive lässt sich der Blick darauf legen, dass Klassifikationen (insbesondere jene, die an Körpern ansetzen) als symbolische Gewalt zu perspektivieren und negative Klassifikationen als stigmatisierendes Element der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit im Alltag von Jugendlichen zu betrachten sind (vgl. 381

Eingedenk der in Kapitel 2 präsentierten Erkenntnisse der Intersektionalität lässt sich davon ausgehen, dass soziale Kategorien (auf verschiedenen Ebenen) zusammenwirken. Die Verschränkung von Unterscheidungskategorien wird in besonderer Weise am Körper sichtbar. Der Blick auf nur je eine Dimension reicht also nicht aus, wenn es um das Verständnis der kollektiven wie individuellen Ausprägungen sozialer Ungleichheit geht. Der Status einer Person im Rahmen der Sozialordnung und somit die Zugehörigkeit, ergibt sich nicht aus einer einzigen Dimension, sondern aus einer Vielzahl von Verortungen und Zugehörigkeiten und Ausschlüssen.

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Jugend und Körper

Neckel und Soeffner 2008). Dieser Sichtweise folgend sind negative Klassifikationen als stigmatisierendes Elemente der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit im Kontext sozialer Praktiken von Jugendlichen zu verstehen. 382 Alltägliche Interaktionen von Jugendlichen geraten so als Bewertungskämpfe in den Blick, in denen die jeweiligen Akteur*innen ihre soziale Stellung zum Ausdruck bringen. In diese Bewertungskämpfe fließen Normen ein, die entlang der Dichotomie ,normal‘ und ,davonabweichend‘ organisiert sind. Im Anschluss an diskurstheoretische Perspektiven von Butler und Foucault haben Normen eine symbolische (und auch eine soziale) Bedeutung. Sie zeigen sich auf der Ebene der alltäglichen Bewertungen zwischen Jugendlichen und beziehen sich auf dahinter stehende normative Rahmen. Ihre Bezeichnungen sind machtvoll. Sie sind semantisch ungleich codiert und bringen Hierarchie und Ungleichheit zum Ausdruck.383 Ob Jugendliche in konkreten Kontexten spezifische Normen erfüllen, entscheidet darüber, ob sie als zugehörig eingeschlossen oder als nicht-zugehörig ausgeschlossen werden. Indem Normen entsprechend auf Körper angewendet und in alltäglichen Praktiken von Jugendlichen zum Tragen kommen, werden sie nicht nur stabilisiert, sondern es werden auch Verhältnisse von normal und davon abweichend hergestellt und entlang dieser Dichotomisierung werden Ein- und Ausschlüsse verhandelt.384 Diese Erkenntnisse lassen sich für die vorliegende Arbeit fokussieren: Im Alltag von Jugendlichen wird der Körper in unterschiedlichen Arten und Weisen zur Darstellung gebracht werden. Dabei setzen Jugendliche ihre Körper ein, um Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen oder Kontexten herzustellen. Dazu stehen ihnen unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung. Nicht selten ist dabei der passende Einsatz des Körpers ausschlaggebend, ob Zugehörigkeit ermöglicht oder eben verwehrt wird. Zugleich ist es auch das soziale Profil des Körpers, das maßgeblich über die Möglichkeit der Zugehörigkeit entscheidet. Den Unterscheidungen innerhalb alltäglicher

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In der Sozialstruktur ist somit nicht lediglich eine Verteilungsordnung materieller Güter repräsentiert, sondern zugleich ein gesellschaftliches System von Klassifikationen, welches auf die materiellen und kulturellen Aneignungschancen sozialer Gruppen rückwirkt (vgl. Neckel und Soeffner 2008). Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass – indem Körper bedeutet werden – Kriterien der (Positionierung) von situativer Zugehörigkeit ausgehandelt werden. Dass die Verhandlungen von Bedeutung (von Körpern) machtvoll und positionierend sind, indem sie über die situative Praktik im Alltag hinaus gehen, verweist auf die soziale Dimension. Anschließend an die Arbeiten von Butler lässt sich auch eine theoretische Perspektive einnehmen, in welcher Weise Körper in performativen Akten mit Bedeutungen versehen werden und diese sich an ihm materialisieren. Sie zeigen überdies auch, dass Normen bestimmte körperliche Seinsweisen ermöglichen, genauso wie sie andere ausschließen. Dass dem Subjekt somit eine Position im Diskurs zugewiesen wird zeigt, dass über Normen Positionierungen erfolgen. Die Arbeiten von Foucault lassen erkennbar werden, dass – indem bestimmte Gruppen Deutungsmacht gewinnen – über Klassifizierungen Bedeutungen ausgehandelt und als gültig anerkannt werden.

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

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Praktiken von Jugendlichen in ,Wir‘/,Andere‘ und somit in ,zugehörig‘/,nicht-zugehörig‘ sind spezifische Normen und Klassifikationen unterlegen. Die Wirkmächtigkeit von Normen – die Körper unterwerfen und hervorbringen – besteht indes darin, dass sie Bereiche des Intelligiblen und des Nicht-Intelligiblen formieren. Innerhalb dieser Bereiche werden Einzelne oder Gruppen als zugehörig eingeschlossen oder als nicht-zugehörig ausgeschlossen. So werden Jugendliche aufgrund der Sichtbarkeit ihrer Körper (Körperzeichen und Körperpraktiken) wahrgenommen, klassifiziert und sie dann einer sozialen Gruppe als (nicht-) zugehörig positioniert. Daran anschließend lässt sich weiterführen, dass, insofern Jugendliche Zugehörigkeit über Körper aushandeln, ihre Körper an symbolischen Grenzziehungen beteiligt sind. Diese markieren und formieren ein ,Innen‘ und ,Außen‘ der Gemeinschaften. Sie formieren sich so als imaginierte Gemeinschaft. Damit eröffnet sich zugleich die Frage, wer als ,legitimer‘ Körper des so konstituierten Innenraums einer imaginierten Gemeinschaft wahrgenommen wird und wer darin als zugehörig positioniert gilt bzw. wer ein- und wer ausgeschlossen wird und wer darin fremd und marginal bleibt (vgl. Reuter 2015). Zugehörigkeiten sind immer auch Gegenstand von Aushandlungsprozessen, in denen körperliche Merkmale bedeutungsvoll werden. Folglich lassen Ein- und Ausschließungen sich als (körperliche) Dimension der Reproduktion sozialer Ungleichheit in den Blick nehmen. In welcher Weise sich diese Facetten für den jugendpädagogischen Alltag beanspruchen lassen, bildet Inhalt des empirischen Parts der Arbeit. Vorab werden erneut die Erkenntnisse des Kapitels in prägnanter Weise bilanziert. 4.8

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

Das Kapitel führte durch ein recht breites Feld theoretischer Ansätze. Im ersten Abschnitt wurde sich dem Themenkomplex Jugend unter Berücksichtigung verschiedener disziplinärer Perspektiven zugewendet. Nachdem Themen und Herausforderungen der Jugend diskutiert wurden, galt es den Blick auf Jugendliche im Kontext von sozialer Ungleichheit und Ausschließung zu legen. Da die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper in der Lebensphase Jugend besonders virulent wird und der Körper eine eher vernachlässigte Dimension der Jugendforschung darstellt, wurde der Fokus des Kapitels auf das Verhältnis von Jugend und Körper ausgerichtet. Auch in diesem Teil wurden unterschiedliche theoretische Diskurse zusammengeführt. Da die Körpersoziologie den zentralen theoretischen Bezugsrahmen der Studie bildet, wurden Theorien zu Jugend und Körper in einem weiteren Teil des Kapitels mit körpersoziologischen Annahmen flankiert. Diese ermöglichen Praktiken von Jugendlichen als Praktiken zu perspektivieren, in denen der Körper als Kapital zum Einsatz kommt, das Distinktionsgewinne verspricht. Die Verinnerlichung ästhetischer Normen, die in Praktiken einfließen, kann dabei als Inkorporation und Habitualisierung thematisiert werden. Ergänzend wurden die Sichtweisen von Foucault herangezogen und Körperpraktiken von Jugendlichen als ,Technologien des Selbst‘ diskutiert, die von einer Paradoxie der Selbstermächtigung und Unterwerfung gekennzeichnet sind.

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Jugend und Körper

Es wurde auch herausgestellt, dass diese als Praktiken sozialer Positionierung, in denen Normen wirkmächtig werden, diskutierbar sind. Dass in Praktiken von Jugendlichen Normen aufgerufen und bedeutsam werden und diese sich als Begrenzungen von Daseinsmöglichkeiten kritisch in den Blick nehmen lassen, wurde unter Berücksichtigung der Arbeiten von Judith Butler erörtert. Weiterführend wurden Körper von Jugendlichen an der körpersoziologischen Systematisierung des Körpers als Produkt und Produzent orientiert. Sodann konnten Verkörperungen in der Lebensphase Jugend unter den Aspekten Klassifizierung, Positionierung und Zugehörigkeit beleuchtet werden. Dafür gilt die körpersoziologische Einsicht grundlegend, dass Körper nicht in Naturform in Erscheinung treten, sondern von sozialen Verhältnissen geprägt werden, genauso wie sie an deren Hervorbringung beteiligt sind. In welcher Weise über den Körper Ein- und Ausschließung verhandelt werden, wird sodann anhand von konkreten Menschen an einem konkreten (pädagogischen) Ort empirisch in den Blick genommen. Hier stellt sich als zu untersuchender Raum das Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit vor. Dies gilt zum einen als sozialpädagogisch professionelles Tätigkeitsfeld, zum anderen als ein Ort, an dem sich ein großer Teil des alltäglichen Lebens vieler Jugendlicher abspielt.

5

Die Offene Kinder- und Jugendarbeit

Konturen eines (sozial) pädagogischen Arbeits- und Handlungsfeldes Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die Auseinandersetzung mit dem Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Damit wird auch das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe theoretisch fundiert. Im ersten Teil wird in gebotener Kürze in die Kinder- und Jugendhilfe eingeführt. Daran anschließend wird der Fokus auf die Offene Kinder- und Jugendarbeit als ein wesentliches Handlungsfeld dieser gerichtet. Sodann werden typische Merkmale und ihre rechtlichen Grundlagen erörtert. Ergänzend werden institutionelle Charakteristika und Arbeitsprinzipien präsentiert. Als theoretische Konzepte werden die Sozialraumorientierung und die Subjektbildung diskutiert und bezugnehmend auf diese wird die Offene Kinder- und Jugendarbeit als Ort non-formaler Bildung in den Blick genommen. In diesem Zusammenhang wird in prägnanter Weise auf körpertheoretische Anschlussperspektiven aufmerksam gemacht. Abschließend wird zum einen die Frage nach sozialer Ungleichheit aufgeworfen, zum anderen der Körper als Leerstelle im Kontext der Theorie und Empirie der Offenen Kinder- und Jugendarbeit herausgestellt. Ein resümierendes Zwischenfazit dient der Bilanzierung der erarbeiteten Erkenntnisse. 5.1

Die Kinder- und Jugendhilfe

Die Kinder- und Jugendhilfe gilt als ein ganz zentraler Bestandteil der sozialen Infrastruktur des deutschen Wohlfahrtsstaates. Sie hat sich im Kontext der Sozialstaatsentwicklung des 20. Jahrhunderts etabliert (vgl. Schröer, Struck und Wolff 2016, S. 1112). Die Kinder- und Jugendhilfe ist institutionalisiert,rechtlich verankert und stellt ein selbstständiges Kernsegment der sozialen Vergesellschaftung und Sicherung von Kindheit und Jugend in Deutschland dar (vgl. Schröer, Struck, Wolff 2016, S. 12).385 Seit den 1990er Jahren regelt das Achte Sozialgesetzbuch (SGB VIII) die Leistungen und Aufgaben (Struck und Schroer 2011, S. 734). Mitsamt pointiert Böllert (2018): „Die Kinder- und Jugendhilfe ist die soziale Infrastruktur des Aufwachsens junger Menschen und der Unterstützung ihrer Familien, die sozialstaatlich regulierte Angebote der Betreuung, Erziehung und Bildung sowie des Schutzes, der Förderung und Beteiligung beinhaltet, mit dem Ziel der individuellen Befähigung zur Entwicklung selbstbestimmter Lebensentwürfe und gemeinwohlorientierter Lebenspraxen sowie der strukturellen Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe als Ausdruck der Wahrnehmung einer öffentlichen Verantwortung für gleichberechtigte Lebenschancen und den Abbau sozialer Ungleichheiten“ (Böllert 2018, S. 4). Dem Zitat lässt sich entnehmen, dass die Kinder- und Jugendhilfe sehr 385

Dass Kinder- und Jugendhilfe auch als Wohlfahrtserbringung dimensionalisiert werden kann, darauf verweist Böllert (2016).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. B. Burghard, Körper und Soziale Ungleichheit, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 19, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31200-8_6

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Die Offene Kinder- und Jugendarbeit

komplex und vielfältig aufgestellt ist (insgesamt im Überblick zur Kinder- und Jugendhilfe Böllert 2018; Schröer und Struck 201; Schröer, Struck und Wolff 2016; Bock 2012). Böllert (2018) stellt heraus, dass die Kinder- und Jugendhilfe in den letzten Jahren eine enorme und dynamische Entwicklung durchlaufen, und diese sich im Hinblick auf die Adressat*innen, die Anzahl der Beschäftigten sowie die Angebote erheblich ausdifferenziert hat (vgl. Böllert 2018, S. 4). Die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe sind durch die zentrale Verantwortung des öffentlichen Trägers auf kommunaler Ebene zu verorten. Zugleich sind Bund und Länder (dazu zählen Gesetzgebung, modellhafte Förderung und fachliche Anregung) sowie zweigliedrige Fachbehörden auf Landes- und kommunaler Ebene (Verwaltung und Jugendhilfeausschuss) für sie zuständig (vgl. Böllert 2018, S. 6). Nicht zuletzt „ist für die Jugendhilfe ein Neben-, In- und Miteinander von beruflich und professionell sowie ehrenamtlich organisierten Angeboten und Hilfen typisch“ (Böllert 2018, S. 6). Die Kinder- und Jugendhilfe zeichnet sich ferner durch ein breites Leistungsspektrum von Angeboten aus, welche auf die allgemeine Förderung, die Ermöglichung von Selbstorganisation junger Menschen und die Partizipation von Adressat*innen sowie auf familienunterstützende, familienergänzende und familienersetzende Leistungen zielen. Vor dem Hintergrund der Wahrnehmung des staatlichen ,Wächteramtes‘ zur Sicherung des Kindeswohls gibt es überdies Angebote im Rahmen stationärer, teilstationärer und ambulanter Bereiche (vgl. Böllert 2018, S. 6). Die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe sind vielfältig. Sie lassen sich differenzieren in Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, Angebote der Förderung der Jugendverbände, der Jugendsozialarbeit, des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes sowie den Bereich der Förderung der Erziehung in der Familie (vgl. Böllert 2016, S. 6). Die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen sowie der gesamte Komplex der Hilfen zur Erziehung sind ebenso dazu zu zählen (vgl. weiterführend und grundlegend Böllert 2018, S. 6). Gegenwärtig umfasst die Kinder- und Jugendhilfe ausdifferenzierte Programme, Angebote, Interventionsstrategien und soziale Unterstützungspolitiken. Diese beziehen sich indes nicht nur auf Kinder und Jugendliche in Krisensituationen oder in sozial vernachlässigten Lebenslagen oder auf das staatliche ,Wächteramt‘; vielmehr ist davon auszugehen, dass sie eine elementare Sozialisationsinstanz darstellt, die Kindheit und Jugend in der Gesellschaft sozialpädagogisch mitgestaltet (vgl. Schröer, Struck, Wolff 2016, S. 12). So führen die Autor*innen aus, dass „[F]ast jedes Kind oder jeder und jede Jugendliche in unserer Gesellschaft hat mit Einrichtungen oder Programmen der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur Kontakt gehabt, sondern sie mitunter als selbstverständlich erlebt“ (vgl. Schröer, Struck und Wolff 2016, S. 12). Die Kinderund Jugendhilfe unterliegt nicht nur institutionellen und rechtlichen Rahmenbedin-

Die Kinder- und Jugendhilfe

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gungen, sie differenziert sich ferner in vielfältige Handlungsfelder aus. Angesichts pädagogischer und sozialer Herausforderungen werden innerhalb dieser immer wieder neue pädagogische und soziale Ansätze und entsprechende Handlungsformen entwickelt (vgl. Schröer, Struck und Wolff 2016, S. 12).386 Mitsamt ist die Kinder- und Jugendhilfe ein Leistungsangebot für alle jungen Menschen und ihre Familien geworden. Böllert (2018) zufolge hat sie sich normalisiert, indem sie immer mehr zu einem selbstverständlichen Bestandteil einer sozialen und öffentlich gewährleisteten Infrastruktur geworden ist (vgl. Böllert 2018, S. 19). Im Zuge dessen haben Aspekte der allgemeinen Förderung einen eindeutigen Vorrang gegenüber dem Primat sozialer Kontrolle erhalten (vgl. Böllert 2018, S. 19). Damit hat sich – so Böllert (2018) – ebenso der fachliche Anspruch der Kinder- und Jugendhilfe grundlegend verändert, denn es geht vornehmlich darum, Aufgaben im Allgemeinen sowie den Schutzauftrag im Besonderen mit partizipativen Mitteln wahrzunehmen (vgl. ebd. 2018, S. 19). Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Bildungsdebatte wurde der Bildungsauftrag der Kinder- und Jugendhilfe konkretisiert und als eine ihr fundamentale Dimension (neu) herausgestellt. Der Bildungsauftrag besteht laut Böllert (2018) in der Befähigung zu einer befriedigenden und verantwortungsvollen Lebensgestaltung (vgl. Böllert 2018, S. 20). Dabei wurde auch diskutiert und in besonderer Weise berücksichtigt, dass Bildung insbesondere in non-formalen und informellen, von der Kinder- und Jugendhilfe gestalteten settings, stattfindet. Im Hinblick auf die Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe gilt es vordergründig danach zu fragen, wie Personen zu Adressat*innen gemacht werden. Diese Zugehensweise markiert eine Perspektive, in der berücksichtigt wird, dass Personen erst dadurch zu Adressat*innen werden, indem bestimmte ,Probleme‘ oder Lebensphasen, denen typische Mängellagen beziehungsweise erhöhte Zuwendungsnotwendigkeit zugeschrieben werden, Aufmerksamkeit ,erfordern‘, ein Intervenieren ,notwendig‘ machen oder sie als ,bearbeitungsbedürftig‘ definiert werden (vgl. Bitzan und Bolay 2013, S.42-43). In einer solchen Perspektive werden Personen dann zu Adressat*innen, wenn in allgemeiner Form oder individuell ein Bildungs-, Erziehungs- oder Hilfebedarf konstatiert oder der Bedarf an spezifischer Ansprache formuliert wird und sie dadurch in das institutionelle Feld Sozialer Arbeit gelangen (vgl. Burghard

386

Mitsamt ist ihre Weiterentwicklung jedoch als eine immer wieder neu aufbrechende sozialhistorische Aufgabe bewusst zu halten (vgl. Schröer, Struck und Wolff 2016, S. 11-12).

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Die Offene Kinder- und Jugendarbeit

i.E.).387 Folglich sind auch Konstitutionsprozesse von Adressat*innen kritisch in den Blick zu nehmen (vgl. dazu etwa Böllert und Burghard i.E.).388 Zwar ließen sich an dieser Stelle etliche Herausforderungen, die die Kinder- und Jugendhilfe aufgreift (dazu grundlegend und vertiefend Böllert (2018) platzieren und diskutieren, jedoch wird hier lediglich der Aspekt der Partizipation herausgegriffen. Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe zielen darauf ab, die Handlungsfähigkeit von Adressat*innen zu stärken und einer Verfestigung von Problemlagen frühzeitig entgegen zu wirken (vgl. Böllert 2018, S. 48). Böllert (2018) zufolge gilt dies als eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Adressat*innen sich als handlungsfähig und wirkmächtig erfahren. Damit schließt die Kinder- und Jugendhilfe an den Begriff der Partizipation an. Dieser gilt als Ausdruck von Menschen- und Kinderrechten, der es verlangt, jungen Menschen sowie Erwachsenen als Subjekten zu begegnen. Partizipation gilt folglich als das wichtigste pädagogische Mittel zum Erreichen nachhaltiger Lösungen sowie der Übernahme von Eigenverantwortung (vgl. Böllert 2018, S. 48). Ein Handlungsfeld, in dem diese Kerngedanken Berücksichtigung finden, bietet die Offenen Kinder- und Jugendarbeit an. Auf eine prägnante Darstellung dieses pädagogisch-professionellen Bereichs heben die im Folgenden präsentierten Ausführungen ab. 5.2

Offene Kinder- und Jugendarbeit

Die Kinder- und Jugendarbeit ist das dritte große Feld der Kinder- und Jugendhilfe (insgesamt im Überblick zur (Offenen) Kinder- und Jugendarbeit vgl. Thole 2000; Deinet und Sturzenhecker 2013; Sturzenhecker und Deinet 2018; Deinet, Nörber und Sturzenhecker 2016). Es wird neben Kindertageseinrichtungen und Erzieherischen 387

388

Dass institutionelle Kontexte als Erzeugungszusammenhänge der Interessen von Adressat*innen von Bedeutung sind, insofern sie sich im Zusammenspiel der institutionellen Bearbeitung ergeben, markieren Kessl und Klein (2010). Die somit institutionelle Erzeugtheit des Adressat*innenstatus sowie die institutionell fixierte Asymmetrie zwischen der Position der Fachkräfte, der Trägerorganisation und eine der Nutzer* in sind dabei als machtförmig strukturierte, ambivalente Konstellationen in den Blick zu nehmen, die beispielsweise in spezifischer Weise für Formen von Missachtung und Beschämung präformiert sind. Dabei sind Bedarfe als gesellschaftliche Auseinandersetzungen in den Blick zu nehmen, welche den fachlichen Interventionen somit als normative Entscheidungen vorgelagert sind. Einem kritischen Adressat*innenverständnis zufolge sind sozialstaatlich definierte Problemlagen und Bedarfsstellungen als machtvolle gesellschaftliche Stellgrößen, so Dollinger und Schmidt-Sehmisch (2011), kritisch zu hinterfragen. Denn als soziales Problem gilt eine Situation, ein Zustand erst, wenn es fachlich und politisch als problematisch markiert wird, Anerkennung erfährt und Unterstützungsbedarf ausgesprochen ist. Damit einher gehen Definitionen und Klassifizierungen von normal und abweichend (vgl. Bitzan und Bolay 2013, S. 42), mit denen überdies bestimmte Grenzen von Lebens- und Äußerungsweisen durchgesetzt und normative Vorgaben mitvermittelt werden. Mit der somit institutionell firmierten Zuordnung, ein Adressat, eine Adressatin Sozialer Arbeit zu sein, geht indes eine Besonderung, ein Anders-Sein und nicht selten eine Stigmatisierung einher, welche wiederum in subjektive Deutungsmuster von Adressat*innen einwirken kann (vgl. Burghard i.E.).

Offene Kinder- und Jugendarbeit

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Hilfen als Bereich von Erziehung und Bildung außerhalb der Familie und den Institutionen des schulischen und beruflichen Bildungswesens angesehen (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 693). Als drittes Sozialisationsfeld (vgl. Deinet et al. 2016, S. 913, vgl. auch Giesecke 1971) findet die Kinder- und Jugendarbeit ihre gesetzliche Verankerung im Sozialgesetzbuch (SGB) – Achtes Buch (VIII) – Kinder- und Jugendhilfe. § 11 Absatz 1 besagt: „Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung zu befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen“. Damit wird indes an § 1 SGB VIII angeknüpft und die Förderung von Entwicklung als Aufgabe der Kinder- und Jugendarbeit bestimmt. Das Gesetz stellt die Kinder- und Jugendarbeit somit in die Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe, die nicht defizitorientiert ausgerichtet sind, sondern sich allgemein der Entwicklungsförderung widmen. Sie richtet sich folglich prinzipiell an alle Kinder und Jugendliche, unabhängig von ihrem Alter, ihrer gesellschaftlichen und ethnischen Herkunft, ihrem Bildungsstand, ihrem Geschlecht und besonders unabhängig von etwaigen Problemen: Probleme, die sie haben oder Probleme, die ihnen zugeschrieben werden (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 695). Sturzenhecker und Deinet (2018) zufolge sind in § 11 SGB VIII Wirkungsziele erkennbar, die die Kinder- und Jugendarbeit mit ihren Adressat*innen erreichen soll: Kinder- und Jugendarbeit möchte zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und sozialem Engagement anregen. In einer solchen Perspektive wird gemeinhin als Orientierung ein Zusammenhang von personaler Autonomie und gesellschaftlich-sozialer Mitwirkung gesehen (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2008, S. 695). Den Autoren zufolge entsteht so ein „Leitbild einer demokratischen Persönlichkeit, die ihre Subjekthaftigkeit entwickelt und sich mündig mitbestimmend und mitverantwortend in einer demokratischen Gesellschaft engagiert“ (Deinet und Sturzenhecker 2018, S. 695). Damit sind große Ziele sowie prinzipielle Arbeitsweisen der Kinder- und Jugendarbeit bereits im Gesetz verankert. Das Arbeitsfeld wird ferner von den Ausführungsgesetzen der Bundesländer bestimmt (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 693).389 §11 Abs. 1 SGB VIII weist die Kinder- und Jugendarbeit als drittes Sozialisationsfeld, neben Elternhaus und Institutionen der schulischen und beruflichen Bildung, aus. Damit nimmt sie eine eigenständige Stellung im Gesamtbereich der Kinder- und Jugendhilfe ein und steht demzufolge gleichwertig neben anderen Leistungen (vgl. Deinet et. al 2016, S. 914). Sie ist somit als Pflichtaufgabe der öffentlichen Jugendhilfe 389

Sturzenhecker und Deinet (2018) zufolge unterscheidet § 11 drei organisationale Formen: „für Mitglieder bestimmte Angebote“, „die offene Jugendarbeit“ sowie „gemeinwesenorientierte Angebote“ (vgl. ebd. 694).

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Die Offene Kinder- und Jugendarbeit

bestätigt worden. Dieser Auftrag wird durch §79 Abs. 2. SGB VIII näher bestimmt. Demnach muss ein angemessener Anteil der für die Jugendhilfe bereitgestellten Mittel für die Kinder- und Jugendarbeit verwendet werden (vgl. Deinet et. al 2016, S. 914). Der Bedarf wird indes am konkreten Ort erschlossen und so die Angemessenheit und die Größe des Anteils bestimmt (vgl. Kunkel 2011, zit. nach Deinet et. al 2016, S. 918). § 12 (2) SGBVIII bezeichnet sodann Angebotsformen der Kinder- und Jugendarbeit. Dies sind Verbände/Vereine, Gruppen und Initiativen als freie Träger sowie Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Zwei große Bereiche prägen die Kinder- und Jugendarbeit: Zum einen die Jugendverbandsarbeit, sowie zum anderen die Offene Kinder- und Jugendarbeit.390 Dabei weisen diese beiden Handlungsfelder gemeinsame strukturelle Charakteristika sowie theoretische Konzepte auf. Da das Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit als Forschungsfeld gewählt wurde, wird sich in den Ausführungen des folgenden Parts auf dieses konzentriert und auf eine ausführlichere Darstellung der Jugendverbandsarbeit verzichtet. Zu Einrichtungsformen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit gehören gegenwärtig große und kleine Einrichtungen, Jugendtreffs in ländlichen Räumen, Mädchentreffs, Kinder- und Jugendkulturarbeit in Jugendkunstschulen, Soziokulturelle Zentren, Jugendkulturzentren, Abenteuerspielplätze, Spielmobile oder zum Beispiel selbstverwaltete Jugendzentren (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 702). Dass innerhalb Offener Kinder- und Jugendarbeit insgesamt eher ein Rückgang zu beobachten ist, darauf verweisen Sturzenhecker und Deinet (2018). Dies zeigt sich zum einen in einer sukzessiven Abnahme der Beschäftigtenzahl wie auch durch die Zahl der Einrichtungen. Die Offene Kinder- und Jugendarbeit nimmt eine spezifische Positionierung innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe ein und unterliegt einem spezifischen Mandat. § 11(1) des SGB VIII charakterisiert sie in einer Weise, in der sie sich von anderen Arbeitsbereichen der Kinder- und Jugendhilfe unterscheidet: Erstens gehört Offene Kinder- und Jugendarbeit nicht zum Jugendschutz oder der Jugendsozialarbeit. Nichtsdestotrotz kann sie Gefährdungen reflexiv aufgreifen und dabei helfen, Benachteiligungen abzubauen. Zweitens ist Offene Kinder- und Jugendarbeit nicht Prävention im Vorfeld der Hilfen zur Erziehung, wenngleich sie Persönlichkeit stärken

390

Die Offene Kinder- und Jugendarbeit wurde in westdeutschen Bundesländern nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere als Freizeitangebot für Kinder und Jugendliche nach der Schule entwickelt. In der ehemaligen DDR gab es ähnliche offene Jugendeinrichtungen und Jugendclubs. Jedoch hat sich das Feld der offenen Kinder- und Jugendarbeit aufgrund unterschiedlicher jugendpolitischer Bedingungen in den Bundesländern sowie aufgrund divergenter Rahmenbedingungen sehr vielfältig entwickelt und konzeptionell differenziert (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 702).

Offene Kinder- und Jugendarbeit

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und Kompetenzen entfalten kann. Drittens und zuletzt ist sie nicht Hilfe im Übergang zum Beruf, sie kann jedoch diese Wirksamkeit entfalten (vgl. Deinet und Sturzenhecker 2018, S. 703). Inhaltlich lässt sie sich als ein breit aufgestelltes sozialpädagogisches Handlungsfeld bestimmen. Es umfasst alle bildungs-, nicht unterrichtsbezogenen und nicht ausschließlich berufsbildenden, freizeit- und erholungsbezogenen, sozialen, kulturellen und sportlichen, mehr oder weniger pädagogisch gerahmten sowie von freien und öffentlichen Trägern, Initiativen und Arbeitsgemeinschaften, an Kinder und Jugendliche adressierte Angebote. Die (offene) Kinder- und Jugendarbeit zeichnet sich ferner durch Offenheit und Niedrigschwelligkeit aus (vgl. Thole 2012, S. 134-135). Als allgemeines Ziel gilt, dass sie an Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden soll. Es geht darum, sie zur Selbstbestimmung zu befähigen und zur gesellschaftlichen Mitverantwortung sowie zum sozialen Engagement anzuregen und hinzuführen (vgl. (vgl. Deinet et al. 2016, S. 913).391 Somit wird sich auch daran orientiert, die Selbstorganisation und demokratische Partizipation von Jugendlichen zu ermöglichen und so eine Bildung zu gestalten, die zur Entwicklung der Persönlichkeit sowie zur politischen Handlungsfähigkeit in der Demokratie beiträgt. Dabei ist die Offene Kinder- und Jugendarbeit auch durch freiwillige Teilnahme, durch hauptamtliches pädagogisches Personal gekennzeichnet. Sie orientiert sich daran, sich zunehmend zu mobilisieren und Jugendszenen und Jugendcliquen in ihren Lebenswelten aufzusuchen (vgl. Deinet et al. 2015, S. 913). Die nun anschließenden Ausführungen repräsentieren institutionelle Charakteristika und Arbeitsprinzipien der (Offenen) Kinder- und Jugendarbeit. 5.2.1

Institutionelle Charakteristika und Arbeitsprinzipien

Innerhalb der zahlreichen anderen Arbeitsfelder der Pädagogik gilt die Jugendarbeit als ein ,Angebot‘. Zu ihren institutionellen Charakteristika zählen folglich die Prinzipien der Freiwilligkeit der Teilnahme sowie der Offenheit (vgl. Scherr 2013).392 Die 391

392

Als normative Eckwerte der Kinder- und Jugendarbeit gelten Thole (2000) zufolge Freiwilligkeit, Partizipation, Integration, Lebenswelt-, Biografie-, Alltags- und Zeitorientierung sowie Regionalisierung beziehungsweise Dezentralisierung (vgl. Thole 2000, S. 259). Sie wurden erstmalig im Achten Jugendbericht in den 1990er Jahren formuliert und bilden die fachlichen Standards einer adressat*innen- und dienstleistungsbezogenen Kinder- und Jugendarbeit. Somit erhält die Offene Kinder- und Jugendarbeit den strukturellen Charakter von Offenheit und Diskursivität. Einem derart formulierten Anspruch zufolge ist sie gefordert, immer wieder für neue Themen und Handlungsweisen der Kinder und Jugendlichen offen zu sein, damit sie jeweils neu mit ihnen gestaltet werden kann (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 693, S. 915). Das Charakteristikum der Diskursivität sehen Sturzenhecker und Deinet (2018) als die Basis für demokratische Aushandlungsprozesse und Entscheidungsverfahren.Als diskursiv kann diese bezeichnet werden, weil die Kinder- und Jugendarbeit durch eine formale Machtarmut des Fachpersonals gekennzeichnet ist. Entsprechend ist es gerade in diesem Handlungsfeld wichtig in gemeinsamen Entscheidungen die eigenen Verhältnisse und Bedingungen zu erklären, nicht zuletzt um explizite oder implizite Arbeitsbündnisse

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Die Offene Kinder- und Jugendarbeit

Kinder- und Jugendarbeit ist somitoffen gegenüber Zielgruppen, deren Inhalten und Interessen und entsprechend auch für neu zu entwickelnde Arbeitsweisen. Als ein (weiteres) institutionelles Charakteristikum kann Beziehungsgebundenheit aufgeführt werden (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 696), durch die alle Institutionen und Arbeitsweisen der Kinder- und Jugendarbeit stark geprägt sind (vgl. Deinet, Nörber und Sturzenhecker 2016, S. 914). Begünstigt durch das Prinzip der Freiwilligkeit werden Selbstorganisation und Partizipation zum zentralen Charakteristikum (vgl. Deinet, Nörber und Sturzenhecker 2016, S. 914) und damit wird Kinder- und Jugendarbeit zu einem Feld der Einübung und der Praxis von demokratischem Handeln (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 693). Nicht zuletzt deswegen ist das Konzept der Demokratiebildung ein wesentlicher Ansatz dieses pädagogischen Handlungsfeldes. Die Offene Kinder- und Jugendarbeit zeichnet sich besonders durch ihren bildungsund sozialräumlichen Ansatz aus (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 693). So bezeichnen Lindner, Thole und Weber (2003) die Offene Kinder- und Jugendarbeit auch als ,Bildungsprojekt‘. Als eines ihrer Grundkonzepte gilt der emanzipatorische Ansatz. Der Entstehungskontext dieses Ansatzes geht in die 1960er Jahre zurück und findet sich insbesondere bei Hermann Gieseke (1971). Dieser Anspruch ist bis heute gültig und anschlussfähig. So knüpft etwa Scherr (2000, 2013) an diesen an und weist Kinder- und Jugendarbeit als ,emanzipatorische Bildung des Subjekts‘ aus. 393 Für die Kinder- und Jugendarbeit sind vielfältige Kooperationen erkennbar, so etwa die mit den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD), der Schule oder der Jugendsozialarbeit (dazu weiterführend Deinet und Sturzenhecker 2013). Zugleich wird auch das Konzept der Inklusion in diesem Handlungsfeld aufgegriffen (vgl. Deinet, Nörber und Sturzenhecker 2016, S. 917). Es lässt sich bündeln: Die Kinder- und Jugendarbeit stellt ein wichtiges Feld außerschulischer, non-formaler Bildung für Kinder- und Jugendliche dar, das entwicklungsförderliche Erfahrungen sozialräumlicher Aneignung und demokratischer Prinzipien eröffnen kann (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 693). Den in dieser pointierten Beschreibung enthaltenen Begriffen der Sozialräumlichkeit, der Demokratiefähigkeit sowie der Herausstellung der Kinder- und Jugendarbeit als Ort non-formaler Bildung wird sich in einem weiteren Punkt des Kapitels zugewendet. Diese Aspekte sind auch

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herzustellen. Als Grundlage derartig machtarmer Diskurse gilt, dass die Beteiligten sich auf soziale Beziehungen einlassen müssen. Folglich kann Beziehungsgebundenheit als ein (weiteres) institutionelles Charakteristikum der Offenen Kinder- und Jugendarbeit bezeichnet werden (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 696). Zudem wird innerhalb der Offenen Kinder- und Jugendarbeit an das Konzept der Lebensbewältigung von Lothar Böhnisch (2013) angeschlossen. Dieses fokussiert auf Bewältigungsprobleme von Jugendlichen, welche strukturell bedingt durch die Desintegration in der modernen Gesellschaft entstehen. Angesichts der Herausforderungen der Bewältigung von Übergängen, die eine zentrale Aufgabe für Jugendliche markiert, würden diese durch Risiken wie etwa Armut oder Migration verschärft (vgl. Böhnisch 2013).

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für die Arbeit mit den unterschiedlichen Adressat*innengruppen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit bedeutungsvoll. Zu diesen zählen etwa Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Altersgruppen, deren Lebenslagen und Lebenssituationen von verschiedenen und vielfältigen gesellschaftlichen Unterscheidungen, wie etwa Geschlecht, Sexualität, Migration, körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung, Bildung oder Armut durchzogen sind (zu einer differenzierten und jeweils gesonderten Betrachtung der Besonderheiten der jeweiligen Adressat*innen vgl. Sturzenhecker 2013).394 Weitere konzeptionelle Angebote reichen von der geschlechtsbezogenen Pädagogik (dazu weiterführend Rauw und Drogand-Strud 2013) bis zu an ,Diversity‘ orientierten Konzepten (vgl. Plößer 2013), über interkulturelle und antirassistische (dazu etwas Scherr 2013) oder cliquenorientierte Ansätze (dazu weiterführend Krafeld 2013). 5.2.2

Theoretische Konzepte der Kinder- und Jugendarbeit

Im Hinblick auf die Frage nach der Theoriebildung im Kontext der Kinder- und Jugendarbeit gilt: Die Kinder- und Jugendarbeit verzeichnet keine eigenständigeTheorie.395 Somit ließe sich der ,Vorwurf‘ erheben, dass sie als ein wenig professionalisiertes Handlungsfeld zu betrachten ist. Jedoch hat sie seit den 1960er Jahren eine differenzierte theoretische Konzeptdebatte aufzuweisen, deren Beiträge inhaltliche und qualitative Ansprüche einer Theorie der Kinder- und Jugendarbeit erfüllen (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 696). Zugleich veranschaulicht Thole (2009) konstitutive Bedingungen und den professionellen Charakter dieses Handlungsfeldes. Im Rahmen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit finden sodann unterschiedliche und vielfältige konzeptionelle Ansätze Berücksichtigung, die auf Basis unterschiedlicher Grundannahmen entwerfen, was Kinder- und Jugendarbeit (sein) soll und wie sie zu arbeiten hat (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 697). Als Grundprinzipien der Offenen Kinder- und Jugendarbeit gelten zum Beispiel die Sozialräumlichkeit (vgl. Deinet und Krisch 2013), die Demokratiebildung (vgl. Sturzenhecker 2013) oder die cliquenakzeptierende Jugendarbeit. Nörber (2013) fasst Letzteres unter dem Begriff der ,Peer Education‘ zusammen (dazu vertiefend Nörber 2013). Dass die Subjektorientierung als ein übergreifendes Grundprinzip verstanden werden kann, das für unterschiedliche konzeptionelle Ansätze der Jugendarbeit bedeutsam ist, darauf verweist etwa Scherr (2013, S. 298).

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Schmidt (2010) zeichnet ein Bild der Adressat*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit: Auf Grundlage einer Studie erkennt er zum einen eine Tendenz zur Verjüngerung der Adressat*innen sowie zum anderen, dass ältere Jugendliche und junge Erwachsene weitestgehend nicht mehr von dieser angesprochen werden. Schmidt (2010) kommt ferner zu dem Ergebnis, dass Mädchen in dem Handlungsfeld eher unterrepräsentiert sind. Nicht zuletzt spricht die Offene Kinder- und Jugendarbeit eher bildungsferne Jugendliche an (vgl. Schmidt 2010). Einen wichtigen Versuch nimmt Thole (2000) vor.

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Die Offene Kinder- und Jugendarbeit

Im Folgenden wird der Blick zunächst auf den Bildungs- und den sozialräumlichen Aspekt der Offenen Kinder- und Jugendarbeit gerichtet. Daran anknüpfend wird auf die emanzipatorische Subjektbildung eingegangen und Kinder- und Jugendarbeit als Ort non-formaler Bildung herausgestellt. Anschließend werden Themen und Praxen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit beleuchtet. Sozialraumansatz Dem Sozialraumansatz kommt konzeptionell eine fundamentale Bedeutung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu. Besonders geprägt wurde der Begriff der sozialräumlichen Jugendarbeit von Lothar Böhnisch und Richard Münchmeier (1990). Grundlage ihres Ansatzes bildet die Annahme, dass die Auflösung tradierter Normen und die Freisetzung der Jugend von vorgefügten Lebensläufen zu einem Bedeutungsverlust von Institutionen, Rollen und Normen führt und dies eine vermehrte sozialräumliche Orientierung für Jugendliche zur Folge hat (vgl. Deinet und Krisch 2013, S. 311). Der sozialpädagogische Ansatz der Sozialraumorientierung macht so den sozialen Raum zu einer zentralen Bezugsgröße für ein sozialarbeiterisches Handeln, das an den Bedürfnissen und den Interessen von Menschen ausgerichtet ist (vgl. Deinet und Krisch 2013, S. 311). Im Anschluss an Kessl und Reutlinger (2007), die das Konzept der Sozialraumorientierung ebenso prominent gemacht haben, weist der Begriff Sozialraum auf den gesellschaftlichen Raum sowie auf menschliche Handlungen hin (vgl. Kessl und Reutliner 2007, S. 23; vgl. auch Reutlinger, Fritsche und Lingg 2010; Reutlinger 2016; Kessl und Reutlinger 2018). Der Sozialraum ist dabei zum einen durch gesellschaftliche Verhältnisse geprägt; er eröffnet Handlungsmöglichkeiten, genauso wie er diese beschränkt. „Der physisch-territoriale Raum ist Teil dieses sozialen Gefüges und seiner handlungsregulierenden Mechanismen. Er muss jedoch immer in Verbindung mit seinen sozialen Dimensionen betrachtet werden, um komplexe soziale Wirkungszusammenhänge mit zu berücksichtigen und soziale Ungleichheiten nicht weiter fest zu schreiben“ (Deinet und Krisch 2018, S. 312). In einer sozialräumlichen Perspektive wird sich von einem Raumverständnis, dem zufolge physisch-geographische Räume als gegeben und nicht veränderbar gelten, zugunsten eines Verständnisses von Räumen als Ergebnis sozialer Praktiken distanziert (vgl. Kessl und Reutlinger 2007; dazu vertiefend Löw 2001). 396 An ein so gefasstes Verständnis anschließend richtet sich eine sozialräumlich-reflexive Haltung zum einen auf die Thematisierung handlungseinschränkender sozialer Verhältnisse, zum anderen stehen Er-

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Löw (2001) definiert den Raum als eine relationale Anordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten (vgl. Löw 2001, S. 224-225). Löw (2001) stellt ebenso heraus, dass Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen des Raumes leben. Als wesentliche raumkonstituierende Prozesse stellt sie das ,Spacing‘ und die ,Syntheseleistung‘ heraus.

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weiterungen und die Unterstützung der Handlungsfähigkeiten und Handlungskompetenzen von Menschen im Vordergrund (vgl. Deinet und Krisch 2018, S. 312313).397 Eine Jugendarbeit, die sich als sozialräumlich versteht, begreift subjektive Bildungsprozesse insbesondere als sozial-räumliche Aneignungsprozesse. Als solche sind diese sowohl in gesellschaftliche Räume eingelagert als auch in Räumen, die Jugendliche selber schaffen (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 703). Nicht selten stehen sie im Gegensatz zu formellen Bildungsräumen und Bildungsorten. Für die Offene Kinder- und Jugendarbeit erweist sich der Ansatz der Aneignung als anschlussfähig, da Bildungsorte und Bildungsräume so mehrdimensional gedacht werden können. Dabei kann es darum gehen Räume zu schaffen, die Aneignungsprozesse fördern (vgl. Sturzenhecker und Deinet 2018, S. 703), wenngleich an dieser Stelle ebenso zu berücksichtigt wäre, dass auch zur Aneignung von Räumen befähigt werden sollte. Mitsamt stellt Jugendarbeit Räume zur Verfügung, die von Kindern und Jugendlichen angeeignet werden, aber an deren Gestaltung und Veränderung sie auch aktiv teilhaben können und sollten (vertiefend zum sozialräumlichen Muster in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Deinet und Krisch 2018). In einer solchen Weise lassen sich non-formelle und informelle Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen fördern (weiterführend zum informellen Lernen Harring, Witte und Burger 2018). Im Anschluss an das Konzept der Sozialraumorientierung kann es keine eindeutigen und verallgemeinernden Konzepte der Kinder- und Jugendarbeit geben. Diese müssen jeweils sozialräumlich neu analysiert und definiert werden (vgl. Deinet und Sturzenhecker 2018, S. 704). Darin, dass Kinder- und Jugendarbeit somit auch auf Problemlagen fokussiert, beziehungsweise sich auf diese konzentriert, birgt sie zum einen die Gefahr der Produktion einer gewissen Schieflage zwischen Präventionsprojekten und der insgesamt sozialintegrativen Funktion der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Diese liegt darin begründet, dass sie der im Präventionsprogramm verankerten Annahme von Gefährdungspotenzialen für Kinder und Jugendliche und dem positiven Jugendbild der Kinder- und Jugendarbeit insgesamt widerspricht. Zum anderen wird der sozialräumliche Ansatz verkürzt reduziert, indem sich auf Zielgruppen mit besonderen Problemlagen in benachteiligten Stadtteilen konzentriert wird. Denn es ist vordergründig, sich konsequent den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen zuzuwenden und die Konzepte jeweils in Bezug auf die jeweilig zu erforschenden und zu interpretierenden Bedarfe zu erstellen. In einer solchen Perspektive läuft auch die Offene Kinder- und Jugendarbeit Gefahr, die Territorialisierung sozialer Probleme

397

Als Bindeglied zwischen den beiden aufgeführten Aspekten erachten Krisch und Deinet (2018) die Befähigung zur politischen Partizipation (vgl. ebd., S. 313).

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Die Offene Kinder- und Jugendarbeit

mitzugestalten und an der Stigmatisierung einzelner Stadtteile und Quartiere beizutragen, die sich für Jugendliche als problematisch erweist (vgl. Sturzenhecker 2018, S. 704).398 (Emanzipatorische) Subjektbildung Die Theorie der subjektorientierten Jugendarbeit zielt Scherr (2013) zufolge darauf ab, Grundprinzipien eines Verständnisses von Jugendarbeit als einer Praxis zu entwerfen, die Jugendliche zu einem möglichst selbstbestimmten Leben befähigen. Dabei sind die Grundprinzipien einer sich als subjektorientierten Kinder- und Jugendarbeit für alle Adressat*innengruppen relevant und nicht auf eine spezifische Zielgruppe einzuengen. Als eigenständigen Auftrag von Jugendarbeit markiert Scherr (2013), Heranwachsende zu einer eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Lebensführung zu befähigen sowie das Recht Anderer anzuerkennen, ihr Leben eigenverantwortlich und ,eigensinnig‘ zu gestalten (vgl. Scherr 2013, S. 297). Mitsamt grenzt die subjektorientierte Kinder- und Jugendarbeit sich von einem gesellschaftlichen Kontrollauftrag ab, genauso wie von dem Verständnis eines Bildungsauftrages, der Bildung vornehmlich als Erzeugung ökonomisch verwertbarer Qualifikationen (miss-)versteht (vgl. Scherr 2013, S. 298). Gemeinhin verpflichtet sich insbesondere die Offene Kinder- und Jugendarbeit, die als eine subjektorientierte Theorie und Praxis aufgestellt wird, dem Ziel, Bildungsprozesse des Subjekts zu ermöglichen (vgl. Scherr 2013, S. 298). Dass zum Beispiel der Körper als ein wesentliches Medium informeller Bildungsprozesse fungiert, darauf verweisen etwa Alkemeyer, Budde und Freist (2013), wenn sie Bildung des Subjekts als ,Selbst-Bildungen‘ bearbeiten und diese als soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung ausweisen (vgl. Alkemeyer, Budde und Freist 2013). Scherr (2013) zufolge ist die Subjektorientierung nicht als ein konkurrierendes Konzept zu einer sozialräumlichen, randgruppenorientierten, cliquenakzeptierenden, demokratischen, interkulturellen, antirassistischen, bedürfnisorientierten und geschlechtsspezifischen Jugendarbeit zu verstehen, sondern sie ist als ein übergreifendes Grundprinzip zu begreifen, das für unterschiedliche konzeptionelle Ansätze der Jugendarbeit bedeutsam sein kann (vgl. Scherr 2013, S. 29). Dass die innerhalb der letzten Jahre geführten Debatten über den Bildungsauftrag der Kinder- und Jugendhilfe mitunter dazu führten, dass Bildungspotenziale zunehmend der Jugendarbeit zu erkannt wurden, diskutiert Scherr (2013) kritisch und weist darauf hin, dass es sich als Aufgabe stellt, ein umfassendes und emanzipatorisch akzentuiertes Bildungsverständnis gegen eine

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Jedoch weisen Sturzenhecker und Deinet (2018) darauf hin, dass Offene Kinder- und Jugendarbeit Potentiale in diesen Programmen entfalten und mit niedrigschwelligen Bildungsangeboten jene Jugendliche zu erreichen vermag, die von keinem anderen Feld der Jugendhilfe erzielt werden können (vgl. ebd., S. 704).

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Engführung zu verteidigen, „die Bildung auf Qualifizierung für den Arbeitsmarkt reduziert und der Offenen Kinder- und Jugendarbeit schulergänzende Aufgaben zuweist“ (Scherr 2013, S. 299). Denn gegenwärtig sieht sie sich mit der Gefahr konfrontiert, auf die Rolle einer Hilfsinstanz für eine dezidiert schulische Vermittlung von Qualifikation verwiesen zu werden. Der Auftrag der Offenen Kinder- und Jugendhilfe besteht Scherr (2013) zufolge also nicht primär in der Unterstützung schulischen Lernens, ebenso ist sie auch nicht auf spezifische Jugendliche in Not- und Problemlagen, so etwa auf Jugendliche, die von Benachteiligung betroffen sind oder die eine gewissen Politikverdrossenheit aufweisen, zu reduzieren. Offene Kinder- und Jugendarbeit ist aufgefordert, junge Heranwachsende bei der Realisierung eines möglichst selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und politische Beteiligungschancen ergreifenden Lebens zu unterstützen (vgl. Scherr 2013, S. 300). Das Recht auf eine bewusste und möglichst selbstbestimmte Gestaltung des eigenen Lebens sowie auf soziale Teilhabe gilt indes nicht als ein Privileg, sondern kommt in einer von einem demokratischen Anspruch getragenen Gesellschaft, der gesamten Gemeinschaft zu (vgl. Scherr 2013, S. 300). Was als Selbstbestimmung – etwa vor dem Hintergrund wirkmächtiger gesellschaftlicher normativer Vereinnahmungen sowie Bedingungen sozialer Ungleichheit gilt – erschließt sich Scherr (2013) zufolge jedoch aus einigen theoretischen Zugehensweisen, auf die im Folgenden in gebotener Kürze verwiesen wird. Der Begriff der Subjektivität ließe sich – etwa in Anlehnung an körpertheoretische Sichtweisen im Anschluss an besonders poststrukturalistische Deutungen – in anderer Weise auslegen, jedoch markiert er im Kontext der Debatten um die Kinder- und Jugendarbeit die Möglichkeit, dass Individuen mit der Chance von Selbstbestimmung und Selbstbestimmungsfähigkeit ausgestattet sind, die von der lebensgeschichtlichen Entwicklung und lebenspraktischen Realisierung genauso wie von den konkreten sozialen Bedingungen geleitet werden, die die Entfaltung der Subjektivität in spezifischer Weise präformieren (vgl. Scherr 2013, S. 301). Subjektivität ist folglich als ein normativ-kritischer Grundbegriff zu verstehen, der für die Analyse von Behinderung, Beschädigung und Begrenzung des Selbstbewusstseins sowie der Selbstbestimmungsfähigkeit, denen etwa Individuen oder Gruppen unterliegen, zu sensibilisieren vermag (vgl. Scherr 2013, S. 301). Pädagogisch relevant wird dieses Verständnis des Subjekts mit dem Bildungsbegriff. Dieser bedeutet in einer recht allgemeinen Annäherung ,Lernen‘, etwa im Sinne der Aneignung von Qualifikationen, von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die besonders in schulischen Kontexten gefordert sind. Bildung meint jedoch auch eine „allseitige und umfassende Entwicklung der individuellen Fähigkeit, des Selbstgefühls, des Selbstbewusstseins und der selbstbestimmten Handlungsfähigkeit“ (Scherr 2013, S. 302). Es lässt sich pointieren: Ein kritischer Bildungsbegriff orientiert Pädagogik folglich nicht

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Die Offene Kinder- und Jugendarbeit

lediglich an der Aufgabe der Erziehung, die die Einübung von gesellschaftlichen Normen und Regeln beinhaltet, sowie die Anpassung an gesellschaftliche Verhaltenserwartungen, sondern daran, an dem Ziel festzuhalten, die Subjektwerdung von Einzelnen zu fördern (vgl. Scherr 2013, S. 302). Ein so gefasstes Verständnis lässt sich somit als Subjektbildung auslegen (weiterführende Konkretisierungen dieser Gedanken für die Jugendarbeit finden sich bei Scherr 2013). Dass sich Bildungen des Subjekts an Orten und in Räumen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit vollziehen, stellt diese vor vielfältige Herausforderungen (weiterführend zu Methoden und Handlungsprinzipien der subjektorientierten Kinder- und Jugendarbeit (vgl. Scherr 2013). Es lässt sich bündeln: Der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ist ein Bildungsauftrag zuzurechnen. Dieser unterscheidet sich jedoch dezidiert von einem Schulischen, der sich primär auf formale Bildung stützt. Die (offene) Kinder- und Jugendarbeit wird somit in Zusammenhang mit ,non-formaler Bildung‘ gebracht. Aus diesem Grund lässt sie sich als Ort ,non-formaler Bildung‘ perspektivieren und diskutieren. Dies wird im folgenden Abschnitt aufgenommen, bevor dann weitergehend auf ausgewählte Methoden der Offenen Kinder- und Jugendarbeit verwiesen wird. Das Kapitel schließt danach vorläufig mit einigen Anmerkungen zum Thema soziale Ungleichheit und Benachteiligung. Daran anknüpfend wird der Forschungsstand zum Thema Körper und Offene Kinder- und Jugendarbeit dokumentiert. Kinder- und Jugendarbeit als Ort non-formaler Bildung Durch den im SGB VIII gesetzlich verankerten Bildungsauftrag der Jugendarbeit kann sie als Teil der Bildungslandschaft begriffen werden. Somit rücken dezidiert der Bildungsauftrag und der damit einhergehende Bildungsanspruch in den Blick. Dieser besteht indes darin, dass Jugendlichen Räume für selbstbestimmtes Agieren und soziale Partizipation anzubieten sind. Berücksichtigt man die sozialräumliche Ausrichtung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, so werden Bildungsprozesse insbesondere als sozial-räumliche Aneignungsprozesse verstehbar, die in den gesellschaftlichen Räumen sowie in den Räumen, die sich Kinder- und Jugendliche schaffen, eingelagert sind. Diese stehen nicht selten im Gegensatz zu den formellen Bildungsräumen (weiterführend und grundlegend zum Verhältnis von formellen und informellen Bildungsprozessen vgl. Otto und Rauschenbach 2008). In einer solchen Perspektive kann die Offene Kinder- und Jugendarbeit als ein Ort non-formaler Bildung perspektiviert werden, der Räume schafft und bereitstellt und zugleich berücksichtigt, dass Räume auch in Handlungen ihrer Adressat*innen hergestellt, ausgehandelt und aufgelöst werden und sich darin zugleich gesellschaftliche Verhältnisse manifestieren. Mitsamt sind insbesondere Jugendliche zu fördern, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind. Dennoch soll bewusst gehalten werden, dass sich dieser Auftrag an alle potentiellen Adressat*innen des Handlungsfeldes richtet.

Körper & Soziale Ungleichheit – (k)eine Frage der OKJA?!

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Die Themen und Praxen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sind vielfältig und an den jeweiligen Bedürfnissen der Adressat*innen orientiert. Als einige Themen gelten etwa das ,Abhängen‘, Gruppen, Cliquen und Freundschaft; aber auch Themen wie Sexualität, Kommerz, Sport, Drogenkonsum, Religion, Arbeit, Internet, Gewalt, Extremismus oder Familie spielen eine große Rolle (vertiefend zu den hier lediglich erwähnten Themen vgl. Sturzenhecker 2013). Dass der Körper eine Facette der Themen und Praxen innerhalb der Offenen Kinder- und Jugendarbeit darstellt, wird etwa von Rose (2013) herausgestellt, jedoch wird der Körper dabei primär mit dem Aspekt von ,Beauty‘ in Verbindung gebracht. Die Offene Kinder- und Jugendarbeit verzeichnet ein breites Spektrum an Methoden, auf die lediglich verwiesen wird. Zum Methodenrepertoire dieses Handlungsfeldes zählen mitunter die Projektarbeit, die mobilen und aufsuchenden Ansätze, Einzelarbeit und Beratung oder Gruppenarbeit (dazu ausführlicher vgl. Sturzenhecker 2013). 5.3

Körper & Soziale Ungleichheit – (k)eine Frage der OKJA?!

Dass eine Kernaufgabe der Kinder- und Jugendarbeit darin besteht, selbstbestimmte Lebensentwürfe und gemeinwohlorientierte Lebenspraxen zu unterstützen, genauso wie gesellschaftliche Teilhabe dort strukturell zu ermöglichen, wo sie eingeschränkt ist, gilt als grundlegendes Anliegen. Damit soll der öffentlichen Verantwortung für gleichberechtigte Lebenschancen sowie dem Abbau sozialer Ungleichheit Rechnung getragen werden (vgl. Böllert 2013). So weist auch Züchner (2018) darauf hin, dass die Kinder- und Jugendhilfe in einer sozialstaatlichen Perspektive im Hinblick auf soziale Ungleichheit in besonderer Weise angesprochen ist (vgl. Züchner 2018, S. 875); und dies besonders dann, wenn sie ihrem Auftrag der Unterstützung von Kindern- und Jugendlichen und ihren Familien Folge leisten möchte. Nicht zuletzt weist auch der 15. Kinder- und Jugendbericht darauf hin, dass die Lebenslagen junger Menschen durch erhebliche soziale Ungleichheiten gekennzeichnet sind, die sich auf die Teilhabechancen junger Menschen auswirken (vgl. BMFSFJ 2017, S. 64). So kann es mit Blick auf die Adressat*innen dieses Handlungsfeldes darum gehen, die Betrachtungsweisen auf die sozialen Bedingungen zu schärfen, die die Teilhabemöglichkeiten sowie die Möglichkeiten von Selbstbestimmung und Subjektwerden von jungen Menschen und ihren Familien in spezifischer Weise präformieren, sie entweder begünstigen oder beeinträchtigen. Es ist nötig, diese Verhältnisse kritisch in den Blick zu nehmen – nicht zuletzt um sie politisch und sozialpädagogisch bearbeitbar zu machen (vgl. BMFSFJ 2017, S. 95). Entsprechend können – etwa in Anlehnung an das Prinzip der Sozialraumorientierung – Bedarfe und Bedürfnisse aufgegriffen und ,bearbeitet‘ werden. Zugleich scheint es auch vielversprechend den Blick

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Die Offene Kinder- und Jugendarbeit

auf das Handlungsfeld selbst zu legen.399 Denn – so die These – auch im Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit selber werden die sozialen Bezüge, in denen die spezifischen Adressat*innengruppen leben und unter denen sie lebenspraktische Entwürfe hervorbringen, bedeutungsvoll. Wie schon bereits dem 14. Kinderund Jugendbericht zu entnehmen ist, sollte die Kinder- und Jugendhilfe – auch bezüglich ihrer Handlungsfelder – gerade bei den Angeboten, die sich grundlegend an alle Kinder- und Jugendliche richten, wachsam sein, ob und in welcher Weise sie selber soziale Ungleichheiten verstärkt (vgl. Züchner 2018, S. 875; weiterführend zu Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe ebenso Züchner 2018). So schließen sich etwa Fragen danach an, wie sozial ungleiche Verhältnisse auch im Feld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit über Praktiken der Adressat*innen ausgehandelt und reproduziert werden. Des Weiteren stellt sich die Frage, wie offen das Handlungsfeld strukturiert sein mag oder ob – trotz dieser Offenheit – es für einige Jugendliche dennoch verschlossen bleibt. Daran schließen sich Fragen nach den Gründen, nach den sozialen aber auch symbolischen Grenzen, die sich als wirkmächtig zeigen. Nicht zuletzt ist auch die Tatsache herauszustellen, dass das Handlungsfeld von Adressat*innen genauso wie von Professionellen – sowie der darin aufgeführten Praktiken – als solches konstituiert wird und sich erst so ein spezifischer Blick auf das Handlungsfeld als ,Ganzes‘ erschließt. In welcher Weise in Praktiken zwischen Adressat*innen und Professionellen soziale Verhältnisse verhandelt werden und welche sozialen Ordnungen sich hinter diesen Handlungen verbergen – diese Fragen werden im empirischen Part der Arbeit aufgegriffen. Vorab wird der Forschungsstand zum Thema Körper in der Theorie und Empirie der Offenen Kinder- und Jugendarbeit dokumentiert. Es wird erkennbar, dass Körper eine Leerstelle markieren, die es dringend zu schließen gilt. 5.4

Der Körper als Leerstelle in Theorie und Empirie der OKJA

Im Folgenden wird herausgestellt, dass und in welcher Weise nicht nur der Körper, sondern insbesondere der Themenkomplex Körper und Soziale Ungleichheit eine Leerstelle in Theorie und Empirie der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und der Jugend(-hilfe)forschung markiert. Eine sozialwissenschaftlich informierte theoretische sowie empirisch fundierte Betrachtung der Dimensionen des Körperlichen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und somit in der Kinder- und Jugendhilfeforschung steht aus. Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendarbeit beziehen ihr Wissen über das Verhältnis von Jugend und Körper weitestgehend aus den Bereichen der Bildungs-, Sozialisations- und Adoleszenzforschung, welche verstehende Zugänge zu jugendlichem Handeln ermöglichen sollen (vgl. Schulz 2013, S. 51). In der Lebensphase Jugend wird die Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit besonders virulent. „Jugend findet körperlich statt und dokumentiert sich dort, wo Jugendliche 399

Diesem Anliegen folgen etwa die ethnographisch ausgerichteten Studien von Cloos und Thole (2005).

Der Körper als Leerstelle in Theorie und Empirie der OKJA

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sich ausdrücken – und dies tun sie immer mit ihrem Körper“ (Niekrenz und Witte 2011, S. 11). Der Körper ist in der Lebensphase Jugend nicht nur zentrales Medium der Zuschreibung und Klassifizierung, sondern auch ein zentrales Instrument, das eingesetzt wird, um sich sozial zu positionieren. Aus dieser Perspektive scheint es wunderlich, dass die Bedeutung von Körper(n) für die Auseinandersetzung mit Jugend erstens unter einer sozialpädagogischen und zweitens unter einer körpersoziologischen Perspektive bisher nur unzureichend berücksichtigt ist. Es gibt zwar einige Arbeiten, die sich mit der Körperlichkeit von Jugendlichen beschäftigen. Britta Hofarth (2017) nimmt zum Beispiel kosmetische Praxen von Mädchen in der Adoleszenz unter körpersoziologischer und intersektionaler Perspektive in den Blick. Dangendorf (2017) setzt sich damit auseinander, welche Bedeutung das Aussehen für junge Mädchen hat. Magyar-Haas (2020) nähert sich den grenzhaften Möglichkeiten sozialer Maskenspiele in Pädagogischen Räumen an. Für die interkulturelle Pädagogik greift Terhart (2014) den Themenkomplex Körper und Migration auf, indem sie an die sozialwissenschaftliche Körperdebatte anschließt. Im Bereich der Erziehungswissenschaft und der ethnographischen Geschlechterforschung setzt sich Friebertshäuser (2012) mit Körperinszenierungen im Jugendalter auseinander. Friebertshäuser (2012) weist überdies ausdrücklich darauf hin, dass Körperinszenierungen als individuelle und kollektive Bearbeitungsformen der Statuspassage des Übergangs von der Kindheit in die Jugend dienen. Das Thema Jugend, Körper und soziale Ungleichheit verhandelt etwa König (2010) in einer Untersuchung, in der sie Bekleidungspraxen von Jugendlichen dahingehend befragt, inwiefern darüber soziale Ungleichheit reproduziert wird. Ungleichheitstheoretisch informiert setzen sich auch Friebertshäuser und Richter (2010) damit auseinander, in welcher Weise der Körper in Praktiken von Jugendlichen als Kapital zum Einsatz kommt. Diese Arbeit ist in einem größeren Kontext zu verorten, in dem Langer et al. (2010) Körperlichkeit und Beziehungen in der Schule ethnographisch erforschen. Mit dem Thema sozialer Ungleichheit im Kontext von jugendlichen Lebenswelten setzen sich auch Richter et. al (2008) auseinander, wenngleich der Körperbezug darin eher implizit über den Aspekt der Gesundheit thematisch wird. Für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ist die Bedeutung des Körperlichen für die Auseinandersetzung mit sozialer Benachteiligung bisher nur unzureichend berücksichtigt worden. Betrachtungen in theoretischer und empirischer Hinsicht, etwa zur Körperlichkeit von Prozessen der Ein- und Ausschließung im pädagogischen Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, lassen sich jedoch nicht hinreichend finden. Somit bleibt auch unberücksichtigt, dass Körper in pädagogischen Zusammenhängen eine wesentliche Rolle spielen. Theoretische Zugänge zum Körper als Produkt und Produzent werden aber nicht nur in der Theoriebildung der Kinder- und Jugendhilfe wenig aufgegriffen. Auch die empirischen Anschlussmöglichkeiten, die körpersoziologische Sichtweisen bieten,

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Die Offene Kinder- und Jugendarbeit

finden gegenwärtig wenig Verbreitung. Die Forschungsstrategie der Ethnographie gewinnt im Kontext der Erziehungswissenschaft im Allgemeinen und der Sozialen Arbeit im Besonderen zunehmend an Bedeutung (vgl. Cloos und Thole 2005; Cloos und Thole 2006; Heinzel et al. 2010). Dabei formierte sich jüngst eine ethnographische Jugendarbeitsforschung. Schulz (2013) weist darauf hin, dass sich innerhalb dieser ein breites Feld von Publikationen ausmachen lässt, in denen der Fokus auf ethnographische Zugänge in der Jugendarbeit gelegt wird (Thole et al. 2011; Cloos und Köngeter 2006; Cloos et al. 2009; Schulz 2010 a,b; Rose und Schulz 2007; Schmidt 2011, Küster 2003). Es lässt sich jedoch in kritischer Absicht weiterführen, dass auch hier eine Auseinandersetzung mit körper- und leibtheoretischen Erkenntnissen aussteht. Daran anschließend wirft eine Fokussierung auf Dimensionen des Körperlichen (und Leiblichen) in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zuletzt für Methode und Methodologie qualitativer Forschung Fragen auf und stellt insbesondere die Ethnographie vor diverse Herausforderungen. Was es zum Beispiel methodisch und methodologisch bedeutet, Körper zum Forschungsgegenstand zu haben oder aber wie die Körperlichkeit der Forscher*innen im Forschungsprozess zu reflektieren ist; derartige Fragen werden im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfeforschung bislang wenig diskutiert und reflektiert. Auch die Eigensinnigkeit des Körpers, die Leiberfahrungen und die Eigentätigkeit des Körpers als Produzent des Sozialen wurden bislang wenig beforscht. Es lässt sich bündeln: Eine sozialwissenschaftlich informierte Betrachtung der Dimension des Körperlichen im Hinblick auf Ein- und Ausschließung in Theorie und Empirie der Offenen Kinder- und Jugendarbeit steht bislang aus. Auch im Kontext der Kinder- und Jugendhilfeforschung markiert die Auseinandersetzung mit diesen Dimensionen des Körperlichen eine Leerstelle. An diese setzt die vorliegende Arbeit, deren Thema das Körperliche als Dimension von Ein- und Ausschließung umfasst, nun an. Konkret wird dem zentralen Erkenntnisinteresse nachgegangen, wie Prozesse der Ein- und Ausschließung im Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit über Körper verhandelt und wie darüber gesellschaftliche Ordnungen konstituiert und reproduziert werden. Durch eine theoretisch-analytische sowie empirischethnographische Herangehensweise an Körper soll zum einen diesem pädagogischen Handlungsfeld in theoretischer und empirischer Sicht körper- und leibtheoretische Anschlussperspektiven geboten werden, um somit eine Öffnung der körperlichen Dimension der Jugendarbeit zu erreichen. Zum anderen soll damit ein Beitrag für die deutsche Kinder- und Jugendhilfeforschung geleistet werden. 5.5

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

In diesem Teil werden die zentralen Erkenntnisse des Kapitels bilanziert. Die Kinderund Jugendarbeit wird – neben Elternhaus und Institutionen sowie der schulischen und beruflichen Bildung – als drittes Sozialisationsfeld definiert (vgl. Deinet et al.

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

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(2016, S. 913). Sie findet ihre gesetzliche Verankerung im Sozialgesetzbuch (SGB) – Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe. Die Kinder- und Jugendarbeit gilt somit als ein sozialpädagogisches Handlungsfeld, das alle bildungs-, nicht unterrichtsbezogenen und nicht ausschließlich berufsbildenden, freizeit- und erholungsbezogenen, sozialen, kulturellen und sportlichen, mehr oder wenig pädagogisch gerahmten sowie von freien und öffentlichen Trägern, Initiativen und Arbeitsgemeinschaften, an Kinder und Jugendliche adressierten Angebote umfasst. Die Kinder- und Jugendarbeit zeichnet sich ferner durch Offenheit und Niedrigschwelligkeit aus (vgl. Thole 2012, S. 134-135). Als allgemeines Ziel gilt indes, dass Kinder- und Jugendarbeit an Interessen junger Menschen anknüpft und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet wird und sie zur Selbstbestimmung befähigt. Zielführend ist es, die Adressat*innenzur gesellschaftlichen Mitverantwortung sowie zum sozialen Engagement anzuregen und hinzuführen (vgl. (vgl. Deinet et al. 2016, S. 913). Somit soll die Selbstorganisation und demokratische Partizipation von Jugendlichen gefördert werden. Die Offene Kinder- und Jugendarbeit ist ferner durch Prinzipien der Freiwilligkeit und Offenheit gekennzeichnet. Der Körper bildet eine weitestgehend vernachlässigte Dimension der Theorie und Empirie der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, ebenso wie die Frage danach, in welcher Weise soziale Ein- und Ausschlüsse in diesem Handlungsfeld über den Körper praktiziert und so in einem spezifischen Handlungsfeld Verhältnisse sozialer Ungleichheit und Benachteiligung reproduziert werden. Diese Fragen wurden im ersten Teil der Arbeit theoretisch betrachtet und werden im zweiten Teil anhand einer ethnographischen Studie empirisch konkretisiert. Bevor das 7. Kapitel in den empirischen Part der Arbeit einführt, wird der theoretische Teil der ersten Kapitel in einem eigenständigen Kapitelpunkt gebündelt.

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Vertiefendes Zwischenresümee Theorie und Diskussion

Bevor im anschließenden Kapitel die Forschungsfrage am konkreten Gegenstand untersucht wird, folgt zunächst ein kurzes Zwischenresümee der Theorie. Die vorangegangenen Auseinandersetzungen mit fünf unterschiedlichen und theoretischen Zugängen zu Körper, sozialer Ungleichheit einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse, mit sozialen Praktiken, Jugend und Körper und dem pädagogischen Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit dienten der theoretischen Präzisierung der Forschungsfrage. Zum einen war es zielführend, zentrale Begriffe zu erarbeiten, um den heuristischen Rahmen der Forschungsfrage zu erweitern, zum anderen sollen somit für die empirische Studie Anschlussmöglichkeiten erschlossen werden. Auf diese Weise wurde ein analytischer Rahmen für die theoretische und empirische Bearbeitung der Fragestellung entwickelt. Das grundlegende Ziel bestand indes darin, Bedeutungen der Körper herauszuarbeiten. Dafür wurden die erarbeiteten Begriffe und Perspektiven körpertheoretisch eingeordnet (vgl. Schmincke 2009, S. 134). Die Ergebnisse der Auseinandersetzungen hinsichtlich der erarbeiteten Begriffe und der Bedeutung der Körper in den unterschiedlichen Kapiteln werden im Folgenden bilanziert und systematisiert. Inhalt des ersten theoretischen Kapitels der Arbeit bildete eine Auseinandersetzung mit dem Körper als Gegenstand der Sozialwissenschaften. Mit dem Ziel einer Heranführung an die Körperthematik und der Erarbeitung grundlegender Begriffe für die empirische Analyse wurden zentrale (körper-) soziologische Perspektiven präsentiert. Vor dem Hintergrund einer prägnanten Einführung in die Körpersoziologie, die den Körper als Produkt und Produzenten theoretisiert, wurden relevante theoretische Positionen, die sich hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Standpunkte sowie der wissenschaftssystematischen Positionierungen unterscheiden, skizziert. Letztlich wurde ein Verständnis konkretisiert, das den Körper als Produkt und Produzent von Gesellschaft erscheinen lässt. Dazu wurden die Körperverständnisse, die sich in den Arbeiten von Pierre Bourdieu, Michel Foucault und Judith Butler manifestieren, nachgezeichnet. Der Rückgriff auf die Arbeiten von Bourdieu, insbesondere auf dessen Konzept des Habitus, bietet ein analytisches Instrument, durch das die Verankerung gesellschaftlicher Prinzipien im Körper und der Stabilisierung dieser in körperlichen Praktiken sichtbar werden. Überdies wird mit Bourdieu nachvollziehbar, dass und in welcher Weise inkorporierte Schemata die Wahrnehmung der sozialen Welt und damit auch das eigene Handeln sowie das Erkennen von Körpern leiten. Wahrnehmungsweisen von individuellen Körpern oder von Gruppenkörpern kann so als Ergebnis der Inkorporation bestimmter Teilungs- und Klassifikationsprinzipien ausgelegt werden. Diese werden insbesondere in körperlichen Routinen als Normen reproduziert und letztlich auch stabilisiert. In einer solchen Perspektive sind Körper Produkte gesellschaftlicher Zuschreibungen sowie der Inkorporation von Klassenund Geschlechterverhältnissen. Folglich haben Körper Teil an Prozessen der Ein© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. B. Burghard, Körper und Soziale Ungleichheit, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 19, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31200-8_7

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Vertiefendes Zwischenresümee Theorie und Diskussion

und Ausschließung, da sie diese in den Klassifikations- und Bewertungsschemata und in körperlichen Praktiken (re)produzieren (vgl. Schmincke 2009, S. 134). Klassifikationen lassen sich auch als verinnerlichte soziale Teilungsprinzipien auslegen, die verkörpert aber auch verräumlicht werden. In beiden Formen erscheinen sie jedoch naturalisiert (vgl. Schmincke 2009, S. 134). Gerade dadurch sind sie nicht mehr als Ergebnis gesellschaftlicher Teilungen und Kämpfe erkennbar. Die Arbeiten von Bourdieu lassen sich auch in einen Zusammenhang mit Normen bringen: Normen sind zum einen in Körpern verankert, zum anderen werden sie in körperlichen Praktiken (re) produziert. Seine Ausführungen zur ,Männlichen Herrschaft‘, die er als Paradebeispiel symbolischer Gewalt auslegt, zeigen, dass gesellschaftliche Herrschaft nicht nur über Körper ausgeübt, sondern über diesen reproduziert wird, da sie in Körpern verankert ist. Dieses veranschaulicht Bourdieu anhand der Strukturkategorien Klasse und Geschlecht. Ihre Verkörperung bewirkt die Naturalisierung sozialer Differenzen und Hierarchien, inklusive ihrer Teilungen. Sie schreiben sich als ,verborgene Imperative‘ in Körper ein. Indem diese zu Körper werden, repräsentieren sie sich in Körperhaltungen und Verhaltensweisen, in der körperlichen Hexis. Bourdieu arbeitet in anschaulicher Weise heraus, dass dieses einen wesentlichen Mechanismus der Stabilisierung von (hierarchisch strukturierten) Klassen- und Geschlechterverhältnissen darstellt. Anschließend an die Arbeiten von Michel Foucault lässt sich analysieren, dass und in welcher Weise die Wahrnehmung von Körpern dichotom entlang von Normen strukturiert ist.400 Die Norm bringt bestimmte ,normale‘, ,abweichende‘, ,anerkennbare‘ und ,respektable‘ Körper hervor. Die Sichtweisen von Foucault ermöglichen der vorliegenden Arbeit eine kritische Diskussion mit der Herrschaft der Norm. Seinen Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Regierung zufolge lassen sich soziale Körperpraktiken auch als Technologien des Selbst in machtkritischer Perspektive diskutieren und nicht zuletzt als Praktiken verstehen, über die Jugendliche sich im Alltag sozial positionieren. Die Arbeiten von Judith Butler, insbesondere ihr performativer Ansatz, ermöglichen es, Körper als Produkte von Prozessen der Materialisierung zu verstehen. In diesen Prozessen werden kulturelle Normen performativ durch und in körperliche(n) Prak-

400

Er zeichnet auch nach, dass und in welcher Weise sich in den je spezifischen körperlichen Normen (und davon abweichenden Körpern) ein gesellschaftlicher Zusammenhang entfaltet. In seinen genealogischen Arbeiten veranschaulicht er, dass und in welcher Weise Körper sowie spezifische MachtWissens-Konstellationen in einem wechselseitigen Konstituierungsprozess stehen. Überdies nimmt er nicht nur individuelle Körper, sondern auch die kollektiven Körper in den Blick und zeigt die Weise auf, in der Körperpolitik beziehungsweise Körper und Gesellschaft im Rahmen der Biopolitik produktiv gemacht werden (vgl. Schmincke 2009, S. 135). Als vermittelndes Element des gesellschaftlichen Zugriffs auf den individuellen und den Bevölkerungskörper bestimmt er die Norm (vgl. Schmincke 2009, S. 135), die vor allem auch verkörpert wird.

Vertiefendes Zwischenresümee Theorie und Diskussion

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tiken verankert. So bieten ihre Arbeiten instruktive Perspektiven auf Konstruktionsweisen des Geschlechterkörpers, insbesondere auf die machtvollen Wirkungsweisen von Normen und den durch und über diese produzierten Ausschlüsse und Verwerflichmachungen. Die körpersoziologische Positionierung ermöglicht Prozesse der Ein- und Ausschließung von Körpern im offenen Kinder- und Jugendtreff sowohl als Resultat inkorporierter sozialer Teilungsprinzipien sowie als Ausdruck für eine an spezifischen Normen und Unterscheidungen ausgerichteten sozialen Ordnung zu begreifen. Konkretisierend wird dies im empirischen Part der Arbeit untersucht. Inhalt des zweiten theoretischen Kapitels war eine Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit und Körper. Die präsentierten Inhalte des Kapitels zielten zum einen darauf ab, eine integrierte Sicht auf die Lebenswelten von potentiellen Adressat*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu erarbeiten. Zum anderen wurde darin ein spezifisches Verständnis von Ein- und Ausschließung für die Analyse entwickelt. Das Konzept Intersektionalität nimmt in der Studie den Status eines heuristischen Rahmens ein, der es ermöglicht, die Komplexität sozialer Ungleichheits- und Benachteiligungsverhältnisse bewusst zu halten. Da ,Verkörperung‘ jedoch immer mehr ist als die Verschränkung von Kategorien (vgl. Villa 2011), wurde sich bezugnehmend auf Konzepte der Körpersoziologie den sozialen und symbolischen Dimensionen von Klassifizierung und Positionierungen zugewendet. Abschließend wurde eine Perspektive entwickelt, die Ausschließung auf sozialer Ebene, auf der Ebene der Praktiken, sowie auf symbolischer Ebene, diese umfasst Deutungen und Bewertungen, begreifbar werden lässt. Symbolischer Ausschluss ist auf der Ebene von Deutungen und Bewertungen anzusiedeln. Sozialer Ausschluss ist hingegen auf der Ebene der Praktiken zu verorten. Ergänzend wurde herausgearbeitet, dass Klassifikationen in besonderer Weise innerhalb von jenen Kategorien wirksam werden, die auf Ausschließung gerichtet sind. Sie sind als (diskursive) Konstruktionen, die Ausschließung spezifischer Gruppen legitimieren (sollen), kritisch in den Blick zu nehmen. Und auch in diesem Zusammenhang gelten oftmals körperliche Merkmale als ursächlich. Ferner wird entlang von Klassifikationen über das ,symbolische‘ Kapital von Anerkennung oder Missachtung ausgehandelt. Missachtende Zuschreibungen lassen sich so als ausschließend positionierende Praktiken perspektivieren, die Jugendlichen die Zugehörigkeit zu Anderen vorenthalten. Bewertungen und Bezeichnungen fließen wiederum in alltägliche Interaktionen ein, sie werden auch auf der sozialen Ebene wirksam und beeinflussen die (Möglichkeiten der) Positionierungen von Jugendlichen, im Sinne ihrer Zugehörigkeits- und Teilhabechancen, ebenso wie viel an Anerkennung ihnen in den jeweiligen Kontexten zugesprochen wird. Ein- und Ausschließungen sind zuletzt als positionierende Praktiken verstehen (vgl. Machold 2015). Insofern Einzelne oder Gruppen in einer konkreten Situationim Jugendtreff ein- oder ausgeschlossen werden, werden sie im sozialen Gefüge des Jugendtreffs situativ positioniert. Da Positionierungen und die damit einhergehenden

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Vertiefendes Zwischenresümee Theorie und Diskussion

Ein- und Ausschlüsse Einzelnen oder Gruppen auch einen Platz innerhalb soziosymbolischer Ordnungen zuweisen oder die Einnahme eines solchen eben nicht ermöglichen, lassen Ein- und Ausschließungen sich ferner als übersituativ positionierende Praktiken auslegen. Der empirische Zugang auf die gewählte Thematik lässt sich durch die sozialen Praktiken vornehmen. Eine Auseinandersetzung mit zentralen Elementen der Praxistheorie stand somit im Fokus des dritten Kapitels. Damit konnte für die Analyse ein praxistheoretisches Verständnis sozialer Praktiken erarbeitet werden, in dem die Körperlichkeit sozialer Praktiken sowie deren Performativität in besonderer Weise Berücksichtigung findet. Eingedenk praxistheoretischer Debatten, so wie insbesondere Reckwitz (2003) oder Hörning und Reuter (2004) darlegen, sind soziale Praktiken als kleinste Einheit des Sozialen und als Bedingungsmoment sozialer Ordnungen bestimmbar. Folglich gelten soziale Praktiken als Ort, an dem soziale Ordnungen – einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse – ausgehandelt werden. Auch Böllert und Thole (2013) weisen darauf hin, dass Gesellschaft, Subjektivität sowie die ,das Soziale‘ mitkonstituierenden Ordnungen sich über soziale Praktiken reproduzieren. Sie werden über diese kontinuierlich hervorgebracht und an-, beziehungsweise aufgerufen (vgl. ebd., S. 202). An Fragen nach Praktiken im Feld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit scheinen praxistheoretische Postulate anschlussfähig, da mit diesen begründbar wird, warum die empirisch ethnographische Betrachtung auf die ,skilful performance‘ von Körpern im Rahmen der sozialen Ordnung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu richten ist. Durch eine praxistheoretische Rahmung kann das ,Wie‘ der jugendlichen Praktiken diskutiert, deren körperliche Fundierung begründet und somit können Praktiken an den in der Praxistheorie relevant gesetzten Dimensionen Performativität und Inkorporation orientiert werden. Das Verstehen dieser körperlichen Darstellung und deren Deutung sind für die soziale Ordnungsbildung konstitutiv. Durch die Forschungsstrategie der Ethnographie geraten soziale Praktiken und ihre Performativität empirisch in den Blick, ebenso inkorporierte, praktische Wissensbestände, welche sich in Form von habitualisierten Handlungs- und Kommunikationsmustern manifestieren. Sie sind durch die Beobachtung von Praktiken rekonstruierbar. Für das Handeln sind nicht der kognitive und der reflexive Wissensbestand entscheidend, sondern das eingekörperte Wissen, das im Tun selbst liegt (vgl. Schulz 2013, S. 53). Dabei verschiebt sich der Blick, denn Körper geraten in einen doppelten Fokus: Zum einen sind sie unmittelbar in Praktiken von Jugendlichen beteiligt, sodass ihre Rekonstruktion eine Beschreibung von Körper impliziert. Zum anderen haben soziale Praktiken Jugendlicher Konstruktionen sozialer Ordnungen – einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse – zum Inhalt. Im sich anschließenden Kapitel vier wurden die bis dahin erarbeiteten Annahmen über Körper auf das Phänomen der Jugend bezogen. Diesem wurde sich unter Berücksichtigung verschiedener disziplinärer Perspektiven angenähert, die Jugend als

Vertiefendes Zwischenresümee Theorie und Diskussion

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ein soziales Konstrukt erkennbar werden lassen, das immer auch Gesellschaft widerspiegelt. Es wurden auch zentrale Themen und Herausforderungen der Jugend präsentiert. Dass das ,Reden über‘ ,die Jugend‘ zu einem Ort der Thematisierung gesellschaftlicher ,Unordnung‘ und ,Regellosigkeit‘ wird und dies der Herstellung eines übergreifenden politisch-wissenschaftlich-professionellen Einvernehmens dient (vgl. Anhorn 2010), hat ebenso Berücksichtigung gefunden. Da die Jugendforschung jedoch eine gewisse ,Blindheit‘ gegenüber dem Körper aufweist (vgl. Griese 2007, S. 16), wurde der Themenkomplex Jugend mit ungleichheitstheoretischen und praxeologischen Sichtweisen in Zusammenhang gebracht und körpertheoretisch eingeordnet. Hierbei rückte der Themenkomplex der Inszenierung in den Fokus. Es wurde gezeigt, dass in der Lebensphase Jugend gerade Inszenierungen und Bearbeitungen des Körpers im Kontext von (Nicht-)Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen genutzt werden – sogar als Ressource fungieren. In den jeweiligen Gruppen sind auf Körper bezogene Normen wirksam, die sich im Verhalten, in Bewegungen sowie im Aussehen materialisieren. In der Auseinandersetzung mit diesen theoretischen Zugangsweisen lassen sich alltägliche Praktiken von Jugendlichen, in denen sie ihre Körper in unterschiedlichen Weisen bearbeiten, als soziale Praktiken perspektivieren, in denen der Körper als Kapital eingesetzt wird, das Distinktionsgewinne verspricht. In anderer Betrachtungsweise gelten sie als ,Technologien des Selbst‘. Dabei werden Körper an spezifischen Normen orientiert, die aus der Inkorporation sozialer Strukturen resultieren und somit nicht unabhängig von diesen gedacht werden können. Über diese Sichtweisen hinausgehend lassen sich körperliche Praktiken von Jugendlichen jedoch auch als Praktiken erschließen, über die sie sich sozial positionieren. Sie werden somit in einem größeren gesellschaftlichen Rahmen verstehbar. Gleichzeitig wurde der Frage nachgegangen, in welcher Weise soziale Unterscheidungen in Praktiken von Jugendlichen relevant werden und wie darüber soziale Ordnungen – einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse – hergestellt und aufrechterhalten werden. Dafür wurden Verkörperungen in der Lebensphase Jugend unter den Aspekten Klassifizierung, Positionierung und Zugehörigkeit beleuchtet. Dabei gilt die körpersoziologische Einsicht grundlegend, dass Körper nicht in Naturform in Erscheinung treten, sondern von sozialen Verhältnissen geprägt werden, genauso wie sie an deren Hervorbringung beteiligt sind. In welcher Weise über den Körper Ein- und Ausschließungen verhandelt werden, wird sodann anhand von konkreten Menschen an einem konkreten (pädagogischen) Ort empirisch in den Blick genommen. Hier stellt sich als zu untersuchender Raum das Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit vor. Es gilt zum einen als sozialpädagogisch professionelles Tätigkeitsfeld, zum anderen als ein Ort, an dem sich ein großer Teil des alltäglichen Lebens vieler Jugendlicher abspielt. Aus diesem Grund beschäftigte sich das fünfte Kapitel mit dem Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Vor dem Hintergrund einer prägnanten Verortung im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe wurden Konturen dieses pädagogischen Arbeits- und Handlungsfeldes gestreift sowie Arbeitsprinzipien und zentrale

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Vertiefendes Zwischenresümee Theorie und Diskussion

theoretische Konzepte erschlossen. Die so systematisierten Begriffe und Zusammenhänge bilden den heuristischen Rahmen der Studie und somit auch ein Fundament für die sich anschließende empirische Analyse. Das folgende siebte Kapitel führt in den empirischen Teil der Studie ein. In diesem werden die theoretischen Annahmen und Zusammenhänge anhand eines pädagogischen Handlungsfeldes an ethnographischen Daten konkretisiert, um so auch. Mitsamt weisen beide Teile eine relative Eigenständigkeit auf, jedoch zielen sie gemeinsam darauf ab, das Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit für die Dimensionen des Körperlichen zu öffnen.

7

Körper empirisch

Das nun folgende siebte Kapitel führt in den empirischen Part der Arbeit ein. Beginnend mit der erneuten Fokussierung auf die Forschungsfrage werden der Forschungsgegenstand sowie die Forschungsmethode in prägnanter Weise präsentiert und reflektiert. Analytisch wird der Jugendtreff erstens Schaubild des Sozialen, zweitens als Bühne des Sozialen sowie drittens als pädagogischer Raum differenziert. An diese Darstellung anschließend werden methodische und methodologische Herausforderungen, die sich ergeben, wenn zu Körper(n) geforscht wird, einbezogen und diskutiert. Da für den empirischen Zugang zu Körpern in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit eine ethnographische Annäherung am geeignetsten ist, erfolgt sodann eine Einführung in die Forschungsstrategie der Ethnographie. Die Darlegung ihrer zentralen Merkmale erfolgt in Anlehnung an Klaus Amann und Stephan Hirschauer (1997), die Ethnographie als Erkenntnisstil des Entdeckens auslegen. In methodischer Hinsicht wird diese durch Perspektiven der Körpersoziologie erweitert. In einem daran anschließenden Part wird der Forschungsprozess skizziert und es werden Einblicke in die Forschungspraxis gegeben. Abschließend stehen zentrale Aspekte der Grounded Theory im Fokus, die im Zuge der Auswertung in methodischer sowie in methodologischer Hinsicht als Orientierungsrahmen gilt. Empirie und Theorie werden in der Arbeit nicht als voneinander getrennt perspektiviert, sondern im Anschluss an Kalthoff (2008) lassen sich theoretische und empirische Forschung als ineinander verwoben betrachten (vgl. ebd., S. 10). Bevor diese theoretischen Sichtweisen entfaltet werden, erfolgt eine Positionierung zur eigenen Erkenntnisproduktion. Dabei wird auf Perspektiven der reflexiven Erziehungswissenschaft (vgl. Friebertshäuser et al. 2006) Bezug genommen. Perspektiven der reflexiven Erziehungswissenschaft Der Tatsache, dass Forscher*innen immer auch Teil der herrschenden Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster sind, tragen die im Kontext der reflexiven Erziehungswissenschaft geführten Auseinandersetzungen Rechnung. Innerhalb dieser wird es als zielführend erachtet, dass Forschende sich eigene Interpretationsschemata über wissenschaftliche Reflexion und Theorie bewusst machen sollten, um so zu neuen Perspektiven zu gelangen (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 111). Daran schließt die vorliegende Arbeit an, stellt scheinbare Selbstverständlichkeiten in Frage und wirft neue Fragen auf (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 111). Für ein solches Verständnis ist die Annahme zentral, dass bereits den Fragestellungen, den Kategorien sowie dem jeweiligen Wissenschaftsverständnis der Forscher*innen kollektive und unbewusste Vorurteile inhärent sind (vgl. Bourdieu 1993). Bereits Pierre Bourdieu weist darauf hin, dass wissenschaftlich generierte Erkenntnisse immer auch an die Stellung der Wissenschaftler*innen in einem je spezifischen Feld eingebunden sind. Daran an© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. B. Burghard, Körper und Soziale Ungleichheit, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 19, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31200-8_8

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Körper empirisch

knüpfend votiert er dafür, wissenschaftliches Denken und Forschen selbst zum Gegenstand einer reflexiven Analyse zu machen (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 110-111). So zielt sein Ansatz sowohl auf die Erforschung der scheinbaren Selbstverständlichkeiten in der Alltagswelt, die nicht in Frage gestellt werden, als auch auf die Klassifikationssysteme, die festlegen, was als interessant und als uninteressant bewertet oder was nicht in Frage gestellt wird (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 111). In Bezug auf erziehungswissenschaftliches Denken und Forschen lässt sich festhalten: Erkenntnisse über die historischen, kulturellen und sozialen Dimensionen von Bildungs-, Sozialisations-, und Erziehungsprozessen sind genauso nötig, wie die Reflexion eigener Konstruktions- und Verstehensprozesse. Unter jene bündelt Friebertshäuser (2012) Akte der Identifizierung von Gegenständen, Klassifizierungen von Daten, methodische und analytische Instrumente sowie die Beziehungen zwischen Forscher*innen und ihren jeweiligen Forschungsgegenständen. Nicht zuletzt zählt dazu auch die eingenommene Position im jeweiligen sozialen Raum sowie innerhalb eines Wissenschaftsfeldes (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 111). Eine Möglichkeit diesem Anspruch gerecht zu werden besteht Friebertshäuser (2012) zufolge darin, Formen der Selbstreflexion grundlegend in die Wissenschaft einfließen zu lassen. Eine solche zielt indes darauf ab, dass sich Forscher*innen des biographischen, geschlechtlichen, kulturellen, sozial und historisch begrenzten eigenen Standortes im sozialen Raum und des daraus resultierenden Denkhorizontes stets bewusst werden, nicht zuletzt um die Grenzen des Denkbaren zu erkennen und zu erweitern (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 111). 7.1

Forschungsgegenstand und Forschungsmethode

Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit dem Körper und beleuchtet dabei Bedeutungsfacetten des Körperlichen innerhalb von Ein- und Ausschließungsprozessen in einem pädagogischen Handlungsfeld. Dabei ist das Erkenntnisinteresse leitend, wie Prozesse der Ein- und Ausschließung im Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit über Körper verhandelt und wie darüber gesellschaftliche Ordnungen konstituiert und reproduziert werden. Dafür gilt die körpersoziologische Annahme grundlegend, dass Körper nicht in ,Naturform‘ in Erscheinung treten, sondern von sozialen Verhältnissen geprägt werden und soziale Ungleichheit immer auch eine körperliche Dimension hat. Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Ethnizität und Migration, Alter, Behinderung oder Jugend finden dabei ihren Ausdruck an Körpern. So pointieren auch Hahn und Meuser (2002), dass Körper die sozialen Bezüge repräsentieren, in denen sie agieren. Fasst man diese Kategorien als Unterscheidungen, so gilt zu bedenken, dass diese zumeist mit körperlichen Aspekten gekoppelt, an Körpern gelesen und als körperliche Natur ontologisiert werden (vgl. Hark und Villa 2017, S. 15). Eine vertiefende Annäherung dieser und weiterer unterschiedlich gelagerter Perspektiven erfolgte in den vorangestellten Kapiteln bereits theoretisch. Im folgenden

Forschungsgegenstand und Forschungsmethode

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Teil werden sie im Rahmen einer ethnographischen Studie in einem offenen Kinderund Jugendtreff konkretisiert, nicht zuletzt um Zusammenhänge erkennbar zu machen und darüber zu spezifischen Erkenntnissen zu gelangen. Den empirischen Ausgangspunkt bildet sodann ein Offener Kinder- und Jugendtreff. Ein Jugendtreff scheint in besonderer Weise geeignet, da dieser zum einen als offener Raum potenziell allen Jugendlichen zur Verfügung steht und die Praktiken von Jugendlichen dort eine spezifische Körperlichkeit aufweisen (vgl. Cloos 2009). Überdies verweist dieses pädagogische Handlungsfeld, ähnlich wie andere spezifische Handlungsfelder des Körpers, so etwa des Sports oder des Tanzens, grundlegend auf die körperliche Dimension sozialer Praxis (vgl. Klein 2010, S. 457). Insgesamt richtet sich der ethnographische Blick auf den Offenen Kinder- und Jugendtreff als Ganzes, das heißt, dass innerhalb der Darstellung der Ergebnisse zum einen eine lebensweltorientierte Sicht auf die Adressat*innen eingenommen wird, um in Bezug auf das beforschte spezifische pädagogische Handlungsfeld Erkenntnisse und Zusammenhänge zu gewinnen. Zum anderen fließen auch Sichtweisen der Professionellen auf die Adressat*innen ein. Somit repräsentiert die Studie unterschiedliche Facetten des jugendpädagogischen Alltags, der ohne die Körperlichkeit der Adressat*innen genauso wenig denkbar wäre, wie ohne die der professionell Handelnden Dass nicht ,ausgeschlossene Körper‘ Einzelner oder von Gruppen innerhalb des Jugendtreffs als Gegenstand der Arbeit gewählt wurden, liegt darin begründet, dass mit einer solchen Herangehensweise der Gegenstand zum Ausgangspunkt gemacht würde und auf diese Weise festgeschrieben worden wäre (vgl. Schmincke 2009). Zudem wurde sich in der ethnographischen Beobachtung am Prinzip der Offenheit und in der Auswertung an der Methodologie der Grounded Theory orientiert, der zufolge der Gegenstand aus dem empirischen Material zu erschließen ist. 401 Überdies richtete sich der Blick nicht nur auf die alltäglichen Praktiken der Besucher*innen, sondern auf den Jugendtreff als Ganzes. Dies beinhaltete auch die konkreten Räumlichkeiten sowie die in diesem Handlungsfeld tätigen Professionellen. Es scheint nicht zielführend, eine Perspektive zugunsten einer anderen auszuschließen, möchte man ein Bild des pädagogischen Handlungsfeldes als Ganzes zeichnen. Zudem sprach das in der teilnehmenden Beobachtung generierte Datenmaterial sehr eindeutig an, diese Perspektive nicht auszuklammern, denn die beobachtbaren und situierten Praktiken der im Jugendtreff Arbeitenden mit den Adressat*innen zeigten, dass sich auch auf dieser Ebene Ein- und Ausschließungen wirkungsvoll darstellen. Der Offenen Kinder- und

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Das ursprüngliche Forschungsinteresse richtete sich eigentlich auf die Dimensionen des Leiblichen. Erste Sichtungen der Literatur und des Materials orientierten sich folglich an Theorien zur Leiblichkeit. Im Laufe des Forschungsprozesses sowie innerhalb vielfältiger Diskussionen im Kolloquium, in der die Fragsetellung und die Theoretisierung immer wieder diskutiert und modifiziert wurde, rückte die Leiblichkeit stets wieder in den Hintergrund.

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Körper empirisch

Jugendtreff wird für die vorliegende Studie dafür – primär theoretisch – in drei Dimensionen differenziert, die im folgenden Abschnitt diskutiert werden. Jugendtreff als ,Schaubild des Sozialen‘ Räume der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sind – genauso wie Körper – als Felder von Prozessen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen durchdrungen und als solche zu markieren. In Räumen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit finden gesellschaftliche Ungleichheits- und Machtverhältnisse, einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse, in unterschiedlicher Weise ihren Ausdruck. Um dieser Perspektive gerecht werden zu können, wird der Jugendtreff in der Arbeit in Anlehnung an Hirschauer (1997) als ,Schaubild des Sozialen‘ perspektiviert. Dem Jugendtreff wohnt somit eine Ordnungsdimension gesellschaftlicher Strukturen und Ungleichheiten inne, in der Körper sozial in Erscheinung treten.402 Im Anschluss an die Sichtweisen, die im zweiten Kapitel erarbeitet wurden, ist der Jugendtreff durch komplexe (intersektionale) Ungleichheitsverhältnisse geprägt. Im Rahmen einer solchen (Mikrophysik der) Ordnung dient individuelle Körperarbeit zum einen als Form der Beziehungsarbeit, da sie zur Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen eingesetzt wird (vgl. Hahn und Meuser 2002, S. 10). Zum anderen eignen Jugendliche sich den Jugendtreff mit ihren Körpern an und innerhalb diesem erfolgen auch darüber unterschiedliche Positionierungen. Der Körper wird dabei nicht selten als Kapital eingesetzt, das Distinktionsgewinne verspricht. In anderer Perspektive gelten Bearbeitungen des Körpers als ,Technologien des Selbst‘, über die Jugendliche sich sozial positionieren. Dafür stehen den ihnen unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung. Die Möglichkeiten ihrer Positionierung hängen auch davon ab, wie ihre Körper dort wahrgenommen werden. Es lässt sich festhalten, dass die Besucher*innen des Jugendtreffs ihre jeweiligen Positionierungen in der sozialen Ordnung des Jugendtreffs aushandeln und dabei ihre Körper zum Einsatz kommen.

402

Dass der Offene Kinder- und Jugendtreff nicht auf einen Raum fixierbar ist, findet in dieserArbeit auch Berücksichtigung. Die architektonische Beschaffenheit des Jugendtreffs sieht bereits vor, dass in dem Gebäude, in dem der Jugendtreff verortet ist, mehrere Räume existieren. Zugleich stellen die Personen, die sich im Jugendtreff aufhalten, immer wieder körperlich Räume her und lösen diese auf. Die Lesart zielt darauf ab, dass Räume nicht unabhängig von Körpern existieren, sondern sich aus der Anordnung von (sich bewegenden) Körpern ableiten. Diese sind unmittelbar an der Produktion von Räumen beteiligt. Somit rücken auch der Herstellungscharakter von Räumen sowie deren körperliche Bedingtheit in den Blick. Derartige Sichtweisen legen insbesondere raumsoziologische Debatten nahe. Mitsamt nimmt Offene Kinder- und Jugendarbeit in verschiedener Weise auf die Raumfrage Bezug. So fragen etwa Thiersch und Grunewald (2005) nach Raum als Grunddimension der Lebensweltorientierung oder Kessl (2018) nach Raum als Handlungs- und Bezugseinheit der Sozialraumorientierung. Raum erscheint als Lernfeld im Sinne seiner Aneignung. Ferner kann Raum auch als Resultat von Aushandlungsprozessen diskutiert werden, was im Hinblick auf Macht, Teilhabe und Handlungsfähigkeit von Jugendlichen anschlussfähig ist. Diese Aspekte fließen jedoch nicht in die Analyse ein.

Forschungsgegenstand und Forschungsmethode

275

Innerhalb dieser Praktiken wird Ein- und Ausschluss auf sozialer Ebene, also auf der Ebene von Handlungen und Handlungsfolgen, wirksam. Als Raum ist der offene Jugendtreff jedoch nicht nur durch gesellschaftliche Strukturkategorien, sondern auch durch Normen hierarchisch und potenziell exklusiv strukturiert.403 Normen rahmen demnach die Positionierungen von Jugendlichen und entlang dieser werden auch Ein- und Ausschlüsse verhandelt. Sie bestimmen mit, wer als zugehörig eingeschlossen oder als nicht-zugehörig ausgeschlossen wird.Etwas konkreter formuliert: Alltägliche (körperbasierte) Interaktionen sowie die Positionierungen von Jugendlichen sind oft mit normativen Bewertungen verbunden. Sie finden ihren Ausdruck in Bewegungen, im Verhalten und im Aussehen und zeigen sich in alltäglichen und auf ,soziale Merkmale‘, wie ,Klasse, Ethnizität oder Geschlecht, bezogene Klassifikationen und Zuschreibungen. Das betrifft sodann die Ebene der Semantiken, der Zuschreibungen und Bewertungen. In Anlehnung an die erarbeiteten Perspektiven des zweiten Kapitels verstehen sich diese als Klassifikationen. Einem so gefassten Verständnis zufolge lässt sich der Jugendtreff als Schaubild des Sozialen perspektivieren, in dem Gruppen und Akteur*innen in Bezügen zueinander stehen, in denen über Ausschluss auf symbolischer Ebene verhandelt und in denen darüber hinausgehend das symbolische Kapital von Anerkennung oder Missachtung ausgehandelt wird. Die Bewertungen, die Körper von Einzelnen oder von Gruppen dabei erfahren, fließen wiederum in die Interaktionen innerhalb des Jugendtreffs ein.404 Eingedenk eines Verständnisses von symbolischem Ausschluss, der sich auf der Ebene von Deutungen und Bewertungen (des Körpers) vollzieht, lässt die Frage danach virulent werden, wie die Klassifikationen sich auf die Teilhabe- und Positionierungsmöglichkeiten im Kontext des Offenen Kinder- und Jugendtreffs auswirken. Klassifikationen tendieren in einer solchen Sichtweise dazu, Einzelne oder Gruppen abzuwerten und ihnen somit eine Position der Ungleichwertigkeit zuzuweisen. Überdies schließen sie Einzelne oder Gruppen auch symbolisch von der vollwertigen Zugehörigkeit zu lokalen Gruppen aus. Über diese Perspektivierung hinaus werden im Jugendtreff Normen der Anerkennbarkeit ausgehandelt. Körper und körperliche Praktiken sind innerhalb des Raumes Erwartungen, Zuschreibungen und Etikettierungen ausgesetzt. Anerkennung oder Intelligibilität (und Subjektstatus) erlangen dort indes diejenigen Körper, deren Auftreten und Verhalten, wie ihre Bewegungen, Haltungen und Gesten, jeweils eine als im Jugendtreff angemessene und akzeptierte soziale Form gewinnen (vgl. Kalthoff,

403 404

So stellen etwa Geschlechterverhältnisse oder Klassenverhältnisse einen Bestandteil ihrer Anerkennungslogiken dar. Im Jugendtreff lassen sich Mechanismen der sozialen Inklusion nachzeichnen, die explizit die symbolische Deutung von Körperformen vorsehen. Diese stellen, so Hahn und Meuser (2002), eine besondere Anforderung an individuelle Körperarbeit dar.

276

Körper empirisch

Rieger-Ladich, Alkemeyer 2015, S. 18). Dabei gelten manche Körper und auch Umgehensweisen mit dem Körper als sozial anerkennungsfähig, intelligibel und manche nicht. Bestimmte Körper werden auf diese Weise in Räume eingeschlossen, während andere (aus Räumen) ausgeschlossen bleiben. Es lässt sich bündeln; In der Sichtweise des Jugendtreffs als ,Schaubild des Sozialen‘ sind verschiedene Dimensionen vereint, deren zufolge der Offene Kinder- und Jugendtreff durch eine spezifische soziosymbolische Ordnung, einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse, strukturiert ist und diese in alltäglichen körperlichen Praktiken konstituiert und reproduziert wird. Der Offene Kinder- und Jugendtreff als Bühne des Sozialen In einer zweiten Sichtweise fungiert der Jugendtreff als Bühne des Sozialen. Dass im Alltag der Offenen Kinder- und Jugendarbeit eine breite Vielfalt von verschiedenen körperlichen Aufführungen zu finden ist, sei es in spielerischen Kämpfen, im Tanz, beim Tischkickern, Kochen, Billard oder Gesang, darauf verweist Schulz (2013). Er stellt auch heraus, dass derartige soziale Praktiken im sozialpädagogischen Handlungsfeld dies- und jenseits institutionell vorgegebener Auftrittsmöglichkeiten und offerierter Angebote vorfindbar sind (vgl. Schulz 2013, S. 56). Der Offene Kinderund Jugendtreff fungiert demnach als Aufführungsort und Zuschauer*innenraum, als Austragungsort für Wettkämpfe und Spiele und nicht zuletzt als ein Ort der Herstellung von Zugehörigkeit und Abgrenzung. In diesem setzen Jugendliche sich und ihre Körper ein und ,in-Szene‘. Körperliche Praktiken sind somit als Aufführungen zu perspektivieren, die vor einem Publikum aufgeführt werden. Der Offene Kinder- und Jugendtreff als pädagogischer Raum Ein komplexes Bild ergibt sich zudem, wenn der Offene Kinder- und Jugendtreff als pädagogischer Raum perspektiviert wird. Innerhalb eines solchen pädagogischen Raums werden nicht nur Arbeitsbündnisse hergestellt, sondern er ist auch durch spezifische Normen pädagogischer Fachlichkeit strukturiert und ist als Ort sozialpädagogischer Wirklichkeitskonstruktion zu fassen. Die Gestaltung von Arbeitsbündnisses ist eine Facette des Offenen Kinder- und Jugendtreffs.405 So fungiert er als ein sozialer Ort, an dem Differenzen zwischen Professionellen und Adressat*innen egalisiert und ebenso die komplementären Beziehungen gemeinsam mit Jugendlichen performativ hergestellt werden (vgl. Thole et al. 2011, S. 124-125). Innerhalb dieser Gestaltungen sollen auch soziale Differenzerfahrungen ermöglicht werden. Der Jugendtreff erweist sich dabei produktiv im Hinblick

405

Der Offene Kinder- und Jugendtreff als pädagogischer Raum ist Cloos et al. (2007) zufolge als eine ,Arena‘ zu perspektvieren, in der immer wieder Arbeitsbündnisse hergestellt werden.

Körper Forschen?! Method (-olog) ische Herausforderungen

277

auf die Positionierung der Adressat*innen. 406 Positionierungen, die sich im Jugendtreff gezeigt haben – etwa als Migrant*in oder als ,Zigeuner*in‘ – sind als Wirkung gesellschaftlicher Unterscheidungspraxen zu verstehen, die einem Offenen Jugendtreff über- und vorausgelagert sind (vgl. Mecheril 2014, S. 18-19). Zudem ist der Offene Jugendtreff durch dort geltende Regeln und spezifische Normen bezüglich pädagogisch relevanter Themen oder Fachlichkeit strukturiert. Einige Umgehens- und Verhaltensweisen mit dem Körper gelten als pädagogisch zu bearbeiten, andere hingegen werden sanktioniert oder ausgeschlossen. 407 Zuletzt ist der Offene Kinder- und Jugendtreff ein Ort (sozial-) pädagogischer Wirklichkeitskonstruktion, deren Erforschung Zugänge dazu verspricht. Ferner ermöglicht die empirische Annäherung an die alltägliche Praxis Einblicke in bestehende soziale Ordnungen, einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse. Bevor die methodische Vorgehensweise im Rahmen der Studie expliziert wird, sei auf einige (forschungstheoretische) Herausforderungen hingewiesen, die sich dann ergeben, wenn der Körper in den Mittelpunkt des forscherischen Interesses rückt. 7.2

Körper Forschen?! Method (-olog) ische Herausforderungen

Mit der körpertheoretischen Positionierung der Arbeit sind Herausforderungen verbunden, die im Folgenden im Hinblick auf methodologische Überlegungen diskutiert werden sollen. Die Forschungsstrategie der Ethnographie gilt gemeinhin als prädestinierter Forschungszugang zu Praktiken und Körper(n). So weist auch Goffmann (1996) ausdrücklich darauf hin, dass Forscher*innen vor der Herausforderung stehen, ihre Körper zur Erhebung von Daten in sozialen Situationen einzusetzen (vgl. ebd., S. 263). Er pointiert: „Die Technik besteht meines Erachtens darin, Daten zu erheben, indem man sich selbst, seinen eigenen Körper, seine eigene Persönlichkeit und seine eigene soziale Situation den unverhersehbaren Einflüssen aussetzt, die sich ergeben, wenn man sich unter eine Reihe von Leuten begibt, ihre Kreise betritt, in denen sie auf ihre soziale Lage, ihre Arbeitssituation, ihre ethnische Stellung oder was auch immer reagieren.“ (Goffman 1996, S. 263). Die Körperlichkeit der Beforschten sowie der Forschenden stellt folglich eine unhintergehbare Facette forscherischer Praxis dar. Was es jedoch methodisch und methodologisch bedeutet, Körper zum 406

407

Das Jugendzentrum stellt (so wie andere Orte, beispielsweise die Schule) einen Raum dar, der die Jugendlichen und die dort Tätigen in Selbstverständnisse und Selbstpraxen einführt, die durch hegemoniale Ordnungen vorstrukturiert sind (vgl. Mecheril 2014, S. 18). Mecheril (2014) zufolge gilt als ein Beispiel im Kontext der Schule die Positionierung als Schüler*innen im migrationsgesellschaftlichen Raum. Im beforschten Handlungsfeld zeigte sich die Wirkmacht dieser Normen: Wenn etwa geltende Regeln des Offenen Jugendtreffs missachtet werden, hat es mitunter zur Folge, dass bestimmte Körper (temporär) aus dem Jugendtreff ausgeschlossen werden. Dazu zählen jedoch nicht nur Missachtungen von im Jugendtreff geltenden Regeln, sondern auch Anlässe, in denen Verhaltensweisen der Besucher*innen an Grenzen von Fragen pädagogischer Fachlichkeit wie Antirassismus oder Antisexismus stoßen.

278

Körper empirisch

Forschungsgegenstand zu haben oder aber dass Forscher*innen körperlich im Forschungsprozess situiert sind und diesen beeinflussen, wird im Rahmen der Kinderund Jugendhilfeforschung bislang wenig diskutiert und reflektiert. Dass der Körper sich in forschungstheoretischer Hinsicht mehrfach als Herausforderung stellt, darauf verweisen etwa Niekrenz und Witte (2011). Eine erste Schwierigkeit mit der Beschäftigung dieser grundlegenden Kategorie liegt bereits darin, dass Körper – ähnlich wie Raum und Zeit – fortwährend ,mitlaufen‘. Folglich geschieht auch Forschung in Raum und Zeit mit Körpern. Da Körper und Leib von Forscher*innen in der wissenschaftlichen Arbeit gegenwärtig sind, stellen diese Dimensionen relevante Facetten von Forschungspraktiken dar (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 10). Diese Annahmen bilden auch Kerngedanken der Soziologie des Körpers.408 In dieser rückt der Körper nicht nur in den Mittelpunkt theoretisch-analytischer Diskussionen, sondern auch in das Zentrum empirischer Fragen. Sobald zum Beispiel Körper in den Fokus von Beobachtungen rücken, ist zu berücksichtigen, dass neben dem Sprechen auch nonverbale und ,schweigsame‘ Beiträge der Körper von höchster sozialer Relevanz sind (vgl. Schindler 2017, S. 396). Somit richtet eine körpersoziologische Forschung, genauso wie die Ethnographie, ihren Blick auf die Dimension der ,Schweigsamkeit‘ des Sozialen. Mit sprachbasierten Forschungsmethoden, wie etwa der Diskursanalyse oder mit Interviews, ist diese nur eingeschränkt erforschbar (vgl. Schäfer und Schindler 2017, S. 472). Der Einsatz von Beobachtungsverfahren liegt also nahe. Niekrenz und Witte (2011) zufolge dürfte es jedoch nicht nur vordergründig sein, Körper als Forschungsobjekt zu perspektivieren. Sie weisen ausdrücklich darauf hin, dass Körper auch als Forschungssubjekt innerhalb von Forschungskontexten Berücksichtigung finden sollten (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 10). Gugutzer (2004) markiert ebenfalls die Notwendigkeit einer methodologischen Reflexion darüber, wie körperlich sinnliche Vorgänge als Erkenntnisquelle wirken und den Forschungsprozess beeinflussen mögen (vgl. Gugutzer 2004, S. 15). 7.3

Körper Forschen – Ethnographie als Methode und Methodologie

Diese Studie versteht sich als ethnographische Studie. Um Körper zu beobachten und eine „genaue Beschreibung sozialer Ordnungen abzugeben“ (Kelle 1997, S. 199), sind besonders ethnographische Zugänge und die damit am häufigsten verknüpften Methoden der teilnehmenden Beobachtung geeignet (vgl. Friebertshäuser 1997; Lüders 2015). Ethnographie kann sowohl als Methode, als auch als Methodologie fungieren: Als Methode ist Ethnographie sodann als teilnehmende Beobachtung auszuweisen. Als Methodologie gilt sie im Anschluss an Lüders (2015) als eine flexible, methoden-

408

In dieser werden Körper, Leib sowie die Verkörperung des Sozialen theoretisch mitgedacht; es wird ferner der Forderung nachgekommen, Verkörperung grundlegend in die Konzeption von Sozialität einzubeziehen (vgl. Lindemann 2005, S. 115).

Körper Forschen – Ethnographie als Methode und Methodologie

279

plurale und kontextbezogene Forschungsstrategie. „Ethnographie der eigenen Kulturen wird so zu einem Medium der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung“ (Lüders 2015, S. 390). Amann und Hirschauer (1997) verbinden mit dem Begriff ,Ethnographie‘ einen theoretischen und methodischen Kulturalismus. „Theoretisch geht es um die Hervorhebung eines Phänomenbereichs gelebter und praktischer Sozialität, dessen ,Individuen‘ (Situationen, Szenen, Milieus…) gewissermaßen zwischen den Personen der Biographieforschung (mit erlebter Sozialität) und den (nationalen) Bevölkerungen der Demographie anzusiedeln sind. Methodisch wird mit der Adaption der ethnologischen Leitdifferenz von Fremdheit und Vertrautheit ein Vorgehen etabliert, für das jenes offensive Verhältnis zum Nicht-Wissen charakteristisch ist, das wir eben als Heuristik der Entdeckung des Unbekannten bezeichneten“ (Amann und Hirschauer 1997, S. 11).409 Ethnographische Zugänge erweisen sich mithin als prädestiniert dafür, die Körperlichkeit sozialer Praktiken in ihrer Performativität empirisch in den Blick zu nehmen. Mit ihnen wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die ,schweigende Dimension des Sozialen‘ (Amann und Hirschauer 1997) am besten durch eine (körperliche) und längere Anwesenheit von teilnehmenden Beobachter*innen eingefangen werden kann (vgl. Cloos und Köngeter 2006, S. 67).410

409

410

In einer ersten Annäherung charakterisiert Lüders (2015) Ethnographien als Beschreibung von Ethnien oder – in Anlehnung an Honer (1993) – als Beschreibungen von kleinen Lebenswelten (vgl. Lüders 2015, S. 389). Anders als die traditionelle Ethnologie oder die Kuluranthropologie, fokussieren sozialwissenschaftliche Ethnographien vorrangig auf die eigene Kultur beziehungsweise auf die Kulturen der eigenen Gesellschaft. Sie stellen auch die darin eingelagerten Wissensbestände und -formen in das Zentrum der Aufmerksamkeit (vgl. Lüders 2015, S. 390). Ethnographische Studien untersuchen insbesondere Perspektiven von Teilnehmer*innen, ihre Wissensbestände und -formen, ihre Interaktionen, Praktiken und Diskurse (vgl. Lüders 2015, S. 390). Ethnographie zielt auf eine Beschreibung und Analyse der kulturellen Praxis in Alltagswelten (Kelle 2004, S. 636). Theoretisch formuliert steht im Zentrum der ethnographischen Neugier die Frage danach, wie und mit welchen situativ eingesetzten Mitteln – die jeweiligen Wirklichkeiten– praktisch ,erzeugt‘ werden (vgl. Lüders 2015, S. 391). Somit geht es in der Ethnographie um die situativ eingesetzten Mittel zur Konstitution sozialer Phänomene aus der teilnehmenden Perspektive (vgl. Lüders 2015, S. 390). Das Eintauchen in eine gelebte, situative Ordnung und Praktiken sind dafür konstitutiv. Vom alltäglichen Blick der Teilnehmer*innen unterscheidet sich das Erkenntnisinteresse der Ethnograph*innen dadurch, dass sie – anders als Teilnehmer*innen einer Situation, die handlungspraktisch nach Lösungen für ihre Probleme suchen – ihren Blick auf jene Aspekte der Wirklichkeit richten, die diese gleichsam als selbstverständlich voraussetzen. Ethnographischen Zugängen liegt mitunter die Annahme zugrunde, dass die situative Praxis und das lokale Wissen einer Analyse nur durch eine länger andauernde Teilnahme sowie durch eine anhaltende Kopräsenz von Beobachter und Geschehen zugänglich gemacht werden können (vgl. Lüders 2015, S. 391). Dies wurde insbesondere in den letzten Jahren aufgegriffen und somit die Praxis der Offenen Kinderund Jugendarbeit theoretisiert und empirisch fundiert (siehe dazu Müller et al. 2005; Cloos et al. 2009; Rose und Schulz 2007; Schulz 2010).

280

Körper empirisch

Für die Kinder- und Jugendarbeit erweisen sich ethnographische Zugänge als besonders fruchtbar, weil hier – stärker als in anderen pädagogischen settings – das ,Vorsprachliche‘ – das inkorporierte Wissen der Teilnehmer*innen in Form von habitualisierten Handlungs- und Kommunikationsmustern sowie das ,Stumme‘, das sich nicht mitteilen kann, Bedeutung erlangt (vgl. Cloos und Köngeter 2006, S. 67).411 Thole (2011) zufolge sind dazu etwa der Raum, die Sitzordnung und die Kleidung zu zählen (vgl. Thole et al 2011, S. 116-117). Dadurch erst gerät Alltagshandeln in den Blick, welches größtenteils unbewusst und – auf Nachfragen hin – den Beteiligten nicht sprachlich verfügbar ist, da sie es „im Modus des Selbstverständlichen und der eingekörperten Routine haben“ (Amann und Hirschauer 1997, S. 24). Es lässt sich bündeln: Ethnographische Zugänge ermöglichen die Beobachtung und Dokumentation der körperlichen und präreflexiven Praktiken (vgl. Schulz 2010, S. 13). Aus diesen Gründen wurde im Rahmen des Forschungsprojekts ein ethnographischer Zugang gewählt. Der Schwerpunkt liegt somit auf der teilnehmenden Beobachtung. Überdies wurden ethnographische Interviews mit Professionellen und Jugendlichen hinzugezogen. Im anschließenden Part werden einige Charakteristika ethnographischer Forschung aufgeführt, welche sich in vielerlei Hinsicht deutlich von einem Methoden- und Gegenstandsverständnis sowie der Praxis der quantitativen Sozialforschung abgrenzen. Auf Besonderheiten der quantitativen Sozialforschung wird jedoch nicht vertiefend eingegangen.412 Bevor in Kerngedanken der Forschungsstrategie der Ethnographie eingeführt wird, werden diese im Kontext erziehungswissenschaftlicher Theorie und Empirie verortet. Ethnographische Zugänge in der Erziehungswissenschaft Im Folgenden wird die Verbreitung ethnographischer Ansätze im Kontext der Erziehungswissenschaft umrissen. Ethnographie ist einzureihen in den Kanon der qualitativ-rekonstruktiven Forschungsmethodologie (vgl. Cloos und Thole 2006, S. 9). Weist Jürgen Zinnecker (2000) einer dezidiert pädagogischen Ethnographie zunächst eine ,randständige Positionierung‘ (Zinnecker 2000, S. 384) zu, so nimmt sie mittlerweile

411

412

Cloos und Thole (2005) zufolge ermöglichen ethnographische Zugriffe Einschätzungen und Deutungen zum Handeln; darüber hinaus lässt sich mit ihnen das Handeln selbst in den Blick nehmen (vgl. Cloos und Thole 2005; Cloos und Köngeter 2006, S. 67). Ethnographische Zugänge grenzen sich insbesondere dadurch von Methoden- und Gegenstandsverständnissen der quantitativen Sozialforschung ab, dass sie eine ,methodische Freiheit‘ für sich beanspruchen. Diese nutzen sie als Erkenntnisgewinn. Für ethnographische Empirie ist somit eine Befreiung von Methodenzwängen konstitutiv, welche darauf zielt die Reaktivität des Feldes oder die Bedeutung von Forscher*innen gering zu halten. Sie stellen eine methodisch notwendige Freiheit für den Forschungsprozess dar. Diese methodische Freiheit hat der Ethnographie das Image einer ,fröhlichen Wissenschaft‘ gegeben (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 17).

Körper Forschen – Ethnographie als Methode und Methodologie

281

eine bedeutende Stellung innerhalb sozialwissenschaftlicher und erziehungswissenschaftlicher Forschung ein (vgl. Thole et al. 2011, S. 116). Ergänzend zu vielfachen professionsbezogenen Studien, in denen schwerpunktmäßig mittels biographischnarrativ angelegter Designs Narrationen der jeweiligen Beteiligten in den empirischen Blick gerieten, wird in ethnographischen Zugängen das unmittelbare (pädagogische) Handeln zum Gegenstand gemacht (vgl. Thole et al. 2011, S.115). Entgegen empirischer Untersuchungen, welche auf die subjektiven Deutungen des Handelns zielen, ermöglichen ethnographische Zugänge das Handeln, das Erhandelte sowie das ,Stumme‘ selbst in den Blick zu nehmen (vgl. Thole et al. 2011, S. 117). Somit kann die Einnahme einer ethnographischen Perspektive dazu beitragen, „die spezifischen Modalitäten zwischen institutionell-organisatorischen, adressat*innenbezogenen und professionellen Perspektiven sowie interaktionsbezogenen und gesellschaftsbezogenen Strukturierungen und Vernetzungen in den Handlungsfeldern der Pädagogik im Allgemeinen und der Sozialen Arbeit im Besonderen zu entschlüsseln“ (Cloos und Thole 2006, S. 10).413 Erziehungswissenschaftliche Forschung zielt darauf ab – so Friebertshäuser (2012) – die Deutungs- und Handlungsmuster von Akteur*innen in schulischen und außerschulischen Arbeitsfeldern, komplexen Lebenszusammenhängen, biographischen Lebensverläufen, institutionellen Rahmenbedingungen sowie Interaktions-, Sozialisations-, Lern-, Erziehungs- und Bildungsprozessen systematisch zu erfassen und zu beschreiben, um sie dann interpretieren zu können. Dabei gilt es, der Einzigartigkeit einer jeden Person und jedes pädagogischen Feldes gerecht zu werden, sowie die Typik, strukturelle Gesetzmäßigkeiten, die historischen wie auch individuellen Ressourcen und Begrenzungen herauszuarbeiten. Es sollte dem Anspruch Rechnung getragen werden, die eigenen theoretischen und empirischen Analyseinstrumente kritisch zu reflektieren, die Grenzen der jeweiligen Weltauffassungen und Deutungen auszuloten, um diese längerfristig zu erweitern. Denn nicht zuletzt ist das Verstehen Voraussetzung für pädagogisch (professionelles) Handeln (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 97). Bezogen auf erziehungswissenschaftliche Themenfelder zielt ethnographische Forschung zum einen darauf ab, den Blick für kulturelle und soziale Dimensionen von Sozialisations-, Bildungs- und Erziehungsprozessen zu schärfen, den Sichtweisen und stummen Botschaften von Adressat*innen pädagogischer Maßnahmen Geltung zu verschaffen sowie Interaktionsprozesse zu rekonstruieren. Zum anderen sollen Aspekte symbolischer und struktureller Gewalt oder institutioneller Diskriminierung in den Blick genommen werden (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 110). Dafür – so Friebertshäuser (2012) – benötigt auch die pädagogische Praxis den fremden Blick auf das scheinbar Vertraute, um beispielsweise den Alltag der Reflexion zugänglich zu 413

Zur Verknüpfung von Biogafieforschung und Ethnographie (Dausien und Kelle 2005; Marotzki und Bohnsack 1998).

282

Körper empirisch

machen (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 110). Mitsamt sollten Forscher*innen sich beim Verstehen gegen die Verführung der vorschnellen Kategorisierungen und totalisierenden Deutungen immunisieren, denn diese neigen dazu, soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten ebenso wie bereits etablierte aber möglicherweise unzutreffende Deutungen zu reproduzieren (vgl. Friebertshäuser 2008; 2012). Im Kontext der Kinder- und Jugendarbeit taucht zudem die Frage nach ethnographischer Kompetenz der Professionellen in der Kinder- und Jugendarbeit auf (vgl. Lindner 2000). Methodisch stellte der Fokus auf Körper eine besondere Herausforderung dar. Im Hinblick darauf ermöglicht ein ethnographischer Zugang, die sozialen Praktiken von Kindern und Jugendlichen zum Gegenstand der Forschung werden zu lassen, die sich in ,Performance-Momenten‘ sowie einer situationsbezogenen und spezifischen Körperlichkeit dokumentieren (vgl. Thole et al. 2011, S. 117). Durch die Teilnahme am Geschehen und der (typischen) Aneignung der Perspektive der zu Untersuchenden kann Ethnographie – unter Reflexion des vorgängigen eigenen Verstehens – ,natürliche‘ settings beschreiben. Sie trägt also dazu bei, Alltagserklärungen und Alltagshandlungen besser zu verstehen (vgl. Thole et al. 2011, S. 116). Mitsamt zielen ethnographische Forschungsstrategien darauf, Interpretationen einer sozialen Praxis durch Teilnehmer*innen des Feldes nah am Geschehen zu erfassen. Entlang der praktischen Erfordernisse, des situativen settings sowie der routinisierten und habitualisierten Praktiken – welches ein jedes Feld mit sich bringt – können Interpretationen der Teilnehmenden erhoben werden. Diese wiederum erläutern, begründen oder reflektieren das konkrete Handeln, das als routinisierte Praxis ohne ethnographische Fragen nicht thematisch geworden wäre (vgl. Thole et al. 2011, S. 116). In welcher Weise Ethnographie als Erkenntnisstil des Entdeckens zu verstehen ist, wird in den anschließenden Ausführungen skizziert. 7.4

Ethnographie als Erkenntnisstil des Entdeckens

Ethnographische Studien zielen auf das Alltagshandeln, auf kulturelle Erscheinungen, Lebensstilmuster und Habitus. Sie fokussieren ferner auf soziale Sinnwelten, auf nonverbale, ästhetische und performative Elemente des sozialen sowie kulturellen Lebens und somit auf jene Aspekte des Sozialen, die schwer verbal zu vermitteln sind (vgl. Friebertshäuser 2012, S. 110). Amann und Hirschauer (1997) – die eine soziologische Variante der Ethnographie im deutschsprachigen Raum vertreten – bezeichnen die Ethnographie als Erkenntnisstil des Entdeckens. Auf diesen richten sich die im Folgenden präsentierten Abschnitte. Die Ethnographie findet ihren Ursprung im Kontext der (traditionellen) Ethnologie und Kulturanthropologie (vgl. Kelle 2004, S. 636). Richtet sich die forscherische Neugier von Ethnolog*innen und Kulturanthropolog*innen auf die Entdeckung von fremden Kulturen, so wenden Ethnograph*innen die Heuristik des Entdeckens des Unbekannten auf die eigene Kultur an. In Nutzung einer ethnologischen Perspektive

Ethnographie als Erkenntnisstil des Entdeckens

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richtet sie ihren Blick nicht nur auf das so genannte ,kulturelle Fremde’, sondern auch auf die Erfahrung dieser kulturellen Fremdheit. Die Ethnographie macht dabei alle möglichen Gegenstände zum Objekt theoretischer und empirischer Neugier (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 9). Dabei setzen Ethnograph*innen auf einen ,weichen‘ Methoden-, jedoch ,harten‘ Empiriebegriff (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 9). Eine ethnographische Besonderheit besteht darin, dass mittels einer Heuristik des Entdeckens des Unbekannten, gewöhnlichste Ereignisse und Felder zu soziologischen Phänomenen gemacht werden. Damit verfolgt sie das Ziel, die Soziologie so an den Phänomenen selber zu erneuern (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 9-10). Alltägliche Situationen und Erfahrungen werden unter der Prämisse des zu entdeckenden Unbekannten betrachtet. Amann und Hirschauer (1997) zeigen auf: „Das weitestgehend Vertraute wird dann betrachtet als sei es fremd, es wird nicht nachvollziehend verstanden, sondern methodisch ,befremdet‘: es wird auf Distanz zum Beobachter gebracht“ (vgl. ebd., S. 12). Die teilnehmende Beobachtung ist das Kernstück ethnographischer Forschung. Sie bietet zum einen zahlreiche Erkenntnischancen, zum anderen stellt sie die Forschenden vor vielfältige Herausforderungen.414 Insofern sie sich als körperliche Wesen in eine Situation begeben und sich ihre körperlichen und leiblichen Kompetenzen zu nutze machen, basiert das Verstehen des Feldes auf der persönlichen und körperlichen Teilnahme der Forscher*innen an einem Feld. Gemeinhin notieren sie das Erblickte und Gehörte, genauso wie die sich vor dem eigenen Leib abspielende Lebenswirklichkeit. Folglich wird das am eigenen Leib Erfahrene zum Material einer soziologischen Analyse (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 27). In der ethnographischen Feldforschung wird ferner mit ,dichter Beschreibung‘ (Geertz 1983), wissenschaftlicher Analyse, Interpretation und Reflexion gearbeitet. Sammlung und Auswertung der Daten findet in bestimmten Phasen gleichzeitig statt (vgl. Langer 2008, S. 69-70). In Orientierung an die Grounded Theory sind theoretische und empirische Prozesse folglich miteinander verwoben (vgl. Friebertshäuser 1997, S. 511). Theoretische und empirische Praxis Wenngleich das Verhältnis von Theorie und Empirie in theoriegeleiteten Debatten vielfach diskutiert wird, heben die Überlegungen zur Ethnographie von Amann und Hirschauer (1997) darauf ab, dieses in ein produktives Verhältnis miteinander zu bringen. Theoretische und empirische Arbeitsprozesse sind wechselseitig verschränkt 414

Die teilnehmende Beobachtung ist indes eine soziale Form der Integration von Fremden in eine Lokalität (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 16-17). Als ein mögliches Risiko wird dieser Erhebungsform oftmals das ,going native‘ zugeschrieben. Amann und Hirschauer (1997) gewichten jedoch die Erkenntnischancen dieser Methode stärker als ihr Risiko (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 16-17).

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Körper empirisch

(vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 36). Entgegen der Annahme, dass in der Ethnographie komplett auf theoretische Vorannahmen zu verzichten sei, stärken Amann und Hirschauer (1997) diese These: Theorien fungieren als „Denkwerkzeuge, ein intellektuelles Kapital, das in ,Empiriebildung‘ reinvestiert werden muss, um seine Produktivität zu entfalten“ (Amann und Hirschauer 1997, S. 37).415 Das Verhältnis von empirischen und theoretischen Arbeiten stellt sich folglich als Relation kultureller Praktiken dar. Ethnographisch betrachtet erscheinen das Empirische und das Theoretische sodann als Merkmale eines kulturellen Unternehmens, das sich auf eine ganz spezifische Weise von (der Praxis) der umgebenden Alltagswelt unterscheidet (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 40). Im Kontext ethnographischer Forschung hebt die Wissensproduktion auf die Verschriftlichung von im Alltag eines sozialen Feldes gemachten Erfahrungen ab, ferner auf die Distanzierung und Befremdung von alltäglich Gegebenem und Selbstverständlichem. Theorien und Methoden fungieren als Mittel der Distanzierung von der Alltagswelt, an die sie stets wieder anknüpfen (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 40). Das Besondere der Ethnographie besteht in der Mobilität von Ethnograph*innen sowie in der Vermischung soziologischer Sprechpraxis mit der Alltagssprache. Letztere nimmt in der Ethnographischen Forschung eine große Bedeutung ein.416 Für die allgemeine Vertiefung dieser Forschungsstrategie ist ergänzend hinzuzufügen, dass sich ethnographische Forschung in der Regel über recht lange Zeiträume hinweg zieht. Zudem werden in zeitlich gestreckten Forschungsprozessen viele und unterschiedliche Daten erzeugt, so etwa Dokumente, die von den Teilnehmer*innen eines Feldes erstellt wurden, Schriftstücke, Artefakte, Interviewdokumente, Konversationsmitschnitte, Videotakes. Das, was sie erst zur Ethnographie macht, ist ihre Einbettung in den Kontext andauernder teilnehmender Beobachtung (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 16). Methodologie der Ethnographie Im Folgenden werden weitere Charakteristika ethnographischer Forschung in Anlehnung an Amann und Hirschauer (1997) dargelegt. Ihnen zufolge zeichnet ethnographische Praxis sich durch den Methodenzwang des Feldes sowie die Introspektion 415

416

Ethnographische Empirie lässt sich zum einen als unruhiges Moment gegenüber theoretischen Stereotypen bestimmen. Insofern sich Theorien im Feld als unproduktiv erweisen können, ist der Forschungsstrategie dekonstruktives Potenzial inhärent. Dieses entfaltet sich an totalisierenden Begriffen, die universelle Applizierbarkeit beanspruchen (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 37). Zum anderen kennzeichnet die Ethnographie als empirische Strategie ein gewisser Opportunismus. Dieser lässt sich als theoretisches Gebot markieren. Die Teilnahme am Feld und das ,going native‘ dienen dabei der Irritation soziologischer Konzepte, denn sie ermöglichen in stärkerem Maße, dass begrifflich theoretische Vorannahmen von Forscher*innen durch Erfahrungen im Feld viel stärker berührt und infrage gestellt werden als durch (bloße) Theoretisierungen. In der Ethnographie gilt es jedoch immer auch die räumlichen Bedingtheiten, in denen sich beobachtbare Praktiken und Deutungen vollziehen, zu berücksichtigen.

Ethnographie als Erkenntnisstil des Entdeckens

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sozialer Situationen aus. Beide Aspekte werden im anschließenden Part in gebotener Kürze beleuchtet. Ethnographien liegt ein kultursoziologisches Verständnis sozialer Ordnungen zugrunde. Dies umfasst auch eine Auffassung von der Gelebtheit kultureller Ordnungen im Sinne einer ,Sozio-Logik‘. Sie zu ergründen bildet mithin den zentralen Fokus ethnographischer Forschung, was sie allerdings auch vor komplexe Herausforderung stellt. Anders als Formen und Verfahren standardisierter (qualitativer) Sozialforschung ist Ethnographie im Hinblick auf die Erkundung sozialer Phänomene durch das Prinzip der Offenheit und der Exploration gekennzeichnet. Die Ethnographie ist dabei keine kanonisierbare und anwendbare ,Methode‘, sondern eine „opportunistische und feldspezifische Erkenntnisstrategie“ (Amann und Hirschauer 1997, S. 20).417 „Der Methodenzwang und die Methodizität ethnographischer Wissensproduktion liegen im Feld des Empirischen, in der Kontakt- und Erfahrungssituation. Nicht die ,Logik der Forschung‘, sondern die komplexe Pragmatik des Erfahrungsfeldes erfordert Verhaltens- und Beobachtungsweisen, die sich an dessen gelebter Ordentlichkeit entwickeln müssen“ (Amann und Hirschauer 1997, S. 20). Ethnographisch zu forschen bedeutet, sich in Unbekanntes zu wagen, sich mithin von einem Feld und seinen Äußerungsformen permanent verunsichern zu lassen und genau dies erkenntnisbringend zu nutzen. Ethnographien können sodann als mimetische Formen empirischer Sozialforschung ausgewiesen werden (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 20).418 Eine jede ethnographische Forschung beginnt mit der scheinbar trivialen und unmethodisch anmutenden Frage: „What the hell is going on here?“ (Geertz; in Amann und Hirschauer 1997, S. 20). Diese Frage lässt das Suchen nach Antworten zu, ohne vorab Kriterien festzulegen. Ein weiteres Charakteristikum ethnographischer Praxis stellt die anhaltende Kopräsenz von Beobachter*in und Geschehen dar. In der teilnehmenden Beobachtung – 417

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Der Ethnographie liegt die Annahme zugrunde, dass der Methodenzwang vom Gegenstand (und nicht von der Disziplin) ausgeht. Dies liegt in einem kultursoziologischen Verständnis von sozialer Ordnung begründet. Das Feld erscheint folglich als „ein sich ständig selbst methodisch generierendes und strukturierendes Phänomen“ (Amann und Hirschauer 1997, S. 19). Die Selektivität und Methodizität ethnographischer Forschung wird nicht durch externe Vorschriften und Hypothesen (über das Was, Wann, Wo, Wie) eines standardisierten Beobachtungsverfahrens reguliert, sondern vom Gegenstand erhofft (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 20). Die Erwartung an ihn ist eine doppelte. Es wird davon ausgegangen, dass jedes Feld über eine Sozio-Logik im Sinne einer kulturellen Ordentlichkeit verfügt und diese in der schrittweisen Positionierung und ,Eichung‘ der Ethnograph*in im Feld handhabbar gemacht und als empirisches Wissen mobilisiert werden kann (Amann und Hirschauer 1997, S. 20). Erste Resultate eines ethnographischen Forschungsprozesses sind die Konstitution eines Feldes sowie die Begrenzung relevanter Beobachtungseinheiten. Ethnographisch arbeitende Forscher*innen stellt dies erstens vor die Aufgabe, eigene Selektionen für das Unerwartete offen und zweitens begriffliche Festlegungen für das Überraschende reversibel zu halten. Somit schreiben sich die eigensinnigen Strukturen des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes – mit seinen Bedingungen des Feldzugangs, den sukzessiven thematischen Festlegungen und den Verzweigungen von entstandenen Forschungsfragen – in den ethnographischen Forschungsprozess ein, genauso wie sie diesen formieren (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 20-21).

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dem Kernstück ethnographischer Forschung – vollzieht sich zeitgleich die lokale Praxis mit, die wiederum die kulturelle Ordnung konstituiert. Unterstützt wird sie durch prägnante Aufzeichnungen. Gleichsam wird diese lokale Praxis distanzierend rekonstruiert und so letztlich Wissen produziert. Damit geht es um ein ständiges ,Hin- und Herlavieren‘ zwischen dem ,Inneren‘ und dem ,Äußeren‘ von Ereignissen (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 20). Dies lässt sich nun in körpertheoretischer Sicht methodisch aufgreifen und unter dem Aspekt des Herstellens der Beobachtbarkeit von Körpern verhandeln.419 Insgesamt – so lässt sich festhalten – bezeichnet Ethnographie die synchrone länger andauernde Beobachtung lokaler Praxis. Ziel ist mitsamt nicht, durch Beobachtung und Sammlung von Daten eine homogene und somit objektivierte und autorisierte Version einer Sicht auf diese Praxis zu produzieren. Ethnographische Praxis wird vielmehr mit dem Bewusstsein vollzogen, dass sie es mit perspektivisch gebrochenen Feldern zu tun hat, in denen parteiliche Versionen miteinander konkurrieren. Dies verlangt eine multiple Perspektivenübernahme sowie eigenständige Versionen (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 23).420 Auch Thole et. al (2011) weisen ausdrücklich

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Das Erfordernis der Kopräsenz hat indes einen räumlichen und zeitlichen Aspekt. Gemäß des Desiderats der Gleichörtlichkeit, zeigt sich das (kultur-) soziologisch Relevante nur unter situativen Präsenzbedingungen. Der soziologische Gegenstand ist folglich in den situierten, öffentlichen Ausdrucksformen gegenwärtiger kultureller Ereignisse zu lokalisieren (Amann und Hirschauer 1997, S. 22). Die Präsenz von Forscher*innen und Beobachter*innen in einem sozialen Geschehen ist somit unabdingbar. Ferner ist die Fortsetzung dieser – im Sinne einer länger anhaltenden Dauer – nötig, um potenzielle Selektivität bewältigen zu können. Eine Möglichkeit die Selektivität von Forscher*innen im sozialen Geschehen zu minimieren, könnte die Verwendung von Video- und Tonbandgeräten sein. Dem ist jedoch entgegen zu setzen, dass die Selektivität der Beobachter*innen durch ihre feld- und themenspezifische Fokussierung wesentlich geringer ist. Insofern Forscher*innen länger an sozialen Geschehen teilnehmen, werden sie zu Ko-Teilnehmer*innen eines Feldes. Dieser Aussage liegt die Annahme zugrunde, dass Selektivität eine eigentümliche Eigenschaft jeglichen sozialen Geschehens ist. In der ethnographischen Forschungspraxis geht es eben nicht darum, diese zu minimieren, sondern als situationssensitive Steuerung zu bewältigen. Der zeitliche Aspekt der Kopräsenz liegt in der Synchronizität der Begleitung von Sinnbildungsprozessen (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 22). In Interviews etwa, in denen Befragte über ihre Praxis berichten, werden Sinnbildungsprozesse von Interpretationen und Kommentierungen geschlossen. Insofern Beobachter*innen in sozialen Geschehen bei Sinnbildungsprozessen ko-präsent sind, geht es darum, in Kenntnis von lokaler Praxis und lokalem Wissen Teilnehmer*innen-Schilderungen adäquater verstehen zu können (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 23). Gegenüber Interviews haben synchrone Beobachtungen mit ihrem Blick auf die Praxis den Vorzug, dass sie nicht lediglich die Selbstbeschreibungen (Interpretationen, Meinungen und kognitive Wissensbestände) von Teilnehmer*innen erheben, sondern auf die präreflexiven Selbstformulierungen ihrer Praxis fokussieren (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 23-24). Durch das Beobachten können Forscher*innen das lokale Wissen ergründen, welches für Teilnehmer*innen – in Handlungssituationen oder auf Nachfragen hin – schwerlich verfügbar ist, da sie es im Modus des Selbstverständlichen und der eingekörperten Routine haben (Amann und Hirschauer 1997, S. 24). Ethnographie ist somit als verstehende Analyse auszulegen. Ihr methodologisches Verständnis zum Verstehen der Teilnehmer*innen ist sozi-analytisch zentriert. Ethnographie praktiziert ferner eine Betrachtungsweise, wel-

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darauf hin, dass ethnographische Forschungsstrategien darauf spezialisiert sind, offene und komplexe soziale Alltagssituationen – in welchen Individuen durch kulturelle Praxen gemeinsam Wirklichkeit herstellen – durch Beobachtung (und damit einhergehend durch Ko-Präsenz im Feld), ,Befremdung‘ und Befragung der Feldteilnehmer*innen zu erfassen (vgl. Thole et al. 2011, S. 117). Die ,in-situ‘ Anwesenheit der Forscher*innen ermöglicht indes nicht die Welt der Anderen mit ihren Augen zu sehen, sondern ihre Weltsicht als gelebte Praxis zu erkennen (vgl. Thole et al. 2011, S. 117; vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 24). Hybridisierungen – Menschliche Forschungsinstrumente Den forschenden Ethnograph*innen kommt im Kontext der Forschungsrichtung der Ethnographie eine besondere Bedeutung zu. „Die subtile Handhabung ihrer persönlichen Kontaktformen mit den ,Eingeborenen‘ […] ist die erste Voraussetzung gelingender Forschung. Alle Instrumentalität muss verkörpert werden.“ (Amann/Hirschauer 1997, S. 25). In ethnographischer Forschung wird weitestgehend auf extrakorporale Forschungsinstrumente verzichtet. Dies stellt Forscher*innen zum Beispiel vor die Herausforderung, dass sie als ,personale Aufzeichnungsapparate‘ fungieren (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 25). Dass sie über Flexibilität, Empathie und die Fähigkeit einer Anpassung an das Feld verfügen, macht einen großen Vorteil für die Datengewinnung aus. Zum einen erscheinen sie zunächst als Fremde, die Notizen machen, zum anderen werden insbesondere (persönliche) und körperliche Eigenschaften insofern im Feld relevant, als dass sie Forschungsbeziehungen erleichtern oder erschweren. Die Einflussnahme der Forscher*innen durch ihre körperliche Anwesenheit wird im Kontext ethnographischer Forschung nicht als Störfaktor zu minimieren versucht, sondern als Erkenntnisquelle der Logik eines Feldes genutzt. Eine wesentliche und lebensweltliche Ressource, welche Ethnograph*innen als körperlich im Feld anwesende und sich bewegende Personen in einen Forschungsprozess einbringen, ist die Fähigkeit der Herstellung von Vertrauen und Vertrauensbeziehungen. Sie entwickeln sich zumeist erst im Laufe eines Forschungsprozesses, sodass Forscher*innen zu Beginn eines solchen zumeist eine größere soziale Beweglichkeit haben. Diese Freiheit wird fortlaufend durch Vertrauensbeziehungen ersetzt und somit erhalten Ethnograph*innen intensiveren Zugang zu den Personen im Feld und entsprechenden Informationen. Vertrauen – so lässt sich bündeln – „ist die soziale Basis für eine partielle Hybridisierung von Forschungssubjekt und Forschungsobjekt von beiden Seiten“ che Menschen nicht als Sinnzentrum, sondern als Appendix sozialer Situationen erachtet. Somit versteht sich Ethnographie als Teilhabe an der Introspektion sozialer Situationen (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 24). Folglich geraten nicht lediglich die Deutungen, sondern gerät auch die Handlungspraxis selber sowie das in dieser inkorporierte Wissen, in den Blick (vgl. Thole et al. 2011, S. 117).

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Körper empirisch

(Amann und Hirschauer 1997, S. 26). Dadurch wird es möglich, Auskünfte zu erzeugen und Dokumente zu gewinnen, deren Genese und Zuschnitt mit den Beobachtungen überprüfbar, situativ verstehbar sowie kontextuell relativierbar sind (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 26). Distanzierungen – Die Erneuerung des Befremdens Ethnographinnen und Ethnographen verfolgen mit den teilnehmenden Beobachtungen das Ziel, Wissen zu erzeugen. Dabei tauchen sie immer tiefer in ein Feld ein, was mit dem Begriff der partiellen Enkulturation verbunden wird (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 27). Um eigens gemachte Erfahrungen zum Material einer soziologischen Analyse werden zu lassen und diese zu objektivieren, sind indes Schritte der Distanzierung nötig. Sie zielen darauf ab, das ,Erfahrung-Machen‘ zu methodisieren (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 27). Sie sind essentiell für die (kontinuierliche) Befremdung des Vertrauten und auch dafür, dass Forscher*innen sich – nachdem sie etwas verstanden haben – noch mehr wundern (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 29).421 Ethnographisches Schreiben – Daten und Spuren Wenngleich die ,Teilnehmende Beobachtung‘ den Kern der Ethnographie ausmacht, so ist sie gleichermaßen als eine vielschichtige Schreibpraxis zu charakterisieren und zu reflektieren.422 Die Datenanalyse und die Datengewinnung im Fall von Beobachtungen bestehen folglich im Wesentlichen aus Schreibakten (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 30). Im Kontext ethnographischer Forschungsprozesse stellt auch das Beobachten einen Schreibprozess dar. Protokolle werden darin nicht lediglich als Erlebnisakkumulation sozialwissenschaftlich relevant, sie werden ferner weiterverarbeitet und leben als dichte Beschreibungen fort (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 421

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Um dies zu realisieren verweisen Amann und Hirschauer (1997) auf drei Bedingungen methodisierter Erfahrung: Die Spezialisierung von Beobachtungskompetenzen beinhaltet erstens die Fähigkeit zu reflexiver Distanzierung von gelebter Praxis mit begrifflichen oder empirischen Mitteln. Zweitens sollten Forscher*innen eine für das Feld akzeptable Beobachter*innenrolle etablieren, in welcher sie beobachten und aufzeichnen können und von feldspezifischen Handlungszwängen weitestgehend freigestellt sind (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 27). Eine dritte Bedingung methodisierter Erfahrung ist das Unterbrechen der Präsenz im Forschungsfeld und der Rückzug zum universitären Arbeitsplatz sowie zur kollektiven Bearbeitung (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 28). In diesen Phasen werden Ethnograph*innen bereits mit Übersetzungs- und Vermittlungsaufgaben konfrontiert. Sie arbeiten zunächst daran, dass ,Vertraut Gemachte des Fremden‘ zu plausibilisieren; sie prüfen ferner, ob sich die eigens gesetzten Relevanzen und individuell gewonnenen Einsichten als an disziplinäre Diskurse anschlussfähig erweisen. Auch können im disziplinären Diskurs vorfindbare Begriffe als Optik weiterer Beobachtungen im Untersuchungsfeld eingesetzt werden. Mitsamt gelten Ethnograpien nicht als Abbildungen oder Abschriften von autoritativen Repräsentationen fremder Welten. Vielmehr sind ethnographische Wirklichkeiten als rhetorische Konstruktionen zu deuten, im Kontext deren Wissensproduktion Schreibprodukte erstellt und Erfahrungen mobilisiert werden.

Ethnographie als Erkenntnisstil des Entdeckens

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30). Das Aufschreiben ist überdies als ein selektiver Akt des ,Zur-Sprache-Bringens‘ von Erfahrungen auszuweisen. Dadurch werden Phänomene verschriftlicht, die zuvor keine Texte waren (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 30). Erst durch das Aufschreiben werden aus Erfahrungen (der Forscher*innen im Feld) nutzbare Daten. Diese können später zum Gegenstand und Ausgangspunkt weiterer Erfahrungen gemacht werden.423 Zu dezidiert ethnographischen Daten werden beschriebene Beobachtungen, Ereignisse und Erlebnisse jedoch erst durch Sinnstiftungen – etwa durch die Bezeichnung einer Aktivität oder der Sequenzierung von Ereignissen – der Autor*innen.424 Im Schreiben sind Forscher*innen dazu aufgefordert, die Erfahrungen mittels der Herstellung von Gleichzeitigkeit, der Sequenzierung und der Komposition von Szenen zu verdichten. Textuelle Verdichtungen bilden indes nicht lediglich Beobachtungen ab: Sie überbieten sie, indem sie Protokollnotizen, Sinneseindrücke und situative Assoziationen zusammenkomponieren (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 35). Durch die Verschriftlichung von Daten werden jedoch nicht lediglich Daten produziert. Das aufgebotene verschriftlichte empirische Wissen enthält Spuren, Momente, die erinnert, intuitiv verstanden und zudem leiblich eingeprägt werden (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 31).425 Zu Beginn eines Forschungsprozesses besteht das ethnographische Schreiben eher aus Aufzeichnungsarbeit, deren Leser*innen die Autor*innen sind. In späteren Phasen wird das ethnographische Schreiben jedoch vermehrt zu einer adressat*innenbezogenen Vermittlungsarbeit, in der es darum geht, dicht am Erlebten entlang zu formulieren, mit Begriffen Eindrücke zu erfassen und Details zu verdichten. Ethnographische Beschreibungen sollten dabei weder paraphrastisch leer noch interpretativ überzogen sein (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 35).426 Sie sollten zum einen textimmanente Nachvollziehbarkeit einer theoretischen Interpretation sichern sowie die Möglichkeit des sekundären Mitvollzugs einer Erfahrung und Praxis eröffnen (vgl. Aman und Hirschauer 1997, S. 35).

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Sie autonomisieren dann das Aufgeschriebene von der erlebten Situation und erlauben den Autor*innen vielfältige Bearbeitungsformen unabhängig von der Kopräsenz der Gegenstände (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 30). Derartige Sinnstiftungen entstehen in einem spannungsreichen Verhältnis zwischen einem Hintergrund von gemachten Erfahrungen im Feld – welche dabei nicht in Aufzeichnungen transformiert wird – und einer Orientierung an einer auf Explikation angwiesenen Leser*innenschaft (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 31). Dass und in welcher Weise dies insbesondere aus Sicht anderer qualitativer Verfahren kritisch diskutiert wurde, findet sich weiterführend und vertiefend bei Amann und Hirschauer (1997, S. 31-34). Ethnographische Beschreibungen sind performativ. Sie haben den Stellenwert, den das Zeigen von Tabellen und Graphen in der quantitativen Sozialforschung aufweist (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 35).

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Körper empirisch

7.4.1

Körper (teilnehmend) beobachten

Im ersten Kapitel der Studie wurde der Körper als theoretische Kategorie herausgearbeitet und dies mit Perspektiven der Körpersoziologie plausibilisiert. Dass eine solche theoretische Positionierung auch an methodische Fragen anschlussfähig ist, wird in diesem Teil des methodischen Kapitels aufgegriffen und bearbeitet. Zudem werden in diesem Part Grundgedanken der Ethnographie mit Elementen der Körpersoziologie verbunden. Körpersoziologische Perspektiven für die Ethnographie Eine körpersoziologisch informierte Forschung zeichnet sich durch einige Besonderheiten aus, die nun anschließend diskutiert werden: Körpersoziologische Forschung beginnt mit der Beobachtung von Körpern, ihren sprachlichen Äußerungen ebenso wie ihren stummen Bewegungen, ihren Mimiken und Gesten (Schäfer und Schindler 2017, S. 472). Somit richtet sie ihren Blick auf die Dimension der ,Schweigsamkeit‘ des Sozialen. Diese umfasst ,stumme‘ Bewegungen, Mimiken und Gesten, welche essentielle Komponenten von jedweder Kommuniktion oder Interaktion darstellen, jedoch mit sprachbasierten Forschungsmethoden nur eingeschränkt erforschbar sind (vgl. Schäfer und Schindler 2017, S. 472). Folglich geht es darum, Interaktions- und Kommunikationsbeiträge von Körpern systematisch nachvollziehbar zu machen (vgl. Schindler 2017, S. 396). Damit rücken Situationen und Praktiken in den (empirischen) Blick, wobei einige Schwierigkeiten auftreten: Für die teilnehmende Beobachtung gibt es weniger Regeln, eher Strategien oder Erfahrungen (vgl. Schindler 2017, S. 397). Folglich ist es wichtig, dass Forscher*innen sich als körperliche Personen auf das Feld ein- und sich von seinen Gegebenheiten leiten lassen.427 Eine körpersoziologisch justierte Forschung sowie eine empirische Beobachtung sind gemäß des Prinzips der Offenheit an den jeweiligen Relevanzen des Feldes auszurichten. Eine solche Form der Beobachtung erlaubt es am ehesten herauszufinden, in welche Dynamiken und Interaktionsgeschehen Körper verwickelt sind (vgl. Schindler 2017, S. 398).428 Ferner sind Beobachtungsverfahren schwierig auszugestalten, da erstens Blicke auf den Körper konventionalisiert sind.429 Auch sind Körper nicht ohne die sie umgebenden 427

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Zu fragen ist also, welche Methode/n sich für den jeweiligen Untersuchungsgegenstand ergeben. Überdies wird in einer körpersoziologischen Forschung die Ko-Präsenz der Forschenden im Untersuchungsfeld bedeutsam. Sie stehen vor der Aufgabe, die gesamte Körpersensorik inklusive eines ,sozialen Sinns‘ einzusetzen, um verschiedene Formen empirischen Materials zu sammeln und zu generieren (vgl. Schindler 2017, S. 397). In Anlehnung an Erving Goffmann schreibt Larissa Schindler (2017), dass der eigene Körper auf die untersuchte Praxis ,eingestimmt‘ werden muss. Forscher*innen können ein Geschehen so weit wie möglich beobachten. Die Erfahrung am eigenen Leib ermöglicht sodann eine Wahrnehmung dessen, was jene Menschen leitet, deren Leben und Gewohnheiten man beschreiben möchte (vgl. Schindler 2017, S. 398). In nahezu jedweder Interaktion sind Körper wesentlicher Bestandteil, doch konzentriert sich Kommunikation nicht selten auf das Gesicht und auf Blickkontakte. Zwar werden auch Körper oftmals

Ethnographie als Erkenntnisstil des Entdeckens

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Dinge (Artefakte) zu beobachten. Körper sind in materielle Arrangements gebunden; sie können kaum alleine beobachtet werden. Körper sind nahezu nie als bloße Körper beobachtbar, sondern in dinglichen Arrangements und somit innerhalb komplexer Materialitäten. Kleidung ist beispielsweise als ein Arrangement zu betrachten, das Körper kulturspezifisch prägt, hervorbringt und soziale Praktiken strukturiert (vgl. Schindler 2017, S. 399). Zuletzt stellt es sich als Schwierigkeit dar, dem Tun der Körper sinnerfassend zu folgen: Praktiken folgen einer inneren Logik. Um diesen Sinn zu erschließen, bedarf es einer praxisgeschulten Sehfertigkeit. Das körpersoziologische Beobachten – so lässt sich schlussfolgern – kann deshalb nicht festgelegten Regeln folgen, sondern fordert von Forscher*innen, sich auf das Untersuchungsfeld und dessen Gewohnheiten einzulassen sowie gegenstandsorientierte Beobachtungsstrategien zu entwickeln (vgl. Schindler 2017, S. 400). Einer körpersoziologischen Forschung ist mithin die Annahme unterlegen, dass Beobachtbarkeit nicht per se gegeben, sondern mittels unterschiedlicher Strategien systematisch herzustellen ist. Beobachtbarkeit erfordert eine ,professional vision‘, einen (körper-) soziologischen Blick. Forscher*innen sind somit aufgefordert, eine spezifische Sehfertigkeit auf die Praxis zu schulen. Dies ist eine erhebliche analytische Leistung; genau deshalb sind das Schreiben und das Theoretisieren sehr wichtige Elemente körpersoziologischer Beobachtung.430 Charakteristisch für eine körpersoziologische Forschung ist – so lässt sich bündeln – eine Auseinandersetzung mit Blickgewohnheiten in einem Feld sowie die Herstellung von Beobachtbarkeit im Kontext dieser Blickkonventionen. Es lässt sich zusammenfassen: In der Beobachtung von Körpern geht es darum, Nähe und Distanz auszubalancieren und sie dabei als Strategie der Beobachtung nutzbar zu machen. Die Distanz zum Geschehen flexibel zu

430

direkt länger angeblickt oder kommentiert, etwa Lob für ein neues Kleidungsstück oder Bekundung von Sorge bei länger anhaltendem Gewichtsverlust, nichtsdestotrotz sind Blicke auf Körper konventionalisiert. Taxieren und fortwährendes Anblicken des Körpers können Irritationen hervorrufen (vgl. Schindler 2017, S. 399). Eine praxisgeschulte Sehfertigkeit erlaubt es, sich in die Blickordnung eines Feldes einzufinden und überdies auch anders zu schauen. Mit der Herstellung einer Beobachtbarkeit von Körpern in einer körpersoziologischen Forschung sind einige Herausforderungen verbunden. Die Frage danach, wie sich also die Beobachtbarkeit von Körpern herstellen lässt, ist nicht einfach zu beantworten. Erstens sind Forscher*innen aufgefordert, visuelle Gewohnheiten und Kompetenzen im Feld zu erlernen und sich mit einer feldspezifischen Blickordnung (Sehgewohnheiten und Sehkompetenzen) auseinander zu setzen (vgl. Schindler 2017, S. 400). Ferner ist Sensibilität dafür zu entwickeln, wieviel Blicke auf Körper in einem Feld gestattet sind. Dafür ist es bedeutsam, die Sehgewohnheiten und Sehkompetenzen der Teilnehmer*innen im Feld zu studieren, sie zu erwerben und zu erlernen. Zweitens sollte der Lernprozess (der Sehgewohnheiten des Feldes/im Feld) dokumentiert und systematisch nachvollziehbar gemacht werden. So entwickeln Forscher*innen eine ,praxisgeschulte‘ Sehfertigkeit, die ihrerseits Teil der empirischen Analyse ist (vgl. Schindler 2017, S. 400-401). Eine praxisgeschulte Sehfertigkeit (Schindler und Liegl 2013) bedeutet eine Fertigkeit, so sehen zu können wie die Teilnehmer*innen und überdies die feldspezifischen Sehgewohnheiten zu reflektieren und mit soziologischem Wissen in Verbindung zu bringen (vgl. Schindler 2017, S. 401). Das bedeutet etwa, gegen die Sehgewohnheiten eines Feldes zu schauen.

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Körper empirisch

halten bedeutet, zwischen diesen Perspektiven zu wechseln, um so ein differenziertes Bild von der untersuchten Praxis zu gewinnen. Im Forschungsprozess ist Beobachtbarkeit etwa dadurch herstellbar, dass Beobachten von Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten im Feld wiederholt und durch stetes Wechseln der Perspektiven oder durch die Fokussierung von neuen Beobachtungen geleistet werden. Insgesamt bedeutet es, soziale Prozesse körpersoziologisch in den Blick zu nehmen, eine zu schulende Form des Beobachtens sowie eine ,professional vision‘ (Schindler 2017, S. 404) zu entwickeln (vgl. auch Schindler und Liegl 2013). 7.4.2

Der ethnographische Forschungsprozess

Im Folgenden wird der Forschungsprozess präsentiert und reflektiert. In Kürze wird auf einige Herausforderungen eingegangen. Ethnographisches Forschen stellt einen zirkulären Prozess dar, in welchem Phasen des Eintauchens ins Feld einerseits sowie eine reflektierende Distanzierung andererseits ,methodisch kontrolliert‘ abwechseln und jeweils neue Fokussierungen und Perspektivierungen zur Folge haben (vgl. Thole et al. 2011, S. 117). Daran wurde sich im Wesentlichen in der Erhebungsphase orientiert. Den Schwerpunkt der Erhebung bildete die teilnehmende Beobachtung. Überdies wurden ethnographische Interviews mit Professionellen und Jugendlichen hinzugezogen. Einstieg in das Feld und Materialgewinnung Zunächst wird die Herangehensweise an den Einstieg in das ethnographische Projekt beschrieben. Im Rahmen der Dissertation wurden Körper im sozialpädagogischen Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit offen und teilnehmend beobachtet. Die Teilnahme erstreckte sich über einen längeren Zeitraum, in dem die Forscher*in an der alltäglichen Praxis des Forschungsfeldes teilnehmen durfte. Dabei wurden verschiedene Formen empirischen Materials gesammelt und generiert. Ziel der längeren Teilnahme war auch, in verschiedenen Formen in die gelebte Praxis des Offenen Kinder- und Jugendtreffs involviert zu werden und diese Involvierung für eine systematische und detailreiche Beschreibung zu nutzen. Zu Beginn der Beobachtungszeit wurden in intensiven Phasen teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Dazu war es wichtig, als Forscherin, als teilnehmende Beobachterin, eine spezifische Haltung, eine Haltung der ,künstlichen Fremdheit‘ oder eine der ,Attitüde der künstlichen Dummheit‘ einzunehmen (vgl. Hitzler 1986, S. 53). Anfangs wurde eine Vielfalt von Geschehnissen ungeordnet beobachtet um dadurch viel Geschehen möglichst umfassend in den Blick zu bekommen und festzuhalten. Zumeist wurden während der Beobachtungen kurze Szenen oder Stichpunkte festgehalten. Diese halfen, sich beim Ausformulieren an die ihnen zugeordneten Szenen zu erinnern.

Ethnographie als Erkenntnisstil des Entdeckens

293

Nach den jeweiligen Feldaufenthalten begann die Verschriftlichung der Erfahrungen und Beobachtungen. Die Protokolle wurden unmittelbar nach einer jeweiligen Beobachtung angefertigt und in anschließenden Bearbeitungen verdichtet. Mitsamt wurde darauf geachtet, Gefühle, Wahrnehmungen, Irritationen und Abwehrhaltungen sowie Prozesse der Einsozialisation in das Feld festzuhalten. Auf die Hinzunahme von Aufzeichnungsgeräten wurde verzichtet.431 Diese hätten zwar die Wörtlichkeit von Protokollierungen gewährleistet, sich aber möglicherweise negativ auf den Vollzug einer Situation ausgewirkt. Insgesamt war das Erstellen der Protokolle, der Memos sowie der verfassten Forschungstagebücher von dem Anspruch geleitet, die Erlebnisse einer Beobachtung möglichst detailliert und ausführlich zu dokumentieren. Als große Herausforderung zeigte sich dabei, in einem wechselseitigen Prozess von Einsozialisation in das Feld und Distanzierung davon, das in vielen Aspekten bekannte und immer bekannter werdende Feld zu befremden (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 118). Den Phasen der Beobachtungen folgten zeitweise Phasen am Schreibtisch, Diskussionen mit einem Forschungsseminar oder in Kolloquien, in denen die Beobachtungen einer Reflexion unterzogen wurden. Auf Basis der jeweiligen Reflexionen wurde der zunächst sehr offene Beobachter*innenblick allmählich fokussierter. Spezifische Personen oder Situationen wurden genauer betrachtet und vielfältige Fragen schlossen sich über das Material an. Gemäß des Prinzips des ständigen Vergleichs wurden dabei Sequenzen gegenübergestellt. Somit erfolgte ein ständiger Wechsel zwischen Forschungsprozess, Phasen der Datenerhebung und Phasen, in denen gewonnene Daten reflektiert und rekonstruiert wurden. Es folgt eine Auseinandersetzung mit den körpersoziologischen Besonderheiten, um sie in den Forschungszugang zu integrieren. Eingedenk der Herausforderung der Herstellung von Beobachtbarkeit wurden Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten im Feld wiederholt beobachtet. Zudem wurden immer wieder Perspektiven und (räumliche) Positionierungen im Feld gewechselt. So wurde sich die Strukturierung des Raumes durch die Theke nutzbar gemacht. Je nach Positionierung um die Theke herum änderten sich die Einsichten und zugleich die Adressierungen im Feld. Sobald sich hinter der Theke aufgehalten wurde, desto stärker war die Adressierung als Mitarbeiterin. Zugleich war es von dort aus sehr einfach möglich, Gespräche zu beginnen oder an Spielen teilzunehmen. Überdies wurde sich zu spezifischen Zeiten aber auch verstärkt hinter der Theke aufgehalten, da es dadurch vielerlei Situationen gab, um Einblicke in Sichtweisen der Professionellen zu erhalten. So ereignete sich dort auch

431

Ein Tonbandgerät einzusetzen hätte sich im Jugendtreff recht schwer gestaltet. Insbesondere bei sich spontan ergebenden ethnographischen Gesprächen sollte es zwar eingesetzt werden, aber diese ergaben sich so spontan, dass eine Unterbrechung sie maßgeblich behindert hätte. Zudem erschwerte die Lautstärke im Treff die Möglichkeit von Aufzeichnungen generell.

294

Körper empirisch

ein ,Sprechen über‘ die Besucher*innen des Jugendtreffs, die Mitarbeiter*innenstruktur, über die ,Geschichte’ des Treffs sowie über persönliche Sichtweisen der verschiedenen Mitarbeitenden. Auf diese Weise erhielt ich nutzbare Einblicke in ,insider-Wissen‘. Um die Rolle der Forscher*in nicht immer mehr zu einer Rolle als Mitarbeitende werden zu lassen, unterblieb der Aufenthalt hinter der Theke an vielen Tagen. Im späteren Verlauf des Forschungsprozesses wurden die Beobachtungen zunehmend fokussiert, was jedoch auch dem Kerngedanken der Grounded Theory entspricht. 432 Im Folgenden wird kurz auf zwei Aspekte verwiesen, die das Erleben des Feldaufenthaltes beeinflusst haben. Die Feldteilnahmen, in denen die Forschende sowohl als mitarbeitende Pädagog*in als auch als Forscher*in in das Feld involviert war, zeigten sich als komplexe Situationen. Zum einen ging es darum, dass Balancen zwischen der Feldforschung in einer Mehrfachrolle als Pädagog*in und Forscher*in distanzierend zu reflektieren waren (vgl. Thole et al. 2011, S. 118; weiterführend Thole, Closs und Küster 2004; Cloos 2008), zugleich wurde die Ko-(körperliche) Präsenz im Untersuchungsfeld bedeutsam. So haben die körperlichen Erscheinungs- und Verhaltensweisen vielfältige Adressierungen erfahren, die Situationen in spezifischer Weise beeinflussten. Dies wurde als Erkenntnisquelle genutzt. So zeigte sich deutlich, dass Jugendliche im Treff normative Erwartungen im Hinblick auf Alter und Geschlecht haben. Während des Forschungsprozesses entstand eine intensive Beschäftigung damit, was es bedeutet, Dimensionen des Körperlichen nicht nur theoretisch, sondern eben auch empirisch zu erforschen. Diese eher im Kontext der (Körper-) Soziologie geführten Debatten auf der Ebene der Epistemologie wurden als produktiv für die Kinder- und Jugendarbeit sowie die Kinder- und Jugendhilfeforschung erachtet. Im Anschluss an Gugutzer (2006) wurden in forschungstheoretischer und forschungspraktischer Hinsicht Fragen danach berücksichtigt, wie Körperlichkeit und Leiblichkeit der Forscher*in methodisch genutzt werden könnten, beziehungsweise müssten, um beispielsweise im Medium der eigenen Körperlichkeit und Leiblichkeit zu soziologischen Erkenntnissen (vgl. Gugutzer 2006, S. 11) – oder eben zu sozialpädagogischen Erkenntnissen – zu gelangen. Im Forschungstagebuch wurden sodann leibliche Empfindungen und Regungen festgehalten, reflektiert, mit der jeweiligen Sequenz kontrastiert und nicht zuletzt in einigen Interpretationsrunden diskutiert.

432

Nachdem einige Beobachtungen durchgeführt und Protokolle verfasst worden waren, wurden diese intensiv analysiert. Die Frage stellte sich danach, wie Körper darin fassbar werden können. In einer ersten Annäherung wurden Passagen oder Begriff sehr unstrukturiert mit Codes versehen um erste wiederkehrende Phänomen im Hinblick auf Körper zu markieren.

Auswertung – Grounded Theory als Methode und Methodologie 7.4.3

295

Datenkorpus

Insgesamt wurden an mehr als 40 Feldtagen mit jeweils 3-7 stündigen Zeiträumen teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Im Rahmen eines 5-monatigen Aufenthalts im Offenen Jugendtreff wurden 25 Beobachtungsprotokolle (jeweils 20-30 Seiten) sowie 10 ethnographische Gespräche mit Besucher*innen und den Mitarbeitenden generiert433 Aus den Feldnotizen wurden Beobachtungsprotokolle erstellt und zu Protokollen dichter Beschreibung gemacht, die folglich rekonstruierend angelegt waren. Nach der erstmaligen ,Verdichtung‘ der gesamten Protokolle wurden zunächst alle Namen anonymisiert und es wurde darauf geachtet, dass Namen der im Feld agierenden Personen mit Namen des jeweiligen Herkunftslandes anonymisiert wurden, da dadurch Rückschlüsse auf das Feld gezogen werden konnten. 7.5

Auswertung – Grounded Theory als Methode und Methodologie

Die Auswertung orientierte sich an den Prämissen und dem Vorgehen der Grounded Theory sowie an ihrem Prinzip des ,theoretischen samplings‘.434 Grounded Theory versteht sich als gegenstandsbezogene Theoriebildung, die es erlaubt, für einen bestimmten Gegenstandsbereich auf Grundlage der Daten eine für diesen gültige Theorie zu formulieren. Aus der Gesamtheit der Daten werden Kategorien entwickelt. Die Beziehungen zwischen den Katgeorien gelten indes als Kernelement einer so entstehenden gegenstandsbegründeten Theorie. Ein so gefasstes Verfahren empiriebasierter Theoriebildung entwickelten Glaser und Strauss (1967/1998), weitergeführt wurde es von Glaser (1978), Strauss (1991), Strauss und Corbin (1990, 1996, 1998). Die Grounded Theory gilt als eine gegenstandsbegründete oder gegenstandsverankerte Theorie, die es erlaubt, auf Basis empirischer Forschung in einem gewählten Gegenstandsbereich eine dafür geltende Theorie zu formulieren (vgl. Böhm 2015). Als Theorie, die aus vernetzten Konzepten besteht, erweist die Grounded Theory sich als besonders geeignet, eine Beschreibung und Erklärung untersuchter Phänomene zu liefern (vgl. Böhm 2015). Der Forschungsprozess verläuft in der Grounded Theory nicht linear, sondern Datensammlung, Datenanalyse und Theoriebildung sind ineinander verschränkt (vgl. Böhm 2015, S. 475). Die Interpretation von Daten ist der Kern des empirischen Vorgehens. Dies schließt Erhebungsverfahren wie Interviews oder Beobachtungen ein. Interpretation von Texten dient der Entwicklung von Theorien und gleichzeitig als Basis dafür, welche Daten zusätzlich erhoben werden sollen. Mitsamt ist die Grounded Theory im Kontext Qualitativer Forschungsmethoden weit verbreitet, was sich in vielfältigen Publikationen dokumentiert, in denen sich dem Vorgehen sehr pragmatisch angenähert wird (vgl. Schröer und Schulze 2010; 433

434

Körperliche Praktiken von Jugendlichen werden auf der Grundlage umfangreichen empirischen Datenmaterials, welches in teilnehmenden Beobachtungen in einem Offenen Kinder- und Jugendtreff gewonnen wurde, analysiert. Bei diesem sind die Erhebung und die Auswertung miteinander verwoben.

296

Körper empirisch

Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014; Hülst, 2010; Böhm 2012). Dass die Diskussion der epistemologischen und sozialtheoretischen Hintergründe der Grounded Theory als eine wenig bearbeitete Dimension gilt, darauf verweist etwa Strübing (2014, S. 3). Eine Ausnahme bilden indes die Schriften von Kelle (1994, 2008). 435 Mitsamt lässt sich auch die Grounded Theory als Methode im Sinne einer Forschungsstrategie sowie als Methodologie im Sinne eines Ensembles von Methodenelementen charakterisieren. So weist Strübing (2008) darauf hin, dass die Grounded Theory als die klassische, Theorien generierende qualitative Forschungsmethode bezeichnet werden kann (Strübing 2008). Als Methodologie wurde sie in differenter Weise weiterentwickelt und interpretiert. Das Ziel einer solchen ist eine Grounded Theory im Einzelnen und eines einzelnen Settings und eine in empirischen Daten gegründete Theorie sozialer Prozesse. Es lässt sich somit festhalten, dass sie sich als gegenstands- oder datenverankerte Theorie begreift (Corbin 1996). Weiterentwickelt wurde die Grounded Theory etwa von Kathy Charmaz (2014) und Adele E. Clarke (2014). Charmaz (2014) erweitert sie im Rahmen einer konstruktivistischen Grounded Theory insofern, als dass sie die Notwendigkeit betont, die Rolle der Forschenden im Forschungsprozess bei der analytischen Arbeit sowie bei der Materialproduktion explizit zu berücksichtigen (vgl. Charmaz 2014; Strübing 2014). Clarke (2014) weist die Grounded Theory – nach dem Postmodern Turn – als eine Situationsanalyse aus (vgl. Clarke 2014, dazu einführend und vertiefend Clarke 2012). Es wurde in der Arbeit nicht orthodox nach dem Vorgehen der Grounded Theory gearbeitet, sich jedoch an deren Techniken und Prämissen orientert. Es ging darum Erkenntnisse und Zusammenhänge im Hinblick auf das leitende Erkenntnisinteresse – das insbesondere im Rahmen dieser Auswertungsstrategie konkretisiert wurde – zu gewinnen. Das empirische Material und die theoretischen Zugänge wurden in einem ständigen Wechselverhältnis füreinander produktiv gemacht. So wurden Empirie und Theorie im Anschluss an Kalthoff (2008) nicht getrennt voneinander gedacht, sondern theoretische und empirische Forschung als ineinander verwoben betrachtet (vgl. Kalthoff 2008, S. 10). Im Fokus der Analyse steht indes der Körper im Offenen Kinder- und Jugendtreff, und somit unterschiedliche Formen von Praktiken und Diskursen. Dass diese Analyseeinheiten an sich unterschiedliche Analysestrategien erfordern, darauf verweist Reckwitz (2008). Ist die Option der Praktiken mit den Arbeiten von Bourdieu verknüpft, so wird mit den Diskursen die diskursanalytische Perspektive von Foucault assoziiert; bei beiden handelt es sich um unterschiedliche Analysestrategien (vgl. Reckwitz 2008, S. 188).436 Dies mündet in der Zuschreibung einer

435 436

Strübing (2014) pointiert, dass die epistemologische und wissenschaftstheoretische Dimension der Grounded Theory noch nicht erschlossen ist (vgl. Strübing 2014, S. 3). So greift Reckwitz (2008) auf, dass diese nicht lediglich auf der Ebene von Sozialtheorie, sondern insbesondere auf der Ebene der Methodologie von Bedeutung ist (vgl. Reckwitz 2008, S. 189).

Vom Text zur Theorie

297

scheinbaren Inkommensurabilität dieser Forschungsstrategien. Begreift man die Praxeologie und die Diskurstheorie nicht allein als zwei theoretische Optionen miteinander determinierender Fundierungsansprüche gegenüber, sondern behandelt sie als zwei methodische Komplexe, dann ergibt sich daraus ein Muster, in dem sich die scheinbare Inkommensurabilität auflöst und sich in der Forschungspraxis überschneidet (vgl. Reckwitz 2008, S. 200). Dies verspricht Reckwitz (2008) zufolge eine heuristisch fruchtbare Strategie (vgl. Reckwitz 2008, S. 207). Die Auswertungsstrategie der Grounded Theory ist kategoreal orientiert. Dabei ist sie durch Zirkularität gekennzeichnet, das heißt, dass theoretisches und empirisches Arbeiten als ein wechselseitiger Prozess zu deuten sind. Im Kontext der Grounded Theory fungieren Theorien als ,sensitizing concepts‘, sie fließen schon in die Beobachtungen des Feldes ein; jedoch geht es nicht darum sie zu verifizieren oder vorab Hypothesen zu formulieren. Sensibilisierende Konzepte fungieren hier als Leitideen und bilden den Ausgangspunkt der Forschung. Sie haben den Charakter von offenen Fragen, die der Einnahme einer Perspektive auf das Feld dienen. Ein wesentliches Kennzeichen der Grounded Theory ist das Kodieren. Kodieren bezeichnet eine Vorgehensweise, durch die Daten aufgebrochen, konzeptualisiert und auf eine neue Art und Weise zusammengesetzt werden. Das Kodieren ist der zentrale Prozess, durch den aus Daten Theorien entwickelt werden (vgl. Flick 2012, S. 388).437 Gemäß des Verfahrens des Kodierens werden dem empirischen Material Kodes zugeordnet und diese in einem weiteren Verlauf zu Kategorien verdichtet. Dabei werden Phänomene, Fälle und Begriffe durch ein ständiges Formulieren von Fragen an den Text miteinander verglichen. Dem empirischen Material werden Kodes zugeordnet, die zunächst sehr nahe am Text formuliert und im Laufe des Prozesses immer abstrakter werden. Somit lässt sich bündeln, dass das Kodieren die Benennung von Konzepten umfasst. Ausgehend von den erhobenen Daten werden in einem weiteren Prozess der Abstraktion Theorien entwickelt. Die Interpretation ist sodann der Ankerpunkt, von dem aus Entscheidungen für die Erhebung und Einbeziehung weiterer Daten, ebenso wie die Entscheidung über weitere Methoden der Datenerhebung getroffen werden. Interpretation meint indes einen Vorgang, innerhalb dessen verschiedene Vorgehensweisen im Umgang mit dem Text unterschieden werden. Mitsamt umfasst die Grounded Theory mehrere Kodierschritte. Im folgenden Abschnittt werden Schritte der Auswertung präsentiert. 7.6

Vom Text zur Theorie

Grundlage der empirischen Auswertung bilden die aus den Feldnotizen erstellten Beobachtungsprotokolle. Dabei wurde das Beobachten mit Beschreiben verbunden. 437

Dafür werden in den Daten Indikatoren für ein interessierendes Phänomen gesucht. Kodieren bezeichnet ferner das Verschlüsseln oder Übersetzen von Daten.

298

Körper empirisch

Das detaillierte Protokollieren gab zum einen die Gelegenheit, die Beobachtungen zu reflektieren, zum anderen konnten so spezielle Themen für anschließende Beobachtungen erschlossen werden. Somit ergaben sich analytische Entdeckungen, die für weitere Beobachtungsprozesse fruchtbar gemachen werden konnten. Nach den jeweiligen Erhebungs- und Protokollierphasen wurde das entstandene Material gesichtet. Zu Beginn mussten die Daten zunächst ,Wort-für-Wort‘ und ,Zeile-für-Zeile‘ durchgegangen werden, um so – im Anschluss an Thole et al. (2007) – eigene Konstruktionsleistungen in den Protokollen sichtbar werden zu lassen. Denn Thole et al. (2007) zufolge sind die Konstruktionsleistungen der Forscher*innen stets zu berücksichtigen. Auch Cloos und Köngeter (2006) weisen ausdrücklich darauf hin, dass bereits beim Protokollieren erste Interpretationen vorgenommen werden können. „Um diese vorschnelle Konstruktionsleistung der BeobachterInnen der Rekonstruktion zuzuführen und kontrollieren zu können, geht es darum, diese Doppelbödigkeit der Protokolle sichtbar zu machen“ (Cloos und Köngeter 2006, S.69). Im weiteren Verlauf wurde das Material mit vorläufigen Kodes versehen. Es konnten ferner Bedingungen, Strategien, Taktiken, Konsequenzen und Zusammenhänge von theoretischen Konzepten formuliert und Fragen an das Material gestellt werden, um es aufzubrechen. Das Verfassen kürzerer Memos begleitete diesen Prozess. Nicht zuletzt wurden Textstellen mit theoretischem Wissen angereichert oder ähnliche und wiederkehrende Muster, Worte und Handlungen ausfindig gemacht. Mit diesen ersten Erkenntnissen ausgestattet begann die Beschäftigung mit körpersoziologischen Forschungsperspektiven. Auf diese Weise entstand eine Art Heuristik, mit der das Material immer wieder durchgegangen wurde. Es ließ sich unter körpertheoretischer Perspektive verdichten, indem es um diese spezifischen Perspektiven ergänzt wurde. Das Schreiben von weiteren Memos ist wesentlicher Bestandteil der Grounded Theory. Durch die Memos entsteht ein großer Textkorpus, der die Materialauswertung zunächst erschwert. Zudem können in den Memos so viele Facetten eines dichten Protokolls (zum Beispiel die Konstruktionsleistungen der Forscher*innen, die eingenommene und zugewiesene Rolle im Feld, eigene Empfindungen und Gefühle) in den Blick genommen werden, um dann auf sprachliche oder körperliche Äußerungen zu fokussieren. In der nächsten Phase des Forschungsprozesses wurde sich an den drei wesentlichen Kodierschritten der Grounded Theory orientiert. Das Offene Kodieren dient dem Aufbrechen der Daten mit dem Ziel, erste und vorläufige Konzepte zu entwickeln (vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014). An den Daten wird nach Indikatoren für ein Konzept gesucht und formuliert. Das Material wurde weiter mit Konzepten versehen und diese (vorläufigen) zu Kategorien kodiert. Interpretationen sind in diesem Analyseschritt eher als Versuche zu charakterisieren, sie dienen aber auch ersten Theoretisierungen. Im weiteren Verlauf wurden Memos geschrieben. Diese Phase der Auswertung gilt mitsamt als extensive Phase. Die weiteren beiden Kodierschritte sind

Vom Text zur Theorie

299

das Axiale Kodieren und das Selektive Kodieren. Beim Axialen Kodieren werden Konzepte zu Kategorien verdichtet (vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014; Böhm 2015). Dabei geht es darum, die Kategorien weiter zu entwickeln, indem ihre Eigenschaften benannt und dimensionalisiert werden. Das dient dazu, eine Kategorie inhaltlich näher zu bestimmen. Beim letzten Schritt, dem selektiven Kategorisieren, werden diese zu einer Kernkategorie verdichtet und dann theoretisch integriert. Beendet wird der Interpretationsvorgang und das Zuziehen von weiteren Daten, sobald eine theoretische Sättigung erreicht ist; das heißt, wenn die Kodierungen und Anreicherungen von Kategorien keine neuen Erkenntnisse mehr liefern (vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014; Böhm 2015). Daran wurde sich auch im Rahmen der Studie orientiert. Eine weitere methodische Kommentierung zum Umgang mit ,Strukturkategorien‘ im Material ist die Präsentation der Erkenntnisse vorzulagern. Die Arbeit vertritt dabei den Anspruch, Unterscheidungen wie Geschlecht oder ,Rasse‘ – die immer auch mit körperlichen Aspekten gekoppelt sind, an Körpern gelesen und als körperliche Natur ontologisiert werden – nicht als Körpern inhärente Eigentlichkeiten auszulegen (vgl. Hark und Villa 2017, S. 15), sondern diese als sozial hergestellt und immer wieder sozial bedeutungsvoll werdend in den Fokus zu nehmen. Dabei soll der Blick zum einen auf die sozialen Ordnungsmuster, die ihnen zugrunde liegen, gerichtet sein. Zum anderen sollen die sozialen Verhältnisse, in denen sie relevant gemacht werden, bewusst gehalten werden. Damit dieser Annahme auch methodisch Folge geleistet werden konnte, wurde der analytische Blick in dieser Kategorie nicht lediglich auf die sozialen Kategorien oder Unterscheidungen gerichtet, sondern auf dahinterstehende Klassifikationen und Normen – so die zugrunde liegende These –, die von gesellschaftlichen Ordnungen durchdrungen sind. Dabei dienten die unterschiedlich gelagerten körpertheoretischen Positionen, die im ersten Kapitel für die Analyse erarbeitet wurden, als ,sensitizing concepts‘. In konstruktivistischer Lesart sind soziale Kategorien grundlegend für die Strukturierung sozialer Ungleichheit. Wenn Strukturkategorien in Prozesskategorien transformiert werden, dann rücken die Klassifikationen selber in den Mittelpunkt und eben nicht die Folgen (von Geschlechterklassifikationen).438 Der Gewinn liegt indes darin, dass die Vorstellung von Klassifikationen die strukturell definierten Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse ersetzt; Vordergründig sind dann nicht mehr die Gründe und Folgen sozialer Ungleichheit, sondern die Modi der Herstellung sozialer Ungleichheit durch Klassifikationen (etwa von Geschlecht) (vgl. Degele 2004, S. 46).439 Um zu zeigen, dass binäre Klassifikationen generative Muster darstellen, die der Herstellung sozialer Ordnungen und Hierarchien 438

439

Hier ist die These grundlegend, dass Zweigeschlechtlichkeit oder andere Differenzkategorien nicht nur soziokulturell produziert werden, sondern Prozesse des Klassifizierens gleichzeitig Asymmetrien und Hierarchien herstellen. Ausgehend von der Dialektik von Struktur und Handlung ist so ein Zugriff auf die Mikroebene der Praktiken möglich und zugleich lassen sich Annahmen über die Strukturebene anstellen.

300

Körper empirisch

dienen, wurden im Weiteren die Kategorien begrifflich verunsichert. Dafür wurde sich am Verfahren der Dekonstruktion orientiert. 440 Für die empirische Rekonstruktion von Konstruktionsleistungen kann die Dekonstruktion ein nützliches Korrektiv sein, da sie Kategorien hinterfragt. Im nun anschließenden Zwischenfazit werden die zentralen Inhalte des methodischen Kapitels bilanziert. 7.7

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

Inhalt dieses Kapitel war eine Darlegung des methodischen Vorgehens, der Begründung des Forschungsgegenstandes und der Forschungsmethode. Daran anschließend wurde der Jugendtreff als Schaubild des Sozialen, als Bühne des Sozialen sowie als pädagogischer Raum dimensionalisiert. Ferner wurde auf methodische und methodologische Herausforderungen hingewiesen, die sich durch die körpersoziologische Positionierung ergaben. Da die Arbeit sich als eine ethnographische Studie versteht, gab es in einem weiteren Schritt eine Einführung in die Methode und Methodologie der Ethnographie. Diese wird gemeinhin als Erkenntnisstil des Entdeckens charakterisiert. Eine Stärke der Ethnographie – deren Kernstück die teilnehmende Beobachtung ausmacht – besteht darin, dass sie das Handeln von Menschen, durch das sie Wirklichkeit hervorbringt, ihre Alltagspraxis und Lebenswelten empirisch in den Blick bekommt (vgl. Lüders 2015, S. 384). Kerngedanken der Ethnographie wurden ferner mit methodischen Gedanken der Körpersoziologie erweitert. Vor dem Hintergrund dieser Einordnung wurde der ethnographische Forschungsprozess skizziert, reflektiert und der Datenkorpus vorgestellt. Anschließend an diese Darstellungen wurden die Kerngedanken der Methode und Methodologie der Grounded Theory dargelegt. Zwar wurde in der Studie nicht orthodox nach dem Vorgehen der Grounded Theory gearbeitet, sich jedoch an deren Techniken und Prämissen stark orientiert. Es ging darum, Erkenntnisse und Zusammenhänge im Hinblick auf das leitende Erkenntnisinteresse – das insbesondere im Rahmen dieser Auswertungsstrategie konkretisiert wurde – zu gewinnen. Das empirische Material und die theoretischen Zugänge ließen sich in einem ständigen Wechselverhältnis füreinander produktiv machen. So wurden Empirie und Theorie im Anschluss an Kalthoff (2008) nicht getrennt voneinander gedacht, sondern theoretische und empirische Forschung vielmehr als ineinander verwoben betrachtet (vgl. Kalthoff 2008, S. 10). Abschließend wurde in Kürze das Kodierverfahren in Anlehnung an die Grounded Theory skizziert und mit einigen Anmerkungen zum methodischen Umgang mit Strukturkategorien 440

Das Prinzip der Dekonstruktion geht auf Derrida zurück und findet sich ebenso in den Arbeiten von Judith Butler. Indem Voraussetzungen infrage gestellt werden, fasst man Phänomene als historisch gewordene Effekte von Machtwirkungen. Mitsamt geht es in einer solchen Perspektive um die Rekonstruktion von etwa Männlichkeiten und Weiblichkeiten und nicht um die Konstruktionsleistungen bestimmter Personen (vgl. Degele 2004, S. 49). Für die Interpretation bedeutet dies auf das Gesprochene (und nicht die Specher*innen) zu fokussieren, wenngleich sich mit Bourdieu (1990) argumentieren lässt, dass es eben doch entscheidend ist, wer in welcher Position etwas sagt.

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

301

im Material kommentiert. Inhalt des folgenden Kapitels ist nun die Darstellung und Diskussion der Erkenntnisse.

8

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Im folgenden Teil der Studie werden die in der Analyse gewonnenen Erkenntnisse präsentiert und im Hinblick auf das beforschte Handlungsfeld, die Offene Kinderund Jugendarbeit, diskutiert. Die Darstellung der Erkenntnisse erfolgt entlang der Kategorien und ihren Dimensionen, die aus den Daten erarbeitet wurden. Aus diesen wurde eine Art Kategoriensystem gebildet. Anhand der interpretativen Entfaltung ausgewählter Sequenzen aus den Beobachtungsprotokollen werden die Dimensionen der Kategorien sowie ihre Beziehungen untereinander dargestellt. Die Präsentation der Erkenntnisse der Analyse lehnt sich in einigen Abschnitten dichter an die Beobachtungsprotokolle an, an anderen Stellen wird das Material anhand bereits ausgearbeiteter Kategorien zusammengefasst und interpretiert (vgl. Schmincke 2009). In Anlehnung an die Grounded Theory werden die Kategorien zueinander in Beziehung gesetzt und erörtert. Empirische Grundlage bildet ein offener Kinder- und Jugendtreff und die dort beobachtbaren Körper; dazu zählen körperliche Erscheinungsweisen und (körperliche) soziale Praktiken. In Anlehnung an Reckwitz (2008) umfasst das Konzept sozialer Praktiken Diskurse und Praktiken, also sprachliche und körperliche Praktiken.441 Die Begriffe und Zusammenhänge der theoretischen (Körper)Analyse fließen sowohl in die Interpretation als auch in die Darstellung der Erkenntnisse ein. An einige wird im Folgenden in gebotener Kürze erinnert. Den Ausführungen liegt die Annahme zugrunde, dass Körper im Jugendtreff sozial in Erscheinung treten. Am Körper materialisieren sich soziale Merkmale wie etwa Geschlecht, Alter oder Klasse. Es kursieren ferner auf Körper bezogene Normen, die sich in Bezeichnungen über Attraktivität, Sportlichkeit, Schönheit, Leistungsfähigkeit oder Reinheit zeigen. Am Körper dokumentiert sich somit die soziale Ordnung, an deren Herstellung er beteiligt ist (vgl. Hahn und Meuser 2002). Damit lässt sich plausibilisieren, dass am Körper von Einzelnen sowie von Gruppen die gesellschaftliche Ordnung im Jugendtreff repräsentiert ist. Gesellschaftliche Ordnungsmuster finden ihren Ausdruck folglich in den Körpern und den körperlichen Praktiken der dort Anwesenden. Dass diese Zuschreibungen erfahren und darüber soziale Ungleichheiten reproduziert sowie Ein- und Ausschlüsse bestimmter Personen(gruppen) generiert werden, gilt als eine ganz zentrale Erkenntnis der Studie. Ausschließungen zeigen sich auf sozialer und symbolischer Ebene und sind im Wesentlichen über den Körper vermittelt.442 Die Analyse der Daten hat zum Ziel, Einblicke in diese Dimensionen zu erhalten sowie Zusammenhänge zu erkennen und zu diskutieren. Insgesamt richtet sich der ethnographische Blick der Studie auf den Offenen Kinderund Jugendtreff als Ganzes; das heißt, dass innerhalb der Darstellung der Ergebnisse 441 442

An einigen Stellen findet die Bedeutung des Räumlichen Berücksichtigung. Auf der symbolischen Ebene zeigt sie sich zum Beispiel in moralisierenden und skandalisierenden Zuschreibungen sowie in Praktiken der Positionierung von Nicht-Zugehörigkeit.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. B. Burghard, Körper und Soziale Ungleichheit, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 19, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31200-8_9

304

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

zum einen eine lebensweltorientierte Sicht auf die Adressat*innen eingenommen wird, um in Bezug auf das beforschte spezifische pädagogische Handlungsfeld Erkenntnisse und Zusammenhänge zu gewinnen. Zum anderen fließen auch Sichtweisen der Professionellen auf ihre Adressat*innen ein. Somit repräsentiert die Studie unterschiedliche Facetten des jugendpädagogischen Alltags, der ohne die Körper der Adressat*innen genauso wenig denkbar wäre wie ohne die der Professionellen. Die Beobachtungsprotokolle legten bereits in den ersten Auswertungsphasen nahe, dass es eine Verkürzung gewesen wäre, eine Perspektive zugunsten einer anderen auszuklammern. Daran lässt sich anschließen und hervorheben, dass der Offene Jugendtreff sowohl die Perspektiven der Adressat*innen sowie die der Professionellen beinhaltet. Auf welcher Ebene die jeweils ausgewerteten Sequenzen innerhalb der Kategorien zu verorten sind, wird an entsprechenden Stellen kenntlich gemacht. Für die folgende Darstellung der gewonnenen Erkenntnisse hat sich aus der Analyse ein vierteiliger Aufbau ergeben: Im ersten Teil wird ein Bild vom Jugendtreff portraitiert (8.1.). Sodann steht die räumliche und körperliche Strukturierung des offenen Jugendtreffs im Vordergrund. Im Zuge der Auswertung ergab sich zunächst die Kategorie Räume und Akteur*innen. Vor dem Hintergrund einer einführenden Beschreibung des Jugendtreffs wird der Blick auf die Räumlichkeiten des Jugendtreffs gelegt, die in spezifischer Weise angeordnet sind (8.2.).443 Der Jugendtreff ist zwar architektonisch in besonderer Weise aufgebaut und konstituiert sich durch unterschiedliche Räume, Räume bilden sich darin jedoch auch durch Interaktionen, Kommunikationen sowie durch körperliche Besetzungen. Hierzu zählen Tätigkeiten der Besucher*innen wie etwa das ,Abhängen‘, Inszenierungen, Tanzen, Sport, Essen und Trinken. Außerhalb des Jugendtreffs bilden sich Räume insbesondere durch gemeinsames Stehen, Rauchen und Rangeln. Damit diese Darstellung nicht auf der Ebene des Beschreibens verhaftet bleibt, wird in der Arbeit über die Theoretisierung und Interpretation der Daten darüber hinausgegangen: Auf Grundlage der empirischen Daten wird von der Annahme ausgegangen, dass der Jugendtreff sowie die Besetzung und Bildung von Räumen innerhalb des Jugendtreffs von gesellschaftlichen Ordnungsmustern – einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse – durchdrungen sind. Nebst der Beschreibung wird nachgezeichnet, dass und in welcher Weise der Offene Kinder- und Jugendtreff durch soziale Ordnungskategorien strukturiert ist und diese an Körpern festgemacht werden. Diese Aspekte werden unter der Dimension (An)Ordnungen diskutiert und es wird sodann die soziale sowie die körperliche Strukturierung des Raumes gefasst (8.2.1.). Darüber hinaus formieren sich innerhalb des Jugendtreffs unterschiedliche Gruppen, die wiederum spezifische Räume im Jugend-

443

Aus Gründen der Gewährleistung des Schutzes der Anonymität der beforschten Einrichtung wurde die Darstellung der Räumlichkeiten für die Publikation stark geändert und an einigen Stellen fiktionalisiert.

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

305

treff bilden und diesen in sehr unterschiedlicher Weise körperlich aneignen und besetzen.444 Darüber hinaus ist die Frage danach, wer zu welcher Gruppe gehört, im Jugendtreff von zentraler Bedeutung. Die Thematisierungsweisen der unterschiedlichen Gruppen zeigen, dass die sich formierenden Gruppen durch die Indienstnahme von Stereotypen und klischeehaften Klassifikationen hergestellt werden. Als ursächlich für moralisierende, skandalisierende oder herabwürdigende Zuschreibungen gelten oftmals körperliche Merkmale (Erscheinungs- und Verhaltensweisen) (8.2.2.). Diesen liegen bestimmte Wahrnehmungsweisen zugrunde, die wiederum nicht losgelöst von der inkorporierten sozialen Ordnung zu denken sind. Darüber hinaus werden die Gruppenzugehörigkeiten innerhalb des Jugendtreffs nicht nur in ein Bewertungsverhältnis zueinander gesetzt, sondern auch entsprechend in der Hierarchie der Wertschätzung innerhalb des Jugendtreffs positioniert. In der Analyse werden diese Beobachtungen anhand der (dichotomen) Aufteilung folgender Gruppen diskutiert: die der ,Stammgäste‘ und ,Vorzeigejugendlichen‘ (8.2.3.), den ,wieder ganz Anderen‘ (8.2.4.) sowie die der ,Assis‘ und den einzig ,Korrekten‘ hier (8.2.5.).445 Dass der Jugendtreff durch die körperlichen Praktiken der dort Anwesenden hergestellt wird, bildet Inhalt der Kategorie (Un)Sicherheit und Gefährdung (8.3.). In dieser wird die Erkenntnis diskutiert, dass der Jugendtreff von einigen Professionellen sowie weiteren Mitarbeitenden als ,Zone der Unsicherheit‘ sowie als ,gefährdend‘ wahrgenommen und thematisiert wird und dies in den Verhaltensweisen einiger Besucher*innen begründet liegt (8.3.1. und 8.3.2.). Darin zeigen sich auch normative Konzepte von ,guten‘ und ,schlechten‘ Adressat*innen. Die zweite Kategorie wurde mit dem Titel Körper BeDeuten versehen (8.5.). Bereits die ersten Phasen der Auswertung zeigten, dass sowohl in den beobachtbaren Praktiken sowie den Thematisierungsweisen von Körpern bestimmte körperliche Erscheinungen oder Merkmale bedeutungsvoll wurden. Darin sind gesellschaftliche Kategorien wie Alter, Geschlecht, Migration, soziale Klasse oder Behinderung eingelagert. Diese Kategorien durchziehen die Konstruktionen von sozialen Gruppen im Jugendtreff, sie strukturieren die Wahrnehmungs- und Bewertungsweisen sowie die sozialen Praktiken; insofern stellen sie Ordnungen und Unterscheidungen her. Dabei wird insbesondere an Körpern klassifiziert und zugeschrieben; an und mit Körper wird essenzialisiert und naturalisiert und vor allem unterschieden (siehe Kapitel 2.4.). Soziale

444

445

Zwar sind nahezu alle Räume für sämtliche Besucher*innen offen zugänglich, jedoch zeigte sich während der Beobachtungszeit, dass sich spezifische Gruppen verstärkt in den oberen Räumen aufhielten und andere wiederum nicht. In der Darstellung der unterschiedlichen Gruppen wird der Jugendtreff als ,Ganzes perspektiviert‘ und aus diesem Grund werden Thematisierungsweisen der Besucher*innen und der Mitarbeitenden vereint.

306

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Kategorien manifestieren sich somit sowohl innerhalb von Interaktionen als auch im Rahmen von Bezeichnungen und Bewertungen im Alltag des Jugendtreffs. 446 Zunächst soll ein Eindruck darüber vermittelt werden, welche Kategorien – die begrifflich und methodisch als körperbezogene Unterscheidungen gefasst sind – im Jugendtreff in den Beobachtungsprotokollen beobachtbar und rekonstruierbar waren. Zum anderen sollte auf die Bezeichnungen und Bewertungen geschlossen werden, die in Bezug auf Körper thematisch wichtig wurden. Die Arbeit vertritt insgesamt den Anspruch, Unterscheidungen wie Geschlecht oder ,Rasse‘/Ethnizität, Behinderung, Leistungsfähigkeit, Attraktivität – die immer auch mit körperlichen Aspekten gekoppelt sind, an Körpern gelesen und als körperliche Natur ontologisiert werden – nicht als Körpern inhärente Eigentlichkeiten auszulegen (vgl. Hark und Villa 2017, S. 15), sondern diese als sozial hergestellt und immer wieder sozial bedeutungsvoll werdend in den Blick zu nehmen.447 Damit dieser Annahme auch methodisch Folge geleistet werden konnte, wurde der analytische Blick in dieser Kategorie eben nicht lediglich auf die sozialen Kategorien oder Unterscheidungen gelegt, sondern auf dahinterstehende Klassifikationen und Normen, die – so die zugrunde liegende These – von gesellschaftlichen Ordnungen durchdrungen sind. Insgesamt fließen die in der theoretischen Analyse der Studie erarbeiteten Begriffe in die empirische Analyse ein. Die Kategorie Körper BeDeuten wird entlang der Dimensionen Klassifizieren, WahrSprechen und BeDeuten als Praxis ausgearbeitet. Sie zielt auf die Frage, wie sich Kategorien sozialer Ungleichheit (einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse) an Körpern materialisieren und wie Körper im Alltag des Jugendtreffs bewertet und hervorgebracht werden. Insgesamt ist für diese Kategorie bewusst zu halten, dass sich die Herstellungen von Bedeutungen zwar auf der Ebene des Symbolischen, der Semantiken vollziehen, jedoch auch in sozialen Interaktionen zum Tragen kommen. In einem ersten Schritt wird der Blick auf die am Körper ansetzenden Klassifikationen gerichtet. In Körper BeDeuten – Klassifizieren (8.5.1.) wird eine an Pierre Bourdieu orientiere Sichtweise eingenommen, die Klassifikationen als Resultat der Inkorporation sozialer Strukturen, einschließlich ihrer Ordnungsmuster erkennbar werden lassen. Auf diese Ordnungsmuster soll durch die Rekonstruktion von Klassifikationen geschlossen werden. Dass im jugendpädagogischen Alltag Normen kursieren, die dichotom organisiert sind und Körper daran orientiert werden, wird zweitens in der Dimension BeDeuten 446 447

In diesen Bewertungen drücken sich gesellschaftliche Normen aus, die sich beispielsweise in Bezeichnungen über Ansehnlichkeit, Begehren, Sportlichkeit, Reinheit oder Geschlechtlichkeit zeigen. Somit soll auf die sozialen Ordnungsmuster, die den Unterscheidungen zugrunde liegen, genauso wie auf die sozialen Verhältnisse, in denen sie relevant gemacht werden, geschlossen werden. Im zweiten Kapitel der Arbeit wurden intersektionale Perspektiven als heuristischer Rahmen eingeführt (Kapitel 2.2. – 2.4.). Somit kann daran erinnert werden, dass diese sozialen Verhältnisse die Ebene der Praktiken, der Semantiken sowie sozialer Strukturen umfasst und diese zusammen zu betrachten sind.

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

307

als (für),Wahr-sprechen‘ anhand des empirischen Materials konkretisiert (8.5.2.). BeDeuten als ,Wahr-sprechen‘ repräsentiert den Versuch, in den im Körper verankerten habitualisierten Wahrnehmungsschemata gesellschaftliche Normen zu erkennen, die entlang der Dichotomie ,normal‘ und ,abweichend‘ organisiert sind. Bedeutungen werden ausgehandelt, indem sie wahr gesprochen werden. Dass dies als machtvoller Prozess in den Blick genommen werden kann, lässt sich mit körpertheoretischen Perspektiven plausibilisieren. Über die Verwendung von Bezeichnungen und Bewertungen werden gesellschaftliche Normen im Alltag des Jugendtreffs stabilisiert und somit Verhältnisse von ,normal‘ und ,davon-abweichend‘ hergestellt. Darüber hinausgehend werden durch das ,Wahr-Sprechen‘ von Bedeutungen im konkreten Ort des Jugendtreffs Kriterien der (Nicht) Zugehörigkeit ausgehandelt. Auf die Beantwortung der Frage danach, wie sich Unterscheidungen als körperliche Differenzen materialisieren, wird in einem dritten Schritt die Dimension BeDeuten als Praxis ausgearbeitet (8.5.3.). Innerhalb dieser werden Differenzen resignifiziert und so bestehende Normen zitiert.448 Insofern Bezeichnungen Personen/Subjekten eine Position in einer soziosymbolischen Ordnung zuweisen, lassen sie sich als machtvolle und positionierende Praktiken perspektivieren. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass über Praktiken der BeDeutung von Körpern im Kontext sozialer und sozialpädagogischer Wirklichkeitskonstruktionen soziale Ungleichheiten reproduziert und zudem Einund Ausschlüsse von bestimmten Personen(gruppen) generiert werden. Indem Körper ,bedeutet‘ werden, werden auch Kriterien von (Nicht-) Zugehörigkeit im Kontext des Offenen Jugendtreffs ausgehandelt und somit auf Ausschließung gerichtete Kategorien produziert Die Perspektive auf Körper im Einsatz ist das zentrale Thema der dritten Kategorie (8.6.). In dieser wird die Bedeutung des Körpers für die Konstitution und Reproduktion der sozialen Ordnung sowie ihrer Ein- und Ausschlüsse im Offenen Kinder- und Jugendtreff konkretisiert. Diese Kategorie stellt die Kernkategorie der empirischen Analyse dar und wird in zwei Dimensionen systematisiert. In der Darstellung der Kategorie Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben (8.6.) wird primär eine adressat*innenorientierte Sichtweise eingenommen und der Fokus auf die körperlichen Praktiken der Besucher*innen des Jugendtreffs gelegt, mit denen sie sich den Jugendtreff aneignen und ihn besetzen. Exemplarisch wird dies an alltäglichen Praktiken der ästhetischen körperlichen Inszenierung, aber auch an Praktiken wie zum Beispiel des Tanzens und des Musizierens interpretativ entfaltet. Eingedenk körpersoziologischer Sichtweisen werden alltägliche Praktiken, in denen Jugendliche ihre Körper zu sehen geben, in einem größeren Rahmen verstehbar. Innerhalb der Diskussion der Dimensionen Verwertung und Führung erscheinen alltägliche Praktiken – etwa die Schmink-

448

Die Rekonstruktion von Bezeichnungen und Zuschreibungen und die damit einhergehenden Positionierungen, die Körper erfahren, bietet Einblick in dahinterstehende Ordnungen.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

praktiken von Mädchen oder die Inszenierungen der Jungen– als distinktive Praktiken, in denen Körper als Kapital oder aber als ,Technologien des Selbst‘ zum Einsatz kommen (8.6.1. und 8.6.3.). Die Analyse zeigt darüber hinausgehend auf, dass diese als Praktiken der sozialen Selbstpositionierung von Jugendlichen innerhalb des Jugendtreffs bestimmbar sind. Nicht zuletzt setzen die Besucher*innen des Jugendtreffs ihre Körper dort ein, um ihre Zugehörigkeit zu spezifischen Gruppen zu präsentieren und herzustellen. Eine als angemessen geltende Inszenierung verspricht nicht nur ,Anerkennungsgewinne‘, sondern auch die Möglichkeit einer legitimen Positionierung innerhalb der Ordnung des Offenen Kinder- und Jugendtreffs. Inszenierungen haben einen prekären Charakter, denn ihnen ist die Möglichkeit des Scheiterns inhärent, wodurch die eigene Position im Jugendtreff zur Disposition steht. Die vergleichende Prüfung – eine weitere Dimension, die innerhalb dieser Kategorie präsentiert wird – dient dazu, sich vor der ,eigenen Gruppe‘ der Anerkennbarkeit der Inszenierung zu vergewissern um ein Scheitern dieser im größeren Zusammenhang zu vermeiden (8.6.2.). Anhand des sozialen und kulturellen Feldes des Tanzens und des Musizierens wird ebenso entfaltet, dass und in welcher Weise sich Besucher*innen des Jugendtreffs mit der Ordnung des Sozialen auseinandersetzen (8.6.4. und 8.6.5.). Dass Körper im Dienste der sozialen Positionierung zum Einsatz gebracht werden, wird innerhalb der Kategorie Körper im Einsatz II diskutiert. Im Jugendtreff werden soziale Positionen über Körper ausgehandelt und somit gesellschaftlich machtvolle Ordnungen wie Klasse, Rasse und Geschlecht wirksam. Machtvoll sind sie nicht zuletzt deswegen, weil sie auf bestimmten Normen basieren. Diese fungieren als Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata und folglich als Grundlage von Klassifizierungs- und Zuschreibungsprozessen. Unter Körper der (Nicht-) Zugehörigkeit – Ausschließung als situativ positionierende Praktik wird dargestellt, dass im Offenen Kinder- und Jugendtreff auf Ausschließung gerichtete Kategorien zum Tragen kommen, indem Einzelne oder Gruppen situativ aufgrund der Sichtbarkeit ihrer Körper (Körperzeichen und Körperpraktiken) wahrgenommen, klassifiziert und situativ als nicht-zugehörig positioniert werden (8.7.). Diese Facetten werden exemplarisch anhand der marginalisierten Männlichkeit (8.7.1.), Ey geh weg, du hässliche Missgeburt‘ (8.7.2.) der Schlampe (8.7.3.) sowie der Reinheitsregel (8.7.4.) entfaltet. Dass die Frage nach ,Ausschluss‘ auch für die sozialpädagogische Praxis zu stellen ist, wird in der Dimension professioneller Ausschluss (8.8.) bearbeitet. In dieser Dimension wird in den Blick genommen, dass der Ausschluss der als gefährdend wahrgenommenen Körper als ein pädagogisch legitimes Mittel angesehen wird, das der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung dient. Innerhalb dieser Darstellung wird die Sichtweise auf die Professionellen gerichtet. Diesen werden die Praktiken einiger Besucher*innen gegenübergestellt, durch die sie den Ausschluss aus dem Jugendtreff vermeiden. Dies wurde unter der Dimension So-tun-als-ob gefasst (8.8.1.). In dieser wird das

Resümierendes Zwischenfazit und Diskussion

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Verhältnis von Körper und sozialer Ordnung in der Hinsicht befragt, wie Körper die soziale Ordnung einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse ,unterlaufen‘, ,bespielen‘ und ,irritieren‘ können. Diese Facetten werden in der Dimensionen des So-tun-alsob – Ausschluss vermeiden (8.8.2.) differenziert betrachtet. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist im Offenen Kinder- und Jugendtreff von grundlegender Bedeutung. Die Frage danach, wer welcher Gruppe als zugehörig gilt, ist indes in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Die auf Körper bezogenen Zuschreibungen von Personen(Gruppen) können vor dem Hintergrund des empirischen Materials als übersituativ positionierende Praktiken der Ausschließung gedeutet werden, über die Ein- und Ausschluss im Jugendtreff ausgehandelt werden. Die Facetten werden in der Kategorie Körper im Einsatz II – Körper der Nicht-Zugehörigkeit gebündelt (8.9.). Soziale Bewertungen von Einzelnen oder von Gruppen, in Form von sozialer Wertschätzung und Missachtung, sind nicht losgelöst von der Sozialstruktur zu betrachten. Bewertungen treffen innerhalb von Interaktionen immer auch Aussagen über die soziale Stellung der betreffenden Akteur*innen (siehe Kapitel 2.4.1.). In einer solchen Perspektive sind negative Klassifikationen als stigmatisierende Elemente der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit im Jugendtreff zu verstehen (vgl. Neckel und Soeffner 2008), über die letztlich Ein- und Ausschluss verhandelt wird. In der Entfaltung der Dimensionen klassenspezifische Körper (8.9.1.) und Verkommenheit (8.9.2.) wird für die Analyse im Hinblick auf die sozialpädagogische Praxis herausgestellt, dass körperliche Erscheinungs- und Verhaltensweisen der Besucher*innen von einigen Mitarbeitenden des Jugendtreffs moralisierende und skandalisierende Zuschreibungen erfahren. In deren Thematisierungsweisen zeigt sich eine zugrunde liegende Ordnung, die die Adressat*innen mit Zuschreibungen wie ,Verkommenheit‘, ,Wertlosigkeit‘ oder ,Verwahrlosung‘ assoziieren und diese zu ,schlechten‘ Adressat*innen macht. Dass die auf Körper bezogenen Zuschreibungen von Personen(Gruppen) innerhalb der unterschiedlichen Gruppen der Besucher*innen des Jugendtreffs ein- und ausschließende Wirkung zeigen, wird in der Dimension Körper der Nicht-Zugehörigkeit – Die ,Asozialen‘ (8.9.3.) und ,Zigeuner‘ (8.9.4.) weiter fortgeführt. Die Verwendung der Kategorien der ,Asozialität‘ und ,Zigeuner‘ zeigen sich so als auf Ausschluss gerichtete Kategorien. Damit einhergehende Ein- und Ausgrenzungen werden durch unterschiedliche Körper und den Umgang mit ihnen (mit)bestimmt. 449 In einem vertiefenden Zwischenresümee werden die Erkenntnisse der Arbeit gebündelt und diskutiert (Kapitel 9). 449

Die Unterscheidungen in ,Wir‘/,Andere‘ zeigt sich als wirkmächtig in der Aushandlung von ,zugehörig‘/,nicht-zugehörig‘. Diesen sind spezifische Normen und Klassifikationen unterlegen. Die Wirkmächtigkeit von Normen besteht indes darin, dass sie symbolische Bereiche des Intelligiblen und des Nicht-Intelligiblen im Kontext des Jugendtreffs formieren. In diesen Bereichen werden Einzelne oder

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Insgesamt ist anzumerken, dass die hier präsentierten Deutungen als Impuls zu verstehen sind, mit denen eine spezifische und für das Erkenntnisinteresse relevante Lesart vorgeschlagen wird. Somit erhofft sich die vorliegende Studie den Blick für die überaus komplexen Dimensionen des Körperlichen im offenen Kinder- und Jugendtreff zu öffnen und für Macht- und Ungleichheitsverhältnisse im Hinblick auf Einund Ausschließungen zu sensibilisieren. Im einführenden Part der Analyse wird in einem ersten Schritt der Offene Kinder- und Jugendtreff beschrieben und so ein Bild von diesem portraitiert. Vorab wird die Rolle der Forscher*in im Hinblick auf Dimesnionen des Körperlichen beleuchtet. 8.1

Der Offene Kinder- und Jugendtreff

Über mehrere Monate habe ich mich regelmäßig im Offenen Kinder- und Jugendtreff aufgehalten und meine Beobachtungen in Protokollen, Memos und Forschungstagebüchern schriftlich fixiert. Die Beobachtungsform, die ich gewählt habe, war eine offene teilnehmende Beobachtung. Für die Wahrnehmung Anderer und das eigene Wahrgenommenwerden durch die Anderen war der eigene Körper sehr bedeutsam. Dabei sind die Wahrnehmungsweisen und Körper von den inkorporierten sozialen Habitusformen geprägt. In diesen sind die jeweiligen gesellschaftlichen Strukturierungen wie etwa Geschlecht, Klasse sowie spezifische Ordnungsprinzipien einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse eingelassen. Sie werden über Körperbewegungen und Körperverhalten reproduziert. Dabei fungiert der Körper auch als Zeichenträger der jeweiligen sozialen Herkunft. Mein Körper, beziehungsweise mein Habitus, unterschied sich äußerlich recht stark von jenen der Besucher*innen des Jugendtreffs, die mir als ,Stammgäste’ vorgestellt wurden. Jedoch verkörperte ich auch eine disziplinäre sowie professionelle Zugehörigkeit, denn ich wurde von den Besucher*innen und den Mitarbeiter*innen des Jugendtreffs recht schnell als eine neue Mitarbeiterin wahrgenommen und adressiert; und dies, obwohl ich in Gesprächen meine Rolle offen legte und immer wieder darauf hinwies. Dass ich aufgrund meines Körpers und meines Habitus recht schnell den Mitarbeitenden zugeordnet wurde, zeigte sich in mehreren Situationen.450 Als ursächlich dafür, dass ich in diesen als zugehörig wahrgenommen und adressiert wurde, veranschaulicht die folgende Sequenz: Die ganze Zeit steht A. hinter T.. Nun holt er wieder sein Feuerzeug heraus und es fängt an zu riechen. Ich: „Riecht ihr das? Das reicht, du hast jetzt die Jacke echt angekokelt!“ Die Jungen blicken mich an und plötzlich lachen sie schallend. T.: „S., kommen Sie mal!“ Ey, Sie könnten die Schwester von S.

450

Gruppen als zugehörig eingeschlossen oder als nicht-zugehörig ausgeschlossen Innerhalb dieser Ordnungen werden Rahmen der Anerkennbarkeit immer wieder neu ausgehandelt, genauso wie die Positionierungen innerhalb dieser. Dass dies mir den Zugang zu den Besucher*innen recht schnell verschließen würde, war einer von mehreren Gründen, warum ich an vielen Tagen die Theke gemieden und mich im offenen Bereich oder in anderen Räumen aufgehalten habe.

Der Offene Kinder- und Jugendtreff

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sein.“ Sie lachen und rufen sich einige Worte zu. Ich: „Hä, wieso??“ A.: „Weil, Sie sagen Kokeln!“ Ich: „Ja, das heißt doch auch Kokeln. Was sagt ihr denn dazu?“ Die Jungen werden unruhig. Immer mal wieder beugen sie ihre Oberkörper über den Tresen. Sie schieben die Drehtür etwas zur Seite, aber sie wissen, dass sie nicht dahinter gehen dürfen. Sie stemmen sich auf die Stühle, stehen teils und lehnen sich weit über die Theke: „Ey, S. sagt auch immer Kokeln und so!“ Ich: „Ja, aber was sagt ihr denn nun dazu?“ B.: „Mensch, Fackeln, das ist Fackeln!“ Ich: „Hm, naja, bei mir ist das Kokeln!“ A. sagt: „Ey man, ihr seid noch so richtige Deutsche!“ Ich sage: „Was meinst‘n jetz‘ damit?“ A. macht etwas äffend (er zieht eine Grimasse, ändert den Tonfall) irgendwelche Worte nach, die wie deutsche Fremdwörter klingen. Dann sagt er: „So, genau so reden Sie!“ Nun fragt T.: „Wieviel intelligent sind Sie?“ Ich: „Was meinste denn damit?“ T.: „Ja bei bis 100%, wieviel Prozent sind Sie intelligent?“ Ich: „Hm, bestimmt sehr!“ (BP 13.01.2015, Z. 290-328)451 Dass ich das Wort ,Kokeln‘ in die Situation einbringe ist Anlass dazu, dass die Jungen, mit denen ich an der Theke stehe, zu lachen beginnen. Ich frage sie nach dem Grund ihres Lachens, beziehungsweise ich bemerke eigentlich nur ,Hä, wieso?‘. Die Jungen greifen dies auf und entgegnen, dass sie lachen, weil ich Kokeln sage. Ich frage die Jungen auch danach, was sie denn zu ,Kokeln‘ sagen. In diesem Moment ist es interessant, was auf der non-verbalen Ebene geschieht, denn es wird eine spezifische Unruhe in die Situation getragen. Ich stehe hinter der Theke, die Jungen seitlich daneben. In der Situation versuchen die Jungen körperlich in den ,hinteren‘ Thekenbereich einzudringen, tun es aber nicht. Im Jugendtreff besteht nämlich die Regel, dass die Besucher*innen nicht hinter die Theke dürfen. Die Verwendung des Wortes ,Kokeln‘ schreiben sie dem Hauptamtlichen S. zu. Scheinbar gleicht meine Sprechweise der des Pädagogen. Uns wird sogar eine Verwandtschaftsbeziehung zugeschrieben, was darauf schließen lässt, dass die Jungen eine Vorstellung davon haben, dass Sprache etwas ist, das elementar in der Herkunftsfamilie erworben wird. S. und ich werden so in ein Verhältnis zueinander gesetzt und zugleich als ,Andere‘ markiert. Indem ich erkläre, dass es ,Kokeln‘ heißt, wenn man etwas anzündet, bediene ich mich einer Deutung. Ich frage nun die Jungen, wie sie es bezeichnen würden, wenn sie etwas anzünden. Darauf antwortet B., dass das ,Fackeln‘ ist. Indem ich nun erkläre, dass ,Fackeln‘ bei mir eben ,Kokeln‘ ist, markiere ich auch eine Differenz zwischen mir und den Jungen als ,Andere‘. Nun führt A. eine Dichotomisierung in Bezug auf natioethno-kulturelle Zugehörigkeit ein. Innerhalb dieser markiert und positioniert er mich als ,richtig-deutsch‘, indem er sagt, „Ihr seid noch so richtig Deutsche.“ Somit wird eine ,Wir‘/,Andere‘-Dichotomisierung wirkmächtig, entlang derer ich als ,richtig451

Für die Darstellung in der Veröffentlichung werden die bereits anonymisierten Namen der Personen im Feld abgekürzt.

312

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Deutsche‘ und B. sich und die anderen Jungen, die an der Situation teilhaben, als ,nicht-richtig-deutsch‘ markiert. Den ,richtig Deutschen‘ schreibt B. Eigenschaften wie Konservatismus oder die Verwendung bestimmter Sprechweisen zu. T. beginnt nun Töne und Wörter vor sich hin zu ,brabbeln‘, was ich wiederum als ,Nachäffung‘ empfinde. Der Tonfall und die Mimik lassen sein Sprechen eher als Abwertung, als ein ,Lächerlichmachen‘ erscheinen. Ich kann sein Gemurmel nicht verstehen, entweder spricht er Worte, die er kennt, absichtlich falsch aus, oder er kann sie phonetisch einfach nicht korrekt artikulieren. Anknüpfend an Letzteres könnte sein Verhalten auf eine oder mehrere Erfahrung/en der Ausgrenzung durch Sprache als migrantischer Mann in einer deutschen Mehrheitsgesellschaft sein. Zuletzt stellt der Besucher T. die Frage nach meinem Bildungshintergrund, den die Jugendlichen scheinbar mit meinem Sprachgebrauch assoziieren. Ursächlich für die Adressierung und Positionierung (als den Mitarbeitenden des Jugendtreffs zugehörig und somit der sich formierenden Jungengruppe nicht zugehörig) ist die Wahrnehmungsweise meines Sprachgebrauchs und nicht die augenscheinliche Positionierung meines Körpers hinter der Theke. Die Situation zeigt auch, dass der Jugendtreff und die dort Arbeitenden den an der Situation Beteiligten in irgendeiner Weise miteinander vertraut sind. Sie kennen nicht nur den Hauptamtlichen S., sondern auch dessen Sprache, eine Sprache, die sich von denen der Jungen unterscheidet. Daran lässt sich anschließen, dass sich in den Wahrnehmungsweisen der Besucher*innen inkorporierte gesellschaftliche Ordnungen und Teilungen manifestieren und die Mitarbeitenden von den Adressat*innen daran orientiert werden. Die ausgewählte Szene zeigt aber auch, dass die Art und Weise des Sprechens des Hauptamtlichen und die meinige als ,richtig-deutsch‘ klassifiziert wird. Dass und ob ich tatsächlich ,richtig-deutsch‘ bin, ist in dieser Szene nicht wirklich relevant, denn einem ,richtig-deutsch sein‘ wird hier zunächst nur ein spezifischer Sprachgebrauch zugeschrieben.452 Dass am Ende der Sequenz die Frage danach eingeführt wird, ,wieviel intelligent ich bin‘, lässt Assoziationen zu, dass sie von einem spezifischen Sprachgebrauch auf einen bestimmten Bildungsabschluss schließen. Vor dem Hintergrund der vorab dargelegten Unterscheidung und Differenzsetzung, dass das, was ich als ,Kokeln‘ bezeichne, bei ihnen ,Fackeln‘ heißt, wird eine Unterscheidung relevant gesetzt, derer zufolge sie S. und mich als besser gebildet und ,richtigdeutsch‘ positionieren. In diesen am Körper und an der Sprache festgemachten Un-

452

Es gibt etliche Situationen während meiner Beobachtungszeit, in denen mein natio-ethno-kultureller Hintergrund thematisiert wird. Die Jugendlichen fragen mich oft explizit, wo ich ,herkomme‘. Implizit wurde meine Herkunft bedeutsam, wenn Besucher*innen erfuhren, dass ich deutscher Herkunft bin. Den Äußerungen entnehme ich, dass viele mich als nicht-deutsch wahrnehmen, worauf sie aufgrund meiner Haar- und Augenfarbe – die sichtbaren Körperzeichen – schließen.

Der Offene Kinder- und Jugendtreff

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terscheidungen manifestiert sich eine soziale Ordnung einschließlich ihrer auf Körper, Sprache und Verhalten bezogenen Normen und Normalitätsvorstellungen innerhalb des Jugendtreffs und auch innerhalb einer deutschen Mehrheitsgesellschaft. Jedoch wurden nicht nur meine nationale Herkunft sowie ein vermeintlicher Bildungsstatus in spezifischen Situationen relevant, sondern auch mein Alter. Dieses war sehr oft Thema im Jugendtreff, nicht selten in Verbindung mit meiner Geschlechtszugehörigkeit. In den Thematisierungsweisen zeigten sich auf Alter bezogene Verhaltens- und Erscheinungsnormen der Person, der es zugeschrieben wurde. Zugleich beeinflusste auch die Wahrnehmbarkeit meines Alters den Umgang mit meiner Person. A., B. und B. sitzen auf der von der Theke aus hinteren Sofaecke (die Raumbeschreibung ändert sich je nachdem, wo ich stehe). Bei ihnen sitzt ein Mädchen. Sie gucken auf ihre Handys. Ich setze mich einfach mal zu ihnen und frage: „Und, wie is?“ „Gut!“, sagt eines der Mädchen, „und Ihnen?“ Ich sage nochmal: „Ihr könnt mich gern duzen, L. bin ich!“ T: „Nein! Nein, ey, Sie ist mit mehr Respekt und so.“ (BP 16.12.2014, Z. 415-419) Ich sitze in einer Gruppe der Besucher*innen und frage sie nach ihrem Befinden. Eines der Mädchen siezt mich, woraufhin ich – wie schon einige Male zuvor – ihnen das Du anbiete. Dass sie mich siezen, zeigt zum einen, dass sie mich als ,Andere‘, als nicht den Besucher*innen zugehörig wahrnehmen und zuordnen. Zugleich äußert sich darin eine Verhaltens- und Höflichkeitsnorm, derer zufolge Menschen ab einem bestimmten Alter gesiezt werden, da es von einem Mehr an Respekt zeugt. In Thematisierungsweisen über mein Alter zeigten sich auch weitere normative Vorstellungen der Besucher*innen in Bezug auf meine geschlechtliche Zugehörigkeit und darauf bezogene statusbezogene Erwartungen. Ich sitze zum Beispiel an einem Nachmittag mit einigen Jungen an einem der Tische. Ich werde zuerst nach meinem Alter gefragt, was ich auch beantworte. Einer von ihnen fragt mich: „Haben Sie einen Mann?“ Ich: „Ja, seit Langem bin ich glücklich vergeben!“ „Wie alt ist ihr Mann?“ Ich: „Der ist 40!“ D. zieht die Augenbrauen hoch: „So alt? Habt ihr Kinder?“ Ich schüttele den Kopf. D. guckt mich an, zieht die Augenbrauen noch höher, seine Stimme hebt sich: „33, aber dann sind Sie ja schon viel zu alt.“ Ich: „Wofür?“ D.: „Na, Kinder!“ Ich: „Warum?“ „Naja, 33 ist für Kinder total alt.“ (BP 12.02.2014, Z: 155-160). Dass ich im Alter von 33 Jahren noch nicht Mutter bin, scheint für die Besucher nicht nur ungewöhnlich, sondern darüber hinaus erachten sie mich als bereits zu alt, um noch Mutter zu werden. Das Alter 33 finden sie scheinbar nicht grundsätzlich ,zu alt‘, jedoch für Kinder ,total alt‘.

314 8.2

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse Räume und Akteur*innen

Die Darstellung der Kategorie Räume und Akteur*innen zielt zum einen auf eine Auseinandersetzung mit den Räumlichkeiten des Offenen Kinder- und Jugendtreffs, zum anderen wird ein Bild davon portraitiert, welche Personen sich im offenen Kinder- und Jugendtreff aufhalten. Nach der Darstellung der (phänomenologischen) Betrachtungsweise des Raumes wird der Frage nachgegangen, wie der Raum strukturiert ist. Es wird gezeigt, dass er von gesellschaftlichen Ordnungsmustern und von spezifischen Regeln durchdrungen ist und diese Facetten über die Dimensionen des Körperlichen vermittelt sind. Das Jugendzentrum: Der Offene Bereich Der Jugendtreff befindet sich in einer Stadt in Deutschland.453 Er erstreckt sich über mehrere Räume und mehrere Etagen. Der Offene Bereich befindet sich im unteren Stockwerk eines Gebäudes und besteht aus unterschiedlichen Räumen, Durchgangspassagen und Bereichen. Das Café bildet den Mittelpunkt des Offenen Bereiches. In diesem finden sich vereinzelt Sofas und Sportspielmöglichkeiten. Während meiner Beobachtungszeiten konnte ich registrieren, wie gerne die Jugendlichen sich auf die Sofas zurückziehen, denn sie bieten ihnen die Möglichkeit, einen eigenen und ungestörten Rückzugsort zu schaffen. Die gewählte Anordnung der Sofas präformiert ein Zusammenspiel von Raum und Körper und schafft durch sie eine gewisse Exklusivität. Indem die Besucher*innen sich bewusst dazu entschließen, ihre Körper eng an diesem spezifischen Ort zu platzieren, separieren sie sich auf diese Weise deutlich sichtbar von der anderen äußeren Umgebung und fühlen sich ungestört. Dieser Eindruck lässt sich ebenso an einer Sequenz verdeutlichen. Auf dem anderen Sofa sitzen mehrere Mädchen und Jungen an der Playstation und unterhalten sich über A.. Sie wirken aufgebracht, hektisch, kurzatmig und angestrengt. Dabei fallen mir erneut die Geschlossenheit und Unnahbarkeit dieser kleinen Räume auf, die sich durch das kreisförmige Sitzen wie von selbst ergeben. Ich nehme für mich wahr, dass ich dort nicht so ohne weiteres als Störenfried eindringen durfte. (BP 9.12.2014, Z.328-332) Durch die kreisförmige Positionierung ihrer Körper demonstrieren die Jugendlichen nach Innen eine gemeinsame Nähe und Intimität, nach Außen eine sichtbare Abriegelung. Sie geben somit deutliche Signale an die Personen in ihrer Umgebung. Auf einem Sofa sehe ich ein Pärchen, einen Jungen und ein Mädchen. Ihre Körper liegen aufeinander, beziehungsweise er sitzt auf dem Sofa, sie sitzt 453

Aus Gründen des Schutzes der Anonymität der Einrichtung wurde die Darstellung der Räumlichkeiten gekürzt.

Räume und Akteur*innen

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seitlich neben ihm und legt ihre Beine auf seine Oberschenkel. Ihre Körper sind einander zugewandt. Ihre Gesichter berühren sich. Sie sitzen so versteckt, dass ich nicht sehen kann, wer die beiden sind. D. sitzt am PC neben der Theke, S. und der ,kleine‘ Junge, dessen Name ich noch nicht kenne, spielen Tischtennis. Heute ist Donnerstag und ich weiß, dass die Jungen auf S. warten. Jeden Dienstag fährt S. mit ihnen zum Sport in eine Sporthalle in der Stadt. (BP 5.02.2015, Z. 3-9) Die beiden Besucher*innen, die in dieser Situation meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, halten sich innerhalb der Sofaecken im Verborgenen auf. So schaffen sie einen exklusiven Raum. Die enge und dichte Anordnung der Körper signalisiert mir, dass ich ihren kaum einsehbaren intimen Raum nicht stören darf. Gleichzeitig ist das Paar als zweier miteinander verschlungener Körper besonders sicht- und wahrnehmbar. Ihre hergestellte Intimität lässt sich als sichtbare und gespürte leiblich körperliche Grenze interpretieren, die mich davon abhält, als Störenfried eindringen zu wollen. Kehren wir zu der Beschreibung der Räumlichkeiten zurück. Die Theke Die Theke bildet eindeutig das Zentrum des Offenen Bereiches und ist ihr Dreh- und Angelpunkt. Ich habe die Theke als Grenzbereich, entlang dessen Positionen zwischen Mitarbeiter*innen und Besucher*innen geregelt und ausgehandelt werden, wahrgenommen. Sie ist das Symbol einer (hierarchischen) Ordnung im Treff, denn es ist klar festgelegt, wer den Bereich vor und wer den Bereich hinter der Theke betreten darf. Hinter der Theke zu stehen bedeutet, mit der Position des Mitarbeitenden und seinen entsprechenden Rechten und Pflichten ausgestattet zu sein. Er/Sie darf zum Beispiel Lebensmittel verkaufen, den Schlüssel für die anderen Räume auf Anfrage an die Jugendlichen aushändigen, die Jugendlichen des Platzes hinter der Theke verweisen und insgesamt die Einhaltung der im Treff geltenden Regeln einfordern. Die hinter der Theke stehende Person verkörpert die Zugehörigkeit zu der Gruppe der Mitarbeiter*innen des Jugendtreffs; ihr werden sozialpädagogische Kompetenzen zugesprochen. Es gehört zu ihrer Aufgabe zuzuhören und zu helfen. Durch den Verkauf sind sie zwar auch ,Dienstleister*innen‘, aber die verschiedenen Beobachtungsprotokolle zeigen deutlich, dass die Besucher*innen des Jugendtreffs über das inhärente Wissen verfügen, dass alle im Jugendtreff arbeitenden- oder Praktika ausführenden Personen eine pädagogische Handlungskompetenz besitzen. Die Positionierung hinter der Theke beinhaltet eindeutige Rollenzuweisungen und schafft legitime und nichtlegitime Plätze. Sobald Besucher*innen diese Grenze überschreiten, werden sie sanktioniert und auf ihren legitimen Platz vor der Theke verwiesen. Die Bedeutung der Theke besteht folglich nicht nur darin, Dreh- und Angelpunkt des Jugendtreffs zu sein, sondern sie dient ebenso den disziplinierenden Maßnahmen zur Einhaltung festgelegter Regeln. Körper werden an der Theke oft in spezifischer Weise

316

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

eingesetzt. Die hinter der Theke stehende Person regelt Verkauf und Verleih, wird in Gespräche verwickelt und animiert selber zu Gesprächen. Bei der ethnographischen Beobachtung erwies sich die Rolle an der Theke als eine ambivalente Forscher*innenpositionierung. Einerseits ist sie ein guter Platz, von dem aus die Kontaktaufnahme mit den Besucher*innen begünstigt wird – wie mir die Mitarbeiter*innen bestätigten – anderseits wurde ich wie selbstverständlich und unhinterfragt als Mitarbeiterin des Jugendtreffs akzeptiert und befand mich somit mehr in deren Position. Um dieser Einschätzung entgegen zu wirken, positionierte ich mich bewusst an unterschiedlichen Plätzen, beobachtete die Jugendlichen und ließ mich in deren Alltagsgeschehen verwickeln. Es gibt weitere Flure und Treppen, die in andere Etagen des Gebäudes führen. In diesen Stockwerken befinden sich weitere Räume. Diese Räume sind nicht durchgehend geöffnet, sondern die Jugendlichen müssen sich zu ihrer Nutzung eine Erlaubnis einholen. Diese Räume können für vielfältige Events werden, zum Beispiel für Partys oder zum Tanzen. Party- und Tanzräume An einigen Abenden werden im Jugendtreff in Zusammenarbeit mit Besucher*innen Partys organisiert. Der Hauptamtliche S. kümmert sich sehr gewissenhaft um die Planung jeder Party, und ich konnte beobachten, wie wichtig es ihm ist, alles gemeinsam mit den Jugendlichen zu planen und vielen von ihnen eine Möglichkeit zu bieten, ihre Musik oder ihren Tanz vor einem Publikum zu ,performen‘. Darüber hinaus leistet er damit seiner professionellen Haltung folge, die an der Ermöglichung und Unterstützung von Teilhabe orientiert ist. Auffallend sind der symbolische Wert und der distinktive Nutzen einer Party für die heterogenen Besucher*innen des Offenen Kinder- und Jugendtreffs. Es gibt jene, die dieses Angebot gerne nutzen und interessiert zur Party gehen, und andere, die sich bewusst abgrenzen und das Ereignis mit einem negativen Wert besetzen. Dabei werden einzelne Personen, aber auch Gruppen, mit Wert versehen oder es wird ihnen Wert abgesprochen. Ich frage die Mädchen: „Geht ihr denn auch zur Party?“ „Welche Party“, fragen sie? Ich: „Na die hier!“ Ed. (in einem sehr abwertenden Ton): „Die PARTY fängt um 6 an und ist um zehn zu Ende, was für ‚‘ne Party? (BP 14.01.2015, Z. 162-163) In dieser Aussage zeigen sich Wahrnehmungsweisen einer Besucher*in, die nicht nur auf Einzelne, sondern auch selektiv auf alle Besucher*innen angewendet werden, die diese Party besuchen. Die Aussage der Besucher*in unterstreicht auch deutlich eine,

Räume und Akteur*innen

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die Lebensphase Jugend kennzeichnende, Selbstwahrnehmung des ,nicht-mehrKind-Seins‘, indem sie auf die zeitliche Limitierung der Party hindeutet. Für die Jugendlichen, die Tanzen möchten, bieten die Räumlichkeiten des Jugendtreffs weitere Möglichkeiten. Die Jugendlichen, die einen Raum zum Tanzen nutzen möchten, müssen bei den Mitarbeiter*innen des Jugendtreffs um den Schlüssel bitten. An einigen Tagen sind die Räume für feste Tanzgruppen reserviert. In der verbleibenden Zeit kann er von den Besucher*innen des Jugendtreffs nach Bedarf genutzt werden. Anders als der Offene Bereich, in dem es in Bezug auf körperliche Praktiken wenig definierte ,Vorgaben‘ gibt, ist der Tanzraum ein bestimmter oder spezifischer Ort im Jugendtreff, der auf bestimmte Körperpraktiken angewiesen ist (vgl. Villa 2002, S. 188) und von diesen bestimmt wird. Dass materielle Räume in einer solchen Perspektive von Semantiken strukturiert sind, bedeutet, dass sie nach ihrem Gebrauch und ihrer Bedeutung definiert werden. Der Raum, in dem getanzt wird, wird dadurch vom Ort des Tanzens bestimmt. Besonders zeichnet sich der Tanzraum durch Spiegel aus. Durch diese können Tänzer*innen und Zuschauer*innen sich gegenseitig beobachten. Hier ergibt sich eine eigentümliche Dynamik von Blickverhältnissen. Die Tanzenden geben ihre Körper den Zuschauer*innen in doppelter Weise zu sehen: So können die Zuschauer*innen die Körper im Tanz direkt betrachten, sie können diese jedoch auch in objektivierter Form durch den Spiegel beobachten. Im Spiegel können sie sich auch selber im Beobachten beobachten und sich gegenseitig Blicke zuwerfen.454 Interessant am Tanzraum ist die Wirkmächtigkeit des (disziplinierenden) Blicks. Der Blick bewertet Kompetenz, Stil, Können, Aussehen und Status. Villa (2002) zufolge wird das Schauen inkorporiert. Somit handele es sich um ein typisches Phänomen der Visualisierung des Sozialen – der ,Zur-Schau-Stellung‘ sozialer Ordnungen (vgl. Villa 2002, S. 195). Die Tänzer*innen lesen zum einen ab, was sie wissen müssen, um an der Interaktionsordnung des Tanzraumes teilzunehmen. Gleichsam fungiert der Blick auch als ,Ab-Gucken‘, als mimetische Nachahmung anhand eigener Körperpraxis (vgl. Villa 2002, S. 195). Der Tanzraum wird aber nicht lediglich durch die Bedeutung des Tanzens markiert. Er befindet sich im oberen Stock und ist ein Raum, über den Ein- und Ausschließung maßgeblich mitstrukturiert wird. Eine Besucher*in des Jugendtreffs, die ihr ,DaSein‘ 454

Mit dem Topos der Sichtbarkeit und ihren Ambivalenzen beschäftigt sich Johanna Schaffer (2008). Sie arbeitet heraus, dass und wie sich Hegemonie grundlegend über ästhetische Formen herstellt. Die Frage der Sichtbarkeit, welche in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu einer zentralen Kategorie oppositioneller politischer Rhetorik geworden ist, verortet sie im Feld der visuellen Ästhetik und der Bilder und unterstreicht deren politische Bedeutung. Anhand der Analyse von visuellen Ästhetiken (Bildkampagnen, Filmen) geht sie zunächst der Frage nach, wie uns etwas zu sehen gegeben wird und was darin gleichzeitig als Unsichtbarkeit entsteht. Ihre Arbeit zielt darauf ab, andere Formen des Bedeutens bereit zu stellen.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

damit begründet, dass sie tanzen wollen, betont besonders, dass sie ,oben‘ tanzen. WIR sind hier, weil wir tanzen wollen. Wir tanzen OBEN.“ (BP 14.01.2015, Z. 162). Damit weist sie ihre spezifische Positionierung von Zugehörigkeit im Jugendtreff als nicht zu ,denen von unten‘ zugehörig aus. Oben zu tanzen scheint im Jugendtreff bedeutungsvoll zu sein. Die Frage nach Zugehörigkeit stellt sich für die Besucher*innen des Jugendtreffs in besonderer Weise. Diese Facette wird in einer weiteren Kategorie beleuchtet, jedoch wird vorab ein differenzierteres Bild von den Akteur*innen innerhalb des Jugendtreffs sowie den sich dort formierenden Gruppen gezeichnet. Die Darstellungen verbleiben hier auf einer eher beschreibenden Ebene. Soziale Akteur*innen und Gruppen Zu Beginn der Forschungsphase war es recht schwer Einblick zu bekommen oder gar den Überblick zu behalten, welche Leute zu Besucher*innen des Jugendtreffs oder der verschiedenen AG´s zu zählen sind. Der Jugendtreff scheint ein Ort zu sein, den Jugendliche und Mitarbeitende gerne aufsuchen. An allen Tagen, an denen ich dort teilnehmend beobachtet habe, war der Jugendtreff von einer Vielzahl von Personen besucht. Die Mischung der Besucher*innen ist recht bunt. So besuchen Jugendliche im Alter von 6 bis über 20 Jahre den offenen Kinder- und Jugendtreff. Scheinbar kommen (über bestimmte Zeiträume) immer dieselben Jugendlichen, um sich mit anderen zu treffen. Auch ,neue‘ Jugendliche werden oft von denen eingeführt, die sich regelmäßig im Jugendtreff aufhalten, diesen kennen und in der Einrichtung bekannt sind. Im Rahmen der Beobachtungszeit ist zudem aufgefallen, dass das ,Da-sein‘ im Raum als eine spezifische Aneignung des Raumes betrachtet werden kann: Sobald die Besucher*innen im Jugendtreff angekommen sind, verschaffen sie sich einen schnellen Überblick über den Raum und die dort Anwesenden. Dies dient zunächst einer ersten Orientierung: Wer hält sich schon im Jugendtreff auf? Sind bereits Leute da, die ich kenne oder mit denen ich mich verabredet habe? Sehe ich Leute,mit denen ich zusammen sein oder solche, mit denen ich nichts zu tun haben möchte? Im Durchschreiten des Raumes wird dieser im Detail erkundet. Dies geschieht in offener Form: Die Jugendlichen schauen sich um, sehen zum Teil genauer hin, ob sie die Personen, die sich bereits im Raum aufhalten, erkennen. Erst nach einer genaueren ,visuellen Inspektion‘ (vgl. Villa 2002) wird die eigene Position darin eingenommen. 455 Zumeist bewegen sich die Jugendlichen in Gruppen durch den Raum, oft zügig, hektisch oder laut. Diejenigen, die alleine dort sind, gehen zielstrebig entweder zur Theke, 455

Die Blicknavigation ist Bestandteil sozialer Interaktion im Jugendtreff (vgl. Villa 2002, S. 188). Dabei geht es darum zu sehen und auch gesehen zu werden. Bei den Mitarbeiter*innen verhält es sich oftmals anders: Erst nachdem sie sich hinter der Theke positioniert haben, inspizieren sie den Raum visuell. Zumeist schauen Sie dann in das schwarze Buch und unterziehen den Raum anschließend einer ,visuellen Kontrolle‘.

Räume und Akteur*innen

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anderen bestimmten Orten oder sie verlassen den Jugendtreff. Nicht selten hat es den Anschein einer agilen Komm- und Gehstimmung. Mitsamt fühlt sich der Alltag sehr lebendig an: ich sehe Jungen, die Billard spielen, die Kickern, die Play-Station spielen und tanzen. Ich sehe Mädchen, die gemeinsam auf die Toilette gehen, nicht selten um sich zu stylen. Ich sehe Besucher*innen, die in Gruppen auf den Sofas ,chillen‘, die Lebensmittel an der Theke kaufen, die sich in Gruppen durch die Räume bewegen. Ich sehe Jugendliche, die miteinander Musik hören, die miteinander Gesellschaftsspiele spielen, ich sehe Paare, die sich küssen, Paare, die sich streiten. Ich sehe Menschen, die sich unterhalten, die kochen oder Ermahnungen aussprechen. Ich höre Jugendliche, die singen und rappen, ich rieche Parfum und Schweiß, fettige Haare und Haarspray, ich rieche, wenn gekocht wird. Ich schwitze, wenn der Raum voll ist und ich friere, wenn ich nahe der Eingangstür stehe und die Tür geöffnet ist. Ich nehme die Lautstärke und die Unruhe wahr. An einigen Tagen finde ich es ,zu laut‘, an anderen Tagen fällt es mir nicht auf. Vor dem Jugendtreff sehe ich Menschen, die sich miteinander unterhalten, die rauchen, die lachen, die sich im Spiel boxen. Insgesamt sind die Menschen, die den Jugendtreff besuchen, sehr heterogen: sie haben unterschiedliche Hautfarben, Geschlechter sowie ein unterschiedliches Alter und einen unterschiedlichen Habitus. Auffällig ist, dass die verschiedenen Gruppen und sozialen Akteur*innen den Jugendtreff in differenten Weisen nutzen, sich diesen aneignen, sich darin positionieren oder positioniert werden. In den verschiedenen Wahrnehmungs- und Thematisierungsweisen dieser Gruppen zeigt sich auch – und dies ergeben insbesondere die späteren Auswertungen – dass Personen bestimmten Gruppen zugeordnet, in dichotome Raster eingeordnet und somit homogenisiert werden. In der Konstitution von Gruppen zeigen sich gesellschaftliche Ordnungsmuster, so etwa in den Gruppen, die als ,Assis‘, als ,Zigeuner‘ oder als ,Machomännliche‘ markiert werden. Die in den Beobachtungen zusammengefassten Darstellungen der Räumlichkeiten des Jugendtreffs sowie von Personen und Gruppen bilden die ,soziale Situation‘ des Jugendtreffs (vgl. Schmincke 2009), der hier aus verschiedenen Perspektiven – als Schaubild des Sozialen, als Bühne sowie als Ort sozialpädagogischer Wirklichkeitskonstruktion – perspektiviert wird. Die Beschreibungen sollen verdeutlichen, dass der Offene Kinder- und Jugendtreff aus unterschiedlichen Räumen besteht, die jeweils eigene, voneinander unabhängige und zum Teil auch sich überschneidende Räume bilden. Zudem zeigt sich, dass Räume in alltäglichen Praktiken (Interaktion und Kommunikation) von Jugendlichen hergestellt werden. Diesen Betrachtungen lässt sich indes auch entnehmen, dass der Jugendtreff sozial strukturiert, also von gesellschaftlichen Ordnungsmustern, von Ein- und Ausschließungen durchdrungen ist. Dies wird anhand verschiedener Dimensionen konkretisiert.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

An diese eher phänomenologische Betrachtungs- und Darstellungsweise anschließend soll im folgenden Part dem Gedanken nachgegangen werden, dass der Jugendtreff einen gesellschaftlichen Ort darstellt, der von gesellschaftlichen Ordnungsmustern geprägt ist und körperlich Ausdruck findet. Bezugnehmend auf körpertheoretische Sichtweisen lässt sich zeigen, dass der Jugendtreff von sozialen Ordnungen geprägt ist und diese ganz fundamentale Körperordnungen sind, so Meuser (2004, S. 211). Sie werden in sozialen Praktiken erzeugt. Soziale Ordnungen sind in spezifischen Weisen durch Verhältnisse sozialer Ungleichheit, Macht und Herrschaft strukturiert. In den anschließenden Ausführungen wird sich der sozialen Strukturierung des Jugendtreffs zugewendet. Es wird herausgearbeitet, dass der Offene Kinder- und Jugendtreff durch soziale Strukturkategorien geordnet ist. Dies wird unter der Dimension (An)Ordnung gefasst. 8.2.1

(An)Ordnungen – Strukturierungen des Raumes

Nebst der architektonischen Beschaffenheit ist der Jugendtreff durch soziale Strukturkategorien beziehungsweise Ordnungskategorien wie Geschlecht, Bildung, Klasse, Behinderung, Ethnizität geordnet. Diese werden nicht selten an körperlichen Praktiken und körperlichen Erscheinungsweisen der Anwesenden im Offenen Kinder- und Jugendtreff festgemacht. Ein erster Aspekt der sozialen Strukturierung des Jugendtreffs besteht in der architektonischen Beschaffenheit. Die Räume sind auf unterschiedlichen Etagen angesiedelt; diese Aufteilung gibt zunächst ein ,Oben‘ und ein ,Unten‘ vor. So ist für den Offenen Bereich, für das Café, die untere Etage vorgesehen. Die obere Etage besteht ebenfalls aus verschiedenen Räumen. Der Zugang zu ihnen ist nicht ohne Weiteres möglich. Sie sind in der Regel für spezielle Körperpraktiken vorgesehen und ansonsten verschlossen. Die Schlüssel sind an der Theke hinterlegt, sodass diejenigen, die einen Raum nutzen möchten, nach einem Schlüssel fragen müssen. Somit ergibt sich ein komplexes und nahezu unübersichtliches Bild verschiedener Räume und Bereiche, die allesamt den Jugendtreff konstituieren. Zudem werden die Räume durch die Praktiken derer, die sich dort aufhalten, besetzt und angeeignet. Zugleich bilden sich jeweils fluide Räume durch Interaktionen und Kommunikation (vgl. Schmincke 2009). Bereits die ersten Phasen der Auswertungen zeigten, dass Körper in der Beobachtung des jugendpädagogischen Alltags bedeutungsvoll wurden. Somit gerieten Körper in lokalen Praktiken (bestimmte körperliche Erscheinungen, Merkmale oder Zeichen)

Räume und Akteur*innen

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in den Blick. Es zeigte ferner, dass darin gesellschaftliche Kategorien wie Alter, Geschlecht, Migration,456 soziale Klasse, Behinderung, eingebettet sind.457 Die Kategorien durchziehen die Konstruktionen sozialer Gruppen. Sie strukturieren die Wahrnehmung, die Bewertung, die soziale Praxis. Diese beeinflussen den jugendpädagogischen Alltag in spezifischer Art und Weise. Bezieht man die Komplexität (der Strukturen) sozialer Ungleichheit auf den Körper im Alltagshandeln mit ein, so lässt sich pointieren, dass am Körper der Mitmenschen deren Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen erkennbar ist, indem ihre ,körpergebundenen Zeichen‘ gelesen werden (vgl. Villa 2007). Dabei sind Körper symbolisch, sie haben eine gesellschaftliche Dimension, die auf vielfältige Weise mit Machtverhältnissen berührt ist (vgl. Niekrenz und Witte 2011, S. 7). Mitsamt sind die Unterscheidungen nicht gesondert voneinander, sondern als ineinander verwoben zu betrachten. Die Verschränkung von Unterscheidungskategorien wird indes am Körper sichtbar (siehe auch Kapitel 2). Im Folgenden wird nachgezeichnet, in welcher Weise soziale Kategorien den Jugendtreff strukturieren. Dabei wird eine Körperperspektive angelegt und sich besonders auf die Unterscheidungen Geschlecht, Ethnizität, Bildung und Klasse konzentriert. Begrifflich werden soziale Ordnungskategorien (des Sozialen) hier als körperbezogene Unterscheidungen ausgewiesen. Geschlecht Der Kategorie Geschlecht kommt ein Strukturmoment zu, indem die Geschlechterdifferenz die Räume des Jugendtreffs besonders prägt. Erstens zeigt sich, dass die Nutzung der Sportgegenstände sowie der Playstationkonsole – und die darüber entstehenden Räume – vornehmlich männlich codiert sind. Die Sportbereiche bilden nicht selten homogene Männerräume. Die Sportgegenstände und Computerspiele werden in dieser Öffentlichkeit von den männlichen Jugendlichen genutzt und besetzt. Zweitens zeigt sich innerhalb der Praktiken der Adressat*innen ein spezifisches Geschlechterverhältnis als ein soziales Verhältnis, in dem Mädchen und Jungen hierarchisch zueinander positioniert sind. Es wurde auch deutlich, dass sowohl die Mädchen als auch die Jungen dieses als legitim anerkennen und diese Beziehung mit ihrer ,Kultur‘ begründen. Diese Gedanken werden durch die Darstellung der nun herangezogenen Sequenz begründet.

456 457

Mit der Zusammensetzung der Worte natio-ethno-kulturell markiert Mecheril (2003) die Diffusität der Begriffe Kultur, Nation und Ethnizität. Die Arbeit mit Kategorien erweist sich als komplex und kompliziert; sie ist zudem in dekonstruktivistischer Perspektive nicht haltbar. Für die Wissenschaft sind Kategorien jedoch nötig (vgl. Degele 2004, S. 50). Diese müssen reflektiert, dezentriert und relationiert werden. Dadurch soll die Herstellung von Unterschieden empirisch re-konstruiert werden.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

„Aber bei uns ist das so, verstehst du?“ Das Geschlechterverhältnis wird zum einen im jugendpädagogischen Alltag unter den Besucher*innen thematisch. Dies zeigt diese Sequenz. D. kommt dazu. Sie spricht L. an und die beiden unterhalten sich. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen. L. rappt zwischendurch immer wieder irgendwelche Worte, die ich nicht verstehe. Ich weiß, dass er und A. aus Serbien kommen und ich nehme an, dass er serbischen Rap hört und singt. Ich sehe E. an der Theke sitzen. L. ruft ihr irgendetwas zu und pfeift, woraufhin sie von dem Stuhl, auf dem sie sitzt, aufsteht. Schnell eilt L. zur Theke, streckt E. seine Hand hin und ,geleitet‘ sie zum Tisch. Sie setzt sich still hin. In der Zeit hat D. sich auf den Platz gesetzt, auf dem L. vorher saß. Der blickt sie böse an und sagt in einem forschen Ton: „Is‘ mein Platz!“ D. räumt ohne zu zögern den Platz. Ich: „Boah, die hast du aber gut erzogen!“ (Ich schaue auf D., die den Platz frei gemacht hat). L. nickt und lacht: „Ist meine Mädchen!“ Ich: „Ich dachte, du bist mit E. zusammen.“ Er nickt grinsend. Nun fragt D. L.: „Liebst du sie?“ L. schüttelt mit dem Kopf: „Is‘ aber mein Freundin!“ Ich: „Und was machste dann so mit deiner Freundin, wenn du sie nicht liebst?“ L.: „Ja, chillen und so!“ Ich: „Hm, das kannste auch mit deinen Kumpels machen.“ L.: „Ja, genau, aber die ist gut. Gut ist die!“ Ich sage: „Na, mein Freund dürfte mich aber nicht einfach so wegschicken.“ D.: „Wir sind Ausländer, bei uns ist das so! Bei uns werden auch Frauen manchmal geschlagen! Das ist halt so, ey, ich sage dir, wir sind Ausländer, bei uns ist das anders. Da sind die Männer strenger!“ E. nickt und stimmt der Rednerin somit zu. L. nickt. Ich: „Hast du denn nur sie als Freundin?“ (Denn ein paar Tage vorher habe ich ihn mit einem anderen Mädchen gesehen, sie haben Händchen gehalten). L.: „Ich bin 16, ich bin jung. Ich muss gucken!“ Ich: „Darf denn deine Freundin auch andere Jungs angucken?“ Er schüttelt mit dem Kopf und stapft mit dem Fuß. Ich frage weiter: „Aber sie ist dann schon richtig deine Freundin?“ Er nickt. Nun fragt D. „So wie Z. und C. ?“ (Das sind zwei Jugendliche, die sich häufig im Jugendtreff aufhalten und seit einigen Tagen Händchen halten und sich küssen). L. zuckt mit den Schultern. D. fährt fort: „Nee, das ist was anderes, die hat immer einen anderen, das ist nicht richtig. Letzte Monat ist sie noch mit einem anderen Jungen gegangen, bei der (abschätzig) ist das was anderes, aber warte, ich habe ein Bild von denen.“ D. sucht auf ihrem Handy ein Bild von C. und Z.: „Warten Sie, ich zeig Ihnen ein Bild. Hm, ich find nicht, mein Freund hat das gelöscht. Mein Freund will nicht, dass ich Bilder von andere Männer habe!“ Ich: „Wie, der guckt in dein Handy und löscht Bilder?“ „Ja“, sie nickt. Ich: „Na, das soll mal jemand bei mir machen, da würd‘ ich aber was erzählen!“ L.: „Ist normal!“ D.: „Bei uns ist das anders. Ihr seid Deutsche! Ihr versteht

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das nicht, bei uns ist das anders. Da ist das auch so, wenn eine Frau in eine Familie kommt und einen Mann heiratet, die muss dann alles das machen, was die Mutter vorher gemacht hat und die Männer machen ihre Sachen. Ich zum Beispiel, ich habe einen Freund. Der ist auch immer eifersüchtig. Der schlägt mich, wenn ich Bilder von anderen Jungs habe. Weißt du, bei uns ist das auch so, dass die Jungs zu den Vätern von den Mädchen gehen und sich vorstellen. Das ist dann auch so, weißt du, dass die Väter sagen, so, den heiratest du. Weißt du, klar werden wir auch gefragt, wir können auch nein sagen, aber bei uns ist das so, verstehst du?“ (BP 23.01.2015, Z. 122163) Ich sitze mit einigen Jugendlichen am Tisch und kommentiere eine Situation, die sich mit einem männlichen und zwei weiblichen Besucher*innen und mir ereignet hat. Ursächlich für eine Kommentierung meinerseits ist eine (Aus-) Handlung zwischen den Jugendlichen. Nachdem L. vom Tisch aufgestanden ist, um – wie er später sagt, ein Mädchen von der Theke abzuholen, hat sich D. auf den Platz gesetzt, auf dem er zunächst gesessen hat. Einer nonverbalen Geste folgend macht sie ihm den Platz wieder frei. Diese Szene erfährt eine Kommentierung meinerseits, durch die ich die Kategorie Geschlecht einbringe. Auf meine Aussage, dass L. D. ,gut erzogen‘ hat, erklärt er mir, dass sie ,sein Mädchen‘ sei. Damit meint er jedoch D. und nicht E., die er von der Theke geholt hat. Deswegen frage ich nach und vergewissere mich, ob er denn nicht mit E. zusammen ist. Ich erwähne auch, dass mein Freund das nicht mit mir machen dürfe. An dieser Stelle darf nicht ausgeblendet werden, dass meine Erscheinung als deutsche und weiße Frau die Situation beeinflusst. Diese Situation nutzt auch D. und fragt L., ob er E. liebe. L. verneint dies, betont aber, dass E. trotzdem ,sein Mädchen‘ sei. Meiner Äußerung, die ich aus einer Positionion als deutsche, weiße Frau vornehme, ist eine Anrufung inhärent, mit der ich mich als ,deutsche und emanzipierte‘ Frau und damit einhergehend D. und M. als ,nicht-deutsche‘ unterdrückte Frauen und L. als ,machistischen, ausländischen Mann‘ positioniere. In der Situation zeigen sich unterschiedliche Geschlechterverhältnisse. Das sich zwischen den Besucher*innen manifestierende Geschlechterverhältnis erfährt Bestätigung von D., die dieses mit der natio-ethno-kulturellen Herkunft der Besucher*innen begründet. Dieses sich so formierende Wir (Ausländer*innen) konstituiert sich in Abgrenzung zu einem Ihr, dessen DeutschSein ich verkörpere. D. greift meine Äußerung auf und erklärt mir daraufhin, dass das bei ihnen aber so ist, weil sie Ausländer sind. Sie wendet somit ethnisierte und kulturalisierende Zuschreibungen auf sich selber an und legitimiert damit den sich in der Situation zeigenden Umgang zwischen männlichen und weiblichen (ausländischen) Besucher*innen, welchem ein spezifisches Geschlechterverhältnis zugrunde liegt, das hierarchisch strukturiert ist. Dass dieses mitunter gewaltförmig strukturiert ist, darauf bietet die Situation bereits Hinweise.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Geschlecht und Ethnizität Sehr häufig taucht die Thematik Ethnizität und Migration im Offenen Kinder- und Jugendtreff im Zusammenhang mit Themen wie Gewalt gegen Frauen oder Kriminalität auf.458 Für die Darstellung wird eine Szene eingeführt, in der die Mitarbeitende Z. in einer Situation, in dem ein Junge und einem Mädche, die seit einiger Zeit ein Paar sind, interveniert. Die beiden sitzen eng umschlungen auf dem Sofa und von ,außen‘ ist es schwer einsehbar, was in der Situation geschieht. Eine mögliche Deutung ist, dass der Junge seine Freundin anfassen will und seine Freundin ihn wegschiebt. Als Z. dies sieht, stellt sie den Jungen zur Rede, der nicht nur sich selbst verteidigt, sondern auch von seiner Freundin mit den Worten ,da war nichts, ich schwöre es‘ verteidigt wird. Als ich mich mit Z. später unterhalte, erzählt sie sowohl von dem Jungen, um den es in der Szene geht, als auch von einem anderen migrantischen Jungen, dem wegen seines grenzverletzenden Verhaltens einigen Mädchen gegenüber Hausverbot erteilt wurde. Sie wirkt sehr aufgebracht und zeigt damit, dass sie das Thema sehr berührt. In ihren Äußerungen kommt jedoch auch eine Wahrnehmungsweise im Hinblick auf migrantische Adressat*innen zum Ausdruck: Z.: „[…] und die Mädchen, echt, die Mädchen haben kein Gespür dafür, für ihren Körper und so. Das macht mich richtig wütend. Ich hab‘ ihn mal gefragt, was seine Mutter dazu sagen würde, wenn er das zuhause machen würde. Da meinte er selber nur, nee nee, geht nicht, aber hier oder was?!“ Sie klingt aufgebracht und empört (BP 5.02.2015, Z. 330-334). Die Szene zeigt indes, dass Fragen zu Körper im Kontext von Migration insbesondere am Konstrukt ,des Körpers der jungen Migrantin‘ verhandelt werden (vgl. Terhart 2014, S. 14). „Als Kristallisationspunkt der Migrationsdebatten stellt der weibliche Körper einen Schauplatz der Verhandlung von Zugehörigkeit dar. Grundlage bilden gesellschaftlich tradierte Vorstellungen über die ,andere Frau‘ und die sich vermeintlich an ihrem Körper manifestierenden ,anderen‘ Familien- und Geschlechterverhältnissen“ (Terhart 2014, S. 14). Vor dem Hintergrund derartiger Vorstellungen wird der ,Körper der Migrantin‘ nicht selten in entpersonalisierter und homogenisierter Weise dargestellt oder thematisiert. Damit bietet er nicht selten Anlass für Kommentierungen und Auseinandersetzungen im Hinblick auf Themen wie Migration, Integration, Interkulturalität oder Gleichberechtigung. In der Fremdzuschreibung wird die natio-ethno-kulturelle Herkunft einiger Besucher*innen und das für

458

Hier zeigt sich beispielsweise eine intersektionale Perspektive als gewinnbringend, da so das komplexe Zusammenwirken mehrerer Kategorien am deutlichsten wird; auch die Dimensionen des Körperlichen werden darin thematisiert.

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diese Gruppe geltende Geschlechterverhältnis zur Ursache von Problemen und Konflikten. In der Wahrnehmung dieser sozialen Gruppen wirken vor allem die Trennung in Deutsche und Ausländer, sowie in (unterdrückende) Männer und (unterdrückte) Frauen als strukturierende Momente. In den Thematisierungsweisen der Professionellen kommt überdies eine spezifische pädagogische Haltung zum Ausdruck: sexistische und rassistische Äußerungen und Handlungen werden von den Mitarbeitenden nicht nur problematisiert, sondern nicht geduldet. Damit kommt zum Ausdruck, dass die Ordnung des Jugendtreffs seitens der Mitarbeitenden an Normen wie Antisexismus und Antirassismus orieniert ist. „Alter, das geht echt mal gar nicht“ Dass diese Normen auch die Wahrnehmungen sowie die Thematisierungsweisen weiterer Mitarbeitender leitet, zeigt sich ferner darin, dass das sich im Alltag unter den Adressat*innen manifestierende Geschlechterverhältnis von weiteren Mitarbeitenden als problematisch wahrgenommen wird und die hegemoniale Männlichkeit im krtitischen Fokus der Mitarbeitenden steht. Die Darstellung einer weiteren Szene soll dies verdeutlichen. In die Diskussion dieser fließen die vorab entfalteten Überlegungen zur ,männlichen Herrschaft‘ in Bezug auf das Geschlechterverhältnis ein, das sich im Alltag des Jugendtreffs zwischen den Besucher*innen zeigt. A. steht derweil an der Theke. B. ruft ihr zu: „Gib mir mal ‚nen Eistee, ich zahl ihn auch. Hier ist das Geld.“ Dabei bleibt er sitzen, er hält ihr das Geld auffordernd hin, macht aber keine Anstalten, sich zu bewegen. Das Mädchen reagiert. Sie lächelt und bestellt einen Eistee. Dann geht sie zu B., um sich das Geld abzuholen. Sie wendet sich wieder zur Theke, nimmt den Eistee und bringt ihn zu B.. Der nimmt ihn, ohne danke zu sagen oder zu lächeln. Schon während A. B. den Tee reicht, höre ich L. (Praktikant) rufen: „Boah Alter, ey, was ist das denn?“ B. ruft verteidigend, sein Körper richtet sich in eine offensive Haltung. Seine Stimme wird laut: „Was denn? Bei uns ist das so.“ L.: „Ey, Alter, das geht echt mal gar nicht.“ B. sagt lachend: „Bei uns ist das so, bei uns bringen die Frauen den Männern, was sie wollen.“ Dann wendet er sich demonstrativ zum Spiel und die Jungen albern weiter. A. steht dabei und kichert, dann geht sie zu ihren Freundinnen. L. geht nun an den Tisch zu B., beugt sich zu ihm, fasst ihm an die Schulter. B. ignoriert ihn und spielt einfach weiter. L. sagt leise irgendetwas zu B., aber das kann ich nicht verstehen. B. tut aber weiter so, als wäre L. nicht da, spielt weiter, redet demonstrativ mit seinem Kumpel M., der auf seine Ansprache reagiert. Dann stehen sie auf und verlassen den Raum des Offenen Bereichs. Sie lassen L. einfach stehen. Der geht nach einiger Zeit kopfschüttelnd zur Theke zurück, sagt aber nochmal: „Boah, das geht echt mal so gar nicht!“ Ich finde meinen Platz gerade ganz gut, denn irgendwie bin ich dort versteckt, habe

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse aber den Raum gut im Blick. L. und S. stehen an der Theke, am Billardtisch stehen weiter ein paar Jungen. Die Mädchen aus der Mädchengruppe fangen langsam an, lauter zu werden, sie quietschen und kreischen. Ich gehe zur Theke und stelle mich zu L. und S. (Honorarkraft). Die beiden unterhalten sich darüber, wie unmöglich ,die‘ hier im Treff sind, dass die Männer alle Machos sind und keinen Anstand haben. „Ey, wo warst du denn? Warst du weg?“ fragt L. mich ganz erstaunt? Er wirkt noch immer ganz aufgebracht. Sein Gesicht ist rot, er schwitzt etwas, atmet hektisch. „Quatschi, ich saß doch da an der Playstation!“ L.: „Boah ey, hast du das gesehen, das ging grad‘ gar nicht.“ S. geht auf das Gespräch nicht weiter ein. Sie unterhält sich nun mit E., der sich an die Theke setzt. (BP 24.02.104, Z. 169-197)

Der Praktikant L. wird Zeuge einer Situation, in der ein migrantischer Junge ein migrantisches Mädchen (A.) auffordert, ihm ein Getränk zu bringen. A. kommt der Aufforderung nach. L. scheint die Situation als problematisch wahrzunehmen. Er nimmt auf B.‘s Verhalten Bezug und adressiert ihn: „Boah Alter, das geht gar nicht.“ Zunächst bleibt offen, was denn gar nicht geht. B. reagiert mit einem eher spöttischen Lachen und ruft, dass das bei ,ihnen‘ eben so sei. Er führt somit eine geschlechtliche und selbstethnisierende Zugehörigkeitsordnung ein und fährt fort: „Bei uns ist das so, bei uns bringen die Frauen den Männern, was sie wollen.“ L. nimmt dies zum Anlass persönlich mit B. zu sprechen. Es zeigt sich, dass er die Praktiken der Jungen B. als ,Macho-Männlichkeit‘ (Pfeiffer und Wetzels 2000, zit. nach Spindler 2007, S. 119) auslegt. Diese interpretieren sie indes als familiär tradiert und kulturell bedingt (Spindler 2007, S. 119). Die von den Stammgästen im Jugendtreff performierte Männlichkeit wird als neben der Norm der deutschen Männer liegende Männlichkeit bewertet und somit als eine von der deutschen Norm abweichende – andere – Männlichkeit markiert. „Migrantische junge Männer repräsentieren also einerseits tatsächlich vorhandene Problemlagen und werden andererseits mit Bildern verknüpft, die eng mit verbreiteten Vorstellungen von Geschlechterkonstruktionen der Anderen, von Migranten allgemein, oder türkischen Männern im Besonderen verbunden sind“ (Spindler 2007, S. 119-120). Die Beobachtungen des Gespräches der beiden Mitarbeitenden hinter der Theke zeugen indes auch davon, dass sich ihre Diskussion auf die Relevanz der ,kulturellen Andersartigkeit‘ (vgl. Spindler 2007, S. 119-120) konzentriert. Darüber hinaus kommen in den Thematisierungsweisen auch dichotom organisierte Wahrnehmungsweisen von den männlichen Besuchern zum Ausdruck, die in ihrer Sicht alle Machos sind.459 B. bewältigt diese Situation, indem er eine weitere Kontaktaufnahme mit L. verweigert. Er schließt sich mit seinem Freund zusammen und verlässt den Raum und entzieht sich so dem Fokus des Mitarbeitenden.

459

Kritisch anzumerken ist, dass die soziale und ökonomische Situation, in der die jungen Männer leben, in den um sie geführten Auseinandersetzungen zunächst unberücksichtigt bleibt.

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Bildung Dass der Jugendtreff durch die jeweiligen Bildungshintergründe der unterschiedlichen Personen und Gruppen geprägt ist und diese Unterschiede machen, zeigt sich auch im Rahmen der Auswertungen als ein weiteres Strukturmoment. Informationen über die jeweiligen Bildungshintergründe der Jugendlichen erfahre ich in meiner Zeit im Jugendtreff von den Menschen vor Ort selber. Diejenigen, die als Honorarkraft im Jugendzentrum arbeiten, berichten davon, dass sie studieren. Das heißt, sie haben Abitur gemacht und zuvor in der Regel das Gymnasium besucht. Von den Jugendlichen aus dem offenen Bereich erfahre ich in vielfältigen Gesprächen, dass viele die Hauptschule besuchen oder die Schule abgebrochen haben. Nur wenige gehen zu einer höheren weiterführenden Schule. Dass der (angestrebte) Schulabschluss in Zusammenhang mit gesellschaftlichen, auf Bildung bezogenen Normen und einem spezifischen sozialen Status steht und dieses in die Selbstwahrnehmung einer Besucher*in einfließt, veranschaulicht die im Anschluss präsentierte Szene. O. fragt mich: „Wie wird man denn Sozialpädagogin?“ Sie setzt sich zu mir, geht dann aber wieder auf ihren alten Platz gegenüber von mir zurück. Die anderen Mädchen hören auch zu. Sie sind leise. Ich erkläre, dass man zur Schule geht und Abitur machen muss und dann an die Uni oder an eine Fachhochschule gehen kann. Sie sagt: „Ich geh‘ aber Hauptschule!“ Sie schaut mich an und wendet ihren Oberkörper zu mir. Ich bekomme den Eindruck, dass sie so mit mir Kontakt aufnimmt. Ich frage sie: „Sag, auf welche Schule gehste denn?“ O.: „Auf Hauptschule!“ Ich: „Aber auf welche?“ O.: „Auf *** Schule, vorher war ich auf Realschule, da im ***Viertel. Jetzt bin ich auf Hauptschule in ***Viertel.“ Ich: „Ah, kenn ich! Und, welche is‘ besser?“ Sie antwortet: „Naja, das ist jetzt halt Hauptschule. Halt Hauptschule, ne“ (sie zuckt mit den Schultern). Aber an der Hauptschule, naja, die interessieren sich für einen, für Probleme und so, die sind voll nett. In der Realschule, die waren strenger, da musste man mehr lernen. Is‘ ja auch gut. Eigentlich ist Realschule besser, aber in der Hauptschule sind sie wie Freunde. Und die interessieren sich halt!“ (BP 3.03.2015, Z. 155-163) Über die Frage danach, wie man Sozialpädagogin wird, kommen O. und ich in ein Gespräch über die Schule, die sie besucht. Anhand meines Bildungsweges erkläre ich einen möglichen Weg zur Sozialpädagogin sowie die damit einhergehenden gesellschaftlichen Voraussetzungen. Denn die Frage von O. zielt implizit darauf ab, welche Bildungsabschlüsse nötig sind, um Sozialpädagogin werden zu können. Ich führe ein, dass dafür das Abitur sowie ein Abschluss an einer Universität oder Fachhochschule nötig ist. Dass O. das mit ihrem Bildungsweg verschlossen bleibt und sie darum weiß, zeigt sich darin, dass sie mit einem ,aber‘ begründend einführt, dass sie eine Hauptschule besucht. Ich frage weiter, weil ich wissen möchte, auf welche Schule sie geht.

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Meine Nachfrage zielt eigentlich auf die konkrete Schule und nicht auf die Schulform. Daraufhin wiederholt O., dass sie auf eine Hauptschule geht; sie führt weiter aus, dass sie die Schulform gewechselt hat und vorher auf einer Realschule war. Meine doch ziemlich missverständlich formulierte Frage danach, welche Schule besser sei, zielt eigentlich darauf ab, wo sie sich wohler fühle, jedoch führt O. nun den allgemeinen Wert der unterschiedlichen Schulen im Kontext des (deutschen Bildungssystems) ein. Sie sagt nicht, „Naja, jetzt bin ich halt in einer Hauptschule“, sondern dass das jetzt halt Hauptschule sei. Damit führt sie implizit die Frage danach ein, mit welchem Wert die verschiedenen Schulformen versehen sind und sie setzt sich in ein Verhältnis dazu. Scheinbar weiß sie um den gesellschaftlichen Wert der Realschule und darum, dass ihr mit einem Realschulabschluss Zugänge zu anderen gesellschaftlichen Bereichen geöffnet würden, die ihr durch den Hauptschulabschluss verschlossen bliebe. Hier wirken gesellschaftliche Normen: Bildung, Leistung und Disziplinierung scheinen als allgemein erstrebenswerte Güter, die durch entsprechende Zugänge zu Ressourcen und somit zu Anerkennung führen. Jedoch setzt O. sich hier in ein (Selbst-) Verhältnis. Ihren Erzählungen zufolge haben die in der Realschule sich nicht für sie interessiert. Sie sagt, dass die in der Hauptschule wie Freunde seien. Diese Schilderung verweist darauf, dass O. Nähe und das Gefühl von Zugehörigkeit in der neuen Schule erlebt. In der Realschule hingegen fühlt sie sich nicht zugehörig, sondern sie erlebt den Schulalltag so, dass in ihren Erzählungsweisen der gesellschaftliche Wert des Realschulabschlusses, der mehr zählt als der Hauptschulabschluss, thematisch wird. Dass O. die gesellschaftlich akzeptierte Höherwertigkeit dieses Bildungsabschlusses anerkannt hat, lässt sich unter dem Aspekt der symbolischen Gewalt betrachten, die zu Achtungsverlust und Schamgefühlen führen könnte. Sie selber fühlt sich in der Hauptschule jedoch wohler, denn dort interessiert man sich für sie. Mit dem Besuch der Hauptschule fällt sie nicht von dem Ideal ihres eigenen Selbst ab, sondern sieht in dieser einen Ort, an dem sie gesehen und wahrgenommen wird. Dass Scham ein (leiblich vermitteltes) Gefühl darstellt und Beschämung als Technik sozialer Schließung fungiert und im Kontext der symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit zu verorten ist, darauf verweist Sighard Neckel (1991). 460 Als soziales 460

In seinen Analysen perspektiviert Neckel (1991) die symbolische Reproduktion sozialer Ungleichheit, in deren Prozessen Scham wirkmächtig wird. Als soziales und mitunter heimliches Gefühl (vgl. ebd., S. 16) ist Scham beständig im Alltag von – durch soziale Ungleichheiten strukturierte – Gesellschaften präsent. In dieser Perspektive ist die Scham sozial, denn sie entsteht aus einem Geflecht sozialer Beziehungen heraus sowie aus einem geringen Maß an Anerkennungen, die Personen erfahren. Scham hat ferner eine normative Dimension; sie ist mit normativen oder moralischen Idealen des Selbst verknüpft: im Schamgefühl vergegenwärtigt sich eine Person in einer Verfassung zu sein, die sie selbst als defizitär, mangelhaft und entwürdigend empfindet. Scham setzt ein Idealbild des eigenen Selbst voraus, gegen das eine Person ,beschämend‘ abfällt. Scham ist überdies eine moralische Emotion, und in dieser Hinsicht ist sie mit dem Gefühl verknüpft, gegen eine Norm verstoßen zu haben. Dabei ist der persönliche Werteverlust, den eine Person erfährt, oftmals von einem Gefühl begleitet, sich etwas zu Schulden kommen haben zu lassen, sodass sie sich für einen selbst empfundenen Mangel in irgendeiner Form selbst verantwortlich macht (vgl. Neckel 1991, S. 16-17).

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Gefühl entfaltet Scham im Kontext sozialer Strukturen Wirksamkeit. Als Konstitutionsmerkmale der Scham deutet Neckel (1991) Sozialität, Normativität und Moral; er charakterisiert dieses als ein Gefühl, in der erlebten Wirklichkeit seine Selbstachtung verloren zu haben (vgl. ebd., S. 16). Im Hinblick auf die sozialen Akteur*innen, die den Offenen Kinder- und Jugendtreff konstituieren, lässt sich im Hinblick auf die Kategorie Bildung nunmehr festhalten: Es zeichnete sich ein Bild davon ab, dass sich Personen unterschiedlichster sozialstruktureller Positionen (und deren Verschränkungen) im Jugendtreff aufhalten, dass sie sich voneinander unterscheiden und diese Unterscheidungen in ihren Praktiken bedeutungsvoll werden. Bezüglich ihrer bildungsmäßigen Hintergründe unterscheiden sich die Praktikant*innen sowie einige der Honorarkräfte, die im Jugendtreff arbeiten, sehr stark voneinander. Letztere haben sich mehrheitlich in ihrer Jugend selber als Besucher*innen im Jugendtreff aufgehalten. Nahezu alle haben das Abitur und befinden sich zum Zeitpunkt der Beobachtung im Studium oder in einer Ausbildung. Dass sie dabei einen Platz in der sozialen Ordnung des Jugendtreffs beanspruchen, wird im weiteren Verlauf der Präsentation der Ergebnisse aufgegriffen und diskutiert. Klasse Die Kategorie Klasse, beziehungsweise das Klassenverhältnis als soziales Verhältnis, zeigt sich als ein markantes Strukturmoment im Material. Zum einen manifestiert sie sich auf der Ebene der körperlichen Praktiken, in den körperlichen Erscheinungsweisen und in den unterschiedlichen Nutzungsweisen der diversen Räume. Die Jugendlichen, die den Stammgästen des unteren Offenen Bereichs zugeordnet werden können, besuchen zumeist eine Hauptschule, wenige hingegen eine Realschule. Es gibt einige Schulabbrecher*innen. In der Beobachtung wurden spezifische Stilcodes und Bekleidungsregeln deutlich, die Geltung innerhalb der unterschiedlichen Gruppierungen des Jugendtreffs erlangen. Dies zeigt sich in besonderer Weise durch die körperlichen Inszenierungen der Jugendlichen, an ihrer Kleidung, ihrer Musik und anderen Konsumartikeln. Davon ausgehend, dass die jeweils spezifische Klassenlage, die Verfügungsmöglichkeit über Ressourcen oder Kapitalien sich in Gewohnheiten, in Kleidung und Körperhaltungen objektiviert (siehe dazu auch Kapitel 1.3.), kann die Annahme bestärkt werden, dass die soziosymbolische Ordnung im Jugendtreff ungleich strukturiert ist und sich dies in seiner spezifischen hierarchisch organisierten Verhältnishaftigkeit von Körper und Raum manifestiert. Diese Aussagen beziehen sich auf die Beobachtungen, den beobachteten Alltag und die beobachteten Praktiken. Auf der diskursiven Ebene findet sie ihren Ausdruck besonders in der dichotomen und hierarchisierenden Aufteilung in ,Stammgäste‘ und ,Vorzeigejugendliche‘. Als ,Stammgäste‘ werden von den Mitarbeitenden die Besucher*innen des Offenen Breichs gezählt. Als die ,Vorzeigejugendlichen‘ gelten die Jugendlichen, die an den

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

AG’s teilnehmen. Im Folgenden werden zwei Sequenzen aus unterschiedlichen Beobachtungsprotokollen einander gegenübergestellt, innerhalb derer die Erscheinungsweisen der als unterschiedlich wahrgenommenen Besucher*innen thematisch werden. Die erste Sequenz beschreibt die Jugendlichen, die sich im oberen Bereich aufhalten. In der Zwischenzeit kommt ein weiteres Grüppchen Jungen herein. Einige davon habe ich schon einmal gesehen. Ein mir bekannter Junge trägt wieder seine Satinjacke, eine bedruckte Trainingshose und ein auffällig bedrucktes T-Shirt. Es kommt ein anderes Mädchen in den Raum. Dieses Mädchen trägt eine Mütze, einen Parka und einen Rucksack aus Läden, in denen Biolabels und nachhaltige Mode verkauft werden. Ich denke, dass es auffällig ist, welche Jugendlichen nach ,oben‘ in die anderen Räume gehen. Ich erinnere mich, dass P. (Mitarbeitende) diese Jugendlichen an meinem ersten Tag im Treff als die ,Vorzeigejugendlichen‘ bezeichnete und weiter sagte: „Hier unten ist halt die Offene Jugendarbeit.“ (BP 16.12.2014, Z. 220-229) Die körperlichen Erscheinungsweisen sowie spezifische Konsumartikel fallen mir in besonderer Weise auf und gelten als ursächlich dafür, dass ich diese Jugendlichen nicht den ,Stammgästen‘ zuordne. Sie geraten ebenso durch bestimmte körperliche Erscheinungs- und Verhaltensweisen in den Blick. Kurz darauf kommen N., F. und S. kreischend in den Treff hineingelaufen. Sie tragen Sneakers und enge Leggins, kurze Lederjacken, dicke Schals und sind stark geschminkt. Ich nehme eine intensive Duftwolke von süßlichem Parfum, Haarspray und Zigarettenqualm wahr. Ich schaue genauer auf die Mädchengruppe. Ich finde, dass sie alle sehr ähnlich gekleidet sind. N. hat eine auffällige Akne, sie trägt Ugg Boots. Sie laufen durch den Treff in einer gemeinsamen Gruppe, kichern, rufen sich Worte zu, kreischen laut und fassen einander an, dabei berühren sie sich am Po, an den Armen und Schulter. Sie schauen sich immer wieder an, sie begeben sich in dieser Formierung zu den Kickertischen, in Richtung der Theke und anschließend gehen sie wieder zum Ausgang des Treffs und stellen sich auf den Vorplatz. (BP 10.02.2015, Z. 49-56) Dass die Lebenssituationen von einigen Jugendlichen aus dem Jugendtreff von Prekarität gekennzeichnet sind, wird anhand einer weiteren Beobachtung dargelegt.

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Prekarität Im Jugendtreff halten sich viele Jugendliche auf, die aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, und Serbien stammen, also aus jenen Ländern kommen, die als sogenannte ,sichere Herkunftsländer‘ eingestuft werden (§29a und Anlage II Asylverfahrensgesetz). Viele der betreffenden Jugendlichen leben unter einem unsicheren aufenthaltsrechtlichen Status in Deutschland. Dieser wird in der Studie mit dem Begriff der Prekarität assoziiert. Insbesondere für diese Gruppe stellt der Jugendtreff einen Ort dar, an dem sie einfach Jugendliche sein können. Dort können Sie Gleichalterige treffen, Sport- und Computerspiele spielen und sich günstig Lebensmittel kaufen. Dass Prekarität eine Ordnungskategorie darstellt, die aus einer diskriminierenden Differenzierung resultiert, diskutiert Isabel Lorey (2015) in ,Die Regierung der Prekären‘.461 Diese Kategorie ist für die Konstruktion einer sozialen Ordnung innerhalb des Jugendtreffs insofern relevant, als dass sie über den Aufenthalt im und die Nutzung des Jugendtreffs von einigen Jugendlichen bestimmt. Ein Teil der Jugendlichen verweilt lediglich für (un)gewisse Zeiträume im Jugendtreff. Ich: „Hey sag, hast DU nicht Lust, ein paar Fragen zu beantworten? Das ist für ein Theaterstück über das ***.“ A.: „JA!“ Ich fange einfach an, ihm die Fragen zu stellen und so erfahre ich seine demographischen Daten. A. ist 14 Jahre alt, kommt aus Albanien, er wohnt in ***. Ich: „Ach krass, dann fährst du immer weiter hierhin?“ Er nickt. Ich: „Wie viele Geschwister hast du?“ „7“. Ich ziehe meine Augenbrauen hoch und er sagt: „Ja, eine große Familie, das sind wir.“ Auffällig ist für mich, wie gut A. Deutsch spricht, sogar akzentfrei. Ich: „Wo gehst du zur Schule?“ Er sagt: „In ***!“ Ich: „Du hast doch auch mal erzählt, dass du schon arbeitest, oder?“ A.: „Ja nee, im Moment nicht, ich suche Arbeit, aber in *** bin ich zur Schule gegangen.“ Wir blicken nun gemeinsam auf das Papier und gehen die Fragen gemeinsam durch. Ich: „Was gefällt dir denn besonders an ***?“ Er sagt: „Oder was müsste besser sein?“ Er liest schon die nächsten Fragen: „Mehr Leute und ein Primark. Kennen sie Primark? Das ist voll gut. In anderen Städten gibt’s das und die haben voll gute Sachen da.“ Ich nicke und schreibe auf. Ich gehe 461

Mit dem Begriff der Prekarität beschäftigt sich Isabel Lorey (2015) in ,Die Regierung der Prekären‘ und fragt nach Möglichkeiten für prekarisierte Subjekten, sich zu widersetzen. Mitsamt unterscheidet sie in drei Dimensionen von Prekarität: Prekärsein, Prekarität und gouvernementale Prekarisierung. Bezugnehmend auf Butlers Analyse in ,Frames of War‘ (2004) beschreibt Lorey Prekärsein als eine menschliche Bedingung von Körpern und Leben, eine kollektiv geteilte Gefährdetheit von sterblichsozialen Körpern, die ihr Prekärsein gemein haben. Prekarität lässt sich so als Ordnungskategorie auslegen und ferner als Resultat einer diskriminierenden Differenzierung. Mit Butler kommt Lorey zu dem Fazit, Prekarität nicht als Bedrohung zu konzipieren und in hierarchisierender Differenzierung zu kategorisieren. Vielmehr gilt es, das Prekärsein ,Aller‘ als existentielle Kondition anzuerkennen. Aus dieser kollektiven Verwundbarkeit heraus kann ein gemeinsamer Anfang für politisches Handeln markiert werden. Die Utopie einer Gesellschaft als eine Art Sorgegemeinschaft formuliert sie als erstrebenswert.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse zur nächsten Frage über: „Wie bist du zum Treff gekommen?“ A.: „Mein Cousin ist hier gewesen und ich bin dann auch mitgegangen.“ Der Jugendliche, der am Rechner saß, steht derweil auch bei uns. A. zeigt auf den Jungen: „Das ist auch mein Cousin. Der ist grad bei uns, eigentlich ist er in Albanien, aber jetzt ist er für drei Monate bei uns!“ Der Junge nickt und sagt: „Ich bin öfter mal länger hier!“ (BP 8.01.2015, Z. 163-210)

Diese Sequenz ist eine von vielen, in der ich erfahre, dass etliche der Jugendlichen sich für drei Monate in Deutschland aufhalten und dann wieder in ihre Herkunftsländer reisen. Dass eine derartige, durch aufenhaltsrechtliche Aspekte geprägte Fluktuation sich problematisch auf den Alltag und die Ordnungen des Jugendtreffs auswirkt, erfahre ich in einem Gespräch mit einem hauptamtlich Mitarbeitenden. Er berichtet, wie schwierig es ist, mit den betreffenden Jugendlichen zu arbeiten, denn denen sei es egal, ob sie Hausverbot bekämen, wenn ihnen am nächsten Tag eine Abschiebung drohte. 8.2.2

(An)Ordnungen – Gruppen und Akteur*innen

Die Beobachtungen im Jugendtreff zielten darauf ab, Dimensionen des Körperlichen zu erschließen. Die Auswertungen zeigten, dass der Jugendtreff durch Körper, durch körperliche Erscheinungsweisen sowie körperliche Praktiken strukturiert ist und sich daran soziale Ordnungen festmachen. Er ist durch eine soziosymbolische Ordnung strukturiert, die manche einschließt und andere ausschließt, genauso wie sie einige privilegiert und andere nicht. Dies lässt sich sowohl auf die Körper Einzelner wie auch auf die Körper von Gruppen beziehen. Auf eine vertiefende Diskussion richtet sich die Darstellung der folgenden Dimension: Die Konstruktion von Gruppen geschieht im Jugendtreff in dreierlei Hinsicht. Erstens – und hier gelten die Erkenntnisse aus Kapitel 2 grundlegend – werden Personen im Alltag nicht selten sozialen Gruppen zugeordnet. Das heißt, ihre Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, einer Ethnie oder ihr Herkunftsmilieu ist für andere (vermeintlich) am Körper ablesbar. Über die Wahrnehmung und Deutung körperlicher Merkmale werden sie von anderen (als sozial zugehörig oder nicht zugehörig) positioniert. Zweitens formieren sich Gruppen in den Praktiken, den praktisch-körperlichen Zusammenschlüssen und den ,Besetzungen‘ des Jugendtreffs, also danach, in welchen Räumen sie sich aufhalten. Jedoch werden diese Gruppen auch unter Indienstnahme gängiger klischeehafter Klassifikationen und (stereotyper) Wahrnehmungsfolien, in Fremdzuschreibungen, aber auch in Selbstzuschreibungen hergestellt, die wiederum dichotom strukturiert sind. Das dichotome Raster ist sowohl Ausgangspunkt als auch Effekt der Darstellung (vgl. Schmincke 2009, S. 212). Darin werden insbesondere Körper thematisch. Letztere Thesen werden durch die Aussage einer Besucherin veranschaulicht. In der Situation stehe ich hinter der Theke.

Räume und Akteur*innen

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Die Mädchen bestellen Eistee und Maoam bei mir und essen die Zuckerstückchen sofort alle auf. Eine Gruppe Jungen geht an den Mädchen vorbei. Ed. sieht sie an und schaut angewidert und ärgerlich: „Hä, wer sind‘ n DIE? Die sehen nicht nur alle gleich aus und haben die gleichen Sachen an, die heißen auch alle gleich, ey!“ L. nickt zustimmend, die beiden Mädchen hocken weiter an der Theke. (BP 10.02.2015, Z. 393-398) Ed. nimmt die Jungen nicht nur als Besucher des Jugendtreffs wahr, sondern implizit wird deren natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit thematisch und diese allen Jungen zugeschrieben. Dabei gehen in die Konstruktion dieser Gruppe Jungen Klassifikationen und Normen ein. Diese formen zugleich die Wahrnehmung des Sichtbaren und dessen Verkörperung. Es zeigt sich, dass die Gruppe, die in den Fokus der Aufmerksamkeit und der dichotomisierenden Zuordnung von Ed. fällt, ihr selber nicht bekannt ist. Sie vermag noch nicht, diese einer bestimmten Gruppe innerhalb des Jugendtreffs zuzuordnen, stattdessen ordnet sie diese einer ,sozialen Gruppe‘ zu (siehe dazu Kapitel 2). Diese Gruppenzuschreibung findet dadurch Verstärkung, dass die Jungen den Jugendtreff gemeinschaftlich durchqueren und sich so als Gruppe präsentieren. Dieser Gedanke lässt sich weiterführen: Die Konstruktion dieser Gruppen geschieht im Jugendtreff zum einen in den Praktiken und den praktisch-körperlichen Zusammenschlüssen und den ,Besetzungen‘ des Jugendtreffs, gemäß des Aufenthalts in bestimmten Räumen. Soziale Gruppen werden innerhalb des Jugendtreffs darüber hergestellt, wie sie ihre Körper im Raum einsetzen und wie sie sich dort körperlich positionieren. Zum anderen werden Gruppen – und das zeigt die Szene ebenso – auf der diskursiven Ebene hergestellt. Auf dieser Ebene wird eine Gruppe homogenisiert und es wird situativ über ihre Respektabilität entschieden. In diese Konstruktionen fließen indes dichotomisierende Schemata in Form von Bedeutungen und Bewertungen ein und das ist letztlich entscheidend dafür, mit welchem Wert die jeweiligen Gruppen ausgestattet werden. In den Äußerungen der Besucher*in, deren Anhaltspunkt die Körper der Jungen sind, manifestieren sich jedoch gesellschaftlich vorgeformte Schemata. In ihren Unterscheidungen verbirgt sich eine Aufteilung in ,oben‘,/,unten‘, ,respektabel‘/,nicht respektabel‘, ,vorzeigbar‘/ ,nicht-vorzeigbar‘ und auf diese Weise wird über die Respektabilität und Anerkennbarkeit der Gruppe entschieden. Im Hinblick auf die Frage nach Macht ist entscheidend, wer festlegt, was als ,normal‘ und als ,anerkennbar‘ gilt und welche Gruppe welchen Ort im Jugendtreff besetzt. In den nun anschließenden Ausführungen werden die Sichtweisen der Professionellen des Jugendtreffs und anderer im Jugendtreff Tätiger fokussiert. In ihren Wahrnehmungen und Konstruktionen von sozialen Gruppen entfalten sich auch gesellschaftlich vorgeformte Schemata, etwa in Bezug auf Kategorien wie Migrant*innen,

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Geschlecht oder Klasse. Darüber hinaus sind diese dichotom und hierarchisch organisiert. Verschiedene Facetten zeigen sich zum Beispiel in den Thematisierungsweisen der über die männlichen Jugendlichen und den sich im Jugendtreff präsentierenden Geschlechterverhältnissen. Die Unterscheidungen der Professionellen sind jedoch ebenso machtvoll und als Praktiken der Ein- und Ausschließung thematisierbar. Der Aufteilung in ,Stammgäste‘ und ,Vorzeigejugendliche‘ liegen Schemata der Wahrnehmung und Klassifizierung zugrunde, die sich aus der Inkorporation des Sozialen ergeben. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die Zuordnung von Besucher*innen im Jugendtreff zu diesen unterschiedlichen Gruppen sie nicht nur voneinander unterscheidet, sondern in ein Bewertungsverhältnis zueinander setzt. Dieses ist hierarchisch organisiert und entscheidet auch über Anerkennungsverhältnisse im Jugendtreff zwischen den Besucher*innen und den Professionellen. Zu fragen ist hier nicht nur, welchen Besucher*innen Anerkennung zugesprochen und welchen sie verweigert wird, sondern auch, welche Möglichkeiten der Positionierung sie den Adressat*innen damit eröffnen oder welche ihnen verschlossen bleiben. 8.2.3

,Stammgäste‘ – ,Vorzeigejugendliche‘

Innerhalb der Wahrnehmungs- und Thematisierungsweisen der unterschiedlichen Mitarbeitenden und der Professionellen spiegeln sich gesellschaftlich vorgeformte normative Schemata in Bezug auf ,gute‘ und ,schlechte‘ Adressat*innen. Diese beeinflussen die Konstitution von Gruppen innerhalb des Jugendtreffs. Dabei zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen den Wahrnehmungs- und Thematisierungsweisen der hauptamtlich Mitarbeitenden und denen, die auf Honorarbasis angestellt sind. Überdies zeigt sich in den Semantiken der Mitarbeitenden, dass der Jugendtreff (inklusive seiner räumlichen Strukturiertheit und der den Jugendtreff konstituierenden Praktiken der Anwesenden) auch durch eine symbolische Ordnung strukturiert ist, die manche privilegiert und einschließt, andere hingegen ausschließt, indem sie mit spezifischem Wert versehen und so im Bereich des Akzeptablen und Anerkennungsfähigen innerhalb des Jugendtreffs positioniert werden. In einer solchen Perspektive werden darin wirkmächtige soziale Schließungen wirksam. Dass sich in den Wahrnehmungs- und Thematisierungsweisen der Professionellen gesellschaftliche Ordnungen manifestieren, wird anhand der Dichotomisierung zwischen Stammgästen und Vorzeigejugendlichen interpretativ entfaltet. Ich erzähle, dass ich den Treff von den ,Aufführungen‘, die vom Jugendtreff regelmäßig für ein breites Publikum angeboten werden kenne und darüber hinaus das Angebot hier supertoll finde. P. (Mitarbeitende): „Ah, dann kennst du unsere Vorzeigejugendlichen. Hier unten ist halt der Offene Bereich!“ (BP 9.12.2014, Z. 15-23)

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Die ,Stammgäste‘ unterscheiden sich von den ,Vorzeigejugendlichen‘ insbesondere durch körperliche Erscheinungsweisen und körperliche Praktiken. Der Wahrnehmung dieser sind jedoch gesellschaftlich vorgeformte Schemata vorgelagert. Die ,Stammgäste‘ werden in ein Verhältnis zu den ,Vorzeigejugendlichen‘ gesetzt – in ein Bewertungsverhältnis. Hier zeigen sich ,Sollensvorstellungen‘ bei den Professionellen, auch in Bezug auf einen akzeptablen und legitimen Einsatz des Körpers. Der ist nicht nur laut und unruhig, sondern zudem wird er durch die Praktiken derer, die sich dort aufhalten, zu einem ,gefährlichen‘ Ort. Als ich erzähle, dass ich Angebote des Treffs durch die öffentlichen Events kenne, antwortet eine Mitarbeiterin, dass ich ja dann die ,Vorzeigejugendlichen‘ kennen gelernt hätte – die aus dem Offenen Bereich seien da ,ganz anders‘. ,Vorzeigejugendliche‘ sind als jene Adressat*innengruppe zu betrachten, die gerne im Treff gesehen werden, sie verkörpern normative Konzepte von ,guten Adressat*innen‘. Sie spielen z.B. Theater (dies zeigt sich als anerkennbare Körperpraktik), sind an erlebnsipädagogischen Angeboten interessiert und ihre Körper stellen sich eben nicht so laut wie die der ,Stammgäste‘ dar. Die ,Vorzeigejugendlichen‘ stammen vornehmlich aus gebildeteren Milieus und studieren zumeist. Viele von ihnen haben in ihrer frühen Jugend den Jugendtreff selber aufgesucht. Es lässt sich bündeln: Im Begriff der, Stammgäste‘ verdichten sich indes Negativbilder von bestimmten Jugendlichen und deren körperlichen Verhaltensweisen, sodass es gar nicht mehr die Zuschreibung einer einzelnen negativen Eigenschaft ist, auf die sich die soziale Grenzziehung zurückführen lässt (vgl. Sutterlüty et al. 2008, S. 86-87). In vielfältigen Gesprächen wird zudem immer wieder deutlich, dass der ,Offene Bereich‘ laut, zu laut ist, und dies als anstrengend erlebt wird. Von oben, aus dem oberen Stockwerk des Treffs, kommt ein jung aussehender Mann. Er wirkt nervös und übertrieben höflich. Er nestelt an seiner Frisur und knetet seine Hände. Er schaut pseudo entschuldigend und sagt leise und sehr umständlich: „Könntet ihr denen hier unten mal sagen, sie sollen leiser sein, wir fangen ja gleich an und äh ja, die sind echt laut.“ S. (Mitarbeitende) sagt: „Ja, aber ich hab‘ denen gesagt, sie sollen ab halb neun nicht mehr an den Kicker – und jetzt – sie schaut auf ihre Uhr – haben wir zehn vor halb! Danach sind wir leise.“ Der junge Mann ,von oben‘ lächelt nochmal. Auf mich scheint es gezwungen. Wieder nestelt er an seinem Pullunder: „Ja, ne, danke! Ihr habt da ein Auge drauf! Weil, äh, nämlich, die sind echt laut!“ (BP 6.01.2015, Z. 359-367) Die Sequenz veranschaulicht jedoch auch, dass der Offene Bereich im Zusammenhang mit den sich dort aufhaltenden Gruppen von diesen als ein Raum konstituiert wird, der sich durch Lautstärke und Unruhe auszeichnet und sich die Besucher*innen des oberen Bereichs an diesem Tag davon gestört fühlen. Dies wird in Verbindung gebracht mit den ,Stammgästen‘, denn diese sind die Hauptgruppe, die diesen Raum

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

besetzen und einnehmen und mit ihren Handlungen als lauten und unruhigen Raum erst herstellen. Dass es als anstrengend erlebt und wenig Anerkennung von den Professionellen erfährt, zeigt sich an vielfältigen Materialstellen. Die Bewertungsweisen ihrer eigenen Wahrnehmung des Offenen Bereichs macht diesen zu einem lauten und unruhigen Raum. In einer anderen Situation redet eine Mitarbeitende von ,Abstumpfen‘. S. verdreht die Augen: „Boah, ist das heute laut hier.“ Sie: „Und das ist schon seit Wochen nur so. Ich merk` das schon gar nicht mehr. Irgendwie stumpfst du da ab.“ (BP 24.02.2015, Z. 382-383) In einem anderen Gespräch wird das Bild von den ,Stammgästen‘ aus Sicht einer Mitarbeitenden verdichtet. „Die sind hier alle so krass und haben keine Werte und keinen Anstand, die hängen den ganzen Tag am Bahnhof oder auf Bänken oder im Jugendzentrum und niemand kümmert sich um sie. Den Eltern, denen ist das doch scheiß egal, ob die zuhause sind oder nicht!“ Zudem findet sie, dass die Jugendlichen einen hier nur verarschen: „Viele können deutsch, tun aber so als ob sie kein deutsch können. Und dann reden die über dich und machen sich über dich lustig. Vor denen hier kannste echt nicht sicher sein.“ (BP 6.01.2018, Z. 184-203) Die (auf Honorarbais tätige) Mitarbeitende S. schreibt den Stammgästen Eigenschaften wie Wertlosgikeit, Verkommenheit und Verwahrlosung zu und erklärt auch, warum ich vor ,denen‘ nicht sicher sein kann. Sie unterstreicht damit auf eine andere Weise, dass die Stammgäste den Jugendtreff zu einem für die Mitarbeitenden unsicheren Ort machen. Es lässt sich bündeln, dass die Beschreibung des Körperlichen die Stammgäste oder andere Gruppen mit den Räumlichkeiten und den sozialen Ordnungen des Jugendtreffs verbindet, indem sie in das Blickfeld der Professionellen treten. Folglich werden soziale Gruppen insbesondere durch körperliche Merkmale und körperliche Praktiken konstituiert. Gemeinhin ist zu berücksichtigen, dass sich in der Wahrnehmung und der Konstruktion von Gruppen gesellschaftlich vorgeformte Schemata manifestieren. Diese finden in den Semantiken ihren Ausdruck. Jedoch ist die Wahrnehmung von Gruppen mit der Sichtbarkeit der Gruppe in Räumen des Jugendtreffs verknüpft. Während die ,Vorzeigejugendlichen‘ für die Professionellen die ,guten‘ Adressat*innen sind, repräsentieren die ,Stammgäste‘ die ,schlechten Adressat*innen‘. Nicht zuletzt werden darüber soziale Ungleichheiten reproduziert und somit der Ein- und Ausschluss von Personen(gruppen) innerhalb des Jugendtreffs generiert. Zugleich zeigen sich in diesen Zuschreibungen der Professionellen normative Konzepte im Hinblick auf ihre Adressat*innen, die somit auch in ,gute‘ und ,schlechte‘ Adressat*innen aufgeteilt werden (vgl. Heite et al. 2013). Als eine weitere Gruppe, die sich von den ,Stammgästen‘ abgrenzt, so berichtet der Hauptamtliche S., werden die Jugendlichen gesehen, die sich regelmäßig zur Organisation einer Party

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treffen. Er lädt mich mehrfach explizit dazu ein, an Treffen dieser Gruppe – die eine formal organisierte Gruppe im Jugendtreff darstellt – teilzunehmen und begründet dies damit, dass ich dort viel über die Jugendlichen erfahren würde und auch guten Zugang zu ihnen bekommen könnte. 8.2.4

„…Ja, und die hier – die sind wieder ganz anders“ Im Hinausgehen nimmt S. mich beiseite und hält mich zurück, sodass wir im Abseits stehen und niemand uns hören kann: „Ja L., du siehst, hier gibt’s viele verschiedene Kreise und Gruppen. Es gibt Diese, die gehen hier oben hin- die schnappen sich dann auch schon mal die Zeitungen für politische Bildung, dann gibt’s ja, nun ich sag, unsere Stammleute und die hier. Die sind wieder anders. Wie fandest du das denn?“ (BP 14.01.2015, Z. 257-267)

Diese kurze Situation ereignet sich, nachdem ich an einem Treffen teilgenommen habe, in dem eine anstehende Party konkreter geplant wird. In der Kommentierung von S. zeichnet sich ein Bild des Jugendtreffs ab, innerhalb dessen sich verschiedene Gruppen formieren. Bei seinen Erzählungen markiert S. auch die ,Andersheiten‘ der Gruppen. Dabei differenziert und positioniert er sie räumlich und verweist ebenso auf ihre spezifischen körperlichen Verhaltensweisen: Einige Gruppen sind oben positioniert. Indem er hinzufügt, dass die sich auch mal die Zeitungen für politische Bildung schnappen, deutet er auf ihren Bildungshintergrund hin. Konträr dazu markiert er die Stammgäste, die eben ganz ,anders‘ seien. In den Thematisierungsweisen von S. manifestieren sich nicht nur Wahrnehmungsweisen der unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb des Jugendtreffs, sondern in ihnen zeigt sich auch, dass er die Gruppen in differente Verhältnisse zueinander setzt, diese aber von ihm keine Wertung erfahren. S. ist langjährig im Jugendtreff tätig und während der gesamten Teilnahme im Feld habe ich den Eindruck, dass er sich mit vollstem Engagement in besonderer Weise für die Jugendlichen einsetzt, die mir als ,Stammleute‘ präsentiert werden. Er organisiert nicht nur jeden Dienstag die Sport-AG für die Jungen, sondern er unterstützt ambitioniert die Zusammenarbeit und das Engagement der Jugendlichen, die die Party für den Jugendtreff organisieren. 8.2.5

,Assis‘ – ,die einzig Korrekten hier‘

In der Darstellung dieser ,Gruppen‘ beziehungsweise dieser Dichotomisierung zweier Gruppen, die in der Abgrenzung zueinander hergestellt werden, stehen die Wahrnehmungs- und Thematisierungsweisen der Besucher*innen des Jugendtreffs im Fokus. Es wird herausgestellt, dass und in welcher Weise sich gesellschaftliche Ordnungen in den Wahrnehmungs- und Thematisierungsweisen der Besucher*innen manifestieren. Diese gehen zum einen in die Konstruktion von Gruppen ein, zum anderen werden entlang dieser Ein- und Ausschlüsse innerhalb der Besucher*innen des Jugendtreffs ausgehandelt.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse Ich sehe L. und Ed., die den Treff betreten. Sie kommen zur Theke, sie begrüßen ,uns‘, die Dahinterstehenden. V. geht in die Küche. Die beiden Mädchen setzen sich vor die Theke und schauen uns irgendwie erwartungsvoll an. Ich stelle L. (Praktikant) den beiden Mädchen vor. Ich schaue ihn dabei an: „Das sind L. und Ed.!“ Ich wende mich den beiden zu: „Das ist L.!“ Dann sage ich zu L.: „Das sind zwei sehr lustige Mädchen und die kennen supergute Witze.“ L. und Ed. lachen. Ed. sagt dann aber sehr ernst: „Wir sind die einzigen ,Nichtasozialen‘ hier, wirklich.“ (BP 18.02.2015, Z. 131-136)

Ich greife in der Darstellung auf die Äußerung einer Besucherin des Jugendtreffs zurück, die sich selbst und ihre beiden Freundinnen als ,die einzig Korrekten‘ markiert. Diese Mädchen sind nicht den Stammgästen als zugehörig zu positionieren. Ed. grenzt sich von dieser Gruppe als nicht zugehörig ab. Sie bezeichnet und bewertet die anderen Besucher*innen, die sich nahezu täglich im offenen Bereich aufhalten, als ,Assis‘ und weist den betreffenden Besucher*innen symbolisch eine spezifische Position im Jugendtreff zu. Von Bedeutung ist, dass die Bewertungen, die soziale Interaktionen begleiten, zum einen immer auch Aussagen über die soziale Stellung festhalten, die Akteure inmitten größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge einnehmen. Zum anderen entscheiden sie auch über das Ausmaß an Anerkennung und Wertschätzung, das Akteure im Jugendtreff jeweils genießen (vgl. Soeffner und Neckel 2008). Gemäß einer Logik des differentiellen Abstandes ist die Zugehörigkeit zu den Assis mit einer geringeren Wertschätzung im Jugendtreff verknüpft. An dieser Stelle lässt sich bündeln: Im Jugendtreff gewinnt die Tatsache, zu einer sozialen Gruppe zu zählen, an Bedeutung. Wer dort welcher Gruppe angehört, beeinflusst etwa ihre Zugehörigkeits- und Teilhabechancen und auch wie viel an Anerkennung ihnen dort zuteil wird. Hinter diesen Trennungen verbirgt sich eine Aufteilung in ,anerkennbare‘ und weniger ,respektable‘ sowie ,normale‘ und ,nicht-normalerespektable‘ Gruppen. In diesem Zusammenhang ist auch entscheidend, wer im Jugendtreff befugt ist festzulegen, welche Gruppe das Zentrum und welche Gruppe den Rand besetzt, welche Gruppe auf sozialer sowie auf symbolischer Ebene Einund Ausschließung erfährt. 8.2.6

Bereiche und Hierarchien

Das Erkennen des Zusammenspiels von Personen und Räumen, das die soziale Situation des Jugendtreffs erschafft, mündet in die Erkenntnis, dass sich darin gesellschaftliche Ungleichheitsordnungen zeigen, die zum einen an den körperlichen Praktiken und körperlichen Erscheinungsweisen der Menschen festgemacht werden und diese zum anderen als ursächlich dafür gelten, wo und an welchen konkreten Orten innerhalb des Jugendtreffs sie sich aufhalten (können). Diese Ordnung ist dichotom

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und hierarchisierend strukturiert. In den alltäglichen Thematisierungsweisen im Jugendtreff wird diese Dichotomisierung mit dem Begriff des ,Bereiches‘ verknüpft. Die Verwendung des Wortes ,Bereich‘ umfasst sowohl räumliche Bereiche im Jugendtreff als auch Personen, die verschiedenen Bereichen zugeordnet werden oder sich verschiedenen Bereichen zuordnen. Anders formuliert, im Begriff des Bereiches versammeln sich konkrete Körper in konkreten Räumen des Jugendtreffs. Bereits in den ersten Phasen der Beobachtung vermittelte sich mir die räumliche Aufteilung des Jugendtreffs als bedeutungsvoll. Die architektonische Gegebenheit des Treffs sieht ein ,Oben‘ und ,Unten‘ vor. Darin spiegeln sich gesellschaftliche Hierarchisierungen. In einem der ersten Gespräche mit einem hauptamtlich Mitarbeitenden erfuhr ich, dass von diesem wahrgenommen wird, dass sich Bereiche im Jugendtreff formiert haben, die sie gerne wieder zusammenbringen würden, sie aber nicht wüssten, wie dies zu realisieren sei. Dass der Jugendtreff durch die körperlichen Praktiken bestimmter Besucher*innen nicht nur strukturiert, sondern auch als ein Ort der Gefährdung und Unsicherheit ausgewiesen und als solcher hervorgebracht wird, zeigt sich in den Äußerungen einer Mitarbeiterin. Es lässt sich zeigen, dass die ,Sicherheit‘ des offene Bereiches durch die körperlich als gefährdend wahrgenommenen Praktiken selber zur Disposition steht. Zugleich erfahren die Verhaltensweisen bestimmter Besucher*innen skandalisierende und moralisierende Zuschreibungen. Darin zeigen sich normative Konzepte im Hinblick auf die Adressat*innen des sozialpädagogischen Handlungsfeldes. Im Mittelpunkt der folgenden Diskussion stehen also erneut die Sichtweisen der Professionellen. 8.3

(Un) Sicherheit und Gefährdung

Als Schaubild des Sozialen gilt der Jugendtreff als ein Raum, der auch durch die Praktiken derer, die sich darin aufhalten, konstituiert wird. Anhand ausgewählter Sequenzen wird die These veranschaulicht, dass und in welcher Weise der Jugendtreff durch bestimmte Körper und bestimmte körperliche Praktiken zu einem ,unsicheren‘ oder ,gefährdenden‘ Ort gemacht wird. Innerhalb dieser Darstellungen wird erneut der Blick auf die Sichtweisen der pädagogisch Arbeitenden gelegt. 8.3.1

Der Jugendtreff als ,Zone der Unsicherheit‘

Dass der ,Offene Bereich‘ als ,Zone der Unsicherheit‘ wahrgenommen und als solcher ausgewiesen wird, verdeutlicht die Aussage einer Mitarbeiterin, die schon seit etlichen Jahren im Jugendtreff arbeitet. Ich stehe mit P. an der Theke und frage dann, ob ich meine Jacke irgendwo hinlegen könne. Sie holt einen Schlüssel und sagt: „Wir schließen unsere Sachen ein. Es ist hier wichtig, alles abzuschließen. Wir sind ja hier halt in

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse der Offenen, da kann jeder immer an alles ran und es ist schon viel weggekommen.“ (BP 9.12.2014, Z. 15-23)

Bereits in meinen ersten beiden Beobachtungen zeigt sich, dass der Offene Bereich in spezifischer Weise strukturiert ist. Mir wird er als laut, anstrengend und dezidiert als gefährlicher und unsicherer Raum präsentiert und ich erhalte den Rat, meine Wertgegenstände einzuschließen, weil ,hier schon oft was wegkommt‘. Die dominant repräsentierte Gruppe im Offenen Bereich ist zwar die ,Stammgäste‘,deren Verhaltensweisen erfahren jedoch skandalisierende Zuschreibungen und werden zugleich in einem Bewertungsverhältnis zu den ,Vorzeigejugendlichen‘ von oben vorgestellt. Die Beschreibung der Mitarbeitenden sortiert folglich zwischen ,guten‘ und ,schlechten‘ Besucher*innen. Das bedeutet, dass bereits eine Positionierung im Raum auf eine sozial eingenommene und zugewiesene Positionierung im Jugendtreff besteht. Interessant scheint in diesem Zusammenhang, dass der Jugendtreff nicht per se einen ,unsicheren‘ Ort darstellt, sondern durch die Praktiken einiger Jugendlichen, die eben nicht vorzeigbar sind, erst konstituiert wird. Kraft dieser Bezeichnung werden die Stammgäste symbolisch einem Bereich zugeordnet, der eben nicht ,vorzeigbar‘ ist. Die Kontrastierung der Jugendlichen, die einem Publikum vorzuzeigen wären, mit den Jugendlichen von ,Unten‘ vor denen Wertgegenstände wegzuschließen seien, macht deutlich, dass die Aufteilung der Räume des Jugendtreffs in einen oberen und einen unteren Bereich nicht lediglich eine architektonische oder semantische Tatsache bezeichnet, sondern dass diese soziale Hierarchisierungen repräsentiert. Sie lässt sich auch als symbolische Grenzziehung deuten, der die Frage nach Anerkennung inhärent ist. Dem öffentlichen Publikum vorzeigbar scheinen die Jugendlichen von ,Oben‘, als nicht vorzeigbar hingegen werden ,die anderen‘ Besucher*innen markiert. Darin zeigen sich ,Seins- und Sollensvorstellungen‘, also normative Konzepte der Professionellen im Hinblick auf ihre Adressat*innen. Die Körper – die körperlichen Verhaltensweisen – der ,Stammgäste‘ machen den Jugendtreff scheinbar zu einem unsicheren Ort. Die Einhaltung dieser Ordnungen sowie die (Wieder-) Herstellung von Sicherheit im Jugendtreff zielt indes auf Körper. Im Zuge dessen werden Körper diszipliniert und gefährdende körperlichen Praktiken sanktioniert. Dass jedoch im Jugendtreff selber zu Disposition steht, ob dieser zu einem jugendgefährdenden Ort werden könnte, wurde auch offenkundig. Das Verhalten der Jugendlichen, durch das er erst zu einem gefährlichen Ort wird, erfährt Skandalisierungen und Moralisierungen. Betrachtet man diese als Dimension von symbolischen Kämpfen, in denen Bedeutungen und Wertigkeiten ausgehandelt werden, dann lässt sich schlussfolgern, dass in der sozialpädagogischen Praxis darüber soziale Ungleichheiten reproduziert und auf symbolischer Ebene Ausschlüsse generiert werden. Gefährdung bezieht sich aber auch auf sexualisiertes Verhalten von männlichen Besuchern, vor denen es die Mitarbeiter*innen zu schützen gilt. Darin zeigt sich ein Bild von ,gefährdeten Frauenkörpern‘ und ,männlichen Jugendlichen als Täter‘. Dieses

(Un) Sicherheit und Gefährdung

341

Thema steht im Mittelpunkt der interpretierenden Diskussion einer weiteren Sequenz. 8.3.2

Gefährdung

Dass das Geschlechterverhältnis zwischen den ,Stammgästen‘ im Jugendtreff von den Professionellen als problematisch wahrgenommen wird und dies bereits ein bekanntes Muster darstellt, erfahre ich unter anderem in einem Gespräch mit der Leitung. 462 „Wir müssen hier auch manchmal hart durchgreifen, wenn die immer so ihre frauenfeindlichen Sprüche loslassen und so. Da muss man manchmal auch was sagen.“ Ich nicke. Wir bleiben schweigend an der Theke stehen. (BP 13.01.2015, Z. 371-373) Die gehäuft aufgetauchten Äußerungen, in denen die Mitarbeiter*innen die Umgangsweisen zwischen Jungen und Mädchen im Jugendreff kommentieren, weisen darauf hin, dass die nicht-deutschen Jungen im Jugendtreff frauenfeindlicher sind als die Jugendlichen mit deutscher Herkunft. Durch derartige Annahmen werden die Mädchen pauschal viktimisiert.463 B. (Leitung) und ich stehen an der Theke, B. davor, ich dahinter. A., T. und B. betreten den Treff. Sie sehen etwas verschwitzt aus. Die Köpfe rot. Sie kommen zur Theke. Ich zu B.: „Mensch, dich habe ich aber schon lange nicht gesehen, das ist aber schön, dass du da bist.“ T. setzt sich an den Tisch und ruft etwas zur Theke, das ich nicht verstehen kann. B. steht neben mir. A. kommt zu mir, gibt mir seine Hand und sagt etwas. T. ruft noch etwas vom Tisch aus und grinst. Daraufhin sagt A. zu mir: „Na Schätzecken!“ Ich: „Nee, nee, A. so nicht, das hatten wir schon.“ B. sagt zu den drei Jungs nun in scharfem Ton: „Ich habe euch schon Mal gesagt, dass ihr die Mitarbeiterinnen hier respektvoll behandeln sollt und SO redet ihr mit denen nicht.“ Ich habe den Eindruck, dass das sitzt, denn danach wenden die Jungen den Blick von mir ab und verlassen den Jugendtreff. (BP 5.03.2015, Z. 210-219) In dieser Sequenz werden sexistische Denkmuster und Strukturen seitens der Professionellen ethnisiert, indem sie anderen ethnisch (und auch religiös) definierten Gruppen zugeschrieben werden. Es wird ein ,Othering‘ des Sexismus wirksam (vgl. Kerner

462

463

In der Darstellung dieser Szene fließen Kontextwissen und andere Situationen ein, die in die Analyse eingebracht werden. Diesen wurde entnommen, dass das sexistische Verhalten männlicher migrantischer Jugendlicher als problematisch wahrgenommen wird. In dieser Szene taucht es explizit nicht auf, lediglich in den Namen, die darauf hindeuten, dass diejenigen Besucher, die wegen ihrer frauenfeindlichen Sprüche ermahnt werden, migrantische junge Männer sein könnten. Dies zeigt sich beispielweise in der These, dass das muslimische Kopftuch grundsätzlich weibliche Unterordnung und Unterdrückung symbolisiert (vgl. Kerner 2009, S. 44).

342

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

2009, S. 43).464 Dass A. mich als ,Schätzecken‘ bezeichnet, erfährt von B. eine Regulierung. Dass er sagt, dass ,wir das schon hatten‘ zeigt, dass der Umgang mit Frauen schon öfter Thema im Jugendtreff gewesen ist. B. führt weiter aus, dass er wünscht, dass Mitarbeiterinnen respektvoll behandelt werden sollen. Darin zeigt sich Antisexismus als eine Norm und als ein pädagogischer Anspruch. B. spezifiziert sein Anliegen, indem er darauf hinweist, dass die Jungen SO nicht mit den Mitarbeiter*innen reden dürfen. Die Sprache einiger männlicher Besucher nimmt B. als Form sexualisierter Gewalt wahr und somit als ein Phänomen, das es (pädagogisch) zu bearbeiten gilt. Dass die von B. angesprochenen Jungen schweigen, den Blick abwenden und den Raum des Jugendtreffs verlassen, kann als Geste betrachtet werden, mit der sie B.s Autorität anerkennen. Im Hinblick auf die Geschlechterordnung des Jugendtreffs zeigt sich jedoch auch, dass es nicht nur die eine Ordnung gibt, sondern diese zwischen den Gruppen variiert. „Genau, ich meine sowas in der Art passiert hier ja auch echt mal öfter“ Dass das sich im Jugendtreff bei den ,Stammgästen‘ in den alltäglichen Praktiken der männlichen Jugendlichen zeigende Geschlechterverhältnis als etwas wahrgenommen wird, das pädagogische Bearbeitungen erfährt und Grenzen überschreitendes sexualisiertes Verhalten der Jungen den weiblichen Besucher*innen sowie den Mitarbeitenden gegenüber mit Ausschluss aus dem Jugendtreff in Form des Hausverbotes geahndet wird, veranschaulicht diese Sequenz. L. lacht, sie hat heute weißgrau gefärbte Haare und mir fällt auf, dass sie kürzer sind als vorher. L. kauft Süßes für 2 Euro und dann verschwinden die drei Mädchen nach draußen. Ich bin verwundert, denn eigentlich ,schnacke‘ ich mit ihnen oft recht viel. Ich sehe nun, dass Z. (Mitarbeitende) den drei Mädchen hinterher geht. Nach einiger Zeit kommt sie wieder rein, schnappt sich den Ordner hinter der Theke, geht damit in die Küche, macht die Tür zu und schreibt etwas in das Buch. Sie kommt zur Theke zurück und wirkt angespannt. Sie erzählt A. (Mitarbeitende) und mir, dass sie L., Ed. und eine Freundin von den beiden dabei erwischt hat, wie sie sich einen Joint gedreht haben. Das eine Mädchen, die von Z. als ,die Neue‘ bezeichnet wird, hat dafür Hausverbort bekommen, die beiden anderen werden noch zum Gespräch gebeten. Z. erzählt weiter, dass auch St. (männlicher Besucher) gerade Hausverbot hat. Sein Kumpel auch. A. lacht: „St. ?! Das wundert mich nicht!“ Z.: „Die haben hier echt die neue Praktikanten so angemacht, auf eine so üble Art, dass die ganz fertig war. Die konnte da nicht drauf reagieren und die haben nicht aufgehört, ja und dann haben sie Hausverbot bekommen.“ Z. schüttelt den Kopf: „Ich frag‘ mich da immer, was 464

Dadurch wird die eigene Gruppe zumindest implizit als geschlechtergerecht, oder wenigstens geschlechtergerechter als die andere Gruppe präsentiert (vgl. Kerner 2009, S. 43).

(Un) Sicherheit und Gefährdung

343

sich denn die Jungs dabei denken würden. Ja und die ist halt auch so `ne süße Maus und die hat da echt einfach nicht so gut reagieren können. Im Endeffekt isses darauf hinausgelaufen, dass die Jungs gefragt haben, was sie für eine Nacht nehmen würde und da ist das Fass dann über gelaufen. Sowas geht echt gar nicht! „Ich meine, sowas in der Art passiert hier ja auch echt mal öfter.“ (BP 20.03.2015, Z. 238-261) In dieser Sequenz zeigt sich Kritik am sogenannten ,Mackergehabe‘ der Jungen, vor dem es die Mädchen zu schützen gilt. Erneut wird Antisexismus als pädagogisches Leitbild der Mitarbeiterin erkennbar. Z. berichtet von einem Vorfall, in der einige Jungen sich grenzverletzend gegenüber einer neuen Praktikantin verhalten haben. Damit führt sie die Frage nach Geschlecht ein. Z. weist die Praktiken der Jungen als ,Macho-Männlichkeit‘ aus (Pfeiffer und Wetzels 2000, zit. nach Spindler 2007, S. 119). In anderen Situationen, in denen diese Machomännlichkeit thematisch wird, ist zu erkennen, dass sie vermehrt den migrantischen jungen Männern zugeschrieben und dies mit ihrer ,kulturellen Andersartigkeit‘ begründet wird. Diese interpretieren sie indes als familiär tradiert und kulturell bedingt (Spindler 2007, S. 119). Vordergründig gilt der Schutz der Mitarbeiterin. Lohnenswert scheint dennoch, kritisch zu reflektieren, dass die soziale und ökonomische Situation, in der die jungen Männer leben, dabei unberücksichtigt bleibt. Die von den Stammgästen im Jugendtreff performierte Männlichkeit wird als neben der Norm der deutschen Männer liegende Männlichkeit bewertet und somit als eine von der deutschen Norm abweichende – andere – Männlichkeit markiert. „Migrantische junge Männer repräsentieren also einerseits tatsächlich vorhandene Problemlagen und werden andererseits mit Bildern verknüpft, die eng mit verbreiteten Vorstellungen von Geschlechterkonstruktionen der Anderen, von Migranten […] verbunden sind“ (Spindler 2007, S. 119-120). S. bezeichnet die Praktikantin indes als ,süße Maus‘. Damit portraitiert sie zugleich ein bestimmtes Bild von Weiblichkeit. Ob sich darin die Vorstellung eines unterdrückten und nicht-emanzipierten Mädchens zeigt, bleibt an dieser Stelle offen. Dass das Verhalten einiger männlicher Jugendlicher öfter in den Blick der Pädagog*innen gerät und dies ein pädagogisch zu bearbeitendes ,Problem‘ markiert, erfahre ich von Z., die mir mitteilt, dass sie so etwas schon öfter hatten und ein solches Verhalten im Jugendtreff nicht geduldet wird. ,Hart durchgreifen‘ stellt hier eine Form des disziplinierenden (pädagogischen) Bezugs auf Verhaltensweisen der männlichen Besucher im Hinblick auf den Umgang mit weiblichen Besuchern dar. Auch hier zeigt sich wieder Antisexismus als pädagogische und handlungsanleitende Norm.

344 8.4

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse Die Körperperspektive

Es lässt sich an dieser Stelle bündeln: Der Offene Kinder- und Jugendtreff zeigt sich als eine komplexe soziale Situation, die von gesellschaftlichen Ordnungen durchzogen ist. Er gilt als ein Ort, an dem sich Jugendliche in ihrer Freizeit regelmäßig in verschiedenen Bereichen treffen und aufhalten sowie als ein Ort, an dem Adressat*innen und Professionelle eines pädagogisch professionellen Handlungsfeldes aufeinandertreffen. Innerhalb des Jugendtreffs formieren sich verschiedene Gruppen, in deren Wahrnehmung und Konstruktionen sich gesellschaftlich vorgeformte Schemata entfalten. In diese sind auch soziale Kategorien wie Geschlecht, Klasse, Ethnizität und Alter eingelagert. Die Konstruktion von Gruppen geschieht zum einen durch Praktiken, durch körperliche Zusammenschlüsse und Besetzungen des Jugendtreffs, sowie zum anderen durch Indienstnahme von Klassifikationen und stereotypen Wahrnehmungsweisen. Diese folgen einer dichotomen Logik und werden auf der Ebene der Semantiken im Jugendtreff in Form von Bedeutungszuschreibungen und Bewertungen ausgehandelt. Dabei ist der Jugendtreff in besonderer Weise durch Körper, durch körperliche Erscheinungen und Verhaltensweisen geprägt und nicht zuletzt auch von der sozialen Ordnung, die sich daran festmacht.465 Hierfür gilt die körpersoziologische Einsicht grundlegend, dass Körper nicht in Naturform in Erscheinung treten, sondern von sozialen Verhältnissen geprägt werden, genauso wie sie an deren Hervorbringung beteiligt sind. Innerhalb alltäglicher Interaktionen bringen Akteure ihre jeweilige soziale Stellung zum Ausdruck. Überdies sind soziale und körperbasierte Interaktionen mit Bewertungen verbunden, in die Normen einfließen. Somit formiert der Jugendtreff einen Ort, der durch eine spezifische soziosymbolische Ordnung strukturiert ist, deren Rahmungen und Grenzen dort täglich bearbeitet und aufgeführt werden. Der Körper hat in diesem Kontext eine Ordnungs- und Sortierungsfunktion und über ihn werden zugleich immer auch gesellschaftliche Verhältnisse, einschließlich ihrer Einund Ausschlüsse, reproduziert. Die Betrachtungen zeigten, dass Körper eine wesentliche Rolle in sozialpädagogischen Zusammenhängen darstellen und innerhalb dieser soziale Ungleichheits- und Ausschließungsordnungen verhandelt werden. Dass Körper als Produkt und Produzent im Alltag des Jugendtreffs an der Konstitution sozialer Verhältnisse beteiligt sind, genauso wie sie von diesen hervorgebracht werden, lässt sich mit den im ersten Kapitel erarbeiteten körpersoziologischen Sichtweisen plausibilisieren. Dass das Soziale in den Praktiken Einzelner und denen von Gruppen zu verorten ist, lassen die 465

In einer Studie weist Schmincke (2009) als Körperzeichen für Körper und Geschlecht Haarwuchs, Körperbau, Styling, Geruch, für natio-ethno-Kulturalität Hautfarbe, Haarfarbe oder Sprache und Zähne aus. Mir wurde während der Beobachtungszeit berichtet, dass viele der Jugendlichen, die als Sinti und Roma zugehörig positioniert wurden, durch einen schief stehenden Zahn erkennbar wären.

BeDeuten

345

im dritten Kapitel der Arbeit geführten praxistheoretisch informierten Auseinandersetzungen offenkundig werden. Eingedenk der im zweiten Kapitel erarbeiteten Sichtweisen auf Ausschluss, lässt sich dieser auf sozialer und symbolischer Ebene verorten; er wirkt zudem im Wesentlichen über den Körper. Sozialer Ausschluss vollzieht sich auf der Ebene der Praktiken, symbolischer Ausschluss auf der Ebene von Deutungen und Bewertungen (vgl. auch Kapitel 2.5.). Diese Aspekte bilden sodann die wesentlichen Dimensionen des Körperlichen im Alltag des Offenen Kinder- und Jugendtreffs. Bevor jedoch der Blick auf die beobachtbaren körperlichen Praktiken im Jugendtreff gelegt und diese beschrieben werden, wird der Frage nachgegangen, welche Körper im Jugendtreff (sozial) in Erscheinung treten. Die Kategorie Unterscheiden und Bedeuten bildet die zweite Kategorie der Analyse. Dieser wird die Annahme zugrunde gelegt, dass im Jugendtreff (bestimmte) Körper in Erscheinung treten, indem sie mit spezifischen Bedeutungen und Bezeichnungen versehen werden. Erkennt man in diesen inkorporierte soziale Strukturen sowie gesellschaftliche Normen, erlaubt die empirische Rekonstruktion entsprechende Einblicke in die zugrunde liegenden sozialen Ordnungen, einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse. Die Diskussion der Kategorie (Körper) BeDeuten hebt darauf ab, auf Körper bezogene Zuschreibungen und ihre machtvollen Wirkungen kritisch zu reflektieren. Im Analyseprozess wurden als deren Dimensionen erstens BeDeuten als Klassifizieren, zweitens BeDeuten als Wahr sprechen sowie drittens BeDeuten als Praxis erkannt und ausgearbeitet. Durch die Rekonstruktion von auf Körper bezogene Bedeutungen kann – so die These – auf die dahinter stehenden Ordnungen und Ordnungsvorstellungen geschlossen werden.466 Die für die Präsentation der Erkenntnisse vorgenommene Systematisierung konzentriert sich, nach geleisteter Darstellung der Räumlichkeiten des Jugendtreffs sowie dessen Strukturmomente, nun verstärkt auf den Körper und dessen Thematisierungsweisen. 8.5

BeDeuten

Die Grundierung der Arbeit mit Perspektiven der Körpersoziologie erlaubt es in den Blick zu nehmen, dass Körper eine gesellschaftliche Dimension haben. Sie sind folglich auf unterschiedlichen Ebenen mit Ungleichheits- und Machtverhältnissen verwoben. Die Arbeit vertritt insgesamt den Anspruch, Unterscheidungen wie Geschlecht oder ,Rasse‘ – die immer auch mit körperlichen Aspekten gekoppelt sind, an 466

Methodisch stellte sich bei der Ausarbeitung dieser Sequenz insbesondere die Frage nach dem scheinbar inkommensurablen Verhältnis von Praktiken und Diskursen. Denn bereits in der Erhebung zeigte sich, dass eine strikte Entkoppelung der Praktiken von Diskursen schwer möglich ist. Bezugnehmend auf Praxistheorien im Anschluss an Andreas Reckwitz (2008) wird hier von der Annahme ausgegangen, dass das Soziale einschließlich der Ordnungen in Praktiken und Diskursen zu verorten ist.

346

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Körpern gelesen und als körperliche Natur ontologisiert werden – nicht als Körpern inhärente Eigentlichkeiten auszulegen (vgl. Hark und Villa 2017, S. 15), sondern diese als sozial hergestellt und immer wieder sozial bedeutungsvoll werdend zu betrachten. Der analytische Blick wird folglich in diesem Schritt der Analyse nicht lediglich auf soziale Kategorien oder Unterscheidungen gelegt, sondern auf dahinterstehende Klassifikationen und Normen. Die Überlegungen gehen von der Annahme aus, dass diese durch die Inkorporation gesellschaftlicher Verhältnisse von gesellschaftlichen Ordnungen durchdrungen sind. Die unterschiedlich gelagerten körpertheoretischen Positionen, die in der theoretischen Analyse für die empirische Analyse erarbeitet wurden, fungieren als ,sensitizing concepts‘. Sie bilden den heuristischen Rahmen der Interpretationen und Theoretisierungen und fließen in die Darstellung der gewonnenen Erkenntnisse ein. Die Kategorie Körper BeDeuten wird entlang der Dimensionen Klassifizieren, WahrSprechen467, und BeDeuten als Praxis ausgearbeitet. Diese Kategorie zielt auf die Frage danach ab, wie sich Kategorien sozialer Ungleichheit (einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse) an Körpern materialisieren und wie körperbezogene Unterscheidungen im Alltag des Jugendtreffs bezeichnet und bewertet werden. Insgesamt ist für diese Kategorie bewusst zu halten, dass sich die Herstellung von Bedeutungen auf der Ebene des Symbolischen, der Semantiken vollzieht, die jedoch in sozialen Interaktionen zum Tragen kommen. Dies macht ihre soziale Dimension aus. In einem ersten Schritt wird der Blick auf am Körper ansetzende Klassifikationen gerichtet. Anschließend an die Arbeiten von Bourdieu sind Wahrnehmungsweisen von Körpern als spezifische Klassifikationen auszulegen, die ihrerseits nicht unabhängig von den jeweiligen sozialen Strukturen gelten. Somit werden Klassifikationen als Resultat der Inkorporation sozialer Strukturen, einschließlich ihrer Ordnungsmuster, sichtbar (siehe Kapitel 1.2.1.). Auf diese Ordnungsmuster soll durch die Rekonstruktion von Klassifikationen geschlossen werden. Es wird auch aufgezeigt, dass soziale Ordnungsmuster und Klassifikationen im Jugendtreff die Konstruktion von Gruppen strukturieren, indem sie in deren Wahrnehmung und deren Bewertung einlagert sind. Die Arbeiten von Bourdieu zeigen auch, dass Klassifikationen positionierend wirken (siehe Kapitel 2.4.2.). Dass im jugendpädagogischen Alltag Normen kursieren und Körper daran orientiert werden, wird in einem weiteren Schritt in der Dimension BeDeuten als Wahr-Sprechen anhand des empirischen Materials konkretisiert. BeDeuten als Wahr-Sprechen repräsentiert den Versuch, in den im Körper verankerten habitualisierten Wahrnehmungsschemata gesellschaftliche Normen zu erkennen, die entlang der Dichotomie ,normal‘ und ,abweichend‘ organisiert sind. Bedeutungen werden ausgehandelt, indem sie wahr gesprochen werden. Über die Verwendung von Bezeichnungen und 467

Diese Bezeichnung der Dimension erfolgt im Anschluss an Machold (2015).

BeDeuten

347

Bewertungen werden gesellschaftliche Normen im Alltag des Jugendtreffs stabilisiert und auf diese Weise Verhältnisse von ,normal‘ und ,davon-abweichend‘ hergestellt. Darüber hinausgehend werden durch das ,Wahr-Sprechen‘ von Bedeutungen im konkreten Ort des Jugendtreffs Kriterien der (Nicht-) Zugehörigkeit ausgehandelt und diese im Alltag des Jugendtreffs wirkmächtig. Auf die Beantwortung der Frage danach, wie sich Unterscheidungen als körperliche Differenzen materialisieren, wird in einem dritten Schritt die Dimension BeDeuten als Praxis ausgearbeitet. Innerhalb dieser werden Differenzen resignifiziert und so bestehende Normen zitiert. Insofern Bezeichnungen Personen/Subjekten eine Position in einer soziosymbolischen Ordnung zuweisen, lassen sie sich als machtvolle und positionierende Praktiken perspektivieren.468 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass über Praktiken der BeDeutung von Körpern im Kontext sozialer und sozialpädagogischer Wirklichkeitskonstruktionen soziale Ungleichheiten reproduziert und zudem Einund Ausschlüsse von bestimmten Personen(gruppen) generiert werden. Indem Körper BeDeutungen erfahren, werden auch Kriterien von (Nicht-) Zugehörigkeit im Kontext des Offenen Jugendtreffs ausgehandelt und somit auf Ausschließung gerichtete Kategorien produziert. 8.5.1

BeDeuten und Klassifizieren

In der nun folgenden interpretativen Entfaltung ausgewählter Sequenzen wird in einem ersten Schritt gezeigt, dass und in welcher Weise sich in den Thematisierungen von sozialen Akteuer*innen im Offenen Kinder- und Jugendtreff habitualisierte Wahrnehmungsschemata ausdrücken. Die kritische Perspektivierung dieser ist insofern gewinnbringend, weil sich darüber zeigen lässt, wie die Konstruktion von Gruppen im Jugendtreff durch gesellschaftliche Ordnungen präformiert wird. Im Zuge der intensiven Beschäftigung mit den Thematisierungsweisen von Körpern zeigte sich, dass die Wahrnehmung einzelner Personen oder von Gruppen im Jugendtreff durch spezifische Konstruktionsraster und Klassifikationen geleitet sind. In diesen manifestieren sich gesellschaftliche Kategorien und Konstruktionen, die die Formierung sozialer Gruppen durchziehen und zudem die Wahrnehmungen, Bewertungen und die soziale Praxis strukturieren. Daran anschließend wird die Macht der Klassifikationen, die darin besteht, dass sie einen wesentlichen Bestandteil der symbolisch vermittelten

468

Diese erarbeiteten Perspektiven werden sodann in der Kategorie Körper im Einsatz aufgegriffen und mit ihnen weitergeführt, wie über Körper Ein- und Ausschluss im Jugendtreff ausgehandelt wird. Somit lässt sich dann der Jugendtreff als ein Ort markieren, an dem soziale Ordnungen ausgehandelt werden (Kapitel 8.6. – 8.7.).

348

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Dimension der Reproduktion sozialer Ungleichheit darstellen, kritisch reflektiert. 469 Körper werden in dieser Perspektive durch Akte des Klassifizierens ,bedeutet‘.470 Die Arbeiten von Bourdieu sind für diese Auseinandersetzung in besonderer Weise erhellend. Sie eröffnen Perspektiven darauf, dass und wie gesellschaftliche Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse – insbesondere mit Blick auf die Strukturkategorien Klasse und Geschlecht – im Körper verankert und über diesen reproduziert werden. So pointiert Bourdieu (1982): „Der Körper, gesellschaftlich produzierte und einzige sinnliche Manifestation der ,Person‘, gilt gemeinhin als natürlichster Ausdruck der innersten Natur […] von Natur aus Natur oder von Natur aus ,kultiviert‘ “(ebd., S. 310). Mit dem Habituskonzept ist es möglich, der Verkörperung sozialer Differenzen und Teilungen Rechnung zu tragen. Indem Bourdieu darauf verweist, dass Teilungsprinzipien und Hierarchien inkorporiert werden, legt er eine Perspektive auf Prozesse der Naturalisierung frei. Diese nimmt er als wirkmächtige Dimension der Verschleierung von Herrschaftsverhältnissen in den Blick und sieht sie insbesondere in der Inkorporation des Sozialen begründet. Er führt weiter aus, dass sich ein Raum jeweils klassenspezifischer Körper abzeichnet, der bis auf einige biologische Zufälligkeiten in seiner spezifischen Logik tendenziell die Struktur des sozialen Raumes reproduziert (vgl. Bourdieu 1982, S. 319). Damit verweist Bourdieu auf die Prägekraft sozialer Ordnungen, die Körper in einem spezifischen sozialen Profil in Erscheinung treten lassen. BeDeuten lässt sich zuerst einmal auf der Ebene körperlicher Erscheinungen als Prägekraft des Sozialen auf Körper auslegen, durch die das Soziale Körper wird. Ab jetzt kommen immer wieder ein paar Jugendliche und ältere Leute in den Treff, die schnurstracks nach oben gehen. Interessant ist, dass viele der Jugendlichen die nach oben wollen, durch den Treff gehen, als seien sie unsichtbar. Teils scheinen sie pikiert über das Verhalten der Jugendlichen aus dem Offenen Bereich zu sein. Sie halten ihre Bewegungen inne, ziehen die Augenbrauen hoch. Einige schütteln mit dem Kopf. Ich erkenne beinahe Ekel in ihren Gesichtern. Sie grüßen auch nicht. Gleichsam scheint mir, als nähmen die Jugendlichen aus dem Offenen Bereich die Theaterjugendlichen auch gar nicht wahr. Es schein, als wären sie allesamt füreinander unsichtbar. (BP 6.01.2014, Z. 339-246) Die Szene veranschaulicht eine Situation, in der sich Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Kontexten im Jugendtreff aufhalten. Das, was sie zunächst 469

470

Dass innerhalb dieser Dimension sowohl die Wahrnehmungsweisen als auch die Klassifikationen diskutiert werden, obwohl damit unterschiedliche Fokussierungen verbunden sind, liegt darin begründet, dass sich hier sehr stark an den Arbeiten von Bourdieu orientiert wird und sich mit diesen an sehr unterschiedliche Facetten von sozialen Phänomene angenähert werden kann. Dass diese BeDeutungen als situativ und übersituativ positionierende Praktiken gedeutet werden können, wird in der Kategorie Körper im Einsatz I und II aufgegriffen und diskutiert.

BeDeuten

349

voneinander wahrnehmen, sind ihre Körper. Einige Jugendliche schütteln den Kopf und schauen pikiert auf die Verhaltensweisen und die äußeren körperlichen Merkmale anderer Jugendlicher. Mit diesen Gesten bringen sie Irritation und Missachtung zum Ausdruck. Was sich jedoch in dieser Szene auch zeigt, sind Wahrnehmungsweisen, die jeweils aus der Inkorporation sozialer Verhältnisse, inklusive ihrer Klassifikations- und Teilungsprinzipien, resultieren. Diese strukturieren nicht nur das Handeln, sondern auch die Wahrnehmung einzelner Akteur*innen.471 Die im Habitus sedimentierten Denk- und Wahrnehmungsschemata sowie die ihnen inhärenten Klassifikations- und Unterscheidungsprinzipien manifestieren sich in Praktiken der Lebensführung und der Körperhaltungen. Äußerliche körperliche Merkmale wie Geschmack, Stil, Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien sind somit Produkte einer inkorporierten Position und ebenso Ausdruck dieser Verkörperung. Die Körper der Jugendlichen aus dem oberen Bereich und aus dem unteren Bereich, die in dieser Szene aufeinandertreffen, symbolisieren die sozialen Bezüge, in denen sie agieren. Aufgrund der Deutung und Wahrnehmung ihrer Körper werden die Jugendlichen von ,unten‘ von den Jugendlichen von ,oben‘ klassifiziert und dabei wird mit einer Geste Missachtung zum Ausdruck gebracht. Anlässlich dafür gelten ihre wahrnehmbaren Umgehensweisen mit dem Körper, mit der körperlichen Hexis: „Die körperliche Hexis, eine Grunddimension des sozialen Orientierungssinns, stellt eine praktische Weise der Erfahrung und Äußerung des gesellschaftlichen Stellenwerts dar […]“ (Bourdieu 1982, S. 739). Es lässt sich mit Bourdieu plausibilisieren, dass bereits in die Wahrnehmung von Körpern und von körperlichen Praktiken Normen und Klassifikationen mit einhergehen. Diese formen die Wahrnehmung dessen, was sich als sichtbar zeigt. Als ursächlich für das ,Anderssein‘ der Jugendlichen aus dem ,unteren‘ Bereich werden nicht die benachteiligte soziale Positionierung, sondern ihr Verhalten, ihre körperliche Erscheinung und ihre körperlichen Praktiken gedeutet. Als sozial distinktiv und ungleichheitsreproduzierend wirken in diesen Zusammenhängen demnach nicht die Ungleichheit ökonomischer und sozialer Lebenschancen sowie (den Lebensführungsweisen) zugrunde liegende politisch-ökonomische Erzeugungszusammenhänge, sondern moralische und kulturelle Praktiken der Lebensführungen, Einstellungen, Haltungen, Präferenzen und Verhaltensweisen (vgl. Heite et al. 2007, S. 61). Von L., einer ehemaligen Besucher*inn die derzeit eine Performance AG leitet, erfahre ich: „Man kann ja hier schon eh sofort sehen, wo wer hingehört oder 471

Dies fasst Bourdieu ebenso mit dem Begriff des Habitus. Der individuelle Habitus, als Resultat der Einverleibung und Inkorporation der sozialen Welt, ebenso ihrer Ordnungs- und Klassifikationsmuster, ist dabei als Variation eines kollektiven, eines Klassenhabitus zu deuten, qua dessen soziale Teilungsprinzipien in die Körper der Akteure eingeschrieben sind. Ihre Unbewusstheit und Verankerung in Körpern, so beispielsweise der Statur, der Art sich zu bewegen oder ästhetische Präferenzen lassen die Klassenlage als Naturgegebenheit erscheinen (vgl. Schmincke 2009, S. 124).

350

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

hingeht.“ (BP 8.01. 2015, Z. 257-278). Der Wahrnehmung und Klassifikation von L. sind gesellschaftliche Schemata vorgelagert, die sich aus der Inkorporation ihrer sozialen Position sowie ihrer Positioniertheit innerhalb des durch Klassenhierarchien geprägten Jugendtreffs ergibt. Die Besucher*in des oberen Bereichs problematisiert in diesem Gespräch die Aufspaltung des Jugendtreffs in verschiedene Bereiche. Jedoch ließe sich ihre Aussage ,man sieht ja hier eh schon sofort, wo wer hingehört‘ auch dahingehend zuspitzen, dass sie damit sagen möchte, dass sichtbar ist, wer eben nicht nach ,oben‘ gehört. Ihre Aussage fördert also zutage, dass am Körper Einzelner erkennbar wird, wo sie hingehören – oder wo sie hingehören ,sollten‘. Diese Facetten lassen sich als symbolisch vermittelte Dimension sozialer Ungleichheit in den Blick nehmen, die dazu beiträgt, dass einigen Besucher*innen der Zugang zum oberen Bereich erschwert wird. Bourdieu weist darauf hin, dass es sich nicht um verbale Zurechtweisung oder Ausschlüsse handelt, sondern dass Personen in gewissen Situationen anderen Personen ihren Platz praktisch zuweisen. Im Verhalten der Theaterjugendlichen zeigen sich folglich Distinktionsbestrebungen, mit denen auf der Ebene des Symbolischen den Besucher*innen des unteren Bereichs die vollwertige Zugehörigkeit zum Jugendtreff verschlossen bleibt. In einer solchen Sichtweise werden auch die Möglichkeiten der Positionierungen von Einzelnen und Gruppen innerhalb des Jugendtreffs verhandelt. Die Selbstverständlichkeit und die Legitimität der eigenen sozialen Positionierung hinterfragen die Jugendlichen von oben zumindest in dieser Sequenz nicht. Im Anschluss an die Arbeiten von Bourdieu (Kapitel 1.2.) lässt sich pointieren: Zuschreibungen lassen sich als Praktiken der Klassifikation deuten, die sich aus der Inkorporation sozialer Teilungsprinzipien ergeben. 472 Die im Habitus sedimentierten Denk- und Wahrnehmungsschemata sowie die ihnen inhärenten Klassifikations- und Unterscheidungsprinzipien sind zudem als Form symbolischer Herrschaft beschreibbar, die in symbolischen Kämpfen zwischen den Akteur*innen im Jugendtreff zum Tragen kommen. Die Verankerung der sozialen Welt, einschließlich ihrer Teilungsund Klassifikationsprinzipien in Körpern, lässt zum Beispiel die hier wirksamen sozialen Klassenteilungen als Naturgegebenheit erscheinen. Die Macht der Unterscheidungen besteht indes darin, dass sie bestimmte Körper und körperliche Praktiken mit Wert versehen und andere hingegen nicht, indem sie sie ,BeDeuten‘. Der Gebrauch von Klassifikationen im Alltag des Jugendtreffs lässt sich somit als symbolisch vermittelte Dimension sozialer Ungleichheit in den Blick nehmen. Dass im Offenen Kinder- und Jugendtreff Klassifikationen und Unterscheidungen auch im Hinblick auf natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten verhandelt werden, wird anhand der Figur der ,Zigeuner‘ diskutiert. 472

Mitsamt werden Körper von sozialen Verhältnissen geprägt und als solche hervorgebracht. Zugleich fungieren sie als Speicher von Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, die wiederum auf sie angewendet werden.

BeDeuten

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,Die sehen sofort, wer zigeunisch ist‘ In dieser beobachteten Situation sitze ich mit einigen Jugendlichen in ein Spiel vertieft an einem der Tische im Jugendtreff. Wie geraten in ein Gespräch. Ich: „Wo ist denn bei uns? Wo kommt ihr her?“ E.: „Ich komme aus Türkei.“ L.: „Serbien, wir sind Serbien!“ Er zeigt auf A., dieser nickt. D.: „Bei mir ist kompliziert. Ich bin halb Türkin, halb Zigeunerin?“ Ich frage: „Wie? Zigeunerin?“ „Meine Mutter ist halb Türkin, ihr Opa war aus Serbien, er ist halb zigeunisch. Mein Vater ist aus Rumänien“, fängt sie an zu erklären: „Also, es gibt eben Zigeuner. Bei uns ist das nochmal anders als bei denen aus Serbien, wir sprechen auch anders.“ Ich frage: „Wo kommen denn dann Zigeuner her?“ Sie sagt: „Ja überall, das kann man nicht so genau sagen, halt aus Zigeunien!“ Ich: „Und welche Sprache sprechen die?“ D.: „Naja, zigeunisch eben, aber da gibt es auch ganz verschiedene, das sieht man aber sofort, dass das die anderen sind.“ Ich: „Woran sieht man das denn?“ D.: „Ja, an Körper und überhaupt, das WEIß man, das fühlt man. Frag mal hier einen Jungen, die sehen sofort wer zigeunisch ist.“ (BP 23.01.2015, Z. 1156163) In diesem Gespräch erfahre ich nicht nur viel über die Herkunft der Jugendlichen, mit denen ich am Tisch sitze, sondern auch über die Selbstwahrnehmungen eines jungen Mädchens in Bezug auf ihre Herkunft. Ich gewinne zudem Einblick in die Schwierigkeiten von Menschen, die eigene Zugehörigkeit zu Sinti und Roma, einem Volk mit einer langen Geschichte der Zugehörigkeit zu einer Minderheit, erklären zu können. An dieser Stelle wird das Gespräch nicht in alle denkbaren Richtungen erhellt, sondern es wird auf zwei Bezüge eingegangen: erstens, dass naturalisierende und somit herrschaftsstabilisierende Zuschreibungen insbesondere am Körper festgemacht werden; zweitens wird diskutiert, dass Klassifikationen von einer praktischen Beherrschung angeleitet sind. In der Aussage von D. zeigt sich die Wirkmächtigkeit des praktischen Wissens, einer Art praktischer Beherrschung des Klassifizierens und rangspezifischen Einordnens (siehe dazu auch grundlegend Kapitel 1.2.). Zudem bringt es zutage, dass Klassifizierungen bei der Konstruktion von sozialer Zugehörigkeit wirkmächtig sind und in einem Zusammenhang stehen, der im Wesentlichen über den Körper vermittelt wird. Eingedenk leibtheoretischer Deutungen (siehe Kapitel 1.5.) lässt sich die Konstruktion von Zigeuner*innen als leiblich vermittelt auslegen, insofern die Zugehörigkeit zur Gruppe der ,Zigeuner‘ nicht nur sicht-, sondern auch fühlbar ist. Gemeinhin lässt sich bündeln: Im Gebrauch des Klassifikationsmusters des Zigeuners werden bestimmte Merkmale in distinktiver Weise jener Gruppe zugewiesen. Diesen Klassifikationen ist eine antiziganistische Ordnung vorgelagert, die ein wirkmächtiges Ordnungsmuster im Jugendtreff markiert. Somit lassen sich die

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

,Zigeuner‘ als eine durch symbolische Klassifikation gewordene Menschengruppe markieren. Darüber hinaus zeigt sich die Figur des Zigeuners bei den Besucher*innen des unteren Bereichs als eine auf Ausschließung gerichtete Kategorie, die auch in beobachtbaren Praktiken zum Tragen kommt. „die sind voll assi“ Eine weitere Klassifikation, die sich in besonderer Weise auf die Wahrnehmung und Thematisierung von Körpern bezieht, ist die der ,Asozialität‘. Durch ihren Gebrauch werden Wertigkeiten der Körper Einzelner oder von Gruppen ausgehandelt. In der Situation, in der sich die folgende Sequenz ereignet hat, sitze ich mit einigen Mädchen an einem der Tische und wir unterhalten uns. In dem Moment rennen S., Z. und F. schreiend und laut durch den Raum. Ed. hört auf zu sprechen, und sie und L. gucken sich genervt an. Sie rollen mit den Augen und sagen: „Das is voll assi!“ Y. richtet ihren Blick auf die beiden Mädchen und fragt mit (meines Erachtens etwas spitzer Stimme): „Das da […] sind nicht eure Freundinnen, oder?“ L. verzieht das Gesicht und lehnt sich mit ihrem Oberkörper nach hinten. Ed. ebenso, sie zieht ihre Stirn kraus. Die beiden werfen sich bedeutungsvolle Blicke zu, immer wieder hin und her. Ed.: „Nee, ey, die sind voll assi, da würde selbst meine Mutter (betont) mir verbieten mit sowas Asseliges zu chillen.“ Die beiden Mädchen schauen den anderen drei Mädchen kopfschüttelnd hinterher. (BP 10.02.2015, Z. 335-343) Ed. und L. nehmen zunächst einmal mit einer Geste auf körperliche Verhaltensweisen von drei Besucher*innen des Jugendtreffs Bezug. Sie schreien, sind laut und rennen schnell umher. Das führt dazu, dass L. und Ed. ihr Gespräch unterbrechen, sich anschauen und dann sagen, dass das voll ,assi‘ sei. Der laute und schnelle Einsatz des Körpers wird als ,assi‘ bewertet. Bei der Klassifikation der Asozialität handelt es sich um eine missachtende Zuschreibung, die die Praktiken einiger Mädchen erfahren. In Klassifizierungen sind soziale Teilungsprinzipien eingeschrieben und diese sind auf einer präreflexiven Ebene verankert. Sie zeigen sich in den Bewertungsweisen von L. und Ed.. Y. nimmt auf die Aussage von Ed. und L. Bezug. Sie erkennt in deren Verhalten, dass die Mädchen, die just durch den Jugendtreff laufen, nicht ihre Freundinnen sind. L. und Ed. bestätigen Y.‘s Annahme und begründen, dass sie selber nichts mit diesen Mädchen zu tun haben möchten. Damit positionieren sie die Mädchen explizit als nicht (zu ihnen) zugehörig. Sie verstärken die Vehemenz ihrer so vollzogenen Ausschließung mit Bezug auf eine dritte Person, die Mutter. Die Verwendung der Klassifikation ,assi‘ lässt sich hier als symbolische Gewalt innerhalb der symbolischen Kämpfe der Adressat*innen im jugendpädagogischen Alltag markieren, in der Bedeutungen und Wertigkeiten ausgehandelt werden. Die Klassifikation ,assi‘ lässt sich folglich auch als

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stigmatisierendes Element der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit im Jugendtreff betrachten, die insbesondere bei den Adressat*innen Verwendung findet. Klassifikationen – insofern ihnen spezifische Bedeutungen zugeschrieben werden – sind machtvoll. Dass Körper an Normen orientiert werden und diese dichotom und hierarchisch strukturiert sind, lässt sich nunmehr mit den Arbeiten von Foucault und Butler plausibilisieren (siehe Kapitel 1.3. und 1.4.). Sie zeigen sich im Alltag innerhalb von Bewertungen und Bezeichnungen. So wird erkennbar, dass nicht nur in die Wahrnehmungen, sondern auch die Bewertungen von Körpern und körperlichen Praktiken normative Muster eingehen. In Äußerungen werden Körper jedoch nicht nur mit BeDeutungen versehen, sondern diese Bedeutungen werden auch wahr ausgesprochen. Die Aushandlungen von Bedeutungen sind gemeinhin als machtvolle Praktiken zu perspektivieren, durch die Einzelne innerhalb symbolischer Ordnungen (über)situativ positioniert werden (vgl. Machold 2015).473 8.5.2

BeDeuten als Wahr-sprechen

In der Auswertung der Beobachtungsprotokolle zeigt sich, dass insbesondere Körper oftmals Merkmale haben, an denen teils direkt, jedoch auch indirekt, Zuschreibungen festgemacht werden und diese darüber hinaus ganz spezifischen Semantiken folgen. In den Thematisierungsweisen der Besucher*innen wird ferner deutlich, dass oftmals körperliche Merkmale (Körperzeichen), die als auffällig gelten, herangezogen werden. Einige Körperzeichen sind deswegen auffällig, weil sie mit negativen Assoziationen wie Krankheit, (sexueller) Verwahrlosung, Kontrollverlust, Kriminalität oder Verkommenheit verbunden sind. Der Rückgriff auf die Perspektiven von Foucault bietet Einblicke in Zusammenhänge gesellschaftlicher Differenzsetzungen von normal und abweichend, von anders und gleich.474 Seine genealogischen Arbeiten zeigen auch, wie Körper an Normen orientiert und darüber mitunter Ein- und Ausschlüsse verhandelt werden. Foucault hinterfragt zudem die Aushandlung von Wissen und Macht (siehe Kapitel 1.3.). BeDeuten lässt sich so als ,wahr-sprechen‘ perspektivieren. Das bedeutet ganz konkret, dass man in einer Situation Deutungsmacht erlangt, die eigene Deutung so zu setzen, dass keine anderen Deutungen zugelassen werden. BeDeutungen werden indes über explizite Deutungen hervorgebracht, die anhand semantischer Differenz 473

474

Im Anschluss an die dargelegten Positionen von Butler und Foucault (siehe Kapitel 1) lässt sich eine Perspektive darauf einnehmen, dass und wie Körper im Jugendtreff über Normen hervorgebracht werden. Den folgenden Diskussionen ist daher die These unterlegen, dass Normen, Diskurse und Praktiken regulieren, was in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext als anerkannte und anerkennbare, als intelligible körperliche Subjektform gilt. Foucault zeigt, welchen Regulierungen und Normierungen Körper unterliegen. So kommt in den Blick, dass sich in körperlichen Normen gesellschaftliche Zusammenhänge entfalten (Kapitel 1.3.).

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vollzogen werden (vgl. Machold 2015, S. 118). Diese binäre Konstruktion der semantischen Differenz lässt keine weitere Deutung zu. Wahrheit meint dann ein absolutes und Geltung beanspruchendes Wissen. Indem etwas als ,eindeutig so‘ und ,nicht anders‘ formuliert wird, wird eine Deutung wahr gesprochen. In einer Situation ,Deutungsmacht‘ zu erlangen, bedeutet gemeinhin eine Wahrheit beanspruchende Deutungspraktik zu vollziehen (vgl. ebd.). Dies wird durch die Eindeutigkeit der Deutung und ihrer wahrheitsbeanspruchenden Formulierung vollzogen (vgl. Machold 2015, S. 119). Fraglich wird dann, wer Deutungsmacht beanspruchen kann. Daran anschließend lässt sich die Produktion von Bedeutungen als eine machtvolle Praxis perspektivieren.475 Dass einer spezifischen ,Gruppe‘ im Jugendtreff bestimmte, auf Körper bezogene, Eigenschaften zugesprochen und diese wahr gesprochen werden, wird im Folgenden am empirischen Material veranschaulicht: Ich stehe mit Ad. an der Theke. Wir füllen gemeinsam einen Fragebogen aus, den die beiden Theaterpädagogen erarbeitet haben. In einem ersten Teil werden soziodemographische Daten erhoben. In einem anderen Teil wird abgefragt, was am Jugendtreff gefällt und was nicht. Ich beginne mit der Auswertung an der Stelle, an der ich Ad. danach frage, was er nicht so gut am Jugendtreff findet. Ad. druckst: „Ja, das kann ich nich‘ so sagen, also halt manche Mädchen und Jungs, nicht die von uns, also die sind so asozial.“ Ich frage: „Wen meinst‘n du damit?“ Ad.: „Ja, so manche Mädchen und Jungs halt, die auch hier so sind!“ Ich: „Und was meinst du mit asozial?“ Ad.: „Ja die reden fäkal und so!“ Ich: „Also so Worte wie Scheiße und Pisse und Kacke!?“ Ad. nickt: „Ja, also auch so Schlampe und so!“ Ich: „Also auch vulgär?“ Er: „Ja, halt so beides! Wir reden so nicht. Das ist nicht korrekt!“ Ich: „Also ihr, die hier seid oder auch andere, die aus Albanien kommen?“ Ad.: „Nee, so Zigeuner halt. ICH bin nicht einer von den Zigeunern!“ Er nickt unterstützend. Ich: „Hm, aha! Aber das heißt Sinti und Roma und nicht Zigeuner. Das ist eher schon ein Schimpfwort!“ Ad.: „Ach so, ja, das wusste ich nich! Also so Sinti und so, die sind nicht korrekt und sind voll asozial. Das sind AUCH Albaner und Rumänen. Ich bin ja auch Albaner, aber ich bin nicht einer von denen. Ich spreche und verstehe nur Deutsch …und ein bisschen Englisch. Ein 475

Hierfür gilt die Annahme grundlegend, dass im ,Sprechen über‘ etwas Normativität formiert wird. Auf diese Weise vollzieht sich Subjektivierung. Im Diskurs werden Subjekte angerufen, eine der Norm gemäße Position einzunehmen. Äußerungen ist eine Anrufungsfunktion inhärent. Durch diese Anrufungsfunktion von Äußerungen werden Adressat*innen aufgefordert, die Ordnung des Diskurses, von der her die Anrufung konstruiert ist, anzuerkennen. Mit dieser so vollzogenen Anerkennung der Ordnung ist ihnen Anerkennung als Subjekt in dieser Ordnung versprochen. Wer beispielsweise im Rahmen des hegemonialen legitimen Wissens die Geschlechterordnung anerkennt und in einer Form realisiert, kann mit Anerkennung durch die autoritätsstiftende machtvolle Sprecher*innenposition rechnen (vgl. Fegter et al. 2015, S. 25).

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bisschen Englisch. Meine Mutter kam früher daher. Aber ich bin nicht so wie die.“ Ad. blickt mich ernst an, seine Stimme ist etwas lauter. Es scheint ihm sehr wichtig zu sein, dass er nicht einer von DENEN ist (von denen ich nun nicht genau weiß, wer DIE eigentlich sind). Ad. tippt auf den Fragebogen und wir gehen ihn weiter durch. Ich: „Ach, oke, naja, was wünschst du dir denn dann so vom***?“ Ad.: „Die Leute sollen korrekter sein, offener sein, auch nicht beleidigen und so.“ Ich nicke und ich schreibe auf: „Was wünschst du dir denn noch von deiner beruflichen Zukunft?“ In der Zeit rufen die anderen Sportjungen: „Ey, S. wartet draußen auf uns!“ Ad. zuerst zu mir, dann lauter zu seinen Freunden: „KFZ. Jaaa, gleich!“ Ich: „Also Mechaniker oder warte, Mechatroniker?“ Der Junge nickt. Ich: „Oke, noch eine letzte Frage. Welche Wünsche hast‘ n du an deine Zukunft?“ Ad.: „Familie, also sie (er lacht), Urlaub, eigenes Geld, selbstständig. Ich will nicht Hartz 4. Ich will gutes Essen!“ Ein Junge, der danebensteht: „Jaja, Ad. will immer gutes Essen“, er lacht und fasst Ad. an den Bauch. Der stößt dessen Hand weg. „Und ich will Kumpels, korrekte Kumpels. Das hier (er zeigt auf ein paar Jungs, die um ihn rumstehen), das sind alles Cousins, voll korrekte Kumpel.“ Ich nicke und frage: „Darf ich das nun weitergeben?“ Ad. nickt. Die Jungs stehen noch ein bisschen an der Theke, hinzu kommt ein Ghanaer (so wurde der Junge mir einst von S. (Honorarkraft) vorgestellt), dann gehen sie gemeinsam zum Bus, um zum Sport zu fahren. (BP 8.01.2015, Z. 163-215) Ad.s Äußerungen zufolge sind es nicht Gegebenheiten des Jugendtreffs, die ihm nicht gefallen, sondern Personen und ihre wahrnehmbaren Praktiken sowie ihr Sprachgebrauch. In dieser Sequenz werden in den Äußerungen von Ad. normative Vorstellungen wirksam, die nicht nur gesellschaftliche Sinn- und Wissenszuschreibungen enthalten, sondern die auch dichotom und somit hierarchisch organisiert sind. Zunächst gibt Ad. preis, dass er nicht sagen kann, was oder wen genau er nicht mag. Kurz darauf benennt er explizit diejenigen Mädchen und Jungen, die asozial sind. Sein Sprachgebrauch folgt einer ,Wir‘/,Andere‘-Dichotomisierung, die die ,Einen‘ ein- sowie die ,Anderen‘ ausschließt. Ihren so vorgenommenen Ausschluss begründet er damit, dass sie ,asozial‘ sind. Mit dieser Äußerung schreibt Ad. einigen Jugendlichen die Klassifikation der Asozialität als Eigenschaft zu, indem er sie ,wahr spricht‘. Ad. bezieht sich in seinen Äußerungen auf Mädchen und Jungen, die zwar auch hier (im Jugendtreff) sind, aber nicht ,zu uns‘ gehören und somit auf die ,Anderen‘.476 Ich frage weiter nach, was genau Ad. denn mit asozial meint. Als asozial gelten für Ad. also jene Personen, die ,fäkal und so‘ reden. Sie sind nicht nur asozial, sondern 476

Es wird erkennbar, dass in die Wahrnehmung von körperlichen Praktiken normative Muster einfließen. Zudem werden in den Äußerungen Eigenschaften einer vermeintlichen Gruppe wahr gesprochen, indem sie ihnen zugeschrieben werden.

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verwenden Begriffe wie ,Schlampe und so‘, scheinbar Begriffe, die für Ad. nicht ,korrekt‘ oder respektabel, sondern ,verwerflich‘ scheinen. Die ,Anderen‘, von denen Ad. spricht, erfahren somit nicht nur herabwürdigende, sondern zudem moralisierende Zuschreibungen. Indem er sich sowohl auf die Sprache als auch die beobachtbaren körperlichen Praktiken bezieht, beschreibt und konstruiert er eine soziale Gruppe, die eine weniger anerkennbare Gruppe im Jugendtreff darstellt. In der so vorgenommenen Konstitution von Gruppen zeigt sich, wie diese in machtvoller Weise über dichotome Raster, in diesem Fall wird in ,korrekt‘/,nicht-korrekt‘, ,asozial‘/,nichtasozial‘ geteilt und darüber hergestellt werden (vgl. Machold 2015). Im weiteren Gesprächsverlauf führt Ad. den Begriff der ,Zigeuner‘ ein, denen er als Wesenshaftigkeit Asozialität und Unrechtschaffenheit zuschreibt. „Im Laufe ihrer historischen Genese wurde die Bezeichnung nicht nur mit rassifizierenden, sondern zugleich mit sozialen Konnotationen unterlegt und innerhalb diverser herrschender Diskursformationen als Sammelbegriff benutzt, um unterschiedliche, mobil verortete Gruppen zu markieren, zu kriminalisieren und auszugrenzen“ (Randjelovic 2011, S. 675). Die Zigeuner verkörpern also eine Gruppe von Menschen, denen negativ konnotierte Eigenschaften wie Verkommenheit, Verwahrlosung und Asozialität zugeschrieben werden. Sie nehmen eine marginalisierte Gruppe innerhalb des Jugendtreffs ein. 477 Ad. insistiert darauf, dass er aber nicht einer von ,den Zigeunern‘ ist. Seine Äußerungen gelten als Teil der symbolischen Kämpfe, die im Jugendtreff vollzogen und mit denen Bedeutungen und Wertigkeiten ausgehandelt werden. Begreift man die Äußerungen von Ad. in einer an Foucault orientierten Perspektive als ,Wahr-Sprechung‘, und überdies als machtvolle positionierende Praktik, dann wird erkennbar, dass der ,Gruppe der Zigeuner*innen‘ eine marginalisierte Position innerhalb der symbolischen Ordnung des Jugendtreffs zugewiesen wird. Ferner ist diese Äußerung so auch an der Produktion einer Kategorie beteiligt, die zwischen den ,Stammgästen‘ auf Ausschluss gerichtet ist. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird von mir die Anmerkung eingebracht, dass der Begriff der Zigeuner unangemessen ist, weil er Einzelne und Gruppen diskriminiert. Ad. wiederholt nun seine Rede und sagt, dass sie also so, Sinti und so‘ seien und klassifiziert diese erneut als nicht korrekt und asozial. 478 Über ihre symbolische Dimension hinausgehend haben BeDeutungen eine soziale Dimension. Diese besteht darin, dass über sie ausgehandelt wird, wer an einem konkreten Ort in einer konkreten Situation situativ als zugehörig eingeschlossen und wer als nicht-zugehörig ausgeschlossen wird. Auf diese Weise wird die Ordnung der Verhältnisse hergestellt. Dabei wird die Handlungsfähigkeit derjenigen, die als nicht zugehörig positioniert werden, eingeschränkt (vgl. Machold 2015, S. 119). Bedeuten ist 477 478

Weiteführend zum antiziganistischen Rassismus vgl. Luttmer (2011). In Bezug auf die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit führt er Differenzierungen ein: Zwar sind die ,Zigeuner‘ so wie er albanischer Herkunft, aber er ist eben nicht einer von denen. Hier wird die Frage nach sozialer und symbolischer Mitgliedschaft ausgehandelt.

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folglich als machtvolle Praktik zu betrachten, bei der auch die Frage zu stellen gilt, wer zur Deutung legitimiert ist. In der Durchsetzung einer Deutung kommt den Akteur*innen eine machtvolle Position im Hinblick auf die soziale Ordnung innerhalb des Jugendtreffs zu. Eine weitere auf den Körper bezogene Norm, die sich im Alltag des Offenen Jugendtreffs als sozial und symbolisch relevant zeigt, ist die Norm der Hygiene. Exemplarisch wird eine weitere Situation eingeführt. ,Andere Körper‘ Im Jugendtreff werden teils Begenungen für taubstumme Jugendliche ermöglicht. Anhand des als ,behindert‘ markierten Körpers lässt sich ebenso in kritischer (und dekonstruktivistischer) Perspektivierung diskutieren, in welcher Weise im Alltag des Offenen Kinder- und Jugendtreffs über den Körper gesellschaftliche Verhältnisse von ,normal‘ und ,nicht-normal‘ ausgehandelt werden. Die taubstummen Jugendlichen markieren eine Gruppe innerhalb des Jungendtreffs, deren ,Mitglieder’ von vielen ,Stammgästen‘ als ,anders‘ und ,nicht-zugehörig‘ wahrgenommen werden. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass sie räumlich marginalisiert werden, sondern auch dass sie missachtende Zuschreibungen erfahren. In diesen werden in machtvoller Weise Normen von ,normalen‘ und ,davon abweichenden‘ Körpern wirksam. Anhand einer Situation wird dieser Gedanke diskutiert. Ich sitze mit einigen Mädchen um einen Tisch. Ein Junge kommt zu uns an den Tisch. Er gibt Laute von sich und fasst mich immer wieder an. Ed.: „Der soll weggehen, der nervt!“ Sie wendet sich an mich: „Der kann mich nicht hören, ne?“ Ich: „Nee!“ Ed.: „Gut! Der ist voll komisch, ich kenn‘ den auch noch vom Stall. Da sind auch viele andere Behinderte und manche echt voll komisch.“ Ich sage: „Er ist sehr nett!“ Ed.: „Ja, aber der sieht manchmal so komisch aus. Dann redet der aber immer so viel und ich versteh den nicht und dann weiß ich nicht, was ich machen soll.“ Ich sage: „Ich versuch das einfach so mit Händen und Füßen und so!“ Ed.: „Naja, der is‘ ja auch wirklich noch ganz nett. Manche andren von den Behinderten sind echt anstrengender.“ B. tippt Ed. an und winkt mit seinem Kopf in Richtung Tür. Sie nickt. Die beiden stehen auf, gehen zur Theke und dann vor die Tür des Treffs. (BP 29.01.2015, Z. 150-162) Bevor Ed. über den Jungen spricht, vergewissert sie sich bei mir, dass er sie nicht hören kann. In ihren Thematisierungsweisen manifestiert sich ein Verständnis von ,normal‘ und ,davon abweichend‘. In den Blick von Ed. geraten insbesondere das ,komische‘ Aussehen des Jungen und seine Art und Weise zu sprechen. Zugleich führt sie verallgemeinernde Zuschreibungen bezogen auf die anderen Behinderten vom Stall ein. Ich habe in einem Gespräch erfahren, dass Ed. regelmäßig in einem Reitstall reitet. Ihre Äußerungen lassen auf wirkmächtige und gängige Klischees

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schließen, mit denen sie die Gruppe der ,Behinderten‘ konstituiert und die auch dazu führen, dass diese Gruppe im Jugendtreff Ausgrenzungen erfährt. In den von mir getätigten Äußerungen zeigt sich indes ein normativer Gehalt, indem ich eine alternative Deutung einführe, der zufolge ich den Jungen, über den gesprochen wird, als sehr nett bezeichne. Diese Äußerung fließt in den ,Kampf‘ um die Aushandlung von Bedeutungen ein und führt dazu, dass Ed. den Jungen nicht mehr lediglich als ,komisch‘ und ,nervend‘ bezeichnet, sondern als ,auch wirklich ganz nett‘. In welche Richtung dieses Gespräch verlaufen wäre, wenn nicht eine alternative Deutung hinzugezogen worden wäre, bleibt offen. Auf die Fragen danach, wie sich Normen an Körpern materialisieren und diese nicht nur hervorbringen, sondern auch Rahmen der Bedingungen der Anerkennbarkeit im Jugendtreff abstecken, darauf wird in der Ausarbeitung der Dimension BeDeuten als Praktik fokussiert. 8.5.3

BeDeuten als (signifizierende) Praxis

Die Arbeiten von Judith Butler öffnen Perspektiven auf Konstruktionsweisen des Geschlechterkörpers, insbesondere auf die Verkörperung von Normen (siehe Kapitel 1.4.). So gilt ihre Genealogie der Analyse der Produktion sozialer Intelligibilitäten (vgl. Villa 2011, S. 150).479 Die Analysen fokussieren auf die Produktion ontologischer und machtvoller Kategorien.480 Kategorien erachtet sie deswegen als machtvoll, weil sie eine Welt erschaffen. Butler legt ihren Arbeiten die Annahme zugrunde, dass Begriffe wie ,Mann‘, ,Frau‘, körperliche Materie oder Geschlechtsidentitäten und keine objektiven Realitäten jenseits ihrer sozialen Konstruktionen darstellen (vgl. Villa 2011, S. 151). Basierend auf dieser These konzentriert sie sich auf diskursive Prozesse der Naturalisierung. So lässt sich pointieren, dass die Auf- und Ausführung des Erkennbaren die Natürlichkeit des Körperlichen erst diskursiv hervorbringt (vgl. Jergus 2012, S. 31). Körpertheoretisch sind ihre Arbeiten reizvoll, weil sie die Materie des Körpers nicht in einem ontologischen Sinn als natürlich, vorgängig und folglich auch nicht als Grundlage eines kulturellen Zeichensystems begreift, sondern davon ausgeht, dass innerhalb diesen Systems Materie mit bestimmten Bedeutungen überzogen wird. In Bezug auf Körper und diskursive Kategorien erschließt sich, dass deren Bedeutung nicht in den Dingen selbst liegt, sondern in historisch sedimentierten (und veränderbaren) Interpretationen (vgl. Villa 2011, S. 153). Dingen wohnt somit keine Bedeutung inne, es sind Diskurse, die das hervorbringen, was sie bezeichnen. Sie sind performativ und somit wirklichkeitskonstituierend. Anschließend an Butler lässt sich der Ebene des Symbolischen zuwenden und somit der diskursiv-sozialen Produktion von 479

480

Die Rechtsphilosophin formuliert ein Unbehagen an Identitätskategorien, an Begriffen, die individuelle oder kollektive Identitäten benennen. Sie legt dies als Setzungen aus, die die Stelle des ,Wirklichen‘ eingenommen haben (vgl. Butler 1991, S. 60). Dies wird insbesondere in Theorien zu Differenz entfaltet (vgl. weiterführend Kessl und Plößer 2012).

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Sinn und Normen, welche die Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz und des Körpers als Geschlechtskörper ermöglichen und zugleich beschränken (vgl. Villa 2011, S.153). Butler weist auf die performative Wirkkraft von Bezeichnungen hin. So gerät in den Blick, wie sich Normen an Körpern materialisieren und diesen somit hervorbringen. Mit dem von Judith Butler entwickelten performativen Ansatz lassen sich Körper als Produkte von Materialisierungsprozessen verstehen. Kulturelle Normen werden performativ durch und in körperlichen Praktiken verankert. 481 Die Materie des Körpers wird somit als die Wirkung einer Machtdynamik gefasst. Sie ist folglich zum einen nicht von regulierenden Normen zu trennen, die ihre Materialisierung beherrschen, zum anderen auch nicht von der Signifikation dieser materiellen Wirkungen (vgl. Butler 1993, S. 22). Bezugnehmend auf ihre Arbeiten lässt sich nachzeichnen, dass und in welcher Weise Körper in performativen Akten bedeutet werden. BeDeutungen fasst Butler als Interpretationen, die nicht von Sprache zu trennen sind. Die Macht von Sprache besteht indes darin, dass sie Sinn erzeugt und Bedeutung herstellt (vgl. Villa 2011, S. 153). Die auf Körper bezogenen Anreden im jugendpädagogischen Alltag lassen sich so als Praxen der Bedeutungsproduktion fassen. In diesen werden macht- und ungleichheitsrelevante Unterscheidungen resignifiziert. Für die Entfaltung der folgenden Sequenz sind die durch Butler in die Arbeit eingeführten dekonstruktivistischen Perspektiven aus dem Grund anschlussfähig, weil so in den Blick gerät, dass soziale Zuschreibungen, die entlang von Normen strukturiert sind, mithilfe performativer Praktiken durch ständige Wiederholungen in Körper eingeschrieben werden und diesen hervorbringen. Zugleich werden ungleichheitsrelevante Unterscheidungen resignifiziert. ,Nicht-Mann‘ Es wird nun eine Sequenz dargelegt, in der ich mit einer Praktikantin und zwei weiblichen Besucher*innen – die sich selber als die ,einzig Korrekten‘ ins Feld eingeführt haben – an einem Tisch sitze. Y. […] richtet sich an Ed.: „Du hast eine hübsche Jacke unter deinem Mantel“ (Es ist ein Leopardenblouson). Ed. richtet ihren Oberkörper stolz auf und zeigt auf ihr T-Shirt: „Das wollte auch schon P. haben, DER wollte sich das schon mal von mir ausleihen.“ Sie lacht und bewegt ihren Oberkörper wieder nach hinten. Jetzt sagt sie hämisch grinsend: „Dabei sieht der eh immer schon aus wie ‚ne Frau, der is‘ so dünn und dann die Haare und dann 481

Jergus (2012) zufolge geschehen Adressierungen entlang sozialer Kategorien wie Geschlecht oder Nationalität. Sie lassen sich als Identitätszumutungen perspektivieren. Auf diese Weise kommen Normen der Anerkennbarkeit in den Blick, innerhalb derer Subjekte hervorgebracht werden. Subjektivität geschieht innerhalb soziosymbolischer Formierungen. Dies führt auch zu der Frage nach der Veränderung von Normen, die den Bildungsgedanken mit dem Kritikgedanken verbindet (vgl. ebd., S. 43).

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse macht der seinen Parka auch immer so zu, echt, wie `ne Frau!“ (BP 10.02.2015, Z. 301-307)

Vorab ist anzumerken, dass Ed. sehr auffällig gekleidet ist. Durch ihren Kleidungsstil unterscheidet sie sich in besonderer Weise von den ,Stammgästen‘ und von den ,Vorzeigejugendlichen‘. Die Praktikantin nimmt in dieser Szene Bezug auf Ed.s körperliche Erscheinung und bezeichnet die Jacke, die die Besucherin unter ihrem Mantel trägt, als sehr schön. Die Jacke ist der Praktikantin scheinbar zuvor aufgefallen. Ed. richtet sich auf, sie freut sich scheinbar über das Lob. Sie zeigt nun weiter auf ihr TShirt. Es ist eng und figurbetont. Ed. berichtet, dass P. – ein Freund von ihr – das schon einmal ausleihen wollte. Die Geschlechtszugehörigkeit von P. als männlich gilt also vermeintlich als ursächlich dafür, dass er das T-Shirt entweder nicht schön, weil weiblich und nicht männlich finden sollte. Auf der Ebene des Körperlichen zeigt sich, dass Ed. belustigt darüber ist, dass DER sich das T-Shirt ausleihen wollte. Mit einem Grinsen, das ich als hämisch deute, führt sie fort, dass ,der eh immer schon wie `ne Frau aussähe‘. Damit zitiert Ed. spezifische auf Männlichkeit und Weiblichkeit bezogene Vorstellungen einer angemessenen – weil der Norm der Zweigeschlechtlichkeit entsprechenden – Inszenierung und Geschlechterdarstellung. Die Wirkmacht zweigeschlechtlicher Normen zeigt sich hier darin, dass ein männlicher Besucher aufgrund seiner körperlichen Inszenierung und einem spezifischen Gebrauch des Körpers als ,Nicht-Mann‘ bezeichnet wird. In der Szene erfahre ich Weiteres über P.s Inszenierung, die seine Positionierung als ,Nicht-Mann‘ unterstreicht: P. ist in der Sicht von Ed. sowieso schon ,so dünn‘ und ,nicht männlich’. Seine Haare sind scheinbar auffällig; in welcher Weise, wird in der Sequenz nicht deutlich, jedoch sind sie in ihrer dichotomen, zweigeschlechtlichen Wahrnehmung nicht männlich. Sein Parka, oder die Art und Weise wie er diesen trägt, entspricht scheinbar auch nicht Ed.s Vorstellungen eines als männlich zu konnotierenden Gebrauchs des Körpers. Ed. bezieht sich hier auf im Alltagsdiskurs verbreitete Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit und bezeichnet P.s Inszenierung als weiblich. Das Sprechen von Ed. lässt sich als machtvolle performative Praktik perspektivieren. Mittels dieser Ansprache erhält P. nicht nur eine Bezeichnung, welche seine Existenz ermöglicht,, sondern sie positioniert ihn zudem auch innerhalb der soziosymbolischen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit als ,Nicht-Mann‘.482 Aufgrund seiner körperlichen Inszenierung bleibt ihm eine anerkennbare Positionierung als Mann verwehrt. Die Bezeichnung, die P. von Ed. erfährt, lässt sich so als Bestandteil der symbolischen Kämpfe der Bedeutungsaushandlung im Jugendtreff perspektivieren, über die nicht nur Wertigkeiten, sondern auch die Möglichkeiten der Positionie-

482

Mit diesem Ausruf wird ihm eine soziale Identität im soziosymbolischen System der zweigeschlechtlichen Ordnung zugewiesen und darüber eine Ordnung, innerhalb derer die geschlechtliche Identität einen Sinn hat, inauguriert (vgl. Butler 2006, S. 52).

BeDeuten

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rung ausgehandelt werden. Dass Sprache verletzend wirkt und insbesondere missachtende Worte im Alltag als Praktik der Ausschließung fungieren, wird anhand der nachfolgenden Szene empirisch aufgezeigt. In dieser bezieht Ed. sich erneut auf P.. ,Voll die Pussy‘ In dieser Szene berichtet Ed. erneut über P., der sich eine Tätowierung hat stechen lassen. Scheinbar hat der Kreislauf von P. beim Anblick des Blutes versagt. Darüber macht Ed. sich lustig und bezeichnet P. aufgrund dessen nicht nur als Nicht-Mann, sondern als Pussy. Ed. hat die letzten Male so oft Witze erzählt, bei denen ich arg lachen musste. Ed. beugt sich zu uns und setzt ein wichtiges Gesicht auf: „Hm, ah, ich erzähl euch was Lustiges, aber das dürft ihr keinem sagen!“ Sie schaut sich um: „Also P., der hat sich ja `ne Tätowierung machen lassen und der is‘ echt voll die Pussy!“ Sie klopft mit der Hand auf den Tisch und lacht, lehnt sich zurück und dann wieder vor: „Der wollt sich ja hier und hier (dabei zeigt sie an ihrem Körper die Stellen, an denen P. sich tätowieren lassen wollte) Tattoos machen lassen und dann hat der am Handgelenk welche gemacht und er will sie ja an beiden Seiten und ich hab‘ ihm schon gesagt, ey, wenn du eins auf einer Seite gemacht hast, dann machst du kein anderes mehr, ich hab‘s ihm noch gesagt und dann liegt der so und steht nach dem ersten Tattoo auf, sieht das Blut. Sie macht eine bedeutungsvolle Pause, dabei schaut sie uns an, jede einzeln in der Runde am Tisch und sagt uuund (neue Pause) fällt um!“ Sie lacht, klopft nochmals auf den Tisch und ruft, als kriege sie sich nicht mehr ein vor Lachen: „Ey, voll die Pussy.“ L. schaut mich an und lächelt ganz schüchtern. Y. fragt: „Woher wisst ihr denn das?“ „Na, wir waren doch dabei“, rufen beide Mädchen gleichzeitig. Dann übernimmt Ed. wieder das Sprechen: „P. hat doch keine Ahnung, wie man das mit Tattoos macht. Der hat sich noch nicht mal das Blut abgewaschen. Dabei kommt nach ‚ner Tätowierung immer Blut und noch Farbe. Ey, der hat sogar damit geschlafen, ohne das abzuwaschen, wie hohl kann man denn sein!“ (BP 10.02.2015, Z. 285-301) Die Verwendung der Bezeichnung ,voll die Pussy‘ erweist sich als missachtende Ansprache, die in verletzender Weise auf die Würde des oder der Einzelnen zielt. Sie schafft zudem ein Ungleichgewicht zwischen Ed. als Sprecher*in und derjenigen Person, die damit adressiert wird (P.). P. wird mit dieser Bezeichnung die vollwertige Mitgliedschaft der Gruppe abgesprochen; und somit wird über die Macht der Sprache eine Form der Ausschließung bewirkt. Auf diese Weise werden zugleich Rahmen der Anerkennbarkeit ausgehandelt. In der Herabwürdigung von P. als ,Pussy‘ bedient sich Ed. eines Mechanismusses, der es ihr ermöglicht, eine Position im Bereich des Anerkennbaren einzunehmen.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

„So große Frauen sehen nicht so gut aus!“ Ein ähnliches Szenario zeigt sich in folgender Sequenz, die sich kurz nach der vorab aufgeführten Situationsbeschreibung ereignet. In derselben Konfiguration sitze ich mit zwei Besucher*innen und einer Praktikantin um einen Tisch im Jugendtreff. Wir reden über Filme. Ed.: „Da gibst so `n Film, den kennen auch alle. Die Frau is‘ ‘ne Nutte und lernt `nen Mann kennen, mit dem sie dann auch zusammenkommt.“ Ich: „Meinst du Pretty Woman?“ Ed.: „Ja ey, alle finden auch diese Frau so hübsch!“ Ich: „Julia Roberts?!“ L. (still und lächelnd): „Ich find die auch so hübsch!“ Y.: „Ja, die ist so richtig sexy!“ Ed. schaut uns entgeistert an: „Nee ey, guck die doch mal an, die is‘ voll groß, ey, die is ja größer als jeder Mann und dazu sieht doch aus wie ‚n Pferd.“ Kopfschüttelnd sagt sie: „Nee, das find ich echt nicht schön! So große Frauen sehen nicht so gut aus!“ (BP 10.02.2015, Z. 308-318) In ihren Erzählungen bezieht sich Ed. auf einen Film, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnert. Sie versucht dann, uns über die Beschreibung des Inhaltes auf den Film zu stoßen, über den sie reden möchte. Ich erkenne in ihrer Beschreibung den Film ,Pretty Woman‘. Ed. führt ein, dass scheinbar alle, wen sie mit ,alle‘ meint, bleibt unklar, diese Frau so hübsch finden. Die Frau erhält einen Namen, indem ich auf Julia Roberts verweise. L. positioniert sich auf der Seite derjenigen, die Julia Roberts als schön benennen. Auf die Bezeichnung des Schönseins bringt die Praktikantin Y.ein, dass sie Julia Roberts richtig sexy findet. Sie bezeichnet sie so als Objekt des Begehrens und assoziiert weibliche Schönheit mit sexueller Anziehungskraft. Die körperliche Reaktion von Ed. wird im Protokoll vermerkt und könnte eine Distanzierung von der Deutungsmacht über die Schönheit von Julia Roberts markieren. Wirk- und Geltungskraft beziehen ihre Aussagen dadurch, dass und warum Julia Roberts nicht schön ist über auf weibliche Körper bezogene Normen. Darin zeigen sich auf weibliche Schönheit bezogene Norm(-alitäts-) vorstellungen, denen Julia Roberts scheinbar aus Ed.s Sicht nicht entspricht. In performativer Praxis bezeichnet Ed. Julia Roberts als zu groß um schön zu sein, sogar größer als jeder Mann. Weibliche Schönheit zeichnet sich ihrer Meinung nach also eher dadurch aus, dass Frauen nicht so groß sein sollten und schon gar nicht größer als Männer. Leider führt Ed. nicht weiter aus, warum Julia Roberts wie ein Pferd aussieht; möglicherweise bezieht sich Ed. auf das als ,breit‘ wahrnehmbare Lächeln, das auf vielen Bildern und in vielen Filmen von Julia Roberts zu sehen ist. Die Geste des Kopfschüttelns unterstreicht die Wirkung der Rede, sie unterstreicht die verneinende Haltung gegenüber der Schönheit von weiblichen Körpern. Zu großen Frauenkörpern werden folglich spezifische Bedeutungen zugewiesen. Mit diesem Ausruf wird jedoch nicht lediglich die soziale Identität im soziosymbolischen System der zweigeschlechtlichen Ordnung zugewiesen und

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hervorgebracht, sondern auch eine Ordnung, innerhalb derer die geschlechtliche Identität einen Sinn hat, inauguriert (vgl. Butler 2006, S. 52). ,Das sind so Zigener und so‘‘ Diese Perspektiven auf die Verhältnishaftigkeit von Körpern und Normen kann auch mit der Kategorie Ethnizität in Verbindung gebracht werden. Normen, Konventionen und Diskurse bestimmen, was unter Kultur, Nation und Ethnizität verstanden und in performativer Praxis zitiert, was als natio-ethno-kulturell markierter Körper wahrgenommen wird (vgl. Mecheril 2003). Sie haben sich historisch sedimentiert und in Körpern habitualisiert. Dies soll die folgende Sequenz verdeutlichen. An der Tür der Theke stehen B. und ein weiterer Junge, dessen Name ich noch nicht kenne. Sie essen die Teigtaschen, die die Praktikantin Y. gebacken und zum freien Verzehr auf die Theke gestellt hat; sie reden über Jugendliche aus dem Treff, die sich zu der Zeit am Billardtisch aufhalten. Ich höre sie sagen: „Das sind so Zigeuner und so. Die sind voll assi.“ Als ich das höre, sage ich: „Das sagt man so nicht, eher Sinti und Roma.“ P. (Mitarbeiterin) nickt. Die Jungs äffen uns mit einer Grimasse nach und sagen metallisch: „Sinti und Roma, Sinti und Roma“. Dabei ziehen sie Grimassen. (BP 13.01.2014, Z. 350-354) Die Figur des Zigeuners wird im Verlauf dieser Arbeit in vielfältigen Bezügen aufgegriffen, da sie sich als bedeutungs- und machtvoll im Offenen Kinder- und Jugendtreff herausgestellt hat. Mit ihr lässt sich in besonderer Weise nachzeichnen, wie über Körper Ein- und Ausschluss Einzelner und von Gruppen im Offenen Kinder- und Jugendtreff hergestellt wird. Die Gruppe der Zigeuner bildet hier die Randständigen. Die Rekonstruktionen dieser Figur lässt in besonderer Weise auf dahinterstehende Normalitäts- und Ordnungsvorstellungen der Besucher*innen des Offenen Kinderund Jugendtreffs schließen. In die Entfaltung dieser Sequenz fließen Erkenntnisse der Auswertung anderer Sequenzen, in denen die Figur des Zigeuners verhandelt wurde, ein. Ich stehe mit einigen Jungen an der Theke. Die Praktikantin Y. hat Teigtaschen zubereitet und auf die Theke gestellt, damit alle sich daran bedienen können. Ich bekomme zunächst nur Fetzen des Gespräches mit, in dem es um andere Besucher – sie reden von männlichen Besuchern – geht. Ich höre sie sagen, dass ,so Zigeuner assi sind‘. Vorstellungen von, sowie Wissen über Kultur, Nation und Ethnizität sind in diffuser Weise miteinander verknüpft und finden ihre Zuspitzung in der Bezeichnung

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

des ,asozial Seins‘. Die sprechenden Jungen sind zudem als ,Wir‘-Einheiten strukturiert (vgl. Machold 2015, S. 75).483 Sie grenzen sich als Albaner als Nicht-Zigeuner ab (ich weiß von allen Jungen, die an dieser Situation teilnehmen, dass sie aus Albanien stammen). Konstituiert wird hier eine (Menschen-) Gruppe vermeintlich natio-ethnokultureller Andersartigkeit, die die Bezeichnung des ,assi‘ -Seins erfährt. Hier sind es Imaginationen, aus denen sich die Vorstellungen über Zigeuner speisen. Als solche bringen sie Unterscheidungen zwischen natio-ethno-kulturell intelligiblen und nichtintelligiblen Körpern hervor. Sie regulieren ferner den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen (vgl. Machold 2015, S. 75). Dabei sind diese Unterscheidungen machtvoll und mit der Legitimation von Herrschaft verbunden.484 Auf diese Weise wird der Gruppe der ,Zigeuner‘ im Jugendtreff eine Wesenshaftigkeit zugeschrieben und sie werden darüber hinaus in machtvoller Weise in einer untergeordneten und weniger privilegierten Position in der soziosymbolischen Ordnung positioniert. Diese Zuschreibung erfährt von mir einen pädagogisierenden Zugriff, dem scheinbar die Norm nicht rassistisch sein zu wollen, zugrunde liegt. Ich merke an, dass man das so nicht sagt und führe einen anderen Begriff ein. Dabei versuche ich, nicht-diskriminierende Ansprachen zu formulieren und sie den Jungen nahe zu legen. Die Jungs ,äffen‘ meine Ansprache nach, sie ziehen Grimassen. 485 Sie wiederholen die Begriffe ,Sinti und Roma, Sinti und Roma‘. Damit setzen sie nicht ihre Äußerung außer Kraft oder stellen diese infrage, sie widersetzen sich auch nicht meiner Aussage, sondern parodieren lediglich meine Ansprache, indem sie sie ,nachäffen‘. Verächtlichmachung, Herabwürdigung und Verletzung Anhand der Präsentation der nachfolgenden Szene wird in besonderer Weise verdeutlicht, dass Anreden und Sprechen als machtvolle Praktiken in den Blick zu nehmen sind, durch die Personen eine Position in der soziosymbolischen Ordnung zugewiesen bekommen und dabei gleichzeitig die Frage nach der Anerkennbarkeit und

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Insofern machen diese Vorstellungen keine Wesenshaftigkeit von z.B. als nicht-deutsch positionierten Individuen aus. Sie zeigen lediglich Vorstellungen, Ideen und Glauben über ihre Wesenhaftigkeit auf (vgl. Machold 2015, S. 75). Folglich sind es Imaginationen und Fantasien, die die Wirkmächtigkeit hervorbringen und legitimieren (vgl. Machold 2015, S. 75). Dies wird deutlicher, wenn man eine rassismuskritische Perspektive anlegt. In den Blick kommen dann nicht nur Unterscheidungen, welche explizit zwischen einem rassialisierten Wir (,weiß‘) und nicht-Wir (,schwarz‘) unterscheiden, und so auf Rassevorstellungen zurückgreifen. Auch natio-ethnokulturelle Zugehörigkeit kann so selber als rassismusrelevant verstanden werden. Sie wirkt fort als Teil eines gesellschaftlich wirksamen Macht- und Herrschaftsverhältnisses, welches als Strukturkategorie sowohl den Zugang zu Ressourcen über Ethnizität und ,Rasse‘ reguliert als auch subjektiviert (vgl. Mecheril und Melter 2009) und überdies die Idee von Rasse unter einem anderen Namen, wie etwa Kultur, fortwirkt (vgl. Machold 2015, S. 75-76). In diesem Moment positioniere ich mich als Pädagogin und adressiere die Jungen normierend. Zu reflektieren ist hier auch, dass ich somit eine Normierungspraktik vollziehe.

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ihren Bedingungen aufgeworfen wird.486 Ich sitze mit einigen Mädchen in der vorderen Sofaecke. Wir unterhalten uns über Gesang. Dass O. sehr gut singen kann und sie dafür von vielen Mädchen bewundert wird, erfahre ich vorab. In dem Moment kommen zwei Mädchen von draußen (vor der Tür) vom Rauchen zurück: „Wir haben das Video“, kreischen sie und halten ein Smartphone hoch. O. schubst dieses Mädchen aufs Sofa, sie liegen nun aufeinander und lachen. „Lass das“, ruft O. Sie möchte scheinbar nicht, dass ich das Video sehe, auf dem sie singt. Ein Mädchen ruft und blickt mich an: „Soll ich mal was zeigen. Ich höre türkische Musik!“ Sie hält mir ihr Smartphone hin. Ich sehe kurz eine Bauchtänzerin auf dem Display. Die Mädchen rufen: „Ey, was ist die für ein Mensch, Alter?“ Die ist voll fett und wie kann sie sowas machen?“ Alle lachen, eine ruft nochmal: „Was ist die für ein Mensch, sieht so aus und zeigt sich SO!“ Wieder stehen ein paar Mädchen auf, ziehen sich Zigaretten aus der Tasche und gehen raus, bzw. irgendwie schieben sie sich hinaus. (BP 9.12.2014, Z: 194-203) Eines der Mädchen möchte mir ein Video zeigen, auf dem O. zu sehen und zu hören ist. O. möchte das scheinbar nicht und bittet die Inhaberin des Smartphones, mir das Video nicht zu zeigen. In dem Moment schaltet sich ein Mädchen ein, sie möchte mir zeigen, dass sie türkische Musik hört. Sie ruft ein Video auf und präsentiert es mir. Die anderen Mädchen, die mit mir im Kreis sitzen, bekommen das Video ebenso zu sehen, bevor ich einen Blick darauf werfen kann. Der in dem Video gezeigt Körper der Frau wird von den Mädchen als fett wahrgenommen und bezeichnet und darüber in der soziosymbolischen Ordnung positioniert. Erfährt der Körper der Frau zunächst die missachtende Ansprache „Ey, was ist die für ein Mensch, Alter? Die ist voll fett und wie kann sie sowas machen?“, so unterstreicht der erneute Ausruf „Was ist die für ein Mensch, sieht so aus und zeigt sich SO!“ die ,Nicht-Normalität‘ und ,Nicht-Anerkennbarkeit‘ eines Frauenkörpers, der den (Geschlechter-) Normen dieser Gruppe nicht entspricht. Hier zeigt sich die Wirkmächtigkeit einer normativen Differenz zwischen ,anerkennbar‘ auf der einen – und ,nicht-anerkennbar ‘ auf der anderen Seite. Zu berücksichtigen ist, dass auch diese Anrede Existenz verleiht. Auch diskriminierendes und verletzendes Sprechen konstituiert Subjekte – unbesehen der inhaltlichen Füllungen –, es ermöglicht Subjekten Existenz, indem es ihnen einen Platz in der soziosymbolischen Ordnung zuweist (vgl. Jergus 2012, S. 39). So pointiert Butler (2006): „Angesprochen zu werden bedeutet

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Indem soziale Kategorien als Identitätszumutungen gefasst und reflektiert werden, kommen Normen der Anerkennbarkeit in den Blick, in denen Subjekte konstituiert werden. Eine machtvolle Perspektive auf die Konstitution von Subjekten lässt sich insbesondere anhand geschlechtlicher, ethnischer, nationaler oder körperlicher Subjektivierungsweisen verdeutlichen (vgl. Jergus 2012, S. 45).

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

also nicht nur, in dem was man bereits ist anerkannt zu werden; sondern jene Bezeichnung zu erhalten, durch die die Anerkennung der eigenen Existenz möglich wird“ (vgl. ebd. S. 15). In dieser Szene wird jedoch auch erkennbar, dass nicht lediglich der Körper, sondern das Menschsein der Frau infrage gestellt wird. Der als fett markierte Körper erfährt missachtende Ansprachen, die an dieser Stelle als Verächtlichmachung auslegbar sind. Darin werden zudem normative Vorstellungen erkennbar, über die Ausschließung auf der symbolischen Ebene verhandelt wird. Es lässt sich bündeln: Die Norm sortiert, sie formiert Bereiche des Ein- und Ausgeschlossenen, des Intelligiblen- und Nicht Intelligiblen.487 Sie schafft Zonen der Bewohnbarkeit, genauso wie sie Zonen der Unbewohnbarkeit oder gar der gefürchteten Identitäten schafft. Damit sind jene nicht lebbaren Zonen des sozialen Lebens gemeint, die das konstitutive und verwerfliche Außen darstellen. Sie geben die definitorische Grenze für den Bereich des (körperlichen) Subjekts ab. Dem Verhältnis von Normen und Körpern ist überdies die Frage der Anerkennung beziehungsweise der Anerkennbarkeit inhärent. Die vorangestellten Überlegungen lassen erkennbar werden, dass die Macht von (Geschlechter-) Normen nun darin liegt, dass sie bestimmte körperliche Seinsweisen ermöglicht, genauso wie sie andere ausschließt. In einer solchen Perspektive lassen sich Normen als eine spezifische Begrenzung von Daseinsmöglichkeiten lesen, da sie Jugendliche als Mädchen oder als Frauen, als Jungen oder als Männer ansprechen und sie zu der Entfaltung einer bestimmten Seinsweise nötigen und dabei andere Möglichkeiten ausschließen oder sozial nicht lebbar machen (vgl. Abraham 2011, S. 242).488 Mit der skandalisierenden Kommentierung, die die Körperdarstellung der Frau auf dem Musikvideo von den Mädchen erfährt, wird nicht nur Ausschluss produziert, sondern vielmehr sind die Mädchen daran beteiligt, die Möglichkeiten der Ordnungen der Anerkennbarkeit sowie deren Grenzen aufzuführen, zu wiederholen oder fortzuführen. Im nachstehenden Part werden die zentralen Erkenntnisse, die die Interpretation der Sequenzen offen gelegt haben, gebündelt und diskutiert. 8.5.4

Körper BeDeuten – Diskussion

Die Entfaltung der Dimensionen der Kategorie ,Körper BeDeuten‘ diente dazu, anhand des empirischen Materials aufzuzeigen, wie sich Kategorien sozialer Ungleichheit (einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse) an Körpern materialisieren und wie körperbezogene Unterscheidungen im Alltag des Jugendtreffs insbesondere zwischen

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An poststrukturalistische Deutungen anschließend lassen sich Geschlechternormen als konstitutiv für die BeDeutung von Körpern markieren. Menschen sind nämlich in einer solchen Perspektive darauf angewiesen, den jeweiligen Normen – Körper-Normen – zu entsprechen um als Subjekte anerkannt zu werden. Darin zeigt sich Macht als eine zentrale Dimension in diesem Zugang. Wie Jugendliche das erleben, lässt sich durch die Arbeit nicht beantworten.

BeDeuten

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den Besucher*innen bezeichnet und bewertet werden. Insgesamt ist für diese Kategorie bewusst zu halten, dass sich die Herstellungen von Bedeutungen auf der Ebene des Symbolischen, der Semantiken vollzieht, die jedoch in sozialen Interaktionen zum Tragen kommen. Dafür wurde der analytische Blick in ,Körper BeDeuten‘ eben nicht lediglich auf die sozialen Kategorien oder Unterscheidungen gelegt, sondern auf dahinterstehende Klassifikationen und Normen, die – eingedenk der Inkorporation gesellschaftlicher Verhältnisse – von gesellschaftlichen Ordnungen und Teilungen durchdrungen sind. Orientiert wurde sich zunächst an den in den ersten Kapiteln zusammengeführten theoretischen Begriffen und Zusammenhängen. In die Lesarten, die in Körper BeDeuten entfaltet wurden, fließen primär dekonstruktivistische Perspektiven ein. Diese zielen in besonderer Weise darauf, in welcher Weise Körper kategorisiert und bewertet werden. Entsprechend sind sie auf der Ebene des Symbolischen, der Semantiken, zu verorten. Durch die Zusammenführung der unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Positionierungen ist es dann möglich, die Dekonstruktion von (binären) Zuschreibungen mit einer Problematisierung ihrer Effekte im jugendpädagogischen Alltag zu verbinden.489 Auf diese Weise werden Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik zusammengehalten (vgl. Wollrad et al. 2010). Als Effekte gelten sodann Ein- und Ausschlüsse, die auf der sozialen Ebene der Praktiken ausgehandelt werden. Vorab sollen jedoch die gewonnenen Erkenntnisse der Kategorie Körper BeDeuten gebündelt werden. In einem ersten Schritt wurde der Blick darauf fokussiert, dass inkorporierte gesellschaftliche Teilungsprinzipien in der Wahrnehmung der sozialen Akteur*innen im Jugendtreff eingelagert sind und darüber Gruppen innerhalb des Jugendtreffs konstruiert werden. Ferner richtete sich der Blick auf am Körper ansetzende Klassifikationen, die in einer an Pierre Bourdieu orientierten Sichtweise als Resultat der Inkorporation sozialer Strukturen, einschließlich ihrer Ordnungsmuster, gelten. Auf einige Ordnungsmuster konnte durch die Rekonstruktion von Klassifikationen geschlossen werden. Sie zeigten sich in Formen von Bewertungen und Bezeichnungen im Alltag. In den Blick gerieten somit Prozesse des Klassifizierens innerhalb von Praktiken sowie die darin wirksam werdenden Normen und Stereotype. Negative Klassifikationen, dies konnte gezeigt werden, wirken als stigmatisierende Elemente der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit, über die Ein- und Ausschlüsse vollzogen werden. Klassifikationen gelten dort als machtvolle positionierende Praktiken im Kontext der soziosymbolischen Ordnung. Sie tendieren dazu, Personen oder Gruppen innerhalb des Jugendtreffs abzuwerten und sie darüber hinaus symbolisch von der vollwertigen Zugehörigkeit im Jugendtreff auszuschließen. In den alltäglichen Prak489

Diese Facetten werden in den Kategorien Körper im Einsatz I und II anhand des empirischen Materials veranschaulicht.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

tiken von Besucher*innen des Jugendtreffs werden in einer solchen Perspektive symbolische Kämpfe erkennbar, in denen nicht nur über das symbolische Kapital der Anerkennung, sondern auch über Kriterien der Zugehörigkeit verhandelt wird. Diese wiederum präformieren dann die Möglichkeiten der Positionierung der Akteur*innen.490 Innerhalb der Praktiken im Jugendtreff kommen Ressourcen zum Tragen, die nicht nur ungleich strukturiert sind. Sie bringen auch Hierarchie, Ungleichheit und Dominanz zum Ausdruck, denn die Ressourcen sind weder neutral noch gleichwertig, sie sind vor ihrer Verwendung semantisch als ungleich kodiert. Und hier kommen Normen ins Spiel. Diese wurden bezugnehmend auf poststrukturalistische Perspektiven von Butler und Foucault präsentiert und gedeutet. Die Diskussion dieser Sequenzen zeigt auf, dass die Materialität des Körpers durch Sprache hergestellt wird.491 Die Arbeiten von Foucault zeigen erstens, dass Normen dichotom entlang ,normal‘ und ,davon abweichend‘ organisiert sind und dass daran Körper orientiert werden. Die Darlegung der Dimension von BeDeuten als wahr-sprechen ermöglicht es, in den im Körper verankerten habitualisierten Wahrnehmungsschemata gesellschaftliche Normen zu erkennen, die entlang der Dichotomie ,normal‘ und ,abweichend‘ organisiert sind. Bedeutungen werden ausgehandelt, indem sie wahr gesprochen werden. Diese Wahr-Sprechungen sind somit als machtvoller Prozess der Aushandlung von Bedeutung zu verstehen. Über die Verwendung von Bezeichnungen und Bewertungen werden gesellschaftliche Normen im Alltag des Jugendtreffs stabilisiert und somit Verhältnisse von ,normal‘ und ,davon-abweichend‘ hergestellt. Darüber hinausgehend werden durch das ,Wahr-Sprechen‘ von Bedeutungen im konkreten Ort des Jugendtreffs Kriterien der (Nicht-) Zugehörigkeit ausgehandelt. Auf die Beantwortung der Frage danach, wie sich Unterscheidungen als körperliche Differenzen materialisieren, wird in einem dritten Schritt die Dimension BeDeuten als Praxis ausgearbeitet. Innerhalb dieser werden Differenzen resignifiziert und so bestehende Normen zitiert. Insofern Bezeichnungen Personen/Subjekten eine Position in einer soziosymbolischen Ordnung zuweisen, lassen sie sich als machtvolle und positionierende Praktik perspektivieren. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass 490

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Dass sich die Frage der Zugehörigkeit auch im Hinblick auf soziale Ungleichheit, auf den Zugang zu sozial relevanten Gütern und der Handlungsfähigkeit stellt, greift insbesondere Sighard Neckel auf. So markiert er Zugehörigkeiten als eine Dimension relationaler Beziehungsungleichheiten. Neben materieller Verteilungsungleichheit stelle diese eine zweite Grundform sozialer Teilungen dar und somit seien differente Zugehörigkeiten genauso von Belang wie die Verteilung des sozialen Kapitals (vgl. Neckel 2003, S. 161). Villa (2011) zufolge sind jedoch Machtverhältnisse die Grundlage strukturierter sozialer Ungleichheit (vgl. Kreckel 1997, S. 69). Das heißt, dass Machtverhältnisse den Umgang, die Nutzung und die Aneignung der Bedingungen sozialen Handelns – und so auch von Wissen und Sprache – strukturieren (vgl. Villa 2011, S. 149).

Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben

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über Praktiken der BeDeutung von Körpern im Kontext sozialer und sozialpädagogischer Wirklichkeitskonstruktionen soziale Ungleichheiten reproduziert und zudem Ein- und Ausschlüsse von bestimmten Personen(gruppen) generiert werden. Indem Körper BeDeutungen erfahren, werden auch Kriterien von (Nicht-) Zugehörigkeit im Kontext des Offenen Jugendtreffs ausgehandelt und somit auf Ausschließung gerichtete Kategorien produziert. Folglich können Prozesse der Ein- und Ausschließung im Offenen Kinder- und Jugendtreff sowohl als Resultat inkorporierter sozialer Teilungsprinzipien sowie als Ausdruck für eine an spezifischen Normen und Unterscheidungen ausgerichtete soziale Ordnung betrachtet werden. In der Entfaltung der Kategorie Körper im Einsatz I, die im Mittelpunkt der anschließenden Ausführungen steht, wird nach den Folgen dieser Konstruktionen im jugendpädagogischen Alltag gefragt. Somit wird eher eine gesellschaftskritische Haltung eingenommen und sich der sozialen Dimension von Praktiken der Ein- und Ausschließung im Offenen Kinder- und Jugendtreff angenähert. Auf diese Weise rücken die lokalen und situierten Praktiken der Akteur*innen innerhalb des Jugendtreffs in den Blick, innerhalb derer die Bedeutungen und Bewertungen die Körper von Einzelnen oder von Gruppen erfahren, wirkungsvoll werden. 8.6

Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben

Die Darstellung der Kategorie Körper im Einsatz I492 hebt auf eine Annäherung an die Frage danach ab, wie im Offenen Kinder- und Jugendtreff über Körper Ein- und Ausschluss auf sozialer Ebene ausgehandelt wird. Dieser Zusammenhang wird dabei am empirischen Material konkretisiert. Überdies soll die Bedeutung des Körperlichen im jugendpädagogischen Alltag in ihrer Vielfalt erschlossen werden. Die Kategorie wird in Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben sowie Körper im Einsatz II – Körper der Nicht-Zugehörigkeit systematisiert und diese wiederum in verschiedene Dimensionen differenziert.493 Innerhalb der Darstellung dieser Kategorie wird primär eine adressat*innenorientierte Perspektive eingenommen und der Fokus zu Beginn auf die sozialen Praktiken der Besucher*innen des Jugendtreffs gerichtet. Es lässt sich zeigen, dass Jugendliche ihre Körper im Dienste der sozialen Positionierung in verschiedenen Arten und Weisen einsetzen. Ein Jugendtreff ist ein Ort, an dem diese Facetten Ausdruck finden. Körperlichkeit gilt indes als spezifisches Merkmal für die Lebensphase der Jugend. So setzen insbesondere Jugendliche ihre Körper in vielfältigen Arten und Weisen ein – 492 493

Die Formulierung der Kategorie ist angelehnt an Machold (2015). Für die Generierung und Auswertung dieser Kategorie waren mitunter folgende Fragen leitend: Wie positionieren Jugendliche sich im Treff? Wie werden Körper dabei eingesetzt? Welche körperbezogenen Unterscheidungskategorien werden dabei bedeutungsvoll? Was bewirkt die Bedeutsamkeit von Körpern situativ? Welche Körper werden ein- und ausgeschlossen und welche Ordnungsmuster zeigen sich darin? Wie werden darüber Ein- und Ausschlüsse im Jugendtreff ausgehandelt?

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

so beispielsweise durch Praktiken der Bearbeitungen und Inszenierungen (Schminke und Kleidung), Tanz oder Sport, Chillen oder Rauchen – und dies nicht zuletzt um Zugehörigkeit zu und Abgrenzung von Anderen und Gruppen im Jugendtreff herzustellen. Dass dies zentrale Themen der Jugend markieren, legen etwa jugendtheoretische Debatten nahe (Kapitel 4.). Im Dienste der Inszenierung werden Körper bearbeitet, gestaltet und in bestimmter Art und Weise eingesetzt. Der jugendpädagogische Alltag bietet dafür vielfältige Möglichkeiten. Zum einen ist beobachtbar, dass alle Besucher*innen sehr viel Wert auf ihre körperliche Inszenierung legen. Dafür bearbeiten sie ihre Körper, indem sie sie schminken, piercen, tätowieren, bekleiden oder über Sport in eine spezielle Form bringen. Zum anderen finden Körper Einsatz im Sport, im Tanz oder bei Spielen. Diese Praktiken stellen hervorragende Anschauungsfelder dar, um Körperpraktiken von Jugendlichen im Offenen Kinder- und Jugendtreff als zentralen Bestandteil sozialer Praktiken zur Diskussion zu stellen. Für die folgenden Auseinandersetzungen gilt die Annahme grundlegend, dass diese alltäglichen Praktiken höchst soziale Angelegenheiten darstellen. Körperpraktiken von Jugendlichen werden fortan als Praktiken sozialer Positionierung perspektiviert, über die sie soziale Zugehörigkeit(en) zu Gruppen innerhalb des Jugendtreffs aushandeln. Zugleich verspricht eine als ,angemessen‘ geltende Inszenierung Anerkennung innerhalb der Gruppen und darüber hinausgehend die Einnahme einer legitimen und anerkennbaren Positionierung im Alltag des Offenen Kinder- und Jugendtreffs. Körperliche Inszenierungen sind dabei erstens nicht eindeutig, denn in ihnen verschränken sich verschiedene Unterscheidungen, wie zum Beispiel Geschlecht und Klasse. Die Verschränkung von Unterscheidungskategorien wird am Körper sichtbar. Wenn junge Männer sich etwa als Jugendliche präsentieren, dann enthält ihre Konstruktion von Jugendlichkeit ein vergeschlechtlichtes Moment. Bezugnehmend auf Konzepte der Körpersoziologie lassen sich Inszenierungen des Körpers zweitens zum einen als Praktiken auslegen, in denen der Körper als Kapital zum Einsatz kommt. Darüber hinausgehend werden alltägliche Interaktionen als Kämpfe um soziale Positionen und Anerkennung betrachtbar. Zum anderen können sie als ,Technologien des Selbst‘ diskutiert werden. Insofern in den unterschiedlichen Gestaltungen des Körpers spezifische Normalitätserwartungen Relevanz erfahren, werden in Praktiken von Jugendlichen nicht nur die Frage der Anerkennung, sondern auch die Rahmen der Anerkennbarkeit verhandelt. Anerkennung erlangen die Körper, die im Jugendtreff eine sozial akzeptierte und anerkannte (und somit auch potenziell anerkennbare) Form angenommen haben. Damit rückt ein eher strategisches Moment in den Blick. Dass damit einher auch Ein- und Ausschlüsse gehen, wird auf Basis des Datenmaterials ebenso herausgearbeitet.

Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben

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In Körper im Einsatz I werden beobachtbare Praktiken innerhalb des Jugendtreffs rekonstruiert, mit denen die Besucher*innen sich in spezifischen Weisen zu sehen geben, sei es über die Inszenierung ihrer Körper oder aber über Praktiken wie Tanz, Sport oder Abhängen. Bezugnehmend auf Konzepte der Körpersoziologie werden Praktiken, mit denen Jugendliche ,sich zu sehen geben‘, zunächst als Praktiken der Distinktion perspektiviert, in denen der Körper als Kapital eingesetzt wird. Diese Dimension wurde mit dem Begriff der Verwertung versehen. Die Diskussion der Dimension Führung orientiert sich an den Arbeiten von Foucault, der individuelle Körperarbeit als Technologien des Selbst theoretisiert (vgl. Kapitel 1.3.).494 In der Dimension vergleichende Prüfung wird diskutiert, dass sich Jugendliche innerhalb von Gruppen der Anerkennbarkeit ihrer Inszenierung vergewissern, nicht zuletzt um ein ,Scheitern‘ ihrer Positionierung zu verhindern. Auch in die Präsentation dieser Kategorie fließen die Begriffe und Zusammenhänge der theoretischen Analyse des ersten Kapitels ein. An Fragen nach Ein- und Ausschließung sind diese Facetten insofern anschlussfähig, als dass der Einsatz des Körpers darüber entscheidet, ob Einzelne in manche Gruppen als zugehörig eingeschlossen werden und andere wiederum nicht. Dass Jugendliche im konkreten Tun im jugendpädagogischen Alltag ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen innerhalb des Jugendtreffs repräsentieren und darüber Einund Ausschlüsse verhandeln, wird in der Kategorie Körper im Einsatz II diskutiert. 8.6.1

Körper zu sehen geben – ,Verwertung‘

Der Körper ist das Medium, über das Jugendliche am meisten Verfügungsmacht haben (vgl. Stauber 2004) und nicht zuletzt unterliegt er deswegen im Alltag diversen Praktiken der Bearbeitung. Über die Gestaltung und Inszenierung ihrer Körper stellen Jugendliche Zugehörigkeiten und Abgrenzungen her. Wirkmächtig werden darin in besonderer Weise körperästhetische Normen von Schönheit und Attraktivität. Erkenntnisbringend können hierfür zunächst die Arbeiten von Bourdieu (siehe Kapitel 1.2.) genutzt werden. Erstens bieten sie die Möglichkeit, den Körper als Kapital zu perspektivieren. Die Investitionen in das ‚körperliche Kapital‘ vermitteln indes erziel, spür- und sichtbare Erfolge wie soziale Anerkennung und Selbstvergewisserung (vgl. Penz 2010). Im Rahmen eines solchen Verständnisses gelten gerade körperliche Interaktionen sowie Selbstinszenierungen des Körpers als einer der auffälligsten Schauplätze sozialer Distinktionsprozesse (vgl. Alkemeyer 1995, S. 23). Zweitens und darüber hinausgehend lassen der Körper und dessen Inszenierungen Aufschlüsse über die soziale ,Klassenzugehörigkeit‘ der Besucher*innen des Jugendtreffs zu. So repräsentiert er die sozialen Bezüge, in denen er agiert (siehe dazu auch Kapitel 1.2.).

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Die unterschiedlichen Ansätze treffen sich jedoch in der Annahme, dass diese Praktiken der sozialen Positionierung dienen. Körperliche Praktiken werden somit in der Arbeit als Praktiken der sozialen Positionierung verstanden.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Während der gesamten Beobachtungszeit formierte sich ein eher einheitliches Bild von den Bekleidungspraktiken der unterschiedlichen Besucher*innen des Jugendtreffs, insbesondere von denjenigen, die den Stammgästen zugeordnet werden. In Bezug auf die Bearbeitung und Inszenierung des Körpers orientieren sich die Jugendlichen zum einen an sozial vermittelten und gegenwärtig populären Körperbildern. Zudem erfahren diese Körperbilder auch feld- und gruppenspezifische Relevanz. Im Offenen Kinder- und Jugendtreff herrschen folglich unterschiedliche Stilcodes und Bekleidungsregeln, die hinsichtlich der Frage der Positionierung innerhalb einer Gruppe virulent werden. Indem Jugendliche sich gemäß dieser Kleiderordnung inszenieren, positionieren sie sich in einer spezifischen Art und Weise als zugehörig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ihnen dafür unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung stehen. Davon, wie viele der weiblichen Besucher*innen ihren Körper präsentieren, wird in den folgenden Ausführungen ein Bild portraitiert: Viele der Mädchen tragen enge Leggings, Ugg-boots oder Sneakers, dazu figurbetonte Daunen-, kurze Lederjacken oder enge Parkas. Fast alle dieser Mädchen haben lange Haare und sind recht aufwändig geschminkt. Es lassen sich vielfältige Situationen anführen, in denen sich die Besucher*innen über ihr Aussehen und dessen Wirkung unterhalten oder in denen sie in ihren Smartphones Körperbilder ansehen und sich darüber austauschen. Dies lässt den Schluss zu, dass sie sich an öffentlichen Körperbildern orientieren und sie ihre Körper dementsprechend gestalten. Die Verinnerlichung dieser ästhetischen Normen, die ebenso als Klassifikationsschemata zu deuten sind, lässt sich auch als Inkorporation und Habitualisierung thematisieren. Gleichsam stellt sie eine Form symbolischer Herrschaft dar, eine Herrschaft, die kraft der Inkorporation Wirksamkeit entfaltet. Einige der Mädchen teilen sich auch gegenseitig mit, wann für sie eine körperliche Inszenierung ,schön‘ aussieht. Im Anschluss an die ungleichheits- und klassentheoretischen Überlegungen von Bourdieu ist Schönheit als Statuskategorie mit Macht verbunden, Schönheit verkörpert kulturelles Kapital und damit objektive soziale Verhältnisse. Es kann jedoch auch fehlendes ökonomisches und kulturelles Kapital kompensieren (vgl. Degele 2017, S. 116). Dass Schönheit nach dem Blick der Anderen verlangt und sie somit keine Privatsache ist, sondern Kommunikation und Interaktion herstellt, darauf weist Degele (2017) ausdrücklich hin (vgl. ebd., S. 115). Im Hinblick auf die Verhandlung weiblicher Körperschönheit wird auch die Frage nach Geschlechtlichkeit virulent. Dass sich Praktiken, in denen Jugendliche ihre Körper gezielt einsetzen als prekäre Praktiken der Sozialen Positionierung über den Körper deuten lassen, kann exemplarisch an den Schminkpraktiken der Mädchen veranschaulicht werden.

Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben

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Zu-sehen -geben: Sich-schön-machen Sh. geht mit dem Glätteeisen auf die Toilette. Als sie kurze Zeit später zurück kommt, sind ihre Lippen sichtbar neu nachgezogen und die Haare offen und voluminös, vorher hatte sie einen Dutt. Ich pfeife und ziehe die Augenbrauen hoch. Sh. kichert und sagt: „Die Jungs kommen doch gleich!“ (BP 5.03.2015, Z. 199-202) Ich kann erkennen, dass Sh. nach ihrem Toilettengang neu geschminkt und anders frisiert in den Offenen Bereich zurückkehrt. Die Praktik des Schminkens lässt sich als dekorative Praktik und auch als Praktik der Sinngebung auslegen. Begreift man die alltäglichen Auseinandersetzungen von Jugendlichen als soziale und symbolische Kämpfe, dann lässt sich das ,Sich schön machen‘ nicht nur als Praktik diskutieren, in der der Körper in den Anerkennungskämpfen ,zum Einsatz kommt‘, sondern als Art und Weise, über die Sh. sich in der Ordnung des Offenen Kinder- und Jugendtreffs sozial positioniert. Im Schönheitshandeln von Sh. und den anderen Mädchen verschränken sich Alter (nicht mehr Kind sein) und Geschlecht (wie ein Mädchen aussehen). Unterlegen ist den Schönheitspraxen indes ein Wissen in Fragen nach dem ,richtigen‘ Aussehen. Weiblich idealisierte Inszenierungen sind Darstellungen von Geschlecht und Alter, aber auch Bilder einer schlanken Figur, eines sorgfältig und gepflegten Äußeren, der Verzicht auf ,billige‘ Kleidung und ein situationsangemessenes Styling. Mit einer Geste nehme ich Bezug auf die veränderte Inszenierung des Mädchens. Sh. kommentiert meine Reaktion auf ihre veränderte körperliche Erscheinung mit einem Kichern. Vielleicht fühlt sie sich ertappt, vielleicht freut sie sich darüber, dass ich auf die sorgfältige Bearbeitung ihres Körpers mit einer als männlich auslegbaren Geste Bezug nehme. Dass sie sich auf der Toilette stylt zeigt, dass der Moment der Bearbeitung ihres Körpers für andere – insbesondere für die Jungen – nicht sichtbar sein soll, sondern lediglich das von ihr gewünschte und erzielte Resultat. So zieht sie sich für ihr Schönheitshandeln an einen exklusiven und für Mädchen vorbehaltenen Ort zurück. Jedoch wirkt der Blick der männlichen Besucher für Sh. als ein Bewertungsmaßstab, an dem sie ihre Inszenierung überprüft. Nach außen wirkt der bearbeitete, auf Vorstellungen – aus Sicht der männlichen Besucher wahrgenommene und anerkannte – weiblich konnotierter Schönheit hin gestaltete Körper. Degele (2017) zufolge findet Weiblichkeit ihre Bestätigung über die Inszenierung heterosexueller Schönheit und somit über das Begehren von Männern. Selbst bei der Kontrolle ihrer Körper sind Frauen den Blicken der Anderen – auch der Männer – ,ausgeliefert‘ oder setzen sich diesen aus. Bezugnehmend auf Bourdieu lässt sich dies als symbolische Gewalt deuten (vgl. Degele 2017, S. 117). Wirksam werden hier auf den weiblichen Körper bezogene ,Schönheitsnormen‘. Durch die Arbeiten von Foucault ließe sich indes plausibilisieren, dass die auf Körper

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bezogenen Normen nicht als Zwang wirken, sondern diese, indem sie verinnerlicht werden, als eine selbstverantwortliche Entscheidung für das eigene Aussehen und das eigene Selbst gelten. Es lässt sich weiterführen, dass Sh. ihren Körper hier auch als Kapital einsetzt, das Anerkennungsgewinne – in diesem Fall bei den männlichen Jugendlichen – verspricht. Ihr Schönheitshandeln stellt somit nicht lediglich eine private Angelegenheit dar, sondern eine soziale, in die die Geschlechterordnung des Jugendtreffs einfließt. Über die Bearbeitung nimmt Sh. eine soziale Positionierung im Jugendtreff vor, innerhalb derer ihr Körper Anerkennung suggeriert. Insofern Schönheit also geschlechtlich konnotiert ist, lässt sich auch eine heteronormativiätskritische Perspektive anlegen. Dieser Perspektive zufolge lässt Schönheitshandeln sich nicht lediglich als ,doing gender‘, sondern auch als ,doing heterosexuality‘ ausweisen, welches der Naturalisierung von Heterosexualität in der Zweigeschlechtlichkeit dient (vgl. Degele 2017, S. 116). In der Körperinszenierung von Sh. werden soziale und ästhetische Normen wirksam. Diese Normen bestimmen, ob ihre Inszenierungen als legitim und anerkennbar gelten und damit zugleich auch, welche als illegitim wahrgenommen und mit Ausschluss sanktioniert werden. An dieser Stelle ist zu berücksichtigen, dass diesen Wahrnehmungen gesellschaftliche Schemata vorgelagert sind, die sich aus der Inkorporation sozialer Strukturen ergeben. Dies macht auch erklärbar, warum innerhalb der Gruppen der weiblichen Besucher unterschiedliche Inszenierungen von Weiblichkeit vorfindbar sind. Im Anschluss an Foucaults Perspektive operieren Anforderungen an das äußere Erscheinungsbild auf subtile Art. Sie werden besonders durch Verinnerlichung wirksam (vgl. Degele 2017, S. 116). Normen haben eine soziale und symbolische Dimension, sie bestimmen Ein- und Ausschließung, sie werden zumeist an Körpern festgemacht. In einer an Foucault orientierten Sichtweise erscheint der ,schöne‘ Körper von Sh. ferner als Gegenstand der Überwachung. Darin werden auch Normen wirksam, so etwa Normen des Gewichthaltens, des Anziehens, des Schminkens, des Fithaltens und des plastischen Operierens; sie lassen sich so als Mechanismen der Disziplinierung auslegen. Als solche garantieren sie Möglichkeiten der Teilhabe an der modernen Spaß- und Inszenierungskultur (vgl. Degele 2017, S. 116). Es lässt sich weiterführen, dass die Anstrengungen zu Körperoptimierungen (und damit auch sexuelle Attraktivität) eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche soziale Positionierung im Jugendtreff sowie für die dort akzeptierte Währung sozialer Anerkennung sind. Es lässt sich zuspitzen: Schönheitspraxen von Jugendlichen, in denen es immer auch um die Frage der Anerkennung und der Anerkennbarkeit geht, sind dabei ernst zu nehmende soziale Praktiken, die weitaus mehr bedeuten als die Ästhetisierung des Körpers. Sie haben maßgebliche Konsequenzen, da auf der symbolischen Ebene nicht nur der subjektive ‚sense of beauty‘ zur Disposition steht, sondern vielmehr gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse verhandelt (vgl. Penz 2010) und somit auch

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Ein- und Ausschließungen auf sozialer und symbolischer Ebene vollzogen werden. Dass diese Praktiken prekär sind, da sie zum einen Chancen der Bewältigung sowie zum anderen das Risiko des Ausschlusses bergen, wird an anderer Stelle anhand der Figur der ,Schlampe‘ nachgezeichnet (8.7.3.). „Die halb Mann und halb Frau!“ Dazu dass ,Schönheit‘ und ,Attraktivität‘ auf dem ,Markt‘ des Jugendtreffs nicht lediglich auf den bearbeiteten Körper zu beziehen sind, sondern auch körperliche Verhaltensweisen umfassen, die als ,attraktiv/nicht-attraktiv‘, als ,sozial akzeptiert‘/ ,nicht-akzeptiert‘ gelten, hat die folgende beobachtete Situation im jugendpädagogischen Alltag angeregt. Ich stehe an der Theke. Zwei Mädchen kommen und fragen mich nach S. (Hauptamtlicher). Ich erkläre, dass er beim Sport ist. In diesem Augenblickt kommen E. und Z. in den Treff gerannt. Sie schauen, kichern und rennen wieder vor die Eingangstür. Dabei schreien sie, kichern erneut und schubsen sich. Nun betritt D. den Treff. Er schaut verärgert. Er hat die Stirn kraus gezogen. Er blickt mich an: „Ey, hol meine Mütze wieder.“ Ich: „Wer hat denn deine Mütze?“ Der Junge zeigt auf den Vorplatz des Treffs. Schemenhaft kann ich Grüppchen erkennen: „Da, Mädchen. Ist nicht mehr witzig!“ Er schüttelt mit dem Kopf. Nun kommen Z. und E. kichernd zu dem Jungen. Kichernd halten sie ihm seine Mütze hin, die er sich schnell greift. Er geht schnurstracks zur Tischtennisplatte. Nun kommt B. zu D. und gesellt sich zu ihm. Gemeinsam gehen die beiden zum Computer. Als Z. an ihnen vorbei in Richtung der Toiletten geht, sagt D. zu B.:„Die nicht gut! Die halb Mann und halb Frau!“ D. lacht und nickt. (BP 13.01.2015, Z. 419-429) Das Mützenklauen ist eine Praktik im Jugendtreff, in der die Mädchen zu Jäger*innen und die Jungen zu Gejagten werden. Die Mützen der Jungen werden als Trophäen hochgehalten oder versteckt. In den meisten Situationen, in denen ich dies beobachten konnte, changieren diese ,Kämpfe‘ zwischen Ernst und Spiel. Die Mädchen, die in dieser Szene die Mütze entwenden, unterscheiden sich durch ihre körperlichen Verhaltensweisen beispielsweise von Sh. oder Ed. dadurch, dass sie sich sehr laut und konfrontativ präsentieren. In der aufgeführten Situation steigt D. nicht in ein Spiel mit Z. und E. ein, denn für ihn ist die Situation ernst geworden. Er bittet eine dritte Person – mich - darum, an seiner Stelle Kontakt zu den Mädchen aufzunehmen um seine Mütze zu holen; das bedeutet, dass er die ,Jäger*innen‘ aus der Konstituierung einer gemeinsamen Situation sozial ausschließt. Mit den beiden Mädchen möchte er nicht in Kontakt treten. Nach einiger Zeit geben die Mädchen ihm die Mütze, die zuvor ihre Trophäe war, zurück. D. nimmt sie und geht mit seinem Freund zur Toi-

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lette. In der Kommentierung von D. zeigen sich zugrunde liegende Wahrnehmungsweisen, in denen Z. als ,nicht-Frau‘ und ,nicht-Mann‘ wahrgenommen und klassifiziert wird. Z. erfährt eine abwertende Zuschreibung, die sich auf ihre Inszenierung als Frau bezieht. Diese Zuschreibung wirkt als symbolische Gewalt und somit auch als stigmatisierendes Element der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit. Mit seiner Kommentierung bringt D. nicht nur Gleichgültigkeit oder Missachtung gegenüber Z. zum Ausdruck, sondern er schließt sie sowohl sozial als auch symbolisch als gleichwertig aus der soziosymbolischen Ordnung innerhalb des Jugendtreffs als nicht-zugehörig aus. Die Zusammenschau dieser beiden Situationen soll verdeutlichen, dass innerhalb der verschiedenen Gruppen im Jugendtreff unterschiedliche Normen Geltung beanspruchen. In dieser Sequenz entfaltet die Norm einer auf weibliche Körperschönheit ausgerichteten sowie einem als weiblich geltenden angemessenem Verhalten ihre Wirksamkeit und generiert somit den Ausschluss eines Mädchens, das diesen Normen nicht entspricht. Sie reguliert Ein- und Ausschließung sowie Anerkennungsverhältnisse. Dass im Einsatz des Körpers als Kapital nicht nur Unterscheidungen von Geschlecht oder natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit, sondern auch Fragen nach der vermeintlichen Naturhaftigkeit des Körpers verhandelt werden, zeigt eine Situation, die im Folgenden entfaltet wird. „Das hat fast niemand und natürlich schon gar nicht! Zu G., die sich in dieser Szene präsentiert, bekomme ich während meiner Zeit im Jugendtreff ein etwas engeres Verhältnis. G. kann sehr gut singen und dies ist auch bei den Hauptamtlichen bekannt. Sie ist nicht zu der Gruppe der Stammgäste als zugehörig zu sehen. Sie betont häufig ihre ,Nicht-Zugehörigkeit‘ zu den ,Stammgästen‘, dies wird damit verstärkt, dass sie diese als ,Assis‘ bezeichnet. G. atmet tief. Sie richtet ihren Oberkörper auf: „Also ich, ich will ja zur Bundeswehr! Ich hab‘ dafür auch schon Termine.“ P.: „Wissen sie, G. ist voll krass, die guckt auch so krasse Filme. Das macht sonst kein Mädchen. G., wie hieß nochmal der eine Film, du weißt schon, welchen ich meine!“ Die Besucherin.: „Final Destination 5.“ Wir reden über den Film. In der Zeit setzt T. (Honorarkraft) sich zu uns. Auf meine Frage, wie es ihr geht, führt sie aus, dass sie ihre Augen hat lasern lassen! Daraufhin erzählt G.: „Also ich, ich will Kontaktlinsen, blaue Kontaktlinsen. Das ist bei meiner Haut und meinen Haaren ungewöhnlich! Das hat fast niemand und natürlich schon gar nicht!“ Sie und P. reden weiter über den Film und nach kurzer Zeit geht T. wieder zur Theke. (BP 29.01.2015, Z. 199-206). Zu Beginn der Darstellung performiert G. eine spezifische Inszenierung von Weiblichkeit, in der sie sich selber Eigenschaften und Verhaltensweisen zuschreibt, die

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gemeinhin als männlich konnotiert werden. P. bestätigt ihre Inszenierung und verleiht dieser nicht nur Glaubwürdigkeit, sondern sogar eine Steigerung. G. wird so zu einem ,krassen‘ Mädchen, die Dinge tut, die sonst kein Mädchen macht und die als ,untypisch‘ für Mädchen gelten. Als wirkmächtige Dichotomie zeigt sich in diesem Gespräch zunächst die Unterscheidung in männlich und weiblich und die entsprechende Zuschreibung spezifischer Attribute. G. selber nimmt eine Wendung vor, in der sie ihre ,Besonderheit‘ nun auf ihren Körper bezieht. Sie führt ein, dass sie blaue Kontaktlinsen haben möchte und begründet dies damit, dass das bei ihrer Haut und bei ihren Haaren sehr ungewöhnlich und auf natürliche Weise nicht möglich sei. Durch die Bearbeitung ihres Körpers verspricht sie sich Distinktionsgewinne. Der ,zu-sehen-gegebene‘ Körper zeigt sich hier als bearbeiteter Körper, der auch strategisch eingesetzt wird, etwa zur ,Irritation‘, die in seiner ,Natur‘ begründet liegt. Der Körper von G. verbürgt dann die Möglichkeit des Spiels mit seiner Naturhaftigkeit. Und nicht zuletzt nimmt sie damit eine Positionierung im Sozialen ein, die sie in besonderer Weise von denjenigen unterscheidet, die ,natürlicherweise‘ keine blauen Augen, jedoch aber ihre Haut- und Haarfarbe haben. Sich-schön-machen495 Auf die Arten und Weisen, wie männliche Besucher des Jugendtreffs sich zu sehen geben, wird der Blick im Folgenden gelegt. Während meiner gesamten Beobachtungszeit formierte sich ein eher einheitliches Bild über die Bekleidungspraktiken der Jungen, die als ,Stammgäste‘ bezeichnet werden. Eine Vielzahl trägt regelmäßig Baseballmützen, neue und sehr gut gepflegte Markensneakers, enge Röhrenjeans, Kapuzenpullis sowie Parkas oder Blousons. An einigen Tagen tragen sie karierte Flanellhemden oder Lederjacken. Etliche der Jungen haben zudem einen Eastpackrucksack mit zum Teil auffälligen Prints, zum Beispiel Leoprint oder Army Cargoprint. Unter den männlichen Jugendlichen herrschen Stilcodes und Bekleidungsregeln, die wiederum an unterschiedlichen Normen orientiert werden und darüber hinaus von der Verfügbarkeit über ökonomisches Kapital bestimmt sind.496 Indem sie sich gemäß dieser Kleiderordnung inszenieren, positionieren sie sich in der Ordnung des Jugendtreffs. In Bezug auf die Bearbeitung und Inszenierung des Körpers orientieren sich die Jungen, die zu den ,Stammgästen‘ zu zählen sind, an sozial vermittelten und gegenwärtig populären männlichen Körperbildern. Dazu zählen sodann Lionel Messi, Christiano Ronaldo oder Vladimir Klitschko (BP 18.12.2014, Z. 274-275). Als erstrebenswert 495 496

Die Formulierung dieser Dimension ist orientiert an Degele (2004). Nicht selten sehe ich Jugendliche mit vielen Einkaufstüten im Jugendtreff. Die meisten von ihnen kaufen ihre Kleidung bei H&M, New Yorker oder im Primark. Exemplarisch ziehe ich diese Sequenz hinzu, um meine Aussage zu unterstreichen. Ich stehe hinter der Theke. Von der Theke aus kann ich sehen, dass T. und A. PS4 spielen. Beide scheinen ins Spiel vertieft. T. hat eine neue Frisur, er trägt nun einen Sidecut. Noch am Vortag sah er anders aus. Mir fallen seine neuen weißen Turnschuhe auf. Neben ihm stehen drei große Einkaufstüten von H&M oder New Yorker. (BP 16.01.2015, Z. 220223)

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gelten unter den Jungen athletische und ,disziplinierte‘ männliche Körper, die den ,kompetenten‘ Körper als Kapital verwenden und mit diesem nicht nur eine hohe Popularität gewinnen, sondern auch viel Geld verdienen. Diese männlichen Körperbilder transportieren indes auch die Botschaft, dass körperliches Kapital sowohl einen Zugewinn an ökonomischem und sozialem sowie an symbolischem Kapital verspricht. K., ein Junge, der heute eine Lederjacke und eine neue Baseballmütze trägt, rennt raufend mit B. und J. durch den unteren Raum. Sie lachen, grölen und ziehen sich gegenseitig auf. B. blickt sie an, streckt sich und ruft ihnen zu, dass sie am besten mal eine Runde draußen laufen sollten. Daraufhin lacht K. und antwortet: „Laufen ist gut, wenn man läuft viel, man kriegt kein dickes Bauch. Man sieht aus gut!“ K. hat heute eine neue Goldkette mit Herzanhänger an. Irgendwie fällt mir die Kette schnell ins Auge. K. trägt ein T-Shirt unter seinem offenen Hemd, einige Brusthaare sind sichtbar, sie wachsen stoppelig nach. Es scheint, als habe er sie abrasiert. J. trägt genau wie K. eine Baseballmütze, Röhrenjeans, Hemd und Kapuzenpulli. Sie sehen sich ziemlich ähnlich; ich schätze sie ungefähr auf dasselbe Alter. Auch ihre körperliche Statur ist ähnlich. Beide scheinen neue Turnschuhe zu haben. Sie sehen ganz neu und weiß aus. B. trägt einen Glitzerohrring im Ohr. Ich glaube, dass er seine Augenbrauen gezupft hat. (BP 6.01.2015, Z. 173183) Die in dieser Szene in Erscheinung tretenden Jungen besetzen körperlich den gesamten Raum. K.‘s Äußerung über einen ,dicken Bauch‘ lässt auf eine körperästhetische Norm schließen, denn nur ein schlanker Körper gilt für ihn als erstrebenswert und anerkennungswürdig. Auffällig bei der Fußbekleidung ist, dass die Jungen die Schuhe, die sie tragen, sehr gut pflegen. Hinweise darauf sind häufig in den Protokollen zu finden. B. kommt mit einer an der Theke gekauften Dose Pringels in der Hand zum Billiardtisch. Er trägt die Baseballmütze, die mir vorher in seiner Einkaufstüte aufgefallen war. Seine sauberen, schneeweißen Sneakers sehen wie neu aus. Insgesamt fallen mir und den anderen Mitarbeitenden immer wieder das besonders gepflegte und modische Schuhwerk aller männlichen Besucher auf. Die Jungen begrüßen sich mit einer Umarmung und zwei Küssen. Ihre Unterhaltung begleiten sie mit Lachen, ,Knuffen‘, Schubsen und gemeinsamem Chipsessen. Sie wirken fröhlich. Den Inhalt ihrer Unterredung kann ich nicht verstehen. (BP 3.03.2015, Z. 119-126) Im Jugendtreff gelten Schuhe schlechthin als Statussymbol, das die Jungen im Rahmen ihrer sozialen Positionierung und in täglichen ,Kämpfen um Anerkennung‘ im Jugendtreff gewinnbringend einsetzen. Darüber hinaus symbolisieren sie auch die

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Verfügung über ökonomisches Kapital. Insofern ,Schönheit‘ geschlechtlich konnotiert ist, fließen in die Schönheitspraxen der männlichen Besucher ebenso geschlechtlich konnotierte Normen ein, an denen die Besucher*innen ihre Inszenierungen orientieren. Betrachtet man die Inszenierungen der männlichen Jugendlichen als eine Form der Hervorbringung von Geschlecht (doing gender) und darüber hinaus in einer heteronormativitätskritischen Perspektive, dann lässt sich ihr Schönheitshandeln darüber hinaus als ,doing heterosexuality‘ ausweisen, welches der Naturalisierung von Heterosexualität in der Zweigeschlechtlichkeit dient (vgl. Degele 2017, S. 116). Dass der ,schöne‘ männliche Körper nicht nur Distinktionsgewinne in alltäglichen Praktiken zwischen den männlichen Besuchern, sondern insbesondere Anerkennung bei den weiblichen Besucher*innen erfährt, wird anhand der folgenden Szene diskutiert, in der ich hinter der Theke stehe und Zeugin einer Situation werde, in denen der Körper eines männlichen Besuchers explizit in den Mittelpunkt einer Unterhaltung von zwei Mädchen gerückt wird. Ich höre die beiden bewundernd über seinen sixpack reden. J. (und ich finde, sie übertreibt total) „Oha, du hast ‚nen sixpack, echt ey, ich liebe es, wenn ein Mann einen sixpack hat!“ Die Mädchen scheinen ganz aus dem Häuschen. L. sagt, dass er Bilder von seinem Bauch auf facebook habe. „Wollt ihr mal sehen?“ Er zückt schon sein Handy. Die beiden Mädchen sagen strahlend ja und so gehen alle vor den Computer. Ich schaue den dreien hinterher, da ich jetzt ein bisschen neugierig geworden bin. Ich sehe ansatzweise Bilder des nackten Oberkörpers eines Jungen. Die Mädchen stehen ,schmachtend‘ und staunend davor und überschütten ihn mit Komplimenten. J. ,plappert‘ ohne Pause mit ihrer hellen Stimme: „Boah, du hast voll den geilen Körper, echt jetz, boah voll den geilen sixpack, voll schön. (Er zeigt weitere Bilder von sich) Echt ey, ohne Verarsche, da hast du auch voll schöne Augen! Geil, äh, super Bilder, Alter! Boah und hier, voll durchtrainiert! Kraaass. Ach, und hier, da hast du so schöne Augen, die glänzen voll, ich liebe das!“ L. zeigt weitere Bilder von sich und seinen Freunden. Bei einem Bild eines anderen Jungen sagen die Mädchen: „Voll hässlich, Alter, ey, voll die Gesichtsmaske!“ Ich muss bei dieser Anbaggerei lachen. Der Sixpack des Jungen wird noch mehrfach gelobt, bestaunt und bewundert. Irgendwann kommt V. an der Gruppe vorbei. Er blickt sie an. Er fasst dann J. von hinten an den Rücken. Sie ruft ärgerlich: „Fass mich nicht an, Alter, geh weg!“ (BP 20.01.2015, Z. 228-256) In dieser Situation sitzt der Besucher L. mit zwei Mädchen auf einem Sofa. Er zeigt ihnen Bilder von seinem trainierten Bauch. In der Bearbeitung seines Körpers orientiert sich L. an spezifischen auf Männlichkeit bezogene Normen. Im Dienste derer bearbeitet er seinen Körper, trainiert für einen flachen Bauch und muskulöse Arme. Im Bodybuilding wird ein atavistisches Modell von Männlichkeit produziert. Dabei

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steht der selbstbestimmte und unabhängige Bodybuilder für Selbstbestimmung und für eine Ideologie des sozialen Aufstiegs. Auch wenn dies ambivalent zu deuten ist, inszenieren Bodybuilder ein Bild von Gesundheit (vgl. Degele 2017, S. 117).497 Diese Ausprägung des ,Mann-Seins‘ wird über eigene Fähigkeiten und Leistung definiert (vgl. ebd.) Die Inszenierung dieser spezifischen Männlichkeit findet bei den Mädchen, aber auch bei anderen männlichen Besuchern des unteren Bereichs, Anerkennung und Bewunderung. Die Wahrnehmung der Mädchen ist indes durch die Inkorporation von auf diese spezifischen, auf Männlichkeit bezogenen Normen, präformiert. Die körperliche Zurschaustellung von L. erfährt von den Mädchen Wertschätzung und wird mit dem symbolischen Kapital sozialer Anerkennung versehen. Ihre Bezeichnungen lassen sich somit auch im Kontext symbolischer Kämpfe der Bedeutungsaushandlung verorten, in denen nicht nur Kriterien der Zugehörigkeit, sondern auch Rahmen der Anerkennbarkeit im Jugendtreff täglich ausgehandelt werden. Der Ablauf der kompletten Szene zeigt deutlich, dass Jungen, die spezifischen gültigen Normen nicht entsprechen, seitens der Mädchen eine abwertende Zuschreibung und somit Ausschließung auf symbolischer und überdies auf sozialer Ebene erfahren. Das offenbart sich darin, dass V. situativ von J. abgewiesen wird. Körper schmücken Eine weitere Szenze zeigt, dass insbesondere männliche Besucher des Jugendtreffs ihren Körper als Ausdrucksfläche ihrer natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit nutzen. An zahlreichen Beobachtungstagen fielen mir die Pullover auf, die viele und ausschließlich männliche Besucher im Alltag des Jugendtreffs trugen. Mit einem Kinderpunsch in der Hand setze ich mich auf die Bank vor dem neueren Billardtisch. A. und seine Freunde stellen sich zu mir und beginnen zu „quatschen“. Sie kommentieren das Spiel und beziehen mich ein. A. trägt einen roten Kapuzenpulli mit einem schwarzen großen Emblem auf der Brust. Ich sage: „Schicker Pulli.“ A. lacht und sagt: „Man, das ist doch natürlich die albanische Flagge!“ Er schiebt seinen Parka beiseite, präsentiert mir stolz den Aufdruck und erklärt, dass er das hat bedrucken lassen, aber dass es etwas falsch und nicht vollständig abgedruckt sei. Er erklärt mir, dass sie hinten nur zur Hälfte wieder gegeben sei. (BP 10.12.2014, Z. 480-487) A. erklärt mir, dass er sich den Pullover extra hat bedrucken lassen. In seine Positionierung innerhalb des Jugendtreffs fließen Inszenierungen von Männlichkeit und gleichzeitig Inszenierungen der Zugehörigkeit zu seiner Herkunftsnation ein. Aus diesem Grund versehen er und einige andere Besucher ihre Körper mit sichtbaren Sym-

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Der Spiegel fungiert in diesem Zusammenhang als zentrales Medium einer hyper-maskulinen SelbstObjektivierung (vgl. Klein 1993, zit. nach Degele 2017, S. 117).

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bolen natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit. Somit formieren die männlichen Besucher eine sichtbare Gemeinschaft der Zugehörigkeit und verleihen ihrer natio-ethnokulturellen Herkunft Sichtbarkeit und Ausdruck. 8.6.2

Vergleichende Prüfung

Dass die Jugendlichen ihre körperliche Inszenierung innerhalb der Gruppen einer Art vergleichenden Prüfung unterziehen, zeigt beispielhaft diese Szene, die ich im Jugendtreff beobachtet habe. T. und ein anderes Mädchen betreten den Treff. A. ist bei ihnen, sie hat auffällig rot und glänzend geschminkte Lippen. Irgendwie fühle ich eine Anspannung. Die Mädchen wirken aufgeregt. Schon über Blicke nehmen sie miteinander Kontakt auf und kichern. Die drei, die den Treff just betreten haben, gehen in die Sofaecke an der Tür. Sie zeigen sich ihre Outfits. Bis auf F. tragen alle enge schwarze Lederjacken und Leggins, zwei haben sich ein Holzfällerhemd um die Taille gebunden. Alle, die dort sind, haben lange Haare, die danach aussehen, als seien sie mit großer Sorgfalt geföhnt und gesprayt worden. Erstaunt bin ich über A., sie wirkt sonst sehr still und eher unauffällig auf mich. Heute trägt sie Schuhe und eine Lederjacke mit Pailletten. Sie ist im Gesicht sehr stark geschminkt, mir fallen besonders ihre roten Lippen auf. Wirkte sie bislang eher ruhig, nehme ich sie heute als sehr laut und angespannt wahr. Sie brüllt im Raum herum, ruft in ihr Handy und ich höre, dass sie sehr laut viele vulgäre Ausdrücke in den Raum ,wirft‘ (Schlampe, Hurensohn, Dreckstück). Es wirkt auf mich sehr anstrengend. Die Mädchen sitzen nun in einer Kreisformation. Sie kichern; eine von ihnen zieht eine Haarspraydose aus der Tasche. Wie ritualisiert wird diese herumgereicht und nacheinander sprühen die Mädchen das Spray in ihre Haare. Zwischendurch rennen immer zwei zur Toilette. Im Vorbeilaufen rufen sie: „Ey, guck, wie du aussiehst, ey, komm, das sieht bestimmt voll scheiße aus, Alter.“ Nach kurzer Zeit rennen sie kichernd zur Sofaecke zurück und gesellen sich zu den dort verbliebenen. Auch F. und Sh. rennen einmal gemeinsam zur Toilette. Als sie zurückkommen, fällt mir auf, dass F. sich komplett umgezogen hat. Sie hat ihre schwarze Hose gegen eine Jeans umgetauscht. Die beiden Mädchen bleiben kurz an der Theke stehen. Ich: „Hui, macht ihr Kleiderwechsel?“ F.: „Ja, so sieht das besser aus.“ Sh. tippt F. an und guckt mich an: „Jeans und Jeans passt besser.“ Nun schaut sie F. an: „Jetz‘ siehst du viel schöner aus! Heute siehst du schöner aus als ich!“ F. lächelt. (BP 16.01.2015, Z. 97-121) An dem Tag, an dem diese Beobachtung gemacht wurde, findet zu einem späteren Zeitpunkt eine Party statt, zu der die beschriebene Gruppe gehen möchte. Dafür haben sich die meisten Mädchen zuvor zu Hause gestylt, und nun warten sie auf den

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Beginn. Während dieser Zeit rennen sie immer wieder zu den Toilettenräumen, in denen sie sich gegenseitig und vor den Spiegeln betrachten können. Schönheit ist für sie keinesfalls nur eine dekorative Praxis, sondern eine soziale Angelegenheit, bei der nicht nur gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, sondern auch die eigene Positionierung im Offenen Kinder- und Jugendtreff ausgehandelt werden. Dafür orientieren sich die Mädchen an öffentlich kursierenden Bildern von Frauenkörpern, die wiederum körperästhetische Normen vermitteln. Die Inkorporation spezifischer ästhetischer Normen lässt diese als selbstverständlich erscheinen, ebenso wie die ,Unterwerfung‘ unter diese Normen als freie Entscheidung gilt. Die Inszenierungen der Mädchen zeigen sich als eine prekäre Angelegenheit, die sorgfältig bearbeitet werden muss, zudem bedarf es der Bestätigung von Anderen, um als erfolgreich und ,geglückt‘ zu gelten. Wird eine Inszenierung durch Andere als nicht erfolgreich oder missglückt wahrgenommen, könnte dies zu einem Verlust an Anerkennung sowie zu (beschämenden) Formen der Missachtung führen. Eine missglückte Inszenierung wird so als Scheitern gedeutet, durch das die eigene Position im Jugendtreff zur Disposition steht. Aus Furcht vor einem solchen Misslingen und dem ,Scheitern‘ an der Norm lassen sich die Besucher*innen des Jugendtreffs ihre Inszenierungen einer prüfenden Kontrolle der Gemeinschaft, der sie zugehörig sind, unterziehen. Für den Fall, dass die Inszenierung innerhalb dieser als ,nicht-anerkennbar‘ gilt, nehmen sie sogar Ersatzkleidung mit.498 Eine ,geglückte‘ Inszenierung verspricht Anerkennung und eine Positionierung der Zugehörigkeit zur Mädchengruppe. Darüber hinausgehend verstärkt sie das symbolische Kapital, im Sinne sozialer Anerkennung, das Begehren der Jungen. In der Szene zeigen sich abschließend zwei Mädchen, Sh. und F., die auch gemeinsam in die Toilettenräume gehen, um das Outfit von F. zu prüfen. Ich nehme wahr, dass F. sich umgezogen hat und nehme Bezug darauf. Sh. erklärt mir den Grund dafür, warum F. sich umgezogen hat. Jeans und Jeans passen besser und aus diesem Grund folgt F. dem Rat von Sh., sich eine andere Hose anzuziehen. Sh. schreibt F. nun Schönheit zu. Sie setzt dann sich und F. in ein Bewertungsverhältnis zueinander, in dem sie F. jetzt sogar als viel schöner als sich bezeichnet. Dass F. aber nun heute schöner aussieht als sie, könnte auch als ein Hinweis darauf gelesen werden, dass sonst Sh. schöner ist, sie diese Position ihrer Freundin jedoch für diesen Tag überlässt. Auch die männlichen Besucher prüfen ihre körperlichen Inszenierung untereinander und warten auf die Bestätigung der Anderen, um sich zu vergewissern, dass sie als erfolgreich und geglückt gilt und Anerkennung im Offenen Kinder- und Jugendtreff erfährt. Die Blicke der Anderen sowie ihre Gesten wirken in die Bestätigung der Anerkennbarkeit mit ein. Es sind also nicht lediglich sprachliche Äußerungen, durch die 498

Dass innerhalb der verschiedenen Gruppen im Jugendtreff unterschiedliche ästhetische Normen kursieren und über diese so auch Ein- und Ausschließung geregelt wird, soll an dieser Stelle nicht weiterführend vertieft werden.

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Anerkennbarkeiten ausgehandelt werden, sondern ebenso durch die Kommunikation der Körper. P. kommt in die Runde gehüpft. Er springt in den Kreis, den die sitzenden Jugendlichen bilden. Sein Gesicht kann ich nicht sehen, erkenne ihn aber an dem Sternchenrockpulli und seiner Mütze. Er wirkt aufgekratzt, hüpft herum und geht zur Theke. Dort steht sein Freund B. . Mir fällt auf, dass er anders gekleidet ist als sonst. Meist ist er in schwarz gekleidet, heute ganz in beige. Passend trägt er eine oliv farbene Weste. P. klopft ihm auf die Schulter, mustert ihn von oben bis unten, macht den Daumen hoch. B. tritt einen Schritt zurück, er öffnet seine Weste, zeigt mit den Fingern von oben bis unten auf sein Outfit und sieht dann wieder P. an. Der nickt und macht den Daumen hoch. Die beiden kaufen sich einen Eistee und leihen sich Billardsachen aus. Damit gehen sie zum Spieltisch und beginnen ein Spiel. (BP 26.02.2015, Z. 223-231) Die Jungen testen die Anerkennbarkeit ihrer Kleidung in der Gruppe. Die Sequenz zeigt, dass kollektiv geprüft wird, ob es sich um eine angemessene Inszenierung des Körpers handelt. Legt man die Sichtweisen einer von Bourdieu inspirierten Körpersoziologie zugrunde, dann kann die Verinnerlichung sozialer, in diesem Falle ästhetischer und geschlechtlicher Normen, als Inkorporation und Habitualisierung thematisiert werden. Insofern darin bestimmte Bewertungs- und Klassifikationsschemata wirksam werden, sind diese als Formen symbolischer Herrschaft zu beschreiben, die in symbolische Kämpfe um Anerkennung einfließen. Schönheit und Attraktivität verlangen den Blick der Anderen und sind folglich keine Privatsache, sondern Kommunikation und Interaktion (vgl. Degele 2017, S. 115). Sie haben eine soziale Dimension und bilden Aspekte, die für Jugendliche von besonderer Bedeutung sind. P. nutzt die Gruppe als Publikum für die Prüfung seiner körperlichen Inszenierung. Begreift man diese Inszenierung als soziale Positionierung, dann deutet die ,vergleichende Prüfung‘ darauf hin, dass P. sich nicht nur der Möglichkeit der Anerkennbarkeit seiner Inszenierung vergewissert, sondern damit auch die Einnahme einer legitimen Positionierung im Jugendtreff sicherstellt. Der Körper erscheint in diesem Zusammenhang als eine gestaltbare und leicht verfügbare Ressource, die Anerkennungsgewinne und legitime Positionierungen ermöglicht. 499 Ausgehend von einer Sensibilisierung für die Herrschaft der Norm (Kapitel 1.3.) lassen sich Körperpraktiken von Jugendlichen einer weiterführenden kritischen Betrachtung unterziehen.

499

Zudem sind Jugendliche in der Regel noch nicht ökonomisch unabhängig, sodass sie – anders als Erwachsene – über wenig ökonomisches Kapital verfügen, um ihre Körper zu bearbeiten.

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8.6.3

Körper zu sehen geben – Führungen

Jugendliche bemühen sich, ihre Körper in spezifischen Weisen zu gestalten. Darin zeigen sich Techniken der Arbeit am eigenen Körper zum Zweck seiner Normalisierung (vgl. Schmincke 2011, S. 152). In diesen manifestieren sich unterschiedliche normative Ziele: Zum einen gehe es um Schönheit und Gesundheit, zum anderen um Schönheit, um sexuelle Attraktivität und Hygiene als gesellschaftliche Normen (vgl. Schmincke 2011, S. 152). Um diesen nahe zu kommen, strengen sich die Besucher*innen des Jugendtreffs besonders an.500 In Bezug auf Jugendliche lässt sich die Annahme verstärken, dass ihre Körper im Fokus von Normalisierungspraktiken stehen (vgl. Schmincke 2011, S. 143) und diese für bestimmte gesellschaftliche Zwecke produktiv gemacht werden. In einer solchen Perspektive lassen sich Dimensionen des Körperlichen im Kontext von Machtverhältnissen betrachten. Foucault zufolge hat Macht ihren Ort in den Körpern der Individuen (vgl. Meuser 2017, S. 69). In der Situation, die ich an dieser Stelle exemplarisch heranziehe, sitze ich mit einigen männlichen Besuchern auf der Sofaecke vor der Playstation. K. hat sich ein paar Minuten vorher Kuchen aus der Küche geholt, den er regelrecht verschlingt. K. setzt sich hin und beginnt den Kuchen hastig zu essen. Er ruft mehrfach: ,,Hm, gut lecker!“ Er krümelt, schmatzt und spuckt etwas. Wenn er seine Sätze wiederholt, spuckt er Kuchenkrümel und lacht dabei. Ich muss immer noch lachen. Zwei Mal sage ich: „Man spricht nicht mit vollem Mund!“ K. lacht. D. steht mittlerweile vor der Sofaecke. Er hat auch das Playstationspiel verfolgt. Nun schaut er K. an; ich finde sehr lange und es wirkt auf mich spöttisch. Er scheint irritiert von K‘.s Essmanieren und seinem lauten Gerede zu sein. Zwischendurch blickt er mich an, dann wieder auf K. und verzieht seinen Mund nach oben. Dann spricht er K. an (die beiden kennen sich scheinbar nicht). „Ey, bist du öfter hier?“ Dann spricht er mich an: „Haben Sie den schon öfter gesehen?“ Ich nicke und sage: „Das ist K. , wir kennen uns jetzt schon länger. Ist sehr lustig oft mit ihm!“ Ich tippe K. an und zeige auf D.: „Kennst du ihn?“ K. nickt: „Ja, aber nur von Sehn!“ Ich: „Na, dann stellt euch doch mal einander vor!“ K. streckt D. seine Hand hin: 500

Dass körperliche Attraktivität als Ergebnis körperlicher Manipulationen in den Blick zu nehmen ist, auch wenn diese in manchen Fällen nicht sichtbar sein soll, markiert Schmincke (2011, S. 152). In einem Artikel über ,normalisierte Jugendkörper‘ geht sie der Frage nach, wie Jugendliche körperliche Normalität (Natürlichkeit) herstellen. Dies illustriert sie anhand der Bearbeitung der Körperbehaarung und der damit einhergehenden Normierung des Intimbereichs. Sie kommt zu dem Schluss, dass Jugendliche ihre Körper zunehmend enthaaren, um so körperliche Normalität herzustellen (vgl. Schmincke 2011, S. 148). Überdies fragt sie nach gesellschaftlichen Gründen, welche den enthaarten Körper zum erstrebenswerten Ideal werden lassen. Indem Jugendliche sich auf den Intimbereich bezogene Normierungen aneignen, gestalten sie ihre Körper entlang dieser Standards. In seiner Verkörperung wird dieser zur unhinterfragten Vorstellung von Normalität und Natürlichkeit (vgl. Schmincke 2011, S. 151).

Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben

385

„K. bin ich, Hallo!“ D. zögert, die Hand von K. zu ergreifen. Dann schüttelt er sie und nennt leise seinen Namen. Dabei blickt er mich an. Dann schaut er K. an: „Sag, hast du Hunger? Weil du den Kuchen so schnell isst.“ K. nickt: „Ich hab‘ immer Hunger, immer Hunger hab ich!“ D. schaut fast angewidert, seine Mundwinkel zieht er nach oben, teils auch seine Augenbrauen. Seinen Oberkörper lehnt er zurück und schüttelt leicht mit dem Kopf. Sein Blick schwankt zwischen K. und mir. Ich sage: „Naja, K. muss noch wachsen und noch stark werden und so, da braucht man mehr Essen! Stimmt‘s, K.?“ Der nickt. D. blickt nun K. an: „Dann musst du trainieren, dann kriegst du Muskeln!“ K. fasst an seinen Bauch: „Ich bin nicht zu dick, muss ich Muskeln machen. Warum?“ D.: „Wenn du nur sowas isst, dann kriegst du keine Muskeln. Dann wirst du nur dick! Das ist nicht schön.“ (BP 3.03.2015, Z. 253-273) Im Verlauf der Situation erfährt zunächst das Essverhalten von K. eine Kommentierung. Er isst in kurzer Zeit sehr schnell und sehr viel. Die anderen Jungen, die um K. herumsitzen, sprechen ihn darauf an und fragen, ob er denn so viel Hunger habe, weil er den Kuchen so schnell esse. K. erwidert, dass er immer und viel Hunger habe. Die anderen Jungen scheinen sein Essverhalten nicht als normal wahrzunehmen. Sie raten ihm zu trainieren, damit er Muskeln bekommt. Nicht nur daraus lässt sich schließen, dass sie recht viel Zeit damit verbringen zu trainieren. Denn zum einen erfahre ich von den betreffenden Jungen, dass sie ihre Körper regelmäßig bei McFit trainieren und zum andere schauen sie auch sehr athletisch gebaut aus. In den Thematisierungsweisen der Jungen zeigt sich, dass sie ihre Körper nicht als natürliche Selbstverständlichkeit des Daseins betrachten, sondern als etwas, das auf vielfältige Weise hergestellt, modifiziert und manipuliert wird (vgl. Klein 2010, S. 457). Die körperbezogenen Gestaltungsimperative der Jugendlichen orientieren sich an der möglichst frühen Pflege und am Styling. Diese Bearbeitungen dienen nicht nur der Steigerung der eigenen Attraktivität, sondern auch der Verbesserung der sozialen Wahrnehmbarkeit. Während K. viel Kuchen isst und nicht trainiert, scheinen die anderen Jungen viel Zeit mit der ,Sorge um sich‘ zu verbringen. Ein körpersoziologisch sensibilisierter Blick zeigt indes, dass in der Aneignung dieser Normen sehr klassische Männlichkeitsmuster moduliert werden, die wenig Spielraum lassen (vgl. Schmincke 2009, S. 153). Die darin enthaltenen Normen engen die Möglichkeiten Geschlechtlichkeit zu performieren und zu verkörpern, stark ein (vgl. Schmincke 2011, S. 153). Die Arbeit am Körper lässt sich im Anschluss an die genealogischen Arbeiten Foucaults als Technologien des Selbst betrachten (siehe Kapitel 1.3.). Bearbeitungen des Körpers sind als Arbeit am Selbst zu perspektivieren und folglich als Verkörperung sozialer Normen in den Blick zu nehmen (vgl. Schmincke 2011, S. 147). Dabei gelten Ideale als normative Anweisungen an Menschen, der sie in Kleinstarbeit entsprechen müssen. Das Subjekt wird durch den ständigen Versuch, diesen Normen zu

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

entsprechend, wahrnehmbar und erkennbar (vgl. Tuider 2003, S. 50). Die auf Körper bezogenen Normen wirken – das zeigt Foucault – nicht als Zwang. Sie werden verinnerlicht und gelten als eine eigenverantwortliche Entscheidung für das eigene Aussehen und das eigene Selbst (vgl. Schmincke 2011, S. 152). Die Unterwerfung unter soziale Normen scheint frei gewählt und dient als Mittel der Selbstermächtigung (vgl. Schmincke 2011, S. 152). So deutet auch Villa (2008) Körperarbeit im Sinne der Optimierung als Norm und als Zwang, mit dem Ziel gesellschaftlicher Teilhabe. Als solche ist diese von einer Ambivalenz von Selbstermächtigung und Unterwerfung des Selbst gekennzeichnet (vgl. Villa 2008). In Bezug auf Jugendliche lässt sich daraus ableiten, dass sie in ihren Körperpraktiken soziale Normen verkörpern, dass sie sich diesen unterwerfen und sich zugleich ihrer selbst ermächtigen und diese ihre Handlungsfähigkeit in spezifischer Weise präformieren. Gerade in der Verkörperung spezifischer Normen werden diese zur unhinterfragten Vorstellung von Normalität. Die Macht der Norm ist durch die Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Selbstermächtigung stabiler und unsichtbarer. Indem Normen immer auch verkörpert und Körper an der Norm ausgerichtet erscheinen, werden Verständnisse von normal und abweichend hergestellt (vgl. Schmincke 2009, S. 117). In diesen Zusammenhängen entstehen die Normalisierung und Disziplinierung von Körper(n), genauso wie ihr Produktivmachen für gesellschaftliche Zwecke. In der Jugendtreffszene zeigt sich signifikant die Ausübung der Herrschaft der Norm auf Andere und auf diejenigen, die den Normen nicht entsprechen. Durch die körpertheoretischen Lesarten – wie im ersten Kapitel dargelegt – werden Körperpraktiken von Jugendlichen in einem größeren analytischen Rahmen verstehbar. Sie sind eine Form der Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit, sich inszenieren zu müssen (sich selbst Sichtbarkeit und Ausdruck zu verleihen), um im Sozialen erscheinen zu können (vgl. Hofarth 2017, S. 142). Es lässt sich bündeln: Körperarbeiten im Sinne der Optimierung von Jugendlichen sind folglich als Technologien des Selbst zu perspektivieren. Darüber hinaus dienen sie der sozialen Positionierung des Subjekts. Somit sind Körperpraktiken von Jugendlichen in einer an Foucault orientierten Sichtweise als (ambivalente) Praktiken sozialer Positionierung zu verstehen, in welche nicht nur individuelle Wünsche und Bedürfnisse eingehen, sondern die auch einen Beitrag zur sozialen Positionierung des Subjekts sowie zur mikrophysischen Verankerung von sozialen Werten und Normen leisten (vgl. Klein 2010, S. 46).501 Sie dienen als soziale Praktiken, über die Jugendliche gesellschaftliche Teilhabe erlangen möchten und können. Dass die Realisierung körperästhetischer Normen nicht unabhängig von der Ungleichheit der sozialen Bedingungen, unter denen junge Heranwachsende leben, zu

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Darüber werden gesellschaftliche Disziplinarstrategien vom Einzelnen als eigener Wille und Wunsch gedeutet (vgl. Klein 2010, S. 466).

Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben

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betrachten ist, vermittelt eine Szene, in der ich mich mit einem männlichen Besucher unterhalte. Ich halte Ad. meine Tüte mit Studentenfutter hin; er greift lachend und mehrfach zu und isst. Wir spielen und essen beide die Knabbersachen. Nach einiger Zeit des Spielens frage ich ihn: „Ad., machst du Sport? Magst du Sport?“ Er nickt und lächelt und sagt: „Ich mag Sport, aber im Moment ich mache nicht.“ Ich frage: „Warum denn nicht?“ Er erzählt: „Wenn ich machen Sport, ich haben viel Hunger und ich muss immer kochen, das ist nicht so gut. Ich wohne im Moment in Asylheim, da ist nicht so schön und nicht gut für kochen!“ Ich: „Ah, und da kann man auch nicht so gut kochen, oder?“ Er schüttelt mit dem Kopf. Ich frage: „Aber wenn du Sport machst, was machst du dann? Muckibude?“ Ich imitiere Hantelhebbewegungen. Ad. schüttelt mit dem Kopf: „Wenn, ich mag Running. Das ist gut! Und ich mache…!“ Er macht Liegestütze und Sit-up Bewegungen nach. „Ich mag nicht, wenn Körper ist so dick. Ich mache nicht viel an Armen mit Muskel, ich finde schön, wenn nicht so dick aber fest und so ich machen Sport. Running ist gut für die ganze Körper. Dann alle Muskeln arbeiten. Aber in Asylheim geht nicht so gut. Da ist kein guter Ort für Running und ich musste mehr Dusche und Kochen. Und das geht nicht!“ (BP, 12.02.2015, Z. 54-66) In der hier aufgeführten Situation sitze ich mit Ad. an einem Tisch, wir spielen Jenga. Ich biete ihm etwas von meinem Essen an und frage ihn später, ob er Sport mag. Ich sehe ihn oft Tischtennis oder Billard spielen. In Ad.`s Antwort zeigen sich körperathletische Normen, an denen er sich orientiert. Die Bearbeitung des Körpers soll diesen zu einem ästhetischen Körper werden lassen, der nicht zu-dick und ,aufgepumpt‘, aber fest und muskulös sein soll. In den Thematisierungsweisen zeigt sich, dass er bestimmte Vorstellungen von körperästhetischen Normen hat, diese aber nicht realisieren kann, weil es ihm an Geld und räumlichen Möglichkeiten mangelt. Den vorangestellten Überlegungen lässt sich entnehmen, dass Körperarbeiten von Jugendlichen sich als soziale Praktiken, in denen Körper als Kapital oder als Technologien des Selbst zum Einsatz kommen, perspektivieren lassen. Innerhalb von Gemeinschaften, die sich über Praktiken des Tanzens, des Sporttreibens oder des Musizierens formieren, gilt dies in einer anderen Weise. Um etwa zu der Gruppe der Billardspieler*innen oder der Tänzer*innen im Jugendtreff zugehörig zu sein oder zu werden, reicht es nicht aus, bei einer entsprechenden Gelegenheit nur körperlich anwesend zu sein. Vielmehr muss der Körper gemäß der in dieser Szene herrschenden Codes in einen ,kompetenten‘ Körper verwandelt werden. Durch Kleidung, Gesten, Bewegungen wird der Körper und damit die entsprechende Person als Mitglied der Szene für andere erkennbar. Erst durch visuelle Anerkennung wird jemand zum Mit-

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

glied einer Gruppe. Zumeist sind sehr spezifische Körperpraxen und -modellierungen notwendig, um Mitglied einer Gruppe zu werden. Eine spezielle und meist implizite kulturelle Körperkonstruktion ist bisweilen nötig, um ,dazu zu gehören‘. Diese Gedanken werden in der interpretativen Entfaltung einer Situation verdeutlicht, in der ich mich mit einigen Mädchen im Tanzraum aufhalten durfte. 8.6.4

Körper im Einsatz – Tanz

Der in einem der oberen Stockwerke des Jugendtreffs gelegene geräumige Tanzraum ist ein Medium von großer Bedeutsamkeit für die Jugendlichen. Als materieller Raum ist er auch von Semantiken strukturiert, das heißt, er wird in seinem Gebrauch und seiner Bedeutung bestimmt. Villa zufolge wird der Tanzraum vom Ort des Tanzens konstituiert (vgl. Villa 2002, S. 188).502 Während der Beobachtungszeit wurde ich oftmals Zeugin, dass und wie einige Besucher*innen ihn gruppenweise aufsuchten. Nicht selten war es ihnen wichtig, exklusiv in der Gruppe als Tanzende unter sich zu bleiben. An einigen Nachmittagen war mir jedoch ein Zuschauen erlaubt. Einzelpersonen haben sich nie im Tanzraum aufgehalten, denn den Jugendlichen ist bewusst, dass Tanzen als eine körperliche Praktik für Andere, durch und mit Andere(n) erlebt wird. Aus einer körpersoziologischen Perspektive gilt das Medium des Tanzes als ein soziales und kulturelles Feld, „in dem die Ordnung des Sozialen symbolisch übersetzt und in der körperlicher Ausführung des Tanzens körperlich erfahrbar und angeeignet, ,habitualisiert‘ wird“ (Klein 2017, S. 340). Tanzen lässt sich so als eine performative Praxis beschreiben, in der sich die soziale Ordnung in und über die (tanz-) ästhetische Erfahrung körperlich-sinnlich materialisiert. Tanz spielt im jugendpädagogischen Alltag bei nahezu allen Jugendlichen unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeiten eine große Rolle.503 Bei der Einübung bestimmter Tanzstile orientieren die Besucher*innen sich an einer spezifischen visuellen Kultur, in der Normen in Bezug auf Geschlecht, Ethnizität und Ästhetik verkörpert, aufgeführt und bespielt werden. Anschließend an Haller und Klein (2008) kann Tanz(-en) als eine Praktik der Verkörperung bezeichnet werden, in der nicht nur Normen, sondern auch die sozialen Strukturmuster von Geschlecht, Alter und Ethnie (re-)aktualisiert werden. Über Körpererfahrungen erfolgen somit Naturalisierungen

502

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Villa (2002) zufolge sind bestimmte Räume auf bestimmte Körperpraktiken an einen genau definierten Ort innerhalb eines Raumes angewiesen (vgl. Villa 2002, S. 188). Raumtheoretischen Debatten lässt sich entnehmen, dass die Entstehung von Räumen selbst einen sozialen Prozess darstellt. Raum und (normatives) Handeln sind nicht unabhängig voneinander zu denken. Darin zeigt sich, die ,illusio‘ Aller (dazu Kapitel 1.2.).

Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben

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von sozialer Ordnung, welche im Tanz wiederum re-produziert werden.504 Sie bilden die Grundlage für Subjektivierungsprozesse, die umso wirksamer die Subjekte an Macht binden, als dass diese als ,natürlich‘ erscheinen und ein körperliches Begehren produzieren (vgl. Haller und Klein 2008). Im Tanz werden global kursierende Ästhetiken über mimetische Nachahmung im Jugendtreff lokal rezipiert (vgl. Bonz 2017) und Zugehörigkeiten im Jugendtreff generiert. In der Theoretisierung des Tanzens können verschiedene theoretische Perspektiven herangezogen werden; somit lassen sich unterschiedliche Sichtweisen auf diese körperlichen Praktiken einnehmen. Im Tanz werden Körper zu ,kompetenten Körpern‘ gemacht. Die stete Einübung von Bewegungsabläufen dient der Optimierung des Körpers und wird als eine Kapitalform eingesetzt, die Distinktionsgewinne im Jugendtreff verspricht. Zugleich (und in anderer theoretischer Perspektive) werden im Tanz ,disziplinierte Körper‘ hervorgebracht, die in Bezug auf Zugehörigkeit und Positionierung im Jugendtreff relevant werden. Somit ist Tanz auch als Technologie des Selbst beschreibbar. Tanz steht im Zusammenhang mit Subjektivierung. 505 Nicht zuletzt wird auch durch, in und über das Tanzen die Frage nach Ein- und Ausschluss verhandelt. Einige dieser Gedanken werden im Folgenden an eine Situation herangetragen, jedoch nicht alle werden vertieft. Die folgende Szene veranschaulicht eine sehr seltene Situation, in der ich einer Gruppe in den Tanzraum folgen und ihnen beim Üben zusehen darf. Die Interpretation dieser Sequenz lässt sich – bezugnehmend auf die unterschiedlichen Theorien zu Körper – in verschiedene Richtungen und unter verschiedenen Blickwinkeln auslegen. Ich werde anhand der Sequenz einige Lesarten anwenden und entfalten, wobei diese sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern befruchten. Zwei Mädchen kommen zur Theke. Sie möchten sich bei mir das Kabel für den Tanzraum ausleihen. Ich frage sie, während ich ihnen das Kabel gebe: „Was macht‘n ihr da?“ „Na, Tanzen“, sagen sie. „Ach toll, darf ich vielleicht mal gucken, was ihr so tanzt?“ Die beiden schauen sich an, sie kichern und drehen sich weg. Kichernd sagen sie dann zu mir: „Neeeeeeeeeeeeee, lieber nicht!“ Sie schauen sich wieder an, gehen schon etwas in Richtung der Tür. Sie kichern immer noch und drehen sich dann um: „Na gut, Sie dürfen gleich mal gucken!“ Sie kichern weiter und huschen schnell in den Tanzraum. Ich 504

505

Die in einer spezifischen symbolischen Ordnung kursierenden Körperbilder, Körpercodes und Körperbewegungen werden mimetisch angeeignet. In der mimetischen Nachahmung liegt auch das Potenzial zur Überschreitung und der Transformation habituell verfestigter Strukturen. In Situationen des Tanzens wird das praktische und handlungsanleitende Wissen aktualisiert und zur Aufführung gebracht (vgl. Villa 2011). Hier liegt die These zugrunde, dass über das Tanzen die neoliberalen Anforderungen an ein ,flexibles Subjekt‘ (Sennett 1998) erlernt, körperlich erfahrbar und habitualisiert werden (Reckwitz 2006; Klein und Haller 2008).

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse warte ein wenig und folge ihnen dann. In dem Raum befinden sich eine große Spiegelwand und eine Sitzbank. Dort spielt sich folgende Situation ab: Vor den Spiegeln tanzen zwei Mädchen. Sie schauen ihre eigenen Körperbewegungen sehr streng an und probieren sie mehrfach aus. Sie blicken ihre Körper intensiv und zunächst ohne Lächeln an. Zwei andere Mädchen sitzen auf der Bank und schauen ihnen zu. Sie wenden ihre Blicke nicht von den Körpern der Tanzenden ab. F. sitzt am Fenster nahe der Spiegelwand auf der Fensterbank. Sie schaut auf ihr Smartphone. Ich schleiche mich durch den Raum. Im Spiegel sehen die Mädchen mich, tanzen aber konzentriert weiter. Ich setze mich auf eine andere Fensterbank, lege meine Beine hoch und schaue zu. Nach kurzer Zeit bemerke ich, dass ich auch anfange, meinen Oberkörper etwas zu der Musik zu bewegen. Die Mädchen auf der Bank schauen mich an, aber recht schnell verfolgen sie wieder den Tanz der Mädchen. Die Tänzerinnen tragen alle enge Hosen und Sneakers, manchmal sieht man ihre Stringtangas. Aus den Boxen läuft türkische und albanische Hip Hop Musik. Sie tanzen wie in den entsprechenden Musikvideos. Ich finde ihre Bewegungen gewollt sexy, lasziv. Sie üben nun, synchron mit ihren Hintern zu wackeln und dabei in die Knie zu gehen und sich immer wieder aufzurichten. Dabei fassen sie sich an und streicheln gegenseitig ihre Körper. Sie kichern, denn ganz synchron schaffen sie es nicht. Eines der tanzenden Mädchen wendet sich mit ihrem Blick an das Mädchen, das auf der Bank sitzt und ruft: „Ey, du kannst so geil mit dem Arsch wackeln, das kann ich so gar nicht!“ Daraufhin hält sie in ihren eigenen Bewegungen inne. Das andere Mädchen kichert und wackelt weiter mit ihrem Hintern. „Ey, das ist voll anstrengend für die Oberschenkel!“ Dabei lacht sie und streicht sich über ihre Oberschenkel. Sie üben weiter. Nun beginnen sie auch, nicht nur ihre eigenen Körperbewegungen einzustudieren und zu begutachten, sondern auch die der jeweilig anderen Tänzerin. Irgendwann unterbrechen sie kurz. Sie rufen den Mädchen auf der Bank zu: „Ey, Alter, los, komm! Tanz auch!“ Sie lachen, drehen sich den Mädchen zu, „tanzen sie an“. Dabei wackeln sie mit ihren Oberkörpern und Busen. „Ey, los, tanz‘ auch! Du kannst das doch voll gut.“ Sie blicken sich durch die Spiegel an. Das Mädchen auf der Bank steht auf, setzt sich aber wieder hin. Die beiden anderen tanzen weiter. Das Mädchen, das gerade aufgestanden ist, sagt zu ihrer Freundin – aber so laut, dass es alle im Raum hören können, „Ey Leute, ihr könnt nicht mal richtig euren Arsch bewegen!“ Sie wippt mit ihrem Oberkörper, „Ey los, dann komm!“ Das Mädchen auf der Bank ruft: „Ey, ich kann tanzen, ich bin Afrikanerin! Ihr könnt nicht mal richtig euren Arsch bewegen!“ Die anderen versuchen nochmal, sie zum Tanzen zu animieren. Die anderen beiden Mädchen tanzen weiter. Ich finde, dass sie nun etwas zögerlicher wirken. Das Mädchen auf der Bank bewegt ihren Körper im Sitzen, sodass sich mir der Eindruck erweckt, dass sie eigentlich auch tanzen

Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben

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möchte. Sie sagt noch ein paar Mal zu ihrer Freundin, dass die beiden Tänzerinnen nicht richtig mit dem Arsch wackeln können und lacht abwertend. Ich frage mich irgendwann, ob sie vielleicht deswegen nicht tanzt, weil ich als Fremde die Atmosphäre im Raum irritiere und störe. Deswegen frage ich sie, ob es ok sei, dass ich dabei bin, wenn sie tanzt, oder ob sie lieber alleine tanzen möchten und ich besser rausgehen solle. Die Mädchen antworten mehrfach: „Nein, nein, bleiben Sie!“ Dabei lächeln sie. Die zwei Mädchen, die bereits tanzen, üben weiter. Zwei Mal klatsche ich, da ich finde, dass sie wirklich gut tanzen können. Dabei blicken sie mich über den Spiegel an und lachen. Irgendwann ändert sich die Musik. Es ertönt eher folkloristische Musik. Die beiden Mädchen, die vorher ihren Tanz einstudiert haben, hüpfen ausgelassen durch den Tanzraum. Nun prüfen sie ihre Bewegungen nicht mehr kritisch im Spiegel. Nach einigen Minuten setzen sich alle Mädchen im Raum zusammen auf die Bank und quatschen. Ich möchte sie dabei nicht stören und gehe nach ,unten‘, in den Offenen Bereich. (BP 29.01.2015, Z. 59-109) Als zögerlich ,geduldete‘ Zuschauerin darf ich also den beiden Mädchen beim Tanzen zuschauen. Indem sie einfach weitertanzen, nachdem ich den Raum betreten und Platz genommen habe, signalisieren sie mir, dass ich nicht als Störenfried betrachtet werde. In der nun anschließenden Diskussion wird die Sequenz unter verschiedenen Perspektivierungen beleuchtet und diskutiert. Mimetische Nachahmung, Habitualisierung & die Reproduktion sozialer Ordnungen Klein (2017) zufolge ist Tanz ein soziales und kulturelles Feld, in dem die Ordnung des Sozialen symbolisch übersetzt und in der körperlichen Erfahrung des Tanzens körperlich erfahrbar, angeeignet und habitualisiert wird (vgl. Klein 2017, S. 340).506 Tanz weist sie ferner als eine performative Praxis aus, in der sich die soziale Ordnung des Sozialen über ästhetische Erfahrungen körperlich und sinnlich materialisiert (vgl. Klein 2017, S. 340). Daran lässt sich anschließen und formulieren, dass sich soziale Unterscheidungen wie Geschlecht, Alter, Ethnie oder Mechanismen der Macht oder der Ein- und Ausschlüsse sowohl in Ordnungen des Tanzes wie auch in den Praktiken des Tanzens zeigen (vgl. Klein 2017, S. 340). Bei der Einübung bestimmter Tanzstile orientieren sich die Mädchen an einer spezifischen visuellen Kultur, in der Normen in Bezug auf Geschlecht, Ethnizität und Ästhetik verkörpert und folglich in den körperlichen Praktiken des Tanzens bedeutungsvoll werden. Somit lassen sich die 506

Anschließend an Haller und Klein (2008) kann Tanz(-en) als eine Praktik der Verkörperung bezeichnet werden, die soziale Strukturmuster von Geschlecht, Alter und Ethnie (re-)aktualisiert. Über Körpererfahrungen erfolgen somit Naturalisierungen von sozialen Ordnungen, welche im Tanz wiederum re-produziert werden. Diese bilden auch eine Grundlage für Subjektivierungsprozesse. Die Subjekte binden sie wirksam an Macht, indem sie als ,natürlich‘ erscheinen und ein körperliches Begehren produzieren (vgl. Haller und Klein 2008).

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

körperlichen Inszenierungen (Ästhetik) der Mädchen – die ich nun auf der Protokollebene einführe – mit Fragen nach der Wirkmächtigkeit von Normen in Hinblick auf Geschlecht und Sexualität und Ethnizität sowie mit der Positionierung im Jugendtreff verbinden.507 In ihren geschlechtlichen Darstellungen und körperlichen Bewegungsweisen greifen Mädchen auf die in spezifischer Weise codierten Bilder der US-Amerikanischen Hip Hop Szene zurück. Sie alle tragen hautenge T-Shirts und körperbetonte enge Hosen, die den Blick auf die darunterliegenden Stringtangas freigeben; sie sind stark geschminkt. In dieser Aufmachung tanzen sie zu türkischer und albanischer Hip HopMusik. Die Mädchen beziehen sich auf Geschlechterdarstellungen einer spezifischen visuellen Kultur und bringen diese im Raum zur Aufführung. Daran lässt sich – bezugnehmend auf Klein und Friedrich (2003) – akzentuieren, dass globale Bilder des Hip Hop ihre Wirksamkeit dadurch entfalten, da Bilder von Konsument*innen mimetisch nachvollzogen und in einem performativen Akt der Neukonstruktion verkörpert und somit lebensweltlich neu gerahmt werden (vgl. Klein und Friedrich 2003, S. 133).508 Die Mädchen tanzen nach US-Amerikanischen Musikvideos, bedienen sich dabei im Hinblick auf ihr Styling und ihre Bewegungen spezifisch weiblicher medialer Körperbilder und inszenieren sich somit als Objekte männlichen Begehrens. Hinter diesen sexualisierten Bewegungen, die ich im Protokoll unter dem Begriff ,gewollt‘ zusammenfasse, ist die den Körpern innewohnende Anstrengung deutlich spürbar. Es bedarf noch großer Übung, bis die disziplinierten Bewegungen an Selbstverständlichkeit, Natürlichkeit und Leichtigkeit gewinnen. Zudem befinden sich die Mädchen in einer Übungssituation, in der das Aufgeführte noch nicht für den Blick anderer bestimmt ist. Das Schieben des Beckens nach rechts und links, das Bücken und Aufrichten sind deutlich sexualisierte weibliche Körperpraktiken, die auf ein spezifisches Geschlechterverhältnis weisen. Wie im Kapitel über Jugend verdeutlicht wurde, gehört zu den zentralen Themen der Auseinandersetzungsprozesse in der Adoleszenz die Beschäftigung mit Zweigeschlechtlichkeit und Sexualität. Dass die Mädchen spe507

508

Bei der Körperpraxis des Tanzens spielen ethnisch-kulturell aufgeladene Geschlechtlichkeiten eine Rolle. Kleidung, Bewegung und Mimik, Gestik sind geschlechtsspezifisch konnotiert. Dies wird besonders von einer Gruppe Mädchen in dieser Sequenz eingeübt. Die Mädchen schauen sexy-lasziv und süß, die Jungen eher streng. Diese körperlichen Praxen lassen sich zum einen als strukturell bedingt sowie zum anderen als sinnstiftend und ordnungsbildend in den Blick nehmen. Auch in dieser Sequenz stellt sich die Frage, welche Körper (im Zuge von Gemeinschaftsbildungen) als nicht zugehörig ausgegrenzt werden und wie dies begründet wird. Bezugnehmend auf die ritualtheoretischen Arbeiten von Gebauer und Wulf (siehe Kapitel 3) sowie auf die Arbeiten von Bourdieu entwickeln Klein und Friedrich in ihrer Studie „Is this real“ ein Modell mimetischer Identifikation. Zentral für diese ist die Verleiblichung von kontextimmanenten Spielregeln durch Anähnelung. Dabei wird in der mimetischen Identifikation nicht lediglich eine Wirklichkeit nachgeahmt, sondern eine neue Wirklichkeit hergestellt (vgl. Klein und Friedrich 2003, S. 197).

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zifische sexualisierte körperlichen Praktiken einüben, sich dabei anfassen und streicheln, lässt sich dahingehend lesen, dass sie sich in changierenden Suchbewegungen mit homo- und heterosexuellen Phantasien und Wünschen auseinandersetzen und sie dabei auf gesellschaftliche Angebote zu deren Bearbeitung zurückgreifen (vgl. Hackmann 2003). Daran lässt sich anschließen und die These unterstreichen, dass im Tanz gesellschaftliche Ordnungen nicht nur aufgeführt, sondern auch reproduziert und bespielt werden. Da den kichernden und unsicheren Mädchen das perfekte Schwingen des Beckens nicht gut gelingt, wenden sie sich an das Publikum, dessen Anwesenheit sie plötzlich spüren und sich sozusagen ,ertappt‘ fühlen. Eines der tanzenden Mädchen hält inne und adressiert unsicher diejenige auf der Bank, die ihrer Meinung nach die Passage perfekt beherrscht; sie setzt sich auf diese Weise zu ihr in das Bewertungsverhältnis von Kompetenzen. Das andere Mädchen vor der Bühne tanzt hingegen weiter und betont, wie anstrengend diese Art des Tanzens für die Oberschenkel sei und wieviel diszipliniertes Trainieren dahinter stehe, um solche perfekten Bewegungen ausführen zu können. Dieses Beispiel verdeutlicht klar die Wirkmächtigkeit von Sportlichkeit und Sexualität. Das Einüben körperlicher Bewegungsweisen lässt sich auch in anderer Perspektivierung in den Blick nehmen, denn im Tanz und über den Tanz werden im Jugendtreff disziplinierte kompetente Körper hervorgebracht. Disziplinierung und Technologien des Selbst Durch Tanz werden Körper trainiert, überprüft und diszipliniert und so zu „kompetenten Körpern“ geformt. Die immer wiederkehrende Einübung von Bewegungsabläufen dient der Optimierung des Körpers, der so als eine Kapitalform eingesetzt wird, die Distinktionsgewinne im Jugendtreff verspricht. Zugleich (und in anderer theoretischer Perspektive) werden im Tanz ,disziplinierte Körper‘ hervorgebracht, die in Bezug auf Zugehörigkeit und Positionierung im Jugendtreff relevant werden. Interessant am Tanzraum ist die Wirkmächtigkeit des (disziplinierenden) Blicks. Der Blick bewertet Kompetenz, Stil, Können, Aussehen, Status. Villa (2002) zufolge wird das Schauen inkorporiert. Somit handele es sich um ein typisches Phänomen der Visualisierung des Sozialen – der ,Zur-Schau-Stellung‘ sozialer Ordnungen (vgl. Villa 2002, S. 195). Die Tänzer*innen lesen zum einen ab, was sie wissen müssen, um an der Interaktionsordnung des Tanzraumes teilzunehmen. 509 Gleichsam fungiert der

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Tanz steht im Zusammenhang mit Subjektivierung und lässt sich zudem als (leibliche) Materialisierung kulturellen Körper-Wissens fassen. Im Tanz werden symbolische Aspekte, mit denen der Tanz behaftet ist, aufgeführt und überdies zu subjektiven Erfahrungen (vgl. Villa 2002, S. 200).

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Blick auch als ,Ab-Gucken‘, als mimetische Nachahmung anhand eigener Körperpraxis (vgl. Villa 2002, S. 195).510 Der Blick in den Spiegel wirkt dabei in doppelter Weise disziplinierend: Zum einen auf die eigene Wahrnehmung, zum anderen wirkt über diesen auch der Blick der Anderen.511 In einer an Michel Foucault orientierten Perspektive ist der Tanz als Technologie(n) des Selbst beschreibbar. Diese ermöglichen dem Einzelnen, „aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, das er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt“ (Foucault 1993, S. 26). Die Mädchen fahren in der Einübung des Tanzens fort, jedoch zeigt sich ab dieser Stelle eine Änderung der Blickverhältnisse. Waren die Blicke zuvor auf den eigenen Körper und dessen Bewegung gerichtet, so wird nun der Körper der Anderen begutachtet und Bewertungen unterzogen. Nach einiger Zeit fordern die Mädchen eine auf der Bank sitzende Mitbesucherin, deren Tanzleistungen sie offensichtlich sehr schätzen, mit Worten und Gesten ebenfalls zum Tanzen auf. Es könnte sein, dass sie sich durch diese Aufforderung dem disziplinierenden Blick von ,oben‘ (im wahrsten Sinne des Wortes) entziehen möchten und so das Geschehen auf eine andere räumliche Ebene platzieren wollen, oder dass sie tatsächlich die Kompetenzen der Anderen als so perfekt einschätzen, dass sie selber gerne von ihr lernen würden. Um ihr Ziel zu erreichen, setzten sie bewusst ihre tanzenden Körper in den verschiedensten Facetten ein und schmeicheln der guten Tänzerin zusätzlich mit Worten. Diese steht daraufhin erst einmal auf, setzt sich aber gleich wieder hin und leistet der Aufforderung der Mädchen keine Folge. Anschließend äußert sie eine missachtende Bewertung, die durch tänzerische Bewegungen des eigenen Körpers, den sie aber nicht in einen gemeinsamen Tanz einzubringen bereit ist, unterstützt wird. Somit setzt sie sich in eine machtvolle Position gegenüber den tanzenden Mädchen, die sie von oben mit einem doppelten Blick (von der Bank aus und durch den Spiegel) bedenkt. Die Wirkung des Machtaspekts zeigt sich auf der Handlungsebene darin, dass die tanzenden Mädchen zu zögern beginnen. Sie unternehmen erneut einen Versuch, das Mädchen zum Tanzen zu bringen. Im nun Folgenden manifestiert sich ein symbolischer Ausschluss: Die beiden tanzenden Mädchen, die ihre Körper nicht in spezifischer Weise einsetzen und beherrschen können wie die „kompetente“ Tänzerin, werden von ihr als nicht zugehörig markiert 510

511

Es lassen sich an dieser Stelle Rückbezüge zum Konzept der Mimesis herstellen: Die Tänzer*innen ahmen Posen, Shows, Stile nach. Dabei reproduzieren sie diese und die ihnen inhärenten Bedeutungen. Gleichsam liefern sie damit eine neue Körpersprache und damit wieder neue Zeichen und Symbole (vgl. Villa 2002, S. 199-200). Der Tanz sowie der Tanzraum sind durchdrungen von Geschlechterdualismen und berühren so die Frage nach der Subversion.

Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben

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und positioniert. Als Begründung für ihr außergewöhnliches Tanzverhalten gibt die Zuschauerin ihre eigene, natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit an, die es ihr ermöglicht, das Tanzenkönnen zu den Wesenshaftigkeiten von Afrikaner*innen zu zählen, denen das Tanzen einfach im Blut liege. Auf der Basis dieses Hintergrundes sei das Tanzen einfach etwas, das nicht nur durch Übung erreicht werden könne. Der Tanz der beiden sich sehr bemühenden Mädchen erfährt eine Missachtung und Herabsetzung; dies wird durch Gesten und Lachen zudem noch verstärkt. Die Mädchen, die tanzen, fahren jedoch fort. Ihr Wille ist vielleicht dahingehend zu deuten, dass sie daran festhalten, dass Tanzen durch permanentes Üben und einer damit einhergehenden Disziplinierung und Beherrschbarmachung des eigenen Körpers erlernbar ist. Jugendliche tanzen nicht beliebig, um nicht das Risiko des Ausschlusses einzugehen (vgl. Villa 2002, S. 200). Der gesellschaftliche Wert des Tanzens scheint ein gesellschaftliches Gut und eine jugendliche Ressource zu sein, für die es sich lohnt hart an sich zu arbeiten. Im weiteren Verlauf der Szene ändert sich plötzlich die Musik. Es ertönt eher folkloristische Musik. Die beiden Mädchen, die vorher ihren Tanz einstudiert haben, hüpfen ausgelassen durch den Tanzraum. Nun prüfen sie ihre Bewegungen nicht mehr kritisch im Spiegel. Mit der sich ändernden Musik lassen sie sich in einen Tanz fallen, in dem sie nicht mehr der Prüfung eines Blickes und seiner Kontrolle unterzogen sind. 8.6.5

Körper im Einsatz – Musik machen

Auch das gemeinsame Musizieren gilt als eine von vielen beobachtbaren körperlichen Praktiken innerhalb des jugendpädagogischen Alltags, die der performativen Herstellung von Gemeinschaft dienen. Begreift man das regelmäßige miteinander ,Musik machen‘ als Ritual, so lässt sich anschließend an Zirfas und Wulf (2001, S. 204) plausibilisieren, dass Rituale über ihren inszenatorischen Charakter Abgrenzung erzeugen und so Gemeinschaft hervorbringen. ,Musik machen‘ fungiert als zentraler Mechanismus der Herstellung von Zugehörigkeit und damit einhergehend von Nicht-Zugehörigkeit. Ebenso damit verbunden sind Praktiken und Prozesse der Ein- und Ausschließung. O. kommt an die Theke um sich eine Gitarre auszuleihen. S. steht hinter der Theke. Er stimmt sie und gibt sie O. Sie bedankt sich nicht und geht mit dem Instrument in die Sofaecke. Z. (Mitarbeiterin) und ich bleiben an der Theke und unterhalten uns. Nun tönt Musik aus der Sofaecke. Ich bin begeistert. Die Mädchen singen leise, synchron und acapella im Chor ,Diamonds in the sky‘ und noch zwei weitere Lieder, die derzeit oft im Radio zu hören sind. Ich bin wirklich angetan und klatsche. Ich würde mich am liebsten dazu setzen und zuhören, aber der Kreis scheint gerade exklusiv und geschlossen, der Gesang und die Körperhaltung so aufeinander abgestimmt, dass ein ,Eindringen‘ gänzlich unpassend wäre. Der Kreis schafft hierbei

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse eine Form von Exklusivität, in der die Jugendlichen ,ihren‘ Raum gut abschotten und Grenzen nach außen setzen können. Derweil sitzen zwei andere Mädchen auf dem Sofa unter der Playstation. Sie haben ihre Körper dicht zueinander gewandt. Sie schauen auf ihre Smartphones, zeigen sich immer wieder gegenseitig Bilder und kichern. (BP 29.01. 2015, Z. 47-57).

In der hier beschriebenen Sequenz stehe ich hinter der Theke und unterhalte mich mit Z. (Mitarbeiterin). Plötzlich richtet sich meine Aufmerksamkeit auf Gesang, den ich wahrnehme. Ich merke, wie berührt ich von der Schönheit dieses Gesanges bin. Erst dann schaue ich weiter und sehe, dass eine Gruppe Mädchen in der angeschlossenen Sofaecke sitzen und sie gemeinsam Lieder angestimmt haben. In Anlehnung an körpertheoretisch orientierte Ritualtheorien lassen sich Körperpraktiken von Jugendlichen als performative Hervorbringung sozialer Gemeinschaften in den Blick nehmen, welche körperlich-leiblich konstruiert und konstituiert werden (vgl. Gugutzer und Staack 2015). Über den Gesang und die körperliche Anordnung formieren sie ein situatives Kollektiv, das auf körperliche Kopräsenz angewiesen ist (vgl. Niekrenz 2015, S. 41). Das ,Wir‘ wird hier körperlich und rituell sichtbar (vgl. Niekrenz 2015, S. 42). Über den inszenatorischen Charakter des Gesangs erzeugt dieser als Ritual Abgrenzung und bringt so Gemeinschaft hervor (vgl. Zirfas und Wulf 2001, S. 204).512 Es wird auch für die sich formierende Gemeinschaft sowie für die sich im Raum Aufhaltenden wahrnehmbar. Der Gesang wird gemeinschaftlich im Raum des Jugendtreffs inszeniert, jedoch konstituiert sich die Gemeinschaft als geschlossene Einheit über den Gesang und den Einsatz der Köper. Gelten einige Körper als eingeschlossen, so werden darin zugleich andere ausgeschlossen und ihnen so die Teilnahme am Ritual und an der Gemeinschaft verweigert. Weiterführend stellt sich die Frage, welche Körper im Zuge von Gemeinschaftsbildungen als nicht zugehörig betrachtet und ausgegrenzt werden und wie dies begründet wird. Vergleichend beziehe ich mich dazu auf eine einzelne Szene, wenn auch der ritualtheoretische Fokus in Kürze aufgegeben werden soll. P.: „Ey G., sing mal was! Bitte! Singst du heut was, du hast‘s versprochen. Ich nehm‘ das auf, ich schick‘ das auch nur mir und keinem anderen!“ G. grinst: „Später!“ Ich: „Och, wenn ich darf, dann würde ich das auch gerne hören! Das hab‘ ich ja schon auf der Weihnachtsfeier verpasst!“ G.: „Ja, aber ich möchte halt auch nicht HIER singen. Hier ist es mir dafür zu assi, das hört dann ja jeder Assi.“ Sie lehnt sich zurück. P.: „Ey, dann lass uns halt rausgehen, komm schon!“ Er stupst sie auffordernd an. Sie steht auf und nickt. Dann schaut sie mich an. „Kommen Sie doch mit!“ Ich: „Ach gerne!“ Wir gehen vor die Tür, es hat, wie ich finde, etwas Konspiratives. Es ist kalt, 512

Welche Bedeutung Gesang als Ritual für die Mädchen hat, kann ich in meiner Studie nicht beantworten.

Körper im Einsatz I – Körper zu sehen geben

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wir stehen in einer Ecke und das Mädchen beginnt zu singen. P. hält sein Smartphone hoch. Er nimmt ihren Gesang auf. Ich finde sie singt ganz wunderbar und ich bin irgendwie gerührt über diese intime und exklusive Stimmung. Ich klatsche, als das Mädchen den Gesang beendet. Der Junge bedankt sich und umarmt die Sängerin. Wir gehen wieder hinein in den Raum und setzen uns auf den Platz, an dem wir vorher saßen. (BP 29.01.2015, Z. 186-197) O. und G. sind im Jugendtreff beide für ihren wohlklingenden Gesang bekannt. G. stellt den exklusiven Wert ihres Gesanges durch Ein- und Ausschließungen besonders heraus. Die Anderen – ,die Assis‘ – sollen ihren Gesang nicht zu hören bekommen. Um die von ihr als ,Assis‘ bezeichneten Besucher*innen als nicht zugehörig auszugrenzen, genügt ihr die lapidare Begründung: ,Es sind eben Assis‘. An dieser Stelle lässt sich resümieren: Im jugendpädagogischen Alltag zeigt sich, dass Körpern für die Adressat*innen des Handlungsfeldes vielfältige und bedeutsame ,Funktionen‘ beizumessen sind. Innerhalb des Jugendtreffs geschieht der Einsatz des Körpers auf unterschiedliche Art und Weise: Im Dienste der Inszenierung werden sie gestaltet, bearbeitet und strategisch eingesetzt. Körpersoziologische Perspektiven erlauben es, diese Praktiken unter den Aspekten der ,Verwertung‘ und der ,Führung‘ zu betrachten. Im Rahmen der vorliegenden Arbeiten werden diese Praktiken jedoch als Praktiken der sozialen Selbstpositionierung verstanden. Damit bewältigen die Besucher*innen des Jugendtreffs eine der Kernherausforderungen der Lebensphase Jugend, und der Jugendtreff markiert dafür einen Ort, an dem diese realisiert werden können. Die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer konkreten Gruppe wird in diesem Zusammenhang für die Besucher*innen des Jugendtreffs besonders virulent. Zum einen ist die Annahme grundlegend, dass Zugehörigkeiten nicht natürlicherweise oder aus objektiven Gründen gegeben sind. „Sie sind Ergebnis sozialer Interaktionen und repräsentieren Beziehungskategorien, die zwischen Akteuren ausgehandelt werden“ (Neckel 2003, S. 161). In diesen Prozessen greifen eigene Gruppenbildungen und externe Zuschreibungen ineinander und schaffen Selbstpositionierungen und Zugehörigkeiten in Gemeinschaften. Zum anderen werden Zugehörigkeiten auch durch Fremdpositionierungen markiert. In Bezug auf Ersteres wird festgestellt: Im Falle von Freundschaftskreisen beispielweise streben Jugendliche Zugehörigkeiten selber an. Damit lassen sich Identitätsansprüche und soziale Vorteile verbinden (vgl. Neckel 2003, S. 161-162). Ungleichheitsrelevanz entfalten diese Prozesse insbesondere

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

dadurch, dass sich Zugehörigkeiten durch Grenzziehungen konstituieren, nicht zuletzt, um die eigene Wir-Gruppe nach innen zu begünstigen und nach außen abheben zu können (vgl. Neckel 2003, S. 162).513 Zum anderen bedeutet Zugehörigkeit etwas, dass in besonderer Weise über den Körper herstellbar ist. Dafür ist es nötig (und zugleich möglich), den Körper im Sinne kultureller Deutungen zu inszenieren. Überdies ist es von zentraler Bedeutung, den Körper in einer so angemessenen Weise zu präsentieren, dass er Anerkennung oder zumindest Akzeptanz erfährt. Die Partizipation an verschiedensten Gemeinschaften ist nämlich maßgeblich von einer als anerkennbar geltenden Inszenierung des Körpers und seinen kulturellen Konstruktionen getragen. Dies ermöglicht sodann eine legitime Positionierung im Kontext des Jugendtreffs einnehmen zu können. Daran lässt sich anschließen und weiterführen: In den alltäglichen Praktiken werden Zugehörigkeiten auf sozialer und symbolischer Ebene ausgehandelt, die Vermittlung geschieht im Wesentlichen über den Körper. Ob jemand als zugehörig eingeschlossen oder als nicht-zugehörig ausgeschlossen wird, bleibt indes nicht folgenlos. Innerhalb dieser sozialen Praktiken werden Zuschreibungen und Klassifikationen relevant und es werden über diese soziale und symbolische Mitgliedschaft zu Gruppen ausgehandelt. Als sozial anerkennungsfähig gelten jene Körper, die eine im Jugendtreff sozial akzeptierte und als angemessen wahrgenommene Form eingenommen haben. Somit werden auch Fragen nach Akzeptabilität und Anerkennbarkeit verhandelt. Körper, die diesen Formen nicht entsprechen, erfahren missachtende Zuschreibungen und Ausschließungen. Darüber hinaus werden im pädagogischen Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit auf der Ebene der Adressat*innen sowie in Interaktionen zwischen Professionellen und Adressat*innen soziale Ungleichheiten reproduziert und Ein- und Ausschlüsse spezifischer Personen(gruppen) generiert. Diese Gedanken werden in der Entfaltung der Kategorie Körper im Einsatz II weiter ausgeführt. In dieser wird ein Verständnis sozialer Ausschließung als situativ positionierende Praktik entwickelt. In der folgenden Diskussion wird primär eine Sicht auf die Praktiken der Ein- und Ausschließung zwischen den Adressat*innen des Feldes eingenommen. 8.7

Körper im Einsatz II – Körper der Nicht-Zugehörigkeit

Ausschließung als situativ positionierende Praktik In den alltäglichen Bezügen von Jugendlichen im Jugendtreff erfahren insbesondere jene Körper abwertende Zuschreibungen, die innerhalb der Interaktionen situative

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Exemplarisch dafür steht die ,Etablierte/Außenseiter-Figuration‘, die von Elias und Scotson (2013) in figurationssoziologischer Perspektive erarbeitet wurde. Dieser zufolge schützen sich die Alteingesessenen gegen die Aspirationen Hinzukommender (vgl. Neckel 2003, S. 162).

Körper im Einsatz II – Körper der Nicht-Zugehörigkeit

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und ausschließende Auswirkungen haben. In Körper BeDeuten wurde der Fokus insbesondere auf Klassifikationen und Normen gelegt und anhand des empirischen Materials herausgearbeitet, dass diese sich im Jugendtreff in Bezeichnungen und Bewertungen wie ,nicht-schön‘ / ,schön‘ und ,ansehnlich‘ / ,hässlich‘, ,homosexuell‘ / ,heterosexuell‘, ,fett‘ / ,normal‘, ,assi‘ /,nicht-assi‘, oder ,sauber‘/ ,schmutzig‘ zeigen.514 Klassifikationen sind somit als Kategorien der Bewertung auszulegen, die insbesondere an Körpern ansetzen. Sie spielen auf der Ebene der Interaktionen eine zentrale Rolle; sie drücken Unterscheidungen aus und sind entlang der Logiken von Differenz organisiert. Sie sind jedoch nicht statisch, sondern variieren mit den historischen, sozialen und kulturellen Kontexten der Praxis (vgl. Neckel 2003, S. 163).515 Die Sozialstruktur einer Gesellschaft schlägt sich dabei in den alltäglichen Begegnungen nieder; bis in die kleinsten lebensweltlichen Episoden hinein werden Interaktionen durch die jeweilige Verteilung sozialer Positionen geprägt und dieses ist im Wesentlichen über den Körper vermittelt. Normen ist indes eine Logik von ,normal‘ /,davon abweichend‘ inhärent, wobei das so markierte ,Andere‘ in symbolische Bereiche der ,Andersheit‘, der Zonen der ,Nicht-Anerkennbarkeit‘ positioniert und den betreffenden Jugendlichen eine legitime Positionierung im Jugendtreff verweigert wird. Hier vollzieht sich Ausschluss auf der symbolischen Ebene von Bedeutungen und Bewertungen (siehe vertiefend Kapitel 2).516 Mit diesen signalisieren die beteiligten Akteur*innen ihre jeweiligen Einschätzungen, erzeugen subjektive Nähen oder Distanzen und bringen Anerkennung, Gleichgültigkeit oder Missachtung zum Ausdruck. In der sozialen Lebenswelt schla-

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Hier zeigt sich überdies die Wirkmacht von Normen, die in die Wahrnehmungsweisen von Körpern eingehen und diese als ,ansehnlichen‘/ ,nicht-ansehnlichen‘, ,respektablen‘ oder ,nicht-respektablen‘ ,als ,anerkennbare‘ oder ,nicht -anerkennbare‘ Körper in Erscheinung treten lassen. Normen stecken den Rahmen dessen mit ab, was als ,normal‘-,davon abweichend‘, ,männlich‘-,weiblich‘, ,begehrenswert‘-,nicht begehrenswert‘, als ,gesund‘ und ,schön‘ gilt. Insofern treten Körper als normale – nichtnormale, anerkennbare und nicht-anerkennbare in Erscheinung und werden als solche konstruiert. Dies schlägt sich indes nicht nur in Wahrnehmungs-, sondern ganz besonders in alltäglichen Bewertungsweisen nieder. Bezugnehmend auf Bourdieu (siehe Kapitel 1.2.) lässt sich eine Perspektive darauf einnehmen, dass diese Klassifikationen sich aus der Inkorporation der sozialen Strukturen und ihren entsprechenden Ordnungen ergeben. Die auf die soziale Welt angewendeten Kategorien der Bewertung sind Resultat der Inkorporation derselbigen. Sie werden praktisch erkannt. Die praktische Erkenntnis hängt indes eng mit der jeweiligen sozialen Ordnung zusammen und lässt sich auch als Dimension symbolischer Gewalt markieren. In der Kategorie Körper BeDeuten (8.5.) wurden diese Facetten aufgenommen und herausgearbeitet, dass und in welcher Weise diese Konstruktionen als Klassifikationen im Alltag des Jugendtreffs kursieren und bestimmte Körper hervorgebracht werden, indem sie BeDeutungen erfahren. Diese Bewertungen wurden als situative Unterscheidungen konzeptionalisiert. Es zeigten sich: Körperliche Kompetenz, Begabung, Natürlichkeit, Asozialität, Hygiene, Jugend, Etablierte, Außenseiter, Zivilisiertheit und Verwahrlosung.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

gen negative Klassifikationen direkt in Separierung und Ausschließung um (vgl. Sutterlüty et al. 2008, S. 86). Sie sind auf der Ebene der Praktiken wirksam und können mitunter zu Ausschluss auf sozialer Ebene führen. Soziale und körperliche Interaktionen zwischen (Einzelnen und) Gruppen sind folglich mit Bewertungen verbunden. Von Bedeutung ist, dass die Bewertungen, die soziale Interaktionen begleiten, zum einen immer auch Aussagen über die soziale Stellung treffen, die Akteur*innen inmitten größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge einnehmen. Zum anderen entscheiden sie auch über das Ausmaß an Anerkennung und Wertschätzung, das Akteure jeweils genießen (vgl. Soeffner und Neckel 2008). Einem so gefassten Verständnis zufolge begründet diese Hierarchie der Wertschätzung die symbolische Ordnung, die durch die Logik des differentiellen Abstands (Bourdieu 1992, S. 146) organisiert ist. Innerhalb dieser sich so formierenden sozialen Ordnungen werden über Körper Einund Ausschließungen konstituiert und reproduziert. Dass bestimmte Körper einzelner Besucher*innen, dazu zählen körperliche Inszenierungen sowie körperliche Verhaltensweisen, innerhalb (der Gruppierungen) des Jugendtreffs in konkreten Situationen als nicht-zugehörig positioniert werden und darin Unterscheidungen wirksam werden, wird als situative und machtvolle Positionierungspraktik gefasst. Ausschließung lässt sich somit als situativ positionierende Praktik bestimmen. Anhand ausgewählter Sequenzen wird dieses Verständnis sozialer Ausschließung dargelegt. In der Kategorie Körper im Einsatz II – Körper der NichtZugehörigkeit wird Ausschließung als situativ positionierende Praktik moduliert. Es wird herausgearbeitet, dass und in welcher Weise Körper im sozialen Gefüge des Jugendtreffs situativ als nicht-zugehörig positioniert werden und wie es sich als Ausschluss auf sozialer sowie symbolischer Ebene deuten lässt. 8.7.1

Körper der Nicht-Zugehörigkeit – Marginalisierte Männlichkeit

Im Folgenden wird eine Situation herangezogen, in der ich mit einigen Besucher*innen in einer der Sofaecken sitze. K. isst den Kuchen auf. B. stellt sich neben D. vor die Playstationecke. K. hält mir den Teller hin und rülpst: „Boah, jetz‘ is‘ mir schlecht!“ Ich muss lachen: „Na, das wundert mich nicht, bei dem Kilo Kuchen!“ B. begrüßt Z. und D., die just hinzugekommen sind. Die beiden fragen B., der bei K. steht: „Kennst du den?“ Sie zeigen auf K.. B.: „Klar, wir kennen uns!“ K. nickt: „Jaa, von Sport, von Trampolin!“ B. sagt grinsend: „Ey, klar man, ich hab‘ dem Trampolin beigebracht!“ K.: „Unverschämt, hier gibt doch gar kein Trampolin. Das is hier nicht!“ Ich frage B.: „Ah, dann seid ihr auf der selben Schule, oder?“ B. verzieht das Gesicht, fast entsetzt oder angeekelt: „Nein, natürlich nicht. Ich geh doch nicht auf so eine Schule wie DER.“ (BP 3.03.2015, Z. 252-305)

Körper im Einsatz II – Körper der Nicht-Zugehörigkeit

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In der Situation, die sich hier ereignet, sitze ich mit einer Gruppe Jungen zusammen, mit denen ich mich zuvor bereits über Sport unterhalten habe. In dieser werden spezifische auf männliche Körperlichkeit bezogene Deutungen erkennbar. Ich habe erfahren, dass D., B. und Z. regelmäßig in ein Fitnessstudio gehen und ihnen ein athletisches Äußeres sehr wichtig ist. Erkennbar wird in ihren Praktiken ein spezifischer männlicher Habitus. Dieser kann als eine verkörperte männliche Praxis gedacht werden, die zum einen als Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppierung fungiert und zum anderen an der Reproduktion der diese Gruppierungen konstituierenden Ähnlichkeiten beteiligt ist.517 Die Szene veranschaulicht, dass Jungen im Jugendtreff über die vom (männlichen) Habitus angeleiteten Praktiken verschiedene Ausprägungen von Männlichkeiten aufführen und damit gleichsam immer Zugehörigkeiten oder Nicht-Zugehörigkeiten aushandeln. Die sich in diesen Praktiken beobachtete hegemoniale Männlichkeit lässt sich als ungleichheitsstrukturierende Kraft von Geschlecht bezeichnen. Männlichkeitskonstruktionen beanspruchen Hegemonie, sie streben danach und gruppieren sich um sie herum (vgl. Spindler 2007, S. 121). Diese geschieht durch soziale Praxis. So haben Jugendliche im Treff Mittel entwickelt, um sie aufrecht zu erhalten. Die Sequenz veranschaulicht die Auseinandersetzung der jugendlichen Männer mit Geschlechternormen und nach der (körperlichen) Verortung der Jugendlichen in einer heteronormativen, aber auch in einer Leistungsgesellschaft. Sie zeigt indes, dass jugendliche Männer sich und ihre Praktiken an gesellschaftlichen Idealen, denen sie sich annähern möchten, orientieren. Der Zugang zu Männlichkeit wird durch Faktoren durchkreuzt, die sich vorrangig auf Klasse, Ethnizität, Alter, Bildungsstand oder Religion beziehen. Es zeigt sich, dass Geschlecht im Zusammenspiel mit anderen Kategorien das Handeln formt (vgl. Spindler 2007, S. 121). Jugendliche Männer verorten sich als arbeitende Männer. Über ihre Berufe können sie Anerkennung erlangen. 518 Für diejenigen Jugendlichen, denen der Weg auf dem Arbeitsmarkt noch nicht geöffnet oder verschlossen ist, führt das nicht selten zu Zusammenschlüssen mit anderen. Das Agieren

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In diesem Part wird sich auf das Konzept der männlichen Herrschaft in Anlehnung an Bourdieu und weitergeführt von Ryan Conell et al. (2000) orientiert. Den Überlegungen liegt die Annahme zugrunde, dass Männlichkeit (und Weiblichkeit) keine biologisch begründeten Entitäten darstellen, sondern als soziale Konstrukte in den Blick zu nehmen sind. Männlichkeit gilt als in sozialer Praxis verankert. Begreift man soziale Praxis als körperliche Praxis, so ist Männlichkeit Ausdruck männlicher Praxis, welche auf den Körper bezogen ist, selbst dann, wenn nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird. Es kann an dieser Stelle keine ausführliche Darstellung des Konzeptes der hegemonialen Männlichkeit von Bourdieu oder einer vergleichenden Zusammenführung von Ryan Connells Konzeptionalisierung der hegemonialen Männlichkeit geleistet werden, stattdessen wird das Habituskonzept von Bourdieu mit Überlegungen zur symbolischen Gewalt und der hegemonialen Männlichkeit verbunden, da mit diesem der Zusammenhang von sozialer Praxis und Körperlichkeit theoretisch gerahmt und auf die ethnographischen Analysen bezogen werden kann. Dies wiederum ermöglicht ihnen die Einnahme einer Subjektposition als ,arbeitender Mann‘.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

in unterschiedlichen Männerbünden, in der Dynamik der Clique ist für die Auseinandersetzung mit hegemonialer Männlichkeit bedeutsam (vgl. Spindler 2007, S. 121). Dabei stellt die hegemoniale Männlichkeit die Unterordnung von anderen – von Frauen aber auch von anderen Männern – sicher (vgl. Spindler 2007, S. 121). Zu fragen ist ebenfalls nach der Auseinandersetzung der jugendlichen Männer mit Geschlechternormen und nach der (körperlichen) Verortung der Jugendlichen in einer heteronormativen Gesellschaft. Wenn man einbezieht, dass die betroffenen jungen Männer von Macht ausgeschlossen werden, dann erscheinen die Ausprägungen der Männlichkeitskonstruktionen der Jugendlichen und ihr geschlechtliches Verhalten sehr differenziert und verständlich. Die jugendlichen Biographien zeigen, „dass die Jugendlichen sich in einem permanenten Ringen um gesellschaftlich anerkannte und ,normale‘ Männlichkeit befinden und versuchen, sich hegemonialer Männlichkeit anzunähern“ (Spindler 2007, S. 121).519 Verkörperte männliche Praxis Die nachfolgende Situation ereignete sich zwischen unterschiedlichen männlichen Besuchern. Ich beobachte von der Theke aus einige Jungen, wie sie sich miteinander im Armdrücken messen. Mit den Süßigkeiten und dem Eistee gehen die Jungen zum Tisch vor der Theke. Sie setzen sich einander gegenüber und fangen an, sich im Armdrücken auszuprobieren. Sie kichern und flüstern sich Sachen zu, die sie immer wieder zum Lachen bringen. Von außen bekomme ich aber nicht, beziehungsweise kaum zu hören, was sie sagen und worüber sie lachen. Einmal höre ich L. zu B. sagen: „Ey, man, was bist du? Bist du behindert?“ B.: „Nein, aber Albaner!“ Alle lachen. Während sie mit dem Armdrücken fortfahren, lachen sie und kommentieren die Gewinner und Verlierer auf- und abwertend. Plötzlich setzen sich zwei ältere Jugendliche dazu und bieten ihre Arme zum Armdrücken an. Die Jungen machen eine kapitulierende Geste. Sie drehen sich um und bewegen ihre Hände abweisend. Mir scheint, als gingen sie auf den Kampf, von dem sie wissen, dass sie ihn verlieren könnten, nicht ein. Ich glaube, sie ahnen, dass sie den älteren Jungen körperlich unterlegen sind. (BP 6.01.2015, Z. 235-245) 519

Dabei gilt auch zu berücksichtigen, dass jugendliche Migrant*innen sich in einem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang bewegen, der bestimmte Konstruktionen von Geschlecht vorsieht (vgl. Spindler 2007, S. 120). Darunter zählt etwa ein spezifisches Verhalten in Bezug auf Frauen, Ältere oder auf Sexualität. Die Praktiken der Jugendlichen werden dabei sichtbar als Teil gesellschaftlicher Diskurse und Praktikenkomplexe. Selbst wenn ihre Praktiken auf Gegendiskurse verweisen oder von ihnen selbst als Widerstand angelegt sind, entkommen sie der hegemonialen Logik männlicher Herrschaft nicht. Auf die Jugendlichen wirkt dieses Herrschaftsverhältnis nämlich ebenso wie auf den Rest der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Spindler 2007, S. 120).

Körper im Einsatz II – Körper der Nicht-Zugehörigkeit

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In dieser Darbietung erkenne ich ein Spiel, in dem die Jungen miteinander lachen und reden. Es scheint nicht so, als würden sie sich sehr anstrengen. Auf Männlichkeit bezogene Normen, wie die körperliche Stärke sowie die Begegnung von Männern in Wettkämpfen, wirken hier bei allen männlichen Besuchern hegemonial; jedoch erproben die Jungen zu Beginn der Szene ihre körperliche Stärke auf eine spielerische Weise. Ihre Stellung innerhalb der Gruppe scheint nicht zur Disposition zu stehen. Eingeführt werden innerhalb dieses spielerischen Wettkampfs auf natio-ethno-kulturelle und auf körperliche Andersheit bezogene Zuschreibungen. Sie fließen in den spielerischen Wettkampf ein, entfalten auf der Ebene der Handlungen jedoch keine Wirksamkeit. Einige Minuten später gesellen sich zwei sichtbar ältere Jugendliche zu den Jungen und fordern diese zu einem Duell heraus. Jedoch scheint es, als wüssten die jüngeren Männer um ihre körperliche Unterlegenheit und meiden so den Wettkampf, denn es wäre zwar ein Wettkampf unter Männern, aber nicht unter ,Ihresgleichen‘. Damit umgehen die Jungen einen Achtungsverlust, der mit einer Niederlage hätte einhergehen können. In welcher Weise als ,unansehnlich‘ markierte Körper missachtende Ansprachen erfahren wird nun anhand einer Beobachtung einer Situation zwischen zwei Mädchen dargelegt. 8.7.2

„Ey du hässliche Missgeburt, geh weg!“

Dass Körper, beziehungsweise körperliche Merkmale Jugendlicher im Alltag des Jugendtreffs missachtende Zuschreibungen erfahren, erlebe ich während der Zeit im Feld sehr häufig. In der herangezogenen Sequenz bedienen sich zwei Mädchen der Klassifikation des ,Hässlich-Seins‘. Einige Minuten später sitzen K. und N. noch immer am Computer. A. geht an ihnen vorbei und summt. Grundlos (wie es scheint und zumindest gibt der Junge in dem Moment keinen Anlass für einen Konflikt, er schaut die Mädchen lediglich kurz an). Ganz plötzlich ruft N. in einem harschen Ton: „Ey du, geh weg! Ey, du hässliche Missgeburt, geh weg oder ich geb‘ dir Köpfchen.“ A. schaut die Mädchen an, blickt dann weg und auf den Boden. Ich bin mir nicht sicher, ob er die Worte versteht, denn ich glaube, er versteht und spricht kaum beziehungsweise gar kein Deutsch. Am Ton jedoch ist deutlich hör-, sowie an S.‘s Gesichtsausdruck ablesbar, dass sie ihm nichts Freundliches gesagt hat. A. schüttelt mit dem Kopf, zögert und geht dann zum Ausgang. Die beiden Mädchen schauen sich grinsend an. Sie lachen abwertend: „Ach ey, der versteht kein Deutsch, hahahaha! Voll die Missgeburt.“ Ich spüre Ärger, erstens, weil ich es schlimm finde so mit anderen zu sprechen, zweitens bin ich parteilich. Ich habe mit A. ,Halli Galli‘ gespielt, er war sehr nett und ruhig und hat ebenso beim Tischdecken für das Abendessen geholfen. Ich finde, er erscheint nicht wie so ein „Rabauke“. Ich habe

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse auch beobachtet, dass er (im Gegensatz etwa zu T., B., St. und L.) bei den Mädchen im Treff nicht so gut ankommt. Ich sehe ihn wenig bei den Mädchengruppen und er ist auch nicht so auffallend wie viele andere Jungen im Treff. A. ist groß und schlaksig, er hat ein wenig Akne im Gesicht, immer eine Mütze auf dem Kopf und Kopfhörer im Ohr. Ich schätze ihn auf ca. 17 Jahre. Er fällt weniger auf, da er sich nicht so laut und agil, raufend, hüpfend, rangelnd verhält, wie viele andere Jungen. (BP 23.01.2015, Z. 238-254)

Ich beobachte die Szene von der Theke aus. Zwei Mädchen sitzen am Computer und blicken gemeinsam auf den Bildschirm. A. geht an den beiden Mädchen vorbei, die in ihr Tun vertieft scheinen. Auf mich wirkt ihre Reaktion sehr unvermittelt, denn ohne jedwede Vorankündigung rufen sie ,Ey du, geh weg! Ey, du hässliche Missgeburt, geh weg oder ich geb‘ dir Köpfchen‘. Über den Grund dieser Herabwürdigung erfahre ich nichts. Die Klassifikation des ,Hässlich Seins‘ wird in der Situation von den beiden Mädchen eingesetzt und zudem mit einem Schimpfwort verbunden, was die Gewalt dieser Ansprache unterstreicht. Die Mädchen bezeichnen A. nicht nur als hässlich, sondern als ,hässliche Missgeburt‘. Die Verwendung dieser Klassifizierung lässt sich als situativ ausschließende Positionierung deuten, über die A. nicht nur situativ Ausschließung erfährt. Ihm wird darüber hinaus die Anerkennung im Jugendtreff und somit der Zugang zum sozialen Leben dort vorenthalten. Dass A. kein deutsch spricht und sich nicht zu Wehr setzen kann, verweist indes auf eine Machtasymmetrie, die der Situation inhärent ist. A. verfügt nicht über die (strategischen) Ressourcen, sich dieser missachtenden Ansprache zu widersetzen. Also schweigt er und verlässt den Jugendtreff. Dass ,Hässlich-Sein‘ eine auf Ausschließung gerichtete Kategorie innerhalb der beobachtbaren Praktiken ist, das veranschaulicht auch die folgende Situation: Die drei Mädchen kichern, rennen zur Sofaecke, auf der auch A. sitzt, und kichern weiter. Ich schaue ihnen nach. Sie tuscheln und werfen sich immer mal wieder auf die Couch. B. trägt heute einen Kapuzenpulli mit der serbischen Flagge. Die drei Mädchen fangen nun an, ihn mit ihren Blicken zu taxieren. Sie schauen ihn wortlos an, er guckt zurück, hält dem Blick der Mädchen aber nicht Stand und schaut zu Boden. Daraufhin sagen die Mädchen sehr ernst und auf mich wirken sie kalt: „Boah, wie kann man nur so hässlich sein?“ Sie kichern. Sie klatschen sich triumphierend gegenseitig in die Hände und sagen: „Komm, wir gehen Rauchen!“ Sie stehen eilig vom Sofa auf und rennen zum Rauchen heraus, auf den Vorplatz des Treffs. (BP 12.02.2015, Z. 258-266) In dieser Szene schließen sich drei Mädchen zu einer Mehrheit zusammen und modellieren eine Situation, in der nicht nur die Frage der Anerkennbarkeit, sondern auch die Frage nach Überlegenheit und Unterlegenheit verhandelt wird. Es zeigt sich, dass

Körper im Einsatz II – Körper der Nicht-Zugehörigkeit

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B. auf der Ebene der Bewertungen dem Bereich des ,Nicht- Schönen‘, des ,NichtAnerkennbaren‘ zugeordnet wird. Zudem zeugen die machtvollen Blickpraktiken der Mädchen, dass sie ihm situativ eine untergeordnete Position zuweisen. Er erkennt diese an, indem er den Blick abwendet. Gleich einer Geste des Sieges schlagen sich die Mädchen in die Hände und verlassen das ,Feld‘. In dieser Szene wird die Diskriminierung einer Person, die ohnehin schon Benachteiligung erfährt, vertieft. 8.7.3

,Die Schlampe‘

Eine weitere auf Ausschließung gerichtete Figur, die sich als wirkmächtig zwischen den Adressat*innen zeigt, lässt sich als ,die Schlampe‘ rekonstruieren. Diese wird im Folgenden interpretativ entfaltet, um zu verdeutlichen, dass und in welcher Weise körperspezifische Inszenierungen von Weiblichkeit im Jugendtreff missachtende Zuschreibungen erfahren und diejenigen, auf die sie angewendet werden, situativ als nicht zugehörig ausgeschlossen werden. Sh. und F. kommen in den Treff. Sie setzen sich zu uns an die Theke. Mir fällt auf, dass beide sehr gestylt sind. Ihre Haare sehen so aus, als seien sie aufwändig geföhnt, die Lippen sind knallrot bemalt, beide tragen mehr Schmuck als sonst. Ich: „Wow, Ladies, was habt‘n ihr heute noch vor, geht ihr auf die Party im ***?“ Sie lächeln und nicken. Ich: „Na, und den Jungs `ne Runde den Kopf verdrehen?“ Beide kichern und schauen sich dabei an. Ich: „Very nice, sehr schick seht ihr aus.“ Die beiden kichern. S. sagt etwas ironisch: „Na, ihr seht aber so aus, als ob ihr heut noch was vorhabt, so schick wie ihr euch gemacht habt.“ Sie kichern und verdrehen die Augen. Ich: „Och, ich würd‘ da wohl auch hingehen. Wie wäre es denn, wenn wir mitkämen?“ Die beiden schauen sich an: „Neeeheee, ihr kommt da nicht rein, ihr seid viel zu alt!“ Ich lache und tue so als ob ich schmolle, indem ich meine Unterlippe nach vorne schiebe. Ich frage, ob denn dort auch getanzt würde. Die beiden nicken: „Klar, da tanzen alle!“ Ich: „Und, was‘n da so für Musik?“ Sh.: „Das is‘ so für junge Leute halt, aber auch Helene Fischer und so.“ Ich: „Uh, ich finde die Musik von Helene Fische ganz furchtbar und entsetzlich.“ Dabei verziehe ich mein Gesicht. F.: „Ich auch! Aber dieses eine, das find ich voll gut. Das is‘ voll gut, da singen auch die meisten immer mit!“ Ich: „Atemlos…lalala…durch die Nacht?“ Ich singe das fragend. F. nickt. In dem Moment fragt S.: „Was ist eigentlich mit J.? Ist die auch da?“ Die beiden Mädchen verziehen ihre Gesichter und sehen dabei verärgert aus. F.: „Wissen wir nicht, was mit der is‘. Is‘ auch egal. Das is‘ voll die Schlampe?“ (BP 16.01.2015, Z. 68-86) Ich stehe mit dem Hauptamtlichen S. hinter der Theke. Zwei Mädchen betreten den Jugendtreff und setzen sich vor die Theke. Da die beiden aussehen, als hätten sie viel Zeit vor dem Spiegel verbracht, spreche ich sie darauf an. S. und ich erfahren, dass

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

die beiden zu einer Party gehen wollen, die regelmäßig in einer Diskothek für Jugendliche unter 16 angeboten wird. Wir reden über Musik und Tanz und S. fragt nach J.. Möglicherweise hat er J. zuvor mit Sh. und F. zusammen gesehen. Die beiden Mädchen verziehen ihr Gesicht und behaupten, dass sie nicht wissen, was mit J. sei, denn J. sei voll ,die ,Schlampe‘. Die Figur der ,Schlampe‘ dient innerhalb des Jugendtreffs als missachtende Zuschreibung und negative Abgrenzungsfolie anhand derer Besucher*innen körperlichen Inszenierungen und Umgehensweisen von weiblichen Besucher*innen eine bestimmte Bedeutung verleihen. An der Figur „der Schlampe“ wird so die latente alltägliche Wirkmacht sexistischer Unterscheidungspraktiken deutlich (Hofarth 2017, S. 137). Den Thematisierungsweisen der Jugendlichen lässt sich entnehmen, dass eine bestimmte Inszenierung von Weiblichkeit keine Anerkennung bei den anderen Besucher*innen erfährt. Indem die Jugendlichen den Begriff der ,Schlampe‘ einführen, aktualisieren sie die Abwertung eines spezifischen Weiblichkeitstypus, der im symbolischen Raum des Jugendtreffs wenig anerkennbar ist. Somit erlaubt die Figur der ,Schlampe‘ den Besucher*innen Sh. und F. in einer indirekten Weise den Einsatz von Mechanismen von Abwertung und Abgrenzung, mit welchen wiederum für sie eine legitime und anerkennbare Positionierung im Sozialen möglich wird. In einer anderen Szene erfahre ich mehr über die ,Schlampe‘ und überdies, was als nicht angemessene weibliche Inszenierung im Jugendtreff unter den Besucher*innen gilt. In dieser sitze ich mit einer Mitarbeiterin und zwei Mädchen an einem Tisch. Ich stehe mit T. (Honorarkraft) und Y. (Praktikantin) hinter der Theke. Auf den Stühlen davor sitzen G., L. und Ed.. Sie reden sehr gehässig über ein Mädchen. Sie nennen es Nilpferd. Scheinbar ist dieses Mädchen auch öfter im Treff. T. lacht, schaut Ed. an und zieht die Augenbrauen hoch. Ed.: „Ey, meine Mutter würde mich umbringen, wenn ich so rumlaufen würde, echt, ich wär‘ tot. Die würde mich nie so rumlaufen lassen.“ Ich frage: „Und warum heißt die Nilpferd? Hat die so große Ohren oder is‘ sie so korpulent?“ L. schüttelt mit dem Kopf: „Nee, eigentlich is‘ die eher normal.“ T. weiß scheinbar, von wem die Rede ist und erzählt: „Naja, also die hat schon immer wenig an, auch so im Winter kam die bauchfrei und mit kurzen Röcken hierher.“ Die Mädchen nicken, der Junge blickt auf sein Smartphone. Weiter erfahre ich noch über das ,Nilpferd‘, dass die schon ,voll vielen‘ Jungen hier ,einen geblasen‘ hat. T. und ich gucken erstaunt und schütteln mit den Köpfen. (BP 16.01.2014, Z. 155-166) Die ,Figur der Schlampe‘ zeigt indes, wie eine spezifisch geschlechtliche Inszenierung des Körpers im Rahmen des Treffs als vom Normalen, vom Anerkennbaren abweicht. In der Figur der ,Schlampe‘ zeigen sich somit normative Konzepte von Sittlichkeit und Sexualität. Auf diese Weise werden Zusammenhänge hergestellt, in denen die ,Schlampe‘ zu einer moralisierenden und personalisierenden Skandalisierung von Verhaltensweisen einzelner Besucher*innen konstruiert wird. Sie degradiert auf

Körper im Einsatz II – Körper der Nicht-Zugehörigkeit

407

moralischer Ebene und trägt dazu bei, dass den entsprechend markierten Jugendlichen Zugehörigkeit und Anerkennung entzogen oder verweigert wird (vgl. CremerSchäfer 2002, S. 145). Interessant ist in dieser Sequenz, dass die Mitarbeiterin und die Besucher*innen die Deutungen von anerkennbarer Weiblichkeit miteinander teilen. Als ,schlampig‘ werden sodann sowohl von den Besucher*innen als auch von der Mitarbeiterin bestimmte Bekleidungspraxen klassifiziert, die dem ,Normalen‘ nicht entsprechen. Ed. führt in Bezug auf die Inszenierung des anderen Mädchens ein, dass ihre Mutter sie umbringen würde, wenn sie so etwas trüge. Im Verweis auf die Mutter als Maßstab der Bewertung führt sie noch eine andere Perspektive der Wahrnehmung und Bewertung ein. Die Inszenierung des Mädchens erfährt somit eine Dramatisierung der Verwerflichmachung. Vordergründig in der Wahrnehmung der Inszenierung des Mädchens ist ihre als weiblich konnotierte unangemesse Inszenierung. Diese fällt in den Fokus der anderen Mädchen. Alle anderen körperbezogenen Merkmale scheinen im Bereich des ,Normalen‘ zu sein. L. fügt auf Nachfragen noch hinzu, dass das Mädchen, über das gesprochen wird, eher normal sei. Der Bezug der Jugendlichen auf die Figur der Schlampe stellt die Frage nach der Anerkennbarkeit. Zudem zeigt sie sich als eine wirkmächtige Klassifikation, die den Ausschluss derjenigen Mädchen generiert, die bestimmte Eigenschaften, die als schlampig gelten, verkörpern. Die ,Figur der Schlampe‘ wird – so lässt sich bilanzieren – von den Mädchen eingesetzt, um andere Mädchen situativ auszuschließen und sie zu degradieren. Sie lässt sich als machtvolle positionierende Praktik auslegen, über die innerhalb der sozialen Praktiken von Jugendlichen letztlich situativ im Jugendtreff Ausschluss hergestellt wird. Eine ,unangemessene‘ Inszenierung von Weiblichkeit bezieht sich indes nicht lediglich auf spezifische Bekleidungspraktiken, sondern auch auf den Umgang mit Sexualität. Dies wird in der Deutung eines männlichen Besuchers erkennbar, der mir in einer Situation erzählt, dass er eine richtige Freundin sucht. Dabei sieht er in dieser Situation ein ,knutschendes‘ Paar auf einem der Sofas. Er zeigt auf das Paar auf der Sofaecke und sagt: „Aber halt nicht so wie die da, ich bin nich‘ so einer, der so offen so viel rummacht, das ist ja, wie soll ich sagen, so eine Schlampe.“ (BP 5.02.2015, Z. 269-271). Für den Besucher scheint es unangemessen und schlampig, wenn ein Mädchen in der Öffentlichkeit intensiv küsst. Das Verhalten des Mädchens erfährt eine Moralisierung und Skandalisierung. In seiner Aussage zeigen sich Vorstellungen von Sittlichkeit und normative Konzepte von ,angemessenem‘ und abweichendem sexuellen Verhalten, die auch darüber entscheiden, welche Wertigkeit einigen Mädchen und Frauen zugesprochen oder aberkannt wird. Für den männlichen Besucher ist der Gebrauch der Klassifikation entscheidend für die Wahl einer Partnerin.

408 8.7.4

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse ,Reinheitsregel‘

Als ein wirkmächtiges Muster innerhalb des Jugendtreffs, entlang dem Ein- und Ausschlüsse verhandelt werden, zeigte sich auch die ,Reinheitsregel‘. Vertiefende Überlegungen dazu folgen im nachstehenden Part. An zahlreichen Beobachtungstagen wurde ich Zeugin davon, dass die Jugendlichen sehr viel Wert auf ,Sauberkeit‘ und Hygiene legen. Auf der Ebene der Semantiken zeigte sie sich in den Begriffen ,dreckig‘ und ,schmutzig‘ sein. Diese Klassifikation unterscheidet zwischen den dreckigen und den sauberen Körpern. Auf der Sofaecke vor der Playstation sehe ich A., T., B. und B.. Ich sehe, dass sie ihre Schuhe (beziehungsweise zwei von ihnen je einen Schuh) ausziehen und in der Runde herumgeben. Die Jungen schauen die Schuhe genau an, einer pfeift anerkennend. Sie unterhalten sich über die Marke und probieren die Schuhe gegenseitig an. Zwei Mädchen, die an der Sofaecke vorbeilaufen, sehen, dass die Jungen ihre Schuhe ausziehen und kommentieren kichernd, dass sie die Schuhe anprobieren. Als die Jungen das bemerken, unterbrechen sie ihre Tätigkeit. A. kommt zur Theke und kauft Maoam und Eistee bei mir. Ich weiß nicht mehr, was ich sage, aber irgendwie kommentiere ich die Schuhanprobe. A.: „Haben sie etwa gesehen, dass ich meine Schuhe ausgezogen habe?“ Ich: „Ja“. A. ruft (mit den Händen fuchtelnd): „Nein, nein, ich schwöre, ich stinke nicht. Kommen Sie, wollen sie mal riechen? Wirklich, ich bin sauber, ich stinke nicht!“ Er streckt mir seinen Hals entgegen und wedelt mit der Hand. „Riechen Sie, riechen Sie, ich rieche gut, riechen Sie mal. Ich bin wirklich sauber, das müssen Sie mir glauben!“ (BP 16.12.2014, Z.191-209) Ich erfahre nebenbei, dass einige Jungen, die auf einer der Sofaecken sitzen, einen Schuh herumgeben, damit ihn alle anprobieren können. Diese Praktik gilt als Teil der vergleichenden Prüfung‘, in der die Normen den Wert ihrer Bekleidung bestimmen und sie einer ,Kontrolle‘ unterziehen. Zwei Mädchen laufen an der Sofaecke vorbei und lachen, als sie das sehen. Die Jungen fühlen sich ertappt und unterbrechen ihre Tätigkeit. Als ich A. einige Minuten später darauf anspreche, fragt er mich zunächst, ob ich gesehen hätte, dass er seine Schuhe ausgezogen habe; dieses bestätige ich ihm. Er befürchtet, ich könne denken, er könne stinkende Füße haben und beschwört, dass er nicht stinke und sauber sei. Dies wiederholt er mehrfach. Die Klassifikation des ,Dreckig-Seins‘ setzt im Wesentlichen am Körper an. Sie wird sowohl wörtlich als auch metaphorisch verwendet. „Zuschreibungen, die mit den Kategorien des Drecksigseins operieren, schließen die so Klassifizierten symbolisch aus dem Bereich möglicher Sozialkontakte aus, wie sie mit einem zivilisatorisch eingeimpften Abscheu vor dem Unhygienischen verbunden sind und oft mit der Vorstellung einher gehen, dass man sich durch eine Berührung selbst verunreinigt“ (Elias und Scott 2013, S. 18-

Körper im Einsatz II – Körper der Nicht-Zugehörigkeit

409

19). Indem Jugendliche als dreckig markiert werden, wird ihnen mangelnde Reinlichkeit und mangelnde Körperpflege zugeschrieben. Mit dieser Klassifikation ist die Vorstellung einer zivilisatorisch begründeten Ungleichwertigkeit verbunden (vgl. Sutterlüty et al. 2008, S. 60). In dieser Szene zeigt sich jedoch auch eine Angst davor, dass ihre Körper als dreckig oder unrein wahrgenommen werden könnten. Dies lässt sich als Angst davor deuten, in einen Bereich der Ungleichwertigkeit positioniert und somit symbolisch sowie räumlich (im Jugendtreff) ausgeschlossen zu werden. „Ey man, ich arbeiten halt!“ Dass die Klassifikation ,dreckig sein‘ nicht situativ zur Ausschließung führt, indem sie an ,gute Gründe‘ gebunden wird, zeigt die folgende Szene. Nun schaut Zr. auf die Hände von Z. und sagt: „Ey Alter, wasch dir mal deine Hände, die sind voll schmutzig, Alter!“ Z. lacht nur abschätzig, er winkt ab und sagt: „Ey man, ich arbeiten halt!“ (BP 12.02.2015, Z. 176-178) Zr. nimmt Z.‘s Hände als schmutzig wahr und fordert ihn auf, diese zu waschen. So verweist die folgende Sequenz auf die Norm der Hygiene. Diese ist dichotom strukturiert und unterscheidet zwischen Reinheit und Unreinheit, Unversehrtheit und Versehrtheit, Zivilisiertheit- Unzivilisiertheit, Kontrolle- Chaos, Disziplin und Zügellosigkeit. Die schmutzigen Hände wirken als Körperzeichen und sind verbunden mit Zuschreibungen von Verkommenheit, Verwahrlosung oder Faulheit. Sie erfahren Kommentierung, die einen auffordernden Charakter hat. Z.‘s Hände werden als schmutzig wahrgenommen und kommentiert. Er wird aufgefordert den Schmutz abzuwaschen, den seine Hände unrein erscheinen lassen. Diese Aufforderung lässt sich als Normierung, die Z. erfährt, auslegen. Z. widersetzt sich dieser, der Aufforderung inhärenten Normierung und plausibilisiert die Legitimität des Schmutzes an seinen Händen mit Arbeit. Anders formuliert versieht er den Schmutz der Hände mit ,guten Gründen‘ – einer Erwerbstätigkeit. Erkennbar werden dahinter gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen nicht nur von Hygiene und Reinheit, sondern auch von der Respektabilität von (Erwerbs-)Arbeit. Die Hygienenorm sortiert, aber sie führt hier nicht zum Ausschluss. Dass diese Norm in einer solchen Situation nicht zu einer Ausgrenzung führt – so wie etwa die BeDeutung der Zigeuner als unrein zu deren Ausgrenzung und Marginalisierung führt – liegt darin begründet, dass der über die Norm der Hygiene Adressierte sich zum einen der Ansprache und somit der Positionierung widersetzt und dem Schmutz seiner Hände einen respektablen Wert verleiht. Die Reaktion von Z. hingegen lässt sich zudem als selbstermächtigende Strategie deuten, in der er sich des Verweises einer in dem Moment unterlegenen Position widersetzt. Interessant ist, dass Z. den Schmutz seiner Hände mit Arbeit legitimiert und diesen so als symbolisch für eine respektable Positionierung im Jugendtreff und der Gesellschaft markiert.

410

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Respektabilität bedeutet die Zugehörigkeit zu einer durch Fleiß, Arbeit und Mühe sowie durch geregelte Lebensführung charakterisierten ehrbaren sozialen Welt (vgl. Chassé 2017, S. 485). Konflikte um die sozialen Positionen im sozialen Raum und respektable Selbstzuschreibungen der Akteur*innen sind miteinander verbunden. Sie sind als struktureller Ausdruck sozialer Kämpfe zu deuten. In der Gegenwart, so Chassé (2017), verlieren respektable Positionen ihre Sicherheit. Somit verschärfen sich innerhalb der Arbeitermilieus die Abgrenzungen und Konflikte zwischen den Traditionslinien der Respektabilität und der Informalität (vgl. Dörre 2009; Vester et al. 2011; zit. nach Chassé 2017). Die Beschmutzung seiner Hände deutet Zr. als ein respektables Stigma, da es mit der Norm der Arbeitswilligkeit und Arbeitsfähigkeit verknüpft ist und somit Legitimation erfährt. Sein Körper verrät indes die Zugehörigkeit zu rechtschaffenden und arbeitenden Bürger*innen. Seine Arbeitskraft ist seine zentrale Ressource, die ihm Respektabilität verleiht. Insgesamt lässt sich an dieser Stelle für die Analyse bilanzieren: Dem Körper kommt eine wesentliche Rolle innerhalb der Praktiken zwischen den Besucher*innen des Jugendtreffs und somit den Adressat*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu. Er wird eingesetzt im Dienste der sozialen Selbstpositionierung und daher wird er in mannigfaltigen Weisen gestaltet. Über den Körper stellen Jugendliche Zugehörigkeit zu Gruppen her. Darüber hinaus erfahren Körper vielfältige Bezeichnungen und Bewertungen, in denen sich normative Konzepte der sozialen Ordnung zeigen. Soziale Bewertungen, in Form von sozialer Wertschätzung und Missachtung, sind nicht losgelöst von der Sozialstruktur zu betrachten. Negative Klassifikationen lassen sich also nicht nur als (nicht-zugehörig-positionierende) ausschließende Positionierungen in konkreten Situationen im Alltag des Jugendtreffs auslegen, sondern sind als stigmatisierende Elemente der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit in den Blick zu nehmen, über die letztlich Ein- und Ausschlüsse verhandelt werden. In welcher Weise Körper der Adressat*innen Regulierungen erfahren und in den Blick der professionell Handelnden geraten, sollen die nachfolgenden Überlegungen illustrieren. 8.8

,Professioneller Ausschluss‘?

Im Jugendtreff gilt das Hausverbot als eine Maßnahme, die eingesetzt wird, um Verhalten von Jugendlichen zu sanktionieren, sobald sie sich nicht an geltende Regeln halten. Dazu zählen das Konsumieren von Drogen, Diebstahl, Gewalt oder die mehrfache Missachtung der Ermahnungen von Mitarbeitenden. Somit dient der Ausschluss aus dem Jugendtreff als ein probates Mittel der Wiederherstellung der Ordnung. Zu Beginn der Analyse wurde herausgestellt, dass der Jugendtreff durch die Praktiken einiger Besucher*innen, die sich dort aufhalten, auch zu einem Ort gemacht wird, der andere gefährden kann. Hier scheint es lohnenswert danach zu fragen, welche Fakto-

,Professioneller Ausschluss‘?

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ren laut Jugendschutzgesetz zu Gefährdungen für Jugendliche werden. Das Jugendschutzgesetz weist Räume für Kinder und Jugendliche als jugendgefährdend aus, wenn Gefahr für das körperliche, geistige oder seelische Wohl droht. Nun stellt sich die Frage, wann ein Ort, der für Jugendliche verfügbar ist, für sie gefährdend scheint oder gar zur Gefahr wird.520 Eine Form der Gefährdung, die dort ausgemacht wird, ist insbesondere die Gefahr für die jüngeren Besucher*innen. Dass der Jugendtreff potenziell zu einem jugendgefährdenden Ort durch die älteren Jugendlichen gemacht wird und durch diese bedroht sein könnte, zeigt die folgende Sequenz. Ich stehe mit dem Hauptamtlichen St. in der Nähe der Billardtische. Wir stehen dicht beisammen und schauen auf das Geschehen. An beiden Tischen haben sich Jugendliche versammelt, die miteinander und gegeneinander spielen. Ich komme auf die bevorstehende Party zu sprechen. Ich bin neugierig darauf und ich frage: „Was macht ihr denn dann alles so?“ St.: „Wir haben so mehrere Angebote, mit Musik und Tanz zu verschiedenen Zeiten. Ein Mädchen singt – eine Tanzgruppe und dann noch DJ´ s!“ Ich: „Sind das Externe?“ St.: „Ja, und es war auch nicht so leicht, die zu organisieren. Uns ist es wichtig, dass diese Party gut wird. Die ist für die 12-14Jährigen und wir möchten denen einen Raum bieten, in dem sie geschützt sind. Wir probieren das jetzt auch mal aus und hoffen, dass das gut ist. Wir können für viel sorgen, das Programm und so, aber eben nicht für alles. Wir haben im Vorfeld auch schon viele Gespräche geführt, mit welchen die da halt nicht hinkönnen, denn die würden da den Rahmen sprengen.“ In der Zeit kommt eine laute Horde Mädchen reingestürmt. Sie rennen durch den Raum. Ich werde nun etwas lauter und frage St.: „Gibt es denn eine zeitliche Begrenzung?“ St.: „Ja, das ist ja eine Party für 12-14-Jährige. Die geht von 18-22 Uhr.“ Ich: „Da wird ja auch sicher noch viel drum herum ablaufen, also auch draußen und wahrscheinlich auch so mit Alkohol.“ St. nickt: „Da

520

In §7 des Jugendschutzgesetzes sind jugendgefährdende Veranstaltungen und Betriebe folgendermaßen definiert: Geht von einer öffentlichen Veranstaltung oder einem Gewerbebetrieb eine Gefährdung für das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen aus, so kann die zuständige Behörde anordnen, dass der Veranstalter oder der Gewerbetreibende Kindern und Jugendlichen die Anwesenheit nicht gestattet. Die Anordnung kann Altersbegrenzungen, Zeitbegrenzungen oder andere Auflagen enthalten, wenn dadurch die Gefährdung ausgeschlossen oder wesentlich gemindert wird. Weiter heißt es in § 8 zu jugendgefährdenden Orten: Hält sich ein Kind oder eine jugendliche Person an einem Ort auf, an dem ihm oder ihr eine unmittelbare Gefahr für das körperliche, geistige oder seelische Wohl droht, so hat die zuständige Behörde oder Stelle die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Wenn nötig, hat sie das Kind oder die jugendliche Person 1. Zum Verlassen des Ortes anzuhalten, 2. Der erziehungsberechtigten Person im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr 6. des Achten Buches Sozialgesetzbuch zuzuführen oder, wenn keine erziehungsberechtigte Person erreichbar ist, in Obhut des Jugendamtes zu bringen. In schwierigen Fällen hat die zuständige Behörde das Jugendamt über den jugendpädagogischen Ort zu unterrichten.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse kannste dir sicher sein, da müssen wir richtig aufpassen.“ (BP 10.12.2014, Z.424-437)

Einige der älteren Jugendlichen werden als gefährdend wahrgenommen. Ihre Praktiken lassen insbesondere die Partys zu einem jugendgefährdenden Ort werden. Aus diesem Grund werden die so genannten ,Spezialisten‘ präventiv ausgeschlossen und kontrolliert, um die Ordnung im Jugendtreff, die hier eng mit Sicherheit verknüpft ist, für die ,gefährdeten anderen‘ Jugendlichen aufrecht zu erhalten. Es lässt sich weiterführen, dass ihre Körper nicht nur situativ diszipliniert werden, um die Sicherheit der Jüngeren zu gewährleisten, sondern Körper der so formierten Gruppe der ,Spezialisten‘ präventiv ausgeschlossen weden. Als Zielscheibe sozialpädagogisch professioneller Zugriffe fungiert in dieser Situation der ,kollektive Körper der Spezialisten‘, die dafür bekannt sind, dass sie zu auffälligem Verhalten neigen. Die Ausschließung gefährdender Körper dient der Sicherung der Party. Der Erhalt der sozialen Ordnung der Party und des Schutzes der Jugendlichen dient als Legitimierung des präventiven Ausschlusses. Das heißt aber auch, dass einige Jugendliche als gefährlich und bedrohlich wahrgenommen und markiert werden; dies nicht zuletzt, weil sie ihre Körper in Arten und Weisen einsetzen, mittels derer sie die soziale Ordnung im Jugendtreff gefährden. Hier sind es Körper, die in gesellschaftlich konstituierte Aufregungszonen fallen. Sie erfahren entweder Regulierungen, Normalisierung oder Ausschluss. 8.8.1

,So-tun-als-ob‘

In den Auswertungen zeigte sich ein ,Typus‘ von Praktiken, in denen die Besucher*innen Handlungsvollzüge, von denen sie wissen, dass sie einen Verweis aus dem Jugendtreff bedeuten könnten, zwar andeuten, aber nicht ausführen. Diese werden unter der Bezeichnung ,So-tun-als-ob‘ gebündelt.521 Die Praktiken des ,So-tun-als-ob‘ werden zwischen den Besucher*innen aufgeführt. In diesem Kontext fungieren sie als Praktiken, in denen die Jugendlichen als reale Persönlichkeiten etwas verbal und körperlich hervorheben. Auf diese Weise unterscheiden sie sich von den (theatralischen) Praktiken des ,So-tun-als-ob‘ (vgl. Schulz 2013, S. 55). Im Verlauf solcher Aufführungen erzeugen sie vielfältige Wirkungen. Im Tanz und Singen werden die beteiligten Jugendlichen abwechselnd mal Zuschauende, mal Aufführende und nehmen dabei implizit und explizit Bezug auf institutionelle Orte (vgl. Schulz 2013, S. 55). Ich blicke zur anderen Sofaecke unter der Playstation. Dort sitzen ein paar Jungen und Mädchen. Die Mädchen liegen auf den Sofas. Die Jungs legen oft die Füße hoch. K. kommt durch die Eingangstür und geht schnurstracks

521

Die Bezeichnunung eines spezifischen Typus von Praktiken als „So-tun-als-ob“ findet sich bei Bourdieu 1993a, S. 135). Als solche fasst er Praktiken des Erwerbs der Schemata des Habitus, die praktische Mimesis (vgl. Bourdieu 1993, S. 135).

,Professioneller Ausschluss‘?

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zu dieser Gruppe. Mir fällt auf, dass er sich umgezogen hat. Er war zu Beginn meiner Beobachtung ganz in schwarz gekleidet. Jetzt trägt er Klamotten im Army Style. Ich kann dabei auch beobachten, dass die Jugendlichen sich körperlich aufeinander schmeißen und balgen. Sie kichern und rufen. Irgendwann höre ich sie noch rufen: „Ih K., du Schlampe!“ Daraufhin wird das Gelächter lauter. K. stellt sich nun mit breiten Beinen und geschwollener Brust vor die Mädchen, schaut sie an, grinst und posiert. Irgendwann tanzt er ein bisschen vor ihnen. Er fasst sich in den Schritt. Daraufhin lachen alle aus der Gruppe. Ihm scheint es zu gefallen. Er zieht nun seine Pullover hoch, ich sehe nackte Haut. Es sieht so aus, als würde er viel trainieren. Die Mädchen und er lachen. (BP 16.12.2014, Z. 283-293) K. inszeniert hier eine spezifische Form von Männlichkeit, Potenz und Sexualität (Es gibt eine weitere Szene, in der K. sich derart inszeniert). Er positioniert sich höher stehend und somit den Mädchen überlegen. Er hat Spaß am Sich-Zeigen. Er inszeniert einen Striptease – seine Körperbewegungen können sich als sexualisierte Körperpraktiken auslegen lassen. Er stellt sich als potenter heterosexueller Mann dar; die Mädchen bestätigen das durch ihr Lachen. Dass er sich zudem ,in den Schritt fasst‘, unterstreicht, dass er sich als sexuell aktiv und potent zeigen und so auch wahrgenommen werden möchte. Ein durchtrainierter Bauch der Jungen erfährt von den Mädchen Anerkennung; dabei fungieren sie als Publikum, als Bühne der Anerkennung. Sie konstituieren eine Gruppe von Zugehörigkeiten. K. deutet seinen Striptease an und dieser garantiert ihm innerhalb der Gruppe Anerkennung und Bestätigung. Für diese Praktiken ist der Kontext, in dem sie aufgeführt werden, besonders relevant, denn er besteht zum einen aus legitimierenden (als sicht-, sag-, denk- und machbaren) Momenten sowie zum anderen aus solchen, die auf bestimmte Begrenzungen des Handelns verweisen. Vergnüglich wird eine Situation dann, wenn das Lachen über den ambivalenten Kontext und die Handlungen legitim scheint. Das Lachen legitimiert sodann den Kontext (vgl. Hofarth 2013, S. 98). Ob Praktiken als scherzhaft aufgefasst werden, hängt von den Beteiligten sowie vom Kontext ab. In jedem Fall beziehen sich die ,So-tun-als-ob-Praktiken‘ performativ auf die von den Beteiligten kollektiv gewusste hegemoniale Ordnung. Sie zitieren Charakteristika dieser Ordnung. Dabei nehmen sie Akzentuierungen vor, mit denen sie diese Ordnungen affirmativ adressieren oder bespielen. Die Deutung dieser Praktiken kann in vielfältige Richtungen erhellt werden. Zum einen können sie als Schaffen eines Möglichkeitsraumes ausgelegt werden. Sie könnten auch als Praktiken gelesen werden, mit denen Jugendliche die sie umgebenden Ordnungen bespielen. Dass „Körperselbstbilder die normative Ordnung einer Gesellschaft nicht einfach widerspiegeln [...], sondern dass die empirischen Subjekte das Repertoire der leiblichen Ausdrucksformen in seiner

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

ganzen Breite verwenden, um die normative Ordnung zu bespielen“, legt auch Richter (2009, S. 31) dar. Nicht zuletzt können sie als Praktiken der Bearbeitung der Grenzen der sozialen Ordnung perspektiviert werden. Eine andere Situation, die vergleichend hinzugezogen wird, soll veranschaulichen, dass die Praktiken des ,So-tun-als-ob‘ prekäre Praktiken sind, mit denen Grenzen in machtvoller Weise überschritten werden. Ich sehe A. vor der Gruppe stehen. Er grinst. Er zieht seinem Freund die Mütze vom Kopf und zieht sie selber auf. Er und sein Freund lachen und grinsen F. und Sh. an. Sie fangen an sich tanzend zu bewegen und ihre Pullover hoch zu schieben. Ich kann nun nicht gut sehen, was genau dort passiert, denn der Kreis ist zu dicht. Ich erkenne aber, dass A. einen Schritt zurückgeht; Sh. und F. lachen. Ich finde, sie lachen ihn aus. Sie zuppeln an ihm herum und nun kann ich nicht beurteilen, aber ich glaube, sie ziehen ihm die Hose ein Stück weit herunter. Der Junge geht erschreckt und abrupt einen Schritt zurück. Er lacht nicht mehr und guckt verwirrt. Ihm fällt sein Handy herunter, er hebt es auf und verlässt die Runde. (BP 2015, Z. 226231) Ob Praktiken als scherzhaft oder als ernst aufgefasst werden, hängt von den Beteiligten sowie vom ambivalenten Kontext ab. Scheint ein angedeuteter Striptease in einem Moment als scherzhaft und als Spiel, so wird die Situation einige Sekunden später ernst. A. und sein Freund inszenieren sich, ähnlich wie K., vor einer Gruppe von Mädchen. Sie fangen an zu tanzen und deuten einen Striptease an. In dieser Situation aber schauen zwei Mädchen nicht lediglich zu, sondern sie ziehen an A.`s Hose. Für ihn wird die Situation sodann ernst, er beendet seinen Tanz und entzieht sich der Situation, die für die Zuschauer*innen noch immer ein Spiel ist. Mitsamt lässt sich bündeln, dass der Körper im Rahmen dieses Typus von Praktiken eingesetzt wird, um die Ordnung des Jugendtreffs zu bespielen. Die Deutung der Ernsthaftigkeit dieser Körperpraktiken ist aufgrund seines Einsatzes jedoch nicht möglich. 8.8.2

,So-tun-als-ob‘ – Ausschluss vermeiden

In anderen Situationen wiederum zeigt sich, dass die Besucher*innen des Jugendtreffs mit den Praktiken des ,So-tun als ob‘ auf bestimmte Begrenzungen ihrer Handlungen Bezug nehmen, die durch die im Jugendtreff gesetzten Regeln bestimmt werden. Die geltenden Regeln und Verbote werden durch die ,So-tun-als-ob-Handlungen‘ entweder markiert oder durchbrochen. Daraus entsteht ein ambivalent strukturierter Handlungsraum, in welchem diejenigen, die die Handlungen durchführen, performativ die Grenzen der Verbote und Regeln überschreiten. Die Praktiken dürfen indes nicht als zu ernst aufgefasst werden, denn sonst wäre es regelwidrig und könnte zu Ausschließung – im Sinne des Hausverbotes – führen.

Körper der Nicht-Zugehörigkeit

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In der Sofaecke hinter mir tummeln sich drei Jungen. Sie fangen an zu raufen und werden laut. Sie schlagen sich ins Gesicht, werfen sich aufeinander und lachen dabei. Einer schmeißt sich auf das Sofa und ein anderer setzt sich auf ihn. Es scheint, als hätten sie viel Spaß. Nach kurzer Zeit bemerkt auch P. den Tumult. Sie geht rufend zu den Jungen, geht ,dazwischen‘. Sie fasst einen von ihnen am Arm und zerrt sie auseinander. Sie spricht leise, aber ernst (das sehe ich an ihrer Mimik) mit ihnen. Die Jungen lachen und rufen: „Ey P., komm schon, das war nur Spaß, wir machen doch nur Spaß!“ P. bittet dennoch einzeln zum Gespräch. (BP 10.12.2014, Z.137-146)522 Die Praktiken erscheinen in dieser Situation als ein ambivalentes Spiel: Indem die Jugendlichen mit ihrem Verhalten andeuten, was nicht sein soll, aber dennoch im Rahmen dessen bleiben, was sein darf, testen sie diese als grenzhafte Praktiken. Als die Mitarbeiterin die ,spielerische Rauferei‘ der Jungen bemerkt, eilt sie zu ihnen. Sie verweist sie nicht des Raumes, was im Falle einer richtigen Schlägerei passiert wäre, sondern bittet sie einzeln zum Gespräch. Ihre Praktiken werden in dieser Situation also nicht sozial folgenreich mit Ausschluss sanktioniert, sondern sie erfahren eine (pädagogische) Regulierung, die – wie ich später erfahre – dazu dient, präventiv für die Sicherheit im Jugendtreff zu sorgen. In den nachfolgenden Ausführungen wird der Blick weiterhin auf Praktiken der Ausschließung gelegt. 8.9

Körper der Nicht-Zugehörigkeit

Ausschließung als übersituativ positionierende Praktik In den folgenden Ausführungen werden die eingangs aufgeworfen Fragen aufgegriffen und anhand des empirischen Materials vertiefend diskutiert: Wie werden in sozialpädagogischen Handlungsfeldern über den Körper soziale Ungleichheiten reproduziert sowie Ein- und Ausschlüsse bestimmter Personen(gruppen) generiert? Welche Körper bieten Anlass für (sozial-) pädagogisch professionelle Zugriffe? Wie werden darüber ,normative‘ Adressat*innenkonzepte verhandelt? Welche gesellschaftlichen Ordnungen verbergen sich hinter den Wahrnehmungs- und Thematisierungsweisen von Körpern? Dabei rücken sowohl die Sichtweisen der Professionellen als auch die der Adressat*innen in den Blick. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist im Offenen Kinder- und Jugendtreff sehr bedeutsam. Die Frage danach, wer welcher Gruppe als zugehörig gilt, ist indes in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Die auf Körper bezogenen 522

Ich erfahre später von S. (während wir Billard spielen), dass die Hauptamtlichen (wir Hauptamtlichen, wie er betont) gerade etwas strenger sind wegen der bevorstehenden Party am Wochenende und auch dass schon einige Jugendliche deswegen Hausverbot bekommen hätten, damit der Raum gerade für die Jüngeren im Haus und für diejenigen, die Spaß und Freude haben wollen, geschützt wäre.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Zuschreibungen von Personen(Gruppen) können vor dem Hintergrund des empirischen Materials als übersituativ positionierende Praktiken der Ausschließung gedeutet werden, über die Ein- und Ausschluss im Jugendtreff ausgehandelt wird.523 Fasst man Zugehörigkeit als Teil von grundlegenden Normierungsprozessen, in denen das ,Normale‘ und das davon ,Abweichende‘ fortlaufend reproduziert wird, dann gilt auch ,Normalität‘ als Beschreibung und Vorschrift einer Ordnung, die festlegt, was Norm ist und was davon abweicht (vgl. Broden und Mecheril 2011, S. 16-17). Dies lässt sich in der Annahme zuspitzen, dass Jugendliche sich in ihren alltäglichen Praktiken innerhalb der sozialen Ordnungen positionieren und sie darin zugleich als zugehörig eingeschlossen oder als nicht-zugehörig ausgeschlossen werden. Nicht zuletzt wird dies über ihre Körper und von der gesellschaftlichen Ordnung, die sich daran festmacht, mitbestimmt. Wer im Jugendtreff welcher Gruppe angehört, beeinflusst nicht nur die Zugehörigkeits- und Teilhabechancen dort, sondern auch das Maß an Anerkennung, das ihnen im Jugendtreff zuteil wird. Als allgemeines Phänomen des jugendpädagogischen Alltags zeigt sich, dass zum einen insbesondere die Ebene des Körperlichen dafür relevant ist, wie Gruppen wahrgenommen werden. Klassifiziert werden dabei nicht nur Körper Einzelner (sowie deren wahrnehmbare körperlichen Verhaltensweisen), sondern diese in ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe innerhalb des Jugendtreffs. Zum anderen wird auch offenkundig, dass soziale und körperliche Interaktionen zwischen (Einzelnen und) Gruppen mit Bewertungen, aber auch mit Moralisierungen und Missachtungen verbunden sind. Durch diese werden soziale Ungleichheiten reproduziert und Ein- und Ausschlüsse bestimmter Personengruppen innerhalb des Jugendtreffs generiert. Soziale Bewertungen in Form sozialer Wertschätzung und Missachtung sind nicht losgelöst von der Sozialstruktur zu betrachten. Bewertungen treffen innerhalb von Interaktionen immer auch Aussagen über die soziale Stellung der betreffenden Akteur*innen (siehe Kapitel 2.4.1.). In einer solchen Perspektive sind negative Klassifikationen Elemente der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit im Jugendtreff, über die letztlich Ein- und Ausschluss verhandelt wird. Dort äußern sich diese Formen der Ausschließung innerhalb von Praktiken, in denen Einzelne oder Gruppen situativ als nicht-zugehörig positioniert werden. Setzt man diese in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen, so lassen sie sich als übersituativ positionierende Praktiken deuten und auch als jene Praktiken markieren, durch die Einzelne und Gruppen ein- und ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang entfalten Klassifikationen und Normen auf beiden Ebenen Wirksamkeit. Klassifikationen haben ein- und ausschließende Wirkung innerhalb des jugendpädagogischen Alltags. Insbesondere negativen Klassifikationen kommt

523

Die Differenzierung in situative und übersituative Praktiken ist orientiert an Machold (2015).

Körper der Nicht-Zugehörigkeit

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die Wirkmächtigkeit der Ausschließung zu. Wirken auf der symbolischen Ebene einige Klassifikationen abwertend, so fixieren andere prinzipielle Unterschiede und schließen die negativ bewerteten Personen oder Gruppen symbolisch von der vollwertigen gesellschaftlichen Zugehörigkeit aus (vgl. Sutterlüty et al. 2008, S. 69). Zudem werden Klassifikationen auf der sozialen Ebene wirkmächtig. Da sie auf der symbolischen Ebene bereits einer exkludierenden Semantik folgen, können sie auch auf der sozialen Ebene dazu führen, dass den betroffenen Personen oder Gruppen materielle Teilhabe, Partizipation sowie soziale Teilnahme verwehrt oder der Zugang dazu erschwert wird (vgl. Neckel et al. 2008, S. 69). Der konkrete Gebrauch von Klassifikationsmustern ist nicht selten mit der Intention verbunden, den Klassifizierten den Zugang zu bestimmten Bereichen des sozialen Lebens zu entziehen oder zu verwehren (vgl. Sutterlüty et al. 2008, S. 70). In einer solchen Perspektive wirken sie sozial ausschließend (dazu ausführlicher Kapitel 2). 524 Mitsamt fungieren Klassifikationen (insbesondere jene, die an Körpern ansetzen) nicht nur als situative Positionierungen, sondern zudem als Formen symbolischer Gewalt. Dass Klassifikationen und Positionierungen auf sozialer wie auf symbolischer Ebene in Verbindung mit sozialer Ungleichheit stehen, lässt sich bezugnehmend auf die Arbeiten von Neckel und Sutterlüty (2008) plausibilisieren. Negative Klassifikationen gelten als stigmatisierendes Element der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit im Jugendtreff (vgl. Neckel und Soeffner 2008). Sie entfalten so auf übersituativer Ebene Wirksamkeit. Die Diskussionen der nachfolgenden Ausführungen ermöglichen eine Annäherung auf die Frage danach, wie innerhalb des sozialpädagogischen Handlungsfeldes des Offenen Kinder- und Jugendtreffs auf der Ebene der Mitarbeitenden über den Körper Ein- und Ausschlüsse bestimmter Personen(gruppen) ausgehandelt und generiert werden.525

524

525

Die Arbeiten von Bourdieu lassen erkennbar werden, dass Akteure in alltäglichen Bewertungskämpfen ihre soziale Position zum Ausdruck bringen und sich etwa über Klassifikationen unterlegene Positionen zuweisen oder sich und andere ein- oder ausschließen. In Anlehnung an eine solche Perspektive werden Hierarchien sozialer Positionen praktisch ausgehhandelt und darin werden Klassifikationen wirkmächtig. Gemeinhin gelten die Annahmen grundlegend, dass zum einen die Aneignung von materiellen Ressourcen und verwertbarem Wissen die jeweilige Ausstattung mit ökonomischem und kulturellem Kapital bestimmt. Deren ,Rang‘ entsteht zum anderen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Bewertungskämpfen, in denen das symbolische Kapital sozialer Anerkennung ausgehandelt wird. Daraus entsteht im Jugendtreff eine Hierarchie der Wertschätzung, die Individuen und Gruppen zuerkannt wird. Die hier herangezogene Sequenz repräsentiert Thematisierungsweisen einer Mitarbeiterin, die auf Honorbasis eingestellt und noch nicht fertig ausgebildet ist. In den Thematisierunsgweisen zeigt sich deutlich, dass und in welcher Weise die von Normen bezüglich pädagogisch relevanter Themen geprägt sind.

418 8.9.1

Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse Klassenspezifische Körper

Ich unterhalte mich in der herangezogenen Situation mit J. und L., den Performancepädagog*innen im Jugendtreff. Sie möchten eine Aufführung mit den Besucher*innen des Offenen Bereichs durchführen, dessen Gestaltung sich als schwierig erweist. Ich frage weiter nach dem Projekt. Die beiden reden abwechselnd. J.: „Ja äh, also wir wollen so versuchen, alle Bereiche irgendwie zusammen zu bringen.“ L.: „Aber das ist echt schwer. Die hier unten dazu zu kriegen, ist schwer. Früher war das mal anders. Also ich bin auch im ***groß geworden und da waren mehr vom Gymnasium. Da hat man auch hier unten mehr gemacht, jetz‘ bin ich kaum noch da. Das sind jetz‘ hier auch so ganz andere Leute und es is‘ schon echt schwer, die irgendwie zusammen zu kriegen. Das ist ja alles schon ganz schön unterschiedlich so, halt, ne!“ Ich: „Dann ist es wahrscheinlich auch nicht so einfach, die Fragebögen beantworten zu lassen, oder?“ L.: „Ja, krass. Eben saßen wir hier und da war einer, der hatte so entzündete Mundwinkel und ein Kumpel von dem kam rein und hat gesagt „Ey Alter, hast du das von Sex? Und der hat einfach gesagt, ja ey, isch hab‘ gestern viel Sex gehabt.“ Sie sagt nochmal: „Ja ey, gestern hab‘ isch viel Sex gehabt“. Ihr Tonfall ändert sich dabei. Sie wedelt mit der Hand. Es klingt für mich nicht wertschätzend. L.: „Ja und sowas muss man sich dann hier anhören (sie schüttelt mit dem Kopf). Als Begrüßung über Geschlechtskrankheiten reden. Und SO sind SO viele hier. Das war ECHT mal anders. Früher, ja da waren hier echt auch viel mehr vom Gymnasium und so, da war das echt anders. Ich meine, jetzt bin ich nicht mehr so oft hier, aber jetzt gerade fragen wir uns, wie wir so `ne Bereiche zusammen kriegen sollen. Naja, also und wir fragen uns auch, ob wir sie so einbringen sollen. Weil ja so von oben aufgedrückt funktioniert das ja auch nicht. Also vielleicht wär‘s dann halt besser, es doch bei den kleinen Gruppen zu lassen und das mit denen zu machen, also mit denen, die Lust haben, weil vielleicht ist es auch so, dass die keinen Bock aufeinander haben. Die Tanzleute haben keinen Bock auf die von unten, die Performanceleute haben auch keinen Bock auf die von unten und ja, die von unten haben keinen Bock auf die von oben. Das ist echt schwierig, das zusammen zu kriegen. Man weiß ja schon gar nicht, wie man das nennen soll, also diese zwei Bereiche. Man kann ja hier schon eh sofort sehen, wo wer hingehört oder hingeht.“ (BP 8.01.2015, Z. 257-278) Dass ,wir‘ alle Bereiche irgendwie zusammenbringen wollen, so wie L. es äußert, verweist darauf, dass sie sich einem Bereich als zugehörig positioniert. So klassifiziert sie andere Bereiche als nicht-zugehörig. Es lässt offenkundig werden, dass sie soziale Gemeinschaftsbildungen im Jugendtreff erkennt. Sie führt weiter aus, dass es jedoch

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schwer sei, diejenigen im unteren Bereich – und damit ist der Offene Bereich angesprochen – zu motivieren. Die Gründe dafür bleiben zunächst offen. Es lässt sich jedoch die Vermutung anstellen, dass die von ,nicht-unten‘ (oben) grundsätzlich Bereitschaft dazu zeigen. Die Verantwortlichkeit dafür, dass sich dies als problematisch zeigt, wird den Besucher*innen von unten zugeschrieben. Als Begründung führt L. nun so etwas wie eine Generationenfrage oder einen Generationenwechsel an, der sich im Jugendtreff vollzogen hat. Sie weist darauf hin, dass es früher scheinbar nicht so war, dass sich Bereiche derart getrennt hätten und es damals anders gewesen wäre. L. führt als Begründung weiter aus, dass zu der Zeit mehr Gymnasiast*innen im Jugendtreff waren und sich unten im Offenen Bereich aufgehalten hätten. Dies deutet nicht nur auf einen Generationenwandel, sondern auch darauf hin, dass sich ein Milieuwandel im Offenen Bereich vollzogen zu haben scheint. Offenbar halten sich nach L.s Perspektive keine Jugendlichen mehr im Offenen Bereich auf, die das Gymnasium besuchen. Wie sie zu dieser Schlussfolgerung kommt, bleibt jedoch an dieser Stelle unbeantwortet. L. sieht es als Unvereinbarkeit an, die Jugendlichen von „oben“ und „unten“ momentan zusammen zu bringen; beide Bereiche scheinen ihr von zwei unterschiedlichen Gruppierungen besetzt zu sein. Es finden sich Semantiken der Differenz, wenn sie diese Veränderung damit begründet, dass ja alles ,halt‘ schon ganz schön unterschiedlich ist. Erkennbar werden bis hierhin zunächst wirksame Entscheidungen in ,Wir‘/,Nicht-Wir‘; ,früher‘/,heute‘ und ,Gymnasium‘ (gebildet) /,Nicht-Gymnasium‘ (nicht gebildet). Zudem wird die Räumlichkeit des Jugendtreffs relevant gesetzt und eine Unterscheidung zwischen ,oben – unten‘ eingeführt, die ebenso auf eine soziale Differenz verweist und im Jugendtreff so eine spezifische Wirksamkeit entfaltet. Die situierte Gruppe der Gymnasiumsjugendlichen von oben basiert – so lässt sich pointieren – auf dem Ausschluss der Nicht-Dazugehörigen von unten. Die Einführung von früher und heute lässt sich auch als Etablierte/Außenseiter-Figuration lesen, der zufolge sich die Alteingesessenen gegen die Aspirationen Hinzukommender schützen (vgl. Elias und Scotson 2013). Dies unterstreicht die Äußerung eines anderen ehemaligen Besuchers, mit dem ich mich unterhalte. Er erzählt: „Das ist jetzt schon sehr asozial hier! Früher war das anders“ (BP 6.01.2015, Z. 336-337). Die Frage nach der Zugehörigkeit zu und den Positionierungen in den verschiedenen Bereichen des Jugendtreffs wird in dieser Sequenz durch Einstufungen der Jugendlichen ,von oben‘ definiert. Für die Fremdpositionierungen der Jugendlichen, die dem unteren Bereich als zugehörig eingestuft werden, gelten andere Gründe. Jene Deutungen und Zuschreibungen orientieren sich an Eigenschaften (vgl. Neckel 2003, S. 161). Dieses wirkt sich negativ auf die Betroffenen aus. Eine Ausführung darüber erfolgt später. Bei mindermächtigen Gruppen geschehen derartige Zuschreibungen

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oft per se, ohne dass sie diese abweisen können.526 Es hängt von der jeweiligen Machtstärke ab, in welchem Ausmaß Zugehörigkeiten gewählt oder auferlegt werden und vor allem, welche gesellschaftlichen Folgen sich ergeben (vgl. Neckel 2003, S. 162). Innerhalb dieser Deutungen spielen Prozesse der Klassifikationen eine entscheidende Rolle. Klassifikationen lassen sich im Anschluss an Neckel (2003) als ein Begriffssystem von Unterscheidungen, die hierarchisch geordnet sind, auslegen. Sie stellen gleichwohl eine notwendige und unvermeidliche Orientierung im sozialen Raum dar (vgl. Neckel 2003, S. 163). In diesen Prozessen ist dem Körper eine besondere Bedeutung beizumessen: Als Indikatoren für die Zugehörigkeit zu (starken, schwachen – stark repräsentierten) Gruppen dienen äußerlich erkennbare Merkmale wie Hautfarbe, Alter, Geschlecht und Habitus, denen unterschiedliche Werte zugesprochen werden (vgl. Neckel 2003, S. 162). Aufgrund der Wahrnehmung und Deutung körperbezogener Merkmale werden Personen in der Skala der sozialen Rangordnung an die entsprechende Stelle gesetzt. Bewertungen begleiten konstant diesen sozialen Austausch. Der sich darüber vollziehende (je gültige) Statusaufbau sozialer Gemeinschaften konstituiert sich im Wesentlichen durch Kommunikation (vgl. Neckel 2003, S. 162-163). Die Macht der Unterscheidungen besteht nun darin, dass durch sie die über- und untergeordneten Positionierungen zugewiesen werden. Die Verwendung abwertender Zuschreibungen, die sich auf Körper beziehen, kann hieran somit als eine der wesentlichen symbolischen Dimensionen der Reproduktion Sozialer Ungleichheit im Jugendtreff herausgestellt werden, in der Körperlichkeit bedeutungsvoll wird. „Symbolische Ordnungen haben stets eine Vielzahl von Elementen, die eine selbstverständliche und unhinterfragte Geltung besitzen“ (Sutterlüty et al. 2008, S. 34). L. zieht nun eine Situation hinzu, der sie kurz vor unserem Gespräch beigewohnt hat. Dies kann man auch als Einführung einer verallgemeinernden Beschreibung der gegenwärtigen Jugendlichen des unteren Bereiches und ihres Verhaltens deuten. Es handelt sich scheinbar um den Jungen mit den entzündeten Mundwinkeln. Die körperliche Versehrtheit des Jungen gilt hier nicht nur als Körperzeichen, sondern als ein körperliches Stigma, mit dem sie offenkundig negative Assoziationen verbindet. Ob sie dies zuvor selber bemerkt hat oder durch die Kommentierung des als solchen ausgewiesenen Kumpels bleibt unklar. Scheinbar war jedoch der entzündete Mundwinkel ursächlich dafür, dass ein anderer Junge dies mit der Frage kommentierte: „Ey 526

Klassifikationen wurde sich im Part über Bourdieu unter körpersoziologischer Perspektive angenähert. Es wurde herausgearbeitet, dass Körper nicht selten Ankerpunkt von abwertenden Zuschreibungen sind und sie sich aus der Inkorporation sozialer Strukturen ergeben. Abwertende Zuschreibungen, die auf Körper zielen, gelten als negative Klassifikationen, die in Kämpfen um Abgrenzung und Zugehörigkeit von Jugendlichen zum Einsatz kommen. Als solche sind sie Bestandteil der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit im Jugendtreff. Sie fließen in die Aushandlung von Zugehörigkeiten ein.

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Alter, hast du das von Sex?“ Der andere Junge sieht entzündete Mundwinkel scheinbar als Körperzeichen für Sex oder aber er möchte den anderen Jungen damit provozieren. L. empört sich darüber, dass der Junge mit den entzündeten Mundwinkeln einfach gesagt habe: ,Ja ey, isch hab‘ gestern viel Sex gehabt‘. Dies wiederholt sie noch einmal und ahmt bewusst den Akzent nach, den sie in den Worten der Jugendlichen wahrgenommen hat: „Ja ey, gestern hab isch viel Sex gehabt“. Ihr Tonfall ändert sich dabei. Indem L. den Dialekt der Jungen parodiert, führt sie eine natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit der Jungen ein, die sich in Sprache äußert. Auf die Beschreibung des Wahrgenommenen folgt eine implizite Bewertung: „Ja und SOWAS, das muss man sich dann hier anhören. Die Geste des Kopfschüttelns unterstreicht ihre Mißbilligung. Darin manifestieren sich auf Verhalten bezogene Normen, die für die jeweiligen Zugehörigkeiten und Positionierungen in Räumen des Jugendtreffs gelten beziehungsweise ausgehandelt werden. Als Begrüßung über Geschlechtskrankheiten zu reden, ist für die Jugendlichen von ,oben‘ wahrscheinlich nicht üblich. Ausgehend von dieser Beobachtung beginnt L. zu verallgemeinern und zeichnet so ein spezifisches Bild von den Jugendlichen im Offenen Bereich: „und SO sind SO viele hier. Das war ECHT mal anders.“ In diesem Moment vollzieht L. einen Rollenwechsel und positioniert sich nicht mehr lediglich als Etablierte, sondern als Professionelle und den Mitarbeitenden des Jugendzentrums als zugehörig. Ausgehend von dieser Positionierung formuliert L. den sozialpädagogischen ,Auftrag‘. Das Zusammenkommen der beiden Bereiche sollte entsprechend sozialpädagogisch professionelle Bearbeitung erfahren. Sie scheint selber eher ratlos, wie beide Bereiche wieder als eine Einheit gestaltet werden könnten. L. spricht nun von ,wir‘ und damit scheinbar stellvertretend für die anderen Mitarbeiter*innen im Jugendtreff, die diese Spaltungen im Jugendtreff wahrgenommen haben und darauf entsprechend reagieren möchten. Zugleich stellt sie selber dieses Anliegen prinzipiell infrage und lässt offen, ob es sinnvoll sei, über die Köpfe‘ der Betroffenen hinweg zu handeln. Ferner wägt sie antizipierend ab, ob es nicht besser wäre, es doch bei den kleinen Gruppen zu belassen und nur mit denen zu agieren, die Motivation und Ausdauer dazu hätten. Die von ,oben‘ haben „keinen Bock“ auf die ,von unten‘ und weisen damit auf eine weitere Binnendifferenzierung der Zugehörigkeitsverhältnisse im oberen Bereich hin. Dies zeichnet ein noch breiteres Bild sozialer Disparitäten und Spaltungen im Jugendtreff. Jedoch wird auch deutlich, dass, wenngleich sie unterschiedlichen Bereichen – zugehörig sind – die Gruppen im oberen Bereich sich als Gruppen einander zugehörig fühlen. In dieser Konstellation werden die Jugendlichen von unten per se als nicht-zugehörig ausgeschlossen. Die Gründe der Nicht-Teilnahme und die Bedingungen daran überhaupt teilnehmen zu können, werden ausgeblendet. Mit Bourdieu wird eine Perspektive offenkundig, derer zufolge Personen ihre soziale Position in einem sozialen Feld (und auch entsprechende Ordnungsprinzipien) verkörpern. So poientiert er „Es zeichnet sich damit ein Raum jeweils klassenspezifischer Körper ab, der bis auf einige biologische Zufälligkeiten in seiner spezifischen Logik

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

tendenziell die Struktur des sozialen Raumes reproduziert“ (Bourdieu 1982, S. 319). Das Habituskonzept scheint an dieser Stelle zentral. Als inkorporiertes Set an Wahrnehmungs-, Denk-, Gefühls- und Handlungsschemata resultiert der Habitus indes aus der sozialen Position in einem Feld. Somit ermöglicht er die Orientierung in diesem Feld und reproduziert gleichsam die jeweils geltenden Ordnungsprinzipien (vgl. Schmincke 2011, S. 145-146). Der Habitus ist als strukturierte und strukturierende Struktur in der Körperlichkeit verankert. Somit bieten Bourdieus Arbeiten einen Blick auf die Inkorporation und Verkörperung sozialer Ordnungen (Ordnungs- und Teilungsprinzipien). Es lässt sich bündeln: Innerhalb der Thematisierungsweisen von L. werden normative Konzepte von ,guten‘ und ,schlechten‘ Adressat*innen erkennbar. Über diese wird den Jugendlichen von ,unten‘ die vollwertige Mitgliedschaft abgesprochen und sie werden somit symbolisch ausgeschlossen. Es scheint auch insofern als sozial folgenreich, als dass Hierarchisierungen in oben und unten nicht überbrückbar scheinen. L. begründet diese Diskrepanz mit den unterschiedlichen und nicht zu vereinbarenden Ansichten und Interessen der Jugendlichen beider Bereiche letztlich damit, dass die Mehrheit von oben keinen Bock auf die von unten haben und zugleich schreibt sie, denen von ,unten‘ zu, auch wenig bereit und interessiert an ,denen von oben‘ zu sein. Das Wirksamwerden sozialer und symbolischer Grenzen wird somit sowohl bei denen von oben als auch bei denen von unten verantwortet. Die Machtasymmetrien, die zwischen diesen Gruppierungen herrschen, werden dabei nicht hinreichend berücksichtigt. In der Szene vermittelt sich auch ein Eindruck, dass Veränderungen letztlich doch nicht erwünscht sind. Die Zuschreibungen, die die Jugendlichen von ,unten‘ in dieser Szene erfahren, sind nicht nur als Formen symbolischer Gewalt zu perspektivieren, sondern sie lassen sich auch als Prozesse sozialer Ausschließung kritisch in den Blick nehmen (vgl. Bettinger 2010, S. 445). Die in L.‘s Äußerungen erkennbar werdenden Moralisierungen und Skandalisierungen, die die Jugendlichen aus dem unteren Bereich erfahren, versieht sie mit Zuschreibungen wie Unordnung und Verwahrlosung. Sie werden selektiv auf ,die von unten’ angewendet und dienen dabei als ein zentrales Medium, mit dem Grenzen der Zugehörigkeit gefestigt und abgesichert werden (vgl. Anhorn und Bettinger 2002, S. 234). Sie erweisen sich ferner als funktional im Hinblick auf die intendierte Zementierung hermetischer Grenzmarkierungen zwischen Mitarbeitenden, die vormals Besucher*innen waren und den aktuellen Besucher*innen des Jugendtreffs, und damit auf die Ausschließung spezifischer, als besonders verkommener oder problematisch bezeichneter Gruppen der Gesellschaft (vgl. Stehr 2008, S. 319). 8.9.2

Verkommenheit – „Die haben keine Werte hier“

Für einige Mitarbeiter*innen, die auf Honorarbasis im Jugendtreff arbeiten, stellen die Gäste des unteren Bereichs eine Gruppe von Jugendlichen dar, die mit Attributen

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wie Verkommenheit oder Kriminalität versehen werden. Dass sich darin Ausschließung als übersituativ positionierende Praktik realisiert, wird anhand der Diskussion der nachfolgenden Szenen dargestellt, die zunächst aneinandergereiht aufgeführt werden. Die sind echt so krass hier, die haben keine Werte. Ich frag mich eh die ganze Zeit, wo die die Dinger her haben. Entweder die haben die geklaut oder vom Schwarzmarkt. Aber die haben ja eh alle nichts zu tun. Wenn ich nichts zu tun hätte, würde ich auch entweder klauen oder was auch immer!“ Ich bin nicht bereit, diesen Satz zu kommentieren. Ich schweige und schaue geradeaus. (BP 6.01.2015, Z. 272-293) Z. und ihre Freundin mit den langen Haaren kommen in den Treff. Ich habe sie von der Theke aus auf dem Vorplatz des Jugendtreffs stehen sehen. Sie haben geraucht und sich unterhalten. Nun kommen sie in den Raum gestürzt. Sie kichern, rufen und raufen sich ein bisschen. Z. ruft durch den Raum häufig irgendwelche Worte zu den Jungen. Sie scheinen, obwohl sie weiter voneinander entfernt sind, in eine gemeinsame Situation involviert zu sein. Sie verständigen sich eher kryptisch, auch mit Füßen und Händen, mit Blicken und Worten: „Oah, ey, fick dich, ich geh zu deine Mudda“ und in ähnlicher Art. Ihre Stimmen klingen schrill, teils aggressiv. S. (Mitarbeiterin) verdreht sehr auffällig die Augen und wendet sich mir zu: „Boah Z., die ist auch so Eine. Die hört man auch überall raus. Neulich war ich mal am Bahnhof, da habe ich von irgendwo `ne Stimme gehört und dachte mir da schon, ey, das is‘ doch Z.. Echt, die kannste meterweit hören. Z., die ist auch so eine, die inszeniert sich immer so peinlich, dass man sich dafür schämt. Aber das machen fast alle Mädchen hier so. Das ist auch total krass. Die sind voll jung und haben alle schon voll viel sexuelle Erfahrung. Die haben hier echt schon in dem Alter mit mehr Jungs geschlafen, als ich mir überhaupt vorstellen kann. Die haben auch echt so gar kein Körpergefühl. Die wissen auch gar nicht, was sie da tun. Die haben irgendwie so gar keinen Respekt vor sich selbst. Total krass. Manchmal da filmen die das auch oder sie filmen sich und schicken sich das rum. Die werden das noch so bereuen, das sag ich dir. Und auch immer im Sommer. Das müsstest du mal sehen. Dann zeigen die immer alles und haben gar kein Gefühl dafür, was unangenehm ist, echt die müssen immer alles zeigen, was sie so haben. Außerdem macht hier auch Jeder mit Jeder rum. Selbst mit B., das ist der mit den schiefen Zähnen. B.?! Das passt auch so gar nicht zu dem. Der sieht doch ganz anders aus.“ (BP 6.01.2018, Z. 184-203)

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In dieser Situation spricht S. über einige Jugendliche, die gemeinhin zu den Stammgästen zu zählen sind. Die Mitarbeiterin bedient sich in dieser Situation einer verallgemeinernden und herabwürdigenden Bezeichnung. Sie schreibt diesen aufgrund des Besitzes von Elektrogeräten Eigenschaften wie Kriminalität und Langeweile zu. Auf diese Weise versieht die Mitarbeitende die Besucher*innen des unteren Bereichs mit der Klassifikation und Bedeutung der Verkommenheit. Diese Zuschreibung von Gefährlichkeit, Bedrohung, Unordnung und Verkommenheit wird hier selektiv auf spezifische Gruppen im Jugendtreff angewendet. Im Verlauf der Erzählung bezieht sie sich zunächst auf ein Mädchen und kommt von diesem ausgehend zu verallgemeinernden Zuschreibungen, die sich auf ,fast alle‘ Mädchen beziehen, deren sexuelles Verhalten ihr ins Auge geraten zu sein scheinen. In ihren Erzählungen zeigen sich normative Konzepte über Sexualität, von denen die Mädchen abzufallen scheinen. Diese erfahren sodann moralisierende und skandalisierende Zuschreibungen. Sie bedient sich weiterführend jenen Semantiken, die innerhalb „der Figur der Schlampe“ zum Tragen kommen, ohne diesen Begriff jedoch zu verwenden. Diese Zuschreibungen dienen als zentrales Medium, mit dem Grenzen der Zugehörigkeit gefestigt und abgesichert werden (vgl. Anhorn und Bettinger 2002, S. 234). Auch hier werden erneut Grenzen zwischen Gruppen im Jugendtreff gesetzt und auf diese Weise dazu beigetragen, dass gesellschaftlich problematisierte und als ,verkommen‘ markierteGruppen Ausschließung erfahren. In einer solchen Perspektive erweist sich Verkommenheit als eine auf soziale Ausschließung gerichtete Kategorie, für die bestimmte Zusammenhänge hergestellt werden. Mit dieser wiederum lässt sich die Diskreditierung und Ausgrenzung von bestimmten Jugendlichen legitimieren (vgl. Anhorn und Bettinger 2002, S. 241). Folglich lassen sich Zuschreibungen und darin zum Tragen kommende Klassifikationen, die bestimmte Gruppen von den Mitarbeitenden innerhalb des Jugendtreffs erfahren, nicht nur als Formen symbolischer Gewalt perspektivieren, sondern als Degradierungen, Diskriminierungen und Stigmatisierungen lassen sie sich auch als Prozesse sozialer Ausschließung kritisch in den Blick nehmen (vgl. Bettinger 2010, S. 445). Für den Kontext des beobachteten Jugendtreffs lässt sich festhalten, dass in diesem ehemalige ,Stammgäste‘ zumeist als Honorarkräfte tätig sind. Von den Hauptamtlichen werden und wurde oftmals thematisiert, dass diese Jugendlichen ,Vorzeigejugendliche‘ waren, so wie es gegenwärtig die Performancejugendlichen sind. Die missachtenden Zuschreibungen und moralisierende Degradierung der Stammgäste durch ehemalige Mitarbeitende lässt sich so als einen symbolischen Ausschluss perspektivieren, durch die die Stammgäste aus dem Bereich der gleichberechtigten Teilhabe in Bereiche der Ungleichwertigkeit positioniert werden. Es könnte dahingehend gelesen werden, dass ehemalige Stammgäste selber ihre als anerkennbare Positionierung innerhalb des Jugendtreffs, der zu ihrer Zeit in einer anderen Weise symbolisch und sozial geordnet war, monopolisieren möchten. Zugleich ermöglicht der Einsatz von

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Mechanismen der Abwertung und Ausschließung ihre eigene Positionierung innerhalb des Treffs. Die vorangegangen Darstellungen sollen veranschaulichen, dass und in welcher Weise im Offenen Kinder- und Jugendtreff auf der unmittelbaren Ebene der Professionellen und der Adressat*innen über den Körper Ein- und Ausschlüsse bestimmter Personen(gruppen) generiert und somit soziale Ungleichheit reproduziert werden. Vor dem Hintergrund eines Verständnisses von Ausschließung auf sozialer und symbolischer Ebene geraten dann insbesondere als gefährlich und verwahrlost markierte Körper in den Blick. In den Thematisierungsweisen zeigen sich normative Konzepte von einem als angemessen geltendem Sprachgebrauch, von ,normaler Sexualität‘ und von Respektabilität, von denen das Verhalten der Stammgäste abweicht. Zumeist gilt der Körper der Besucher*innen als ursächlich für derartige Zuschreibungen. Die Moralisierungen und Skandalisierungen, die diese erfahren, lassen sich sodann als übersituativ positionierende ausschließende Praktiken markieren, die in professionellen Praktiken erzeugt, vollzogen und strukturell reproduziert werden (vgl. Kessl et al. 2015, S. 13). Diese sind im Wesentlichen über den Körper vermittelt. Darüber hinaus ist auch bewusst zu halten, dass auf diese Weise innerhalb des pädagogischen Handlungsfeldes nicht nur auf Ausschließung gerichtete Kategorien zum Tragen kommen, sondern sie auch dort produziert werden. Dass diese Aspekte auf der Ebene der Praktiken der Adressatinnen und Adressaten relevant werden und sich in besonderer Weise an den ,Asozialen‘ und den ,Zigeunern‘ zeigen, steht im Mittelpunkt der anschließenden Diskussion. 8.9.3

Körper der Nicht-Zugehörigkeit – ,Die Asozialen‘

Auch auf der Ebene der Adressat*innen werden Ein- und Ausschließungen erzeugt, vollzogen und reproduziert. Im Jugendtreff kursieren unter den Jugendlichen negative Klassifikationen, die Teile der sich dort regelmäßig aufhaltenden Jugendlichen als asozial bezeichnen. Derartige Klassifikationen werden in besonderer Weise am Körper festgemacht. Sie beziehen sich gemeinhin nicht lediglich auf die Erscheinung der Körper Einzelner oder von Gruppen, sondern auch auf spezifische Verhaltensweisen. Ed. fragt mich: „Arbeiten Sie denn gerne hier?“ Ich finde, dass sie das abwertend sagt. G. ermahnt sie und tippt sie auf ihre Schulter: „Du, wir hatten du gesagt.“ Ed.: „Hm, ja, also. Arbeitest du gern hier? Ich meine, das is‘ doch voll assi hier.“ Ich: „Wieso, also wieso assi?“ Ed.: „Ja, voll laut so und die Leute haben doch kein Benehmen, gucken Sie sich das noch mal an.“ […] Ich: „Höhö und tja, Ihr seid doch auch grad‘ hier?!“ Ed.: „Ja, aber WIR sind nicht viel hier. WIR sind hier, weil wir tanzen wollen. Wir tanzen oben.“ (BP 14.01.2015, Z. 152-162)

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Die Klassifikation ,assi‘ bezieht sich auf einen spezifischen Einsatz des Körpers und schreibt den klassifizierten Jugendlichen unterlegene Handlungsdispositionen zu. Diese Jugendlichen werden als niveaulos und ungebildet dargestellt und so in den – nicht anerkennbaren – Bereich des Asozialen positioniert. Indem Ed. die Besucher*innen des unteren Bereichs als ,assi‘ markiert, positioniert sie diese symbolisch in Bereichen der Nicht-Anerkennbarkeit. Für sich selber stellt sie heraus, dass sie in den Jugendtreff kommt, weil sie oben tanzen möchte. Ihre eigene Präsenz im Jugendtreff legitimiert sie damit, dass sie zur Ausübung einer spezifischen Tätigkeit in den Jugendtreff kommt und sich oben, also eben nicht unten, aufhält. Damit stellt sie sich als den Jugendlichen unten nicht zugehörig heraus. ,Asozialität‘ erweist sich sodann als eine auf soziale Ausschließung gerichtete Kategorie innerhalb des Jugendtreffs, mit der sich die Diskreditierung und Ausgrenzung von bestimmten Jugendlichen legitimieren lässt (vgl. Anhorn und Bettinger 2002, S. 241). Dafür werden bestimmte Zusammenhänge hergestellt. Indem Aussagen, wie etwa dass die Leute im Jugendtreff unten kein Benehmen hätten und voll laut seien, mit der Kategorie ,Asozialität‘ verknüpft werden, wird diese zu einer moralisierenden und personalisierenden Skandalisierung von sozialen Zuständen und Verhaltensweisen. Sie degradiert sie auf einer moralischen Ebene. Dies gilt wiederum als Voraussetzung dafür, bestimmten Jugendlichen Zugehörigkeit und Partizipation im Jugendtreff zu verweigern oder zu entziehen (vgl. Cremer-Schäfer 2002, S. 145). Cremer-Schäfer (2002) zufolge lassen sich solche moralischen Degradierungen, Diskriminierungen und Stigmatisierungen als Prozesse sozialer Ausschließung in den Blick nehmen (vgl. Bettinger 2010, S. 445). Zugleich lassen sich die Äußerungen der Besucher*in als Distinktionsbestrebung deuten, die es ihr ermöglichen, sich als rechtschaffend, ehrenwert und als anerkennbar in der soziosymbolischen Ordnung des Jugendtreffs zu positionieren. Auch in Thematisierungsweisen eines anderen Besuchers zeigt sich die Klassifikation der ,Asozialität‘. Ich stehe mit dem Jungen an der Theke und er erzählt mir, dass er eine Freundin hat. Ich frage ihn, ob die auch manchmal im Jugendtreff ist. Daraufhin entgegnet mir B.: B.: „Nee ey, das is doch voll peinlich.“ Ich: „Warum das denn?“ B. antwortet zuerst nicht und blickt weg. Nach kurzem Schweigen sagt er: „Außerdem kommt die nicht hierhin. Die findet die Leute sind assi und so!“ Ich: „Was heißt denn assi?“ B.: „Ja assi halt, laut und asozial und außerdem hatte die Stress mit ein paar Mädchen. Ich bin ja auch nicht so oft hier, nur manchmal, sonst bin ich auch in ***.“ (BP 13.01.2015, Z. 396-410) Anders als in der ersten Sequenz, in der Ed. ihr ,DaSein‘ im Jugendtreffs damit legitimiert, dass sie im oberen Bereich tanzt und sich nur aus diesem Grund im Jugendtreff aufhält, erfahre ich von diesem Besucher, dass seine Freundin gar nicht erst in

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den Jugendtreff kommt, weil sie zum einen die Leute ,assi‘ findet und zum anderen Stress mit einigen Mädchen hat. Mit dem Begriff der Peinlichkeit führt er Scham als ein Gefühl ein, mit dem der Besuch des Jugendtreffs für ihn und seine Freundin besetzt ist. Dies lässt sich anhand des Gefühls der Scham nachzeichnen. In Körper eingeschrieben gilt Scham als leiblich vermittelte und subjektive Empfindung, die sich zu einer persönlichen Dauererfahrung verstetigen kann (vgl. Neckel 1998, S. 250). Als wesentlicher Bestandteil der symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit – in der es um die soziale Definition des ‚wahrgenommenen Seins‘ geht – ist die Entstehung und Zuweisung von Scham bedeutsam. Bezieht sich Scham auf Status, so ist sie eine elementare Art, wie sich die alltägliche Deutung sozialer Ungleichheit in einer Wertung des Subjekts über sich selbst dokumentiert. Zugleich wirkt sie als die vielleicht am stärksten persönlich gefärbte Art, die Alltagsbedeutung sozialer Ungleichheit an sich selbst zu erfahren (dazu grundlegend und einführend Neckel 1991, 1993).527 8.9.4

Körper der Nicht-Zugehörigkeit – ,Zigeuner‘

Als eine weitere auf Ausschließung gerichtete Figur innerhalb des Jugendtreffs, die auch die Klassifikation der ,Asozialität‘ und der ,Nicht-Rechtschaffenheit‘ erfährt, gelten die ,Zigeuner‘. In den beobachteten Praktiken und Thematisierungsweisen der Besucher*innen zeigte sich diese ,Figur‘ als eine Kategorie, die auf Ausschluss und Missachtung gerichtet ist und dabei besonders an körperlichen Erscheinungs- und Verhaltensweisen festgemacht wird. An der Tür der Theke stehen B. und ein anderer Junge. Sie essen weitere Teigtaschen, sie reden über andere Jugendliche aus dem Treff, die sich zu der Zeit am Billardtisch aufhalten. Ich höre sie sagen: „Das sind so Zigeuner und so. Die sind voll assi.“ (BP 13.01.2014, Z. 350-353) Nun fragt St. „Ey, was spielt ihr?“ Z. erklärt St. wie das Spiel funktioniert. In einem hämischen Ton ruft er: „Ey, ha, die sind doch Zigeuner, die können nicht spielen, die betrügen nur!“ Dabei schaut er mich an, zeigt auf die Jungen, mit denen ich am Tisch sitze und grinst. Mir fällt auf, dass Z. plötzlich ernst schaut und nichts mehr sagt, er schweigt. D.: „Wir sind Serben!“ Dann schaut er auf den Tisch und alle schweigen. St. geht wortlos zur Theke. (BP 12.02.2015, Z. 190-194)

527

In einer kulturtheoretischen Studie rekonstruiert Annette Lareau (2011), dass sich soziale Ungleichheit bereits im Kindesalter reproduziert, nicht zuletzt deswegen, da unterschiedliche Erfahrungen mit verschiedenen Formen institutionalisierter Beschämung und Verkennung – bei Kindern aus unteren Klassen mit einem Beschränkungssinn – und bei Kindern aus höheren Schichten mit einem Berechtigungssinn korrespondieren (vgl. ebd.).

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Körper und Soziale Ungleichheit – Erkenntnisse

Am Begriff der ,Zigeuner‘ wird eine alltägliche, latente und gleichsam wirkmächtige Macht von rassistischen Unterscheidungspraxen deutlich. Diese stehen den Jugendlichen nicht nur strategisch zur Verfügung – sie lassen vielmehr das Sprechen als Unterscheidungspraxis erst sichtbar werden (vgl. Hofarth 2017, S. 137). Die Abwertung der Zigeuner und ihre naturalisierende Deutung als ,schmuddelig‘ und asozial oder als nicht rechtschaffen verweist auf die Machtasymmetrie zwischen Albanern/Serben und Zigeunern, die durch solche Aussagen naturalisierende Deutungen erfahren und die bestehenden Asymmetrien stützen. In den Thematisierungsweisen über die ,Zigeuner‘ zeigt sich zudem die Vorstellung einer zivilisatorischen Höherwertigkeit. Die naturalisierenden Deutungen verleihen diesen ,Eigenschaften‘ den Anschein des Natürlichen sowie des Selbstverständlichen. Die Zigeuner erscheinen so als eine symbolisch gemachte Menschengruppe innerhalb des Jugendtreffs, die von vielen Besucher*innen missachtende Ansprachen erfährt. In den Klassifikationen, die sich in der Figur der ,Zigeuner‘ verdichten, wird die Wirkmächtigkeit symbolischer Gewalt erkennbar (vgl. Machold 2015). So ermöglicht die Figur der Zigeuner den Jugendlichen im Treff in einer indirekten Weise den Einsatz von Mechanismen von Abwertung und Abgrenzung, mit welchen wiederum eine legitime Positionierung im Sozialen möglich wird. Überdies erweist sich diese Figur auch als eine auf soziale Ausschließung gerichtete Kategorie, mit der sich die Diskreditierung und Ausgrenzung bestimmter Jugendlicher legitimieren lässt (vgl. Anhorn und Bettinger 2002, S. 241). In der Figur der ,Zigeuner‘ verknüpfen sich indes ethnisierende Zuschreibungen mit einem Hygienediskurs sowie mit einem Diskurs von Verwahrlosung. So werden bestimmte Zusammenhänge hergestellt, die sich zu einer moralisierenden und personalisierenden Skandalisierung von sozialen Zuständen und Verhaltensweisen erweitern. Dies gilt als eine Voraussetzung dafür, bestimmten Populationen Zugehörigkeit und Partizipation zu verweigern oder zu entziehen (vgl. Cremer-Schäfer 2002, S. 145). Cremer-Schäfer (2002) zufolge handelt es sich bei solchen moralischen Degradierungen, Diskriminierungen und Stigmatisierungen um Prozesse sozialer Ausschließung (vgl. Bettinger 2010, S. 445). Zudem führen diese so hergestellten Zusammenhänge zur diskursiven Konstruktion ,gefährlicher‘ Gruppen und Feind-Bilder, die es abzuwehren gilt. So zeigt sich auch in den Argumentationen über die ,Zigeuner‘ eine Logik auf, derer zufolge diese alles besetzen, und als sei dies eine quasi territoriale Besetzung, die es abzuwehren gelte (vgl. Schmincke 2009, S. 209). Daran lässt sich anschließen und weiterführen, dass die Figur der Zigeuner zeigt, wie sich die Verteidigung von Ordnung und Norm und die Ausschließung von ,unpassenden‘ Menschen vermischen. Vor dem Hintergrund, dass den Zigeunern Attribute wie Verkommenheit, Unaufrichtigkeit, Verwahrlosung und Armut zugeschrieben wird, sind die Zigeuner Menschen, „die nicht ernährt, behaust und bekleidet sind, wie es der Standard ihrer Zeit und ihres Ortes als richtig oder ordentlich definiert; vor allem aber sind es Menschen, die nicht mit der Norm mithalten können und unfähig sind, solchen Standards zu entsprechen. Hier agiert die Norm indirekt, indem

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sie Ausschluss eher wie eine Selbstmarginalisierung aussehen lässt.“ (Baumann zit. nach Cremer-Schäfer 2002, S. 136). An die vorangestellten Deutungen lässt sich anschließen und zuspitzen, dass innerhalb der Praktiken der Adressat*innen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Erfahrungen mit verallgemeinernden Kategorisierungen und abwertenden Zuschreibungen gemacht werden, durch die sie zu ,Anderen‘ und somit zu ,Nicht-Zugehörigen‘ gemacht werden. Ein- und Ausschließungen gehören in einer solchen Perspektive zum Alltag eines Ortes, an dem Jugendliche einen großen Teil ihrer Zeit verbringen. Zu fragen ist an dieser Stelle, wie Jugendliche sich selber in einem sozialen Kontext, in dem sie als fremd und anders markiert und ausgeschlossen werden, positionieren, welche Möglichkeiten sich ihnen bieten, und welche sich für sie verschließen. Ich frage die Jungen nach ihren Namen und stelle mich vor. J. und V. nennen mir ihre Namen. Beide geben mir nacheinander die Hand. Ich kann erneut nicht einordnen, welche Sprache sie miteinander sprechen. Auch wenn ich mich ärgere, dass ich irgendwie national markiere oder ethnisiere, frage ich: „Was sprecht‘ n ihr beide miteinander?“ J. sagt: „Wir kommen aus Rumänien!“ Als D. das hört ruft er sehr laut: „Ich bin Serbe, richtiger Serbe!“ Er bläst sich auf, während er das sagt und ich glaube, dass er stolz darauf ist. Ich: „Na, was ist denn ein richtiger Serbe?“ D.: „Halt ein richtiger Serbe, nicht so `n Zigeuner oder so!“ Ich: „Was meinst du denn mit einem Zigeuner?“ D.: „Na, Rumänen und so!“ Er wendet sich an V.: „Du, du bist so ‚n Zigeuner!“ V. sagt sehr ruhig (mir fällt auf, dass er seinen Kopf tief in die Schultern zieht, das hat etwas von ,Kopf einziehen‘): „Rumänen keine Zigeuner seien und ich auch nicht!“ Daraufhin äffen die Jungen irgendeine Phantasiesprache nach. Ich weiß nicht mehr genau, wer es sagt: „So Zigeuner halt, die sprechen nicht wie wir, die sehen anders aus als wir!“ (BP 20.01.2015, Z. 151-163) Dass und in welcher Weise einige Jugendliche, die als Zigeuner bezeichnet werden, sich gegen die homogenisierende und positionierende Zuschreibung wehren, das veranschaulicht diese Sequenz in einer besonderen Weise. Über meine Nachfrage, welche Sprache die Jungen miteinander sprechen (ich kriege nämlich vorher mit, dass sie unterschiedliche Sprachen miteinander sprechen) teilen mir J. und V. mit, dass sie aus Rumänien stammen; D. hingegen betont, dass er ein ,richtiger Serbe‘ sei. Ich greife die Betonung ,ein richtiger Serbe zu sein‘ auf und frage weiter, woraufhin D. begründet, dass richtige Serben eben keine Zigeuner seien. Ich frage diesbezüglich weiter nach und erfahre, dass im Allgemeinen Rumänen zu den Zigeunern zählen. Aus dieser verallgemeinernden Verwendungsweise wird eine personalisierende Ansprache, indem D. sich an V. wendet und sagt: „Du, du bist so ein Zigeuner“. V., der Junge, der als Zigeuner bezeichnet und angerufen wird, versucht sich zunächst der mit der Ansprache vollzogenen Positionierung durch eine ,Richtigstellung‘ zu widersetzen.

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Er sagt, dass Rumänen keine Zigeuner seien und er folglich auch keiner sei. Dabei wird er still und zieht seinen Kopf ein. Diese Aussage findet in der Gruppe kein Gehör, und ihm wird somit keine Sprechposition zuerkannt. Die anderen Jungen travestieren eine Sprache, die möglicherweise ihrer Meinung nach ,die Zigeuner‘ sprechen und machen sie somit auf dieser Ebene verächtlich. Sie bieten ihm nicht die Möglichkeit, sich ihrer Positionierung zu widersetzen. Die Bezeichnung von D., dass er doch so ein Zigeuner sei, kann sich als Einsatz einer beschämenden Praktik auslegen lassen. Beschämungen gelten als affektuelle und informelle Technik sozialer Schließung – auch im Sinne einer Nicht-Anerkennung des ‚Anderen‘ – , die im Alltag des Jugendtreffs soziale Wirksamkeit entfaltet (vgl. Neckel 1991, 1993). In Körper eingeschrieben gilt Scham als leiblich vermittelte und subjektive Empfindung, die sich zu einer persönlichen Dauererfahrung verstetigen kann (vgl. Neckel 1998, S. 250). Als wesentlicher Bestandteil der symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit – in der es um die soziale Definition des ‚wahrgenommenen Seins‘ geht – ist die Entstehung und Zuweisung von Scham bedeutsam. Bezieht sich Scham auf Status, so ist sie eine elementare Art, wie sich die alltägliche Deutung sozialer Ungleichheit in einer Wertung des Subjekts über sich selbst dokumentiert. Zugleich wirkt sie als die vielleicht am stärksten persönlich gefärbte Art, die Alltagsbedeutung sozialer Ungleichheit an sich selbst zu erfahren. Im Abschluss der Sequenz zeigt sich indes auch, dass in dieser Situation die Deutungsmacht bei der sich so konstituierenden privilegierten Gruppe bleibt und sie in dieser Situation nicht nur sprachmächtig bleibt, sondern die Hierarchie der Wertschätzung damit zu verteidigen weiß. Als hätten sie die Einwände der Jungen, mit denen sie am Tisch sitzen, nicht gehört, beanspruchen sie weiter eine homogenisierende Sicht, die die Zigeuner als ,die Anderen‘ hervorbringt und verleihen so ihrer eigenen – in diesem Moment übergeordnete Positionierung im Jugendtreff – Legitimitität und Ausdruck. Bilanzierend lässt sich festhalten, dass auf der Ebene der Praktiken zwischen den Adressat*innen über den Körper Ein- und Ausschlüsse bestimmter Personen(gruppen) generiert und somit soziale Ungleichheiten reproduziert werden. Dafür werden bestimmte Zusammenhänge hergestellt. Innerhalb der Praktiken von Jugendlichen werden insbesondere die ,asozialen‘ Körper ausgeschlossen oder marginalisiert. Diese erfahren im Kontext des Jugendtreffs abwertende und moralisierende Zuschreibungen, die ihnen die Einnahme einer legitimen Positionierung innerhalb des Jugendtreffs nicht ermöglicht. In der Kombination der Aussagen, dass die ,Zigeuner‘, ,nicht rechtschaffen‘ und ,assi‘ seien oder die ,Asozialen‘, verkommen und verwahrlost seien, wird die Kategorie der ,Asozialität‘ zu einer moralisierenden und personalisierenden Skandalisierung von sozialen Zuständen und Verhaltensweisen. Sie degradiert sie auf einer moralischen Ebene. Dies gilt wiederum als Voraussetzung dafür, bestimmten Jugendlichen Zugehörigkeit und Partizipation im Jugendtreff zu verweigern oder zu entziehen (vgl. Cremer-Schäfer 2002, S. 145). In der Kategorie Körper BeDeuten wurde herausgearbeitet, dass Bezeichnungen als machtvolle positionierende

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Praktiken zu deuten sind. Die Positionierung als ,assi‘ oder ,Zigeuner‘ ermöglicht es sodann den Jugendlichen, die sich dieser Bezeichnung bedienen, sich selber als rechtschaffend, ehrenwert und als anerkennbar in der soziosymbolischen Ordnung des Jugendtreffs zu positionieren. Cremer-Schäfer (2002) zufolge lassen sich solche moralischen Degradierungen, Diskriminierungen und Stigmatisierungen als Prozesse sozialer Ausschließung in den Blick nehmen (vgl. Bettinger 2010, S. 445). Setzt man diese Zusammenhänge in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen, so lassen sich solche Formen der Zuschreibungen und Positionierungen als übersituativ positionierend ausschließende Praktiken markieren, die im Alltag des Jugendtreffs erzeugt, vollzogen und reproduziert werden. Diese sind im Wesentlichen über den Körper vermittelt. 8.9.5

Körper im Einsatz I und II – Diskussion

In der Entfaltung der Kategorie Körper im Einsatz wurde auf Grundlage des empirischen Materials herausgearbeitet, wie im Offenen Kinder- und Jugendtreff über Körper Ein- und Ausschluss auf sozialer Ebene ausgehandelt wird. Vor dem Hintergrund einer körpersoziologischen Positionierung wurde zunächst eine adressat*innenorientierte Perspektive eingenommen und der Fokus zu Beginn auf die sozialen Praktiken der Besucher*innen des Jugendtreffs gelegt. Dadurch konnte gezeigt werden, dass alltägliche Praktiken von Jugendlichen höchst soziale Angelegenheiten darstellen, über die sie sich sozial positionieren. Eine als ,angemessen‘ geltende Inszenierung verspricht nicht nur Anerkennung innerhalb der Gruppen im Jugendtreff, sondern darüber hinausgehend die Einnahme einer legitimen und anerkennbaren Positionierung im Offenen Kinder- und Jugendtreff. An Fragen nach Ein- und Ausschließung sind diese Facetten insofern anschlussfähig, als dass die Inszenierung des Körpers darüber entscheidet, ob Einzelne zu Gruppen als zugehörig eingeschlossen oder als ,nicht-zugehörig‘ ausgeschlossen werden, In einer vertiefenden Beschäftigung mit dem empirischen Material wurde Ausschließung sodann als situative und übersituative Positionierungspraktik konzeptionalisiert, die im Wesentlichen über den Körper vermittelt wird. Über diese Praktiken werden im sozialpädagogischen Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sowohl auf der Ebene der Adressat*innen sowie in Interaktionen zwischen Professionellen und Adressat*innen Ein- und Ausschlüsse spezifischer Personen(gruppen) generiert und somit auch im Handlungsfeld soziale Ungleichheiten reproduziert. In den alltäglichen Bezügen von Jugendlichen innerhalb des Jugendtreffs erfahren oftmals Körper abwertende Zuschreibungen, die innerhalb einer Interaktion situative und ausschließende Auswirkungen haben (können). In Körper BeDeuten wurde der Fokus aus diesem Grund insbesondere auf Klassifikationen und Normen gelegt und anhand des empirischen Materials herausgearbeitet, dass diese sich im Jugendtreff in

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Bezeichnungen und Bewertungen wie ,nicht-schön‘ – ,schön‘, ,hässlich‘ - ,schön‘ ,homosexuell‘ – ,heterosexuell‘, ,fett‘ – ,normal‘, ,assi‘-,nicht-assi‘, ,sauber‘ und ,schmutzig‘ manifestieren. Es konnte auch gezeigt werden, dass diese Bezeichnungen als machtvolle Praktiken wirken, durch die die beteiligten Akteur*innen positioniert werden. Die Bezeichnungen werden auch innerhalb von situativen und sozialen Positionierungen relevant. Legt man nun aber die Annahme zugrunde, dass die Sozialstruktur einer Gesellschaft sich in den alltäglichen Begegnungen niederschlägt, indem der Körper die sozialen Bezüge repräsentiert, in denen er agiert, dann werden Interaktionen durch die jeweilige Verteilung sozialer Positionen geprägt. Die sozialen Positionierungen von Jugendlichen innerhalb des Jugendtreffs sind sodann immer auch mit symbolischen Positionierungen verschränkt. Dies kann dazu führen, dass Einzelnen oder Gruppen Teilhabe und Partizipation im Jugendtreff erschwert wird. In einer solchen Perspektive sind negative Klassifikationen und Normen Elemente der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit im Jugendtreff, über die letztlich Ein- und Ausschluss verhandelt wird. Im Jugendtreff äußern sich diese Formen der Ausschließung innerhalb von Praktiken, in denen Einzelne oder Gruppen situativ als nichtzugehörig positioniert werden. Setzt man diese in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen, so lassen sie sich jedoch als übersituative positionierende Praktiken deuten, durch die Einzelne und Gruppen ein- und ausgeschlossen werden. Der Unterschied zwischen situativ positionierenden und übersituativ positionierenden Praktiken besteht indes darin, dass erstere Akteur*innen in Positionen verweisen, in denen sie einen situativen Normverstoß begehen, den man beheben könnte (vgl. Machold 2011, S. 179). So könnte Z. in der Situation, in der seine schmutzigen Hände kommentiert werden, sich beispielsweise die Hände waschen. Indem er den Schmutz seiner Hände jedoch mit guten Gründen versieht, führt die Zuschreibung nicht zu einem situativen Ausschluss. Übersituativ positionierende Praktiken tendieren hingegen dazu, Personen in eine grundlegende gesellschaftliche Position zu verweisen, in der sie einer gesellschaftlich relevanten Norm nicht entsprechen und der Aufforderung der Norm nicht nachkommen können (vgl. Machold 2011, S. 178). Und dies nicht zuletzt auch deswegen, weil ihnen der Zugang zu Ressourcen und sozial relevanten Gütern verschlossen bleibt. In der Dimension Ausschließung als übersituativ positionierende Praktik wurde der Fokus einführend auf die Ebene zwischen Professionellen und Adressat*innen gelegt. Es konnte gezeigt werden, dass die Adressat*innen Zuschreibungen wie Verwahrlosung, Rohheit und Verkommenheit erfahren. Diese haben eine sozial und symbolisch ausschließende Dimension und nicht zuletzt werden durch moralisierende und skandalisierende Zuschreibungen soziale Ungleichheiten auf dieser Ebene reproduziert und Ein- und Ausschlüsse, beispielsweise der ,Stammgäste‘ von Gruppen generiert. In den Thematisierungsweisen einiger Mitarbeitenden, insbesonderen von denen, die

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auf Honorarbasis arbeiten zeigen sich bürgerliche Normen und Ordnungsvorstellungen, die die ,Stammgäste‘ scheinbar stören und die es folglich abzuwehren gilt. Diese unterscheiden sich vornehmlich von den Thematisierungsweisen der hauptamtlich Mitarbeitenden, in deren Deutungs- und Handlungsmuster sich pädagogisch relevante Normen zeigen. In den Blick zu nehmen ist auch, dass auf diese Weise im sozialpädagogischen Handlungsfeld selber auf Ausschließung gerichtete Kategorien produziert werden, durch die Benachteiligungen jener Gruppen, die ohnehin schon Einschränkungen erfahren, verfestigt werden. Für die Ebene zwischen den Adressatinnen und Adressaten konnte herausgestellt werden, dass auch dort diejenigen Jugendlichen abwertende Zuschreibungen erfahren, die als ,asozial‘ wahrgenommen und somit von der ,vollwertigen‘ Zugehörigkeit zum Jugendtreff ausgeschlossen werden. Erkennbar werden darin Mechanismen der Aufrechterhaltung einer Ordnung, die die Legitimität der eigenen Positionierung sicherstellt; auf jeden Fall sind darin auch Mechanismen enthalten, die die einen einschließt, sowie die anderen ausschließt.

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Körper und Soziale Ungleichheit – Diskussion

Die ethnographische Studie hat ein facettenreiches Bild vom Offenen Kinder- und Jugendtreff entstehen lassen. Darüber hinaus hat sie auch Einblicke in die körperliche Dimension von Prozessen der Ein- und Ausschließung gewonnen und Zusammenhänge erkennbar gemacht. Da sich das Körperliche im Jugendtreff auf unterschiedlichen Analyseebenen manifestiert, kann sich diesem nur unter Berücksichtigung differenzierter theoretischer Zugangsweisen angenähert werden. Eine zusammenführende Auseinandersetzung mit den sozialen Praktiken und den diskursiven Konstruktionen war letztlich nötig, um die Bestimmung des Gegenstandes auf unterschiedlichen Ebenen analysieren und rekonstruieren zu können. Dies stellte sich zugleich als ein äußerst komplexes Unterfangen dar. Im Folgenden werden die in der empirischen Analyse gewonnen Erkenntnisse hinsichtlich der Frage nach Körper im Kontext von Prozessen der Ein- und Ausschließung im Offenen Kinder- und Jugendtreff bilanziert und diskutiert. In der Auswertung der ethnographischen Analyse wurde zunächst deutlich, dass der Jugendtreff sich als ein Ort großer Heterogenität darstellt. Er zeigt sich zum einen als ein Ort, an dem ,Jugend‘ ermöglicht wird und zum anderen als ein Ort, an dem soziale Ungleichheits- und Ausschließungsverhältnisse ihren Ausdruck finden. Körper spielen in diesem nicht nur eine wesentliche Rolle, weil sie unhintergehbar sind, sondern auch, weil im sozialpädagogischen Handlungsfeld über den Körper Prozesse der Einund Ausschließung verhandelt und darüber gesellschaftliche Ordnungen konstituiert und reproduziert werden. Dies liegt darin begründet, dass mittels des Körpers gesellschaftliche Verhältnisse repräsentiert sind. Das bezieht sich sowohl auf die unmittelbare Ebene der Professionellen mit den Adressat*innen, wie auch zwischen den Adressatinnen und Adressaten. Auf Grundlage des empirischen Materials konnte gezeigt werden, dass der Offene Kinder- und Jugendtreff als Feld von gesellschaftlichen Ordnungen strukturiert ist und diese Facetten im Wesentlichen über den Körper vermittelt sind. Insofern das pädagogische Handlungsfeld selber erst durch die körperlichen Präsenzen und Praktiken der Besucher*innen und der Professionellen hergestellt wird, ist es in besonderer Weise durch Körper, dazu zählen körperliche Erscheinungen und Verhaltensweisen, geprägt und somit auch von der sozialen Ordnung, die sich daran festmacht. Hierfür gilt die körpersoziologische Einsicht grundlegend, dass Körper nicht in Naturform in Erscheinung treten, sondern von sozialen Verhältnissen geprägt werden, genauso wie sie an deren Hervorbringung beteiligt sind. Innerhalb alltäglicher Interaktionen bringen Akteur*innen nicht nur ihre jeweilige soziale Stellung zum Ausdruck, denn soziale und körperbasierte Interaktionen sind mit Bewertungen verbunden, in die Normen einfließen. Somit formiert der Offene Kinder- und Jugendtreff © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. B. Burghard, Körper und Soziale Ungleichheit, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 19, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31200-8_10

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einen Ort, der durch eine spezifische soziosymbolische Ordnung strukturiert ist, deren Rahmungen und Grenzen dort täglich aufgeführt und bearbeitet werden. Der Körper hat in diesem Kontext nicht nur eine Ordnungs- und Sortierungsfunktion, sondern über ihn werden zugleich immer auch gesellschaftliche Verhältnisse, einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse, konstituiert und reproduziert. Die Auswertung der Ergebnisse hält entscheidende Aspekte dahingehend bereit, dass der Offene Kinder- und Jugendtreff durch soziale Ordnungskategorien strukturiert ist und diese an Körpern festgemacht werden (Kapitel 8.1.-8.4.). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass sich innerhalb des Handlungsfeldes, sowohl durch praktisch körperliche Zusammenschlüsse als auch durch (machtvolle) Zuschreibungen, unterschiedliche Gruppen formieren. Die Konstruktion von Gruppen vollzieht sich somit auf der Ebene sozialer und diskursiver Praktiken. In diese sind auch soziale Kategorien wie Geschlecht, Klasse, Ethnizität und Alter eingelagert. Diese Gruppen unterscheiden sich nicht nur in Bezug auf den Einsatz ihrer Körper, sondern auch durch Normen. Diese folgen einer dichotomen Logik und werden auf der Ebene der Semantiken im Jugendtreff in Form von Bedeutungszuschreibungen und Bewertungen ausgehandelt. Folglich ist der offene Jugendtreff nicht nur durch gesellschaftliche Strukturkategorien, sondern auch durch Normen hierarchisch und potenziell exklusiv strukturiert. Die Konstruktion von Gruppen, wie die ,Stammgäste‘, die ,Vorzeigejugendliche‘ oder die ,Assis’ geschieht somit auf der Grundlage der Wahrnehmung körperlicher Praktiken sowie durch die Indienstnahme von Stereotypen und Klassifikationen. Diesen liegen wiederum bestimmte Wahrnehmungsweisen zugrunde, die nicht losgelöst von der sozialen Ordnung zu denken sind, denn in ihnen entfalten sich gesellschaftlich vorgeformte Schemata. Körpertheoretische Ansätze machen für die Diskussion eine Perspektive auf, durch die erkennbar wird, dass Teilungsprinzipien und Ordnungsmuster sich aus der Inkorporation sozialer Strukturen ergeben. Durch Habitualisierung schreiben sich gesellschaftliche Ordnungen als Schemata des Wahrnehmens, Bewertens und Klassifizierens in den individuellen Körper ein. Folglich zeigen sich soziale Verhältnisse im Alltag des Offenen Kinder- und Jugendtreffs in der Art und Weise, wie Körper bewegt und inszeniert werden; sie präformieren so aber auch, wie Körper wahrgenommen und klassifiziert werden. Die Sichtbarkeit von Körpern ist gemeinhin die Voraussetzung für ihre Wahrnehmung, welche wiederum von gesellschaftlichen Normen vorstrukturiert ist. Sie beeinflussen sodann eine entsprechende Zuschreibung sozialer Kriterien. Bourdieu bezeichnet diesen Prozess als Inkorporierung oder Habitualisierung, Butler hingegen als Materialisierung von kulturellen Normen mittels performativer Akte (siehe Kapitel 1.). Durch diese beiden Perspektiven auf den Körper, als Produkt und Produzent, ist die Durchsetzung gesellschaftlicher Normen näher erklärbar.

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Zudem konnte die Erkenntnis gewonnen werden, dass unterschiedliche Gruppen im Offenen Kinder- und Jugendtreff nicht nur in ein Bewertungsverhältnis zueinander gesetzt, sondern auch entsprechend in der Hierarchie der Wertschätzung innerhalb diesem positioniert werden. Wer im Jugendtreff welcher Gruppe angehört, beeinflusst etwa ihre Zugehörigkeits- und Teilhabechancen, ebenso wie viel an Anerkennung ihnen dort zugesprochen wird. Hinter diesen Trennungen verbirgt sich eine Aufteilung zwischen ,anerkennbaren‘ und weniger ,respektablen‘ sowie ,normalen‘ und ,nicht-normal-respektablen‘ Gruppen. Über diese Perspektivierung hinaus wurde erkennbar, dass über die diskursive Konstruktion unterschiedlicher Gruppen der Jugendtreff als ein spezifischer Ort hergestellt wird. Gezeigt werden konnte diese Erkenntnis beispielsweise anhand der Aufteilung in die ,Stammgäste‘ und die ,Vorzeigejugendlichen‘; diese vollzog sich auf der unmittelbaren Ebene zwischen einigen Mitarbeitenden und den Adressat*innen. Die sich unterscheidenden Gruppierungen werden nicht nur in einer ,dichotomisierenden‘ Weise gegenübergestellt, sondern die ,Stammgäste‘ erfahren darüber hinausgehend moralisierende oder skandalisierende Zuschreibungen. Als ursächlich dafür gelten zumeist körperliche Erscheinungs- und Verhaltensweisen, die wiederum in gesellschaftlich vorbestimmte ,Zonen der Aufregung‘ fallen (vgl. Heite et al. 2013). Dem lässt sich entnehmen, dass die ,Stammgäste‘ die Ordnung des Jugendtreffs zu gefährden scheinen, denn durch ihre Praktiken und die Art und Weise, wie diese von den Professionellen thematisiert werden, wird der Jugendtreff zu einer ,Zone der Unsicherheit‘. In den Thematisierungsweisen der Professionellen ist erkennbar, dass eine wechselseitige Skandalisierung vom Jugendtreff und den beobachtbaren Praktiken einiger Jugendlicher stattfindet. Somit wird der Jugendtreff von den Professionellen auf Grundlage der Wahrnehmung von Praktiken einiger Besucher*innen diskursiv zu einem ,unsicheren Ort‘ gemacht. In diesen Thematisierungsweisen zeigen sich überdies normative Konzepte von ,guten‘ und ,schlechten‘ Adressat*innen. Während die ,Vorzeigejugendlichen‘ für einige Mitarbeiter*innen die ,guten‘ Adressat*innen darstellen, repräsentieren die ,Stammgäste‘ die ,schlechten‘ Adressat*innen. Von einigen Mitarbeitenden, die auf Honorarbasis angestellt sind, erfahren die ,Stammgäste‘ Zuschreibungen wie ,Verkommenheit‘ oder ,Verwahrlosung‘. Nicht zuletzt werden darüber soziale Ungleichheiten reproduziert und somit der Ein- und Ausschluss von Personen(gruppen) innerhalb des Jugendtreffs generiert. Auf der Ebene der Adressat*innen wird der Jugendtreff auf Grundlage der Wahrnehmung körperlicher Praktiken einiger Besucher*innen auf der diskursiven Ebene zu einem Ort ,gesellschaftlicher Unsittlichkeit‘ konstituiert. Versteht man die alltäglichen Bewertungskämpfe der Besucher*innen des Jugendtreffs als Auseinandersetzungen um Anerkennung und Legitimität, so wird erkennbar, dass sie sich darin gegenseitig ihre soziale Stellung zum Ausdruck bringen und auf diese Weise Möglichkeiten von

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Positionierungen aushandeln. Die Frage nach der sozialen Positionierung ist für Jugendliche von besonderer Bedeutung, nicht zuletzt deswegen, weil sie damit eine wesentliche Herausforderung der Lebensphase Jugend bewältigen. Die Zuschreibungen, die einige Jugendliche erfahren, können somit als Begrenzung ihrer Positionierungsmöglichkeiten kritisch betrachtet werden. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Jugendlichen über unterschiedliche Zugänge zu sozial relevanten Gütern und Ressourcen verfügen und dies ebenso die Realisierung von Positionierungen präformiert. Dass im Jugendtreff (bestimmte) Körper in Erscheinung treten, indem sie mit spezifischen Bedeutungen und Bezeichnungen versehen werden und darüber Ein- und Ausschluss auf der symbolischen Ebene verhandelt wird, bildete den Mittelpunkt der zweiten Kategorie, die im Rahmen der Analyse gebildet wurde. In dieser wurde die körpersoziologische Annahme grundgelegt, dass Unterscheidungen wie Geschlecht oder ,Rasse‘, die immer auch mit körperlichen Aspekten gekoppelt sind, an Körpern gelesen und als körperliche Natur ontologisiert werden und keine den Körpern inhärente Eigentlichkeiten darstellen, sondern dass diese sozial hergestellt sind und in unterschiedlichen Weisen immer wieder sozial bedeutungsvoll werden. Erkennt man erneut in den Arten und Weisen, wie Körper bezeichnet und bewertet werden inkorporierte soziale Strukturen und gesellschaftliche Normen, dann erlaubt die empirische Rekonstruktion entsprechende Einblicke in die zugrunde liegenden sozialen Ordnungen, einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse. Die differenzierte Auseinandersetzung mit der Ebene der diskursiven Konstruktionen von Körpern war letztlich nötig, um einen Zugang dazu entwickeln zu können, durch den Bezeichnungen und Bewertungen als machtvolle Praktiken der Positionierung konkretisierbar sind, die wiederum Ausschluss auf der Ebene des Symbolischen fixieren. Positionierungen vollziehen sich nunmehr auf situativer sowie auf übersituativer Ebene. Mit der Einnahme einer körpersoziologischen Forschungsperspektive konnte erstens gezeigt werden, dass insbesondere Klassifikationen wie die der ,Asozialität‘, der ,Zigeuner‘ oder der ,Verwahrlosung‘ als stigmatisierende Elemente der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit im Offenen Kinder- und Jugendtreff wirken, über die Ein- und Ausschlüsse vollzogen werden. Klassifikationen gelten dort als machtvolle positionierende Praktiken im Kontext der soziosymbolischen Ordnung. Sie tendieren dazu, Personen oder Gruppen innerhalb des Jugendtreffs abzuwerten und sie darüber hinaus symbolisch von der vollwertigen Zugehörigkeit im Jugendtreff auszuschließen. In den alltäglichen Praktiken von Besucher*innen des Jugendtreffs werden somit symbolische Kämpfe erkennbar, in denen nicht nur über das symbolische Kapital der Anerkennung, sondern auch über Kriterien der Zugehörigkeit verhandelt wird. Diese wiederum präformieren dann die Möglichkeiten der Positionierung der Akteur*innen. Zweitens wurde herausgestellt, dass die im Körper verankerten habitualisierten Wahrnehmungsschemata entlang der Dichotomie ,normal‘ und ,abweichend‘ organisiert sind und Bezeichnungen, die Einzelne oder Gruppen erfahren, als machtvolle

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Prozesse der Aushandlung von Bedeutung zu verstehen sind, indem sie ,wahr-gesprochen werden‘. Über die Verwendung von Bezeichnungen und Bewertungen werden gesellschaftliche Normen im Alltag des Jugendtreffs stabilisiert und somit Verhältnisse von ,normal‘ und ,davon-abweichend‘ hergestellt. Auf Grundlage der körpersoziologischen Fokussierung, insbesondere durch die Theorie der performativen Materialisierung von Judith Butler (siehe auch Kapitel 1.5.), konnte drittens begründet werden, dass, indem Bezeichnungen auf Einzelne oder Gruppen angewendet, Differenzen resignifiziert, darüber bestehende Normen zitiert und diese somit performativ hervorgebracht werden. Insofern Bezeichnungen Personen/Subjekten eine Position in einer soziosymbolischen Ordnung zuweisen, lassen sie sich als machtvolle und positionierende Praktik perspektivieren. Dass dies eine wesentliche Facette sozialpädagogischer Wirklichkeitskonstruktion darstellt, in der einem männlichen Jugendlichen die Einnahme einer ,legitimen‘ Positionierung als ,Mann‘ nicht ermöglicht wurde, konnte exemplarisch anhand der Positionierung eines männlichen Besuchers als ,Pussy‘ verdeutlicht werden. Darüber hinaus unterstreicht die Diskussion einer Sequenz, dass missachtende und verächtlichmachende Ansprachen, die etwa ein ,fetter‘ Körper erfährt, als positionierende und machtvolle Praktiken wirksam werden, über die Ausschließung einzelner Personen im Jugendtreff auf der symbolischen Ebene verhandelt wird. Für diese Kategorie lässt sich bilanzieren, dass über Praktiken der BeDeutung von Körpern im Kontext sozialer und sozialpädagogischer Wirklichkeitskonstruktionen soziale Ungleichheiten reproduziert und zudem Ein- und Ausschlüsse von bestimmten Personen(gruppen) generiert werden. Eingedenk körpersoziologischer Perspektiven können Prozesse der Ein- und Ausschließung im offenen Kinder- und Jugendtreff auf der symbolischen Ebene sowohl als Resultat inkorporierter sozialer Teilungsprinzipien sowie als Ausdruck für eine an spezifischen Normen und Unterscheidungen ausgerichtete soziale Ordnung betrachtet werden. Indem Körper BeDeutungen erfahren, werden auch Kriterien von (Nicht-) Zugehörigkeit im Kontext des Offenen Jugendtreffs ausgehandelt und somit auf Ausschließung gerichtete Kategorien produziert. Über die entfalteten Sequenzen hinausgehend lässt sich anmerken, dass insbesondere Praktiken der Bedeutung immer auch machtvoll und positionierend sind. Positionierungen erfolgen somit in sozialen Positionen in einem spezifischen sozialen Gefüge, also dem konkreten Jugendtreff. Sie erfolgen auch, indem Personen in übersituative Subjektpositionen verwiesen werden (vgl. Machold 2015, S. 138). Mitsamt wird ihnen eine legitime (oder illegitime) Position innerhalb der soziosymbolischen Ordnung zugewiesen oder eben deren Einnahme nicht ermöglicht. Soziale Positionierungen erfolgen im Kontext des Offenen Kinder- und Jugendtreffs und zugleich in Verhältnissen sozialer Ungleichheit sowie durch formale und symbolische Ein- und Ausgren-

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zungen (beispielsweise von Rassismus und Sexismus). Sie prägen ferner die subjektiven Handlungs- und Positionierungsmöglichkeiten von Einzelnen und Gruppen (vgl. Riegel und Geisen 2010). Der Blick auf die Normen vermag auch den Blick dafür zu schärfen, dass Normen innerhalb des Offenen Kinder- und Jugendtreffs den Rahmen dessen abstecken, was dort als ,normal‘/,abweichend‘, als ,männlich‘/,weiblich‘, ,begehrenswert‘/,nicht-begehrenswert‘, als ,gesund‘- ,krank‘, ,rein‘/ ,unrein‘ ,verkommen‘ oder ,gefährlich‘ gilt. Diese Sichtweise lässt den Jugendtreff nicht lediglich als einen Ort perspektivieren, in dem die Rahmen der Anerkennbarkeit immer wieder ausgehandelt und abgesteckt werden, sondern als einen Ort, an dem Körper an symbolischen Grenzziehungen beteiligt sind. Diese markieren und formieren ein ,Innen‘ und ,Außen‘ der Gesellschaft beziehungsweise von Gemeinschaft(en) im Jugendtreff. Damit ist zugleich die Frage danach berührt, wer als ,legitimer‘ Körper des so konstituierten Innenraums einer imaginierten Gemeinschaft im Kontext des Jugendtreffs wahrgenommen wird und wer darin fremd und marginal bleibt oder ausgeschlossen wird (vgl. Reuter 2015). Es lässt sich pointieren, dass Ein- und Ausschlüsse im Alltag des Offenen Kinderund Jugendtreffs auf symbolischer Ebene verhandelt werden und dies im Wesentlichen über den Körper vermittelt wird. Um sich der Frage anzunähern, wie Ein- und Ausschließungen sich über den Körper auf der unmittelbaren Ebene der Praktiken vollziehen, wurde der Blick in einem weiteren Schritt auf die beobachtbaren Praktiken zwischen den Adressatinnen und Adressaten sowie den Professionellen und den Adressat*innen im beforschten Handlungsfeld gelegt. Hier bieten körpersoziologische Zugänge ein umfassendes Theorieangebot, durch das Praktiken der Inszenierung und der Ästhetisierung als Praktiken sozialer Positionierung erkennbar werden, über die Ein- und Ausschließung erfolgt. Praxistheoretische Perspektiven ermöglichen es zudem, Ein- und Ausschließungen nicht als statische Zustände, sondern unter einer Prozessperspektive untersuchen zu können (vgl. Kessl 2015, S. 12). Innerhalb dieser Diskussionen wurde der Blick zunächst vornehmlich auf die Adressat*innen des Handlungsfeldes gerichtet. Die empirischen Ergebnisse unterstreichen sodann, dass die Adressat*innen auf der Ebene sozialer Praktiken Ein- und Ausschlüsse maßgeblich über den Körper konstituieren und reproduzieren. Die Auswertung des empirischen Materials führte zur Entwicklung und Entfaltung der Kategorie Körper im Einsatz. Vor dem Hintergrund der Einnahme einer körpersoziologischen Perspektive konnte aufgezeigt werden, dass alltägliche Praktiken von Jugendlichen, in denen sie ihre Körper bearbeiten und zu sehen geben, höchst soziale Angelegenheiten darstellen und darüber auch gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse ausgehandelt werden. Es waren zunächst deutliche Nuancen erkennbar, dass Körper von Jugendlichen vielfältigen Bearbeitungen unterliegen. Verknüpft man

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diese Erkenntnisse nun mit körpersoziologischen Sichtweisen sowie mit Theorien zu Jugend und sozialer Ausschließung, so gerät das alltägliche Tun der Jugendlichen, in dem sie ihre Körper einsetzen, wie beispielsweise durch Ästhetisierungen, im Tanz oder durch die Musik, als Praktiken in den Blick, mit denen sie nicht nur Zugehörigkeit zu Gruppen herstellen, sondern über die sie sich im konkreten Ort des Jugendtreffs sozial positionieren. Ob jemand dort als zugehörig eingeschlossen oder als nicht-zugehörig ausgeschlossen wird, bleibt indes nicht folgenlos, denn es beeinflusst die Möglichkeiten der Positionierung und der Teilhabe von Besucher*innen. Die empirischen Daten geben deutliche Hinweise darauf, dass die über den Körper vorgenommenen Positionierungen äußerst prekäre Angelegenheiten darstellen, in denen die Frage nach Zugehörigkeit immer wieder zu Disposition steht. Ob jemand als zugehörig eingeschlossen ist, wird nicht zuletzt daran festgemacht, ob der Körper in einer angemessenen Weise präsentiert und eingesetzt wird, durch die wiederum die Einnahme einer legitimen Positionierung im Kontext des Jugendtreffs möglich ist. In diesen Prozessen greifen eigene Gruppenbildungen und externe Zuschreibungen ineinander: Zugehörigkeiten werden zum einen durch Fremdpositionierungen geschaffen, zum anderen ermöglichen Selbstpositionierungen die Herstellung der Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften. Im Falle von Freundschaftskreisen beispielsweise streben Jugendliche Zugehörigkeiten selber an. Damit lassen sich Identitätsansprüche und soziale Vorteile verbinden (vgl. Neckel 2003, S. 161-162). Ungleichheitsrelevanz entfalten diese Prozesse dann insbesondere dadurch, dass sich Zugehörigkeiten durch Grenzziehungen konstituieren, nicht zuletzt, um die eigene ,Wir-Gruppe‘ nach innen zu begünstigen und nach außen abheben zu können (vgl. Neckel 2003, S. 162). Um der Gefahr des Scheiterns und des Ausschlusses zu entgehen, prüfen Jugendliche die Anerkennbarkeit in der Gruppe, der sie sich jeweils zugehörig fühlen. Um sich nun der Frage noch weiter annähern zu können, wie im Alltag des Offenen Kinder- und Jugendtreffs über den Körper Ein- und Ausschlüsse konstituiert und reproduziert werden, wurden die Erkenntnisse, die in der Entfaltung der Kategorien Körper BeDeuten und Körper im Einsatz gewonnen wurden, zusammengeführt. Ein- und Ausschließungen konkretisierten sich sodann als situativ und übersituativ positionierende Praktiken, die im Wesentlichen als durch den Körper vermittelt zu betrachten sind. Über diese werden im pädagogischen Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sowohl auf der Ebene der Adressat*innen sowie in Interaktionen zwischen Professionellen und Adressat*innen Ein- und Ausschlüsse spezifischer Personen(gruppen) generiert und darüber dort soziale Ungleichheiten konstituiert und reproduziert. Dass und in welcher Weise Ausschließung als situative Praktik gefasst werden kann, konnte auf der Ebene der Adressat*innen aufgezeigt werden. Bei der Auswertung des Materials zeigte sich, dass bestimmte körperliche Inszenierungen von Männlichkeit oder Weiblichkeit, so wie etwa die der ,Schlampe‘, in konkreten Situationen als nicht-

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zugehörig positioniert werden. In diesem Zusammenhang werden besonders Klassifikationen und Normen wirksam, deren Gebrauch sich als Ausschluss auf symbolischer Ebene verstehen lässt. Es stellte sich heraus, dass diese Formen der Ausschließung auf eine konkrete Situation bezogen und möglicherweise auch fluider sind. Ferner konnte beispielsweise anhand einer Sequenz aufgezeigt werden, dass die situative Positionierung eines männlichen Besuchers, der die Norm der Hygiene nicht verkörpert und aufgrund dessen zur Einhaltung der ,Reinheitsregel‘ aufgefordert wird, nicht zu Ausschließung führt. Zwar wird der Besucher in einer konkreten Situation als der Hygienenorm nicht entsprechend positioniert, jedoch bleibt er handlungsfähig, indem er aushandelt, dass seine Positionierung nicht zum Ausschluss führt, weil er den Schmutz seines Körpers mit ,guten Gründen‘ versieht. Dass Ausschluss von als ,gefährlich markierten‘ Körpern als ein probates Mittel gilt um die Ordnung im Jugendtreff zu erhalten, konnte auch aus dem empirischen Material geschlossen werden. Wird nun von der Annahme ausgegangen, dass als ,gefährlich‘ oder als ,störend‘ wahrgenommene Körper im Jugendtreff über das Hausverbot Ausschließung erfahren, so stellt sich die Frage danach, wie die Besucher*innen des Jugendtreffs sich in ihren Praktiken darauf beziehen. Bei der Auswertung waren Praktiken zu erkennen, in denen die Besucher*innen bestimmte Begrenzungen ihrer Handlungen, die durch die im Jugendtreff geltenden Regeln gesetzt werden, Bezug nehmen. Die konstituierenden Regeln und Verbote werden durch die ,So-tun-als obHandlungen‘ entweder markiert oder durchbrochen. Dabei entsteht ein ambivalent strukturierter Handlungsraum, in welchem diejenigen, die die Handlung durchführen, performativ die Grenzen der Verbote und Regeln überschreiten. Abschließend wurden Ungleichheits- und Ausschließungsverhältnisse im pädagogischen Handlungsfeld in ihrer gesellschaftlichen Relevanz perspektiviert und diskutiert. Hierfür wurde ein Verständnis sozialer Ausschließung als übersituativ positionierende Praktik erarbeitet. Dabei rückten sowohl die Ebene der Professionellen als auch die der Adressat*innen in den Blick. Versteht man nun Praktiken von Akteure*innen im Feld als Praktiken sozialer Positionierung, die im Wesentlichen über den Körper ausgehandelt und über die Ausschluss auf sozialer Ebene ausgehandelt wird, und erkennnt man zudem in Bezeichnungen und Bewertungen machtvolle positionierende Praktiken auf der Ebene des Symbolischen, dann lässt sich plausibilisieren, dass diese Facetten im Alltag des Jugendtreffs ineinander greifen und in besonderer Weise über den Körper vermittelt werden. Setzt man diese Erkenntnisse in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen, so lässt sich Ausschließung als übersituativ positionierende Praktik deuten, über die Einzelne und Gruppen ein- und ausgeschlossen werden. Auf Körper gerichtete Klassifikationen zeigen sich in diesem Zusammenhang in besonders machtvoller Weise im jugendpädagogischen Alltag. Insbesondere negativen

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Klassifikationen kommt die Wirkmächtigkeit der Ausschließung zu. Wirken auf der symbolischen Ebene einige Klassifikationen abwertend, so fixieren andere prinzipielle Unterschiede und schließen die negativ bewerteten Personen oder Gruppen symbolisch von der vollwertigen gesellschaftlichen Zugehörigkeit aus (vgl. Sutterlüty et al. 2008, S. 69). Zudem werden Klassifikationen auf der sozialen Ebene wirkmächtig und können dazu führen, dass den betroffenen Personen oder Gruppen materielle Teilhabe, Partizipation sowie soziale Teilnahme verwehrt oder der Zugang dazu erschwert wird (vgl. Neckel et al. 2008, S. 69). Negative Klassifikationen gelten als stigmatisierendes Element der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit im Jugendtreff (vgl. Neckel und Soeffner 2008). Sie entfalten jedoch auf übersituativer Ebene Wirksamkeit. Für die Ebene der Mitarbeitenden konnten Zuschreibungen, die die ,Stammgäste‘ erfahren, als Prozesse sozialer Ausschließung herausgestellt werden. Über die Moralisierungen und Skandalisierungen, die die Jugendlichen aus dem unteren Bereich erfahren, erhalten diese Zuschreibungen wie ,Unordnung‘ und ,Verwahrlosung‘. Sie werden selektiv auf ,die von unten’ angewendet und dienen dabei als ein zentrales Medium, mit dem Grenzen der Zugehörigkeit gefestigt und abgesichert werden (vgl. Anhorn und Bettinger 2002, S. 234). Sie erweisen sich jedoch als funktional im Hinblick auf die intendierte Zementierung hermetischer Grenzmarkierungen zwischen Mitarbeitenden, die vormals Besucher*innen waren und den Besucher*innen, die den Jugendtreff zum gegebenen Zeitpunkt der Beobachtung ,besetzen‘. Sie dienen somit der Ausschließung spezifischer, als besonders verkommener oder problematisch bezeichneter Gruppen der Gesellschaft (vgl. Stehr 2008, S. 319). Im empirischen Material waren in den Thematisierungsweisen der Mitarbeitenden über die Besucher*innen Elemente und Normen einer bürgerlichen Ordnung erkennbar, die die ,Stammgäste‘ scheinbar zu stören schienen. Diese Normen begründen jedoch Ansprüche auf Herrschaft und eine bestimmte Verteilung von Gütern und Lebenschancen.528 Herrschaftskritisch betrachtet dienen diese Normen der Regulierung von Gesellschaft insofern, als dass Personen und (so konstruierte) Gruppen an diesen Normen orientiert werden. Zu fragen ist jedoch, über welche Möglichkeiten diejenigen, die den Normen nicht entsprechen, verfügen, um sie dennoch zu erreichen. Im Material waren Nuancen erkennbar, dass die Abweichungen von der Norm entsprechend Anlass für Sanktionierung oder Moralisierung bieten. In den Thematisierungsweisen der Mitarbeitenden wird ein normativer Horizont, eine Rechtfertigungsordnung, wirksam, wenngleich dieser nicht explizit thematisch wird. Vor dem Hintergrund der theoretischen Positionen von Michel Foucault und Judith Butler lässt sich darlegen, dass für die Aufrechterhaltung einer Ordnung die Konstruktion 528

Die Möglichkeit bestimmte Normen als legitime Sicht und ihren Geltungsanspruch durchzusetzen ist abhängig von der Verfügbarkeit über soziale Ressourcen, Macht und der jeweilig eingenommenen Sprecher*innenposition.

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eines ,Außen‘ – sprich anderer Körper – konstitutiv ist, da sich die Norm immer nur über das ,Ausgeschlossene‘ stabilisieren kann (vgl. Schmincke 2009). Das ,Normale‘ wird folglich primär über das ,Abweichende‘ konstituiert; das heißt, dass der gesunde Körper sich über die Konstitution des kranken Körpers, sowie (die normale) Sittlichkeit sich durch Abgrenzung gegenüber unsittlichen Verhältnissen konstituiert (vgl. Bublitz 1999, S. 35). Die Durchsetzung bestimmter Normen ermöglicht somit die Errichtung gesellschaftlicher Hierarchien und deren Erhalt. Der Sinn von Ausschließung bestimmter Gruppen besteht im Jugendtreff folglich darin, bestehende Verhältnisse zu ,sichern‘. Dass diese Mechanismen und Strategien im Hinblick auf Ein- und Ausschließung auch auf der unmittelbaren Ebene der Adressat*innen wirksam werden, unterstreichen die theoretisierenden Diskussionen der Kategorie Körper im Einsatz II. Ausschließungen erfahren unter den Adressat*innen die als ,asozial’ markierten Jugendlichen sowie die ,Zigeuner‘. Es konnte aufgezeigt werden, dass sich mit diesen Kategorien die Diskreditierung und Ausgrenzung von bestimmten Jugendlichen legitimieren lässt und sie somit auf soziale Ausschließung gerichtet sind. Einzelnen oder Gruppen, auf die diese Kategorien angewendet werden, wird sodann nicht nur die Möglichkeit der Zugehörigkeit und Partizipation innerhalb des Jugendtreffs erschwert oder verweigert, sondern sie werden in machtvoller Weise in eine strukturell ausgeschlossene Position verwiesen. Vor diesem Hintergrund gerät in den Blick, dass es einen Unterschied zwischen einer situativ ausgeschlossenen Position und einer strukturell ausgeschlossenen Position gibt. Besteht im Hinblick auf Ersteres die Möglichkeit auf Ausschluss zu reagieren, so verweist Ausschluss als übersituative Positionierung in eine Position, in der Einzelne oder Gruppen grundlegenden gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen und zudem der Aufforderung der Befolgung der Norm nicht entsprechen können (vgl. Machold 2011, S. 178). Folglich zeigen sich unter den Adressat*innen ebenso Strategien und Mechanismen zur Errichtung gesellschaftlicher Hierarchien und deren Erhalt. Der Sinn von Ausschließung bestimmter Gruppen besteht im Jugendtreff dann darin, eine Ordnung aufrecht zu erhalten, die die eigene soziale Positionierung als legitim erscheinen lässt. Verknüpft man diese Erkenntnisse der Analyse des Zusammenhangs von Körper und Ein- und Ausschließung sodann mit den Sichtweisen der Körpersoziologie, in der der Körper in einer Doppelperspektive als Produkt und Produzent von Gesellschaft begriffen wird, dann lässt sich bilanzieren: In der Offenen Kinder- und Jugendarbeit – exemplarisch wurde das an einem Offenen Kinder- und Jugendtreff diskutiert – ist der Körper zugleich Produkt und Produzent von Ein- und Ausschließungen. Als Produkt ist er ein ,ausgeschlossener‘ Körper, insofern sich Ausschluss in ihn einschreibt und materialisiert. Einige Körper werden im Jugendtreff ausgeschlossen, weil sie bestimmten Normen nicht entsprechen, weil sie sich nicht an die dort geltenden Regeln

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halten oder weil sie ein ,Problem‘ darstellen. Als Produzent von Ein- und Ausschließung erscheint der Körper aufgrund seiner Sichtbarkeit und zugleich, weil er die Wahrnehmungs-, Thematisierungs- und Handlungsweisen der Akteur*innen anleitet, die sich wiederum aus der Inkorporation sozialer Ordnungen ergeben. 529 Das Ziel der Analyse der empirischen Daten bestand darin, das Körperliche als Dimension von Ein- und Ausschließung – exemplarisch in einem pädagogischen Handlungskontext – auf verschiedenen Ebenen sichtbar zu machen. Es konnte nicht nur gezeigt werden, dass der Körper eine unhintergehbare Facette sozialpädagogischer Wirklichkeit darstellt, sondern auch, dass über diesen sowohl auf der unmittelbaren Ebene zwischen den Professionellen und den Adressat*innen wie auch auf der Ebene der Praktiken von Adressatinnen und Adressaten Ausschluss erzeugt, vollzogen und reproduziert wird. Somit konnte ein umfassendes Bild der körperlichen Dimension sozialpädagogischer Wirklichkeitskonstruktion gezeichnet werden.

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Diese Darstellung ist orientiert an Schmincke (2009).

10 Körper und Soziale Ungleichheit – ein vorläufiges Fazit In diesem Kapitel wird an die anfangs aufgeführten Zusammenhänge erinnert. Erkenntnisleitend für die theoretische und empirische Analyse war die Frage danach, wie Prozesse der Ein- und Ausschließung im Handlungsfeld der Offenen Kinderund Jugendarbeit über den Körper verhandelt und wie darüber gesellschaftliche Ordnungen konstituiert und reproduziert werden. Dabei wurde von der These ausgegangen, dass Körper nicht nur in sozialpädagogischen Zusammenhängen, sondern auch in Debatten um soziale Ungleichheits- und Ausschließungsverhältnisse eine wesentliche und dennoch nicht hinreichend bearbeitete Rolle spielt. Daran schließen sich unmittelbar Fragen danach an, wie Ein- und Ausschließungen jeweils hervorgebracht werden und wie dies im Kontext sozialpädagogischer Praxis zu verorten ist. So weisen auch Kessl et al. (2015) zum Beispiel darauf hin, dass es für die Soziale Arbeit entscheidend ist zu reflektieren, dass und in welcher Weise sie selbst als ein Moment der einschließenden Ausschließung (beziehungsweise von ausschließende Einschließung) verstanden werden muss (vgl. ebd., S. 13). Folglich lässt sich die Bedeutung von Ein- und Ausschließung nicht nur auf die unmittelbare Ebene der Interaktionen zwischen Adressatinnen und Adressaten, sondern auch auf die Ebene zwischen Professionellen und Adressat*innen beziehen. Für verfolgenswert scheinen diesbezüglich folgende Fragen: Wie werden in sozialpädagogischen Handlungsfeldern über den Körper soziale Ungleichheiten reproduziert sowie Ein- und Ausschlüsse bestimmter Personen(gruppen) generiert? Welche Körper bieten Anlass für (sozial-) pädagogisch professionelle Zugriffe? Wie werden darüber ,normative‘ Adressat*innenkonzepte verhandelt? Welche gesellschaftlichen Ordnungen verbergen sich hinter den Wahrnehmungs- und Thematisierungsweisen von Körpern? Diesen Facetten wurden in der vorliegenden Arbeit in theoretischer und empirischer Hinsicht nachgegangen. Um diese Fragen zu konkretisieren wurde im ersten Teil ein analytischer Rahmen entwickelt, der den Körper als Produkt und Produzent von Gesellschaft erkennbar werden lässt. In einer vertiefenden Auseinandersetzung mit unterschiedlichen körpersoziologischen Perspektiven wurden für die Arbeit relevante Sichtweisen herausgestellt und diskutiert. Durch die Arbeiten von Pierre Bourdieu und insbesondere dessen Konzept des Habitus ist es möglich der Verkörperung sozialer Differenzen und Hierarchien Rechnung zu tragen. Seine Ausführungen zur ,Männlichen Herrschaft‘, welche er als Paradebeispiel symbolischer Gewalt auslegt, zeigen, dass gesellschaftliche Herrschaft nicht nur über Körper ausgeübt, sondern über diesen reproduziert wird, und dies gerade weil sie in Körpern verankert ist. Ihre Verkörperung bewirkt die Naturalisierung sozialer Differenzen und Hierarchien, inklusive ihrer Teilungen. Sie schreiben sich als ,verborgene Imperative‘ in Körper ein. Indem diese zu Körper werden, repräsentieren sie sich in Körperhaltungen und Verhaltensweisen, in © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. B. Burghard, Körper und Soziale Ungleichheit, Soziale Arbeit als Wohlfahrtsproduktion 19, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31200-8_11

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der körperlichen Hexis. Die genealogischen Arbeiten von Foucault legen für die vorliegende Arbeit den Blick für die Herrschaft der Norm frei. Sie zeigen auch, dass Technologien des Selbst Praktiken sind, durch die Einzelne sich in ein Verhältnis zu sich selbst setzen. Sie lassen sich zudem als körperliche Praktiken verstehen, über die zum Beispiel die Jugendlichen sich im Alltag sozial positionieren. Indem Foucault Wissen und Macht als miteinander verknüpft betrachtet, zeigen seine Arbeiten auch, dass und in welcher Weise Bedeutungen, die etwa Körper erfahren, ,wahr gesprochen‘ werden. Bezugnehmend auf Foucault und Bourdieu kann sich weiterführend der Frage danach angenähert werden, wie sich gesellschaftliche Normen in Körper einschreiben, sich an und über Körper naturalisieren. Zweitens lässt sich bezugnehmend auf diese grundlegenden Konzepte der Körpersoziologie verstehen, dass gesellschaftliche Verhältnisse – einschließlich ihrer Teilungs- und Klassifikationsprinzipien – in Körper eingeschrieben sind und diese zugleich die (auf den Körper und die soziale Welt angewendeten) Wahrnehmungs- und Handlungsschemata leiten. Darüber hinaus bieten die Theoretisierungen von Judith Butler instruktive Perspektiven auf die machtvollen Wirkungsweisen von Normen und den durch und über diese produzierten Ausschlüsse und Verwerflichmachungen. Wie Foucault erkennt sie in diesen Schemata die Verkörperung von Normen (vgl. Schmincke 2009, S. 127), die sich wiederum an Körpern materialisieren.530 Folglich bieten ihre Arbeiten einen Zugang dazu, dass Körper nicht nur mit bestimmten Bedeutungen versehen werden, sondern diese bestimmte Körper hervorbringen, genauso wie sie andere ausschließen. Letztlich ermöglichen poststrukturalistische Erkenntnisse in Zuschreibungen und Bezeichnungen machtvolle Praktiken der Positionierung in symbolischen Ordnungen zu erkennen. In Diskursen, Wissensformen und Sprachen werden Menschen machtvoll unterschieden, positioniert und subjektiviert. Die Einnahme einer körpersoziologischen Sichtweise ermöglicht es sodann, Prozesse der Ein- und Ausschließung von Körpern sowohl als Resultat inkorporierter sozialer Teilungsprinzipien sowie als Ausdruck einer an spezifischen Normen und Unterscheidungen ausgerichteten sozialen Ordnung zu begreifen. Somit wurde für die Analyse ein Verständnis sozialer Ordnungen einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse unter Berücksichtigung ihrer körperlichen Dimension erarbeitet. Soziale Ungleichheits- und Ausschließungsverhältnisse markieren einen zentralen Bezugspunkt des Handlungsfeldes der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Ein vielversprechender Zugang zu den sozial ungleichen Bedingungen, unter denen junge Men-

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Im Kontext der performativen (Körper-) Theorie von Judith Butler wird ebenso die Wirkmächtigkeit regulierender Schemata und Klassifizierungen für die Produktion bestimmter Körper evident. Anders als Bourdieu, der in den Klassifikationen das inkorporierte Soziale erkennt, sieht sie darin die Verkörperung einer Norm. Somit geht ihr Ansatz über Bourdieu hinaus, indem sie die Bedeutung regulierender Schemata als Normen – Bourdieu beschreibt dies mit den Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata des Habitus – für die Konstruktion bestimmter Körper markiert.

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schen heranwachsen und die ihre Handlungsfähigkeit in spezifischer Weise präformieren, ist das Konzept der Intersektionalität. Die Darstellung zentraler Annahmen dieses Ansatzes diente in der vorliegenden Arbeit der Konkretisierung einer Perspektive, in der soziale Ungleichheit durch verschiedene Kategorien und verschiedene Ebenen strukturiert wird. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Ebenen zusammenwirken und nicht getrennt voneinander zu betrachten sind. Bezieht man dies auf die Frage nach Ein- und Ausschließung, so lässt sich eine Perspektive darauf einnehmen, dass diese durch soziale Praktiken (im Rahmen von alltäglichen Interaktionen) verhandelt werden. Innerhalb von Interaktionen kommen jedoch auch Ressourcen zum Tragen, die nicht nur ungleich strukturiert sind, sondern auch Hierarchie und Ungleichheit zum Ausdruck bringen. Sie sind semantisch als ungleich kodiert. Folglich ist der Fokus ebenso auf Normen zu richten, womit er sich auf die Ebene der symbolischen Ordnung verschiebt. An diese Ausführungen anschließend wurden die Begriffe der Positionierung bezugnehmend auf Konzepte der Körpersoziologie eingeführt, nicht zuletzt um offen zu legen, dass diese in (situierten und beobachtbaren) sozialen Praktiken zum Tragen kommen und in Praktiken der Ein- und Ausschließung Wirksamkeit entfalten. Auf der Ebene der sozialen Praktiken werden Klassifikationen wirksam, da sie eine positionierende Wirkung haben. Für die Ebene der Praktiken wurde herausstellt, dass Klassifikationen innerhalb dieser bedeutungsvoll werden, indem sie Personen situativ eine soziale Position zuweisen. Zugleich sind Klassifikationen auf der Ebene des Symbolischen wirksam, insofern sie Subjekten eine Position innerhalb spezifischer Diskurse zuweisen. Auf diese Weise wirken sie positionierend. Diese Positionierungen innerhalb einer soziosymbolischen Ordnung vollziehen sich innerhalb von Ein- und Ausschlüssen. Sie sind so an der Hervorbringung und der Kontingenz beteiligt. Da der empirische Zugang zur gewählten Thematik über die Praktiken vorgenommen wurde, bot es sich ferner an, sich mit dem Begriff der sozialen Praktiken auseinander zu setzen. Diese sind sodann nicht lediglich als kleinste Einheit des Sozialen und Bedingungsmoment sozialer Ordnungsbildung bestimmbar (vgl. Reckwitz 2003), sondern sie ermöglichen es auch, Ein- und Ausschließungen nicht als statisch verstandene Zustände, sondern in einer Prozessperspektive zu untersuchen. An Fragen nach den Körperpraktiken Jugendlicher scheinen praxistheoretische Postulate auch deswegen anschlussfähig, da mit diesen begründbar wird, warum die ethnographische Betrachtung sozialer Praktiken, welche den empirischen Part der Arbeit markiert, auf Praktiken in ihrer Performativität und somit auf die ‚skilful performances‘ von Körpern in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu richten sind. Durch eine praxistheoretische Rahmung kann das ,Wie‘ der jugendlichen Praktiken diskutiert, deren körperliche Fundierung begründet und somit können Praktiken an den in der Praxistheorie relevant gesetzten Dimensionen Performativität und Inkorporation orientiert werden. Das Verstehen dieser körperlichen Darstellung und deren Deutung sind für

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die soziale Ordnungsbildung konstitutiv. Nicht zuletzt ermöglicht die praxistheoretische Rahmung – und entsprechend die empirisch-ethnographische Rekonstruktion – eine Annäherung an das ,wie‘ der Praktiken von potenziellen Adressat*innen pädagogisch professioneller Handlungsfelder sowie die der Professionellen. Insofern das Konzept sozialer Praktiken sowohl körperliche als auch diskursive Praktiken umfasst (dazu auch Reckwitz 2008), ist es so möglich, den Blick auf die körperliche und sprachliche Dimension sozialpädagogischer Wirklichkeitskonstruktion zu legen. Eine Auseinandersetzung mit den Adressat*innen der Offenen Kinder-und Jugendarbeit ist unerlässlich und bildete Teil einer differenzierten Betrachtung mit dem Themenkomplex Jugend und Körper. In diesem wurden körpersoziologische, ungleichheitstheoretische und praxistheoretische Perspektiven zusammengeführt und sodann der Blick auf Verkörperungen in der Lebensphase Jugend gelegt. Weiterführend wurden Körper von Jugendlichen an der körpersoziologischen Systematisierung des Körpers als Produkt und Produzent orientiert. Sodann wurden Verkörperungen in der Lebensphase Jugend unter den Aspekten Klassifizierung, Positionierung und Zugehörigkeit beleuchtet und für die Analyse herausgearbeitet, dass Jugendliche sich über den Einsatz ihrer Körper sozial positionieren und Körper zugleich immer auch Bewertungen und Bezeichnungen erfahren und somit in soziosymbolischen Ordnungen positioniert werden. Der Offene Kinder- und Jugendtreff, der das Forschungsfeld der vorliegenden Arbeit markiert, stellt nicht nur ein sozialpädagogisch professionelles Tätigkeitsfeld dar oder einen Ort, an dem sich ein großer Teil des alltäglichen Lebens vieler Jugendlicher abspielt und an dem Jugend ermöglicht wird, er ist immer auch ein öffentlicher sowie ein pädagogischer Raum, der ein in mehrfacher Hinsicht umkämpftes und ,unsicheres Terrain‘ darstellt, an dem sich Fragen nach Ungleichheit und Teilhabe, nach Normen und der Durchsetzung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse auf eine immer wieder neu zu justierende Weise stellen. Aus diesem Grund wurde das Forschungsfeld des Offenen Kinder- und Jugendtreffs in der vorliegenden Arbeit als Schaubild des Sozialen, als Bühne sowie als pädagogischer Raum dimensioniert, in dem es auch darum geht, an der Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe als Ausdruck der Wahrnehmung einer öffentlichen Verantwortung für gleichberechtigte Lebenschancen und den Abbau sozialer Ungleichheiten (vgl. Böllert 2018, S. 4) mitzuwirken. Auf diese Weise bildet er einen bedeutsamen und konstitutiven Kontext für die Praktiken der Professionellen und der Adressat*innen und einen Ort sozialpädagogischer Wirklichkeitskonstruktion. In der vorliegenden Arbeit wurde sehr deutlich, dass der Jugendtreff ein Ort großer Heterogenität ist, in dem Körper eine wesentliche und konstitutive Rolle spielen. Überdies werden im sozialpädagogischen Handlungsfeld über den Körper Prozesse der Ein- und Ausschließung verhandelt und darüber gesellschaftliche Ordnungen

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konstituiert und reproduziert. Diese Erkenntnis bezieht sich sowohl auf die unmittelbare Ebene der Professionellen mit den Adressat*innen, als auch auf die zwischen Adressatinnen und Adressaten. Die Auswertung des empirischen Materials konnte nicht nur zeigen, dass der Offene Kinder- und Jugendtreff als Feld von gesellschaftlichen Ordnungen strukturiert ist, sondern dass dies im Wesentlichen über den Körper vermittelt wird. Der Jugendtreff wird indes durch die körperlichen Präsenzen und Praktiken der Besucher*innen und der Professionellen ,hergestellt‘ und ist somit von der sozialen Ordnung strukturiert, die sich an den Körpern festmacht. Ein körpersoziologisches Verständnis des Körpers als Produkt und Produzent bietet sich für die Analyse an. Der Körper hat in diesem Kontext nicht nur eine Ordnungs- und Sortierungsfunktion, sondern über ihn werden zugleich immer auch gesellschaftliche Verhältnisse, einschließlich ihrer Einund Ausschlüsse, konstituiert und reproduziert. Es wurde zudem erkennbar, dass sich der Offene Kinder- und Jugendtreff sowohl durch praktisch körperliche Zusammenschlüsse als auch durch (machtvolle) Zuschreibungen zu unterschiedlichen Gruppen formiert. Die Konstruktion von Gruppen vollzieht sich somit innerhalb sozialer und diskursiver Praktiken sowohl auf der Ebene zwischen Adressatinnen und Adressaten als auch zwischen den Professionellen und Adressat*innen. Die Konstruktion von Gruppen, wie die ,Stammgäste‘, die ,Vorzeigejugendlichen‘ oder die ,Assis’ geschieht somit auf Grundlage der Wahrnehmung der körperlichen Praktiken von Einzelnen und Gruppen und durch die Indienstnahme von Stereotypen und Klassifikationen. In den Wahrnehmungs- und Thematisierungsweisen entfalten sich gesellschaftlich vorgeformte Schemata. Die sich im Jugendtreff formierenden Gruppen werden indes nicht lediglich in ein Bewertungsverhältnis zueinander gesetzt, sondern auch in machtvoller Weise voneinander unterschieden und in der soziosymbolischen Ordnung innerhalb des Jugendtreffs positioniert. Im empirischen Material zeigten sich auch Nuancen, dass der Jugendtreff über die diskursive Konstruktion unterschiedlicher Gruppen als ein spezifischer Ort hervorgebracht wird. Begreift man die Thematisierungsweisen von etwa den Professionellen unter einer körpersoziologischen und poststrukturalistischen Perspektive, so lassen diese sich zum einen als machtvolle Praktiken der Positionierung deuten, über die den Besucher*innen ein jeweiliger Ort in der soziosymbolischen Ordnung zugewiesen wird. Zudem werden durch moralisierende und skandalisierende Zuschreibungen soziale Ungleichheiten reproduziert und Ein- und Ausschlüsse bestimmter Personen(Gruppen) generiert. Weiterhin zeigen sich in diesen Zuschreibungen der unterschiedlichen Mitarbeitenden normative Konzepte im Hinblick auf ihre Adressat*innen, die somit auch in ,gute‘ und ,schlechte‘ Adressat*innen aufgeteilt werden (vgl. Heite at al. 2013).

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Auf der Ebene der Adressat*innen wird der Jugendtreff auf Grundlage der Wahrnehmung körperlicher Praktiken einiger Besucher*innen auf der diskursiven Ebene zu einem Ort ,gesellschaftlicher Unsittlichkeit‘ konstituiert. Versteht man die alltäglichen Bewertungskämpfe der Besucher*innen des Jugendtreffs als Auseinandersetzungen um Anerkennung und Legitimität, so wird erkennbar, dass sie über ihre Praktiken sich gegenseitig ihre soziale Stellung zum Ausdruck bringen und auf diese Weise Möglichkeiten von Positionierungen aushandeln. Mit der Einnahme einer körpersoziologischen Forschungsperspektive konnte erstens gezeigt werden, dass insbesondere Klassifikationen wie die der ,Asozialität‘ , der ,Zigeuner‘ oder der ,Unreinheit‘ als stigmatisierende Elemente der symbolischen Ordnung sozialer Ungleichheit wirken, über die Ein- und Ausschlüsse vollzogen werden. Klassifikationen gelten dort als machtvoll positionierende Praktiken im Kontext der soziosymbolischen Ordnung. Sie tendieren dazu, Personen oder Gruppen innerhalb des Jugendtreffs abzuwerten und sie darüber hinaus symbolisch von der vollwertigen Zugehörigkeit im Jugendtreff auszuschließen. In den alltäglichen Praktiken von Besucher*innen des Jugendtreffs werden somit symbolische Kämpfe erkennbar, in denen nicht nur über das symbolische Kapital der Anerkennung, sondern auch Kriterien der Zugehörigkeit verhandelt und mitunter festgeschrieben werden. Diese wiederum präformieren dann die Möglichkeiten der Positionierung der Akteur*innen. Die empirischen Ergebnisse unterstreichen insgesamt, dass Praktiken der Ein- und Ausschließung im offenen Kinderund Jugendtreff auf der symbolischen Ebene vollzogen werden. Insofern sie als Resultat inkorporierter sozialer Teilungsprinzipien sowie als Ausdruck für eine an spezifischen Normen und Unterscheidungen ausgerichtete soziale Ordnung betrachtet werden, sind sie im Wesentlichen über den Körper vermittelt. Um sich der Frage anzunähern, wie sich Ein- und Ausschließungen über den Körper auf der unmittelbaren Ebene der Praktiken vollziehen, wurde der Blick in einem weiteren Schritt auf die beobachtbaren Praktiken gelegt. Hierfür bieten körpersoziologische Zugänge ein umfassendes Theorieangebot, durch das Praktiken der Inszenierung und der Ästhetisierung als Praktiken sozialer Positionierung erkennbar werden, die eine höchst soziale Angelegenheit darstellen und über die im Wesentlichen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse ausgehandelt werden. Ob jemand als zugehörig eingeschlossen oder als nicht-zugehörig ausgeschlossen wird, bleibt indes nicht folgenlos. Diese so vorgenommenen Positionierungen von und zwischen Jugendlichen stellen, das konnte gezeigt werden, eine äußerst prekäre Angelegenheit dar, die zu Ausschließung auf der sozialen Ebene führen kann. Dies wird nicht zuletzt daran festgemacht, ob der Körper in einer angemessenen Weise präsentiert und eingesetzt wird. Es ermöglicht wiederum die Einnahme einer legitimen Positionierung im Kontext des Jugendtreffs. An Fragen sozialer Ungleichheit ist dies weiterführend anschlussfähig, da sich Zugehörigkeiten durch Grenzziehungen konstituieren können, nicht zuletzt, um die eigene ,Wir-Gruppe‘ nach innen zu begünstigen und nach außen abzuheben (vgl. Neckel 2003, S. 162).

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Praktiken der Ein- und Ausschließung wurden in der Studie jedoch noch weitergehend konkretisiert. Auf die Frage, wie Ausschließung sich im Offenen Kinder- und Jugendtreff sowohl auf der Ebene der Professionellen als auch auf der Ebene der Adressat*innen vollzieht, wurde ein Verständnis von sozialer Ausschließung als situativ und übersituativ positionierende Praktik entfaltet. Versteht man nun in einem ersten Schritt Praktiken von Akteure*innen im Feld als Praktiken sozialer Positionierung, die im Wesentlichen über den Körper ausgehandelt werden und innerhalb derer Ausschluss auf sozialer Ebene ausgehandelt wird und in einem weiteren Schritt Bezeichnungen und Bewertungen als machtvolle positionierende Praktiken auf der Ebene des Symbolischen, dann wird erkennbar, dass diese Facetten im Alltag des Jugendtreffs ineinander greifen und in besonderer Weise über den Körper vermittelt sind. Setzt man diese Erkenntnisse in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen, so lassen sich Praktiken als übersituativ positionierende Praktiken, durch die Einzelne und Gruppen ein- und ausgeschlossen werden, deuten. Für die Ebene der Mitarbeitenden konnten die auf die ,Stammgäste‘ angewendeten Zuschreibungen als übersituativ positionierende Praktiken sozialer Ausschließung herausgestellt werden. Die Moralisierungen und Skandalisierungen, die die Jugendlichen aus dem unteren Bereich erfahren, versieht diese mit Zuschreibungen wie Unordnung und Verwahrlosung. Sie werden selektiv auf ,die von unten‘ angewendet und dienen dabei als ein zentrales Medium, mit dem Grenzen der Zugehörigkeit gefestigt und abgesichert werden (vgl. Anhorn und Bettinger 2002, S. 234). Sie erweisen sich jedoch als funktional im Hinblick auf die intendierte Zementierung hermetischer Grenzmarkierungen zwischen Mitarbeitenden, die vormals Besucher*innen waren und den aktuellen Besucher*innen des Jugendtreffs. Sie dienen somit der Ausschließung spezifischer, als besonders verkommener oder problematisch bezeichneter Gruppen der Gesellschaft (vgl. Stehr 2008, S. 319). Folglich begründen Normen Ansprüche auf Herrschaft und eine bestimmte Verteilung von Gütern und Lebenschancen. In den Thematisierungsweisen der Mitarbeitenden über die Besucher*innen zeigen sich nicht zuletzt bürgerliche Vorstellungen und eine bürgerliche Ordnung, die die ,Stammgäste‘ zu stören scheinen und die es folglich abzuwehren gilt. Unter den Adressatinnen und Adressaten erfahren besonders die als ,asozial’ markierten Jugendlichen sowie die ,Zigeuner‘ Ausschließungen. Diese werden nicht nur in machtvoller Weise auf eine strukturell ausgeschlossene Position verwiesen, sondern ihnen wird auch Zugehörigkeit und Partizipation innerhalb des Jugendtreffs verweigert. Verknüpft man diese Erkenntnisse für die Analyse des Zusammenhangs von Körper und Ein- und Ausschließung sodann mit den Sichtweisen der Körpersoziologie, in der der Körper in einer Doppelperspektive als Produkt und Produzent von Gesellschaft begriffen wird, dann lässt sich bündeln: Körper in der Offenen Kinderund Jugendarbeit erscheinen als Produkt und Produzent von Ein- und Ausschließun-

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gen. Als Produkt ist der Körper ein ,ausgeschlossener‘ Körper, insofern sich Ausschluss in ihn einschreibt und materialisiert.531 Einige Körper werden im Jugendtreff ausgeschlossen, weil sie bestimmten Normen nicht entsprechen, weil sie sich nicht an die dort geltenden Regeln halten oder weil sie ein ,Problem‘ darstellen. Als Produzent von Ein- und Ausschließung erscheint der Körper aufgrund seiner Sichtbarkeit und zugleich, weil er die Wahrnehmungs-, Thematisierungs- und Handlungsweisen der Akteur*innen anleitet, die sich wiederum aus der Inkorporation sozialer Ordnungen ergeben. Das Ziel der Analyse der empirischen Daten bestand darin, das Körperliche als Dimension von Ein- und Ausschließung sichtbar zu machen. Sie gibt folglich deutliche Hinweise dahingehend, dass Prozesse der Ein- und Ausschließung in sozialpädagogischen Handlungsfeldern immer auch in ihrer körperlichen Dimension erfasst werden müssen, da sie sich in besonderer Weise über den Körper vermitteln und von diesem stabilisiert werden. Folglich sind Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe ohne Berücksichtigung der Körperperspektive nur noch unzureichend zu erfassen. Es konnte nicht nur gezeigt werden, dass der Körper eine unhintergehbare Facette sozialpädagogischer Wirklichkeit darstellt, sondern auch, dass über diesen sowohl auf der unmittelbaren Ebene zwischen den Professionellen und den Adressat*innen wie auch auf der Ebene der Praktiken von Adressatinnen und Adressaten Ein- und Ausschließung erzeugt, vollzogen und reproduziert wird. Somit konnte ein umfassendes Bild sozialpädagogischer Wirklichkeitskonstruktionen, in dem über Körper soziale Ordnungen, einschließlich ihrer Ein- und Ausschlüsse verhandelt werden, gezeichnet werden. Abschließend lässt sich festhalten: Gesellschaftliche Ordnungen – und dies auch in pädagogischen Handlungsfeldern – bringen Körper auf spezifische Weise hervor; darüber hinaus werden soziale Ordnungen auch über den Körper konstituiert und reproduziert. Soziosymbolische Ordnungen umfassen soziale Ungleichheitsverhältnisse sowie die in ihnen eingelagerten Normativitäten. Diese werden in der sozialen Praxis über den Körper beständig aufgeführt, wiederholt und fortgeführt. Für die sozialpädagogische Praxis lässt sich nun abschließend herausstellen: Soziale Ordnungen stellen bedeutsame Rahmungen und Bedingungen von Handlungen und Selbstverständnissen von Adressat*innen und Professionellen dar. Indem diese sich zu den Ordnungen verhalten, unterliegen sie Wandlungen, und dies nicht zuletzt aufgrund der Kämpfe, die um sie und in ihnen geführt werden (vgl. Broden und Mecheril 2011, S. 16-17). Eine kritische Betrachtung von sozialen Praktiken und den damit einhergehenden Positionierungen innerhalb sozialpädagogischer Handlungsfelder verspricht demnach nicht nur Einblicke in Ein- und Ausschließungen, sondern auch in

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Diese Differenzierung ist orientiert an Schmincke (2009).

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die sozialen Ordnungen, in denen sie sich vollziehen. Dies ist nötig, um sie sozialpädagogisch befragbar und bearbeitbar zu machen und letztlich sollte es auch immer darum gehen, dass sie befragbar bleiben.

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