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German Pages IX, 653 [654] Year 2020
Thomas Meyer Rainer Patjens Hrsg.
Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit
Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit
Thomas Meyer · Rainer Patjens (Hrsg.)
Studienbuch Kinderund Jugendarbeit
Hrsg. Thomas Meyer Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Deutschland
ISBN 978-3-658-24202-2
Rainer Patjens Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Deutschland
ISBN 978-3-658-24203-9 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung und Vorbemerkung der Herausgeber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Thomas Meyer und Rainer Patjens Handlungsfelder, Theorien, Konzepte, Strukturen und Inhalte der Kinder- und Jugendarbeit Theorien und Theoriekonzepte der Kinder- und Jugendarbeit. . . . . . . . . 15 Sebastian Rahn Rechtsgrundlagen der Kinder- und Jugendarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Rainer Patjens Jugendzentren, Jugendhäuser, Jugendtreffs und Co – Jugendfreizeit- und Jugendbildungseinrichtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Thomas Meyer und Sebastian Rahn Jugendverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Rainer Patjens und Ingo S. Hettler Offene Arbeit mit Kindern – Theoretische Grundlagen und Handlungsfelder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Thomas Meyer Aufsuchende Ansätze der Jugendarbeit – Arbeitsformen, theoretische Grundlagen und Vorgehensweisen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Thomas Meyer Schulsozialarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Mirjana Zipperle und Sebastian Rahn
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uerschnittsthemen und Rahmenbedingungen der Q Kinder- und Jugendarbeit Rechtliche Rahmenbedingungen in der Kinder- und Jugendarbeit . . . . . 285 Rainer Patjens Projektarbeit als Arbeitsform und Methode in der Kinder- und Jugendarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Thomas Meyer Ehrenamtliches Engagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Paul-Stefan Roß Partizipation – Kernaufgabe und Schlüsselbegriff in der Kinderund Jugendarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Thomas Meyer und Sebastian Rahn Inklusion als Herausforderung und Chance für die Kinder und Jugendarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Thomas Meyer Extremismus und Radikalisierung – Eine Herausforderung für die Kinder- und Jugendarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Mathieu Coquelin und Jens Ostwaldt Ausgewählte Praxisansätze der Kinder- und Jugendarbeit Freizeit- und Erlebnispädagogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Karl-Heinz Konnerth Geschlechterbezogene Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Kai Kabs-Ballbach, Annette Ullrich und Karin E. Sauer Sexualpädagogik der Vielfalt in der Kinder- und Jugendarbeit. . . . . . . . 565 Robin Bauer Medien- und Kulturpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Annette Ullrich, Karin E. Sauer und Pia Jaeger Grundlagen der systemischen Beratungspraxis im Kontext der Kinder- und Jugendarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 Ingo S. Hettler und Lilli Görzen
Autorenverzeichnis
Bauer, Robin; Dr. phil., Professor für Soziale Arbeit mit den Schwerpunkten Wissenschaftstheorien und Theorien der Diversität an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart. Wissenschaftliche Leitung des Schreibund Transferzentrums. Arbeitsschwerpunkte: Diversität und Soziale Arbeit, Intersektionalität, (Sexual-)Pädagogik der Vielfalt, Gesellschaftstheorien, Macht in der Sozialen Arbeit. Coquelin, Mathieu; Dipl. Sozialpädagoge (BA), Sozialwirtschaftslehre M. A., Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg e. V., Leitung Fachstelle Extremismusdistanzierung im Demokratiezentrum Baden-Württemberg. Arbeitsschwerpunkte: Fachkräftesensibilisierung und -qualifizierung im Themenfeld Radikalisierungsprävention, Methodenentwicklung und Beratung. Görzen, Lilli; Diplom Sozialpädagogin, Master of Social Work in Psychosoziale Beratung, Systemische Beraterin (DGSF); Tätig als Fachberatung und Referentin; Arbeitsschwerpunke: Schulsozialarbeit, Jugendhilfe und Schule, Systemische Beratung sowie Visualisierungsmetoden in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Hettler, Ingo S; Master of Social Work in Psychosoziale Beratung, Systemischer Berater (DGSF) und Systemischer Supervisor (SG); tätig als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Stuttgart und als selbstständiger Supervisor & Coach; Arbeitsschwerpunke: Hochschulforschung; Lehre im Bereich Schulsozialarbeit, Jugendhilfe und Schule und Systemische Beratung.
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Jaeger, Pia; Dr. sc. pol. Univ., Redakteurin Don Bosco Medien GmbH, Lehrbeauftragte an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart im Bereich Sozialwesen 2018–2019, freie Redakteurin der Fachzeitschrift für Soziale Arbeit „Blätter der Wohlfahrtspflege“, Arbeitsschwerpunkte: Soziale Gerechtigkeit, Sozialpolitik und Journalismus. Kabs-Ballbach, Kai; Diplom Pädagoge, Bildungsreferent PJW BW, Geschäftsführender Vorstand LAG Jungen*arbeit Baden-Württemberg und Vorstand BAG Jungen*arbeit; Arbeitssschwerpunkte: Differenz- und geschlechterbewusstes Arbeiten in Institutionen, ‚Sexuelle Bildung‘ und ‚Prävention und Intervention Sexualisierte Gewalt‘ in Institutionen, Strukturen sozialer Ungleichheit und Intersektionalität. Konnerth, Karl-Heinz; M.A. Soziale Arbeit, Dipl. Sozialpäd. (FH), Sozialwirt (FH), freiberuflicher Natursport- und Erlebnispädagoge, Lehrbeauftragter für Erlebnispädagogik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Geschäftsführer des Diakonischen Werks im Rhein-Neckar-Kreis. Meyer, Thomas; Dr. phil., Professor für Praxisforschung an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW), Fakultät für Sozialwesen in Stuttgart, Studiengangsleiter Kinder- und Jugendarbeit (Bachelor), wissenschaftlicher Leiter des Masterstudiengangs Sozialplanung am Center for Advanced Studies (CAS) der DHBW. Arbeitsschwerpunkte: Konzeptentwicklung in der Kinder- und Jugendarbeit, Mobile Jugendarbeit, Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit. Ostwaldt, Jens; Dr. phil., Professor für Soziale Arbeit an der IUBH – Internationalen Hochschule in Stuttgart. Arbeitsschwerpunkte: Politischer und religiös begründeter Extremismus, Radikalisierung, Prävention. Patjens, Rainer; Dr. iur., Professor für Recht der Sozialen Arbeit an der Fakultät Sozialwesen der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart. Studiengangsleiter der Studienrichtung Kinder- und Jugendarbeit II. Arbeitsschwerpunkte: Schweigepflicht und Datenschutz, Förderung und Finanzierung, Haftungsrecht, Kinderschutz, sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Rahn, Sebastian; M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät Sozialwesen der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Arbeitsschwerpunkte: Offene Kinder- und Jugendarbeit, Schulsozialarbeit, Studienverlaufsforschung.
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Roß, Paul-Stefan; Dr. rer. Soc., Dipl.-Theol., Dipl.-Sozialarb. (FH). Professor für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Dekan Sozialwesen am Center for Advanced Studies der DHBW. Leitung der Fachberatung Gemeindenetzwerk Bürgerschaftliches Engagement Baden-Württemberg. Forschungs- und Praxisprojekte sowie Publikationen zu Ehrenamt/bürgerschaftlichem Engagement, Bürgerbeteiligung, Gemeinwesenarbeit/Sozialraumorientierung, Zivilgesellschaft, Governance und Wohlfahrtspluralismus. Sauer, Karin Elinor; Dr. rer. soc., Dipl.-Pädagogin, M.A., Professorin für Sozialarbeitswissenschaft und Methoden Sozialer Arbeit an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Villingen-Schwenningen, Arbeitsschwerpunkte: Diversity Education, Rassismuskritische Migrationspädagogik, Dis_Ability Studies, Cultural Studies, Community Music. Ullrich, Annette; Ph.D., Professorin für Erziehungswissenschaft, Bildung und lebenslanges Lernen an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Arbeitsschwerpunkte: Pädagogisches Denken und Handeln, Umgang mit herausforderndem Verhalten, Stress und Coping. Zipperle, Mirjana; Dr. rer soc., Akademische Rätin am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen. Arbeitsschwerpunkte: Jugendhilfeforschung, Kooperation Jugendhilfe – Schule, Schulsozialarbeit, Hilfen zur Erziehung und Jugendarbeit, Praxisforschung sowie Theorie-Praxis-Bezüge.
Einleitung und Vorbemerkung der Herausgeber Thomas Meyer und Rainer Patjens
Die Kinder- und Jugendarbeit gehört sicher zu den heterogensten Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit bzw. Sozialpädagogik. Systematisierungsversuche sind schwierig, da es auf der einen Seite eine große Anzahl an Handlungsfeldern mit den verschiedensten pädagogischen Konzepten gibt und sich auf der anderen Seite eine Fülle an Organisationen, Einrichtungen, Projekten und Initiativen finden lässt, die diesem Arbeitsfeld zugeordnet sind. In der Einleitung zu einem einschlägigen Buch zu den verschiedenen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit heißt es dazu: „Die Kinder- und Jugendarbeit ist so vielfältig, wie es die Kinder und Jugendlichen selbst sind. Bis heute gelingt es nicht, die unterschiedlichen Stränge, die vielen Besonderheiten und die aktuellen Entwicklungen in der Kinder- und Jugendarbeit auf einen Punkt zu bringen.“ (Rauschenbach/ Borrmann 2013, S. 7). Analog dazu resümieren auch die AutorInnen des 15. Kinder- und Jugendberichts: „Das damit in den Blick genommene Praxisfeld ist wenig standardisiert, ständiger Weiterentwicklung unterworfen, an seinen Rändern hochgradig fluide und systematisch kaum auf einen Nenner zu bringen.“ (BMFSFJ 2017, S. 366). Entsprechend sind auch Definitionsversuche schwierig. Giesecke (erstmals 1971/1980, S. 15) entwarf vor fast 50 Jahren Bausteine für eine Definition von „Jugendarbeit“ (Kinder als Zielgruppe wurden in diesem Definitionsentwurf noch explizit ausgeschlossen). Demnach würde es sich dann um Jugendarbeit handeln, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: T. Meyer (*) · R. Patjens Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] R. Patjens E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_1
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1. Pädagogische Angebote, die von a) Organisationen der öffentlichen Jugendhilfe, und b) freien Trägern der Jugendhilfe erbracht werden. 2. Darüber hinaus werden auch Aktivitäten von (selbstorganisierten) Jugendgruppen zur Jugendarbeit gezählt, wenn sie in irgendeiner Art und Weise durch die unter Punkt 1 genannten Akteure unterstützt oder gefördert werden (z. B. in Form von finanzieller Unterstützung oder Raumnutzung). 3. Die Angebote müssen eine pädagogische Intention haben, reine „Versorgungsleistungen“ fallen nicht darunter. 4. Ausgeschlossen sind ferner Leistungen der Jugendhilfe, die sich an Eltern bzw. Erziehungsberechtigte richten. 5. Eine zentrale Rolle spielt ferner das Kernprinzip der „Freiwilligkeit“, d. h. die jungen Menschen können nicht dazu verpflichtet werden, an den Angeboten teilzunehmen. 6. Zuletzt finden die Angebote schwerpunktmäßig in der Freizeit, außerhalb von Familie und Schule, statt. Eine wichtige Rolle für die Bestimmung dieses Praxisfelds spielt also einerseits die Einordnung in das System pädagogisch ausgerichteter Jugendhilfeleistungen (bei gleichzeitiger Abgrenzung zu Leistungen der Erziehungshilfen oder Versorgungsleistungen) sowie andererseits die Orientierung an dem Freizeitbereich (bei gleichzeitiger Abgrenzung von den gesellschaftlichen Subsystemen Familie und Schule). Die jeweiligen Abgrenzungen werden dabei insbesondere durch das Schlüsselprinzip der Freiwilligkeit untermauert. Eine solche Orientierung an gesellschaftlichen Subsystemen findet man durchaus noch in neueren Definitionen. Die AutorInnen des 15. Kinder- und Jugendberichts (vgl. BMFSFJ 2017, S. 365) greifen knapp 50 Jahre später ebenfalls auf die genannten Definitionsmerkmale zurück und beziehen in ihre Definition der Kinder- und Jugendarbeit die bereits bei Giesecke (1971/1980) genannte Abgrenzung zu Familie und Schule nochmals explizit mit ein: „Während Familie für fast alle jungen Menschen als die persönliche, unhintergehbare Rahmung der eigenen Biografie die Grundlage für das Aufwachsen bildet, fungiert die Schule als ein für alle Kinder und Jugendlichen obligatorisches Setting des Wissenserwerbs, der Organisation von Bildungsprozessen und der Chancenzuweisung. (…). Im Vergleich zu Familie und Schule stehen jungen Menschen in der Kinder- und Jugendarbeit deutlich andere Konstellationen und Optionen zur Verfügung (…)“. (ebd.)
Wie bereits in dem Definitionsversuch von Giesecke (1971/1980) wird schließlich auch im 15. Kinder- und Jugendbericht die besondere Bedeutung des Kernprinzips der Freiwilligkeit herausgestellt:
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„Als freiwilliges, jugendspezifisches und nicht-kommerzielles Angebot eröffnet die Kinder- und Jugendarbeit jungen Menschen Gelegenheiten, in einem organisierten Rahmen jenseits der eigenen Familie und der Schule sich mit Gleichaltrigen treffen, sich ohne schulische Vorgaben einbringen, neue Erfahrungen machen und auch Verantwortung übernehmen zu können. Anders als Familie, die man sich buchstäblich nicht aussuchen kann, und der Schule, deren Besuch für wenigstens ein Jahrzehnt verpflichtend ist, gilt für alle Formen der Kinder- und Jugendarbeit, dass die Teilnahme freiwillig ist und man die Mitwirkung und Inanspruchnahme auch jederzeit wieder beenden kann.“ (ebd.)
Die gleichen Abgrenzungsmerkmale finden sich auch in einer aktuellen Definition von Sturzenhecker und Deinet (2018, S. 693), wobei hier noch explizit der Aspekt „Bildung“ erwähnt wird und die Kinder- und Jugendarbeit damit gleichermaßen in das Bildungssystem eingeordnet wird: „Die Kinder- und Jugendarbeit ist das dritte große Feld der Kinder- und Jugendhilfe neben Kindertageseinrichtungen und Erzieherischen Hilfen und wird als Bereich von Erziehung und Bildung außerhalb der Familie und den Institutionen des schulischen und beruflichen Bildungswesens angesehen.“
Ob eine solche Abgrenzung an gesellschaftlichen Subsystemen heute jedoch noch trägt, ist zumindest was die Schule betrifft, fraglich, denn die zunehmende Tendenz zur Zusammenarbeit mit Schulen bringt es auch mit sich, dass Dienstleistungen für dieses Subsystem übernommen werden und die Grenzen damit durchaus verwischen. Neben dieser Orientierung an gesellschaftlichen Subsystemen (und damit einhergehender Abgrenzung), lassen sich weitere Definitionsversuche finden, die sich jedoch stärker an den pädagogischen Inhalten, Zielen, Arbeitsprinzipien und Leitlinien der Kinder- und Jugendarbeit orientieren. Solche Bestimmungsversuche haben insbesondere die Autoren Müller, Kentler, Mollenhauer und Giesecke in ihrem Buch „Was ist Jugendarbeit“ von 1964 unternommen. Müller (vgl. Müller u. a. 1964, S. 13 ff.) verweist beispielsweise auf vier Schlüsselbegriffe, die in der Auseinandersetzung mit dieser Frage immer wieder auftauchen: Kommunikation, Gruppe, Stil und Kultivierung. Die zentrale Bedeutung von Kommunikation ergibt sich Müller zufolge durch das Bedürfnis, andere junge Menschen in einem zwanglosen Kontext kennenzulernen und sich auszutauschen. Eben jene Kommunikation findet wiederum vor allem in Gruppen statt und insbesondere selbstgewählte Gruppen jenseits von Familie und Schule sind für ihn ein Kernmerkmal der Jugendarbeit. Aber nicht nur Kommunikation spielt hier eine Rolle, es geht auch um Lern- und Sozialisationsprozesse in diesen Gruppen. Aus diesem Grunde sind Kenntnisse der soziologischen und
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sozialpsychologischen Gruppenforschung bzw. der Gruppenpädagogik seiner Meinung nach elementar. Die Begrifflichkeit „Stil“ bezieht sich hingegen auf die Art und Weise, wie sich Geselligkeit, jugendkulturelles Handeln und jugendtypisches „Eigenleben“ als Kommunikations- und Ausdrucksform in der Jugendarbeit manifestiert. Damit beeinflusst dieser Stil gleichermaßen Kommunikation und Gruppe. Der letzte Begriff der Kultivierung umfasst einerseits normative Fragen einer Unterstützung von Sozialisationsprozessen, andererseits geht es aber auch um eine „Verbesserung der Formen zwischenmenschlichen Miteinanders“ (ebd., S. 34). Aktuell würde man hier vermutlich eher von Aneignung sprechen. Ferner betont er die Bedeutung des Freizeitbereichs und verbindet dies mit der bereits mehrfach erwähnten, zentralen Bedeutung von Freiwilligkeit: „(…) so muß (sic!) man sich damit abfinden, daß (sic!) diese Freizeit im engeren Sinne eine Zeit ist, in der die jungen Leute tun können, was sie wollen (…)“ (ebd., S. 17). Kentler (ebd., S. 38 ff.) ergänzt in seiner Perspektive diese Überlegungen noch um den Aspekt der „Aufklärung“. Jugendarbeit ist für ihn vor allem ein Medium zur Unterstützung aufklärerischer Prozesse. Sie stellt gleichermaßen ein Feld der Freiheit dar, soll aber auch im Geiste der Freiheit erziehen. Demnach ist Kentler zufolge die „Bildung in Freiheit zur Freiheit“ (ebd., S. 49) ein Wesensmerkmal der Jugendarbeit. Aus diesem Grund sieht er neben Familie und Schule einen besonderen Erziehungsauftrag und ordnet die Jugendarbeit als „dritte“ Erziehungsinstitution ein. Wie Müller betont aber auch Kentler den Aspekt der „Jugendarbeit als Freizeitinstitution“ (ebd., S. 43). Mollenhauer (ebd., S. 90 ff.) vertieft hingegen den Aspekt einer „Erziehung zur Mündigkeit“. Jugendarbeit zählt er zu sogenannten „beweglichen“ Feldern der Erziehung, die „dem Heranwachsenden seine Selbstveränderung in Richtung auf ein Mündigwerden erleichtert“ (ebd., S. 92). Im Geiste der Aufklärung gehe es immer auch darum, die Jugend nicht nur im Sinne eines Erhalts einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung zu erziehen, sondern sie gleichermaßen als Motor gesellschaftlichen Fortschritts zu betrachten: „Damit kann die Jugendarbeit als dasjenige Erziehungsfeld bezeichnet werden, in dem das hohe Maß an Soziabilität, an sozialer Beweglichkeit, Distanz und Kritikfähigkeit eingeübt werden kann, dessen die demokratische Gesellschaft zu ihrem Fortbestand wie zu ihrer Verbesserung bedarf.“ (ebd., S. 84).
Mollenhauer schreibt daher der Jugendarbeit auch explizit die Funktion politischer Bildung zu. Charakterisiert wird die Jugendarbeit dabei durch freie Räume, jugendtypische Gesellungsformen, Experimente und Engagement. Wie auch alle anderen Autoren spielt das Thema Freiwilligkeit hierbei eine
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esentliche Rolle; Mollenhauer stilisiert diesen Begriff sogar zum eigentw lichen Kernbegriff einer Theorie über die Jugendarbeit (vgl. ebd., S. 100). Aufgrund dieser zentralen Bedeutung der Freiwilligkeit sind seiner Meinung nach aber auch die „Bedürfnisse“ und „Interessen“ der jungen Menschen untrennbar mit der Jugendarbeit verbunden, weil nur aufgrund einer Orientierung an diesen Bedürfnissen und Interessen die Jugendlichen Angebote der Jugendarbeit freiwillig in Anspruch nehmen würden. Giesecke (vgl. ebd., S. 120 ff.) schließt die Auseinandersetzung zur Ausgangsfrage „Was ist Jugendarbeit“ schließlich mit der Reflexion über Reichweite und Geeignetheit einer Theorie zur Jugendarbeit ab. Unabhängig davon, ob die vier Autoren in ihrer Auseinandersetzung letztlich den Grundstein zu einer Theorie der Jugendarbeit gelegt haben, hält Giesecke eine theoretische Einbettung dessen, was in der Jugendarbeit passiert, quasi als „Orientierungssystem“, für ein enorm wichtiges Rüstzeug jeglicher pädagogischen Reflexion. Hierzu fasst er – ähnlich wie alle bisherigen Bestimmungsversuche auch – einige zentrale Kernprämissen zusammen (vgl. ebd., S. 140 ff.): a) Jugendarbeit ist eingebettet in das Freizeitsystem, b) Jugendarbeit basiert auf einer freiwilligen Teilnahme, c) die Beziehung zwischen den jungen Menschen und den PädagogInnen ist nicht von einem Machtgefälle geprägt, und d) die Angebote können in der Regel nicht längerfristig geplant werden und unterliegen einem Druck zur Spontaneität bzw. Flexibilität. Maßgebliche Parallelen zu dieser Auseinandersetzung der vier Autoren Müller, Kentler, Mollenhauer und Giesecke finden sich wiederum auch in aktuellen Definitionen, etwa im Konzept der sogenannten „Subjektorientierten Jugendarbeit“ von Albert Scherr (2013, S. 297, kursiv im Orig.): „Der eigenständige Auftrag von Jugendarbeit wird dagegen darin gesehen, Heranwachsende zu einer eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Lebensführung sowie dazu zu befähigen, zugleich das Recht Anderer anzuerkennen, ihr Leben eigenverantwortlich und eigensinnig zu gestalten. Es geht also zentral um die Stärkung autonomer Urteils-, Entscheidungs-und Handlungsfähigkeit in Auseinandersetzung mit inneren Blockaden und äußeren Einschränkungen.“
Besondere Bedeutung in allen Definitionsversuchen haben stets die Kernmerkmale Freiwilligkeit und Partizipation (vgl. dazu beispielsweise Ilg 2013). Sturzenhecker und Deinet (2018, S. 696) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es kein Zufall ist, dass man in diesem Arbeitsfeld von „Angeboten“ spricht, weil sämtliche Vorhaben, Aktivitäten, Projekte und Initiativen stets den Prinzipien der Freiwilligkeit und Mitbestimmung bzw. Mitgestaltung unterworfen sind. Dies zieht entscheidende Anforderungen nach sich, weil das Angebotsspektrum – wie bereits Mollenhauer betont hatte – in jedem Fall an den Interessen und
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edürfnissen der jungen Menschen ansetzen muss, um attraktiv für diese zu sein. B Ansonsten droht die Gefahr, dass die Angebote – weil nicht verpflichtend – überhaupt nicht angenommen werden. Neben diesen beiden Kernelementen der Freiwilligkeit und Partizipation gibt es jedoch noch ein drittes Merkmal, welches das Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit entscheidend mitbestimmt: Das Engagement der jungen Menschen. Dieses Merkmal wird wiederum in der vermutlich umfassendsten Definition von Werner Thole (2000, S. 23), in der sich auch alle bisherigen Definitionsbausteine wiederfinden, explizit erwähnt:
Übersicht
„Kinder- und Jugendarbeit umfasst alle • außerschulischen und nicht ausschließlich berufsbildenden, • vornehmlich pädagogisch gerahmten und organisierten, • öffentlichen, • nicht kommerziellen bildungs-, erlebnis- und erfahrungsbezogenen Sozialisationsfelder • von freien und öffentlichen Trägern, Initiativen und Arbeitsgemeinschaften. Kinder ab dem Schulalter und Jugendliche können hier • selbstständig, mit Unterstützung oder in Begleitung von ehrenamtlichen und/oder beruflichen MitarbeiterInnen, • individuell oder in Gleichaltrigengruppen, • zum Zwecke der Freizeit, Bildung und Erholung • einmalig, sporadisch, über einen turnusmäßigen Zeitraum oder für eine längere, zusammenhängende Dauer zusammenkommen und sich engagieren. Die außerschulische Kinder- und Jugendarbeit konstituiert damit ein freiwilliges Angebot in einem doppelten Sinne: Weder können Kinder und Jugendliche zu einer Teilnahme verpflichtet werden, noch können sie andererseits ihre Teilnahme einklagen.“
Einleitung und Vorbemerkung der Herausgeber
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Noch greifbarer wird eine Definition letztendlich dann, wenn man die verschiedenen Handlungsfelder explizit benennt, in denen sich Kinder- und Jugendarbeit manifestiert. Eine solche Aufzählung ist einerseits sinnvoll, setzt allerdings die oben skizzierte Reflexion darüber voraus, welche gemeinsamen Prinzipien und Merkmale für die ansonsten unterschiedlichen Handlungsfelder gelten müssen, damit sie zu „der“ Kinder- und Jugendarbeit gezählt werden können. Im 15. Kinder- und Jugendbericht wird das Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit mithilfe solcher Handlungsfelder systematisiert. Allerdings wird auch darauf hingewiesen, dass „deren Nennung nur dem Zweck dient, die Breite des Feldes zu veranschaulichen“ (BMFSFJ 2017, S. 366). Die AutorInnen des Berichts fassen folgende Handlungsfelder unter dem „Dach“ der Kinder- und Jugendarbeit zusammen (ebd.): • „Offene Kinder- und Jugendarbeit (Jugendzentren, Freizeitheime, Häuser der offenen Tür, Clubs), • Außerschulische Jugendbildung, • Internationale (Kinder-) und Jugendarbeit und Jugendbegegnung, • Kinder- und Jugenderholung, • Mobile (Kinder-) und Jugendarbeit, Streetwork • Kulturelle Kinder- und Jugendbildung und technische Jugendbildung • Verbandliche Kinder- und Jugendarbeit (z. B. ökologische Verbände, konfessionelle Verbände, Nachwuchsorganisationen der rettenden und bergenden Vereine, Vereine junger Migrantinnen und Migranten, Jugendorganisationen der Sportvereine).“ In diesem Studienbuch können wir dieses heterogene Arbeitsfeld der Kinderund Jugendarbeit nur ansatzweise beschreiben. Gleichwohl erheben wir den Anspruch, einen sinnvoll strukturierten Überblick über die verschiedenen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendarbeit zu geben und die aus unserer Sicht wichtigsten Querschnittsthemen und Praxisansätze kurz darzustellen. Selbstverständlich kann mit einem solchen Studienbuch nicht jede Facette dieses komplexen Arbeitsfelds behandelt werden, sodass sich die nachfolgende Selektion an Themen auf die Erfahrung in der Arbeit mit unseren Studierenden an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) am Standort Stuttgart stützt. An der DHBW Stuttgart gibt es – baden-württembergweit und vermutlich auch deutschlandweit einzigartig – eine Studienrichtung „Kinder- und Jugendarbeit“, die an den dualen Studiengang Soziale Arbeit angegliedert ist. Dual bedeutet: Die Studierenden der DHBW studieren praxisintegriert, d. h. sie sind gleichermaßen an der Hochschule, um dort zu studieren, als auch in definierten
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Praxisfeldern tätig. Dabei wechseln sich Studien- und Praxisphasen systematisch ab. Ein Semester besteht quasi aus einem Theorie- sowie einem Praxisblock: Drei Monate sind die Studierenden an der Hochschule und drei Monate arbeiten sie in ihren Praxiseinrichtungen. Unsere Studierenden sind dabei in Organisationen bzw. Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit oder in jugendarbeitsaffinen bzw. kooperationsnahen Handlungsfeldern tätig. Mit diesem Studienbuch legen wir ein Überblickswerk zu einer Auswahl verschiedenster Themen, Fragen und Perspektiven rund um das Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit vor. Wir verfolgen hierbei gleichsam zwei Ziele: Zum einen wollen wir damit eine wissenschaftsbasierte Auseinandersetzung mit ausgewählten Fragestellungen aus diesem sehr heterogenen Arbeitsfeld anstoßen, zum anderen stellt das Studienbuch eine Zusammenstellung einiger Themenkomplexe dar, die wir auch unseren Studierenden näherbringen wollen. Letzteres Ziel stellt gleichermaßen auch den Auslöser für dieses Studienbuch dar. Nach jahrelanger Aufbauarbeit der Studienrichtung „Kinder- und Jugendarbeit“ an der DHBW stellte sich immer wieder die Frage: was müssen unsere Studierenden wissen, was sollen sie lernen, über welche Fragen sollten sie nachdenken, und welche Kompetenzen könnten insbesondere für ihre Praxisphasen von Nutzen sein. Die Studienrichtung Kinder- und Jugendarbeit haben wir vor nunmehr sechs Jahren gemeinsam entwickelt und dieses Studienbuch bildet ein stückweit ab, welche inhaltlichen Schwerpunkte wir hierbei für wichtig erachtet haben. Als curriculare Grundlage der Studienrichtung war und ist es uns wichtig, sowohl professionsorientiert als auch kompetenzorientiert zu qualifizieren. Die Studierenden sollen zwar benötigtes Wissen erwerben und sich die erforderlichen Kompetenzen aneignen, gleichermaßen erscheint es uns aber auch notwendig, eine berufliche Identität bzw. eine berufliche Selbstvergewisserung sowie die Reflexion der erworbenen Fachlichkeit in diesem Arbeitsfeld anzustoßen bzw. zu fördern. Aus diesem Grunde sind uns sowohl Seminarinhalte, die das Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit professionstheoretisch einordnen und reflektieren, als auch Seminarinhalte, in denen die Studierenden benötigte Wissensgrundlagen und Kompetenzen erwerben, wichtig. Dieses grundlegende Verständnis schlägt sich in unserem Curriculum nieder: So lehren wir einerseits Inhalte zu der Frage, was Kinder- und Jugendarbeit ist bzw. was Kinder- und Jugendarbeit ausmacht. Hier geht es vor allem um einen Überblick über grundlegende theoretische Ansätze, Konzepte und Leitprinzipien, aber auch um Rechtsgrundlagen, um Trägerstrukturen sowie um die vielfältigen Handlungsfelder, in denen Kinder- und Jugendarbeit stattfindet. Zum zweiten versuchen wir die Studierenden aber auch darin zu sensibilisieren, welche
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Querschnittsthemen sich in allen diesen verschiedenen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit wiederfinden lassen, etwa Partizipation, ehrenamtliches Engagement oder bestimmte Rechtsfragen. Drittens besteht das Praxisfeld der Kinder- und Jugendarbeit immer auch aus einem spezifischen Set an Methoden und Praxisansätzen, etwa Erlebnispädagogik, Medienpädagogik, geschlechtsspezifische Ansätze oder der kulturellen Jugendbildung. Genau diese drei Säulen strukturieren und leiten auch die Lehrveranstaltungen in unserer Studienrichtung Kinder- und Jugendarbeit. In allen drei Themenbereichen lehren sowohl wir als hauptamtliche Professoren als auch eine Vielzahl an nebenamtlichen Dozierenden, die in der Praxis der Kinder- und Jugendarbeit tätig sind oder waren. Die verschiedenen AutorInnen der nachfolgenden Beiträge sind dabei auch überwiegend die jeweils schwerpunktmäßig Lehrenden in dem jeweiligen Themenfeld. Aus diesem Grunde bestimmen die genannten drei Themenbereiche auch den Aufbau dieses Buches: Themenkomplex I umfasst insbesondere die theoretischen und konzeptionellen Grundlagen, die verschiedenen Arbeitsfelder sowie die Rechtsgrundlagen (Handlungsfelder, Inhalte, Theorien und Konzepte der Kinderund Jugendarbeit), Themenkomplex II widmet sich den Querschnittsthemen in der Kinder- und Jugendarbeit und Themenkomplex III beschäftigt sich mit ausgewählten Praxisansätzen. Der erste Teil dieses Studienbuchs bezieht sich auf Themenkomplex I und besteht aus Beiträgen, die sich einerseits mit theoretisch-konzeptionellen Aspekten, andererseits aber auch mit den Strukturen und Rahmenbedingungen der sozialpädagogischen Arbeit im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit auseinandersetzen. Sebastian Rahn beschäftigt sich im ersten Beitrag mit der Frage, warum eine theoretische Reflexion von Situationen und dem konkreten Praxishandeln in der Kinder- und Jugendarbeit wichtig ist und skizziert hierbei verschiedene Versuche, die Kinder- und Jugendarbeit theoretisch zu fundieren. Rainer Patjens analysiert im Anschluss daran im zweiten Kapitel die zentralen Gesetzesgrundlagen der Kinder- und Jugendarbeit als sowohl Organisationsprinzip als auch Basis des sozialpädagogischen Handelns. In dem dritten, vierten und fünften Beitrag werden dann drei elementare Handlungsfelder der Kinderund Jugendarbeit beschrieben: Thomas Meyer und Sebastian Rahn arbeiten auf Basis einer sowohl historischen wie auch konzeptionellen Betrachtung die Charakteristika sogenannter Jugendfreizeit- und Jugendbildungseinrichtungen mit dem Schwerpunkt Offene Jugendarbeit heraus. Rainer Patjens setzt sich mit den Eigenheiten und der Funktionsweise der Jugendverbandsarbeit auseinander. Ein quantitativ gesehen eher wenig repräsentiertes Arbeitsfeld mit jedoch umfassender Theorietradition stellt hingegen die Offene Arbeit mit Kindern dar,
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die Thomas Meyer systematisiert. Den Abschluss dieses ersten Teils des Studienbuchs bilden dann zwei Handlungsfelder, die zwar nicht originär der Kinder- und Jugendarbeit zugeordnet werden, aber gleichwohl den Prinzipien und Zielen dieses Handlungsfeld folgen oder zumindest als kooperationsnahe Handlungsfelder eine besondere Bedeutung haben: Thomas Meyer widmet sich im sechsten Beitrag dem Themenfeld der Aufsuchenden Jugendarbeit, während im siebten Kapitel die Schulsozialarbeit im Mittelpunkt des Beitrags von Sebastian Rahn und Mirjana Zipperle steht. Der zweite Teil des Studienbuchs stellt dann eine Zusammenstellung einiger zentraler Querschnittsthemen dar. Unter dem Stichwort „Querschnittsthemen“ stößt man in der Literatur schnell auf bestimmte Zielgruppenmerkmale, etwa „Migration“ oder „Gender“ (vgl. beispielsweise Düx 2003, S. 15). Wir haben uns jedoch bewusst gegen eine Fokussierung auf bestimmte Zielgruppenmerkmale entschieden, weil wir unter Querschnittsthemen weniger die einer Personengruppe zugeschriebenen Merkmale verstehen, sondern eher thematische bzw. inhaltlich-konzeptionelle Fragen der Gestaltung praktischen Handelns. Zudem sind wir der Meinung, dass die Stärke der Kinder- und Jugendarbeit ja gerade in der Arbeit mit heterogenen Personengruppen und im Umgang mit Vielfalt wurzelt. Beginnend mit einer Auswahl an relevanten Rechtsfragen behandelt Rainer Patjens im ersten Kapitel Fragen der Aufsichtspflicht, die Verkehrssicherungspflicht, die Schweigepflicht sowie Grundlagen des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung. Im Anschluss daran wird in einem Beitrag von Thomas Meyer die zentrale Bedeutung der Projektarbeit im Handlungsfeld der Kinderund Jugendarbeit erörtert. Da die Kinder- und Jugendarbeit ohne ehrenamtliches Engagement im Grunde nicht denkbar ist, wird dieses Querschnittsthema in einem dritten Kapitel von Paul-Stefan Roß betrachtet. Partizipation als Schlüsselprinzip der Kinder- und Jugendarbeit und damit als weiteres Querschnittsthema steht dann im Fokus eines Beitrags von Thomas Meyer und Sebastian Rahn. Die letzten zwei Abschnitte beinhalten zwar aktuell noch eher „exotische“ Themen in den bisherigen Auseinandersetzungen zur Kinder- und Jugendarbeit, allerdings glauben wir, dass es sich in beiden Fällen ebenfalls um wichtige Querschnittsthemen handelt. In dem Beitrag von Thomas Meyer wird Inklusion als Herausforderung und Chance für die Kinder- und Jugendarbeit betrachtet und dabei als zentrales Gestaltungsprinzip stilisiert. Matthieu Coquelin und Jens Ostwaldt beschäftigen sich hingegen mit Modellen der Radikalisierung im Jugendalter und leiten daraus konkrete Präventionsideen ab. Den dritten und letzten Themenschwerpunkt dieses Studienbuchs bilden dann sogenannte Praxisansätze der Kinder- und Jugendarbeit (Teil III). Gemeint sind hierbei konkrete Methoden und Techniken, die das professionelle Handeln in
Einleitung und Vorbemerkung der Herausgeber
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der Kinder- und Jugendarbeit leiten. In dem ersten Kapitel skizziert Karl-Heinz Konnerth die Grundlagen der Freizeit- und Erlebnispädagogik und grenzt beides gleichermaßen voneinander ab. Geschlechterbezogene Ansätze sind dann Gegenstand eines Beitrags von Kai Kabs, Annette Ulrich und Karin Sauer. Robin Bauer beschäftigt sich in einem weiteren Kapitel mit grundsätzlichen Fragen einer Sexualpädagogik der Vielfalt. Schließlich werden die in der Kinder- und Jugendarbeit äußert prominenten Handlungsfelder der Medienpädagogik und der Kulturarbeit in einem Beitrag von Annette Ulrich, Karin Sauer und Pia Jäger behandelt. Auch in diesem Teil des Buches bildet den Abschluss ein Beitrag, der nicht sofort mit der Kinder- und Jugendarbeit in Verbindung gebracht wird, aber aus unserer Sicht eine äußert wichtige Bedeutung für professionelles Handeln in diesem Arbeitsfeld hat: Ingo Hettler und Lili Görzen analysieren im Kap. „Grundlagen der systemischen Beratungspraxis“ die zentrale Bedeutung von Beratung im Kontext der Kinder- und Jugendarbeit. Mit dieser Auswahl an Themen, untergliedert in drei verschiedene Themengebiete, wollen wir sowohl die wissenschaftsbasierte Auseinandersetzung mit der Praxis der Kinder- und Jugendarbeit anregen, als auch die curriculare Entwicklung entsprechender Ausbildungs- und Studieninhalte inspirieren. Insofern richtet sich dieses Studienbuch an Studierende der Kinder- und Jugendarbeit bzw. Sozialen Arbeit, an Dozierende an entsprechenden Fachschulen oder Hochschulen sowie an PraktikerInnen im Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit.
Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Hrsg. 2017. 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. BMFSFJ: Berlin. Düx, Wiebken. 2003. Kinder- und Jugendarbeit – Eine einleitende Skizze. In Kinder- und Jugendarbeit – Wege in die Zukunft Gesellschaftliche Entwicklungen und fachliche Herausforderungen, Hrsg. Thomas Rauschenbach, Wiebken Düx, und Erich Sass, 9–34. Weinheim: Juventa. Giesecke, Hermann. (1980). Die Jugendarbeit. Grundfragen der Erziehungswissenschaft, Bd. 14, 5., völlig neu bearbeitete Aufl. München: Juventa (Edition im pdf-Format, 2005, Erstveröffentlichung 1971). Ilg, Wolfgang. 2013. Jugendarbeit – Grundlagen, Prinzipien und Arbeitsformen. In Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendarbeit, Hrsg. Thomas Rauschenbach und Stefan Borrmann, 12–32. Beltz Juventa: Weinheim. Müller, Carl Wolfgang, Helmut Kentler, Klaus Mollenhauer, und Hermann Giesecke. 1964. Was ist Jugendarbeit? Vier Versuche zu einer Theorie. München: Juventa.
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T. Meyer und R. Patjens
Rauschenbach, Thomas, und Stefan Borrmann. 2013. Einleitung. In Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendarbeit, Hrsg. Thomas Rauschenbach und Stefan Borrmann, 7–10. Weinheim: Beltz Juventa. Scherr, Albert. 2013. Subjektorientierte Offene Kinder- und Jugendarbeit. In Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, 4. Aufl, Hrsg. Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker, 297–310. Wiesbaden: Springer. Sturzenhecker, Benedikt, und Ulrich Deinet. 2018. Kinder- und Jugendarbeit. In Kompendium Kinder- und Jugendhilfe, Hrsg. Karin Böllert, 693–712. Wiesbaden: Springer. Thole, Werner. 2000. Kinder- und Jugendarbeit. Eine Einführung. Grundlagentexte Sozialpädagogik/Sozialarbeit. Weinheim: Juventa.
Handlungsfelder, Theorien, Konzepte, Strukturen und Inhalte der Kinder- und Jugendarbeit
Theorien und Theoriekonzepte der Kinder- und Jugendarbeit Sebastian Rahn
Zusammenfassung
Angesichts einer Vielfalt von unterschiedlichen Theorieansätzen zur Kinderund Jugendarbeit fragt der vorliegende Beitrag, welche gesellschaftlichen Entwicklungen die Theorieproduktion zur Kinder- und Jugendarbeit beförderten und welche Perspektiven die einzelnen Ansätze auf ihren Gegenstand einnehmen. Grundlage dieser sowohl historischen als auch systematischen Betrachtung ist die Erkenntnis einer „Theoriebeladenheit aller Beobachtung“ (Sandermann/Neumann 2018, S. 22, Hervorhebung im Original). Darauf aufbauend argumentiert der Beitrag für eine eigenständige Theoriebildung zur Kinder- und Jugendarbeit und rekonstruiert die Theorieentwicklung von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart. Aufgrund ihrer zentralen Stellung in der Theorieentwicklung werden die vier Versuche zu Beantwortung der Frage „Was ist Jugendarbeit?“ (Müller, Kentler, Mollenhauer, & Giesecke, 1986 [1964]) aus dem gleichnamigen Werk ausführlich betrachtet und auf ihre Aktualität hin überprüft. Im Folgenden wird die Entwicklung weg von gesellschaftskritischen Theorien hin zu pragmatischen Konzeptualisierungen von Kinder- und Jugendarbeit aufgezeigt. Von den nach wie vor bestehenden theoretischen Entwürfen skizziert der Beitrag zwei Ansätze – sozialräumliche und subjektorientierte Kinder- und Jugendarbeit – und fragt abschließend nach der Zukunft theoretischer Beschreibungen des Arbeitsfelds.
S. Rahn (*) Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_2
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S. Rahn
1 Einleitung Die Anerkennung einer „Pluralität von normativ voraussetzungsvollen Theorien“ (Scherr/Thole 1998, S. 28) zur Kinder- und Jugendarbeit bildet den Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags. Er setzt sich zum Ziel, den Verlauf der Theoriebildung zu und in der Kinder- und Jugendarbeit1 bis hin zum aktuellen Stand der Diskussion zu rekonstruieren. Daraus lassen sich zwei Leitfragen ableiten: ‚Was sind zentrale Thesen einzelner Theorien der Kinder- Jugendarbeit?‘ sowie ‚Vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund sind diese Theorien entstanden und auf welche Anforderungen haben sie jeweils reagiert?‘. Ziel des vorliegenden Beitrags ist somit eine systematisierte historische Auseinandersetzung mit der Theorieentwicklung in der Kinder- und Jugendarbeit, die berücksichtigt, dass „[d]ie theoretischen Überlegungen (…) nicht losgelöst zu betrachten [sind] von historisch bzw. gesellschaftlich bedingten Prozessen der Disziplin- und Professionsentwicklung und dem darin eingewobenen Zeitgeist“ (Füssenhäuser/ Thiersch 2018, S. 1723). Die Bedeutung theoretischer Reflexion erschließt sich zudem nicht in der unmittelbaren Praxis. Daher ist auch zu klären, warum es angesichts aktueller ‚praktischer‘ Probleme in der Kinder- und Jugendarbeit überhaupt sinnvoll ist, sich mit theoretischen Betrachtungen zu befassen, was unter ‚Theorien der Kinder- und Jugendarbeit‘ zu verstehen ist und wie sich diese im Verhältnis zu (Groß-)Theorien der Sozialen Arbeit einordnen lassen (Abschn. 2). Der darauffolgende Abschn. 3 skizziert die Theoriegeschichte der Kinder- und Jugendarbeit vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen, beginnend nach dem Zweiten Weltkrieg. Einen wichtigen Bestandteil dieses Theoriediskurses bildet das Werk „Was ist Jugendarbeit?“ aus dem Jahr 1964, weshalb es im Zentrum dieses Abschnitts steht. Seit den 1980er Jahren zeigt sich dann eine zunehmende Abwendung von Ansätzen, die im Sinne der obigen Definition
1Bereits
die Auswahl der Begrifflichkeit ‚Kinder- und Jugendarbeit‘ impliziert bestimmte theoretische Vorannahmen hinsichtlich der Zielgruppe sowie des Inhalts des Arbeitsfelds. Der Terminus wird im vorliegenden Artikel gewählt, da er andere Begriffe umfasst (z. B. ‚Jugendarbeit‘ oder ‚Offene Kinder- und Jugendarbeit‘) und somit zunächst offenbleibt für eine nähere theoretische Bestimmung. Beziehen sich geschichtliche Entwicklung und/oder Theoriebildung explizit auf die ‚Jugendarbeit‘, so wird dieser Begriff gewählt. In einzelnen theoretischen Perspektiven wird zudem deutlich, dass eine inhaltliche Bestimmung des Arbeitsfelds mit der Wahl einer bestimmten Begrifflichkeit korrespondiert (insbesondere in der subjektorientierten Jugendarbeit, die sich mit ihrer inhaltlichen Bestimmung von aktuellen Formen der Jugendsozialarbeit abgrenzt; vgl. Scherr 2013).
Theorien und Theoriekonzepte der Kinder- und Jugendarbeit
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als Theorien „der“ Kinder- und Jugendarbeit bezeichnet werden können, und eine Hinwendung zur Betrachtung und Reflexion von einzelnen Handlungsansätzen, AdressatInnengruppen und Konzepten (Abschn. 4).2 Nach wie vor gibt es allerdings Versuche, das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit umfassend aus einer theoretischen Perspektive beschreiben. Hierzu werden zwei Ansätze dargestellt: Subjektorientierte und sozialräumliche Kinder- und Jugendarbeit (Abschn. 5). Abschließend gibt der Artikel einen Ausblick auf die mögliche zukünftige Theorieentwicklung in der Kinder- und Jugendarbeit (Abschn. 6).
2 Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Beispiel
Eine in offenen Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit nicht selten vorkommende Situation ist der Konflikt um die Nutzung des Billardtisches zwischen verschiedenen Jugendlichen. Dieses scheinbar triviale Beispiel soll verdeutlichen, welcher Bedeutung einer theoretischen Perspektive in der Kinder- und Jugendarbeit zukommt. Bereits in die Beobachtung des Vorfalls können mehrere theoretische Vorannahmen einfließen, beispielsweise zum Rollenverhalten in Sozialen Gruppen, zur Entstehung von Konflikten sowie zur Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Explizit kinder- und jugendarbeitstheoretische Vorstellungen fließen dann in die Einordnung des Geschehens und in die Ableitung von Handlungen durch die pädagogische Fachkraft ein: Hält sich die Fachkraft zurück und lässt die Jugendlichen den Konflikt selbstständig bearbeiten? Unterstützt sie die vermeintlich ‚schwächeren‘ Personen? Oder legt sie gar selbst die Regeln für die Nutzung des Billardtisches fest? Und macht sie dies allein oder mit ihren KollegInnen? Inwieweit werden die Jugendlichen in die Entwicklung dieses Regelwerks einbezogen? Die Antworten auf diese Fragen lassen sich zwar nicht aus einer Theorie der Kinder- und Jugendarbeit ableiten, ihre Bearbeitung setzt aber die Einnahme einer theoretischen Perspektive dazu voraus, was Kinder- und Jugendarbeit ist und welche Funktionen sie für wen zu erfüllen hat. ◄
2Dies
zeigt sich beispielsweise darin, dass die aktuelle vierte Ausgabe des Handbuchs der Offenen Kinder- und Jugendarbeit übergreifenden theoretischen Reflexionen im Vergleich zu adressatInnen- und methodenspezifischen Beiträgen nur wenig Platz einräumt und diese im Abschnitt zu konzeptionellen Ansätzen platziert (vgl. Deinet/Sturzenhecker 2013).
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Dieses Beispiel aus der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zeigt die „Theoriebeladenheit aller Beobachtung“ (Sandermann/Neumann 2018, S. 22, Hervorhebung im Original). Sobald eine Person ihre Beobachtungen zu etwas verdichtet, dass sie als ‚die‘ Praxis der Kinder- und Jugendarbeit bezeichnet und Aussagen über diese Praxis tätigt, bezieht sie sich auf ihre bisherigen theoretischen Vorstellungen zu diesem Arbeitsfeld, zu Kindern und Jugendlichen und deren Sozialität sowie zu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dies zeigt die Bedeutung von – bewussten und unbewussten – theoretischen Vorannahmen zu einer ‚Praxis der Kinder- und Jugendarbeit‘. Die Fachkraft im vorliegenden Beispiel verfügt im Optimalfall über verschiedene ‚theoretische Brillen‘, mit denen sie den geschilderten Sachverhalt beurteilen kann (vgl. Sandermann/Neumann 2018, S. 28). Dies ist jedoch nicht dahin gehend misszuverstehen, dass Theorien der Kinder- und Jugendarbeit direkte Lösungen für praktische Handlungsprobleme anbieten; sie liefern vielmehr den allgemeinen Rahmen, vor dessen Hintergrund Praxis beobachtet und eingeordnet wird. Daran anschließend stellt sich die Frage, warum es für das Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit einer wissenschaftlichen Theoriebildung bedarf. Zwei Argumente, die dagegensprechen, lassen sich wie folgt anführen: 1. Die in der Alltagspraxis der Kinder- und Jugendarbeit gemachten Erfahrungen reichen aus, um darauf basierende theoretische Vorstellungen zu diesem Arbeitsfeld zu entwickeln und 2. die Kinder- und Jugendarbeit bedarf keiner eigenen Theoriebildung, sondern kann als ein Handlungsfeld der Sozialen Arbeit auf deren (Groß-)Theorien zurückgreifen. Um den ersten Einwand zu diskutieren, muss zunächst der Charakter einer wissenschaftlichen Theorie im Allgemeinen und einer Theorie der Kinder- und Jugendarbeit im Speziellen geklärt werden. Grundsätzlich besteht eine wissenschaftliche Theorie „aus geordneten Aussagen über einen Gegenstand, die handlungsentlastet erarbeitet werden“ (Hamburger 2012, S. 103). Zu den Gütekriterien einer solchen Theorie zählen u. a. eine hohe argumentative Konsistenz, logische Widerspruchsfreiheit, Transparenz und Erklärungskraft (vgl. Sandermann/Neumann 2018, S. 30). Diese formalen Kriterien ergänzt Thole (2000, S. 226) um bestimmte inhaltliche Aspekte, die eine Theorie der Kinder- und Jugendarbeit thematisieren muss: „Wenn hier von einer ‚Theorie der Kinder- und Jugendarbeit‘ die Rede ist (…), dann ist damit ein wissenschaftliches Gebäude gemeint, das alle Facetten dieses sozialpädagogischen Handlungsfeldes umfassend betrachtet, analysiert und
Theorien und Theoriekonzepte der Kinder- und Jugendarbeit
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reflektiert sowie konkret die Aufgaben und Ziele der Kinder- und Jugendarbeit unter Einbeziehung von gesellschafts- und subjekttheoretischen Bezügen als institutionalisiertes Sozialisationsfeld für Kinder und Jugendliche zu bestimmen versucht. Einfacher: Eine Theorie der Kinder- und Jugendarbeit hat allererst zu klären, was Kinder- und Jugendarbeit ist und welche gesellschaftliche Funktion sie hat.“
Theorien der Kinder- und Jugendarbeit können damit als handlungsentlastet erarbeitete und mit dem Anspruch logischer Konsistenz auftretende Beschreibungen des Handlungsfelds verstanden werden, die oftmals mit normativen Vorstellungen ‚guter‘ Praxis verbunden sind. Aufgrund ihres Charakters sind sie dazu geeignet, bestehendes Alltagswissen zur Kinder- und Jugendarbeit zu irritieren und damit Praxis auch weiterzuentwickeln3: Im Unterschied zu Alltagstheorien, die unter situativem Druck generiert werden und Handlungsfähigkeit ermöglichen, liefern wissenschaftliche Theorien Reflexionsfolien, anhand derer die eigene Vorstellung von (guter) Praxis der Kinder- und Jugendarbeit überdacht und eventuell korrigiert werden kann. Der zweite Einwand unterstellt, dass (Offene) Kinder- und Jugendarbeit ein Handlungsfeld der Sozialen Arbeit darstellt. Ebendiese eindeutige Verortung wird allerdings an anderer Stelle bestritten: „Im Gegensatz zur Schulpädagogik oder Erwachsenenbildung ist die Frage nach der disziplinären, also der wissenschaftlichen Zuordnung und professionellen Identität für die außerschulische Kinder- und Jugendarbeit ungeklärt.“ (Thole 2000, S. 26). Demzufolge liegt keine einheitliche Auffassung darüber vor, ob Kinder- und Jugendarbeit als eigenes Fachgebiet, als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin, als Teil der Sozialwissenschaft oder als Subdisziplin der Sozialen Arbeit anzusehen ist. Diese fehlende Positionierung entfaltet auch für die Praxis unmittelbare Relevanz. Einerseits ist die Frage nach der wissenschaftlichen Zuordnung gleichbedeutend mit der Frage nach der Perspektive, aus und mit der Praxis wissenschaftlich beobachtet und analysiert wird. Andererseits basieren auf dieser Zuordnung diejenigen ‚theoretischen Brillen‘, mit denen in der Praxis Sachverhalte eingeordnet und im Hinblick auf Folgehandlungen gedeutet werden. Eine fehlende theoretische Rahmung bzw. Verortung kann demnach dazu führen, dass Angebote
3Sandermann
und Neumann (2018, S. 200–206) zeigen allerdings auf, dass Theorien diesen Mehrfachanspruch (analytische Beschreibung und normative Orientierung von Sozialer Arbeit) oftmals mithilfe von Objektivismen (weitreichende und axiomatische Setzungen innerhalb der Theorie) und Ontologisierungen (normative Sollensaussagen werden zum ‚Wesen‘ Sozialer Arbeit erklärt) verfolgen und damit logische Inkonsistenzen aufweisen.
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der Kinder- und Jugendarbeit nicht von anderen Praxisfeldern (z. B. schulbezogene Angebote, Vereinsarbeit) abgegrenzt werden können und dass sich im Umgang mit anderen Professionen kein gemeinsames Selbstverständnis innerhalb der Kinder- und Jugendarbeit entwickelt. Auch der empirische Zugang zur Kinder- und Jugendarbeit bedarf einer theoretischen Verortung des Handlungsfelds sowie einer Reflexion der in diesem Handlungsfeld bestehenden Angebote. Bezogen auf die quantitative Betrachtung des Arbeitsfelds vermerkt Pflugmann-Hohlstein (2014, S. 20): „Diese Heterogenität der Angebote und Träger stellt eine statistische Erfassung der Jugendarbeit vor große Herausforderungen.“ Ein auf einer kinder- und jugendarbeitstheoretischen Perspektive basierendes einheitliches Begriffsverständnis ist deshalb auch für die empirische Kinder- und Jugendarbeitsforschung von genuinem Interesse. Aus diesen Gründen und basierend auf dem oben skizzierten Theorieverständnis setzen sich die folgenden Kapitel mit der Theorieentwicklung zur und in der Kinder- und Jugendarbeit auseinander.
3 Die Entwicklung hin zur Frage ‚Was ist Jugendarbeit?‘ In ihren frühen Erscheinungsformen (Wandervogel, Jugendbünde) stellte die Jugendarbeit einerseits eine Reaktion auf die „historische Entstehung der Lebensphase Jugend“ (Hurrelmann/Quenzel 2016, S. 19) in der Industriegesellschaft und andererseits auf die feudal-bürgerliche Gesellschaft im deutschen Kaiserreich dar. Bis in die 1950er Jahre hinein war jedoch eine „Theorielosigkeit“ (Thole 2000, S. 229) in der Jugendarbeit zu konstatieren. Die akademische Beschäftigung mit der Jugendarbeit sollte sich vielmehr darauf beschränken, Jugendarbeitsforschung zu organisieren, Lehrkräfte mit Expertise in der Jugendarbeit bereitzustellen und Leitungskräfte auf dem Gebiet der Jugend- und Wohlfahrtspflege auszubilden (vgl. Nohl 1965 [1924], S. 71). Dieser Umstand lässt sich darauf zurückführen, dass abgesehen von politischen Formen der Jugendarbeit deren Aufgabe überwiegend darin gesehen wurde, Jugendliche in die bestehende Gesellschaft zu integrieren. Während der nationalsozialistischen Herrschaft von 1933 bis 1945 wurde die Jugendarbeit staatlich gleichgeschaltet und autonome Formen beschränkten sich auf kleine unabhängige Oppositionsbewegungen (vgl. Thole 2000, S. 61). Insgesamt zeigt sich, dass bis zum Ende des zweiten Weltkriegs die verbandliche Jugendarbeit in Deutschland dominierte und dass deren Erscheinungsformen stark von der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation abhingen.
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Erste Versuche einer theoretischen Vermessung des Arbeitsfeldes entstanden vor dem Hintergrund einer Reaktivierung demokratischer Strukturen in der Nachkriegsphase. Im Zuge der Re-Education durch die Alliierten wurde zudem der Ausbau offener Einrichtungen der Jugendarbeit – sogenannter ‚German Youth Activity-Heime‘ – forciert. Die Kritik an bisherigen (bündischen) Jugendarbeitsstrukturen verband sich mit dem Versuch, die neuen Formen offener Jugendarbeit auch theoretisch zu legitimieren (vgl. Thole 2000, S. 230). Der aus dieser Entwicklung hervorgehende Ansatz einer sozialintegrativen Jugendarbeit stellt den Beginn einer Phase von den 1960er bis in die 1980er Jahre dar, in der nach Thole (ebd., S. 228) die „Kern“Theorien der Jugendarbeit entstanden (vgl. Abb. 1). Der erste – maßgeblich von Lutz Rössner geprägte – Ansatz betont die Funktion der Jugendarbeit als Übungsfeld für das Leben in der offenen Gesellschaft (vgl. Rössner 1967, S. 52). Aufgrund ihres offenen Charakters sei die Jugendarbeit dafür prädestiniert, Jugendlichen diejenigen Bildungsprozesse zu ermöglichen, die sie für das Leben in der Demokratie benötigen. Der grundsätzliche Anspruch der Einpassung Jugendlicher in die Gesellschaft als zentrale Aufgabe der Jugendarbeit ist hier noch deutlich zu erkennen. Darüber hinaus werden soziale Ungleichheiten in der Konzeption der Theorie nicht berücksichtigt. Vielmehr zielt sie auf ein „unschulisches Programm“ (Rössner 1967, S. 153) mit einem spezifischen Bildungsanspruch. Aufgrund der Orientierung an der Reproduktion der Gesellschaft sowie der Vernachlässigung unterschiedlicher sozialer Lagen lässt sich Rössners Ansatz als der einer sozialintegrativen, konservativen Jugendarbeit charakterisieren (vgl. Thole 2000, S. 230).
Abb. 1 Theoriegeschichtliche Entwicklung in der Jugendarbeit. (Darstellung nach: Thole 2000, S. 231)
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Der Entwurf einer emanzipatorischen Jugendarbeit grenzt sich stark von den Ideen Rösners ab und proklamiert, die Jugendarbeit müsse ihren AdressatInnen „planmäßig Lernhilfen für eine erfolgreiche Bearbeitung solcher [gesellschaftlicher] Konflikte im Sinne der Emanzipation“ (Giesecke 1971, S. 173) anbieten. Als zentraler Baustein dieser Theorierichtung erschien im Jahr 1964 das Buch „Was ist Jugendarbeit?“, in dem die vier Autoren ihre Entwürfe für eine zeitgemäße Arbeit mit jungen Menschen präsentierten. Dieses Buch und der damit verbundene Gedanke einer emanzipatorischen Jugendarbeit entstanden vor dem Hintergrund einer Gesellschaft in der „Gärungsphase“ (Siegfried 2006, S. 17), die am Anfang eines Wertewandels und einer massiven Liberalisierung und Pluralisierung in der westdeutschen Bevölkerung stand. Gleichzeitig richtete der Staat seine Bemühungen auf die Politisierung einer als unpolitisch empfundenen ‚Teenagerkultur‘, um die Jugendlichen gegen bestehende nationalsozialistische4 sowie kommunistische Strömungen in der Gesellschaft zu immunisieren. Allerdings zeigte sich die Mehrzahl der Jugendlichen gegenüber dieser Art politischer Bildung desinteressiert und wandte sich zunehmend von staatlichen Freizeitangeboten ab und privaten – eine spezifische Subkultur (z. B. Jazz, Rock ‚n‘ Roll) hervorbringenden – Clubs zu. Dies führte aufseiten der Jugendarbeit zu der Frage, wie und mit welchen Inhalten Jugendliche angesprochen werden sollten – bis hin zur Diskussion über die Aufstellung von Musikboxen in Einrichtungen der Jugendpflege (ebd., S. 22). Aufseiten der Jugendlichen entwickelte sich schließlich, geprägt von Debatten im Sozialistischen Deutschen Studentenbund, die Kultur einer ‚hedonistischen Linken‘, die gleichzeitig alltäglichen Lebensgenuss und sozialistisches Gedankengut repräsentierte. Zusammenfassend lassen sich diese Tendenzen in der westdeutschen Gesellschaft dadurch charakterisieren, dass Jugendliche ihre Freizeit zunehmend selbstbestimmt gestalten und mit ‚Sinn‘ erfüllen wollten. Die Frage danach, welche Rolle in diesem Zusammenhang eine Jugendarbeit spielen könnte, stellte die Grundlage für die vier nachfolgend dargestellten Theorieversuche in5 „Was ist Jugendarbeit?“ dar. Carl Wolfgang Müller weist
4Als
einen Anlass schildert Siegfried (2006, S. 20) die Verunstaltung der Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen und rassistischen Sprüchen durch junge Männer in der Weihnachtsnacht 1959. 5Sie lässt sich in drei konkrete Konfliktlinien innerhalb der damaligen Jugendarbeit konkretisieren: 1) Die gesellschaftliche Funktion der Jugendarbeit, 2) Das Verhältnis von offener Jugendarbeit und Gruppenarbeit und 3) Die Frage nach den die Jugendarbeit bestimmenden Interessen (vgl. Fehrlen 1985, S. 55 f.).
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20 Jahre später darauf hin, dass mit diesem Werk nicht etwa der Versuch unternommen werden sollte, eine „überzeitliche und allgemeinverbindliche Theorie dieses sozialpädagogischen Feldes vorzulegen“ (Müller u. a. 1986 [1964], S. 8). Gleichwohl verbindet sich mit den vier Versuchen die Perspektive einer Theorie, die Jugendarbeit bezogen auf die gesellschaftlichen Bedingungen der frühen 1960er Jahre umfassend beschreiben möchte. Dies wird durch Müllers Aussage deutlich, die Versuche seien angetrieben gewesen von der Hoffnung der vier Autoren, ihre Erfahrungen in der außerschulischen und offenen Jugendarbeit „verallgemeinerungsfähig (…) für Jugendliche und junge Erwachsene“ zu machen (Müller u. a. 1986 [1964], S. 9). Aufgrund der Bedeutung, die diesem ‚Klassiker‘ der Theoriegeschichte der Jugendarbeit beigemessen wird (vgl. Siegfried 2006, S. 20), werden die vier Versuche im Folgenden zusammengefasst wiedergegeben: • Im ersten Versuch unterscheidet Carl Wolfgang Müller (1986 [1964], S. 21) zwischen einer besonderen Jugendarbeit, die basierend auf organisationalen Eigeninteressen der sie tragenden Verbände Angebote an bestimmte Gruppen junger Menschen richtet und einer allgemeinen Jugendarbeit, die sich sozialpädagogisch begründet an alle Jugendlichen wendet. In der ersten (besonderen) Form richten sich die Angebote nach den jeweiligen Sonderinteressen und können von den AdressatInnen lediglich in eingeschränkter Form modifiziert werden. Eine allgemeine Jugendarbeit dagegen, die für sich in Anspruch nimmt, „für die ganze Jugend zu sprechen, [wird] nicht umhin kommen, eine Sache zum Mittelpunkt ihrer Jugendarbeit zu machen: die an dieser Jugendarbeit teilnehmenden Jugendlichen mit all ihren Erfahrungen und Problemen, Bedürfnissen und Interessen“ (ebd., S. 20 f., Hervorhebungen im Original). Damit thematisiert Müller den Zusammenhang zwischen den Angeboten der Jugendarbeit sowie der milieuspezifischen Zusammensetzung ihrer AdressatInnen. Im Aufgreifen des Grundbedürfnisses nach Kommunikation und der Ermöglichung von Lernprozessen in einer jugendspezifischen Gruppenarbeit, in der vonseiten der PädagogInnen ein bestimmter Stil vorgelebt wird, sieht Müller den Vollzug einer allgemeinen Jugendarbeit. Die drei von Müller gewählten didaktischen Grundbegriffe Stil, Gruppe und Kommunikation verdeutlichen, dass er den Fokus weniger auf bestimmte inhaltliche Angebote richtet, sondern auf eine bestimmte Art der zwischenmenschlichen Kommunikation (von Wensierski 2006, S. 71). Das emanzipatorische Ziel der Jugendarbeit sieht dieser Entwurf darin, „das gesellschaftliche Handlungspotenzial [der Jugendlichen] zu vergrößern“ (Müller 1986 [1964], S. 21).
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• Helmut Kentler (1986 [1964], S. 39) greift den Emanzipationsgedanken ebenfalls auf und fordert, Jugendarbeit müsse „kritische engagierte Aufklärung“ anstreben und damit zu einer mündigen Gesellschaft beitragen. Er plausibilisiert dieses Ziel anhand der Differenz zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen (Menschen- und Grundrechte, Gleichberechtigung) und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die diesen Ansprüchen noch nicht genügt. Mit dieser „Vermittlung von Utopie und Wirklichkeit“ (ebd., S. 46) habe es nun Jugendarbeit als dritte Erziehungsinstitution zwischen Erwachsenengesellschaft und Jugend zu tun. Sie ist dafür in besonderem Maße geeignet, da sie in der Freizeit der jungen Menschen stattfinde und Freiwilligkeit für ihre Verwirklichung konstitutiv sei (ebd., S. 43). Gleichzeitig betont Kentler den Begriff der Jugendarbeit, da er darauf verweist, dass diese zu großen Teilen aus schöpferischen Handlungen junger Menschen besteht, die sich mit diesen Handlungen immer im Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit und Utopie befinden. Im Unterschied zu C. Wolfgang Müller betont Kentler (ebd., S. 46) die Notwendigkeit, Jugendarbeit im politischen Sinne auch als Arbeit an der Gesellschaft zu verstehen, um die für die Bildung zur Mündigkeit notwendigen Lebensbedingungen zu schaffen. Zusammengefasst kommt er zu dem Schluss: „Jugendarbeit ist Bildung in Freiheit zur Freiheit“ (ebd., S. 51). Aus dieser grundsätzlichen Feststellung werden mehrere Schlussfolgerungen für die Zusammensetzung von JugendarbeiterInnen-Teams sowie für das pädagogische Arbeiten mit Jugendlichen gezogen und anhand von Beispielen plausibiliert: Kentler (ebd., S. 57) favorisiert dabei die sogenannte ‚Explosionsmethode‘, in der Jugendlichen ihre aktuelle Lebenswirklichkeit durch situativ gestaltete Kontraste und Spiegelungen des Selbst ‚explosionsartig‘ bewusst gemacht wird und Perspektiven für mögliche Veränderungen aufscheinen. Er verdeutlicht diese Methode sehr anschaulich anhand eines OberschülerInnenseminars zu Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, bei dem die SchülerInnen bereitwillig mehrere inhaltlich vollkommen sinnlose Leseaufgaben ausführen, bevor ihnen schlagartig ihr Verhalten klargemacht wird. Dies führt schließlich zu einer Diskussion unter allen Beteiligten über das unhinterfragte Erledigen von Aufgaben, über die Nachteile eines bloßen Konsums von Wissen sowie über den Nutzen desselben, um an der eigenen Person zu arbeiten. (vgl. ebd., S. 83–88).6
6Für
eine kritische Kommentierung dieses Vorgehens einschließlich einer Einschätzung seiner aktuellen Relevanz, vgl. Schröder (2006, S. 89).
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• Auch Klaus Mollenhauer (1986 [1964], S. 91; Einschub im Original) bezieht sich in seinem dritten Versuch auf die Differenz zwischen einer beobachteten Praxis und einem „besseren Begriff von der Sache [der Erziehung], als die zutage liegenden Verhältnisse anzubieten scheinen.“ Der im Zitat enthaltene Erziehungsbegriff verweist darauf, dass hier explizit der Versuch einer pädagogischen Theorie der Jugendarbeit unternommen wird, die sich als eine „Theorie des Handelns junger Menschen oder des Handels am jungen Menschen im Hinblick auf Heranwachsen und Mündigwerden“ (ebd., S. 90) präsentiert. Noch stärker als die vorherigen Versuche zeigt sich in Mollenhauers Versuch der Zeitgeist einer an die kritische Theorie der Frankfurter Schule angelehnten kritischen Erziehungswissenschaft, die bestehende Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse überwinden möchte (vgl. Scherr 2006, S. 100). Die Aufgabe der Jugendarbeit wird dabei darin gesehen, Jugendliche darin zu bilden, „in kritischer und verantwortlicher Teilnahme an gesellschaftlichen Veränderungen“ (Mollenhauer 1986 [1964], S. 94) mitzuwirken. Hier wird auch die fundamentale Differenz zu Rössners sozialintegrativem Ansatz deutlich: während dieser noch auf eine Einpassung Jugendlicher in die Gesellschaft und damit auf die Verstetigung bestehender Verhältnisse zielte, unterscheidet sich bei Mollenhauer die Jugendarbeit gerade dadurch von anderen Erziehungsfeldern (z. B. Schule, Heimerziehung), dass sie primär nicht auf den Fortbestand von Gesellschaft zielt, sondern die Perspektiven der Jugendlichen wahrnehmen und diese auch in ihrer Widersprüchlichkeit untereinander und zu bestehenden Gesellschaftsstrukturen thematisieren kann (vgl. Scherr 2006, S. 100). Teilweise ähnlich zu den bisherigen Autoren, jedoch inhaltlich über diese hinausgehend versucht Mollenhauer (1986 [1964], S. 99 ff.) die strukturellen Merkmale zu bestimmen, innerhalb derer sich Jugendarbeit vollzieht: die Freiwilligkeit der Teilnahme, das dadurch mögliche (aber auch notwendige) Ansetzen an den Bedürfnissen und Interessen der Jugendlichen sowie der Vollzug von Jugendarbeit in geselligen Prozessen werden als Bedingungen, Freizeit, das politische Klima sowie soziale Konventionen als Faktoren, Übung, Begleitung, Beratung, Information und Aufklärung als generelle Modalitäten und Engagement, Team und Aktion als exemplarische Modalitäten benannt. Aus dieser Analyse des Arbeitsfeldes schlussfolgert Mollenhauer (1986 [1964], S. 116), die spezifischen Bildungschancen der Jugendarbeit liegen in „ihrer Widersprüchlichkeit und Heterogenität, in der dadurch bedingten Variationsbreite der Formen und Veränderbarkeit der Einrichtungen und Inhalte.“
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• Hermann Gieseckes (1986 [1964]) vierter Versuch setzt sich zunächst ausführlich mit den Charakteristika einer Theorie der Jugendarbeit sowie mit der Frage auseinander, unter welchen historischen Bedingungen eine theoretische Betrachtung des Arbeitsfelds notwendig wurde. Er sieht diese einerseits in der Entwicklung eines zunehmend komplexeren Organisationsgefüges innerhalb der Jugendarbeit und der damit einhergehenden Notwendigkeit einer jugendpolitischen Planung, andererseits in der durch diese beiden Faktoren gefährdeten Spontaneität in der Arbeit mit jungen Menschen sowie im zunehmenden Verlust traditioneller Begründungsmuster von Jugendarbeit (z. B. Verwahrlosung). Angesichts dieser Entwicklungen entwirft Giesecke seine Theorie, die eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Grundbedingungen und Zielsetzungen der Jugendarbeit enthält. Aus der Verortung der Jugendarbeit im Freizeitsystem, die auch bei den anderen Versuchen zu finden ist, leitet Giesecke (ebd., S. 140) dabei eine bis heute gültige Tatsache ab: Jugendarbeit müsse um ihre AdressatInnen werben, da sie in Konkurrenz zu anderen kommerziellen Freizeitangeboten stehe und deshalb befinde sie sich in einem ständigen Widerspruch zwischen ‚Unternehmen‘ und ‚pädagogischer Anstalt.‘ Des Weiteren ist Gieseckes Versuch – wie er 40 Jahre später auch selbst bilanziert (vgl. Giesecke 2006, S. 107) – wie bei Mollenhauer von einer pädagogischen Perspektive geprägt, die danach fragt: „Was kann die Jugendarbeit einem Jugendlichen bieten, was er sonst in seinem Lebensbereich nicht so ohne weiteres finden kann?“ (ebd.). Er beantwortete diese Frage in mehrfacher Hinsicht (vgl. Giesecke 1986 [1964], S. 147 ff.): die Ermöglichung sozial folgenlosen Meinens und Verhaltens und sozialer Geborgenheit, die Einübung nicht-intimer Kommunikation, sinnvolle Aktivitäten, die Auseinandersetzung mit individuellen und kollektiven Konflikten, die Förderung spezifischer Begabungen und Interessen sowie Hilfe bei zeitbedingten Defiziten (z. B. Wohnungs- und Arbeitslosigkeit). Abschließend beschreibt Giesecke (ebd., S. 175 f.) ein bis heute innovatives Theorie- und Forschungsprogramm der Jugendarbeit, das neben empirischen Untersuchungen und historischen Reflexionen auch sogenannte ‚pädagogische Experimente‘ – heute eher in der empirischen Bildungsforschung anzutreffen – sowie eine Theoriebildung umfasst, die an die Erkenntnisse der drei anderen Ebenen anschließt. Die vier Versuche wurden nach ihrer Veröffentlichung vielfältig rezipiert, intensiv diskutiert und erfuhren im Verlauf der Zeit auch Widerspruch: Hornstein (1965, S. 226 ff.) kritisiert die normative Anlage der Theorieentwürfe und die fehlende empirische Betrachtung der Jugendarbeit in allen Entwürfen. Fehrlen (1985,
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S. 56 f.) sieht in Mollenhauers Versuch den bedeutsamsten und kritisiert an den anderen Entwürfen, sie würden offene Jugendarbeit zugunsten verbandsspezifischer Gruppenarbeit vernachlässigen (Müller), Jugendliche als ‚faul und feige‘ qualifizieren und sich in Widersprüche verstricken (Giesecke). Auf diese Vorwürfe wurde wiederum mehrfach von den Autoren reagiert (beispielsweise in: Deutsche Jugend 10/1965; Lindner 2006), was auf die anhaltende Relevanz der vier Versuche zur Theoriebildung in der Jugendarbeit verweist. Der Gedanke einer emanzipatorischen Jugendarbeit im engeren Sinne wurde allerdings nur von Giesecke (1971) weitergeführt, später jedoch skeptisch betrachtet (vgl. Giesecke, 1998, S. 446). Dies deutet darauf hin, dass heute nicht mehr bruchlos an die Gedanken der vier Autoren angeknüpft werden kann. Sie lieferten eine Reaktion auf die spezifischen gesellschaftlichen Umstände der 1960er Jahre und eine zunehmende Professionalisierung der Jugendarbeit. Allerdings stehen weder die Überzeugung eines fortwährenden gesellschaftlichen Fortschritts hin zum Besseren noch die Perspektive einer substanziellen Demokratisierung von Entscheidungsprozessen der Kinder- und Jugendarbeit aktuell als gesellschaftspolitisch einflussreiche Leitorientierungen zur Verfügung (vgl. Scherr 2006, S. 97). Vielmehr sind diese Ideale brüchig und die mit Ihnen verbundenen Eindeutigkeiten in (post-)modernen Gesellschaftsdiagnosen ambivalent geworden (vgl. Bauman 2005).
4 Von weiteren ‚klassischen‘ Theorien der Jugendarbeit hin zu pragmatischen Konzeptionen Die vier Versuche zur Frage ‚Was ist Jugendarbeit?‘ stellten einen vorläufigen Höhepunkt in der Theoriedebatte dar, auf den in den folgenden Jahren eine „Atempause“ (Fehrlen 1985, S. 58) folgte. Unter dem Einfluss der StudentInnenbewegung und jugendlicher Protestete gegen die bestehenden Gesellschaftsstrukturen entwickelte sich dann in den 1970er Jahren der Entwurf einer antikapitalistischen Jugendarbeit (vgl. Lessing/Liebel 1975), die sowohl sozialintegrativen als auch emanzipatorischen Ansätzen kritisch gegenüberstand und ihnen eine Anpassung der Jugendlichen an bestehende gesellschaftliche Verhältnisse vorwarf. Thole (2000, S. 233) zeigt hierzu auf, dass in der Kritik an den vorherigen Ansätzen die bestehenden Unterschiede zwischen einer emanzipatorischen und einer sozialintegrativen Jugendarbeit weitestgehend ausgeblendet wurden. Ausgeweitet wurde diese Kritik auch auf die bisherige soziologische Jugendforschung, die durch einen einheitlichen Jugendbegriff
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bestehende Klassenunterschiede ausblende (vgl. Liebel 1975a, S. 67; Thole 2000, S. 233). Dagegen war das Ziel der antikapitalistischen Jugendarbeit, Jugendliche zu einem Klassenbewusstsein und zu einer ‚gesellschaftskritischen‘ Praxis zu motivieren und zu befähigen, bestehende Ausbeutungsverhältnisse (z. B. in der Schule, im Betrieb) zu bekämpfen (vgl. Liebel, 1975b, S. 173 ff.). Analog zu Giesecke, der die emanzipatorischen Hoffnungen seines Ansatzes im Rückblick kritisch einschätzt, äußert sich einer der Protagonisten der antikapitalistischen Jugendarbeit, Helmut Lessing (1986, S. 144), in der Retrospektive pessimistisch gegenüber seinen früheren Hoffnungen, die bestehenden Jugendkulturen würden sich gegen die vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen richten. Der von Diethelm Damm (1975) zunächst als politische Jugendarbeit und später (1980) als bedürfnisorientierte Jugendarbeit bezeichnete Ansatz stellte den Versuch dar, zwischen einer auf die Bedürfnisse der Jugendlichen und einer auf Politisierung zielenden Jugendarbeit zu vermitteln. Hierfür unterschied Damm (1975, S. 41 ff.) zwischen subjektiven Interessen der Jugendlichen und die in diesen ebenfalls enthaltenen – auf Emanzipation zielenden – objektiven Bedürfniskomponenten. Jugendarbeit solle nun einerseits an den subjektiven jugendlichen Bedürfnissen und Interessen ansetzen und andererseits die in diesen Interessen enthaltenen ‚objektiven‘ kritischen und emanzipatorischen Elemente herausarbeiten und Jugendliche dadurch zur Beteiligung an gesellschaftlicher Praxis befähigen (ebd., S. 80 ff.). Zentral war dabei die Arbeit an und mit den lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Erlebnissen der Jugendlichen (vgl. Thole 2000, S. 234), da diese den individuellen Einstellungen und Dispositionen zugrunde liegen. Die bisher erörterten Entwürfe (sozialintegrative, emanzipative, antikapitalistische und bedürfnisorientierte Jugendarbeit) stellen für Thole (ebd.) diejenigen Versuche dar, die auch heute noch als ‚Kerntheorien‘ der Jugendarbeit gelten können. Weiterführende Ansätze wie die einer erfahrungsbezogenen Jugend(bildungs)arbeit sowie einzelne Feldstudien (Aly 1977) präzisierten diese Ansätze weiter aus und stellten sie auf eine empirische Grundlage, entwickelten sie aber nicht mehr maßgeblich weiter (vgl. Thole 2000, S. 234). Gemeinsam ist den genannten Theorien ihr Entstehungshintergrund im Zeitgeist der 1960er und 1970er Jahre und ihr Impuls in Richtung einer politischen Demokratisierung und Liberalisierung sowie eine Kritik an autoritären Erziehungsmodellen (ebd., S. 235). Im Verlauf der 1980er Jahr wuchs allerdings die Skepsis gegenüber den in den früheren Entwürfen enthaltenen Idealvorstellungen von Jugend und Jugendarbeit, was so weit ging, das frühere Protagonisten das Arbeitsfeld grundsätzlich infrage stellten: „es lohnt sich vielleicht, darüber nachzudenken und es
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auch provokativ zu sagen, das Beste, was man der jungen Generation und auch dem Verhältnis der Generationen zueinander antun kann, ist, daß [sic!] man die ganze Jugendarbeit abschafft.“ (Mollenhauer 1982, S. 26). Diese Gefühle der Krisenhaftigkeit und Unsicherheit verbanden sich mit Kritik aus der Praxis an zu schwerfälligen und im Hinblick auf praktische Probleme zu wenig sensiblen Theorieentwürfen (vgl. Thole 2000, S. 235). Begleitet und verstärkt wurden diese Entwicklungen durch die weitestgehende Auflösung der Jugendzentrumsbewegung sowie durch einen anhaltenden Mitgliederschwund in den Jugendverbänden (vgl. Scherr 1997, S. 19). Theoretische Auseinandersetzungen, die sich gesellschaftlichen Funktionszuweisungen entgegensetzen und nach dem politisch-emanzipatorischen Gehalt von Jugendarbeit fragen (kritische Gesellschaftstheorie), wichen deshalb zunehmend der Forderung nach Theorien, die sich auf die konkrete Gestaltung von Praxis und die Analyse struktureller Rahmenbedingungen konzentrieren (pragmatische Konzeptualisierungen). In diesem Zusammenhang rückten praktisch-pädagogische Fragen in den Vordergrund und Praxiskonzepte (z. B. Mädchen- und Jungenarbeit, Erlebnispädagogik) wurden „entdeckt und wiederentdeckt“ (Thole 2000, S. 236). Allerdings entwickelten sich daneben zwei weitere Ansätze, die von Thole (ebd., S. 228) als neuere Theoriekonzepte bezeichnet und die stellenweise an die früheren Entwürfe anknüpften – sozialräumliche und subjektbezogene Jugendarbeit.
5 Aktuellere Theoriekonzepte und -diskussionen Die Überschrift „Konzeptionelle Ansätze in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit“, unter der die aktuelle Auflage des Handbuchs der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (Deinet/Sturzenhecker 2013) mehrere theoretische Reflexionen auflistet, weist darauf hin, dass es sich hierbei nicht mehr um (Groß-)Theorien der Kinder- und Jugendarbeit handelt, sondern vielmehr um „Theoriekonzepte“ (Thole 2000, S. 227), die einen oder mehrere Aspekte des Arbeitsfelds betrachten. Nebeneinander werden dort Beiträge versammelt, die sich mit bestimmten Perspektiven (z. B. Geschlechterbezogene Jugendarbeit, antirassistische Jugendarbeit), Methoden (z. B. Peer Education) und Inhalten (z. B. Kultur- und Medienarbeit) auseinandersetzen. Allerdings finden sich hier auch zwei Entwürfe, die Jugendarbeit (zumindest implizit) aus einer theoretischen Perspektive umfassend beschreiben und deren Geltungsanspruch über einen bestimmten Ausschnitt des Handlungsfelds hinausgeht. Der eine Ansatz (Sozialräumliche Jugendarbeit) bedient sich eines arbeitsfeldübergreifenden Diskurses zur Bedeutung einer raumbezogenen Perspektive in der Sozialen Arbeit, deutet diesen aber in Bezug
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auf Jugendarbeit in einer spezifischen – aneignungstheoretischen – Weise aus. Der andere Ansatz (Subjektorientierte Jugendarbeit) setzt am Grundgedanken des emanzipatorischen Ansatzes an, fokussiert Subjektbildung als zentralen Gegenstand der Jugendarbeit (im Unterschied zu anderen Feldern der Sozialen Arbeit) und konstituiert diese damit als eigenständiges Handlungsfeld (Scherr 1997, S. 11). Beide Ansätze verbindet, dass sie aufgrund ihres Entstehungszeitpunkts in den 1980er und 1990er Jahren ebenfalls bereits als „Klassiker“ (Deinet/ Sturzenhecker 2013, S. VIII) eingeordnet werden können.
5.1 Sozialräumliche Kinder- und Jugendarbeit Die Vorstellung einer raumorientierten bzw. sozialräumlichen Jugendarbeit kann als Reaktion auf die krisenhaften Theorie- und Praxisentwicklungen in den 1980er Jahren verstanden werden. Unter der Frage „Wozu Jugendarbeit?“ greifen Lothar Böhnisch und Richard Münchmeier (1992, S. 12) die krisenhaften Entwicklungen der 80er Jahre auf und versuchen, auf die neuen Begründungs- und Legitimationsprobleme von Jugendarbeit eine Antwort zu geben. Ausgehend von der Beobachtung eines Strukturwandels der Jugendphase, der sowohl das „Abbröckeln des bildungsoptimistischen Lebensentwurfs“ als auch die „Verunsicherung der Normalbiografie“ (ebd., S. 78) mit zunehmend riskanten Übergängen im Lebenslauf (z. B. zwischen Schule und Beruf) umfasst, entwickeln die Autoren die Idee einer raumorientierten Jugendarbeit. Diese solle sich nicht mehr als eine Sozialisationsinstanz unter anderen (Familie, Schule, Berufsausbildung) verstehen, sondern vielmehr lebensweltliche Räume von Jugendlichen, in denen sich grundsätzlich mehrere Sozialisationseinflüsse überlagern, zum Ausgangspunkt ihres Handelns machen. Anstelle einer Überhöhung der pädagogischen Zweierbeziehung JugendarbeiterIn – Jugendlicher fordern Böhnisch und Münchmeier (ebd., S. 90 f.), Jugendlichen Zugänge und Aneignungsformen zu unterschiedlichen Räumen zu ermöglichen: „So wie Jugendliche nach Räumen streben, Möglichkeiten in Räumen suchen, müssen Jugendarbeiter versuchen, ihre pädagogischen Vorstellungen umzudenken, auf Räume zu beziehen.“ Die Neuformulierung des pädagogischen Verständnisses der Jugendarbeit als Hilfe zur Lebensbewältigung (vgl. ebd., S. 41) zeigt ebenfalls die intendierte Bedeutungsverschiebung. Neben dieser raumtheoretischen Perspektive wird von den Autoren gefordert, milieu-, geschlechter-, jugendkultur- und altersgruppenspezifische Unterschiede stärker in der Konzeptualisierung von Jugendarbeit zu berücksichtigen. In den folgenden Jahren entwickeln Böhnisch und Münchmeier (1990) ihr Konzept zu einer Pädagogik des Jugendraums weiter und im aktuellen
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Handbuch der offenen Kinder- und Jugendarbeit plädiert Böhnisch (2013) für eine sozialisationstheoretisch und sozialräumlich aktualisierte Pädagogik der offenen Milieubildung, die Jugendlichen Orte, Räume, personale sowie soziale Bezüge vermittelt, um damit angesichts einer entgrenzten und unsicheren Jugendphase ihre sozialintegrative Funktion zu erfüllen. Die Idee eines Raumbezugs wurde von anderen Autoren – allen voran Ulrich Deinet – aufgegriffen und zur sozialräumlichen Jugendarbeit weiterentwickelt (vgl. Deinet 2009; Deinet/Krisch 2013). Jugendarbeit wird hier beschrieben als ein „zentrale[r] ‚Ort‘ im Rahmen sozialräumlicher Zusammenhänge, in dem Kinder und Jugendliche aufwachsen. Diese entwickelt, entsprechend der auf das Lebensumfeld bezogenen Bedürfnisse und Interessen der Zielgruppen, adäquate Angebote. Offene Kinder- und Jugendarbeit versucht zusätzlich, Kinder und Jugendliche bei der Erschließung und Aneignung öffentlicher Räume im Gemeinwesen zu fördern und zu unterstützen.“ (Deinet/Krisch 2013, S. 316). Das Präfix ‚sozial-‘ weist hierbei darauf hin, dass Sozialräume nicht nur aus einer materiell-physischen Perspektive betrachtet werden, sondern im Anschluss an Martina Löw (2001, S. 224) als „eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten.“ Sozialräume konstituieren sich demnach durch ein Wechselspiel vorherrschender (materieller) Raumordnungen und Konstruktionsleistungen in Form von sozialen Praktiken (vgl. Kessl/Reutlinger 2010, S. 3). Sozialräumliche Jugenarbeit soll sich demnach nicht nur mit der materiellen Struktur und dem Bereitstellen von Räumen befassen, sondern auch danach fragen, welche lebensweltliche Qualität diese Räume für die Jugendlichen besitzen, wie diese sich unterschiedliche Räume erschließen und welche Funktion(-en) offene Jugendarbeit dabei erfüllt. Um diesen Fragen nachzugehen, wird auf das pädagogisch-psychologische Aneignungskonzept zurückgegriffen, das in der kulturhistorischen Schule der sowjetischen Entwicklungspsychologie entstanden ist und in der kritischen Psychologie vor allem von Klaus Holzkamp weiterentwickelt wurde. Aneignung wird hier verstanden als Begriff, der unter anderem für die eigentätige Auseinandersetzung mit der Umwelt, der Inszenierung und Verortung im öffentlichen Raum, der Veränderung vorgegebener Arrangements sowie der Erweiterung von Kompetenzen, Fähigkeiten und Denkmustern steht (vgl. Deinet 2004, S. 179). Raumaneignung vollzieht sich sowohl durch die Erschließung bestehender vorstrukturierter Räume (Syntheseleistungen) als auch durch die Schaffung neuer Räume (Spacing) durch Positionierung, Errichten und Bauen (vgl. Löw 2001, S. 158; Deinet/Krisch 2013, S. 316; ausführlichere Informationen zum Aneignungskonzept finden sich im Beitrag von Thomas Meyer zur Offenen Arbeit mit Kindern in diesem Buch).
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Aus der Anknüpfung an die theoretischen Bezugspunkte ‚Sozialraum‘ und ‚Aneignung‘ ergeben sich im Ansatz der sozialräumlichen Jugendarbeit Schlussfolgerungen in mehrere Richtungen: • Deinet (2004, S. 180) sieht im Aneignungskonzept als tätigkeitstheoretischem Entwicklungskonzept eine Möglichkeit, um die Zusammenhänge zwischen strukturellen Gegebenheiten und der Entwicklung von Jugendlichen nachvollziehen zu können. Die Erforschung von sozialräumlichen Kontexten muss sich dabei immer sowohl auf jugendliche Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster als auch auf gesellschaftliche und sozialräumlich vermittelte Strukturen beziehen (vgl. ebd., S. 178). Diese Sozialraumanalysen (z. B. durch Stadtteilbegehungen, Nadelmethode) stellen nach Deinet und Krisch (2013, S. 317) die methodische Grundlage eines Ansatzes dar, der „aus den Bedingungen der Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen inhaltliche Konsequenzen für die Jugendarbeit formuliert.“ • Hinsichtlich dieser Konsequenzen in der offenen Arbeit mit jungen Menschen lassen sich unterschiedliche Ebenen unterscheiden, auf denen Jugendarbeit ihren AdressatInnen neue Erlebnis- und Erfahrungsräume eröffnen kann: Als Offener Raum ermöglicht sie selbsttätige Aneignung, über Beziehungsarbeit wird sie Teil der jugendlichen Sozialräume, über die Arbeit mit Peergroups vermittelt sie Zugehörigkeit und durch die von ihr zur Verfügung gestellten (räumlichen und personellen) Ressourcen kann sie den Jugendlichen als Bewältigungsraum dienen (vgl. ebd., S. 319 ff.). Zusätzlich kann Jugendarbeit Aneignungsprozesse von Jugendlichen im öffentlichen Raum durch Netzwerkbildung und Kooperationen fördern. • Aus einer sozialräumlichen Perspektive lässt sich zudem ein politisches Engagement der Jugendarbeit begründen: Dieses ist immer dann erforderlich, wenn Aneignung im (halb-) öffentlichen Raum strukturell verhindert wird oder bestimmte Gruppen von Aneignungsmöglichkeiten ausgegrenzt werden (vgl. Winkler 2004, S. 86). Dass dies der Fall sein kann, begründet Frey (2004, S. 224) in Anlehnung an Bourdieus Theorie der Kapitalien. Die Möglichkeit, sich Raum anzueignen und zu dominieren, sei demnach in großem Maße von der Ausstattung sowie der Verteilung der Kapitalsorten (ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital) abhängig. Dabei könne die Relevanz der jeweiligen Kapitalsorte durch die Spielregeln im öffentlichen Raum vorbestimmt sein. Daraus ergibt sich für Jugendarbeit die Aufgabe, als politischer Akteur den Interessen und Anliegen von benachteiligten Jugendlichen eine Stimme zu geben.
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Sozialräumliche Jugendarbeit erscheint aus dieser Perspektive als umfassendes Theoriekonzept, dass sowohl theoretische Grundlegungen (Sozialraum und Aneignung) vornimmt als auch daraus Vorstellungen einer ‚guten‘ Kinder- und Jugendarbeit ableitet (Forschung, offene Arbeit mit Jugendlichen, politisches Engagement). Jugendarbeit erscheint hier als „Raum non-formaler Bildung und als Ort informellen Lernens“ (Deinet/Krisch 2013, S. 39), der jugendliches Aneignungsverhalten ermöglicht und konstruktiv begleitet. Der Verweis auf non-formale Bildungsprozesse liefert die Überleitung zum zweiten hier vor gestellten Ansatz, in dem der Bildungsbegriff eine noch zentralere Rolle einnimmt: der Entwurf einer subjektorientierten Jugendarbeit.
5.2 Subjektorientierte Jugendarbeit Der Entwurf einer subjektorientierten Jugendarbeit geht auf das 1997 erschienene Buch „Subjektorientierte Jugendarbeit – Eine Einführung in die Grundlagen emanzipatorischer Jugendpädagogik“ von Albert Scherr zurück und stellt einerseits eine Aktualisierung emanzipatorischer Theorieentwürfe, andererseits eine Reaktion auf die skizzierten Ansätze einer raumbezogenen Jugendarbeit dar. Dabei grenzt sich der Ansatz in doppelter Weise von den bestehenden Entwürfen ab: zum einen wird in bisherigen Theorien ein verkürztes Verständnis menschlicher Subjektwerdung diagnostiziert (Scherr 1997, S. 20), zum anderen wird in der Funktionsbestimmung von Jugendarbeit als Hilfe zur Lebensbewältigung (Böhnisch/Münchmeier 1992, S. 41 und als sozialintegrativ (Böhnisch 2013) eine Entwicklung gesehen, in der Jugendarbeit zunehmend sozialpolitisch zur Bewältigung von Problemlagen in Dienst genommen wird (vgl. Scherr 2013, S. 300). Dann sei jedoch auch keine eigenständige Theorie der Jugendarbeit mehr notwendig, sondern diese könne sich als ein Feld der Sozialen Arbeit an deren bestehenden Theorieangeboten orientieren. Scherr (1997, S. 11; 2013, S. 289) betont allerdings an mehreren Stellen, sein Ansatz stehe nicht im Gegensatz zu anderen theoretischen Entwürfen – insbesondere dem der sozialräumlichen Jugendarbeit –, sondern nehme lediglich andere Akzentuierungen vor. Diese Akzentuierungen werden in dem von Scherr (2013, S. 297, Hervorhebung SR) vorgeschlagenen Paradigma für die Jugendarbeit deutlich, das deren gemeinsamen Kern betonen soll: „Der eigenständige Auftrag von Jugendarbeit wird dagegen darin gesehen, Heranwachsende zu einer eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Lebensführung sowie dazu zu befähigen, zugleich das Recht Anderer anzuerkennen, ihr Leben eigenverantwortlich und eigensinnig zu gestalten. Es geht also zentral um die Stärkung autonomer Urteils-,
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Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in Auseinandersetzung mit inneren Blockaden und äußeren Einschränkungen.“ Als zentrale Elemente subjektorientierter Jugendarbeit benennt Scherr (ebd., S. 301 f.) Subjektivität als normativ-kritischen Grundbegriff, der von der Möglichkeit der Selbstbestimmungsfähigkeit und des Selbstbewusstseins des Menschen ausgeht und nach etwaigen Begrenzungen und Beschädigungen dieser Fähigkeiten fragt, sowie Bildung, verstanden als „die allseitige und umfassende Entwicklung der individuellen Fähigkeiten, des Selbstgefühls, des Selbstbewusstseins und der selbstbestimmten Handlungsfähigkeit.“ Subjekt-Bildung ist demnach das Ziel der Jugendarbeit und diese vollzieht sich in den Dimensionen Subjekt-Werdung, Selbstbewusstsein sowie Selbstbestimmung. In Bezug auf die Jugendphase bedeutet dies, Jugendlichen Such- und Findungsprozesse und Experimentieren zu ermöglichen und diese in dem Erproben von für sie angemessenen Lebensentwürfen zu unterstützen. In dieser Funktionsbeschreibung Offener Kinder- und Jugendarbeit werden Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zu den emanzipatorischen Ansätzen der 1960er und 1970er Jahre deutlich. In beiden Fällen zielt Kinder- und Jugendarbeit auf eine Erweiterung der gesellschaftlichen Handlungsspielräume Jugendlicher und stellt die (Selbst-)Bildung des Individuums ins Zentrum ihres Handelns. Während in den frühen Ansätzen sich diese Subjektbildung jedoch mit einer Kritik an den bestehenden Gesellschaftsverhältnissen und dem Ziel verband, Jugendliche zur Mitwirkung an gesellschaftlichen Veränderungen zu befähigen, fokussiert Scherr stärker auf die Jugendlichen selbst, deren unterschiedliche Lebenslagen sowie auf die bestehenden Beschränkungen von Selbstbestimmungsfähigkeit und Subjektwerdung. Diese (graduellen) Unterschiede erklären sich aus den jeweilig präsenten Gesellschaftsdiagnosen, auf die sich die Theorieentwürfe beziehen. Während den früheren Ansätzen noch der Bezug zu einer (primär) repressiv strukturierten Gesellschaft sowie die Emanzipation von diesen Zwängen und Normen inhärent war, sind diese Zwänge und die ihnen unterliegenden Machtstrukturen in der Gegenwartsgesellschaft widersprüchlich geworden: Jugendliche sehen sich in ihrem Alltag keinen offensichtlich repressiven Normen mehr ausgesetzt (z. B. im Bereich der Musik- und Kleidungsstile) und weiterhin bestehende Zwänge (z. B. in den Bereichen Erwerbsarbeit und Qualifikation) verschränken sich mit ‚neuen‘ Gestaltungsmöglichkeiten und -aufforderungen (z. B. im Bereich des Konsums und des Umgangs mit sozialen Medien), weshalb Scherr anknüpfend an Zygmunt Bauman von einer Gleichzeitigkeit von ‚Verführung‘ und ‚Repression‘ spricht (vgl. Scherr 2013, S. 300; Bauman 1992, S. 226 ff.). Ähnlich ambivalent äußert sich Scherr (2013, S. 305) zur Ausrichtung der Jugendarbeit in Bezug auf die
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moderne kapitalistische Arbeitsgesellschaft: Jugendarbeit dürfe die aus der vorherrschenden gesellschaftlichen Logik entstehenden Normen nicht einfach übernehmen, müsse aber deren lebensbestimmende Wirkung auf Jugendliche anerkennen, um zu einer langfristig gelingenderen Lebensführung ihrer AdressatInnen beizutragen. Um sich diesem Ziel anzunähern, beschreibt Scherr (2013, S. 307) ausgehend vom pädagogischen Widerspruch zwischen Selbst- und Fremdbestimmung fünf Handlungsprinzipien einer subjektorientierten Jugendarbeit: Diese sei erstens eine dialogische Praxis, welche zweitens mit Jugendlichen gemeinsam entwickelt werden sollte, drittens von einem mäeutischen Selbstverständnis ausgeht, sich deshalb viertens in einem Balanceakt zwischen Respekt vor autonomer Lebenspraxis und dem Erkennen und in Fragestellen destruktiver Lebensformen befindet und fünftens das Prinzip der politischen Einmischung über den pädagogischen Binnenraum hinaus auf die Lebensbedingungen Jugendlicher ausweitet. Im letztgenannten Handlungsprinzip zeigen sich Parallelen zum sozialräumlichen Ansatz. Darüber hinaus kennzeichnet beide Entwürfe, dass sie sich nicht als ‚Theorien der Kinder- und Jugendarbeit‘ verstehen, sondern vielmehr als grundlegendes „Paradigma“ (Scherr 2013, S. 298) bzw. als „Ansatz“ und „spezifischer Weg der Konzeptentwicklung“ (Deinet/Krisch 2013, S. 316 f.). Darin kommt auch zum Ausdruck, dass die aktuellen Ansätze keinen Alleinvertretungsanspruch für eine theoretische Bestimmung der Kinder- und Jugendarbeit erheben, sondern sich vielmehr wechselseitig ergänzen und irritieren.
6 Ausblick „Fragten die Protagonisten der außerschulischen Jugendarbeit – K. Mollenhauer, C.W. Müller, H. Kentler und H. Giesecke – zu Beginn der 60er Jahre noch offensiv ‚Was ist Jugendarbeit?‘ und L. Böhnisch und R. Münchmeier Mitte der 80er Jahre ‚Wozu Jugendarbeit?‘, so scheint im Zuge fiskalpolitisch motivierter Überlegungen seit Mitte der 90er Jahre ‚Warum überhaupt noch Jugendarbeit?‘ zur alles entscheidenden Frage zu avancieren.“ (Scherr/Thole 1998, S. 11)
Der eingangs erwähnte Zusammenhang zwischen (gesamt-)gesellschaftlichen Prozessen und theoretischen Entwürfen zur Jugendarbeit zeigt sich deutlich in der vorliegend geschilderten Entwicklung: Der Entwurf einer emanzipatorischen Jugendarbeit beispielsweise reagierte auf ein zunehmend unübersichtliches Freizeitangebot für Jugendliche sowie auf das Aufkommen jugendkultureller Strömungen und versuchte angesichts dessen, einen gemeinsamen
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emanzipatorischen Kern der Jugendarbeit zu beschreiben. Die frühen sozialräumlichen Entwürfe der 1980er Jahre setzten sich mit dem Brüchigwerden der Hoffnungen früherer Ansätze angesichts einer individualisierten Moderne auseinander und betonten stattdessen die raumbezogene Funktion der Jugendarbeit. Der subjektbezogene Ansatz Scherrs dagegen insistiert – möglicherweise auch angesichts der oben genannten fiskalpolitischen Einschränkungen – auf die Eigenständigkeit der Jugendarbeit gegenüber einer ungerechtfertigten sozialpolitischen Indienstnahme. Dies zeigt, dass es nicht die ‚richtige‘ Theorie der Jugendarbeit gibt, sondern vielmehr eine Vielzahl sich ergänzender, teils überlappender und teils in Opposition stehender Entwürfe, die sich nach- und nebeneinander entwickelt haben und versuchen, eine Gegenstands- und Funktionsbestimmung der Kinderund Jugendarbeit vorzunehmen. Die Eigenschaft der meisten dieser Entwürfe, sich selbst den Status einer (Groß-)Theorie abzusprechen (vgl. Rössner 1967, S. 51; Scherr 2013, S. 298), verdeutlicht die zeitliche Gebundenheit sowie die inhaltliche Vielfalt in der Theorieentwicklung. Diese Pluralität liegt auch darin begründet, dass „Versuchen der Theoretisierung von Jugendarbeit immer auch normative Aussagen über die Aufgaben einer sozialpädagogischen Arbeit mit Jugendlichen zugrunde liegen, über die mit den Verfahren wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung aus prinzipiellen Gründen kein Konsens herbeigeführt werden kann“ (Scherr/Thole 1998, S. 27 f.). Gleichwohl verbindet sich damit für die Theorieentwicklung die andauernde Aufgabe, die bestehenden Entwürfe zu systematisieren, zu vergleichen und gegebenenfalls zu integrieren. Im vorliegenden Beitrag kann dies jedoch nur in Ansätzen gelingen. Viele Querverbindungen zwischen den gewählten Ansätzen werden nicht genannt oder nur angedeutet. Beispielsweise beziehen sich Böhnisch und Münchmeier (1992, S. 93) in ihrer Ausarbeitung einer raumbezogenen Perspektive auf Helmut Lessing (einem der antikapitalistischen Jugendarbeit zugerechneten Autor) und betonen, dass dieser „diese Perspektive für die Jugendarbeit eröffnet hat“. Auch die Bezüge zwischen der empirischen Jugendarbeitsforschung und der Theoriebildung werden weitestgehend ausgeklammert, gleichwohl empirische Untersuchungen aktuell eine hohe Bedeutung in der Beschreibung des Arbeitsfelds einnehmen (vgl. Pothmann/Schmidt 2013). Potenziale für einen stärkeren Einbezug empirischer Erkenntnisse in die Theorieentwicklung zeigen sich beispielsweise in der bisher oftmals fehlenden theoretischen Reflexion der Kategorie „Kinder“ in den bestehenden Theorieentwürfen, obwohl diese, wie mehrere Studien zeigen, inzwischen eine Hauptzielgruppe der Kinder- und Jugendarbeit darstellen (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
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2017, S. 383). Überhaupt scheint die Kategorie „Kind“ im Vergleich zur Begrifflichkeit „Jugendliche“ deutlich weniger Verwendung zu finden, und dies obwohl bewusst von Kinder- und Jugendarbeit gesprochen wird. Dies lässt sich an zwei Beiträgen zeigen, die sich in der aktuellen Ausgabe des Handbuchs für Offene Kinder- und Jugendarbeit dem Arbeitsfeld theoretisch annähern (Böhnisch 2013; Scherr 2013): Klammert man die Forumulierungen „Offene Kinder- und Jugendarbeit“ sowie „Kinder- und Jugendhilfe“ aus, tauchen die Begriffe „Kind“/ „Kinder“/„kindlich“ in beiden Artikeln einmal auf, während „Jugendlicher“/ „Jugendliche“/„jugendlich“ zusammengenommen achtundsechszigmal verwendet werden (teilweise in Kombination mit anderen Begriffen, z. B. ‚Problemjugendliche‘). Die stärkste Beschränkung des vorliegenden Beitrags besteht jedoch hinsichtlich der Selektivität in der Auswahl der dargestellten Theorieansätze, die wiederum auf einem theoretischen Vorverständnis des Autors basiert. Lebensweltorientierte Überlegungen zur Jugendarbeit bleiben ebenso unberücksichtigt wie der in Ansätzen vorliegende Entwurf, die bestehenden Perspektiven in einer mehrdimensionalen Theorie der Jugendarbeit zu integrieren (vgl. Krafeld 1998; Müller 1998). Diese unterschiedlichen Einschränkungen sind dem Doppelanspruch einer sowohl historischen als auch systematischen Darstellung geschuldet, die neben einer zeitlichen Einordnung auch einen inhaltlichen Einblick in die argumentative Logik der gewählten Ansätze geben möchte. Der in den vorherigen Kapiteln dargelegten Beschreibung der Theorieentwicklung folgend scheinen es aktuell immer noch die Ansätze einer subjektorientierten sowie sozialräumlich-aneignungstheoretischen Jugendarbeit zu sein, die ein eigenständiges Profil aufweisen und der Kinder- und Jugendarbeit ein umfassendes theoretisches Rahmenkonstrukt geben können. Beide scheinen dabei in verstärktem Maße als ein ‚Paradigma‘ aufzutreten, das zwar aus seinen theoretischen Grundannahmen heraus methodische Anweisungen ableitet, aber auch handlungsleitend für andere Ansätze (z. B. Cliquenarbeit) sein kann. Eine zentrale Frage in der weiteren Theorieentwicklung wird es sein, ob und inwieweit Kinder- und Jugendarbeit sich als Handlungsfeld versteht, dass sich abweichend von (Groß-)Theorien der Sozialen Arbeit als eigenständiges Arbeitsfeld ausweisen muss, wie dies Scherr in der Unterscheidung von Subjektbildung (Jugendarbeit) und Problembewältigung bzw. Zweitsicherung im Wohlfahrtsstaat (Soziale Arbeit) andeutet, oder ob sich die vielfältigen Theorieangebote der Sozialen Arbeit (vgl. Sandermann/Neumann 2018) als zunehmend anschlussfähig für die Offene Kinder- und Jugendarbeit erweisen.
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7 Übungsfragen a) Warum ist es sinnvoll, sich mit theoretischen Perspektiven auf Kinder- und Jugendarbeit zu befassen? b) Welche Phasen der Theorieentwicklung in der Kinder- und Jugendarbeit lassen sich voneinander unterscheiden und wodurch können diese charakterisiert werden? c) Welche Gemeinsamkeiten weisen die vier Versuche zur Theorie einer emanzipatorischen Jugendarbeit auf? Worin unterscheiden sie sich? d) Was sind die Kernpunkte des Theoriekonzepts der ‚subjektorientierten Jugendarbeit‘? e) Auf welche gesellschaftlichen Wandlungsprozesse hat die Theorie einer raumbezogenen Jugendarbeit reagiert? Was sind die theoretischen Bezugspunkte sozialräumlicher Jugendarbeit und welche Schlussfolgerungen werden daraus für die Praxis gezogen?
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Rechtsgrundlagen der Kinder- und Jugendarbeit Rainer Patjens
Zusammenfassung
Die Rechtsnormen im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) bilden die wesentliche Grundlage für das Tätigwerden öffentlicher und freier Träger der Jugendhilfe. In den §§ 11 ff. SGB VIII sind auch die Leistungen der Kinder- und Jugendarbeit enthalten, die im Kontext der Jugendhilfe grundsätzlich niederschwellige Hilfen darstellen. Der Gesetzgeber unterscheidet im Wesentlichen zwischen Jugendarbeit (§ 11), Jugendsozialarbeit (§ 13) und dem erzieherischen Kinder- und Jugendschutz (§ 14). Die Jugendverbandsarbeit ist in diesem Kontext nur eine bestimmte Form der Jugendarbeit. Eine klare Abgrenzung der Leistungsangebote ist in der Praxis teilweise nur schwer möglich. Kinder- und Jugendarbeit kann sowohl von öffentlichen als auch von freien Trägern der Jugendhilfe erbracht werden, wobei in den letzten Jahren sogar ein deutlicher Anstieg von Angeboten privatgewerblicher freier Träger zu verzeichnen ist.
1 Einleitung Im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) sind sowohl Leistungen als auch andere Aufgaben der Jugendhilfe geregelt (§ 2 SGB VIII). Während die Leistungen sowohl von freien als auch von öffentlichen Trägern der Jugendhilfe erbracht werden können, obliegt es den öffentlichen Trägern, die anderen R. Patjens (*) Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_3
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Aufgaben der Jugendhilfe zu erbringen (§ 3 SGB VIII). Zu den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe gehören gem. § 2 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII „Angebote der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit und des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes (§§ 11 bis 14)“. Im Leistungskatalog des SGB VIII stellen sie niederschwellige Hilfsangebote dar, die sich sowohl von den Adressaten als auch vom Inhalt der Leistungen gegenüber anderen Hilfen eher unbestimmt sind. Die Bedeutung dieser Leistungen wird im SGB VIII aber immer wieder an verschiedenen Stellen deutlich, z. B. wenn bestimmt wird, dass ein angemessener Anteil der für die Jugendhilfe bereitgestellten Mittel für die Jugendarbeit zu verwenden ist (§ 79 Abs. 2 S. 2 SGB VIII) oder bei der Förderung anerkannter freier Träger der Jugendhilfe auch Mittel für die Errichtung und Unterhaltung von Jugendfreizeit- und Jugendbildungsstätten eingeschlossen werden sollen (§ 74 Abs. 6 SGB VIII).
2 Recht auf Erziehung und Elternverantwortung Während § 1 Abs. 1 Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) bis 1990 als Ziel der Jugendhilfe die leibliche, seelische und gesellschaftliche Tüchtigkeit vorgab, orientiert sich das Ziel der Jugendhilfe mit Einführung des SGB VIII seit 1991 am Menschenbild des Grundgesetzes und ist daher auch der Maßstab für das elterliche Erziehungsrecht. Entsprechend ist § 1 Abs. 1 sowohl eine Generalklausel als auch eine Leitnorm, deren Geltung sich sowohl auf die öffentliche als auch auf die freie Jugendhilfe erstreckt (vgl. Deutscher Bundestag, BT-Drs. 11/5948, S. 46): § 1 Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe (1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere 1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, 2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen, 3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen, 4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.
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Die Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit orientiert sich dabei an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das bereits 1963 das Ziel darin sah, „sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln“ (BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 1968, Aktz. 1 BvL 20/63). Kinder und Jugendliche sind als Individuen mit eigener Entwicklung immer im Kontext der sozialen Gemeinschaft zu sehen, deren Bestandteil sie sind. Daher sind auch Fähigkeiten zu entwickeln, die innerhalb einer sozialen Gemeinschaft benötigt werden, um zu dieser Gemeinschaft beizutragen und deren Bestandteil sein zu können, z. B. die Fähigkeit emphatisch zu handeln oder Kompromisse eingehen zu können. Darüber hinaus verlangt die Eigenverantwortlichkeit die nötige Reife als auch die nötigen Fähigkeiten, zurechenbare Lebensentscheidungen treffen zu können. Das SGB VIII formuliert das Entwicklungs- und Erziehungsziel für den einzelnen jungen Menschen, wobei Kinder und Jugendliche nicht mehr als Objekte der elterlichen Erziehung betrachtet werden, sondern ein Recht auf die eigene (individuelle) Entwicklung erhalten. Diese „Subjekteigenschaft“ wird im SGB VIII insbesondere dadurch gestärkt, dass sich beispielsweise die Leistungen unmittelbar an die jungen Menschen richten (und nicht an die Eltern bzw. Inhaber der elterlichen Sorge) oder ihnen Beteiligungsrechte (z. B. §§ 8 Abs. 1, 36 Abs. 2 SGB VIII) verliehen werden. Trotz der Formulierung in Abs. 1 kann der einzelne junge Mensch (§ 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII) daraus jedoch keine Leistungsansprüche geltend machen, insoweit mangelt es an einem subjektiv-öffentlichen Recht. Konkrete Leistungsverpflichtungen können sich nur aus den einzelnen Leistungsnormen ergeben, da es § 1 SGB VIII an einer hinreichenden Konkretisierung des Leistungsinhalts mangelt (vgl. Deutscher Bundestag, BT-Drs. 11/5948, S. 47). Absatz 2 greift wortgleich Art. 6 Abs. GG auf, in dem sowohl die Elternautonomie als auch das staatliche Wächteramt statuiert sind (Abb. 1). Gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist die Erziehung und die Pflege des Kindes das natürliche Recht der Eltern, aber auch ihnen obliegende Pflicht. Aus diesem Elternrecht ergibt sich, dass die Eltern eine umfassende Verantwortung für das Leben und für die Entwicklung ihres Kindes tragen. Diese Formulierung macht aber auch deutlich, dass sowohl die öffentliche als auch die freie Jugendhilfe keinen eigenständigen Erziehungsauftrag hat. So soll Jugendhilfe (und damit auch die Kinder- und Jugendarbeit) dazu dienen, den Eltern Hilfen anzubieten, um ihren Erziehungsauftrag zu erfüllen. Hier fungiert Jugendhilfe als Elternhilfe und hat somit eine stärkende, unterstützende und ergänzende Funktion. Die Familie zu fördern und die Erziehungskraft der Eltern zu stärken, ist eine Verpflichtung des staatlichen
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Wächteramtes, die sich aus dem Art. 6 GG ergibt. Weitere Aufgaben des staatlichen Wächteramts sind über die Betätigung des Elternrechts zu wachen (Art. 6 Abs. 2. S. 2 GG) und gegebenenfalls bei Missbrauch des Elternrechts einzugreifen (Art. 6 Abs. 3 GG). Das Elternrecht ist also nicht grenzenlos und es kann nur soweit gehen, wie es dem Wohle des Kindes dient. Somit endet das Elternrecht an der Grenze der Kindeswohlgefährdung. Daher kann der Staat unter den Voraussetzungen der §§ 1666, 1666a BGB durch gerichtliche Maßnahmen in die elterliche Sorge eingreifen. Doch auch Eingriffe im Rahmen des staatlichen Wächteramtes haben Grenzen, die durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gesetzt werden. Demnach muss jeder staatliche Eingriff in das Elternrecht geeignet, erforderlich und angemessen sein. Dies bedeutet für die Kinder- und Jugendhilfe, dass die Hilfen grundsätzlich Vorrang vor einem Eingriff haben und somit die vorhandenen helfenden und unterstützenden Maßnahmen als erstes ausgeschöpft werden müssen. Gleichzeitig ergibt sich aus dem Spannungsverhältnis von Elternautonomie und staatlichem Wächteramt das Kernproblem der Kinderund Jugendhilfe, da nur im Falle einer Kindeswohlgefährdung eingegriffen werden darf und die Gefährdungseinschätzung in der Praxis häufig problematisch ist. Insoweit wird daher, insbesondere gegenüber dem Jugendamt, mitunter der Vorwurf erhoben, entweder vorschnell und übertrieben oder aber zu spät und zu schwach reagiert zu haben. Trotz teilweiser schwerwiegender Fälle, in denen das staatliche Wächteramt vom Jugendamt nicht hinreichend wahrgenommen wurde und es zu dramatischen Folgen kam, darf bei alledem nicht übersehen werden, dass in der überragenden Zahl von Fällen geeignete Hilfen professionell geleistet werden. § 11 Abs. 3 SGB VIII zählt verschiedene Bereiche auf, die zur Verwirklichung und Erreichung des Erziehungsziels nach Absatz 1 beitragen. Diese sind jedoch nicht abschließend („insbesondere“) und beinhalten eine hohe konzeptionelle Bandbreite, die sich sowohl auf Reaktionen auf soziale Problemlagen als auch die aktive Gestaltung von Lebensbedingungen erstreckt (Vgl. Meysen/Münder, in: FK-SGB VIII, § 1 Rn. 19). Dabei richtet sich die Jugendhilfe sowohl an junge Menschen bis zum 27. Lebensjahr, ebenso aber auch an Eltern bzw. Personensorgeberechtigte. Als konkrete Ausprägungen des Erziehungsziels, Kinder und Jugendliche in der Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern, werden in Absatz 3 Nr. 1 die Förderung der sozialen und individuellen Entwicklung und die Vermeidung sowie der Abbau von Benachteiligungen genannt. In Hinblick darauf, dass Jugendhilfe grundsätzlich immer Familienhilfe ist, bedeutet dies nach Absatz 3 Nr. 2 auch, dass daher die Erziehungsberechtigen in ihrem konkreten Erziehungsverhalten zu unterstützen sind. Das staatliche Wächteramt findet wiederum Ausdruck in Absatz 3 Nr. 3, der
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Art. 6 Abs. 2 GG Erziehungsprimat der Eltern (Elternautonomie) Inhalt: Erziehung und Pflege: Gewährleistung des Kindeswohls Ziel: § 1 SGB VIII: Förderung der Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschasfähigen Persönlichkeit Ausgestaltet im 4.Buch des BGB (Familienrecht): 1. Vermögenssorge, § 1626 BGB 2. Personensorge, § 1626 BGB a. Pflege, § 1632 II BGB b. Erziehung c. Aufsicht d. Aufenthaltsbesmmung e. Herausgabeanspruch f. Umgangsbesmmung 3. Vertretung § 1629 BGB Problem: Wo enden Elternrechte? Zwangsläufig müssen sie dort enden, wo sie die Rechte des Kindes verletzen. aber: kein Anspruch auf opmale Erziehung bzw. opmale Eltern! Vgl. OLG Frankfurt/Main, JAmt 2003, S. 39 f.
Staatliches Wächteramt Inhalt: Staat als „Ausfallbürge“, zum Eingriff legimiert und verpflichtet, wenn Eltern versagen Ziel: Missbrauch der elterlichen Sorge verhindern; nicht: opmale Erziehung gewährleisten Grenzen des Elternprimats: §§ 1666, 1666a BGB 1. Kindeswohlgefährdung 2. Eltern sind nicht gewillt oder in der Lage die Gefahr abzuwenden 3. Rechtsfolge: Familiengericht kann die erforderlichen Maßnahmen ergreifen ABER: Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität, § 1666a BGB Staat muss prävenve Angebote machen, darf sich nicht auf ein Eingreifen im Noall beschränken. Unterhalb der Eingriffsschwelle des § 1666 BGB bedarf es aber der Mitwirkung der Personensorgeberechgten! Akve Schutzpflicht des JA seit dem 01.10.2005 in § 8a SGB VIII normiert. Recht und Pflicht des Staates einzugreifen mit entsprechenden Konsequenzen: a. Strafrechtliche Garantenstellung des JA-Mitarbeiters (Beschützergarant) b. (Amts-) Haung Zuständigkeit liegt beim FamG, JA hat keine Eingriffsbefugnis. Ausnahme: Vorliegen der Voraussetzungen für eine Inobhutnhame gem. § 42 SGB VIII (aber auch hier muss ggf. das FamG eingeschaltet werden).
Abb. 1 Übersicht Elternautonomie und staatliches Wächteramt. (Eigene Darstellung)
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die Jugendhilfe zum Kinderschutz verpflichtet. Diese Verpflichtung bindet sowohl öffentliche und freie Träger im Hinblick auf den Kinderschutz, d. h. alle Träger, die Leistungen und andere Aufgaben der Jugendhilfe erbringen, sind grundsätzlich verpflichtet Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen, unabhängig vom Bestehen einer Kinderschutzvereinbarung nach § 8a Abs. 4 SGB VIII (ausführlich dazu Kap. 9 – Rechtliche Rahmenbedingungen in der KJA). Darüber hinaus sind die freien Träger aber nicht zum Tätigwerden in konkreten Fällen verpflichtet, sodass der Abschluss einer entsprechenden Kinderschutzvereinbarung trotzdem erforderlich ist (vgl. Bringewat, in: LPK-SGB VIII, § 8a Rn. 96). In der Gesamtheit soll das SGB VIII nach Absatz 3 Nr. 4 darüber hinaus auch dazu beitragen, ein positives Lebensumfeld für Familien zu schaffen und die Lebensbedingungen von Familien zu verbessern. Dies bedeutet vor allem die Beauftragung und Legimitation zur jugend- und familienpolitischen Lobbyarbeit z. B. durch die Tätigkeit des Jugendhilfeausschusses, ebenso aber auch durch andere Formen der politischen Partizipation und Einflussnahme.
3 Jugendarbeit Gesetzlich ist die Jugendarbeit im § 11 SGB VIII verankert und bildet eine „Generalklausel für den weit gefassten Bereich der Jugendarbeit“ (Struck, in: Wiesner, SGB VIII, § 11 Rn. 1): § 11 Jugendarbeit (1) Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen. (2) Jugendarbeit wird angeboten von Verbänden, Gruppen und Initiativen der Jugend, von anderen Trägern der Jugendarbeit und den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe. Sie umfasst für Mitglieder bestimmte Angebote, die offene Jugendarbeit und gemeinwesenorientierte Angebote. (3) Zu den Schwerpunkten der Jugendarbeit gehören: 1. außerschulische Jugendbildung mit allgemeiner, politischer, sozialer, gesundheitlicher, kultureller, naturkundlicher und technischer Bildung, 2. Jugendarbeit in Sport, Spiel und Geselligkeit, 3. arbeitswelt-, schul- und familienbezogene Jugendarbeit, 4. internationale Jugendarbeit, 5. Kinder- und Jugenderholung, 6. Jugendberatung. (4) Angebote der Jugendarbeit können auch Personen, die das 27. Lebensjahr vollendet haben, in angemessenem Umfang einbeziehen.
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Adressaten der Jugendarbeit sind „junge Menschen“. Eine Legaldefinition findet sich in § 7 Abs. Nr. 4 SGB VIII: Demnach handelt es sich um Personen, die noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet haben. Aber selbst über das 27. Lebensjahr hinaus können Personen gem. § 11 Abs. 4 SGB VIII trotzdem noch in die Angebote der Jugendarbeit einbezogen werden. Innerhalb des SGB VIII ist dies die weitestmögliche Altersregelung, entsprechend richtet sich das Angebot der Kinder- und Jugendhilfe an einen großen Adressatenkreis. Inhalt der Jugendarbeit ist die allgemeine Förderung der Entwicklung von jungen Menschen. Neben Angeboten für die Entwicklung der motorischen oder kognitiven Fähigkeiten kann ebenso die soziale, gesundheitliche, geistige oder seelische Entwicklung durch die Angebote gefördert werden. Neben dem großen Adressatenkreis ist also auch der Inhalt der Leistung weitgefasst und ist daher ein niederschwelliges Angebot der Jugendhilfe. Dabei hat die Jugendarbeit lediglich an den Interessen junger Menschen anzuknüpfen und sie an der Ausgestaltung zu beteiligen. Darüber hinaus enthält § 11 Abs. 1 SGB VIII bereits ein wesentliches Merkmal der Jugendarbeit, nämlich die Verpflichtung zur Partizipation von jungen Menschen mit dem Ziel, sie zur gesellschaftlichen Mitverantwortung und sozialem Engagement zu befähigen. Dies knüpft inhaltlich auch an den allgemeinen Zielen der Kinder und Jugendhilfe gemäß § 1 Abs. 1 SGB VIII an und dem Recht junger Menschen auf die Förderung der eigenen Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Als Entwicklungsbereich nennt § 1 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII beispielhaft („insbesondere“) die „individuelle und soziale Entwicklung“ sowie den Abbau von Benachteiligungen. Zu diesem Zwecke soll die Jugendarbeit ebenso Eltern beraten und in der Wahrnehmung der Erziehungsverantwortung unterstützen, den Kinderschutz aktiv wahrnehmen und dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien zu schaffen. Damit nimmt die Jugendarbeit verschiedene Funktionen wahr: • Emanzipationsfunktion: Jugendarbeit als Feld des sozialen Lernens, in dem Jugendliche Fähigkeiten zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erwerben (vgl. Struck, in: Wiesner, SGB VIII, § 11 Rn. 6). • Kompensationsfunktion: Schaffung von Chancengleichheit durch Abbau von individuellen und gesellschaftlichen Benachteiligungen (vgl. Struck, ebd.). • Schutzfunktion: Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl, sowohl durch aktive Übernahme des Schutzauftrags als auch durch präventive Angebote.
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• Gemeinwesenbildende Funktion: Hineinwirken der Jugendarbeit in das Gemeinwesen durch Angebote für verschiedene Adressaten (Schaffung positiver Lebensbedingungen, Förderung gesellschaftliche Mitverantwortung). • Erziehungsunterstützende Funktion: Unterstützung der Sorgeberechtigten durch eine grundsätzliche Beachtung der Grundrichtung der Erziehung (vgl. § 9 SGB VIII) sowie der Erziehungsziele aus § 1 Abs. 1 SGB VIII (Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit). Diese Angebote zur Förderung der Entwicklung können von den einzelnen Adressaten jedoch nicht im Klageweg geltend gemacht werden, d. h. Jugendliche haben beispielsweise keinen Anspruch darauf, dass in ihrer Nähe ein Jugendzentrum eröffnet wird. Insofern enthält § 11 Abs. 1 SGB VIII kein subjektiv-öffentliches Recht, das den einzelnen Adressaten in die Lage versetzt, etwas auf dem Rechtsweg geltend zu machen. Vielmehr handelt es sich lediglich um eine objektive Verpflichtung des öffentlichen Trägers der Jugendhilfe, Angebote der Jugendarbeit zu schaffen (h.M., vgl. z. B. Schruth, in: Schlegel/ Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 11 SGB VIII, Rn. 36; Kunkel/ Kepert, in: LPK-SGB VIII, § 11 Rn. 2 ff.; Fischer in: Schellhorn, SGB VIII/ KJHG, § 11 SGB VIII Rn. 11). Allerdings handelt es sich bei § 11 Abs. 1 SGB VIII um keine freiwillige Aufgabe der Leistungsträger, sondern vielmehr um eine bindende Verpflichtung, eine angemessene Grundversorgung zu gewährleisten. Wird diese Verpflichtung nicht wahrgenommen, kann dies jedoch nur im Rahmen einer Rechtsaufsichtsbeschwerde eingefordert werden. Über die Rechtsaufsichtsbeschwerde entscheiden die zuständigen Behörden nach pflichtgemäßem Ermessen, das Ergebnis ist dem Bürger schriftlich mitzuteilen (vgl. Patjens/ Patjens 2018, Rn. 400 f.). Um Kinder- und Jugendarbeit dabei bedarfsdeckend anbieten zu können, sind angemessene Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen, um der Gesamtverantwortung zur Leistungserbringung (§ 79 Abs. 2 SGB VIII) gerecht werden zu können. Dies bezieht sich jedoch auf den gesamten Jugendhilfeetat, der je nach Finanzvolumen einen angemessenen Anteil für die Jugendarbeit ausweisen muss (vgl. Kunkel/Kepert, in: LPK-SGB VIII, § 79 Rn. 26). Verfassungsrechtlich ist es jedoch problematisch, den Kommunen einen bestimmten Anteil vorzuschreiben. Darüber hinaus würden die örtlichen Verhältnisse zu wenig Beachtung finden. Daher hat § 79 Abs. 2 SGB VIII lediglich Hinweischarakter, ohne jedoch einen Rechtsanspruch auf konkrete Haushaltsmittel zu normieren.
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Darüber hinaus wird die Jugendarbeit von einer Vielzahl von verschiedenen Trägern und Einrichtungen erbracht. Gerade für die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit ist die Träger- und Methodenvielfalt (§ 3 Abs. 1 SGB VIII) sowohl charakteristisch als auch notwendig. Da die Jugendarbeit an den Interessen der jungen Menschen anknüpfen soll, ist es umso wichtiger, durch ein weitgefächertes Angebot dafür zu sorgen, eine Vielzahl von Jugendlichen zu erreichen bzw. ein attraktives Angebot machen zu können. So nennt Abs. 2 Verbände, Gruppen und Initiativen der Jugend, andere Träger der Jugendarbeit und Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die sowohl Angebote für Mitglieder, ebenso aber auch offene und gemeinwesenorientierte Angebote machen. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten gehören nach Abs. 4 beispielsweise die außerschulische Bildung, arbeits- und schulbezogene Jugendarbeit, internationale Jugendarbeit oder die Kinder- und Jugenderholung. Die in Abs. 3 genannten Bereiche sind jedoch nicht abschließend – Jugendarbeit kann darüber hinaus auch in anderen Bereichen angeboten werden. Um die mit der Jugendarbeit verbundenen Kosten abzudecken, eröffnet § 90 Abs 1 SGB VIII die Möglichkeit, für die Inanspruchnahme Kostenbeiträge zu verlangen. Während bei mehrtätigen Maßnahmen (z. B. Jugendfreizeiten) oder besonderen Einzelveranstaltungen häufig Teilnahmebeiträge erhoben werden, werden im klassischen offenen Betrieb jedoch regelmäßig keine Kostenbeiträge für den Besuch der Einrichtung geltend gemacht. Gemäß § 90 Abs. 2 SGB VIII kann von der Kostenbeteiligung abgesehen werden, wenn dies den Kindern und Jugendlichen bzw. deren Eltern nicht zuzumuten ist oder dies für die Entwicklung junger Menschen erforderlich ist. Gerade weil die Jugendarbeit alle Kinder- und Jugendliche unabhängig vom Einkommen und Vermögen erreichen und Angebote für alle schaffen will, wäre eine Kostenbeteiligung in diesem Rahmen auch nicht mit den Grundsätzen der Offenen Kinderund Jugendarbeit zu vereinbaren.
4 Jugendverbände Bei der Jugendverbandsarbeit handelt es sich um keine besondere Form der Jugendarbeit, vielmehr wird von den Jugendverbänden und Jugendgruppen gem. § 12 Abs. 2 SGB VIII Jugendarbeit angeboten: § 12 Förderung der Jugendverbände (1) Die eigenverantwortliche Tätigkeit der Jugendverbände und Jugendgruppen ist unter Wahrung ihres satzungsgemäßen Eigenlebens nach Maßgabe des § 74 zu fördern.
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R. Patjens (2) In Jugendverbänden und Jugendgruppen wird Jugendarbeit von jungen Menschen selbst organisiert, gemeinschaftlich gestaltet und mitverantwortet. Ihre Arbeit ist auf Dauer angelegt und in der Regel auf die eigenen Mitglieder ausgerichtet, sie kann sich aber auch an junge Menschen wenden, die nicht Mitglieder sind. Durch Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse werden Anliegen und Interessen junger Menschen zum Ausdruck gebracht und vertreten.
Bei Jugendgruppen handelt es sich gegenüber Jugendverbänden um kleinere Zusammenschlüsse von Jugendlichen im örtlichen Bereich, die nicht einer übergeordneten Organisation angeschlossen sind (vgl. Kunkel/Kepert, in: LPK-SGB VIII, § 12 Rn. 7). Eine klare Unterscheidung zwischen Jugendgruppe und Jugendverband kann aber im Einzelfall trotzdem schwierig sein, da ca. 1/3 der Jugendverbände weniger als 50 Mitglieder haben (vgl. DJI Jugendverbandserhebung 2009, S. 22). In der Praxis ist die Unterscheidung jedoch nicht relevant, da sowohl Jugendgruppen als auch Jugendverbände sich von anderen Trägern der Kinderund Jugendarbeit gleichermaßen unterscheiden. So nennt § 12 Abs. 2 SGB VIII insbesondere das hohe Maß an Partizipation, das den TeilnehmerInnen angeboten wird und über die in § 11 SGB VIII geforderte Partizipation hinausgeht. Während die Jugendarbeit gem. § 11 Abs. 1 SGB VIII allgemein dadurch gekennzeichnet ist, dass die jungen Menschen bei den Angeboten der Jugendarbeit mitbestimmen und mitgestalten dürfen, geht die Jugendverbandsarbeit mit dem Partizipationsgedanken deutlich weiter, indem die Jugendlichen nicht nur in organisatorische Prozesse einbezogen werden, sondern vielmehr diese auch gemeinsam gestalten (also nicht nur konsumieren) und mitverantworten sollen. Damit bewegt sich die Jugendverbandsarbeit auf einer deutlich höheren Partizipationsstufe (siehe dazu auch Formen der Partizipation, Kap. 12: Partizipation – Kernaufgabe und Schlüsselbegriff in der KJA) als die Jugendarbeit allgemein. Die Jugendverbandsarbeit richtet sich in der Regel an Mitglieder, kann sich aber auch an Nichtmitglieder wenden. So ist das Vorhandensein von Mitgliedern zwar ein wesentliches Kriterium, das aber durch die aktuellen Entwicklungen in der Praxis eher in den Hintergrund tritt (insoweit siehe Kap. 5 zur Jugendverbandsarbeit). Da in den Jugendverbänden Jugendarbeit i. S. v. § 11 SGB VIII angeboten wird, sind die Mitglieder und Adressaten grundsätzlich junge Menschen im Sinne vom § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII. Umfasst sind alle Personen bis zum 27. Lebensjahr, wobei auch Personen über 27 Jahre angemessen einbezogen werden bzw. Mitglieder sein können. Der wesentliche Teil der Mitglieder bzw. der Adressaten muss diesem Personenkreis (bis zum 27. Lebensjahr) angehören, so dass es nicht ausreicht, wenn ihre Stimme im Jugendverband lediglich „wesentliches Gewicht bekommt“ (so aber Kunkel/Kepert, in: LPK-SGB VIII § 12 Rn. 9).
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Soweit die Jugendverbände einem Erwachsenenverband angeschlossen sind, kommt es auf die Eigenständigkeit des Jugendverbandes gegenüber dem Erwachsenenverband an. Daher müssen die Mitglieder unterscheidbar sein, obgleich die Mitglieder des Jugendverbandes auch gleichzeitig Mitglieder des entsprechenden Erwachsenenverbandes sein können. Der Erwachsenenverband hat sich gegenüber seinem Jugendverband der Einflussnahme zu enthalten und dessen Eigenständigkeit zu gewährleisten, z. B. indem der Jugendverband eigene Organe der Willensbildung und eine eigene Geschäftsführung hat. Ist dies nicht der Fall, handelt es sich nicht um einen Jugendverband im Sinne des § 12 SGB VIII. Damit würde auch die besondere Förderwürdigkeit, die durch den Absatz 1 zum Ausdruck gebracht wird, entfallen. Ein weiteres wesentliches Merkmal der Jugendverbandsarbeit stellt die Dauerhaftigkeit und Kontinuität dar. Damit sind zeitlich begrenzte Projektgruppen oder Initiativen keine Jugendverbände. Zwar kann auch durch Projektgruppen oder Initiativen den Interessen der Jugendlichen Ausdruck verliehen werden, diese haben jedoch in Hinblick auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nicht die Bedeutung von langfristigen Beteiligungsmöglichkeiten. Denn gerade die Dauerhaftigkeit und Kontinuität verschafft der Jugendverbandsarbeit die Möglichkeit, Kinder und Jugendliche stärker in verbandsinterne und gesellschaftliche Prozesse einzubinden und identitätsbildend zu wirken. Jugendverbände haben darüber hinaus die Aufgabe, die Anliegen und Interessen junger Menschen zum Ausdruck zu bringen, z. B. auf gesellschaftlicher oder kommunalpolitischer Ebene, und sind daher ein „unentbehrliches Medium der organisierten Interessenvertretung und der politischen Beteiligung Jugendlicher“ (Deutscher Bundestag, BT-Drs. 11/5948, S. 55). Sie haben also ein Mandat zur Vertretung der Interessen Jugendlicher, sodass z. B. auch Vorschläge von Jugendverbänden für die Besetzung des Jugendhilfeausschusses gem. § 71 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII angemessen zu berücksichtigen sind. § 12 Abs. 1 SGB VIII hat primär die besondere Förderwürdigkeit von Jugendverbänden zum Gegenstand. Damit ist sie im rechtlichen Kontext eigentlich „falsch“ eingeordnet, da sie nicht eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe zum Gegenstand hat, sondern nur eine Form der Jugendarbeit nach § 11 SGB VIII in Hinblick auf die Förderung privilegiert. Die besondere Förderwürdigkeit ergibt sich aus der eigenverantwortlichen Tätigkeit der Jugendverbände und Jugendgruppen, deren Angebote von den Kindern und Jugendlichen gemeinsam gestaltet und mitverantwortet werden. Dabei richtet sich aber die Förderung der einzelnen Jugendverbände und Jugendgruppen nach § 74 SGB VIII, sodass dieser Norm kein subjektives öffentliches Recht zu entnehmen ist und die Förderung
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aufgrund dessen nicht eingeklagt werden kann. Vielmehr handelt es sich um eine allgemeine Pflicht zur Förderung der Jugendverbandsarbeit, die sich an den öffentlichen Träger der Jugendhilfe richtet und bei der Vergabe von Fördermitteln zu berücksichtigen ist (vgl. Schäfer/Weitzmann, in: FK-SGB VIII, § 12 Rn. 7 ff.; andere Ansicht Kunkel/Kepert, in: LPK-SGB VIII, § 12 Rn. 2 f. mit dem Ergebnis, dass es sich hier um einen Anspruch auf Förderung dem Grunde nach handelt). Daher muss der öffentliche Träger der Jugendhilfe dafür Sorge tragen, dass angemessene Haushaltsmittel zur Förderung der Jugendverbandsarbeit nach § 12 SGB VIII im Haushaltsplan eingestellt werden. Darüber hinaus ist aber zu berücksichtigen, dass die Förderung nicht ausschließlich durch finanzielle Mittel erfolgt, sondern ebenso durch die Bereitstellung von Material/Räumen/ MitarbeiterInnen etc., Angebote von Qualifizierungsmaßnahmen für haupt- und ehrenamtlich Tätige, Beratung und Unterstützung etc.
5 Jugendsozialarbeit Im Gegensatz zur Jugendarbeit nach § 11 SGB VIII beschränkt sich der Adressatenkreis der Jugendsozialarbeit nach § 13 SGB VIII auf Kinder und Jugendliche mit einer Exklusionsproblematik: § 13 SGB VIII Jugendsozialarbeit (1) Jungen Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind, sollen im Rahmen der Jugendhilfe sozialpädagogische Hilfen angeboten werden, die ihre schulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integration fördern.
Die Jugendsozialarbeit wendet sich an junge Menschen bis 27 Jahre, die in erhöhtem Maße auf Unterstützungsbedarf angewiesen sind. Diese Unterstützung bezieht sich auf den Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder die Überwindung individueller Beeinträchtigungen durch die Förderung der schulischen und beruflichen Ausbildung, der Eingliederung in die Arbeitswelt und die soziale Integration. Damit setzt die Jugendsozialarbeit den Fokus auf den Übergang in die Arbeitswelt als Voraussetzung dafür, ein eigenverantwortliches Leben (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) zu führen. Bei der Neuregelung der Jugendsozialarbeit im SGB VIII im Jahr 1991, die an § 5 Abs. 1 S. 7 JWG anschließt, war die anhaltende Jugendarbeitslosigkeit ein maßgeblicher Grund, ein entsprechendes Hilfeangebot vorzuhalten und auszubauen (vgl. Deutscher Bundestag, BT-Drs. 11/5948, S. 55).
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Dabei bezieht der Gesetzgeber ausdrücklich auch die Schulsozialarbeit in diesen Bereich ein, auch wenn dies in der Praxis nur einen Teil der Angebote der Schulsozialarbeit erfasst (siehe dazu auch Kap. 8 Schulsozialarbeit): „Die Vorschrift bezieht aber auch Angebote und Maßnahmen der Schulsozialarbeit ein. Sie sind in besonderem Maße geeignet, bereits in allgemeinbildenden Schulen zu einem reibungsloseren Übergang Jugendlicher von der Schule in ein Ausbildungsverhältnis beizutragen.“ (Deutscher Bundestag, BT-Drs. 11/5948 S. 55)
Damit zielt die Jugendsozialarbeit primär auf Jugendliche und junge Erwachsene (siehe § 7 Abs. 1 SGB VIII) ab und weniger auf Kinder, wenngleich diese von der Norm durch den Adressatenkreis „junge Menschen“ ebenfalls erfasst werden. Die Möglichkeit, spezielle Hilfsangebote bereits für Kinder zu schaffen, ist aber gegeben. Angebote der Jugendberufshilfe, der Jugendmigrationsdienste oder auch der mobilen Jugendarbeit (wie z. B. Streetwork) sind regelmäßig Angebote nach § 13 Abs. 1 SGB VIII. Dabei sind die Begriffe der sozialen Benachteiligung sowie der individuellen Beeinträchtigungen gesetzlich nicht geregelt. In Hinblick auf das Ziel der Jugendhilfe, die Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern, können die Begriffe allerdings nicht eng gefasst werden. Eine Benachteiligung setzt eine Zurücksetzung gegenüber einer Vergleichsgruppe voraus, sodass der Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe erschwert oder unmöglich ist. Dies kann der Fall bei fehlenden oder schlechten Schulabschlüssen, Zugehörigkeit zu Minderheiten und Randgruppen sein, ebenso aber auch das Aufwachsen in benachteiligten Gebieten bzw. strukturschwachen Regionen (vgl. Kunkel, in: LPK-SGB VIII, § 13 Rn. 14). Relevant ist daher die im Vergleich zu anderen Gleichaltrigen erschwerte soziale Teilhabe, die der sozialpädagogischen Einschätzung unterliegt. Individuelle Beeinträchtigungen sind darüber hinaus dahin gehend zu verstehen, dass in der Person liegende Gründe dazu führen, dass eine gleichberechtigte Teilhabe nicht möglich ist. Dies ist dann der Fall, wenn jungen Menschen wesentliche individuelle Fähigkeiten fehlen, z. B. fehlendes Leistungsvermögen, Konzentrationsschwächen, Verhaltensstörungen u. ä. Der Unterstützungsbedarf muss aufgrund dessen in erhöhtem Maße erforderlich sein, sodass ohne eine entsprechende Unterstützung dauerhafte und erhebliche Nachteile zu erwarten sind. Diese Unterstützung soll durch „sozialpädagogische Hilfen“ gewährleistet werden. Im Gegensatz zu § 11 SGB VIII wird hier auf eine bestimmte Form der Fachlichkeit abgestellt, die sozialpädagogische Kompetenz erfordert. Diese kann durch eine entsprechende akademische Qualifikation nachgewiesen werden, ist jedoch nicht darauf beschränkt, da eine solche Kompetenz ggf. auch durch langjährige Praxis oder Fortbildungen erworben werden kann. Sozialpädagogische Hilfe
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setzt voraus, dass die entsprechende Methodik eingesetzt wird und ein breites Fachwissen vorhanden ist, um auf verschiedenen Ebenen ein passendes Unterstützungsangebot zu gewährleisten, z. B. durch einzelfall-, gruppen- und/oder gemeinwesenbezogene Angebote zur Förderung der schulischen und beruflichen Ausbildung, Eingliederung in die Arbeitswelt sowie der sozialen Integration (vgl. Schruth, in: jurisPK-SGB VIII, § 13 SGB VIII Rn. 47). Nach der Formulierung in Absatz 1 handelt es sich um eine sog. „Soll-Leistung“. Die Jugendsozialarbeit ist also grundsätzlich verbindlich zu leisten, jedoch hat der Leistungsträger in atypischen Ausnahmesituationen volles Ermessen, ob die Leistung erbracht wird (vgl. Patjens/Patjens 2018, Rn. 191a). Darüber ist auch dieser Norm kein subjektives-öffentliches Recht für die jungen Menschen abzuleiten, d. h. ein/eine Jugendliche/r kann nicht konkret eine bestimme Form der Jugendsozialarbeit auf dem Klageweg geltend machen (vgl. Nonninger, in: LPK-SGB VIII, § 13 Rn. 19; a. A. Schäfer/Weitzmann, in: FK-SGB VIII, § 13 Rn. 9; Wabnitz, S. 151 ff.; Abb. 2). In den Absätzen 2 bis 4 werden die Leistungen der Jugendsozialarbeit fortgeführt: So können nach Absatz 2 sozialpädagogisch begleitete Ausbildungs- und Jugendarbeit
Jugendsozialarbeit
Junge Menschen (bis 27 Jahre)
Junge Menschen (bis 27 Jahre) mit sozialer Benachteiligung oder individueller Beeinträchgung und einem erhöhtem Unterstützungsbedarf.
Angebote zur Förderung ihrer Entwicklung, parzipierend und anknüpfend an ihren Interessen, um sie zur Selbstbesmmung zu befähigen und zu gesellschalicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anzuregen und hinzuführen.
Objekve Verpflichtung des Leistungsträgers (Pflichtleistung), aber kein subjekves-öffentliches Recht.
Adressat
Inhalt/ Ausgestaltung
Rechtsqualität
Sozialpädagogische Hilfe mit dem Ziel, ihre schulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integraon fördern.
Objekve Verpflichtung des Leistungsträgers (Pflichtleistung), aber kein subjekves-öffentliches Recht.
Abb. 2 Übersicht Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit. (Eigene Darstellung)
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Beschäftigungsmaßnahme angeboten werden, wenn die Ausbildung nicht vorrangig durch andere Träger sichergestellt werden kann. Damit ist die Jugendhilfe nachrangig gegenüber Leistungen und Angeboten anderer Träger, z. B. der Bundesagentur für Arbeit oder der Jobcenter. Darüber hinaus kann nach Absatz 3 die Unterbringung in sozialpädagogisch begleiteten Wohnformen angeboten werden, die dann auch die Sicherstellung des notwendigen Unterhalts sowie die Krankenhilfe beinhaltet. Die Unterbringung in einer entsprechenden Wohnform ist jedoch nicht abhängig davon, dass eine soziale Benachteiligung oder individuelle Beeinträchtigung vorliegt, sodass auch bei einer notwendigen wohnortfernen Unterbringung auf diese Hilfe zurückgegriffen werden kann, z. B. auf Lehrlings- und Jugendwohnheime (vgl. Deutscher Bundestag, BT-Drs. 11/5948, S. 56).
6 Erzieherischer Kinder- und Jugendschutz Zu den Leistungen der Jugendhilfe im Zusammenhang mit der Kinder- und Jugendarbeit gehört auch der Kinder- und Jugendschutz nach § 14 SGB VIII. In Hinblick auf den Jugendschutz lassen sich zwei grundsätzlich Aspekte unterscheiden: So kann der Jugendschutz einen ordnungsrechtlichen Charakter haben, der vor allem darauf abzielt, ein bestimmtes Verhalten durch Kontrolle und Verbote zu unterbinden. Dieser Jugendschutz ist vor allem im Jugendschutzgesetz, Jugendarbeitsschutzgesetz oder teilweise auch im Strafgesetzbuch (z. B. durch das Verbot des sexuellen Missbrauchs von Kindern oder dem Verbot, pornografische Inhalte Kindern und Jugendlichen zugänglich zu machen) normiert. Ebenso kann der Jugendschutz einen erzieherischen Charakter haben, der vor allem durch präventive Angebote junge Menschen und deren Eltern bzw. Erziehungsberechtigte befähigen soll, sich selbst bzw. ihr Kind vor gefährdeten Einflüssen zu schützen. Leistungen des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes finden sich in § 14 SGB VIII und knüpfen eng an das Erziehungsziel aus § 1 Abs. 1 SGB VIII an, wenn jungen Menschen durch diese Leistungen „zu Kritikfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit und Eigenverantwortlichkeit sowie zur Verantwortung gegenüber ihren Mitmenschen“ geführt werden sollen. Damit ist der erzieherische Kinder- und Jugendschutz eine wichtige Aufgabe der Kinderund Jugendarbeit: „Der Jugendhilfe kommt im Rahmen des präventiven Kinder- und Jugendschutzes die erzieherische Aufgabe zu, Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen vorzubeugen bzw. entgegenzuwirken und durch Information, Beratung und erzieherische
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R. Patjens Impulse positive Akzente in der Sozialisation zu setzen. Der erzieherische Jugendschutz ist Teil der Jugendarbeit, aber auch Teil der Familienbildung und umfaßt daher alle Maßnahmen, die sich an Kinder und Jugendliche, an Eltern, Erzieher und sonstige pädagogisch Verantwortliche sowie an die gesamte Öffentlichkeit richten.“ (Deutscher Bundestag, BT-Drs. 11/5948, S. 56)
Die Angebote des erzieherischen Kinder- und Jugenschutzes sollen sich sowohl an die Kinder und Jugendlichen als auch an die Eltern und andere Erziehungsberechtigte richten. Dies unterstreicht die Wichtigkeit der Elternarbeit auch innerhalb der Kinder- und Jugendarbeit. Insofern wird an dieser Stelle deutlich, dass die Jugendhilfe (und damit auch die Kinder- und Jugendarbeit) immer Familienhilfe ist.
7 Träger der Kinder- und Jugendarbeit Die Kinder- und Jugendarbeit in den §§ 11 ff. SGB VIII ist eine Leistung der Jugendhilfe (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII). Sowohl öffentliche als auch freie Träger der Jugendhilfe können gem. § 3 Abs. 2 S. 1 SGB VIII diese Leistungen erbringen. Dabei sind freie Träger jedoch nicht zur Leistungserbringung verpflichtet, sondern werden ausschließlich aufgrund der eigenen Entscheidung aktiv. Insoweit regelt § 3 Abs. 2 S. 2 SGB VIII, dass sich Leistungsverpflichtungen ausschließlich an den Träger der öffentlichen Jugendhilfe richten. Während durch § 69 SGB VIII und dem jeweiligen Landesrecht gesetzlich geregelt ist, wer Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist, gibt es keine gesetzliche Definition für die Träger der freien Jugendhilfe. Eine Begriffsklärung ist dahin gehend möglich, dass ein Träger der freien Jugendhilfe Leistungen der Jugendhilfe erbringt, ohne Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu sein (Abb. 3). Freie Träger der Jugendhilfe können sowohl gemeinnützig als auch privatgewerblich tätig sein. Die Gemeinnützigkeit richtet sich nach § 52 Abs. 1 Abgabenordnung (AO). Freie Träger verfolgen demnach gemeinnützige Zwecke, „wenn ihre Tätigkeit darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern“. Die Tätigkeit ist nicht auf ein Gewinnstreben ausgerichtet, jedoch dürfen trotzdem Gewinne erzielt werden, ohne dadurch die Gemeinnützigkeit grundsätzlich infrage zu stellen. Die Tätigkeit privatgewerblicher Träger ist hingegen vorrangig auf die Erzielung von Gewinnen ausgerichtet, wobei aber durchaus auch der Nutzen für die Allgemeinheit angstrebt werden kann. Als freie Träger der Jugendhilfe können sich nach
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Träger der Kinder- und Jugendarbeit Grundsatz: Träger und Methodenvielfalt, § 3 Abs. 1 SGB VIII Leistungen werden von öffentlichen und freien Trägern erbracht, andere Aufgaben i.d.R. nur von den öffentlichen Trägern, § 3 Abs. 2 und 3 SGB VIII.
Öffentliche Träger
Freie Träger
Örtlich:
Überörtlich:
§ 69 Abs. 1 SGB VIII i.V.m. h Landesrecht (Stadt- und Landkreise)
h 69 Abs. 1 SGB VIII i.V.m. Landesrecht, z. B. Landschasverband (NRW), Kommunalverband für Jugend und Soziales (BaWü)
Errichtet Jugendamt, § 69 Abs. 3 SGB VIII
Errichtet Landesjugendamt, § 69 Abs. 3 SGB VIII
Im SGB VIII gibt es keine gesetzliche Definion des freien Trägers. Freier Träger ist daher jeder, der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe erbringt, ohne öffentlicher Träger zu sein.
Gemeinnützig (h 52 Abs. 1 AO)
Privatgewerblich
• •
Nicht anerkannte Träger Anerkannte Träger gem. § 75 (Kra Gesetz oder auf Antrag)
Abb. 3 Überblick über Träger der Kinder- und Jugendarbeit. (Eigene Darstellung)
§ 75 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII jedoch nur Träger anerkennen lassen, die gemeinnützige Ziele verfolgen. Ebenso können nur gemeinnützige Träger nach § 74 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII Fördermittel im Rahmen der Subventionsfinanzierung erhalten. Privatgewerbliche Träger können sich ggf. nur über Vereinbarungen (§§ 77 ff. SGB VIII) finanzieren (ausführlich zur Finanzierung über Entgeltvereinbarungen: Patjens 2017, S. 173 ff.). Trotzdem steigt auch in den Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit die Zahl der privatgewerblichen Leistungserbringer deutlich: So hat sich in der Zeit von 2010 bis 2014 der Anteil der Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit in privatgewerbliche Trägerschaft von 0,5 % auf 3,4 % erhöht (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2017, S. 370).
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Die Anerkennung als freier Träger der Jugendhilfe können gem. § 75 Abs. 1 SGB VIII nur juristische Personen oder Personenvereinigungen erhalten, also z. B. als eingetragener Verein (e. V.) oder gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung (gGmbH) organisierte Träger. Darüber hinaus setzt die Anerkennung nach Absatz 1 voraus, dass die Träger • auf dem Gebiet der Jugendhilfe im Sinne des § 1 tätig sind, • gemeinnützige Ziele verfolgen, • Aufgrund der fachlichen und personellen Voraussetzungen erwarten lassen, dass sie einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Erfüllung der Aufgaben der Jugendhilfe zu leisten imstande sind, und • die Gewähr für eine den Zielen des Grundgesetzes förderliche Arbeit bieten. Sofern bereits Träger mehr als drei Jahre auf dem Gebiet der Jugendhilfe tätig waren, besteht bei Erfüllung der Voraussetzungen ein Anspruch auf Anerkennung als freier Träger der Jugendhilfe. Die Anerkennung als freier Träger der Jugendhilfe ist aber – entgegen einer in der Praxis mitunter bestehenden Annahme – nicht die Voraussetzungen, um Fördermittel zu erhalten, da die Anerkennung keine Fördervoraussetzung nach § 74 Abs. 1 SGB VIII ist, soweit nicht eine dauerhafte Förderung angestrebt wird. „Künftig soll die Anerkennung nicht mehr als Förderungsvoraussetzung dienen, sondern Bedeutung für die (institutionelle) Zusammenarbeit zwischen öffentlicher und freier Jugendhilfe erhalten. Neben der Verfassungsgewähr spielt daher der Gedanke der Kontinuität eine wesentliche Rolle.“ (Deutscher Bundestag, BT-Drs. 11/5948, S. 99)
Entsprechend sind auch nicht anerkannte Träger der freien Jugendhilfe zu fördern. Darüber hinaus privilegiert das SGB VIII jedoch anerkannte Träger anderweitig. So haben beispielsweise nur anerkannte Träger die Möglichkeit gem. § 71 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII Personen für den Jugendhilfeausschuss vorzuschlagen oder an anderen Aufgaben der Jugendhilfe gem. § 76 SGB VIII beteiligt zu werden. Mangels eindeutiger „Qualitätskriterien“ suggeriert die Anerkennung als freier Träger der Jugendhilfe, dass hier eine Prüfung der Qualität stattgefunden hat – dies ist allerdings nur teilweise der Fall, weil lediglich geprüft wird, ob die fachlichen und personellen Voraussetzungen ausreichen, um einen „wesentlichen Beitrag zur Erfüllung der Aufgaben der Jugendhilfe“ zu leisten. Darüber hinaus werden, nachdem die Anerkennung ausgesprochen wurde, das fortwährende Bestehen der Voraussetzungen nicht weiter geprüft. Insofern ist die Anerkennung als Qualitätskriterium nur sehr beschränkt aussagekräftig.
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Die Anerkennung kann auf Antrag verliehen werden. Soweit ein Träger bereits mehr als 3 Jahre in der Jugendhilfe tätig war, besteht ein Anspruch auf Anerkennung, soweit die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Darüber hinaus verleiht § 75 Abs. 3 SGB VIII den Kirchen und Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts (Körperschaften des öffentlichen Rechts, K.d.ö.R.) sowie den auf Bundesebene zusammengeschlossenen Verbänden der freien Wohlfahrtspflege (Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Caritasverband, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland) die Anerkennung kraft Gesetz. Nicht erfasst von der gesetzlichen Anerkennung sind hingegen die (selbstständigen) Jugendorganisationen der Kirchen und Religionsgemeinschaften, sodass diese die Anerkennung als freier Träger der Jugendhilfe nur über einen Antrag erhalten können.
8 Rechtsgrundlagen in der Praxis In der Praxis ist die Zuordnung einzelner Arbeitsfelder oder Leistungsangebote der Kinder- und Jugendarbeit zu den Rechtsgrundlagen nicht immer eindeutig möglich. So wird die „klassische“ offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Jugendhäusern etc. zwar grundsätzlich auf § 11 SGB VIII zu stützen sein, trotzdem können einzelnen Angebote auch solche der Jugendsozialarbeit gem. § 13 Abs. 1 SGB VIII sein. Während der Gesetzgeber die Schulsozialarbeit als Arbeitsfeld der Jugendsozialarbeit betrachtet, dürfte dies in der Praxis nur für einzelne Angebote zutreffen, da nicht alle Kinder und Jugendliche, die Angebote der Schulsozialarbeit nutzen bzw. nutzen müssen, zwangsläufig eine soziale Benachteiligung oder individuelle Beeinträchtigung sowie einen erheblichen Unterstützungsbedarf aufweisen. Ebenso sind Angebote der Schulsozialarbeit aber häufig auch nicht freiwillig, sodass es an einem wesentlichen Merkmal der Jugendarbeit mangelt. Klarer ist hingeben beispielsweise die Einordnung der Jugendberufshilfe – diese findet ihre Rechtsgrundlage (gesetzgeberisch gewollt) in der Jugendsozialarbeit. Ebenso dürfte Streetwork unproblematisch eine Einordnung in der Jugendsozialarbeit finden. Medienpädagogische Angebote können hingegen sowohl Angebote des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes sein, ebenso aber auch Jugendarbeit oder im Einzelfall sogar der Jugendsozialarbeit (z. B. wenn es um die Nutzung und den Umgang bestimmter Medien als Zugangsvoraussetzung zur schulischen oder beruflichen Bildung geht). Diese Überschneidungen sind unproblematisch und schränken die pädagogische Arbeit nicht ein, wobei die Schulsozialarbeit – mangels einer umfassenden geeigneten
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Rechtsgrundlage – vielleicht eine Ausnahme darstellt. Relevant wird die Unterscheidung in der Regel, wenn es um die Finanzierung bestimmter Angebote geht und es auf eine staatliche Förderung (Subventionen) ankommt. Fachkräfte in der Kinder- und Jugendarbeit sollten daher ihre Angebote und Tätigkeiten den entsprechenden Rechtsnormen zuordnen zu können.
9 Übungsfragen a) Wie unterscheiden sich Jugendarbeit (§ 11 SGB VIII) und Jugendsozialarbeit (§ 13 SGB SGB VIII) im Hinblick auf den Adressatenkreis und die Ausgestaltung der Leistung? b) Welche Arbeitsfelder lassen sich bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen rechtlich unterscheiden und in welchen §§ sind diese verortet? c) Haben Kinder und Jugendliche einen Rechtsanspruch auf Leistungen nach §§ 11, 13 SGB VIII? d) Welche Funktionen weist das SGB VIII der Jugendarbeit zu? e) Was sind „sozialpädagogische Hilfen“ (§ 13 Abs. 1 SGB VIII) und welche Anforderungen stellen sie an die Leistungserbringer? f) Wieso sind Jugendverbände gemäß § 12 Abs. 1 SGB VIII besonders zu fördern? Was kennzeichnet Jugendverbände? g) Was unterscheidet den erzieherischen Jugendschutz nach § 14 SGB VIII vom Jugendschutz nach dem Jugendschutzgesetz? h) In welchen Rechtsnormen ist der Partizipationsgedanke formuliert und wie ist dieser umzusetzen und zu verstehen?
Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 2017. 15. Kinder- und Jugendbericht – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Deutscher Bundestag. 1989. Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz – KJHG), Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drucksache 11/5948 vom 01.12.1989. Deutsches Jugendinstitut. 2009. DJI – Jugendverbandserhebung, Befunde zu Strukturmerkmalen und Herausforderungen Projekt „Jugendhilfe und sozialer Wandel – Leistungen und Strukturen“. München: Deutsches Jugendinstitut.
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Kunkel, Peter Christian. 1997. Zu Fragen der Gewährleistungspflicht am Beispiel der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit. Zentralblatt für Jugendrecht 1997:180–182. Kunkel, Peter Christian, und Jan Kepert. 2019. Sozialgesetzbuch VIII Kinder- und Jugendhilfe, Lehr- und Praxiskommentar, 7. Aufl. Baden-Baden (zit.: Bearbeiter, in: LPK-SGB VIII). Münder, Johannes, Thomas Meysen, und Thomas Trenczek. 2019. Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 8. Aufl. Baden-Baden (zit.: Bearbeiter, in: FK-SGB VIII). Patjens, Rainer. 2017. Förderrechtsverhältnisse im Kinder- und Jugendhilferecht. Wiesbaden: Springer. Patjens, Rainer, und Tina Patjens. 2018. Sozialverwaltungsrecht für die Soziale Arbeit, 2. Aufl. Baden-Baden: Nomos. Schellhorn, Walter, Lothar Fischer, Horst Mann, und Christoph Kern. 2017. SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 5. Aufl. Köln (zit: Bearbeiter, in: Schellhorn/ Fischer/Mann/Kern, SGB VIII). Schlegel, Rainer, und Thomas Voelzke. 2018. juris PraxisKommentar SGB VIII – Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) – Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. (zit.: Bearbeiter, in: jurisPK-SGB VIII). Wabnitz, Reinhard Joachim. 2005. Rechtsansprüche gegenüber Trägern der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Berlin: Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe.
Literatur zur Vertiefung Bernzen, Christian. 2013. Rechtliche Grundlagen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit im Bundes- und Landesrecht. In Benedikt, Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, Hrsg. Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker, 4. Aufl., 617–628. Wiesbaden. Fieseler, Gerhard, und Anika Hannemann. 2006. Gefährdete Kinder – Staatliches Wächteramt versus Elternautonomie? Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe 2006:118–123. Kunkel, Peter Christian, und Jan Kepert. 2019. Sozialgesetzbuch VIII Kinder- und Jugendhilfe, Lehr- und Praxiskommentar, §§ 11 ff., 7. Aufl. Baden-Baden.
Jugendzentren, Jugendhäuser, Jugendtreffs und Co – Jugendfreizeitund Jugendbildungseinrichtungen Thomas Meyer und Sebastian Rahn
Zusammenfassung
Die Angebotslandschaft der Kinder- und Jugendarbeit ist äußerst heterogen, vielfältig und komplex. Systematisierungsversuche sind schwierig und können an unterschiedlichen Kriterien ansetzen. Eine relativ einfache Unterscheidungslogik bietet hierbei der Ort der Angebotserbringung. Grob unterschieden werden können ortsungebundene Formen sowie ortsgebundene Formen der Kinder- und Jugendarbeit, deren Größe und pädagogische Konzeption weiterhin noch erheblich variieren können. In dem nachfolgenden Beitrag stehen die ortsgebundenen Formen der Kinder- und Jugendarbeit mit einem Schwerpunkt auf „größere“ Einrichtungen im Zentrum der Betrachtung. Gemeint sind damit vor allem Jugendzentren, Jugendhäuser oder andere Jugendfreizeit- bzw. Jugendbildungseinrichtungen. Da dieser Angebotstypus in der Regel der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) zuzuordnen ist, spielen die grundlegenden Leitprinzipien und Raumkonzepte der offenen Arbeit eine wichtige Rolle. Dabei soll gezeigt werden, dass die wesentliche Gemeinsamkeit dieser offenen Jugendeinrichtungen das Anliegen ist, jungen Menschen Räume und Angebote zur Verfügung zu stellen, die sie sich eigeninitiativ aneignen, die ihnen Bildungspotenziale bieten, in denen wichtige soziale Lernprozesse ablaufen und in denen sie ihren jugendkulturellen Interessen nachgehen können. Dabei spielen die Mitbestimmung bei der T. Meyer (*) · S. Rahn Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Rahn E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_4
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Angebots- und Programmgestaltung sowie die Mitgestaltung dieser Räume stets eine wichtige Rolle. In einer kritischen historischen Perspektive wird aber auch deutlich, dass diese „Frei-Räume“ häufig dazu dienten, die jungen Menschen im Sinne vorherrschender gesellschaftlicher Wertvorstellungen bzw. nach den Interessen der jeweils zuständigen Erwachsenen zu erziehen.
1 Einleitung – die Herausforderung einer Systematisierung ortsgebundener Raumkonzepte in der (Offenen) Kinder- und Jugendarbeit Thole (2000, S. 97 ff.) unterscheidet in seinem Lehrbuch zur Kinder- und Jugendarbeit zwischen ortsgebundenen Formen der Angebotserbringung (z. B. Jugendzentren, Jugendhäuser, Jugendbildungsstätten, pädagogisch betreute Spielplätze) und ortsungebundenen Formen (z. B. aufsuchende Jugendarbeit, Spielmobil, kulturpädagogische Projekte und Aktivitäten, Stadtranderholung). Dazwischen siedelt er die Jugendverbandsarbeit an, weil er hier sowohl feste Orte als auch flexible Angebotsformen identifiziert. Betrachtet man nun allein die ortsgebundenen Formen, dann lässt sich immer noch eine große Heterogenität erkennen. Diese ortsgebundenen Angebote lassen sich daher weiter unterscheiden in Angebote, die zwar auch von Kindern genutzt werden können, aber im Schwerpunkt für Jugendliche und junge Erwachsene konzipiert wurden (z. B. Jugendzentren, Jugendhäuser, soziokulturelle Zentren) sowie Angebote, die sich in der Regel ausschließlich an Kinder richten (Abenteuer-, Bau- und Aktivspielplätze, Jugendfarmen). Des Weiteren lassen sich diese Raumkonzepte differenzieren in große Einrichtungen (Jugendfreizeitstätten wie Jugendzentren und Jugendhäuser) und kleinere Einrichtungen (z. B. Jugendtreffs, Jugendcafés, Jugendräume). Die Sichtung der relevanten Überblicksliteratur zu diesem Themenbereich zeigt zuletzt, dass ortsgebundene, größere Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit das Arbeitsfeld quantitativ gesehen dominieren (vgl. beispielsweise Thole 2000, S. 99 ff., Seckinger u. a. 2016, Schmidt 2011). Gegenstand dieses Kapitels sind ausschließlich ortsgebundene (Groß-)Einrichtungen mit dem Schwerpunkt auf offene Angebote der Kinder- und Jugendarbeit (Jugendhäuser, Jugendzentren und ähnliche Raumkonzepte). Sowohl ortsgebundene als auch ortsungebundene Angebotsformen speziell für Kinder werden in dem Beitrag von Thomas Meyer zur Offenen Arbeit mit Kindern in
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diesem Buch ausführlich vorgestellt. Aufsuchende Formen der Jugendarbeit als Beispiel einer ortsungebundenen Jugendarbeit werden hingegen in einem anderen Beitrag von Thomas Meyer betrachtet. Die Jugendverbandsarbeit ist Gegenstand in einem Beitrag von Rainer Patjens und Ingo Hettler. Ziel dieses Abschnitts ist es, die wesentlichen Charakteristika ortsgebundener Raumkonzepte mit Schwerpunktlegung auf „klassische“ (Groß-)Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit herauszuarbeiten. Zunächst werden die wesentlichen Merkmale, historischen Entwicklungslinien sowie die Besucherstruktur, Angebotsformen und die pädagogische Zielsetzung von (Groß-)Einrichtungen der Offenen Kinderund Jugendarbeit skizziert (Abschn. 2 bis Abschn. 4). Den Abschluss dieser Betrachtung von größeren Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit bildet dann ein Kapitel, das zwei beispielhafte aktuelle Entwicklungen dargestellt, die eine unmittelbare Auswirkung auf die Raumkonzeption dieser Einrichtungen haben (Abschn. 5). Im Anschluss daran werden in der gebotenen Kürze noch andere ortsgebundene Raumkonzepte vorgestellt, die zwar nicht unmittelbar der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zugeordnet werden, aber dennoch häufig einen offenen Charakter haben oder den Prinzipien der offenen Arbeit folgen. Dies sind beispielsweise Jugendbildungsstätten, Einrichtungen der kulturellen Bildung sowie Kultur- oder Kommunikationszentren bzw. sogenannte soziokulturelle Zentren (Abschn. 6). Am Ende des Beitrags werden in Abschn. 7 Gemeinsamkeiten dieser verschiedenen Raumkonzepte akzentuiert und es wird ein kurzer Ausblick auf die Frage einer adäquaten theoretischen Reflexion gewagt. Selbstverständlich kann mit diesem Beitrag kein Anspruch auf Vollständigkeit erfolgen. Er soll lediglich einen Überblick verschaffen und als Einführung dienen. Eine detaillierte Betrachtung anderer Angebotsformen der Kinder- und Jugendarbeit findet zudem in weiteren Beiträgen dieses Buches statt.
2 Ortsgebundene (Groß-) Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit – Jugendzentren, Jugendhäuser, Jugendclubs und Co Seckinger u. a. (2016, S. 13 ff.) verweisen in Bezug auf ihre empirische Bestandsaufnahme von Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit auf die Schwierigkeit, dieses Handlungsfeld adäquat beschreiben zu können. Demnach könne man die OKJA mithilfe von drei verschiedenen Perspektiven systematisieren: In Bezug auf die konzeptionelle Ausrichtung, in Bezug auf die Besucherschaft und das Personal, sowie in Bezug auf die institutionellen
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Bedingungen, zu denen auch die baulichen Gegebenheiten und die Räume gehören, in denen die Angebote erbracht werden. In dem vorliegenden Beitrag wird vor allem diese institutionelle Perspektive eingenommen. Die Perspektive auf diese institutionellen Bedingungen eröffnet auch einen Zugang zu einer Definition solcher ortsgebundenen Formen der Angebotserbringung mit Schwerpunkt auf Offene Kinder- und Jugendarbeit. Eine geeignete, wenn auch sehr offene Definition formuliert hierzu beispielsweise Thole (2000, S. 102): Ein sozialpädagogisches Angebot „in Häusern und Räumen, die für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen errichtet oder hierfür reserviert werden (…)“. Die Projektgruppe AGJF, IBG und LJR BW (1988) schlagen vor über 30 Jahren eine ähnliche Definition vor: „(…) ein Angebot von Räumen, das sich an alle Jugendlichen richtet und über die sie relativ frei verfügen können – Jugendhäuser, Heime der offenen Tür, Jugendheime u.ä.“ Auch Fehrlen (2013, S. 9) betont, „dass der offene, frei zugängliche Raum, den Kinder und Jugendliche für eigene Interessen nutzen können, das zentrale oder gar konstitutive Element“ solcher Einrichtungen ist. Es geht also immer um Räume bzw. Gebäude, die für einen längeren Zeitraum Kindern und Jugendlichen zur eigenen Nutzung zur Verfügung gestellt werden. Diese bilden zusammen mit einem entsprechenden pädagogischen Raumkonzept den Kern dieser Angebotsform. Zunächst lohnt hier ein Blick auf die quantitative Verbreitung verschiedener Angebotsformen im gesamten Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit. Ein Vergleich unterschiedlicher Einrichtungstypen in diesem sehr heterogenen Handlungsfeld zeigt, dass größere Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit mit freizeitbezogenem Schwerpunkt (Jugendzentren, Jugendhäuser, usw.) in der Angebotslandschaft deutlich überwiegen. Thole (2000, S. 99 ff.) verweist auf einen beträchtlichen Ausbau dieser (Groß-) Einrichtungen der OKJA in den 80er Jahren und berechnet für Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts einen Anteil von etwa 50 % an allen Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit. Zählt man noch kleinere Jugendtreffs und -clubs mit hinzu, kommt man auf einen Anteil von über 80 %. Die restlichen knapp 20 % entfallen dann auf pädagogisch betreute Spielplätze für Kinder, ferienbezogene Angebote, Bildungsstätten sowie kulturelle Einrichtungen und kulturpädagogische Angebotsformen. Ähnliche Anteile benennt auch Pothmann (2009, S. 26) für Anfang der 2000er Jahre: 46 % aller Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit sind Jugendzentren, Häuser der offenen Tür oder andere Jugendfreizeitstätten, weitere 31 % entfallen auf kleinere Jugendräume oder -treffs. Alle anderen räumlichen Settings der Kinder- und Jugendarbeit (z. B. Räume der Mobilen Jugendarbeit, pädagogisch betreute Spielplätze, Jugendkunstschulen, usw.) stellen zusammengerechnet noch einen Anteil von 23 %. Der aktuelle 15. Kinder- und Jugendbericht beziffert den Anteil der
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Jugendfreizeiteinrichtungen an allen Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit in einer ähnlichen Höhe: 47 % aller Angebote sind dem Themenbereich Jugendzentren und Jugendfreizeiteinrichtungen zugeordnet und weitere 29 % entfallen auf kleinere Jugendeinrichtungen und -räume (vgl. BMFSFJ 2017, S. 368). Gegründet wurden die meisten größeren Jugendfreizeitstätten der Offenen Kinder- und Jugendarbeit bereits vor über 20 Jahren. In einer bundesweiten Befragung von über 1.000 Jugendzentren zeigt sich, dass etwa 40 % der Gründungen auf die Zeit vor 1990 zurückgehen und weitere 36 % der Gründungen fallen auf die Zeit zwischen 1990 und 1999. In etwa einem Viertel der Fälle fand hingegen die Gründung nach 2000 statt (vgl. Seckinger u. a. 2016, S. 36). Bei vielen dieser Freizeiteinrichtungen für Jugendliche handelt es sich daher oftmals um „traditionsreiche Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit“ (Binder 2005, S. 353), die häufig bereits seit den 70er Jahren bestehen und verschiedene Entwicklungen durchgemacht haben: „In ihnen spiegelt sich die Zeitgeschichte der gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungsprozesse der Jugendarbeit in Deutschland wieder (sic!), da ihre Arbeitsweisen und -inhalte von der Reflexion dieser Veränderungen und der Reaktion darauf geprägt wurden.“ (Binder 2005, S. 353).
Aus diesem Grunde ist es wichtig, die historischen Entwicklungslinien, innerhalb derer sich die vielfältigen größeren und kleineren Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit entwickelt haben, kurz darzustellen. Schließlich lassen sich die wichtigsten Kernmerkmale dieses Handlungsfelds vor allem vor dem Hintergrund dieser Geschichte verstehen. In dem folgenden Unterkapitel werden jedoch ausschließlich die historischen Entwicklungen einer ortsgebundenen Arbeit, d. h. einer pädagogischen Arbeit in Gebäuden oder Räumen, betrachtet. Dabei wird der Schwerpunkt auf die Offene Kinder- und Jugendarbeit gelegt. Historische Entwicklungslinien der Jugendverbandsarbeit oder von Jugendbewegungen (vgl. hierzu beispielsweise Nugel 2012; Giesecke 1980; Gängler 2002, 2011, Niemeyer 2013) sind nicht Gegenstand dieser Betrachtung.
3 Historische Entwicklungslinien ortsgebundener Einrichtungen offener Jugendarbeit Ausgangspunkt der Zurverfügungstellung entsprechender Räume für junge Menschen war zum einen die Ermöglichung von „jugendgemäßen Lebensformen“ (Giesecke 1980, S. 17) sowie, damit zusammenhängend, die Forderungen nach
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einem „eigenen Raum“ bzw. nach offenen, möglichst frei zugänglichen, nutzbaren Räumlichkeiten, weswegen das Raumkonzept im Grunde das wichtigste Merkmal der OKJA ist (vgl. Seckinger u. a. 2016, S. 106; ebenso Fehrlen 2013). Dabei lässt sich die Bedeutung dieses „Raums“ auf verschiedenen Ebenen beschreiben: (1) als materialer Raum, der (2) für Jugendliche „reserviert“ ist, und (3) von jungen Menschen selbst gestaltet bzw. in einer spezifischen Art und Weise angeeignet werden kann; nicht selten werden diese Räumlichkeiten auch noch ergänzt durch einen nutzbaren Außenbereich (vgl. ebd., S 106 f.). Historisch betrachtet gründet diese Idee auf dem Ansinnen, spezielle Orte für junge Menschen zu schaffen, „weil es kaum Orte gab, an denen Jugendliche die Ablösung vom Elternhaus außerhalb des familialen Rahmens erproben konnten“ (Seckinger u. a. 2016, S. 14). Vorläufer dieser Idee reichen bereits ins 17. und 18. Jahrhundert zurück, die wesentlichen Entwicklungen lassen sich jedoch ab Mitte des 19. Jahrhundert bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts identifizieren, eine Zeitspanne in der gemeinhin eine Art „kollektive Vorstellung“ über die Spezifik der Lebensphase Jugend, die sich wiederum in bestimmten Jugenddiskursen manifestierte, entstanden zu sein scheint (vgl. Nugel 2013). Dabei können – etwas holzschnittartig – zwei unterschiedliche Entwicklungslinien in den Blick genommen werden (vgl. Gängler 2005, S. 503 ff.; Thole 2000, S. 33 ff.): Der Beginn einer raumorientierten Kinder- und Jugendarbeit kann insbesondere im ländlichen Raum (aber teilweise auch in den Städten) an sogenannten Lichtbuden, Lichtstuben oder „Spinnstuben“ als spezielle Gesellungsform der Jugend festgemacht werden. So gab es bereits vor über 200 Jahren in vielen Dorf- und Stadtgemeinschaften fest verankerte Treffpunkte für Jugendliche, die sich Lichtbuden oder auch Spinn-, Kunkel-, Licht- oder Rockenstuben nannten. Diese Räume waren vor allem Treffpunkt für ledige junge Menschen (wer nicht verheiratet war, galt als „jugendlich“) und können als „Kristallisationspunkte des dörflichen wie städtischen jugendkulturellen Gemeinschaftslebens“ (Thole 2000, S. 34) verstanden werden. Sinn und Zweck dieser Treffpunkte war aber vor allem auch das Knüpfen von Kontakten zum anderen Geschlecht. Um diese Zusammenkunft zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen jedoch in einem „moralisch vertretbaren“ Licht erscheinen zu lassen, galten die Licht- bzw. Spinnstuben im Grunde als Arbeitsort: Eine Gruppe von Mädchen begab sich jeweils bei Eintritt der Dunkelheit in die Lichtstuben, um dort bestimmte Arbeiten (z. B. Weben, Spinnen, Stricken) zu verrichten. Nach und nach gesellten sich Jungen hinzu, die aber nicht mitarbeiteten, sondern eher die Mädchen belustigten (vgl. Gängler 2005, S. 504). Da sich keine Erwachsenen in diesen Räumen aufhielten, konnten sich verschiedene Geselligkeitsformen
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herausbilden, die an eine erste Form von „Jugendkultur“ erinnern, aber keineswegs mit dem Massenphänomen moderner Jugendkulturen vergleichbar sind. In den größeren Städten standen die für Jugendliche zur Verfügung gestellten Räume (sogenannte „Sonntagssäle“ oder Lehrlingsheime) jedoch sehr viel stärker mit der Begründung, Jugend sei ein „soziales Problem“ in Verbindung und können eher verstanden werden als eine Art Begleitung des „Lehrlingsfeierabends“ (vgl. Gängler 2005, S. 506). Dabei ging es vor allem um männliche Lehrlinge und Gesellen aus den unteren Gesellschaftsschichten, die sich die freie Zeit in Wirtshäusern oder auf der Straße vertrieben. Eine wichtige Relevanz hatte dabei „die mit der Industrialisierung entstandene (schulentlassene) Arbeiterjugend (…), die in der kurzen Phase nach dem frühen Ende der Volksschulzeit und der Beendigung der Lehrlingszeit die soziale Problemgruppe der Moderne geworden ist“ (Nugel 2013, S. 12). Die sich entsprechend herausbildenden ersten Formen von Jugendarbeit befassten sich dabei vor allem mit den Herausforderungen einer sinnvollen Freizeitgestaltung durch sportliche oder musische Betätigung und der „Kontrolle“ bzw. Begleitung dieser Geselligkeitsformen. Bereits in dieser Zeit wurden zwar wichtige pädagogische Grundsätze formuliert, die bis heute die öffentliche Jugendarbeit prägen: „Der Staat sollte die notwendigen Räume schaffen, die die Jugendlichen selbst gestalten unter möglichster Zurückhaltung der Erzieher“ (Gängler 2005, S. 504), allerdings waren Auslöser dieser entstehenden öffentlich geprägten Jugendarbeit vor allem Sorgen vonseiten der bürgerlichen Erwachsenengesellschaft, da sich aufgrund des Strukturwandels im Ausbildungs- und Berufssystem (Lehrlinge und Gesellen wohnten immer weniger bei der Familie des Meisters, Einführung von Arbeitslohn anstatt Unterkunft und Verpflegung) eine Vielzahl jugendlicher Lehrlinge und Gesellen die freie Zeit am Abend oder am Sonntag im Wirtshaus vertrieb. Aufgrund einer „Kontrolllücke zwischen Schulbank und Kasernentor“ (Münchmeier/Peukert 1990 zitiert in Böhnisch 2008, S. 94) wurde der Ruf nach speziellen Räumen für solche, von „Verwahrlosung“ bedrohten Jugendlichen laut. Treffend formuliert Böhnisch hierzu: „Die Geschichte der sozialpädagogischen Jugendhilfe beginnt mit der ‚Erfindung des Jugendlichen‘. Damit war der Typ des schulentlassenen, männlichen, in der Großstadt beheimateten, proletarischen Jugendlichen gemeint, der nicht (mehr) in der bürgerlich gelenkten Schule bzw. in geordneten Lehr- und Arbeitsverhältnissen integriert war, sondern seine Zeit ungeregelt auf der Straße verbrachte. Ihn konnte man deshalb auch nicht pädagogisch und disziplinarisch kontrollieren; er drohte zu verwahrlosen“ (Böhnisch 2008, S. 94)
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Im Grunde entstanden die ersten Ansätze einer öffentlichen Jungendarbeit daher als „Disziplinierungsmaßnahme“ und Kontrolle dieser Geselligkeitsformen, mit dem Zweck „eine sinnvolle Freizeitgestaltung anzubieten und damit die Jugendlichen im Sinne der Anerkennung der herrschenden Ordnung zu erziehen“ (Gängler 2005, S. 506; vgl. ebenso Böhnisch 2008, S. 94 ff.). Während im Bürgertum ein idealisiertes Jugendbild existierte, welches im Sinne einer bewusst genutzten Lernzeit aber auch nur der bürgerlichen Jugend vorbehalten war und sich in der bürgerlichen Jugendbewegung, wie z. B. dem „Wandervogel“, manifestierte, entstanden in dieser Zeit gleichzeitig die defizitären Vorstellungen einer „gefährdeten“ Jugend: „‚Jugend‘ wurde als potenziell gefährdende Verhaltensweise verstanden. In diesem Sinne ist ‚Jugend‘ eine Erfindung der Strafjustiz bzw. der Jugendfürsorge (…)“ (Nugel 2013, S. 13; vgl. ebenso Hafeneger 2005, S. 510). Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zum frühen 20. Jahrhundert wurden daher in einigen Städten auf Anraten von kirchlichen VertreterInnen und des Bürgertums erste Einrichtungen für Jugendliche gegründet, die man als „Vorläufer“ der öffentlichen Jugendarbeit verstehen kann: sogenannte „Sonntagssäle“, die für „Arbeiter, Lehrlinge und Knaben“ (Gängler 2005, S. 505) gedacht waren. In Stuttgart wurde beispielsweise bereits 1867 ein erstes Jugendhaus eröffnet, das gleichermaßen als Herberge, Kantine wie auch als allgemeiner Treffpunkt für den „Lehrlingsfeierabend“ fungierte (vgl. Gängler 2005, S. 505 f.). Das Angebot richtete sich dabei zunächst vor allem an bedürftige 14–16-jährige Lehrlinge (v. a. Arbeiterjugendliche). Einige Jahre später öffnete sich diese Einrichtung auch für jüngere Jugendliche bzw. Kinder, eine „Knabenabteilung“ für 11–14-Jährige wurde ergänzend gegründet. Die dortige „Angebotsstruktur“ lässt sich wie folgt beschreiben: „Die Versammlungsräume sind jeden Abend von 7-10 Uhr geöffnet, Sonntags von 2 Uhr an. […] Es wird gelesen, gespielt, gebästelt (sic! H.G.), gesungen und musiziert. Zum Schluß folgt ein kurzer Vortrag oder eine Erzählung. Wir haben hierzu eine Reihe von Männern und Frauen als freiwillige Mitarbeiter. Von den Wochenabenden ist einer ein Bibelabend mit freier Beteiligung, einer ein Unterhaltungsabend mit Vorträgen, Experimenten, Erzählungen, einer ein Turnabend, wozu städtische Turnhallen zur Verfügung stehen“ (Wüterich 1913 zitiert in Gängler 2005, S. 506).
Beide Entwicklungslinien zeigen deutlich, dass sich im ausgehenden 19 Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl auf dem Land als auch in der Stadt erste räumliche „Arrangements“ für Jugendliche als Reaktion auf eine notwendig werdende Begleitung ins Erwachsenenleben entwickelten. Unterschiede bestanden vor allem darin, dass sich die Lichtstuben auf dem Land sehr
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viel stärker der Kontrolle der Erwachsenen entzogen haben und quasi selbstverwaltete Gesellungsformen entstanden sind, während sich in den Städten erste Ansätze einer professionellen, institutionellen, teilweise fremdgesteuerten und der sozialen Fürsorge verpflichteten Jugendarbeit herausbildeten (vgl. Gängler 2005, S. 506). Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts führte die Entwicklung dieser ersten Ansätze von Jugendarbeit dann zu einer Gründung verschiedenster pädagogischer Settings und Räumlichkeiten, die sowohl in der Trägerschaft von Jugendverbänden als auch der staatlichen Jugendpflege organisiert und betrieben wurden. Da Räume in der Trägerschaft von Jugendverbänden in der Regel aber nur den Mitgliedern dieser Vereinigungen offenstanden, richteten viele Städte schließlich auch Raumangebote für junge Menschen ein, die nicht verbandlich organisiert waren, sogenannte „Jugendheime“ oder „Jugendclubs“. Diese Räumlichkeiten können tatsächlich als „Vorläufer“ der Offenen Jugendarbeit verstanden werden, da sie sich an alle Jugendlichen richteten und freiwillig sowie unentgeltlich genutzt werden konnten. Ferner fanden sich dort bereits zentrale „typische“ Ausstattungsmerkmale, wie Veranstaltungssäle, Sportmöglichkeiten, Werkstätten und Räume zum zwanglosen Treffen bzw. Spielen und die Angebote sollten die (fehlende) elterliche Erziehung und Fürsorge ersetzen bzw. ergänzen. (vgl. Gängler 2005, S. 506 f.) Als ein weiteres Merkmal verweist Gängler (ebd., S. 507 f.) auf den Charakter eines Anregungsmilieus, innerhalb dessen die Jugendlichen ihren Interessen nachgehen können. Eine „quantitative Ausdehnung der Jugendarbeit“ (Giesecke 1980, S. 19) wird schließlich vor allem für die Zeit der Weimarer Republik berichtet; entsprechende Richtlinien sahen vor, dass die gesamte deutsche Jugend in irgendeiner Form in Strukturen der Jugendarbeit integriert werden sollte, d. h. entweder in der verbandlichen Jugendarbeit organisiert oder im Rahmen der Jugendpflege betreut (vgl. ebd.). In dieser Zeit erfolgte schließlich auch eine erste statistische Erfassung der sich herausbildenden Raumkonzepte der Jugendarbeit. Gezählt wurden dabei 215 sogenannte „neutrale“ Jugendheime in kommunaler Trägerschaft. Gängler (2005, S. 508 f.) vermutet jedoch, dass die „offenen“ Jugendheime zunehmend auch von Jugendverbänden genutzt wurden. Wesentlicher Eckpfeiler dieser Entwicklung ist zudem die Verabschiedung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes in den 1920er Jahren, in dem die Jugendpflege als freiwillige Leistung sowie das bis heute zentrale Subsidiaritätsprinzip festgeschrieben wurden. In dieser Zeit setzte sich auch zunehmend eine eher wertfreiere Vorstellung und eine wissenschaftliche Reflexion von ‚Jugend‘ durch, welche vor allem auch der Abkehr von dem bisherigen Wertekanon des deutschen Kaiserreichs und einer zunehmenden gesellschaftlichen Öffnung und Demokratisierung
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geschuldet waren. Parallel dazu etablierte sich eine intensive psychologische, soziologische, rechtswissenschaftliche und pädagogische Auseinandersetzung mit der Lebensphase Jugend, wobei es aber weiterhin nicht selten darum ging, die Lebensphase Jugend im Sinne gesellschaftlich vorgegebener „Normalvorstellungen“ zu erziehen bzw. zu disziplinieren (vgl. Nugel 2013, S. 15 f.; Hafeneger 2005, S. 510). Die Anfänge einer Offenen Kinder- und Jugendarbeit, wie wir sie heute kennen, die sich vermehrt auf das Prinzip der Mitbestimmung und -gestaltung festlegt und sich als kommunikativer Raum versteht, finden sich jedoch erst in der Nachkriegszeit der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland (vgl. Hafeneger 2005, S. 510 f.; Giesecke 1980, S. 43 ff.; Fehrlen 2013; ausführlich nachzulesen in: Projektgruppe AGJF/IBG/LJRBW 1988). Eine besondere Rolle spielen hierbei die sogenannten „German Youth Activities (GYA)“, die von den alliierten Siegermächten in Westdeutschland, allen voran von der amerikanischen Militärregierung, mithilfe von Jugend- und Erziehungsoffizieren nach 1945 ins Leben gerufen wurden (zum Konzept und zur Entwicklung der GYA vgl. ausführlich Schubert 1988): „Neben der kommunalen Jugendpflege, der verbandlichen Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit wurde von ihnen die Offene Clubarbeit (…) initiiert und als neue Angebotsstruktur der Jugendarbeit etabliert; sie war eingebunden in die Leitlinien der amerikanischen Besatzungspolitik, die der ‚Reorientierung‘ und ab 1948 der ‚Demokratisierung der Jugend‘ verpflichtet wurde“ (Hafeneger 2005, S. 511).
In den amerikanischen Besatzungszonen wurden bereits zwischen 1946 und 1947 über 200 „GYA-Häuser“ als die ersten offenen Jugendclubs gegründet (vgl. Fehrlen/Schubert 1988, S. 50 f.). Kernmerkmal war eine weltanschauliche Neutralität, die Orientierung an demokratischen Prinzipien, Freiwilligkeit der Teilnahme und potenzielle Offenheit für alle Jugendlichen. In den ersten Nachkriegsjahren zwischen 1945 und 1951 konnten zwischen 250 und 350 solcher Jugendtreffs gezählt werden, die zusammengerechnet von etwa 300.000 bis 600.000 Jugendlichen im Monat genutzt wurden (Angaben schwanken je nach Quelle: vgl. Hafeneger 2005, S. 511, Fehrlen/Schubert 1988, S. 50 f.; Fehrlen 2013). Da diese Räume vor allem das Ziel hatten, die deutsche Jugend zur Demokratie (um-) zu erziehen, spielte die Mitbestimmung bei der Programmgestaltung sowie Wahlen der Jugendvertretungen stets eine zentrale Rolle. In diesen Räumen kamen die jungen Menschen zudem in Kontakt mit populärer amerikanischer Musik, sodass sie auch neue jugendkulturelle Eindrücke sammeln konnten. Daneben spielte aber auch insbesondere die Einrichtung von nachhaltigen
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Strukturen einer Jugendbeteiligung (z. B. Jugendforen und Jugendparlamente) als Sozialisationsmedium zum Aufbau und Stärkung demokratischer Ideen in der Jugendgeneration eine wichtige Rolle (vgl. Fehrlen/Schubert 1988, S. 35). Gerade diese weltanschauliche Neutralität, die Mitbestimmungsmöglichkeiten, die gezielte Einübung einer demokratischen Handlungspraxis sowie die Freiwilligkeit und Unverbindlichkeit der Teilnahme waren neu für die bundesdeutschen Träger der Jugendarbeit und kollidierten durchaus mit deren Selbstverständnis. Schließlich offenbarten sich recht schnell entsprechende Vorbehalte, nachdem diese neu geschaffenen Settings von der amerikanischen Militärregierung in deutsche Trägerschaften übergeben wurden, sodass diese Häuser zunächst nur noch eine untergeordnete Rolle in der bundesdeutschen Jugendarbeit der 1950er Jahre spielten (vgl. Giesecke 1980, S. 43 f.). Giesecke (ebd., S. 44) beschreibt diese Entwicklung als ein Verschwinden des undogmatischen „Geistes“ dieser Jugendhäuser und ein „Wiedererwachen“ früherer Leitbilder einer deutschen Jugendpflege; zudem waren diese neu gewonnen Ideen und Settings auch nur schwer mit der Vorstellung vereinbar, dass das „‚Eigentliche‘ der Jugendarbeit in der Mitgliedschaft in einem politischen oder weltanschaulichen Verband bestand (…)“ (ebd., S. 45). Auch quantitativ gesehen wurden die GYA schließlich dann immer mehr eingeschränkt und 1956 vollständig beendet (vgl. Fehrlen/Schubert 1988, S. 54). Da jedoch der „unorganisierten“ Jugend trotzdem entsprechende Räume zur Verfügung gestellt werden sollten, überlebten viele dieser Häuser in verschiedenster Form, etwa als sogenannte „Heime der offenen Tür“. Im Jahre 1953 wurden schließlich die Kernaufgaben und wesentlichen Charakteristika dieser „Heime der offenen Tür“ im Rahmen der „Gautinger Beschlüsse“ festgeschrieben: Zentrales Merkmal sollte die Unverbindlichkeit der Teilnahme bleiben. Das Raumkonzept sollte allen Jugendlichen offenstehen und gleichermaßen Freizeit- als auch Begegnungsund Interaktionsmöglichkeit sein. Ferner verstanden sich diese Häuser als Ergänzung zur Erziehung im Elternhaus, in der Schule oder in Ausbildung und Beruf (vgl. Giesecke 1980, S. 46). Einer Erhebung der Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge (AGJJ) zufolge existierten im Jahr 1955 etwa 550 „Heime der offenen Tür“, bei genauerer Recherche erfüllten aber nur 110 dieser Einrichtungen die relevanten Kriterien einer offenen Arbeit (vgl. Fehrlen 1988, S. 142). Insbesondere die „Freizügigkeit“ und die Möglichkeit zur ungezwungenen Freizeitgestaltung, welche ja gerade die GYA-Raumkonzepte auszeichneten, wurden eher wieder infrage gestellt, weil sie den deutschen JugendarbeiterInnen ungewöhnlich bzw. unpassend erschienen (vgl. Fehrlen 2013, S. 4). Aus diesem Grunde gab es dann in den meisten Häusern auch keinen offenen Bereich mehr und die BesucherInnen sollten sich „zielstrebig in die
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Werkstätten (…) begeben, um dort musisch gebildet zu werden“ (ebd.), was mit einem Attraktivitätsverlust dieser Häuser einherging. In den 1960er Jahren nahm schließlich die quantitative Bedeutung dieser offenen Einrichtungen wieder deutlich zu. In einer Untersuchung zu sogenannten „Jugendfreizeitheimen“ (die Definitionskriterien sind mit denen der oben genannten „Heime der offenen Tür“ weitestgehend deckungsgleich) konstatiert Grauer (1973, S. 16) einen Anstieg von 110 auf 1.148 Einrichtungen im Zeitraum von 1953 bis 1965. Gleichzeitig wuchs die Konkurrenz durch kommerzielle Freizeitangebote, die aufgrund von wachsendem Wohlstand auch von Jugendlichen wahrgenommen werden konnten. Dies zusammengenommen mit den sich in dieser Zeit verändernden jugendkulturellen Orientierungen und Lebensstilen (z. B. Rock ‚n‘ Roll) führte zur Frage nach einer Neuausrichtung und Modernisierung der Jugendarbeit. Während in den oben genannten Freizeitheimen der Fokus noch auf „kleingruppenhaften Gemeinschaftsbildungen und Aktivitäten in leistungsbetonten Arbeitsgemeinschaften“ (Grauer 1973, S. 259) lag, intensivierte sich in den 1960er Jahren der Ausbau von „Jugendclubs“ mit den Leitmotiven der Offenheit, der Mitbestimmung und dem Ansetzen an den Bedürfnissen und kulturellen Interessen der Jugendlichen. In diesen Jugendclubs gewann der Musik- und Veranstaltungsbetrieb an Bedeutung, auch, um mit den daraus entstehenden Einnahmen die laufenden Kosten des Jugendclubs zu decken (vgl. Böhnisch 1984a, S. 467). Zusammengefasst resultierte diese Form der einrichtungsbezogenen Jugendarbeit sowohl aus einer praktischen Notwendigkeit angesichts der gestiegenen Konkurrenz durch kommerzielle Angebote als auch als Reaktion auf die theoretische Formulierung einer „emanzipatorischen Jugendarbeit“, die ebenfalls Mitbestimmung und eine offene, bedürfnis- und interessenorientierte Arbeit forderte (vgl. Müller u. a. 1986 [1964]). Der Ende der 1960er Jahre/Anfang der 1970er Jahre in Mode gekommene Begriff „Offene Jugendarbeit“ beschrieb dann sowohl die Raumkonzepte als auch den Wandel der pädagogisch-konzeptionellen Ausrichtung (vgl. Fehrlen 2013, S. 3). Diese emanzipatorischen Forderungen verbanden sich zu Beginn der 1970er Jahre mit der StudentInnen-, SchülerInnen-, und Lehrlingsbewegung sowie mit gesamtgesellschaftlichen Reformhoffnungen hin zu mehr Demokratisierung und sozialer Modernisierung. Daraus resultierte im Bereich der Jugendarbeit eine Vielzahl an Initiativgruppen, die sich als Jugendzentrumsbewegung zusammenfassen lassen und deren Kernelemente der „Kampf“ um (Frei-)Räume und – damit auch zusammenhängend – das Prinzip der Selbstverwaltung darstellten (ausführlich dazu: Herrenknecht u. a. 1977; Herrenknecht 1979; Damm 1979). Unter dem Einfluss einer „reformorientierten offensiven Jugendhilfe“ (Hafeneger 2013, S. 43) äußerten diese Gruppen ihre Unzufriedenheit mit der quantitativen und
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qualitativen Versorgung von Freizeitangeboten für Jugendliche, insbesondere auf dem Land – dort gab es zu dieser Zeit lediglich 214 Freizeitheime in Deutschland (vgl. Grauer 1973, S. 26; Hafeneger 2013, S. 42). Zudem wurden Forderungen nach mehr Selbstbestimmung, nach Freiräumen und Experimentierfeldern sowie nach „Selbstverwaltung statt Stadtverwaltung“ (Hafeneger 2013, S. 42) und nach „Was wir wollen – Freizeit ohne Kontrollen“ (Herrenknecht u. a. 1977, S. 13) geäußert. Dabei wurde Selbstverwaltung nicht nur organisatorisch verstanden, sondern gleichermaßen als Prinzip der Selbstsozialisation und der Basisdemokratie sowie als Kampf gegen Pädagogisierung und Institutionalisierung in der Jugendarbeit (vgl. ebd., S. 30). Diese Entwicklungen führten zu Auseinandersetzungen mit der öffentlichen Verwaltung sowie zu Hausbesetzungen, weshalb Hafeneger (2013, S. 42) diese Phase auch als „Kampf-ums-Haus-Phase“ bezeichnet. Letztendlich manifestierten sich in der Jugendzentrumsbewegung aber vor allem auch politische Interessen, sodass durchaus eine Tendenz zur Instrumentalisierung dieser Raumkonzepte zur Politisierung der Jugendlichen erkennbar wird: „Selbstverwaltete Jugendzentren müssen weiterhin Orte der freien und persönlichen Betätigung bleiben. Sie müssen (…) Traditionen der autonomen Arbeiterbewegung, der demokratischen und sozialistischen Jugendbewegung weiterleben.“ (Herrenknecht u. a. 1977, S. 18).
Schließlich gingen viele Jugendhäuser nach der Durchsetzung ihrer ursprünglichen Forderungen in einen geregelten Selbstverwaltungsbetrieb über, was bedeutete, dass auf den zunächst antipädagogischen, antiinstitutionellen und antiprofessionellen Charakter der Jugendzentrumsbewegung zunehmend Vereinsgründungen, eine verstärkte kommunale Einbindung und die Einstellung hauptamtlicher MitarbeiterInnen folgte und viele Einrichtungen in kommunale oder vereinsbezogene Trägerschaft wechselten (Hafeneger 2013, S. 42). Diese Tendenz lässt sich vor allem im Hinblick auf zwei Entwicklungen rekonstruieren und erklären: (1) Zum einen stellte eine solche „geregelte“ Selbstverwaltung eine optimale Möglichkeit dar, die „Interessenskollision“ zwischen originärer Selbstverwaltung einerseits und der Anstellung einer, durchaus auch als Unterstützung erlebten, sozialpädagogischen Fachkraft andererseits, zu lösen (vgl. Teuter 1983). Insbesondere durch die Überführung in eine Vereinsform und durch die Anstellung des/der Hauptamtlichen in diesem Verein gelang es, sowohl die Interessen der Jugendlichen zu vertreten, als auch den Erhalt des Arbeitsplatzes zu sichern: „Sind die Jugendlichen auch die Arbeitgeber, sind ‚Solidarität mit den Betroffenen‘ und ‚Loyalität mit dem Dienstherren‘ identisch, und der Jugend-
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arbeiter (sic!) sitzt nicht mehr ‚zwischen den Stühlen“‘. (Teuter 1983, S. 263). (2) Zum zweiten ist diese Entwicklung aber auch direkte Konsequenz der Auseinandersetzungen mit den Kommunen, etwa aufgrund von Finanzierungssicherheit; so ermöglichte eine Vereinsgründung und das Einstellen hauptamtlicher Fachkräfte im Interesse der Kommunen auch gleichermaßen einen Zugewinn an finanziellen Möglichkeiten und Versorgung mit relevanten Ressourcen, weil die Kommunen die Mittel meist an diese Bedingungen knüpften (Hafeneger 2005, S. 514; Strack 1983, S. 80 f.). Insgesamt führten diese Entwicklungen zu einem quantitativen Ausbau und zu einer Professionalisierung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (eine Rolle hierfür spielte auch die Einführung von Fachhochschulen mit entsprechenden Studiengängen; vgl. Fehrlen 2013, S. 5), wodurch diese zu einem „attraktiven Experimentierfeld [und einer] relativ ‚autonomen‘ Institution“ (Hafeneger 2013, S. 42) wurde, die sich eng an den jugendkulturellen Interessen der BesucherInnen orientierte. Für die Mitte der 1970er Jahre konstatiert Hafeneger (ebd., S. 43) über 4.000 Einrichtungen und etwa 3.100 hauptamtliche MitarbeiterInnen. Fehrlen (2013, S. 5) schätzt, dass zu dieser Zeit etwa 5.000 offene Einrichtungen existierten. Im Übergang zu den 1980er Jahren veränderte sich diese Entwicklung im Zusammenhang mit sozial- und wirtschaftspolitischen Krisenentwicklungen (z. B. Anstieg der Staatsverschuldung) und neuen gesellschaftlich definierten Problemlagen in Bezug auf Jugendliche (z. B. Drogenkonsum, Jugendarbeitslosigkeit) erneut: Es kam zu einer „kompensatorischen Ausrichtung und sozialpolitischen Funktionalisierung der Offenen Jugendarbeit“ (Hafeneger 2013, S. 43). Infolgedessen wurde die Selbstverwaltung vieler Jugendzentren kommunal eingeschränkt und die parallel dazu sich neu formierenden sozialen Bewegungen (z. B. Frauen- und Ökologiebewegung) engagierten sich eher außerhalb von Jugendeinrichtungen. Herrenknecht (1981) beschreibt zudem einen zunehmenden Ausstieg politisch engagierter JugendarbeiterInnen aus der offenen Jugendarbeit und eine damit einhergehende „Entpolitisierung der Jugendzentren (…), in denen der Sozialarbeiter zum Verwaltungsmanager deformiert wird“ (ebd., S. 221). In der Folge bzw. parallel dazu veränderte sich auch die Besucherschaft. BesucherInnen in Einrichtungen der OKJA stammten schließlich immer mehr aus sozial schlechter gestellten Milieus, weil – wie Böhnisch (1984b, S. 519) es treffend beschreibt – „die Räume für sie draußen immer enger geworden sind“. Dadurch änderte sich auch der Aufgabenfokus der Fachkräfte von politischer Bildungsarbeit und Freizeitarbeit eher in Richtung helfende und beratende Tätigkeiten (Hafeneger 2013, S. 44); Jugendarbeit wurde quasi „‚sozialpolitisch in die Pflicht‘ genommen“ (Fehrlen 2013, S. 6). Es ist jedoch anzunehmen, dass diese Entwicklung auch mit der zunehmenden
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Professionalisierung des Berufsbilds und der damit einhergehenden beruflichen Identität zusammenzuhing, weil Unterstützungsbedarf quasi auf „ExpertInnen“ traf, die in entsprechenden Unterstützungstätigkeiten auch den „Sinn“ von Jugendarbeit sahen: „Eine wachsende Anzahl von Jugendarbietern (sic!) glaubte diesen ‚Sinn‘ entdeckt zu haben in der pragmatischen Unterstützung von Jugendlichen, die als ‚schwierig‘ oder ‚problembelastet‘ galten.“ (ebd.).
Die Tätigkeitsschwerpunkte lagen dann in der Arbeit mit arbeitslosen und ausbildungssuchenden Jugendlichen sowie in der Konzipierung entsprechender Angebote (z. B. Werkstätten) (vgl. ebd.). Dies alles ging schließlich einher mit dem „Brüchigwerden“ eines optimistischen Jugendbildes (Jugend als „Experimentierraum“) der 1970er Jahre (vgl. Böhnisch 1984b): „Jugend wird vorwiegend als ‚Problemgruppe‘ verhandelt und es wird Aufgabe der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, soziales Abgleiten und Desintegration zu verhindern, Hilfestellung bei Integrationsbemühungen und in der Lebensbewältigung anzubieten. Dies werden Leitmotive im Spannungsfeld von sozialpolitischer Funktionalisierung und pädagogischer Ohnmacht, verbunden mit politischem Bedeutungsverlust des Arbeitsfeldes.“ (Hafeneger 2013, S. 44)
Allerdings verschränkten sich diese Prozesse mit einer professionellen Entwicklung des Arbeitsfelds, die sich u. a. in der Reaktion auf veränderte Problem- und Bedarfslagen, der Entwicklung neuer alters-, geschlechter-, milieu- oder cliquenorientierter Angebotsformen (z. B. Mädchen- und Jungenarbeit) zeigte. Auch auf die Veränderung der Jugendphase selbst reagierte die Offene Kinder- und Jugendarbeit mit Einbeziehung aktueller lebenswelt- und lebenslagenorientier Ansätze sowie einem stärkeren Fokus auf Vernetzung im jeweiligen Sozialraum (vgl. Hafeneger 2013, S. 44). Überhaupt wurde in den 1980er Jahren der „Raum“ eine der zentralen Kategorien in der konzeptionellen Debatte zur Ausrichtung der offenen Arbeit. Deutlich wird dies in der Forderung nach selbst verfügten und aneigenbaren Räumen für Kinder und Jugendliche sowie in der Beschreibung von hauptamtlichen MitarbeiterInnen als ‚RaumwärterInnen‘ die den Jugendlichen Bewältigungs- und Erfahrungsräume zur Verfügung stellen sollen (vgl. Böhnisch/Münchmeier 1987; Böhnisch/ Münchmeier 1990). Diese sich bereits andeutende Pluralität von theoretischen und konzeptionellen Angeboten für die Jugendfreizeiteinrichtungen setzte sich seit den 1990er Jahren bis heute fort, wobei insbesondere sozialräumlich-aneignungstheoretische
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Konzepte weiterentwickelt wurden (vgl. Deinet 1992). Allerdings verschärfte sich für die Einrichtungen in vielen Regionen auch der ‚Legitimationsdruck‘ und die Jugendarbeit war in diesem Zeitraum oftmals von Kürzungen in kommunalen Haushalten betroffen (Hafeneger 2013, S. 45). Parallel dazu öffneten sich neue Kooperationszusammenhänge in den Sozialraum und vor allem zur Schule, was wiederum zu einer neuen konzeptionellen Debatte innerhalb der Einrichtungen und des Arbeitsfelds führte (vgl. hierzu beispielsweise Coelen 2002). Übergreifend wird deutlich, dass das Zurverfügungstellen von Räumen als zentrales Gestaltungsprinzip von Jugendarbeit bereits seit Beginn einer institutionalisierten Form von Jugendarbeit immer eine zentrale Rolle gespielt hatte. Hingegen sind die zentralen Leitlinien methodischen Handelns einer einrichtungsbezogenen Jugendarbeit insbesondere in den 1950er Jahren entstanden, haben sich seitdem verstetigt und lassen sich als „Arbeitsprinzipien“ (AGJF 2018, S. 14; Sturzenhecker/Deinet 2018, S. 695 f.) bzw. Strukturmerkmale (vgl. Sturzenhecker 2005) in aktuellen Beschreibungen Offener Kinder- und Jugendarbeit wiederfinden: Insbesondere „Offenheit“, „Freiwilligkeit“ und „Partizipation“ bzw. „Partizipativität“ markieren nach wie vor die normativen Bezugspunkte der OKJA, sowohl in der Konzeption von Einrichtungen als auch in der alltäglichen Handlungspraxis (bei Sturzenhecker 2005 werden noch die Prinzipien der Marginalität und Diskursivität genannt).1 Auf der anderen Seite zeigt diese Skizze historischer Entwicklungslinien aber auch, dass sich unterschiedliche Begründungskontexte finden lassen, die mit den jeweils vorherrschenden „Jugendbildern“ und Interessen der „Erwachsenenwelt“ zusammenhängen und sich mitunter in entsprechenden theoretischen Debatten niederschlagen (vgl. dazu auch Kap. 2: Theorien und Theoriekonzepte der Kinder- und Jugendarbeit). Zum einen basiert die Entwicklung einer einrichtungsbezogenen Jugendarbeit auf erzieherischen Forderungen, z. T. mit einer deutlichen Delinquenzorientierung, wie sie vor allem im 19. Jahrhundert und zu Beginn der Weimarer Republik formuliert wurden. Die Offene Jugend-
1Die teilweise parallel zu diesen westdeutschen Entwicklungen verlaufende Geschichte von offenen Jugendeinrichtungen in der ehemaligen DDR wurde hier weitestgehend ausgespart. Dort wurden flächendeckend sogenannte ‚Jugendklubs‘ eröffnet (ca. 7.000), die eine staatlich-instrumentellen Erziehungsauftrag verfolgten und die Jugendlichen zu einer ‚sozialistischen Persönlichkeit‘ formen sollten (vgl. Hafeneger 2013, S. 39). Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde ca. die Hälfte diese Clubs geschlossen und die restlichen Einrichtungen nach dem westdeutschen Vorbild der Offenen Kinder- und Jugendarbeit umstrukturiert (vgl. ebd.).
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arbeit sollte hier vor allem dazu dienen, sogenannte „verwahrloste Jugendliche“ oder im öffentlichen Raum auffällige Jugendgruppen in bestimmten Settings zu betreuen, um sie dadurch in erzieherischer Absicht (wieder) in gesellschaftliche Ordnungsstrukturen zu integrieren. Auch wenn im Rahmen der German Youth Activities nach dem zweiten Weltkrieg dann die Weichen eindeutig in Richtung einer partizipativen und demokratieorientierten Jugendarbeit gestellt wurden, dominierte schließlich in den 1950er und 1960er Jahren eine sozialintegrative Orientierung, in der es wiederum stärker darum ging, junge Menschen auf das Erwachsenleben vorzubereiten. Seckinger u. a. (2016, S. 15) weisen darauf hin, dass sich diese sozialintegrative Funktion durchaus immer noch in Formulierungen in der für die Offene Kinder- und Jugendarbeit relevanten Rechtsgrundlage (§ 11 SGB VIII) findet, etwa, dass die Angebote der Jugendarbeit junge Menschen „zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen“ sollen. Andere Begründungslinien lassen sich dann vor allem in den aufkommenden sozialen Bewegungen der späten 60er Jahre finden, in denen die Forderung nach einer eigenständigen Nutzung von Räumen für Jugendliche verstärkt vertreten wurde, welche dann vor allem in den 70er Jahren in der Selbstverwaltungsbewegung ihren Höhepunkt fand. Diese Forderung ging dabei einher mit einer stärkeren Orientierung an der Theorie der emanzipativen Jugendarbeit. Letztendlich lassen sich in dieser Zeit aber auch Entwicklungen hin zu einer Instrumentalisierung der Jugendarbeit zur Durchsetzung politischer Ziele von bestimmten Gruppen erkennen, wie sie sich etwa in der antikapitalistischen Jugendarbeit niederschlagen. Schließlich entwickelten sich in den 80er und 90er Jahren wieder andere Begründungslinien, die stärker eine Orientierung an den Bedürfnissen und Interessen der jungen Menschen forderten (z. B. die Lebensweltorientierung oder die subjektorientierte Jugendarbeit). Dies wiederum ging einher mit einem erheblichen quantitativen Ausbau an Jugendfreizeitstätten, die mit allerlei Aktivitäts- und Betätigungsmöglichkeiten ausgestattet sind. Auf der anderen Seite fand im Zuge dieser Entwicklung eine zunehmende Professionalisierung der Offenen Jugendarbeit statt, d. h. die zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten wurden von hauptamtlichem Personal geleitet und Angebote von entsprechend qualifiziertem Personal geplant und durchgeführt, was wiederum eine gewisse Einschränkung der vorherigen Selbstorganisation und Selbstverwaltung nach sich zog. In der Folge fokussierte die (zunehmend professionalisierte) Offene Jugendarbeit auf eine starke Angebotsorientierung sowie auf sozialpädagogische Unterstützungsund Beratungsstrukturen, sodass zumindest für die aktuelle Praxis durchaus wieder eine Wende hin zu einer sozialintegrativen Funktion zu erkennen ist. Alles in allem zeigen diese Entwicklungen, dass sich Offene Jugendarbeit stets
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in einem Spannungsfeld „zwischen gesellschaftlicher Indienstnahme und selbst gestaltbaren Freiräumen für Kinder und Jugendliche“ (Seckinger u. a. 2016, S. 15) bewegt. Thole (2000, S. 31 f.) beschreibt dieses Spannungsfeld sehr treffend: „Das Spannungsverhältnis zwischen den Selbstartikulations- und Selbstvertretungsansprüchen der Heranwachsenden und den sozialdisziplinierenden Diktionen der staatlichen und teils auch der verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit durchzieht die bisherige Geschichte dieses Arbeitsfelds wie ein roter Faden. (…). Die Ambivalenz zwischen Autonomie-, Selbstvertretungs- und Partizipationsansprüchen von Heranwachsenden und dem gesellschaftlichen Auftrag der Kinder- und Jugendarbeit, die soziale Integration der Kinder und Jugendlichen zu fördern und im Konfliktfall auch mit massiven Interventionen einzuklagen, ist im Kern heute noch aktuell.“
4 Ortsgebundene (Groß-) Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit heute – Vielfalt an Zielgruppen, Nutzungsmotiven und Angebotsformen Größere Jugendfreizeiteinrichtungen unterscheiden sich von kleineren Stadtteileinrichtungen (im städtischen Kontext) oder Jugend- bzw. Gemeinderäumen und Bauwagen (z. B. im ländlichen Raum) vor allem durch ihre vielfältigen Raum- und Betätigungsangebote, die oftmals heterogene Besucherschaft sowie eine häufig überregionale und stark angebotsorientierte Ausrichtung auf themen- und interessenorientierte Schwerpunkte (Workshops, Konzerte, Kurse, usw.). Die kulturell, musisch oder kommunikativ orientierten Angebote richten sich potenziell an alle interessierten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus einer bestimmten Region und werden nicht selten sogar überregional ausgeschrieben bzw. beworben. Vor allem in den westdeutschen Großstädten entwickelte sich bis heute eine relativ hohe Angebotsdichte an offenen (Groß-) Einrichtungen für Kinder und Jugendliche (vgl. Binder 2005, S. 353). In Ostdeutschland stellt sich dies etwas anders dar, dort finden sich aktuell mehr Jugendeinrichtungen im ländlichen Raum, gemessen an der jeweiligen Anzahl an Kindern und Jugendlichen in einer Region (vgl. BMFSFJ 2017, S. 369). Folgende Charakteristika lassen sich bei Großeinrichtungen der offenen Jugendarbeit mit freizeitbezogenem Schwerpunkt häufig finden (vgl. Thole 2000, 102 ff.; Binder 2005, S. 353 ff., Seckinger u. a. 2016, S. 98 ff.):
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• Die Einrichtungen bieten vielfältige Freizeit- und Bildungsangebote an, die sich i. d. R. sowohl an Kinder als auch an Jugendliche richten. In den meisten Fällen werden dabei sowohl offene, teiloffene sowie Kursangebote oder gruppen- bzw. cliquenbezogene Angebote vorgehalten. Der Großteil der Einrichtungen bietet dabei auch „spezielle Angebote“ für ausgewiesene Personengruppen an (z. B. Mädchenarbeit, Beratungsleistungen, Jugendberufshilfe usw.). Der sogenannte offene Bereich bildet allerdings nach wie vor den Kern des Raumkonzepts und wird (nach wie vor) am häufigsten von Jugendlichen genutzt. • Geöffnet haben die Einrichtungen zumeist mehrere Tage in der Woche. Überraschend ist hingegen, dass augenscheinlich für viele Einrichtungen das Wochenende, vor allem sonntags, nicht zu den gängigen Öffnungszeiten zählt. Seckinger u. a. (2016) formulieren hierzu treffend: „Betrachtet man die durchschnittlichen Schließzeiten der Einrichtungen, dann lässt sich jedoch fragen, ob diese eher an den Interessen der Jugendlichen oder an dem Bedürfnis der Fachkräfte orientiert sind.“ (ebd., S. 105). • Gerade weil die Nutzung dieses Raumkonzepts der offenen Jugendarbeit auf Freiwilligkeit und Offenheit setzt, sind die Einrichtungen darauf angewiesen, dass die Angebote für Kinder und Jugendliche attraktiv sind. Der Verzicht auf Anmeldeformalitäten sowie eine vollkommene Zwangsabstinenz (niemand kann gezwungen werden, an den Angeboten teilzunehmen) machen es unumgänglich, dass sich die Raum- und Programmplanung stets an den Interessen, Bedürfnissen und Vorlieben der jungen Menschen orientieren. Letztendlich entscheidet dies vollständig darüber, „welche jungen Menschen erreicht werden (und für welche jungen Menschen das spezifische Angebot eines Jugendzentrums unattraktiv ist)“ (Seckinger u. a. 2016, S. 113).
4.1 Zielgruppen, Besucherstruktur, Nutzungsmotive und „Reichweite“ Insbesondere, wenn es sich um Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit handelt, richten sich die Angebote immer an alle Kinder und Jugendlichen eines gegebenen Sozialraums, unabhängig von Geschlecht, Nationalität oder sonstigen Merkmalen. Je nach konzeptioneller Ausrichtung und zur Verfügung stehender Räumlichkeiten gibt es hinsichtlich des Alters durchaus Unterschiede, die „klassische“ Zielgruppe von (Groß-) Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit sind aber meist die 14- bis 18-Jährigen (vgl. Thole 2000, S. 104 ff.). Zu beobachten ist allerdings eine zunehmende „Verjüngung“ der Besucherschaft
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(siehe dazu ausführlich Abschn. 5). Dem Anspruch, offen für alle Besuchergruppen zu sein, wird zwar konzeptionell in der Regel entsprochen, in der Realität kann dies jedoch aus verschiedenen Gründen nicht immer erfüllt werden. In diesem Zusammenhang wird häufig kritisiert, die Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit würden sich zu sehr auf bestimmte Jugendliche konzentrieren bzw. wären ein „Sammelbecken“ für einen bestimmten „Typus“ Jugendlicher, nämlich männliche Jugendliche mit vorwiegend Migrationshintergrund und vergleichsweise niedriger (angestrebter) Schulbildung. In bundesweiten sowie regionalen Studien wird dieser Trend durchaus bestätigt: So verweist beispielsweise der 15. Kinder- und Jugendbericht sowohl auf ein Übergewicht männlicher Besucher als auch darauf, dass junge Menschen mit Migrationshintergrund überrepräsentiert sind; insbesondere im Hinblick auf das Merkmal Migrationshintergrund wird jedoch auf starke regionale Unterschiede verwiesen (vgl. BMFSFJ 2017, S. 384; vgl. ebenso Schmidt 2011, S. 51 ff.). Jugendbefragungen, d. h. repräsentative Befragungen junger Menschen in ausgewählten Regionen, bestätigen diese Tendenzen ebenfalls. Hier wird zudem deutlich, dass BesucherInnen von offenen Jugendeinrichtungen deutlich seltener aufs Gymnasium gehen und häufiger andere Schultypen besuchen (vgl. beispielsweise Schmid/Antes 2017, S. 37 ff.; Landeshauptstadt Wiesbaden 2017, S. 46 f.; Rahn u. a. 2018, S. 158). In sogenannten BesucherInnen- bzw. NutzerInnen-Befragungen mit regionalem Bezug lassen sich darüber hinaus spezifische Informationen zur prozentualen Verteilung dieser Merkmale in der Besucherschaft finden (vgl. beispielsweise Dalaker/Luley 2016; Deinet u. a. 2017; Meyer u. a. 2017; Mohnke/Breit 2017; Stadt Leipzig 2014, 2017; Schmidt 2011, S. 51 ff.): So bewegt sich der Anteil an männlichen Jugendlichen meist zwischen ca. 55 % und 70 %. Ganz ähnlich wird auch der Anteil an jungen Menschen mit Migrationshintergrund eingeschätzt (in der Tendenz zwischen 50 % und 70 %; mit Ausnahme der Studien aus Ostdeutschland). Was die Bildungsaspiration betrifft, so werden zwischen 70 % und 80 % der BesucherInnen einem niedrigeren oder mittleren (angestrebten) Bildungsabschluss zugeordnet, während GymnasiastInnen deutlich unterrepräsentiert sind. Im 15. Kinder- und Jugendbericht wird diese Tendenz zudem mit dem Merkmal „Bildungsabschluss“ der Eltern verknüpft („Eltern(teil) AkademikerInnen“). Hier zeigt sich eine negative Korrelation mit dem Besuch von offenen Jugendfreizeitstätten und ein positiver Zusammenhang mit der Nutzung von Angeboten der verbandlichen Jugendarbeit: „So geht ein höherer Sozialstatus der Eltern mit einer wahrscheinlicheren und regelmäßigeren Teilnahme in Sportvereinen, in kulturellen Angeboten und Organisationen sowie in kirchlich-religiösen Gruppen einher.“ (BMFSFJ 2017, S. 388).
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Die Gründe für eine solche Dominanz an Jugendlichen aus vorwiegend n icht-akademischen Milieus und vermutlich stärker sozioökonomisch benachteiligten Lebenslagen in Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sind sicher vielfältig. Dies könnte einerseits daran liegen, dass das Angebot in der offenen Jugendarbeit kostengünstig und niedrigschwellig ist sowie grundsätzlich auf bestimmte Teilnahmevoraussetzungen verzichtet wird. Seckinger u. a. (2016, S. 25) äußern jedoch auch die These, dass die Räumlichkeiten und Betätigungsmöglichkeiten insbesondere für diese spezielle Zielgruppe attraktiv sind und auf andere Zielgruppen abschreckend wirken. Ob die Besucherstruktur wirklich so stark durch einen bestimmten „Typus“ Jugendlicher dominiert ist, hängt insgesamt aber durchaus auch von einerseits regionalen Besonderheiten (vgl. Seckinger u. a. 2016, S. 31) und andererseits auch von der konzeptionellen Ausrichtung, etwa auf Schulkooperationen (Meyer u. a. 2017), ab. Nicht selten spiegelt die Besucherschaft beispielsweise durchaus den vor Ort üblichen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund wider, und eine gewisse Dominanz an männlichen Jugendlichen findet man auch in Sportvereinen. Unabhängig davon lassen sich nicht selten sogenannte „Belagerungseffekte“ beobachten, d. h., dass bestimmte Jugendcliquen die Räume okkupieren und dann dazu beitragen, dass andere Jugendcliquen die Einrichtungen nicht mehr aufsuchen oder nutzen (vgl. Schmidt 2011, S. 67 f.; Rahn u. a. 2018, S. 161). Insbesondere im offenen Bereich lässt sich eine solche „Cliquendominanz“ (vgl. Seckinger u. a. 2016, S. 25) feststellen. Der Zugang zu solchen Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit findet dabei häufig bereits im mittleren oder späten Kindesalter statt (vgl. Mohnke/Breit 2017) und eine große Rolle für den Erstbesuch spielen in der Regel der Freundeskreis oder Geschwister bzw. andere Verwandte, die selbst das Jugendhaus bzw. das Jugendzentrum besuchen (vgl. beispielsweise Meyer u. a. 2017; Rahn u. a. 2018). Daneben lassen sich noch eine Reihe anderer Motive identifizieren, die Cloos/Köngeter (2009) im Rahmen einer qualitativen Studie zusammengetragen haben, etwa das Interesse, andere Jugendliche kennen zu lernen und regelmäßig zu treffen, die dort vorzufindenden Spiel-, Betätigungsund Sportaktivitäten (sogenannte „Vorhalteleistungen“), attraktive Räume und Mitgestaltungs- oder Engagementmöglichkeiten sowie Langeweile (ebd., S. 86 ff.; ähnlich auch Rahn u. a. 2018, S. 158 f.) Vereinzelt lassen sich aber auch Zugangsmuster aufgrund externer Zwänge finden, die mit institutionellen Kontexten (etwa der Schule) oder einer Vertreibung aus dem öffentlichen Raum zusammenhängen (Cloos/Köngeter 2009, S. 89). Cloos und Köngeter resümieren
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hierzu treffend: „Pointiert formuliert sind Jugendhäuser damit zuallererst Orte für jugendkulturelle Begegnungen. Als eine pädagogische Veranstaltung wird das Jugendhaus kaum wahrgenommen. (…) Sie besuchen das Jugendhaus nicht, weil sie Hilfe in Anspruch nehmen wollen.“ (ebd., S. 86 f.). Dies bestätigt auch eine aktuelle regionale Studie, die auf Basis qualitativer Interviews und anschließender quantitativer Befragung zeigen konnte, „dass die Orte der Jugendarbeit für Jugendliche von Interesse sind, weil sie dort Freiräume und Treffpunkte für sich jenseits kommerzieller Angebote oder organisierter Strukturen erkennen, an denen sie sich entfalten, ihren Interessen nachgehen können und an denen sie sich mit ihrer Peergroup zwanglos und ungebunden treffen können“ (Rahn u. a. 2018, S. 158). Die dort tätigen pädagogischen Fachkräfte spielen dennoch eine wichtige Rolle: (1) sie haben eine Initiativfunktion, was den Zugang und die Teilnahme an den Angeboten betrifft und (2) sie sind wichtige Vertrauenspersonen, sodass die jungen Menschen auch weiterhin eine Jugendeinrichtung besuchen (vgl. ebd.). Des Weiteren interessiert auch die sogenannte „Reichweite“ der OKJA, d. h. wie viele Kinder- und Jugendliche von den Angeboten erreicht werden. Verschiedene Studien (vgl. ausführlich dazu: Schmidt 2011, S. 45 ff. sowie BMFSFJ 2017, S. 382 ff.; Schmid/Antes 2017, S. 39; Deinet u. a. 2017, S. 66 f. und den kurzen Überblick in Closs/Köngeter 2009, S 82) zeigen, dass rund 5–10 % aller Kinder und Jugendlichen einer definierten Alterskohorte Angebote der Offenen Jugendarbeit regelmäßig, d. h. per Definition: etwa einmal die Woche, nutzen. Zählt man noch die sporadischen Nutzungen (ein- oder mehrmals im Jahr) hinzu, erhöht sich dieser Prozentsatz um nochmals ca. 20–30 %. Insgesamt kann man also von einer mehr oder weniger regelmäßigen Nutzungsintensität von etwa 25–40 % aller Kinder und Jugendlichen ausgehen, wobei es natürlich große regionale Unterschiede geben kann. Das heißt jedoch im Umkehrschluss, dass mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen einer Region die Angebote von Jugendzentren oder Jugendhäusern weniger als einmal im Jahr oder überhaupt nie in Anspruch nehmen. Von diesen „Nicht-NutzerInnen“ werden in einer Untersuchung von Deinet u. a. (2017, S. 83) in vier Kommunen in Nordrhein-Westfalen zwei wesentliche Aspekte als Gründe benannt (n = 817): einerseits freundes- bzw. cliquenbezogene Gründe (z. B. „Ich treffe mich mit meinen Freunden lieber woanders“, „Meine Freunde besuchen es nicht“), andererseits angebotsbezogene Gründe (z. B. „Ich gehe lieber anderen Hobbies nach“, „Die Angebote dort interessieren mich nicht“). Andere Aspekte – wie beispielsweise die langen Schulzeiten oder die weite Entfernung zum Jugendhaus – sind zwar ebenfalls relevant, werden aber im Vergleich dazu von einem deutlich geringeren Anteil an Befragungspersonen genannt (vgl. ebd.). Die zentrale
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Bedeutung von freundes- bzw. cliquenbezogenen Gründen sowie von angebotsbezogenen Gründen für einen Nicht-Besuch wurde beispielsweise auch in der Wiesbadener Jugendbefragung bestätigt (vgl. Landeshauptstadt Wiesbaden 2017, S, 47).
4.2 Trägerstruktur, Arbeitsformen und Zielsetzung des pädagogischen Handelns Lange Zeit wurde die Mehrzahl größerer Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in freier Trägerschaft betrieben (meist Verbände oder eingetragene Trägervereine), allerdings haben Einrichtungen in städtischer bzw. kommunaler Trägerschaft in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Aktuell wird davon ausgegangen, dass die heutige Angebotslandschaft der Offenen Kinder- und Jugendarbeit von öffentlichen Trägern dominiert ist (vgl. Seckinger u. a. 2016, S. 42). Seckinger u. a. (ebd., S. 39 ff.) führen dies mitunter auf den Auf- und Ausbau der offenen Jugendarbeit in Gebieten, wo bislang solche Angebote fehlten, zurück (wobei es sich vermutlich vor allem um eine Entwicklung handeln dürfte, in der selbstverwaltete Einrichtungen, insbesondere im ländlichen Raum, in eine kommunale Trägerschaft wechselten). Wie sich im vorangegangenen Abschnitt bereits gezeigt hat, zeichnen sich die hier relevanten (Groß-) Einrichtungen der OKJA vor allem durch einen zentralen konzeptionellen Aspekt aus: Die Offenheit. Diese Offenheit muss dabei immer auch im Hinblick auf verschiedene Aspekte der Angebotserbringung gedacht werden: „Das Markante an der offenen Kinder- und Jugendarbeit ist dem Namen nach das Offene, das sich auf mehrere Dimensionen bezieht. Eine wichtige Dimension für die Offenheit ist der Raum, in den jeder hinein und hinaus kann und für den keine Zugangsberechtigung beispielsweise durch eine verbindliche Anmeldung erforderlich ist.“ (Seckinger u. a. 2016, S. 14)
Generell und anschließend an die oben genannten Theorietraditionen der OKJA geht es also vor allem um das „Zurverfügungstellen von Räumen“ (ebd.), die sich die jungen Menschen selbstständig und aktiv aneignen. Die pädagogischen Fachkräfte begleiten und unterstützen diesen Prozess, bieten gleichzeitig aber auch Beratung und Unterstützung bei diversen Anliegen an. Diese spezifische pädagogische Konstellation wurde von Cloos u. a. (2009, S. 15) treffend als „sozialpädagogische Arena“ bezeichnet:
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Die Arbeitsformen und -inhalte der pädagogischen Arbeit in diesen Großeinrichtungen erstrecken sich dabei vom offenen Bereich über vielfältige Bildungsangebote und Workshop- bzw. Kursangebote, themenzentrierte Projektarbeit und sportliche Betätigungsmöglichkeiten, bis hin zu kleineren und größeren jugendkulturellen Veranstaltungen (z. B. Hip-Hop Jams, DJ-Wettbewerbe, Konzerte, Festivals, Theaterstücke usw.). Die Programmstruktur deckt dabei sowohl freizeitorientierte, sportive, kulturelle als auch geselligkeitsorientierte, kommunikative und politisch bildende Angebote (z. B. Diskussions- oder Themenabende) ab. Entsprechend vielfältig sind auch die räumlichen Möglichkeiten (Cafébetrieb, Disko-/Veranstaltungsräume, Fotolabors, Gruppenräume, Werkstätten, Proberäume für Bands, Sportflächen usw.). Folgende Angebote und Ausstattungsmerkmale gehören häufig zum „Standardrepertoire“ von größeren Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (vgl. Binder 2005, S. 355 f., Seckinger u. a. 2016, S. 106 ff. sowie 113 ff.; Deinet u. a. 2017, S. 27): • Geselligkeitsorientierte Angebote und Ausstattungsmerkmale (z. B. Offener Cafébetrieb, Gesellschaftsspiele, Kicker, Billard, Darts, Tischtennisplatte, Playstation) • Medienangebote und medienbezogene Ausstattungsmerkmale (z. B. Computerräume, Medienräume, Foto- oder Videokameras, zunehmend auch kostenloser Internetzugang) • Angebote zur außerschulischen Jugendbildung mit Schwerpunkt auf musisch-künstlerischen Aktivitäten (v. a. in Kursen oder Workshops, Werkstätten, Bandproberäumen, Tonstudios, usw.). • Angebote zu jugend- und gesellschaftspolitischen Themen (z. B. Themenabende, Diskussionsforen, Lesungen, Organisation von verschiedenen Protestoder Beteiligungsformen) • Jugendkulturelle Angebote, z. T. mit Eventcharakter (z. B. größere Mehrzweckräume für Kinovorführungen, Konzerte, Festivals, Discos, Partys)
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• Sportive und erlebnispädagogische Angebote (z. B. Fitnessräume, Sportmöglichkeiten auf dem Außengelände, Half-Pipes, Basketball-Körbe, Klettergarten, Boulderhallen, Parcouring). • Unterstützungsangebote im Bereich Schule, Familie sowie Beratungs- und Qualifizierungsangebote mit arbeitsmarktrelevanter Ausrichtung (z. B. Hausaufgabenhilfe, Nachhilfe, Bewerbungstrainings oder -beratung, Berufsorientierung, Einzelberatung) • Spezielle Gruppenräume, geschlechtsspezifische Angebote (v. a. Mädchenund Jungenarbeit) • Interkulturelle Angebote (Informations- und themenspezifische Veranstaltungen, internationale Jugendbegegnung) • Unterstützung und Förderung ehrenamtlichen Engagements sowie Demokratiebildung und Beteiligung. Neben diesen Standardformen der sozialpädagogischen Angebotsgestaltung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit halten größere Einrichtungen zunehmend auch Ferienbetreuungsmöglichkeiten vor oder organisieren Exkursionen und Ferienausfahrten (vgl. Seckinger u. a. 2016, S. 119). Daneben scheinen das gemeinsame Kochen sowie das Anbieten eines Mittagstischs in den letzten Jahren eine hohe Attraktivität zu besitzen. Aufgrund der Vielfalt an Räumen, Ausstattungsgegenständen, Angeboten, Möglichkeiten und Programmpunkten lassen sich weitere „typische“ Charakteristika von Großeinrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zusammenfassen (vgl. beispielsweise Thole 2000, S. 102 ff.; Seckinger u. a. 2016, S. 54 ff. sowie S. 58 ff. und S. 123 f.; Binder 2005, S. 357): • Großeinrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit verfügen nicht selten über eine größere Anzahl an hauptamtlichen MitarbeiterInnen, zum Teil auch mit den verschiedensten Qualifikationen (SozialpädagogInnen, TheaterpädagogInnen, ErzieherInnen, künstlerisch-musische Abschlüsse, usw.). Häufig lässt sich diesbezüglich eine erhebliche funktionale Differenzierung beobachten, etwa in Form von Zuständigkeit für bestimmte Themen und/oder Räume (z. B. Betreuung von Werkstätten, Zuständigkeit für bestimmte Themen oder Gruppen). • Daneben nimmt die professionelle Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Funktion ein, da Veranstaltungen und Programmpunkte oftmals überregional beworben werden. Teilweise gibt es intensive Austauschbeziehungen mit regionalen Radiosendern und/oder Szenemagazinen.
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• Analog zur Professionalisierung und der steigenden Bedeutung von Öffentlichkeitsarbeit nimmt auch die betriebswirtschaftliche Ausrichtung der Arbeit einen hohen Stellenwert ein. Dabei wird neben den „üblichen“ Einnahmequellen (Zuschüsse, Thekenverkäufe) zunehmend Sponsoring oder Projektakquise betrieben und es werden Kooperationen mit verschiedensten Akteuren initiiert. Was die pädagogischen Zielsetzungen betrifft, so haben sich Großeinrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in den letzten Jahren immer mehr zu Räumen entwickelt, in denen sich jugendkulturelle Entwicklungen entfalten können und eigene Stile kreiert werden. Entsprechend nehmen Veranstaltungen einen bedeutenden Stellenwert ein. Dadurch sind die Einrichtungen immer auch Teil des kulturellen Lebens in einer Stadt bzw. Region. Insofern haben sie sowohl eine wichtige Funktion bei der Unterstützung jugendlicher Entwicklungsprozesse als auch bei der Gestaltung des kulturellen Lebens einer Kommune. Folgende Ziele und Funktionen können hier zusammengefasst werden (vgl. Binder 2005): • • • • • • •
Raum für Entfaltung, Selbsterfahrung und Erlebnis Erfahrung von Wertschätzung und Anerkennung Unterstützung bei der Bewältigung jugendspezifischer Entwicklungsprozesse Lern- und Erfahrungsräume zur Entwicklung einer eigenen Identität Förderung der jugendkulturellen Entwicklung Förderung von Offenheit und Toleranz Austausch zwischen jugendlicher Subkultur und der etablierten Kultur der Gesamtgesellschaft
5 Ausgewählte aktuelle Herausforderungen im Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit mit Relevanz für Raumgestaltung und pädagogisches Handeln Die Frage nach aktuellen und zukünftigen Herausforderungen für die beschriebenen, größeren Einrichtungen der vorwiegend Offenen Kinder- und Jugendarbeit liefert eine Vielzahl an Themen und Fragestellungen. Von besonderem Interesse sind für diesen Beitrag jedoch nur Herausforderungen, die eine unmittelbare Konsequenz für die hier relevanten Raumkonzepte bzw. institutionellen Rahmenbedingungen haben. Aus diesem Grunde ist mit der nachfolgenden Auflistung selbstverständlich kein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden. Exemplarisch dargestellt werden lediglich
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zwei wichtige Trends, die einen (potenziellem) Einfluss auf die Raumkonzepte haben werden: Die zunehmende Verjüngung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sowie der wachsende Trend zu Schulkooperationen.
5.1 Kinder in Einrichtungen der (offenen) Jugendarbeit In den letzten Jahren ist eine zunehmende Okkupation von ortsgebundenen (Groß-) Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit durch Kinder (zwischen sechs und 13 Jahren) erkennbar: Wurden Kinder vor etwa 40 Jahren überhaupt nicht als Zielgruppe der offenen Jugendarbeit gesehen (vgl. Giesecke 19802), sind sie heute ein fester Bestandteil der Besucherschaft. Sowohl die Sichtung der Literatur als auch entsprechender Besuchsstatistiken und spezieller Studien zu diesem Thema verdeutlichen, dass sich der Anteil der Kinder in der offenen Jugendarbeit stetig erhöht hat und vermutlich auch in Zukunft wachsen wird oder zumindest auf einem hohen Niveau verbleibt. Belastbare Daten liegen hierzu bereits seit den 90er Jahren vor. Kinder unter 14 Jahren machten bereits zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts etwa 40 % der Besucherschaft aus (vgl. von Spiegel 1997, S. 14). Böhnisch (2008, S. 132) beziffert den Anteil der unter 14-Jährigen in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit zur Jahrtausendwende auf etwa 50 %. Schmidt (2011) benennt in Anlehnung an die Strukturdatenanalyse der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in NordrheinWestfalen einen Anteil von 54 % und bundesweit von etwa 44 %; längsschnittlich betrachtet stieg der Anteil an jüngeren BesucherInnen dabei kontinuierlich an (ebd., S. 50 f.). Seckinger u. a. (2016, S. 156) zeigen in einer auf den Daten einer bundesweiten Befragung von Einrichtungen der OKJA beruhenden Analyse auf, dass etwa 38 % der BesucherInnen von offenen Jugendzentren zwischen 6 und 13 Jahren alt sind. In aktuellen, regionalen Befragungen von NutzerInnen von Offenen Jugendeinrichtungen werden Anteile von etwa 50 % oder teilweise sogar deutlich darüber berichtet (vgl. beispielsweise Stadt Leipzig 2014; Mohnke/ Breit 2017; Dalaker/Luley 2016; Deinet u. a. 2017; Meyer u. a. 2017; Rahn u. a. 2018). In der Leipziger Studie wird zudem ersichtlich, dass der Anteil der unter 14-Jährigen von Jahr zu Jahr zugenommen hat (zugenommen hat h ierbei
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(1980) verweist in seiner Definition zur Jugendarbeit explizit auf einen Ausschluss von Kindern: „Die Definition enthält eine Altersabgrenzung; die (…) genannten Maßnahmen (…) gehören nur dann zur Jugendarbeit, wenn sie sich nicht an Kinder wenden (ebd., S. 15; Hervorhebung im Original).
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auch der Besuch von Kindern unter 10 Jahren), während der Anteil der über 16-Jährigen deutlich abgenommen hat (vgl. Stadt Leipzig 2014, S. 13). Neben solchen N utzerInnen-Befragungen bzw. der Auswertung von Besuchsstatistiken von Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit verdeutlichen aber auch Jugendbefragungen die Quantität dieses Phänomens: Der aktuelle 15. Kinderund Jugendbericht zeigt auf Basis der AID:A-Studie von 2014, dass etwa 10 % aller 12–14-Jährigen regelmäßig, d. h. mindestens einmal pro Woche, eine Einrichtung der Offenen Jugendarbeit besuchen. Dieser Anteil ist fast so hoch wie bei den 15–17-Jährigen, der eigentlichen „Kernzielgruppe“ der Offenen Jugendarbeit. (vgl. BMFSFJ 2017, S. 383). Die AutorInnen des 15. Kinder- und Jugendberichts resümieren hierzu: „Das heißt, Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit sind längst nicht mehr nur Orte für Jugendliche und junge Erwachsene, sondern vor allem auch für Kinder. Ein Grund dafür ist sicherlich auch die durch die Einrichtungen angebotene Nachmittagsbetreuung im Kontext der ganztägigen Angebote der Schule, die den Anteil der Kinder in den Einrichtungen nochmals erhöht hat.“ (ebd.)
Alles in allem zeichnet sich also bundesweit ein regionen- und trägerübergreifender Trend der Verjüngung von BesucherInnen in Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit ab (vgl. Schmidt 2011, S. 50 f.). Zugespitzt kann daher die These formuliert werden, dass „heute Kinder in den meisten Häusern selbstverständlich zur Zielgruppe der offenen Kinder- und Jugendarbeit dazu[gehören]“ (Seckinger u. a. 2016, S. 20). Für diese Entwicklung lassen sich unterschiedliche Gründe anführen: • Es zeigt sich ein positiver Zusammenhang zwischen der Existenz von Betreuungsangeboten am Nachmittag und dem Anteil von Kindern unter 13 Jahren in Einrichtungen der OKJA (vgl. Seckinger u. a. 2016, S. 157). Dies deutet darauf hin, dass OKJA zunehmend dafür in Anspruch genommen werden könnte, um einen in bestimmten Familienkonstellationen (z. B. beide Elternteile sind berufstätig, alleinerziehende Elternteile) vermutlich erhöhten Betreuungsbedarf abzudecken. Zumindest könnte dies Kindern den Zugang zu offenen Jugendeinrichtungen erleichtern. • Damit zusammenhängend führen die inzwischen weit verbreiteten Kooperationen von OKJA und Schule im Rahmen der Ganztagesschule dazu, dass Kinder bereits früh in Kontakt mit Einrichtungen der OKJA kommen (vgl. BMFSFJ, 2017, S. 383).
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• Die Ausgestaltung von OKJA als offenes, nicht curricular geprägtes Setting hat eine hohe Attraktivität insbesondere für Kinder, denen vielfach solche offenen Aneignungs- und Aktionsmöglichkeiten im öffentlichen Raum und in den Regelinstitutionen fehlen (vgl. Blinkert 1996, S. 167). Von besonderem Interesse sind hierbei insbesondere ältere Kinder (zwischen 10 und 14 Jahren), die sogenannten „Kids“. Für diese Gruppe sind spezielle Angebote für Kinder oft nicht mehr attraktiv, zumal sie bereits jugendtypische Interessen formulieren (vgl. Böhnisch 2008, S. 132 ff.; Deinet 1992, S. 9 ff.). Dieser quantitativ bedeutsamen Entwicklung einer „Verjüngung“ der Besucherschaft stehen aber auch Fragen der Raumgestaltung und Art der pädagogischen Angebote gegenüber, denn diese Entwicklung ist vor allem auch für die Reflexion sowohl der Gestaltung von Räumen, Öffnungszeiten und Inhalten der „klassischen“ Jugendarbeit als auch der jeweiligen Methodik und Anwendung bestimmter Praxisansätze relevant. Während sich die bereits vor etwa 50 Jahren entwickelten „Settings“ der Offenen Arbeit für Kinder, wie beispielsweise pädagogisch betreute Spielplätze, Spielmobile oder Kinderspielstädte, auf spezifische Theoriegebäude und Methoden stützen (vgl. dazu den Beitrag von Meyer zur Offenen Arbeit mit Kindern in diesem Buch), handelt es sich bei der aktuellen Entwicklung in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit, vereinfacht gesprochen, eher um eine „Anpassung“ der bestehenden Konzepte an die zunehmende Nachfrage von Kindern und weniger um eigens für diese Lebensphase entwickelte Konzepte und Praxisansätze. Hiltrud von Spiegel (1997) bezeichnete daher die Arbeit mit Kindern in Jugendhäusern oder Jugendzentren als „kleine Schwester“ der Offenen Jugendarbeit, zumal es oftmals nur darum geht, neue BesucherInnen zu gewinnen, z. B., weil ältere Besuchergruppen nicht mehr oder kaum noch die Jugendeinrichtung besuchen (vgl. ebd., S. 53). Es ist nach wie vor zu vermuten, dass auch aktuell eher eine Adaption der Methoden und Angebote der Offenen Jugendarbeit auf das Kindesalter stattfindet und weniger eine fundierte konzeptionelle Auseinandersetzung. Meist erschöpfen sich die Angebote für Kinder in zeitlich und/oder räumlich abgegrenzten Settings zum Jugendbereich (z. B. Teeniedisco, Kinderbasteln, Kindercafé) und sind eher dafür gedacht, die „‚Kleinen‘ von der Dominanz der Jugendlichen schützen zu wollen“ (von Spiegel 1997, S. 53). Faktisch geht mit dieser Entwicklung aber möglicherweise eine größere Veränderung einher als gemeinhin angenommen, und dies auf zwei Ebenen: (1) Zum einen könnte dies erheblichen Einfluss auf die Methoden, Ziele und das Selbstverständnis der offenen Jugendarbeit haben, (2) zum anderen sind aber auòch die Raumkonzepte direkt betroffen. Dies sei an Beispielen kurz erläutert: (1) Während die „klassische“ Jugendarbeit vor allem darauf abzielt, Jugend-
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lichen einen Raum für Auseinandersetzung und Reibung (auch mit Erwachsenen) anzubieten, haben Kinder durchaus noch Beziehungswünsche und fragen häufig auch die konkrete Unterstützung der Fachkräfte nach. Hier dürften sich die PädagogInnen offener Jugendeinrichtungen in Zukunft häufig zwischen Autonomie- und Beziehungswünschen bewegen und müssen zudem einen Spagat zwischen spiel- und aneignungsorientierten Methoden auf der einen Seite sowie „klassischen“ Methoden der Jugendarbeit auf der anderen Seite bewerkstelligen. (2) Was die Raumkonzepte betrifft, so bleibt zu diskutieren, welche Gestaltungswünsche Kinder im Gegensatz zu Jugendlichen haben. Sollten hierbei einzelne Räume „kindgerechter“ gestaltet werden? Wie wird man den unterschiedlichen Vorstellungen gerecht? Besteht nicht auch die Gefahr, dass die Jugendlichen „ihr“ Jugendhaus dann als viel zu „kindisch“ erleben? Weitere konzeptionelle Reaktionen vonseiten der Offenen Jugendeinrichtungen müssen daher noch abgewartet werden. Dies wirft die Notwendigkeit auf, diesen Wandel hinsichtlich seiner Folgen für die Angebotsstruktur in der OKJA zu reflektieren. Insbesondere bei Einrichtungen, die bisher konzeptionell ausschließlich auf Jugendliche ausgerichtet sind, machen es diese Veränderungen notwendig, diese Ausrichtung und das bestehende Angebot zu reflektieren und bestimmten Themen (z. B. Aufsichtspflicht, Kinderschutz) eine größere Aufmerksamkeit zu schenken (vgl. Seckinger u. a., 2016, S. 20). Gleichermaßen ist danach zu fragen, ob und wie es OKJA gelingt, den Bedürfnissen unterschiedlicher Altersgruppen gerecht zu werden und altersbedingte Verdrängungseffekte – auch hinsichtlich notwendiger Räume für Jugendliche – zu vermeiden.
5.2 Nutzung von (offenen) Jugendeinrichtungen im Rahmen von Schulkooperationen Eine fast schon „klassische“ Herausforderung der aktuellen (offenen) Kinder- und Jugendarbeit ist die Frage einer geeigneten Kooperation mit Schulen. Aufgrund der Komplexität dieses Themas kann in diesem Beitrag jedoch lediglich der Frage nachgegangen werden, welche Auswirkungen und Herausforderungen solche Schulkooperationen für die Raumnutzung mit sich bringen. Hierbei ist insbesondere die Funktion der Nachmittagsbetreuung von Schulkindern relevant, die, wenn sie nicht direkt in der Schule stattfindet, häufig in die Räumlichkeiten von Jugendeinrichtungen verlagert wird (insbesondere im Falle
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einer räumlichen Nähe zu Schulen oder Schulzentren). Diese Entwicklung birgt durchaus Chancen, aber auch einige Risiken: • Wesentliche Chancen ergeben sich dadurch, dass Kindern und Jugendlichen der Zugang zu Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit erleichtert wird. Dies gilt vor allem für jüngere Kinder, die bereits frühzeitig einen Zugang zu diesen Angeboten finden, aber auch für Mädchen. Da die Offene Kinder- und Jugendarbeit bislang eher „männerdominiert“ ist, stellt dies eine besondere Chance dar, dass sich der Mädchenanteil erhöhen könnte. Meyer u. a. (2017) konnten jüngst zeigen, dass die Besucherstruktur von Jugendeinrichtungen mit einer gewissen Ausrichtung auf Schulen durchaus heterogener ist. Auch die Altersstruktur ist dort deutlich jünger und es finden sich vergleichsweise viele Mädchen. Ein weiterer Vorteil solcher Annäherungen an das Schulsystem ist, dass die Angebote der (Offenen) Kinder- und Jugendarbeit bekannter werden (auch bei Kindern und Eltern, die bislang wenig Berührungspunkte zu diesem Handlungsfeld hatten). Demnach könnten Angebote der Offenen Kinder- und Jugendarbeit weitaus mehr zu einem „üblichen“ Bestandteil des Aufwachsens junger Menschen werden als je zuvor. • Zu den Risiken gibt es vielfältige Auseinandersetzungen und Diskussionen, die hier nicht weiter vertieft werden können. Für die hier relevante Frage der Methoden und Raumkonzepte ergeben sich beispielhaft folgende Überlegungen: Je nach Form der Kooperation und Aufgabe, die die Jugendarbeit in diesem Kontext übernimmt, könnten sowohl Freiwilligkeit, Selbstbestimmung, Wahlfreiheit und Offenheit entschieden beschnitten werden. Dies wird jedoch meist dadurch vermieden, dass beim Aufbau einer solchen Schulkooperation inständig auf die Grundprinzipien der Offenen Kinder- und Jugendarbeit verwiesen wird. Auf der anderen Seite gibt es Hinweise darauf, dass insbesondere der offene Bereich, verstanden als ein für alle zugänglicher und offener Raum, aufgrund von Schulkooperationen durchaus eingeschränkt werden könnte, etwa aufgrund der Erfordernisse einer organisierten Nachmittagsbetreuung für Ganztagesschulen (vgl. beispielsweise Fehrlen 2013). Andere Konsequenzen ergeben sich hingegen aus einer zu erwartenden Heterogenität der Besucherschaft. So könnten in Bezug auf unterschiedliches ästhetisches Empfinden bezüglich der Raumgestaltung, der Einrichtung und Ausstattung sowie der Betätigungsmöglichkeiten durchaus völlig verschiedene Vorlieben und Interessen aufeinandertreffen, möglicherweise stärker als dies bislang der Fall war. Hierbei sei auf die These verwiesen, dass die bisherige Ausgestaltung der Räumlichkeiten und Angebote bestimmte Zielgruppen vermut-
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lich stärkeranspricht als andere (vgl. Seckinger u. a. 2016, S. 25). Aber auch die Bedeutung der hauptamtlichen Mitarbeiterschaft könnte sich verändern. Hierzu fanden Meyer u. a. (2017) heraus, dass in Einrichtungen mit intensiven Schulkooperationen das pädagogische Fachpersonal eine geringere Bedeutung für die jungen Menschen hat (z. B. als Motiv, die Einrichtung aufzusuchen), als dies in „klassischen“ Jugendeinrichtungen der Fall ist.
6 Ortsgebundene Raumkonzepte der Kinder- und Jugendarbeit mit Schwerpunkt kultureller und politischer Bildung – Kulturzentren, Kommunikationszentren, Soziokulturelle Zentren, Bildungsstätten und Jugendkunstschulen, Ein deutlich kleineres Gewicht in der Angebotslandschaft der Kinder- und Jugendarbeit haben ortsgebundene Einrichtungen mit bildungsbezogenem, politischem und/oder kulturorientiertem Schwerpunkt (sogenannte Kulturzentren oder soziokulturelle Zentren bzw. Kommunikationszentren, Bildungsstätten, Jugendtagungsstätten, Jugendkunstschulen). Quantitativ gesehen stellen sie nur einen Bruchteil aller Angebote der Kinder- und Jugendarbeit dar. Allerdings ist nicht ganz klar, inwiefern größere Einrichtungen der kulturellen Bildung bzw. der Soziokultur nicht auch zu den Jugendzentren bzw. Jugendfreizeiteinrichtungen gezählt werden. Die aktuelle Statistik weist hier lediglich Jugendbildungsund Jugendtagungsstätten sowie Jugendkunstschulen und kulturpädagogische Projekte aus. Deren Anteil an allen Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit beläuft sich auf gerade einmal 4 % (vgl. BMFSFJ 2017, S. 368). Gegenstand der Angebotspalette dieser Einrichtungen sind einerseits die bildungsorientierte Jugendarbeit, musisch-künstlerische Aktivitäten, politische Bildung und Kinder- und Jugendkulturarbeit (v. a. in Bildungsstätten und Jugendkunstschulen) sowie andererseits die Förderung politischer Arbeit, der Soziokultur sowie von Begegnung und Austausch (v. a. in Kulturzentren, soziokulturellen Zentren oder Kommunikationszentren). Diese ortsgebundenen Angebotsformen werden deswegen kurz in diesem Beitrag behandelt, weil sie sich a) häufig auf die Rechtsgrundlage des § 11 SGB VIII beziehen, b) in der Regel offen für alle Kinder und Jugendliche sind (teilweise jedoch mit vorheriger Anmeldung), und c) spezielle Raumkonzepte für junge Menschen anbieten (etwa in Form von Werkstätten oder speziellen Räumen in größeren Zentren). Inwiefern die verschiedenen Einrichtungen in diesem äußerst heterogenen Spektrum
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an Angeboten tatsächlich dem Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit zugeordnet werden können, hängt letztendlich aber davon ab, ob und inwiefern die Arbeitsprinzipien und Methoden der Kinder- und Jugendarbeit handlungsleitend sind, über welche Qualifikationen die dort tätigen Fachkräfte verfügen und welche Zielgruppen adressiert werden. In kritischer Perspektive zeigt sich nämlich, dass manche dieser Angebote eher den Zweck einer lokalen Kunstförderung erfüllen, oder es darum geht, die jungen Menschen an die kulturellen Angebote zu binden. Letztendlich müssen sich also immer Elemente einer zweckfreien Freizeitgestaltung oder außerschulischer Jugendbildung finden lassen. (vgl. dazu Aslan/Sass 2013, S. 21 ff.).
6.1 Allgemeine Charakteristika und historische Hintergründe Größere ortsgebundene Einrichtungen und Formen der Angebotserbringung lassen sich insbesondere in Raumkonzepten mit Schwerpunkt auf politischer Arbeit und/oder kultureller Bildung sowie in Bezug auf die Förderung von Soziokultur, Begegnung und Kommunikation finden. Hierzu zählen insbesondere sogenannte „Kulturzentren“, „Kommunikationszentren“ oder „Soziokulturelle Zentren“. Die Angebote in solchen Zentren lassen sich zwar schwerpunktmäßig dem Bereich der politischen Arbeit und/oder der (Sozio-)Kulturarbeit zuordnen, es werden aber auch freizeitorientierte Angebote vorgehalten. Die Entwicklung solcher Einrichtungen mit Schwerpunkt kultureller/politischer Bildung bzw. soziokultureller Ausrichtung und Förderung von Begegnung und Austausch geht einerseits auf Bestrebungen nach einer Art „alternativer Jugendarbeit“ in den 1970er Jahren zurück (vgl. Herrenknecht 1981), andererseits spielten aber auch die Kritik an der damaligen Städteplanung und Stadtentwicklung sowie an dem vorherrschenden Kulturverständnis und der Kulturpolitik Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre eine wichtige Rolle. Hier wurden Forderungen laut, Kultur solle sich demokratisieren und an den Bedarfen und Interessen der Bevölkerung ansetzen, eine Mitbestimmung ermöglichen und Chancengleichheit fördern – kurz eine „Kultur für alle“ (vgl. Knoblich 2001). Da in diesem Beitrag vor allem die Impulse aus der Jugendzentrumsbewegung heraus wichtig erscheinen, werden diese kurz skizziert: Herrenknecht (1981, S. 223 ff.) beschreibt in Bezug auf die Wurzeln in der Jugendzentrumsbewegung vier Modelle sich neu etablierender Projekte alternativer Jugendarbeit: Autonome Kulturzentren, Politische Läden, Regionalzentren und ökologisch ausgerichtete Projekte (z. B. Höfe, Werkstätten). Gemeinsam ist den meisten dieser Projekte,
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dass sie quasi Weiterentwicklungen der Jugendzentrumsbewegung darstellen. In Autonomen Kulturzentren gab es beispielsweise einerseits einen (halb-)offenen Bereich, auf der anderen Seite wollten diese Einrichtungen aber unabhängig von der Kommune werden, indem sie keine öffentlichen Gelder beanspruchten. Politische Läden verstanden sich hingegen als Anlaufstelle und Treffpunkt für politisch aktive Gruppen und Regionalzentren waren eine Art Mischung aus Tagungshaus, Anlaufstelle für politische Arbeit, Veranstaltungsmöglichkeiten und Treffpunkt. In Autonomen Kulturzentren und Regionalzentren fanden sich zudem Wohngemeinschaften für die in diesen Zentren engagierten Aktiven. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zu damaligen Jugendzentren war zudem, dass diese alternativen Formen eher von jungen Erwachsenen genutzt wurden. Vor allem soziokulturelle Zentren werden häufig in der Literatur in Verbindung mit der Kinder- und Jugendarbeit genannt (vgl. Thole 2000, S. 115 ff.; Kamp 2005; Aslan/Sass 2013) und zählen bis heute zu den größeren Einrichtungstypen. Dieses ortsgebundene Raumkonzept ist – vereinfacht formuliert – an der Schnittmenge zwischen Kultur, Freizeit und Begegnung/Kommunikation angesiedelt. Kunst und Kultur soll als Kommunikationsmedium dienen und in das „soziale Leben“ einer Stadt oder Gemeinde eingebettet sein. Soziokulturelle Zentren verstehen sich daher vor allem auch als Interessenvertretung der Bevölkerung: „Soziokultur ist der Versuch, vorrangig, neben anderen Aspekten, Kunst als Kommunikationsmedium zu begreifen – eine und zwar sehr gewichtige Möglichkeit, die plurale (und damit auch in vielfältige Einzelinteressen, Interessenkonflikte, Verständigungsbarrieren zerklüftete) Gesellschaft auf der ‚kommunikativen Ebene‘ zusammenzubringen“ (Glaser/Stahl 1983 zitiert in Klein 2003, S. 164)
Wenn auch spezielle Räume für Kinder und Offene Jugendarbeit angeboten werden, richtet sich das Raumkonzept nicht ausschließlich an Kinder und Jugendliche, sondern im Grunde an alle Altersgruppen (vgl. Thole 2000, S. 117; Kamp 2005, S. 374). Darunter fallen verschiedene Bürgertreffs und Kommunikationszentren mit Schwerpunkt auf kulturelle und politische Aktivitäten sowie kommunikativen Austausch. Seit den 1980er Jahren hat sich der Begriff „Soziokulturelle Zentren“ als Oberbegriff durchgesetzt (vgl. Thole 2000, S. 115). Bei der Entwicklung solcher Zentren spielte u. a. auch die Kritik am Städtebau Ende der 1960er Jahre eine wichtige Rolle, sodass es der Soziokultur-Bewegung immer auch um eine „Wiederaneignung des Raums“ (Knoblich 2001, S. 9) bzw. um Orte „der Rückgewinnung verlorener Gestaltungsmöglichkeiten“ (ebd., S. 12) ging. Erste Gründungen von soziokulturellen Zentren fanden in den 70er Jahren statt und haben ihren Ursprung in politischen Initiativen und reformpädagogischen
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Bestrebungen. Da es sich meist um selbstverwaltete Treffs und Häuser handelt, spielten die oben beschriebenen Entwicklungen aus der Jugendzentrumsbewegung heraus eine wesentliche Rolle. Soziokulturelle Zentren können in Anlehnung an Schulze (zitiert in Knoblich 2001, S. 9) verstanden werden als „eine selbstverwaltete, von (Bürger-)Initiativen aus den ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ durchgesetzte, aufgebaute und getragene Einrichtung, die eine in der Perspektive politisch begründete und ausgerichtete Kultur- und Sozialarbeit mit hohen Anteilen an Eigenaktivität der Nutzer(innen) entweder selbst leistet oder durch eine entsprechende Infrastruktur ermöglicht. Dabei bietet sie eine (bewusste) Alternative zu profitorientierten oder partei- beziehungsweise verbandskontrollierten Institutionen und zu kommunalen Einrichtungen“ (ebd., vgl. ebenso Aslan/Sass 2013, S. 20). Aufgrund der historischen Entwicklung lässt sich auch erklären, dass die Selbstverwaltungskultur und die Bedeutung von (politischen) Informationsund Diskussionsveranstaltungen bis heute ein wesentliches Merkmal soziokultureller Zentren sind. Trotz der früher relevanten reformpädagogischen Bestrebungen lässt sich in soziokulturellen Zentren aber heute eine erhebliche Professionalisierung beobachten (vgl. Thole 2000, S. 117). Unter den Hauptamtlichen finden sich neben (sozial-)pädagogisch qualifizierten Fachkräften mittlerweile häufig auch KunsterzieherInnen, Veranstaltungskaufleute sowie Fachkräfte mit betriebswirtschaftlichen Kenntnissen und/oder PR- und Marketingqualifikationen. Dies erklärt sich auch dadurch, dass etwa die Hälfte der Betriebs- und Personalkosten durch eigene Anstrengungen erwirtschaftet werden, während Sponsoring eine weitaus kleinere Rolle spielt (vgl. Kamp 2005, 380). Was die Trägerschaft betrifft, so überwiegen mit deutlichem Abstand freie Träger; es finden sich zudem auch privatwirtschaftliche Organisationsformen (z. B. GmbH) (vgl. Kamp 2005, S. 377 ff.). Wesentlicher Unterschied zu offenen Jugendfreizeiteinrichtungen, Jugendbildungsstätten und Jugendkunstschulen ist bis heute der altersübergreifende Ansatz. Von Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (Jugendzentren und Jugendhäuser) unterschieden sich soziokulturelle Zentren zudem dadurch, dass sie häufig über die Kulturförderung finanziert werden. Soziokulturelle Zentren verstehen sich darüber hinaus nicht selten als Stadtteil- oder Bürgertreff. Auch wenn Kinder und Jugendliche eine wichtige Zielgruppe sind, stellen sich soziokulturelle Zentren in der Realität eher als „Tummelplatz“ für (junge) Erwachsene dar. Weitere ortsgebundene Raumkonzepte mit Schwerpunktsetzung auf außerschulische Jugendbildung und künstlerisch-musische Ausrichtung sind sogenannte Jugendbildungsstätten und Jugendkunstschulen, die hier aber nur sehr verkürzt dargestellt werden können: In Bildungsstätten oder Jugendtagesstätten
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können sich Jugendliche „in Form von Tages- und Wochenendseminaren und auch mehrtägigen oder mehrwöchigen Veranstaltungen sozialen, kulturellen und politischen Fragestellungen mit pädagogischer Unterstützung von ReferentInnen und TeamerInnen zuwenden“ (Thole 2000, S. 108). In diesem Segment überwiegen Einrichtungen in freier Trägerschaft, insbesondere in der Trägerschaft von Jugendverbänden. Dabei liegt nahe, dass diese Angebote der außerschulischen Jugendbildung oftmals auch dazu beitragen, die Jugendlichen an den jeweiligen Jugendverband zu binden (z. B. Wochenendseminare für Ehrenamtliche). Insofern lässt sich eine Konzentration auf verbandlich organisierte Jugendliche feststellen. Entstanden sind diese außerschulischen Bildungseinrichtungen Ende der 1960er Jahre, mit dem Ziel, Wissensvermittlung und erfahrungsbasiertes, interessenorientiertes Lernen zu verbinden. Insgesamt spielte die politische Bildungsarbeit stets eine zentrale Rolle und findet sich auch in anderen Feldern dieser außerschulischen Bildungsangebote wieder, etwa in den Bereichen Ökologie, Gesundheit und Gesellschaft. (vgl. ebd., S. 109) Bei Jugendkunst- oder Kreativitätsschulen handelt es sich um eine institutionalisierte Form der Kinder- und Jugendkulturarbeit, die im Grunde „klassische“ Aufgaben der außerschulischen Kinder- und Jugendbildung erfüllen. Insofern sind sie rechtlich gesehen der Kinder- und Jugendarbeit (§ 11 Abs. 3 SGB VIII) zugeordnet (vgl. beispielsweise Aslan/Sass 2013, S. 14). Sinn und Zweck der Angebote in diesen Einrichtungen ist die Vermittlung von kulturellen Inhalten und künstlerischpraktischen Fähigkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten sowie die Förderung von Kreativität und des sozialen Lernens. (vgl. ebd., S. 111 sowie Raske 1981) Der Schwerpunkt liegt auf der selbsttätigen Aneignung verschiedener Kunstformen und Medienaktivitäten und nicht auf der Rezeption der Inhalte. Entstanden sind diese Jugendkunstschulen Ende der 1960er Jahren als Reaktion auf aktuelle Debatten zur ästhetischen Erziehung in Deutschland. Dabei spielten auch Gründungen durch Elterninitiativen aufgrund der Unzufriedenheit mit dem Stellenwert und der Qualität des Kunstunterrichts an allgemeinbildenden Schulen eine wichtige Rolle. (vgl. Raske 1981) Vermutlich aufgrund dieser Initiativen werden bis heute die Mehrheit dieser Einrichtungen in freier Trägerschaft geführt; nur etwa 25–30 % (je nach Quelle) dieser Einrichtungen befinden sich in kommunaler Trägerschaft. Die Angebote können organisatorisch sowohl der Jugendhilfe als auch dem Kultur- oder Bildungsbereich zugeordnet sein (vgl. Kamp 2005, S. 374 f.; Aslan/Sass 2013, S. 14). Vielen der beschriebenen Raumkonzepte mit Schwerpunkt kultureller und politischer Bildung gemein sind ihre oftmals prekäre Finanzierungssituation sowie ihre deutschlandweit uneinheitlichen Einrichtungs- und Trägerstrukturen (vgl. Kamp 2005; May 2013). Im Bereich der Jugendkunstschulen
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schlägt sich dies beispielsweise im verhältnismäßig hohen Einsatz von ehrenamtlich Engagierten (durchschnittlich 3,2 pro Einrichtung) sowie von freien MitarbeiterInnen (81,8 % im künstlerisch-pädagogischen Bereich) nieder (vgl. ebd., S. 743). Auch soziokulturelle Zentren sind in hohem Maße vom Einsatz ehrenamtlich tätiger Personen abhängig und May (ebd., S. 744) konstatiert zu ihrer finanziellen Situation: „Charakteristisch für Soziokulturelle Zentren ist zudem ihre chronische Unterfinanzierung und der Finanzierungsmix, der öffentliche Förderungen von Kommune, Land und Bund bis hin zu selbstbewirtschafteten Einnahmen aus dem Gastronomiebereich sowie Spenden und Sponsoring einbezieht.“
6.2 Zielgruppen und Besucherstruktur Die Angebote dieser ortsgebundenen Raumkonzepte mit Schwerpunkt kultureller Bildung und Soziokultur richten sich, wie auch die Angebote der Offenen Kinderund Jugendarbeit, potenziell an alle Kinder und Jugendlichen. Allerdings steht häufig der Vorwurf im Raum, dass insbesondere Kinder und Jugendliche aus bildungsaffinen und sozioökonomisch besser gestellten Milieus diese Angebote in Anspruch nehmen. Bereits Herrenknecht (1981) verweist darauf, dass die neu entstehenden Formen alternativer Jugendarbeit einen Trend zum „Elitären“ hätten und Raske (1981) spricht in Bezug auf Jugendkunstschulen von einer „Kulturbarriere“. Thole (2000, S. 113) beschreibt auf Basis empirischer Daten die Besucherstruktur von Jugendkunstschulen beispielsweise als mädchendominiert; ferner finden sich dort kaum junge Menschen mit Migrationshintergrund. Zur tatsächlichen Zusammensetzung der NutzerInnen von ortsgebundenen Kultur- und Bildungsangeboten gibt es allerdings nur wenig gesicherte empirische Erkenntnisse. Vor allem zwei verschiedene Arten empirischer Studien erlauben es hier, auf nationaler Ebene Ableitungen vorzunehmen: • Einerseits lassen sich aus den bundesweiten Kinder- und Jugendstudien Rückschlüsse auf die unterschiedlichen Freizeitinteressen der Befragten ziehen, woraus sich wiederum Hinweise auf die potenzielle Nutzung der oben genannten musisch-künstlerischen und kulturellen Bildungsangebote ergeben. So wird beispielsweise in der Freizeittypologie der aktuellen Shell-Jugendstudie zwischen „medienfokussierten“ (37 % der befragten Jugendlichen), „familienorientierten“ (31 %), „geselligen“ (17 %) und „kreativengagiert aktiven“ (15 %) Jugendlichen unterschieden (vgl. Albert u. a. 2019).
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Da die Jugendlichen in der letzteren Gruppierung („kreativ-engagiert Aktive“) sich vergleichsweise häufig kreativ und künstlerisch betätigen und in Projekten, Vereinen oder Initiativen engagieren, erscheint eine nähere Betrachtung dieser Gruppierung für die Frage nach der Nutzung von Einrichtungen mit bildungsbezogenem und/oder kulturorientiertem Schwerpunkt aufschlussreich. Hierbei zeigt sich, dass weibliche Jugendliche (62 %) in diesem Typus überwiegen und dass Jugendliche aus mittleren und höheren Schichten sowie mit einem höheren angestrebten oder bereits erreichten Bildungsabschluss (Abitur/fachgebundene Hochschulreife) stärker vertreten sind (vgl. ebd.). Ähnliche Ergebnisse zeigen sich in der Freizeittypologie der aktuellen World Vision Kinderstudie in Bezug auf Kinder zwischen 8 und 11 Jahren (vgl. Wolfert/Pupeter 2018, S. 101): Im Typus der „vielseitigen Kids“, die überdurchschnittlich häufig musischen (Instrument spielen/Musik machen) und k ünstlerisch-kulturellen (z. B. Theater/ Tanzen/Ballett) Aktivitäten nachgehen, sind Mädchen sowie Angehörige der oberen Mittelschicht und der Oberschicht signifikant stärker vertreten als in den jeweiligen Vergleichsgruppen. Einen weiteren Hinweis liefert die Frage, in welchen Vereinen die Kinder Mitglied sind: Hier zeigt sich, dass gerade einmal 5 % der Kinder aus den unteren Schichten und 8 % der Kinder aus der unteren Mittelschicht Mitglied eines Vereins aus dem Bereich „Musik, Kultur, Bildung“ sind, bei Kindern aus der Oberschicht sind dies hingegen 49 % und aus der oberen Mittelschicht immerhin noch 28 % (vgl. Wolfert/Pupeter 2018, S. 107). Diese Befunde erlauben zwar keine direkten Rückschlüsse auf die Nutzung von entsprechenden Angeboten, allerdings ist es plausibel anzunehmen, dass außerschulische Bildungseinrichtungen, Angebote der kulturellen Bildung und soziokulturelle Zentren schwerpunktmäßig von Kindern und Jugendlichen aus sozioökonomisch bessergestellten Milieus genutzt werden. Daneben wird deutlich, dass diese Angebote augenscheinlich Mädchen mehr ansprechen. • Konkretere Aussagen zu den NutzerInnen solcher Angebote ergeben sich dagegen aus den regelmäßigen Erhebungen der jeweiligen Bundesverbände, beispielsweise der „Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren e. V“ (BSZ) sowie der „Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e. V.“ (BJKE). Was die Besucherstruktur soziokultureller Zentren betrifft, so zeigt sich in der aktuellen Erhebung des BSZ (2019), dass die Gruppe der bis 20-Jährigen nur 18,2 % aller BesucherInnen ausmacht. Dies bestätigt, dass soziokulturelle Zentren augenscheinlich nicht primär von Kindern und Jugendlichen, sondern vielmehr altersübergreifend genutzt werden. Der Anteil der BesucherInnen mit Migrationshintergrund (29,5 %) liegt dagegen etwas über dem Anteil dieser Bevölkerungsgruppe an der Gesamtbevölkerung (25,5 %). Gründe hierfür wurzeln vermutlich in der sich
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ändernden Ausrichtung und Angebotsgestaltung der Zentren: „Erhöht hat sich die Anzahl der Nutzer/-innen mit Migrationshintergrund: von 22 % (2014) auf nun 30 Prozent, was mit der verstärkten interkulturellen Ausrichtung der Zentren korrespondiert“ (BSZ 2017, S. 21). Bezüglich der Jugendkunstschulen bestätigt sich die Geschlechterdifferenz: Bezogen auf eine Erhebung aus den Jahren 2007/2008 überwiegen in allen Altersgruppen weibliche Nutzerinnen (vgl. BJKE 2011, S. 8). Darüber hinaus stellen Kinder im Alter zwischen 6 und 13 Jahren mit etwa 47 % die größte NutzerInnengruppe dieser Einrichtungen dar, gefolgt von Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 19 Jahren (etwa 16 %) und Kleinkindern unter 6 Jahren (etwa 12 %). Tendenziell sprechen Jugendkunstschulen demnach eher ein jüngeres Publikum an. Basierend auf diesen Studien lässt sich zusammenfassend konstatieren, dass sowohl soziokulturelle Zentren als auch Einrichtungen der kulturellen Bildung tendenziell von sozioökonomisch bessergestellten Milieus sowie von bildungsaffineren Kindern und Jugendlichen genutzt werden. Insbesondere die Angebote im Bereich außerschulischer, kultureller Bildung werden zudem eher von Mädchen in Anspruch genommen, in soziokulturellen Zentren finden sich hingegen häufig auch junge Erwachsene oder Erwachsene. Inwieweit sich darin eine wünschenswerte Pluralität in der Ansprache unterschiedlicher Zielgruppen oder eine eher zu problematisierende Verstetigung unterschiedlicher sozialer Zugangschancen zu kulturellen Angeboten abbildet, ist vornehmlich eine politische und erst nachrangig eine empirische Frage.
6.3 Arbeitsformen und Zielsetzung des pädagogischen Handelns In den beschriebenen bildungs- und kulturorientierten Raumkonzepten stehen das Bereitstellen niedrigschwelliger Treffmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche weitaus weniger im Zentrum der Bemühungen als dies in Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit der Fall ist. Eine besonders große Rolle in Einrichtungen der kulturellen Bildung, der politischen Bildung und der Soziokultur spielen hingegen Angebote in Form von Workshops, Kursen, Projekten, Gesprächs- und Diskussionsgruppen oder Wochenendveranstaltungen, seltener im Rahmen von offenen Angeboten (wenn dann in Form von „offenen Werkstätten“ oder auf Basis der Nutzung von Ateliers, Proberäumen o. Ä.). Insgesamt ist allerdings in einigen Bereichen (etwa bei den Jugendbildungsstätten) bereits seit längerem eine Abkehr von einer rein seminaristischen hin zu eher
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erfahrungsbasierten, erlebnisorientierten Vorgehensweisen zu beobachten (vgl. Thole 2000, S. 109). Was die Umsetzung der hier relevanten Angebote betrifft, so werden verschiedene didaktische Möglichkeiten und „Lernmilieus“ eingesetzt, die von Vorträgen und Workshops bis hin zu kurzfristigen Projekten und Spontanaktionen reichen. Insbesondere in Jugendkunstschulen (und auch Kindermuseen) spielt die Vielfalt der Materialien und künstlerischen Techniken eine wichtige Rolle. Personell werden diese Angebote jedoch schwerpunktmäßig durch Ehrenamtliche oder Honorarkräfte (z. B. freie KünstlerInnen usw.) durchgeführt. Die Angebote lassen vielfach Raum für Experimente, entsprechend stehen selbsttätige Bildungsprozesse im Vordergrund. Allgemeine Zielsetzungen solcher Jugendbildungsangebote beziehen sich daher schwerpunktmäßig auf (vgl. Thole 2000, S. 109 ff.; Kamp 2005, S. 373 ff.; Raske 1981): • Politische Bildung, Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Themen • Vermittlung kulturellen Wissens • Handwerkliche und künstlerisch-praktische Fähigkeiten • Förderung von Kreativität und Eigentätigkeit • Förderung von Offenheit, Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt • Ökologische Themen • Berufsorientierte Fragestellungen • Vermittlung sozialer Kompetenzen • Gesundheitliche Fragen • Familien- und gemeinwesenorientierte Themenstellungen Wesentliches Merkmal soziokultureller Zentren ist darüber hinaus eine Vielfalt an Angebotsformen, die sowohl Kulturangebote, Konzerte, Festivals und Tanzveranstaltungen als auch Bildungs- und Informationsangebote sowie meist auch einen Gastronomiebereich umfassen. Folgende Angebotsformen lassen sich zusammenfassen (vgl. Kamp 2005, S. 379): • Regelmäßige Angebote zur kulturellen Bildung (Kurse, Workshops, Ateliers, Werkstätten) • Bildungsbezogene Angebote (u. a. auch berufliche Fort- und Weiterbildung) • Beratungsangebote (z. T. auch generationenübergreifend) • Informationsabende, Themenabende, Vorträge, Diskussionsforen zu politischen und gesellschaftlichen Themen, Lesungen • Festivals, Großveranstaltungen, Feste, Gastronomie
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• Kulturelle Projekte (Theater, Film, Musik usw.) • Zielgruppenspezifische, z. T. auch offene Angebote (z. B. Jugendtreff, Frauentreff, Seniorentreff) Weitere Ziele sind häufig die Aktivierung von bürgerschaftlichem Engagement, Bürgerbeteiligung sowie die politische Bildung und Förderung von Offenheit, Toleranz und Vielfalt.
7 Ortsgebundene Raumkonzepte der (Offenen) Kinder- und Jugendarbeit als wichtiger Bestandteil der Infrastruktur für Kinder und Jugendliche – Gemeinsamkeiten und aktuelle Tendenzen theoretischer Reflexion Die Darstellung der verschiedenen Einrichtungstypen einer ortgebundenen (offenen) Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zeigt einerseits die Heterogenität dieses Handlungsfelds auf, mündet andererseits aber auch in zentralen Gemeinsamkeiten, die allesamt in einem bestimmten Raumkonzept kumulieren. Dieses Raumkonzept beinhaltet dabei im Grunde über alle hier dargestellten Organisations- und Angebotsformen hinweg allgemeine Leitlinien und Grundsätze, wie sie häufig in der Literatur für eine offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen formuliert werden: • Die Angebote richten sich potenziell an alle Kinder und Jugendlichen; es ist jedes Kind und jeder Jugendliche im Grunde willkommen. Unterschiede bestehen hingegen bei der tatsächlichen Angebotserbringung: Während in Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit eine größtmögliche Offenheit besteht, zeichnen sich Angebote von Einrichtungen aus dem Bereich kultureller und politischer Bildung häufig durch relativ feststehende Gruppen (nicht selten mit vorheriger Anmeldung) und Verbindlichkeiten aus. • Die Angebote können freiwillig und selbstbestimmt wahrgenommen werden; es gibt (fast) keine Bedingungen für die Wahrnehmung der Angebote. Auch in diesem Punkt gibt es bei der tatsächlichen Inanspruchnahme jedoch Unterschiede. Während sich vor allem die Angebote der Offenen Kinder- und Jugendarbeit durch eine erhebliche Niederschwelligkeit auszeichnen, gibt es im Bereich der politischen und kulturellen Bildung sowie z. T. auch bei soziokulturellen Zentren durchaus Zugangsbarrieren und Teilnahmebedingungen, beispielsweise in Form von Anmeldeformalitäten oder sogar Geldbeiträgen.
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• Die Angebote sollen in jedem Fall an den Interessen und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen anknüpfen. Auch hier gibt es zwar in der Praxis Unterschiede, aber grundsätzlich ist die Interessensorientierung immer eine wichtige Voraussetzung für die Angebotsgestaltung, da alle hier beschriebenen Einrichtungstypen darauf angewiesen sind, dass ihre Angebote für Kinder und Jugendliche attraktiv sind. • Die Angebote bieten Raum für Selbsterfahrung, Erlebnisse und Auseinandersetzungsmöglichkeiten. Dieser Grundsatz ist ebenfalls in allen beschriebenen Angebotsstrukturen vorhanden, Unterschiede gibt es lediglich in Bezug auf die Durchführung und pädagogische Zielsetzung. Während sich die Angebote in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in der Regel durch eine gewisse Ergebnis- und Prozessoffenheit auszeichnen, lassen sich vor allem im Bereich der kulturellen Bildung durchaus auch mehr oder weniger genaue Vorgaben bezüglich des zu erreichenden Ziels oder „Produkts“ finden. Nicht selten dominieren hierbei auch künstlerisch-ästhetische Ansprüche den Gestaltungsprozess. Bei allen hier beschriebenen Einrichtungstypen beinhalten die Angebote aber in jedem Fall eine pädagogische Absicht und ermöglichen Erfolgserlebnisse und Bildungsprozesse. • Die Angebote sollen Beziehungen, Kontakte, Wertschätzung, gegenseitigen Respekt, Geselligkeit und einen kommunikativen Austausch ermöglichen. Egal in welcher Form die Angebote erbracht werden, ob in offenen Settings oder in Angeboten mit mehr oder weniger verbindlichen Teilnahmemodalitäten, die Angebote finden in der Regel in Gruppen statt und erfüllen daher eine wichtige Funktion für soziales Lernen und für den Erwerb sozialer und personaler Kompetenzen. • Die Angebote sollten grundsätzlich dem Prinzip der Mitgestaltung, Mitbestimmung oder Selbstorganisation entsprechen und sind damit eingebettet in eine politische Bildungsfunktion für junge Menschen („Schule für Demokratie“). Ähnlich wie die oben genannte Funktion zur Förderung sozialen Lernens und zum Erwerb sozialer Kompetenzen dienen die beschriebenen Angebotsformen immer auch der Demokratiebildung und der Förderung von Kinder- und Jugendbeteiligung. Auch hier gibt es natürlich Unterschiede im Hinblick auf Setting und Beteiligungsmöglichkeiten. So können Mitbestimmungsmöglichkeiten in Kursstrukturen der kulturellen Bildung strukturell begrenzt sein, aber auch in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit lassen sich in der Praxis durchaus „Beschränkungen“ finden (etwa was Anschaffungen oder Entscheidungen über Hausverbote betrifft). Nicht zu unterschätzen ist generell aber insbesondere die sogenannte „Alltagspartizipation“, in deren Rahmen Kinder- und Jugendliche Mitgestaltungsmöglichkeiten quasi „nebenher“ erleben und nutzen können.
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Was die Frage einer theoretischen Reflexion der in diesem Beitrag skizzierten Entwicklungen betrifft, so liefert hier der aktuelle 15. Kinder- und Jugendbericht einige wichtige Impulse: Von der historischen Betrachtung über die Analyse der BesucherInnen und Nutzungsformen bis hin zu den aktuellen Herausforderungen von größeren Jugendfreizeiteinrichtungen zeigt sich, dass diese jeweils vor dem Hintergrund der zeitgebundenen „generationalen Lage“ (BMFSFJ 2017, S. 86) der Jugend zu entschlüsseln sind. Mit diesem Begriff thematisiert der aktuelle 15. Kinder- und Jugendbericht sowohl „soziale und institutionell gerahmte Lebenslagen, gesellschaftliche Chancen, Risiken und Zumutungen, Diskurse über und um Jugendliche […], die den Integrationsmodus Jugend in unserer Gesellschaft charakterisieren [als auch] die Ausdrucksformen Jugendlicher selbst“ (ebd.). Demnach spiegeln sich in der historischen Abfolge von „Sonntagssälen“ über „Heime der offenen Tür“, Jugendzentren bis hin den Jugendhäusern und sonstigen aktuellen (halb-)offenen Einrichtungen einerseits die gesellschaftlichen Bilder auf Jugend als „Gefahr und Gefährdung“, als „Objekt der Erziehung“, als „Hoffnungsträger“ oder als „Partner“ (Hafeneger 1995) wider. Insbesondere das in der Kinder- und Jugendarbeit dominante Bild junger Menschen als „eigenverantwortliche Akteure […], also Jugendliche, die mit kreativen Formen das alltägliche Leben meistern und sich ihre sozialräumliche Umgebung aktiv aneignen“ (BMFSFJ 2017, S. 86), strukturiert aktuell die räumliche und konzeptionelle Gestaltung der Einrichtungen. Andererseits verdeutlicht der obige Begriff der generationalen Lage, dass auch die jeweiligen politischen, kulturellen, freizeitorientierten und lebensweltlichen Ausdrucksformen von Jugendlichen die Jugendarbeit beeinflussen. Ob Jugendliche die Angebote und Räume beispielsweise als Freizeit- und Konsumort, als Ort der politischen Betätigung oder zur beruflichen Qualifizierung nutzen, beeinflusst in eminenter Weise den Alltag in diesen Jugendeinrichtungen. Dass die Nutzungs- und Besuchspraktiken der Jugendlichen wiederum nicht von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen getrennt werden können, verdeutlichen die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Einrichtungen: Die Zunahme von Kooperationen zwischen Jugendarbeit und Schule sowie das zunehmend niedrigere Alter der BesucherInnen hängen direkt mit dem gestiegenen Betreuungsaufwand infolge höherer familiärer Berufstätigkeit, einem von der Entwicklung zur Ganztagesschule geprägten Bildungsdiskurs sowie der Abnahme kinder- und jugendgerechter öffentlicher Räume zusammen. Deshalb kann eine Antwort auf diese aktuellen Herausforderungen auch nicht allein in der Jugendarbeit gefunden werden, sondern vielmehr bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen „Ermöglichung von Jugend“ (BMBSF 2017, S. 99). Gleichwohl gilt es für Jugendfreizeiteinrichtungen, ihre eigenen Ermöglichungs-
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strukturen in diesem Gesamtzusammenhang zu reflektieren. Dabei können anschließend an die Ausführungen in diesem Beitrag fünf unterschiedliche Reflexionsebenen unterschieden werden: • Jugendfreizeiteinrichtungen können sich über eine historische Selbstvergewisserung einerseits ihrer ‚Gewordenheit‘ bewusstwerden und daraus andererseits Gestaltungsoptionen für die Zukunft gewinnen. Denn die skizzierte Entwicklungsgeschichte dieser Raumkonzepte zeigt auf, dass die Jugendarbeit ein sozialpädagogisches Handlungsfeld ist, deren Einrichtungen und Arbeitsstrukturen in besonderem Maße wandlungs- und anpassungsfähig sind. • Dies gilt ebenso für das pädagogische Selbstverständnis, welches das Arbeitsfeld der Jugendfreizeiteinrichtungen strukturiert. Dazu gehört auch eine Reflexion der eigenen Vorstellungen von „Jugend“ und „gelingender Jugend“, wie sie im 15. Kinder- und Jugendbericht angedeutet wird (vgl. BMFSFJ 2017, S. 77 f.). Während bestimmte Arbeitsprinzipien von Beginn an beibehalten wurden (z. B. Offenheit, Freiwilligkeit), scheint insbesondere das Verhältnis von Raum- und Beziehungsorientierung in der Jugendarbeit eines zu sein, dass einer beständigen Reflexion und Weiterentwicklung bedarf; auch, um sich den veränderten Bedarfen der NutzerInnen (z. B. infolge einer Verjüngung der BesucherInnen) anzupassen. • Daran wird auch die Bedeutung empirischen Wissens über das eigene Arbeitsfeld sichtbar. So können beispielsweise Kinder-, Jugend- und NutzerInnenbefragungen, im besten Falle miteinander kombiniert (vgl. Rahn u. a. 2018), ethnografische Feldstudien in Jugendfreizeiteinrichtungen (vgl. Cloos u. a. 2009) sowie biografische Forschungsarbeiten (vgl. von Schwanenflügel 2018) die Bedeutung dieses Arbeitsfelds für Kinder und Jugendliche sowie die empirische „Verwirklichung“ der oben genannten Arbeitsprinzipien aufzeigen. • Diese empirisch-theoretischen Reflexionen können schließlich in die konzeptionelle Planung und Gestaltung von Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche einfließen. Dabei ist jedoch nicht davon auszugehen, dass theoretische Befunde in der Praxis „bruchlos“ umgesetzt werden können. Vielmehr müssen diese mit den jeweiligen situativ-sozialräumlichen Besonderheiten und den besonderen Lebenslagen junger Menschen vor Ort vermittelt werden, um Jugendfreizeiteinrichtungen als relevante Orte für Jugendliche zu etablieren. • Mit dieser einrichtungsinternen Gestaltungsebene ist ebenso der Blick auf die jeweiligen sozialräumlichen Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen verbunden. Dies kann auch bedeuten, dass Jugendfreizeitein-
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richtungen sich für den Erhalt öffentlicher und unregulierter Räume für junge Menschen einsetzen oder letztere in der Artikulation ihrer jeweiligen Bedürfnisse und Interessen in kommunalpolitischen Zusammenhängen unterstützen.
8 Übungsfragen a. Skizzieren Sie nach der Lektüre dieses Beitrags, was Ihrer Meinung nach die Raum- und Angebotsgestaltung in den dargestellten ortsgebundenen Formen der vorwiegend Offenen Kinder- und Jugendarbeit ausmacht und welche Leitprinzipien dabei relevant sind. b. Welche Entwicklungslinien lassen sich in der historischen Betrachtung zwischen den beiden Polen „Selbstbestimmung/Selbstartikulation jugendlicher Interessen“ auf der einen Seite und „sozialintegrative/sozialdisziplinarische Motive von Seiten der Erwachsenenwelt“ auf der anderen Seite finden? Wie schätzen Sie die Situation heute ein? c. Welche „typischen“ Ausstattungsmerkmale und Angebotsformen lassen sich bei größeren Jugendfreizeiteinrichtungen in der Regel finden? Verwenden Sie hierzu Beispiele aus der Praxis. d. Was sind die zentralen Gemeinsamkeiten der hier beschriebenen ortsgebundenen Raumkonzepte und wo bestehen Unterschiede? Betrachten Sie dabei auch die empirischen Ergebnisse zur jeweiligen Zusammensetzung der Besucherschaft. e. Welche aktuellen und zukünftigen Herausforderungen konnten Sie für den Einrichtungstypus „Jugendfreizeiteinrichtung“ aus dem Beitrag herauslesen?
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Jugendverbände Rainer Patjens und Ingo S. Hettler
Zusammenfassung
In Jugendverbänden wird Jugendarbeit von Kindern und Jugendlichen selbst organisiert, durchgeführt und verantwortet. Sie nehmen damit eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit ein. Dabei haben Jugendverbände eine lange historische Tradition und Entwicklung hinter sich und erreichen Kinder und Jugendlichen aus den verschiedensten Milieus. Gleichzeitig zwingen Veränderungen von gesellschaftlichen Strukturen als auch des Freizeitverhaltens von Kindern und Jugendlichen die Jugendverbände, sich jenseits ihrer bisherigen Milieus neue Zielgruppen zu erschließen und neue Formen der Jugendarbeit zu finden.
1 Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit – Einleitende Anmerkungen Die Jugendverbände sind wichtige Akteure der Kinder- und Jugendarbeit. Dabei wurde häufig zwischen verbandlicher und offener Jugendarbeit unterschieden, da sich die verbandliche Jugendarbeit primär an die eigenen Mitglieder richtet.
R. Patjens (*) · I. S. Hettler Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] I. S. Hettler E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_5
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Allerdings ist auch die Jugendverbandslandschaft in den letzten Jahren stark in Bewegung geraten, sodass nicht nur eine größere Vielfalt an Jugendverbänden zu beobachten ist (z. B. durch die Entstehung von Migrantenselbstorganisationen oder dem Bund Moslimischer Pfadfinderinnen und Pfadfinder in Deutschland), sondern sich auch das Angebot zunehmend an Nichtmitglieder richtet. Daher stellt der 15. Kinder- und Jugendbericht fest, dass diese Unterscheidung grundsätzlich keinen Sinn mehr macht: „Die grundsätzliche Trennung von Kinder- und Jugendarbeit in eine offene und eine jugendverbandliche Kinder- und Jugendarbeit ergibt heute ebenso wenig einen Sinn, wie die alleinige Zuordnung der offenen Angebote zu den öffentlichen Trägern und die bisher, vor allem als verbandliche, definierten gruppenbezogenen Formen zu den freien Trägern. Vielmehr muss konstatiert werden, dass die Kinder- und Jugendarbeit in Deutschland sowohl in beruflicher als auch in ehrenamtlicher Form seit vielen Jahrzehnten vor allem in den Händen der freien Träger, der Wohlfahrtsverbände, Sportvereine und Jugendverbände liegt.“ (BMFSFJ 2017, S. 370)
Jugendverbände treten als Akteure der Offenen Kinder- und Jugendarbeit auf und öffnen ihr Angebot zunehmend für Nichtmitglieder bzw. richten es gerade an diese. Dies mag zwar auch der Gewinnung von Nachwuchs bzw. neuen Mitgliedern geschuldet sein, ist aber ebenso nicht von den Veränderungen in der Jugendhilfelandschaft und der Konkurrenzsituation durch die Vielzahl von Beschäftigungsmöglichkeiten Jugendlicher zu trennen. Zwar bleiben für 65 % der Jugendverbände die Gruppenstunden das charakteristische Angebot, darüber hinaus geben jedoch 38 % der Jugendverbände an, auch offene Treffs anzubieten, wobei zwischen Ost (48 %) und West (34 %) ein deutlicher Unterschied zu verzeichnen ist (vgl. DJI 2009, S. 23). Da Jugendverbände häufig eher klein sind und 2/3 der Jugendverbände weniger als 300 Mitglieder haben (vgl. DJI 2009, S. 22), sind Jugendverbände tendenziell stark lokal/regional verankert, sodass sich das Angebot den örtlichen Bedarf anpassen kann. Obwohl die Jugendverbände ein wichtiger Akteur der Kinder- und Jugendarbeit sind, gibt es jedoch keine aktuellen Untersuchungen über die konkrete Zahl der Einrichtungen oder Angebote. Dies hängt auch damit zusammen, dass es schwierig ist die genaue Zahl der Jugendverbände zu erfassen, da es auf örtlicher Ebene nicht überall Jugendringe gibt, die genaue Zahlen ermitteln oder feststellen (vgl. Gadow/ Pluto 2014, S. 139). Gleichfalls können die Jugendämter keine genauen Zahlen bieten, da Jugendverbände nicht registriert werden und nicht alle Jugendverbände Fördermittel erhalten. Die Jugendverbandslandschaft ist daher nicht vollständig
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zu erfassen. Dies ist insbesondere in Hinblick auf den Kinderschutz durchaus problematisch zu betrachten, da Kinderschutzvereinbarungen nur sehr lückenhaft abgeschlossen werden und der organisatorische Aufwand gerade von kleineren Jugendverbänden eher gescheut wird. Viele Jugendverbände haben eine sehr lange Tradition, sodass die Entstehung und Herkunft des Verbandes wiederum einen starken Bezug zum Milieu bieten, aus denen die Mitglieder über lange Zeit geschöpft wurden. Darüber hinaus gibt es Verbände, die gerade nicht auf ein bestimmtes Milieu setzen, sondern schon aus ihrer Entstehung heraus ein milieuübergreifendes Angebot darstellen. Dies ist historisch beispielsweise bei der Pfadfinderbewegung festzustellen, deren Intention durch die Einführung einer gemeinsamen Kluft gerade die Überwindung von Klassenschranken war. Auf der anderen Seite sind insbesondere konfessionelle oder politische Jugendverbände davon abhängig, dass sich die Kinder und Jugendlichen mit ihnen identifizieren oder aus einem Milieu kommen, das einen unmittelbaren Bezug zum Jugendverband herstellt (z. B. die sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken oder der Bund Moslimischer Pfadfinderinnen und Pfadfinder in Deutschland). Aus der Sicht des Gesetzgebers ist Jugendverbandsarbeit eine besondere Organisationsform von Jugendarbeit, die sich durch den hohen Partizipationsgrad als auch der besonders starken Anknüpfung an den Interessen der Kinder und Jugendlichen auszeichnet und wodurch sich die besondere Förderwürdigkeit aus § 12 Abs. 1 SGB VIII ergibt (dazu ausführlich Kap. 3 Rechtsgrundlagen der Kinder- und Jugendarbeit). Dabei können Jugendverbände auch Erwachsenenverbänden angeschlossen sein, jedoch müssen die Mitglieder klar voneinander abzugrenzen sein. Darüber hinaus muss gewährleistet sein, dass der Jugendverband seine Entscheidungen autonom vom Erwachsenenverband trifft und die vorhandenen Gremien und die tätigen MitarbeiterInnen (weisungs-)unabhängig vom Erwachsenenverband sind. Gerade in kirchlichen oder politischen Jugendverbänden führt dies häufig zu erheblichen Spannungen mit dem Erwachsenenverband. In Jugendverbänden wird das gesamte Spektrum der Jugendarbeit angeboten, sodass neben den offenen Treffs vor allem Freizeiten, Schulungen, Sport und Angebote an Schulen zu den häufigsten Aktivitäten gehören, ebenso aber geschlechtsspezifische sowie medienpädagogische Angebote oder der Betrieb von eigenen Einrichtungen (vgl. DJI 2009, S. 23). In diesem Umfeld können die Jugendlichen ihre eigenen Lebensentwürfe hinterfragen und ggf. auch neue ausprobieren, sodass die Jugendverbandsarbeit ein weites „Experimentierfeld für Lebensentwürfe“ (Gängler 2011, S. 711) darstellt.
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2 Historische Entwicklung Die historischen Wurzeln der Jugendverbände in Deutschlands sind im zeithistorischen Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts und den mit der Industrialisierung verbundenen Anforderungen an die Organisation von Arbeit und Familie nachzuvollziehen. Während die vorindustrielle Gesellschaft noch keine klare Trennung der Lebensphasen Kind und Erwachsen kannte, ergaben sich ab etwa 1850 erste Schritte zur Abgrenzung einer eigenen Lebensphase für Kinder und Jugendliche. Außerhäusliche Produktionsformen, die mit einem zunehmenden Prozess der Verstädterung einhergingen, führten auch zu einer Veränderung von Familie, Erwerbsleben und Freizeit. Soziale Beziehungen mussten um den außerhäuslichen Arbeitsplatz herumorganisiert werden. Insbesondere bei Eltern mit einem hohen Bildungsniveau und in bürgerlichen städtischen Regionen entwickelte sich ein neues soziales und pädagogisches Verständnis von Kindheit und Jugend, dass sich später auch in weitere gesellschaftliche Milieus verbreitete. Anstelle kleiner Erwachsener wurden Kinder und Jugendliche nun als Menschen in einer eigenständigen Entwicklungsphase betrachtet, mit eigenen Handlungsspielräumen und gesellschaftlichen Teilnahmerechten (Vgl. Hurrelmann und Quenzel 2016, S. 19 f.). Die Reduzierung der Arbeitszeit in den Produktionsstätten führte zu einer Erhöhung der verfügbaren Zeit bei den erwerbstätigen Jugendlichen und schließlich zur Entstehung eines eigenen Frei-zeitbereichs (vgl. Gängler 2011, S. 708). Die Jugendlichen nutzen diese Freizeit zur Entdeckung des Wanderns und der Natur mit der Gleichaltrigengruppe. Dieser besondere Erfahrungsbereich für Erlebnisse und Selbsterziehung im Kontext der Gleichaltrigengruppe zeichnete sich insbesondere auch durch eine Distanzierung gegenüber gesellschaftlichen Konventionen aus. Ungezwungene Kleidung und Umgangsformen, sowie die Widerentdeckung alter Lieder, Bräuche und Sitten, spiegelten sich dabei auch in einer gewissen Romantik für das außerstädtische, zivilisationsferne Gemeinschaftsleben wider, aus dem später das „Repertoire eines ‚jugendmäßigen Lebens‘“ (Giesecke 1980, S. 17) erwuchs und die Vorstellungen über den Sinn und Zweck der Jugendarbeit noch bis Ende der 1960er-Jahre nachhaltig prägte (vgl. Giesecke 1980, S. 17). Der 04. November 1901 datiert mit der Gründung des Vereins „Wandervogel“ das Geburtsdatum einer der wahrscheinlich prominentesten ersten Jugendbewegungen (vgl. Giesecke 1981, S. 18). Aus einzelnen Gruppen und Vereinen erfolgte schon bald ein Zusammenschluss zu Bünden (Bündische Jugend), die schließlich einen „Ersten Freideutschen
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Jugendtag“ im Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner veranstalteten. Die Vorläufer der heutigen Jugendverbände haben ihren Ursprung jedoch nicht nur in von den Jugendlichen selbstorganisierten Gruppen. Auch Erwachsenenorganisationen und insbesondere die christlichen Kirchen gründeten Jugendorganisationen, die zeitlich zum Teil noch weiter zurückgehen als die ersten selbstorganisierten Jugendgruppen (vgl. Aner und Hammerschmidt 2018, S. 153). Das im 19. Jahrhundert entwickelte Vereinsrecht und das damit einhergehendes Aufblühen des Vereinswesens waren eine wichtige Voraussetzung, um die Bündelungsprozesse der vielfältigen gesellschaftlichen Gruppierungen überhaupt erst zu ermöglichen (Vgl. Gängler 2011, S. 708). Die organisatorische Entwicklung der Jugendverbände vollzog sich dabei auch in einer engen Verzahnung zu jugendpolitischen Entscheidungen des Staates. Auf erste ordnungspolitische Bemühungen, adressiert an die städtischen erwerbstätigen männlichen Jugendlichen, folgte der 1885 gegründete „Zentralausschuß zur Förderung der Jugend- und Volksspiele“, der zugleich den Beginn der „staatlichen Jugendpflege“ konstatiert. Inspiriert durch die Wandervogelbewegung wurde die kontrollierend-disziplinierenden Zielsetzungen der Jugendpflege sukzessive um jugendkulturelle und dienstleistungsbezogene Angebote erweitert. Wichtige Grundlinien der staatlichen Förderung von Jugendverbänden entwickelten sich ebenso in dieser Phase, wie eine Personalstruktur von ehrenamtlich Tätigen. Die von den Erwachsenenorganisationen gegründeten Jugendorganisationen und die von den Jugendlichen selbst organisierten Gruppen führten sukzessiv zu einem pluralen und ausdifferenzierten System der Jugendverbandsarbeit (vgl. Gängler 2011, S. 708). Den größten auf Freiwilligkeit basierenden Zulauf erfuhren die Jugendverbände in der Weimarer Zeit, in der knapp die Hälfte aller Jugendlichen zwischen 14 und 21 Jahren Mitglieder einer Jugend-organisation waren. Zugleich waren die 1920er Jahre geprägt von einer starken Politisierung der Jugendverbände, ausgelöst durch einen parteipolitischen Kampf um die Jugend, um diese entsprechend für ihre Standpunkte zu gewinnen (vgl. Gängler 2011, S. 709). Im dritten Reich stießen die pluralen und offenen Strukturen der Jugendverbandarbeit bei den Nationalsozialisten auf starke Ablehnung. Einige Jugendverbände wurden deshalb in die Hitler-Jugend eingegliedert. Die anderen Jugendverbände wurden fast vollständig verboten. Lediglich die kirchlichen Jugendorganisationen verfügten noch über geringe Spielräume, die ihnen von den Nationalsozialisten zugebilligt wurden. Die jugendkulturellen Elemente und Accessoires, die einst für die jeweiligen Traditionen und Ideen der früheren
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Jugendverbände standen, wurden von der Hitler-Jugend – ihrem Sinne entsprecht – ideologisch aufgeladen und übernommen (vgl. Gängler 2011, S. 709; Aner und Hammerschmidt 2018, S. 154). Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Alliierten im Jahr 1945 wurden alle NS-Organisationen aufgelöst. Mit dem Verbot der Hitler-Jugend gab es in Deutschland zunächst keine Jugendorganisationen und -verbände mehr. Schon bald wurde jedoch die Gründung von Jugendgruppen auf lokaler Ebene durch die Besatzungsmächte erlaubt. Später, nach Gründung der Länder in den westlichen Besatzungszonen, bildeten sich mit Zustimmung der Besatzungsmächte auch landesweite Jugendverbände, bei denen es sich meist um Wiedergründungen von Verbänden handelte, die durch das NS-Regime verboten waren. Bei ihrem (Wieder-)Aufbau wurden die Jugendverbände in den westlichen Besatzungszonen unterstützt, auch mit dem Ziel der Integration einer durch die Kriegsjahre und das NS-Regime desorientierten, heimatlosen und entwurzelten Jugend. In den Folgejahren bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurden von den Ländern finanzielle Mittel in den Jugendplänen bereitgestellt und die Landesverbände der Jugendorganisationen zu Landesjugendringen zusammengefasst. Ein Prozess, der sich später in ähnlicher Form auch auf Ebene der Kommunen und Landkreise vollzog. Auch auf Bundesebene kam es zu neuen Bündnissen und Vereinigungen von Jugendorganisationen. Mit der Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge wurde eine Dachorganisation gegründet, die die ganze Jugendhilfe unter sich vereinen sollte. Neben ihr entstanden mit der Arbeitsgemeinschaft Jugendaufbauwerk und dem Bundesjugendring weitere Jugendverbände auf Bundesebene (vgl. Aner und Hammerschmidt 2018, S. 154 f.). In Ostdeutschland herrschte zu Beginn der 1950er Jahre noch eine gewisse Experimentierfreude und Offenheit, die jedoch nur wenige Jahre später von der „Freien Deutschen Jugend“ als einer einheitlichen Staatsjugendorganisation abgelöst wurde. Bis zum Ende der DDR folgte die Freie Deutsche Jugend in Puncto Organisationsstruktur, parteipolitischer Abhängigkeit und mit Blick auf die enge Verzahnung mit dem Bildungssystem ganz der Logik und Tradition der Hitler-Jugend, wenngleich sie einer anderen ideologischen Orientierung folgte (vgl. Gängler 2011, S. 711). Auf den Anschluss der neuen Bundesländer an die BRD folgte die Expansion der westdeutschen Jugendverbände in diese, wobei die westdeutschen Jugendverbände sowohl auf Landesebene wie auch auf kommunaler Ebene als Blaupause für die neu entstehenden Jugendverbände dienten (vgl. Aner und Hammerschmidt 2018, S. 156).
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3 Merkmale von Jugendverbänden Der Gesetzgeber hat der Jugendverbandsarbeit im SGB VIII einen hohen Stellenwert eingeräumt, der dadurch zum Ausdruck kommt, dass § 12 Abs. 1 SGB VIII eine besondere Förderwürdigkeit festschreibt. „Jugendverbände sind eine wichtige Lern- und Lebenshilfe, indem sie soziale Bildungsangebote für unterschiedliche gesellschaftliche Positionen und weltanschauliche Richtungen machen. Sie organisieren sich zwar in Gruppen Gleichaltriger, wahren aber in der Regel den förderlichen Bezug zu Erwachsenen (-einrichtungen). Sie bereiten auf die moderne Organisationsgesellschaft vor, indem sie den kontinuierlichen Umgang mit Strukturen und Institutionen trainieren. Sie sind ein unentbehrliches Medium der organisierten Interessenvertretung und der politischen Beteiligung Jugendlicher.“ (Deutscher Bundestag, Drs. 11/5948, S. 55).
Nach § 12 Abs. 2 SGB VIII sind die besonderen Merkmale von Jugendverbänden der hohe Grad der Partizipation sowie die auf Dauer angelegte Arbeit, die in der Regel auf Mitglieder ausgerichtet ist und die Interessen und Anliegen junger Menschen zum Ausdruck bringt (ausführlich dazu siehe Kap. 3 Rechsgrundlagen der Kinder- und Jugendarbeit). Dies charakterisiert Jugendverbände jedoch nur unzureichend. Darüber hinaus lassen sich weitergehende Merkmale feststellen, die sich teilweise aus der historischen Entwicklung erklären lassen.
3.1 Ehrenamtliche Personalstruktur Das hohe ehrenamtliche Engagement ist wesentliches Merkmal von Jugendverbänden, obgleich 50 % aller Jugendverbände auch hauptamtliches Personal beschäftigen (vgl. DJI 2009, S. 42). Die Verberuflichung ist in der Jugendverbandsarbeit tendenziell aber später als in anderen Feldern der Kinder- und Jugendarbeit eingetreten (vgl. Gängler 2011, S. 710). Dabei hat die zunehmende Komplexität des Arbeitsfeldes als auch die Vielfalt der Probleme und Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen dazu geführt, dass in bestimmten Bereichen geradezu die Notwendigkeit besteht auf hauptamtliches Personal zurückzugreifen, z. B. in Hinblick auf die Finanzen oder den Kinderschutz. Ehrenamtliche kommen aus allen Altersgruppen und übernehmen in allen Bereichen des Jugendverbandes Tätigkeiten, wobei insbesondere pädagogisch-inhaltliche Aufgaben wie Gruppenstunden, aber auch Vorstandsarbeit und Öffentlichkeitsarbeit
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aktiv übernommen werden (vgl. DJI 2009, S. 31, 35). Für Jugendverbände ist es daher ein Kernanliegen, dass aus Besuchern von Angeboten nicht nur Mitglieder, sondern vielmehr ehrenamtlich engagierte Mitglieder werden. Das ehrenamtliche Engagement wird von Jugendlichen dabei aber nicht immer als solches wahrgenommen und es ist bisher nicht möglich genau zu beziffern, wie viele Jugendliche sich tatsächlich in Jugendverbänden engagieren (vgl. Gadow/Pluto 2014, S. 127). Dabei können die Motive dafür, sich in einem Jugendverband zu engagieren, durchaus vielfältig sein, z. B. • Kontakt und Geselligkeit • religiöse oder gemeinnützige Intentionen • Spaß • Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft • Eigeninitiative, z. B. wenn Freizeitmöglichkeiten für Jugendliche nicht vorhanden sind und geschaffen werden sollen • Erfahrung von Selbstwirksamkeit. (vgl. Gadow/Pluto 2014, S. 132 f.) Im Rahmen der Jugendverbandserhebung vom Deutschen Jugendinstitut 2009 kann zumindest festgestellt werden, dass sich tatsächlich eine erhebliche Anzahl der Kinder und Jugendlichen aktiv in den Jugendverbänden einbringen. So sind insgesamt ca. 43 % aller ehrenamtlich Tätigen unter 21 Jahre alt (vgl. DJI 2009, S. 31). Der hohe Einsatz von ehrenamtlich Tätigen macht es jedoch notwendig, dass eine hinreichende Qualifikation vorhanden ist oder eine Qualifizierung durch entsprechende Schulungen ermöglicht wird. Dabei ist die Jugendleiter-Card (JuleiCa) in Hinblick auf die inhaltlich-pädagogische Arbeit in Gruppen für ehrenamtliche GruppenleiterInnen die vorherrschende Qualifikation. Für weitergehende Aufgaben sind weitere entsprechende Qualifikationsmaßnahmen erforderlich. Problematisch ist in diesem Kontext jedoch immer noch der Kinderschutz. Soweit Jugendliche selbst als JugendleiterInnen aktiv sind und Verantwortung in der Gruppenleitung übernehmen, ist die Übernahme von Aufgaben des Kinderschutzes häufig eine deutliche Überforderung. Auch wenn in den meisten JuLeiCa-Ausbildungen zwischenzeitlich der Kinderschutz Einzug gefunden hat, ist die Vermittlung von grundlegenden Inhalten und Wissen keinesfalls ausreichend, um in diesem Kontext sicher agieren zu können. Auch haben JugendgruppenleiterInnen keinen Anspruch auf eine Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft (Kinderschutzfachkraft) gem. § 8b Abs. 1 SGB VIII, da sie nicht beruflich mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Dadurch ergeben sich durch ehrenamtliche Strukturen häufig Schwierigkeiten, den Kinderschutz
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in der Jugendarbeit umzusetzen. Auch dieser Umstand macht es teilweise notwendig, dass eine stärkere Unterstützung der Ehrenamtlichen durch hauptamtliche Fachkräfte erfolgen muss.
3.2 Milieubindung der Mitglieder Die Entstehung der Jugendverbände steht in einem engen Zusammenhang mit der Anbindung an bestimmte Milieus, aus denen sich die Mitglieder schöpften. Neben den Kirchen war dies vor allem die Anbindung an die Arbeiterschaft oder bürgerliche Milieus. Nur selten gab es in der Entstehungsgeschichte von Jugendverbänden die Intention, sich ausdrücklich nicht an Milieus zu binden. So war die Entstehung der Pfadfinderbewegung auch eng verbunden mit dem Gedanken, dass schicht- und milieuübergreifend Kinder und Jugendliche zusammen aktiv sind, wobei insbesondere durch eine vereinheitlichte Bekleidung (der sog. Kluft) vermieden werden sollte, dass durch die Kleidung äußerlich die Milieuzugehörigkeit erkennbar wurde. Außerdem wurde nach der „Scouting“-Ansatz von Robert Baden-Powell zumindest im technischen Sinne auch die militärische Ausbildung als Vorbild herangezogen (vgl. Schubert-Weller 2012, S. 31). Durch die Pfadfinderkluft wurde die Zugehörigkeit und Bindung an die Pfadfindergruppe in den Vordergrund gestellt. Die Anbindung an Milieus war lange Zeit ein stabilisierender Faktor der Jugendverbände. Gleichzeitig ergeben sich durch die Auflösung von Milieus bzw. der nur geringfügigen Bindung von Milieus für die Jugendverbände zukünftig neue Herausforderungen (siehe dazu auch Abschn. 7.2).
3.3 Gruppe und Gruppenstunde Das Erleben von Gemeinschaft ist ein zentraler Aspekt der Jugendverbandsarbeit. Dieses Erleben ist eng verknüpft mit der Gruppe und den gemeinsamen Aktivitäten mit den Gruppenangehörigen. Daher ist die Gruppenstunde zentrales Element der Jugendverbandsarbeit und als Ursprungsform der Kinder- und Jugendarbeit in Jugendverbänden anzusehen (vgl. Böhnisch 1991, S. 78). Zwischen den Mitgliedern der Gruppe können sich Freundschaften und Verbindungen entwickeln, die über die Gruppenstunde hinausgehen und auch im Alltag Bestand haben. Darüber hinaus wird jedes Mitglied in Hinblick auf seine Beziehungs- und Gemeinschaftsfähigkeit gefordert, aber auch gefördert. Grundsätzlich dient die Gruppenstunde dem sozialen Miteinander, in dessen Rahmen
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Spaß und Freude erlebt werden (vgl. Gadow/Pluto 2014, S. 160). Der Jugendverband schafft hier zugleich einen identitätsstiftenden Rahmen. Dies können äußere Merkmale sein (gleiche Trainingskleidung, Pfadfinderkluft), ebenso aber auch Symbole (Pfadfinderlilie) oder Rituale (z. B. bei der offiziellen Aufnahme in die Gruppe). Die Gruppe sorgt für eine hohe Identifikation mit dem Jugendverband und schafft damit wiederum die Voraussetzung, um sich ehrenamtlich zu engagieren. So wird z. B. aus der Gruppe heraus eine Leitung gewählt, die häufig nicht älter ist als die übrigen Mitglieder der Gruppe. Dies wiederum entspringt der Grundintention der Jugendverbände, dass die Kinder und Jugendlichen dort die Arbeit selbst organisieren, gemeinschaftlich gestalten und mitverantworten (§ 12 Abs. 2 SGB VIII). Die starke Identifikation und das Zugehörigkeitsgefühl führen bestenfalls dazu, dass auch im Erwachsenenalter dieses Selbstverständnis und das Engagement für den Jugendverband bestehen bleiben. Darüber hinaus führt die häufig jahrelange gemeinsame Zeit in einer Kinder- bzw. Jugendgruppe auch zur Bildung von sozialen Netzwerken.
3.4 Gleichaltrigenbeziehungen Neben der Gruppe ist die Gleichaltrigenbeziehung ein wesentlicher Aspekt der pädagogischen Arbeitsweise in Jugendverbänden und „so in keinem anderen pädagogischen Feld vorfindbares Phänomen“ (Gängler 2011, S. 711). Innerhalb der Gruppen müssen die Mitglieder ihre Aktivitäten als auch ihr Zusammenleben gestalten und Verantwortung verteilen bzw. übernehmen. Unabhängig von der Einflussnahme Erwachsener erziehen sich Kinder und Jugendliche so gegenseitig und können eigene Werte und Lebenswürfe mit denen von anderen Jugendlichen vergleichen. Für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind Gleichaltrigenbeziehungen von hoher Relevanz: Gerade, weil die Beziehungsstruktur unter Gleichaltrigen eine andere ist, als zu Erwachsenen, finden auch andere Lern- und Sozialisationsprozesse statt. In Hinblick auf eine eigenständige Entwicklung bzw. im Kontext des SGB VIII der Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit, können Kinder und Jugendliche durch Gleichaltrigenbeziehungen spürbare Entwicklungsfortschritte machen (vgl. Krappmann 2010, S. 190 f.). Die Kinder und Jugendlichen erleben in der unmittelbaren Beziehung mit Gleichaltrigen im geschützten Rahmen eines Jugendverbandes vielfältige soziale Rückmeldungen wie Akzeptanz oder Ablehnung, auf die aber – im Gegensatz zu der virtuellen Welt – eine unmittelbare Reaktion erlernt werden kann und innerhalb der Gruppe gelöst werden muss.
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Daher können Gleichaltrigenbeziehung außerordentliche positive Auswirkungen haben, gleichermaßen aber auch belastend und schwerwiegend negativ sein (vgl. Vierhaus/Wendt 2018, S. 145).
3.5 Organisationsstrukturen Überwiegend sind Jugendverbände als eingetragene Vereine organisiert, was sich in Hinblick auf die Beteiligungsmöglichkeiten und die ehrenamtliche Mitarbeit bereits mit der Entstehung der Jugendverbände als geeignete Form bewährt hat. Damit geht aber häufig bürokratischer Aufwand einher, wenn es z. B. um die Organisation der Mitgliederversammlung und Wahlen, die Finanzierung, Eintragungen im Vereinsregister oder die Erstellung bzw. Änderung von Satzungen geht. Gerade im Bereich der Geschäftsführung wird daher bei größeren Jugendverbänden häufig hauptamtliches Personal eingesetzt. Jugendverbände haben darüber hinaus die Aufgabe, „Anliegen und Interessen junger Menschen zum Ausdruck“ zu bringen und zu vertreten (§ 12 Abs. 2 SGB VIII). Diese gewollte politische Beteiligung wird in der Regel über die Zusammenarbeit der Jugendverbände in den Jugendringen erreicht. Jugendringe sind sowohl auf Bundes- und Landesebene als auch auf kommunaler Ebene vorhanden und häufig ebenfalls als eingetragene Vereine organisiert (vgl. DJI 2019, S. 18). Zunehmend verändert sich aber die Zusammensetzung der Jugendringe, sodass sie derzeit ein Zusammenschluss von Akteuren der Kinder- und Jugendarbeit darstellen. So sind in Jugendringen neben Jugendverbänden auch kommunale Träger, Einzelpersonen sowie Organisationen, die nicht Träger der Jugendarbeit sind, vertreten (vgl. DJI 2019, S. 23) Jugendringe bieten darüber hinaus „ihren Mitgliedsorganisationen Gelegenheiten, sich inhaltlich auszutauschen und ihre Interessen zu bündeln. Idealerweise vertreten Jugendringe die Interessen ihrer Mitgliedsorganisationen und die der jungen Menschen in der kommunalen Jugendpolitik, betreiben Öffentlichkeitsarbeit, leisten organisatorische, inhaltliche Unterstützung und Beratung für ihre Mitgliedsorganisationen und sind eine wichtige Anlaufstelle für Jugendverbände, -organisationen sowie ehrenamtlich in der Jugendarbeit Tätige. Insbesondere für die örtliche Ebene der Jugendverbände und -organisationen ohne hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können sie wichtige Aufgaben übernehmen, indem sie fachliche Unterstützung bieten, Ehrenamtliche qualifizieren und die jugendpolitischen Anliegen der Jugendverbände und Jugendorganisationen unterstützen.“ (DJI 2019, S. 6)
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Jugendringe sind für Jugendverbände als auch für die Kinder- und Jugendarbeit zentrale und wichtige Zusammenschlüsse der relevanten Träger und Einrichtungen, um den sich ändernden Anforderungen des Arbeitsfeldes als auch des Klientels gerecht werden zu können. Sie stellen sowohl für die Jugendhilfeausschüsse, die Kommunalpolitik als auch für Polizei und Ordnungsbehörden wichtige Kooperationspartner dar.
4 Reichweite und Klientel Die Frage, welche jungen Menschen die Angebote der Jugendverbände für sich nutzen ist eine, deren empirische Beantwortung sich seit jeher als eine besondere Herausforderung darstellt. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Ausführungen als Annährungen auf empirischer Basis an die Realität zu verstehen. Gründe für die Schwierigkeit einer vollständigen Erfassung des Feldes liegen zweifelsohne in den vielfältigen Angebotsformen und Teilnahmemöglichkeiten. So lässt sich die Inanspruchnahme von Angeboten und aktive Mitarbeit im Verband nur bei einem Teil der Jugendverbände über die Mitgliedschaft nachvollziehen (z. B. bei der Jugendfeuerwehr). Die Auskunftsfähigkeit des Kriteriums „Mitgliedschaft“ ist aufgrund unterschiedlicher Definitionen und Praxen jedoch nur bedingt gegeben. Neben dem Mitgliederbegriff haben sich in der verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit deshalb auch Beschreibungen wie „NutzerInnen“, „TeilnehmerInnen“, „AkteurInnen“ und „erreichte Kinder und Jugendliche“ etabliert. Die offene Kinder- und Jugendarbeit z. B. kennt den Mitgliedschaftsbegriff überhaupt nicht, was die Problematik der Reichweitenbestimmung anhand der Mitgliederzahlen nochmals unterstreicht (Vgl. BMFSFJ 2017, S. 381). Gängler (2011, S. 713) nimmt eine weitere hilfreiche Differenzierung der Klientel vor, in dem er Konsumenten, Stammkunden, Mitglieder und Ehrenamtliche voneinander unterscheidet. Von besonderer Bedeutung für die Bestimmung der Reichweite und des Klientels der Jugendverbände ist die Frage, ob der Sport in diese Betrachtung miteinbezogen wird oder nicht. Im Rahmen des DJI-Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten (AID:A)“ (DJI o. J.) wurde nach der regelmäßigen, mindestens einmal wöchentlichen Teilnahme der 12–25-Jährigen an ausgewählten Angeboten der (Jugend-)Organisationen gefragt. Ausgehend von diesen Daten erreichen Sportangebote im Jahr 2014 64 % der 12–14-Jährigen, 52 % der 15–18-Jährigen und mit immerhin noch 32 % der 19–21-Jährigen und 25 % der 22–25-Jährigen. Inwiefern es sich bei diesen Sportangeboten um jugendverbandliche Sportangebote, Leistungssport oder freizeitorientierten
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Breitensport handelt, konnte im Rahmen der Befragung nicht geklärt werden. Die zweitgrößte Reichweite haben Gesangs-, Musikvereine und Theatergruppen. Diese erreichen 26 % der 12–14-Jährigen, 18 % der 15–18-Jährigen und bei 19–21-Jährigen sieben Prozent und 22–25-Jährigen sechs Prozent und sind insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen stärker gefragt. Auch hier stellt sich jedoch das Problem einer sauberen Abgrenzung der Jugendverbandsarbeit gegenüber der kulturellen Jugendarbeit und anderen kulturellen Aktivitäten außerhalb der Kinder- und Jugendarbeit. In kirchlichen und religiösen Gruppen sind zwischen 17 % (im Alter von 12–14) und fünf Prozent (im Alter von 22–25) der jungen Menschen organisiert. Ob bei den Antworten auch Angebote für die Vorbereitung von Konfirmation und Kommunion, MinistrantInnen-Arbeit und die Mitwirkung in kirchlichen Kinder- und Jugendchören mit einflossen, bleibt indes unklar. Acht bis Zehn Prozent der Jugendlichen ist in technisch-helfenden Jugendverbänden, wie der Jugendfeuerwehr oder dem Technischen Hilfswerk aktiv. Die geringste Reichweite haben die politischen Jugendverbände (1 % der 15–25-Jährigen) sowie die Berufsverbände und Gewerkschaften (1 % der 15–18-Jährigen; Vgl. BMFSFJ 2017, S. 386 f.). Werden die unterschiedlichen Bereiche und Daten zusammengefasst, so sind 76 % aller 12–25-Jährigen und ohne den Sport immerhin noch 45 % bei Vereinen und Verbänden aktiv, wobei die Teilnahme mit zunehmendem Alter sinkt. Hinsichtlich der Intensität der Nutzung ist festzustellen, dass die Mehrheit der Jugendlichen mindestens einmal wöchentlich im Verein/Verband aktiv ist, sodass diese durchaus eine zeitliche und inhaltliche Relevanz im Alltagsleben der jungen Menschen haben (Vgl. BMFSFJ 2017, S. 386). Die Frage, welche jungen Menschen sich aus welchen gesellschaftlichen Milieus in Jugendverbänden engagieren, lässt sich trotz gestiegener Forschungsaktivitäten in diesem Themenbereich nicht allgemeingültig beantworten (Vgl. Düx 2018, S. 189; Voigt 2015, S. 185). Es fehlt an repräsentativen Überblicksstudien zum Engagement junger Menschen in den Jugendverbänden und deren sozio-ökonomischer Herkunft. Befunde unterschiedlicher verbandsinterner und verbandsübergreifender Studien machen jedoch deutlich, dass für junge Menschen ungleiche Teilhabechancen an der Jugendverbandsarbeit bestehen. In einigen Vereinen und Verbänden ist eine formale Mitgliedschaft die obligatorische Zugangsvoraussetzung, um an Aktivitäten teilnehmen zu können und von den Mitbestimmungsmöglichkeiten, die die Jugendorganisation konzeptionell vorsieht, Gebrauch machen zu können (Vgl. Düx 2018, S. 191). In diesen Fällen sind die Teilhabechancen untrennbar mit den sozialen und finanziellen Ressourcen des Elternhauses verbunden. „Jugendliche aus sozial unterprivilegierten, partizipations- und bildungsfernen Bevölkerungsgruppen sind
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im Engagement unterrepräsentiert und damit zu einem großen Teil von den hier möglichen Lernerfahrungen, sozialen Kontakten und Kompetenzgewinnen ausgeschlossen“ (Düx 2018, S. 191 f.). Ausgehend von den nicht repräsentativen Befunden stellt sich weiterhin die Frage, ob in den Jugendverbänden zu einem großen Teil nur Klientel der Mittelschicht erreicht wird oder inwiefern diese auch junge Menschen aus häufiger sozial-, ökonomisch- und bildungsbenachteiligten Milieus erreichen. So sind etwa Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund trotz der in den vergangenen Jahren viel diskutierten interkulturellen Öffnung der Jugendverbände nach wie vor unterrepräsentiert. Bei der Jugendverbandserhebung des DJI auf Stadt-, Kreis- und Ortsebene haben zwar sieben von zehn Jugendverbände angegeben, auch Mitglieder mit Migrationshintergrund zu haben. Im Verhältnis zu den Mitgliedern ohne Migrationshintergrund fallen diese zahlenmäßig marginal aus. So gibt etwa die Hälfte der westdeutschen Jugendverbände an, dass der Anteil der Mitglieder mit Migrationshintergrund bei unter fünf Prozent liegt (vgl. DJI 2009, S. 87).
5 Angebote und Aktivitäten der Jugendverbände Die Kinder- und Jugendarbeit stellt neben Familie und Schule eine wichtige Erziehungs-, Sozialisations- und Bildungssäule für Kinder- und Jugendliche dar (Vgl. Gieseke 1980). Sie eröffnet jungen Menschen in einem organisierten, jedoch nicht verschulten Rahmen Aneignungsräume, in denen sie sich mit Gleichaltrigen treffen, sich einbringen, Verantwortung übernehmen und neue Erfahrungen sammeln. Dabei können Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sich aus einer Vielzahl an Auswahlmöglichkeiten und Angeboten der Jugendverbände für ein für sie passendes entscheiden. Differenzieren lassen sich die verschiedenen Angebote dabei sowohl in ihrer inhaltlichen Ausrichtung, aber auch im Hinblick auf ihre Organisationsform, Trägerschaft und den Grad der Verbindlichkeit, den die Adressaten mit deren Nutzung eingehen (Vgl. BMFSFJ 2017, S. 365). Eine vollständige Abbildung der Vielfalt der Jugendverbandsarbeit ist ausgehend von den derzeitigen Datengrundlagen noch nicht möglich. Über die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik lassen sich vor allem die für die Kinder- und Jugendarbeit aufgewendeten öffentlichen Ausgaben, die bestehenden Einrichtungen und die in diesem Feld berufstätigen Fachkräfte rekonstruieren. Die Seite der Kinder- und Jugendarbeit, die über einen nur geringen Institutionalisierungsgrad verfügt, die ohne hauptamtlich berufstätiges Personal aktiv sind und nicht von öffentlichen Fördergeldern profitieren, bleiben indes nahezu unsichtbar. Dabei handelt es sich allen voran um gruppenbezogene
Jugendverbände
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Kin-der- und Jugendarbeit, die von und mit ehrenamtlich Engagierten geleistet wird und außerhalb von Einrichtungen stattfindet (vgl. BMFSFJ 2017, S. 367). Ein differenziertes, wenn auch nicht vollständiges Bild über die Angebote und Aktivitäten der Jugendverbände ergibt sich aus der Befragung der Jugendverbände im Rahmen der Jugendverbandserhebung des DJI (2009; Abb. 1). Auch wenn sich zwischen den ost- und den westdeutschen Bundesländern teilweise signifikante, historisch bedingte Unterschiede bei den Angeboten der Verbände abzeichnen, so stehen im Vordergrund der verbandlichen Jugendarbeit insgesamt eher traditionelle Angebote und Aktivitäten wie Ausfahrten, (Ferien-)Freizeiten, Gruppenarbeit und Schulungen. Durch Betreuungsangebote während der Ferienzeiten ermöglichen viele Verbände Eltern, Familie und Beruf besser miteinander zu vereinbaren. Dabei erreichen die Jugendverbände erstmals auch Kinder, die zuvor an noch keiner ihrer Aktivitäten teilgenommen haben. Ferienfreizeiten und Betreuungsangebote während den Schulferien zusammengenommen gehören zu den Aktivitäten, die von den Jugendverbänden am
Ferienmaßnahmen/Freizeiten Gruppenstunden*
Ost 79% 55%
West 84% 70%
Insgesamt 83% 65%
Schulungen* Sport*
47% 55%
70% 33%
63% 40%
Angebote an Schulen* Offene Treffs* Kulturelle Veranstaltungen
53% 48% 36%
34% 34% 35%
40% 38% 35%
Intenationale Jugendbegegnungen Parties
26% 25%
34% 30%
31% 28%
Jungenspezifische Angebote (Jugend-) Politische Aktionen
28% 18%
25% 25%
26% 23%
Mädchenspezifische Angebote Eigene Einrichtung* (z.B. Spielmobil, Jugendzentrum)
20%
24%
23%
33%
17%
22%
Medienpädagogische Angebote Internationale Kinderbegegnungen
15% 10%
16% 8%
16% 9%
Sonstiges
22%
23%
23%
* Ost-West-Unterschied signifikant Quelle: DJI-Jugendverbandserhebung 2008
Abb. 1 Aktivitäten von Jugendverbänden im Ost-West-Vergleich. (Quelle: DJI 2009, S. 23)
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häufigsten (83 % der Verbände) angeboten werden (vgl. DJI 2009, S. 23). Die Arbeit in Gruppen gehört bei zwei Drittel der Verbände (65 %) zum Angebotsrepertoire, gefolgt von Schulungen, die bei drei von fünf Verbänden (60 %) zu den am dritthäufigsten genannten Aktivitäten gehören. Durch den flächendeckenden Ausbau an Ganztagsschulen und einer zunehmenden Scholarisierung des Alltags von jungen Menschen kommt der Zusammenarbeit mit Schule eine erhebliche Bedeutung zu. Dies zeigt sich auch daran, dass 40 % der befragten Verbände über entsprechende Angebote an Schulen verfügen. Schließlich hält ein nicht unerheblicher Teil der Verbände (22 %) auch eigene Einrichtungen vor, die von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen z. B. in den offenen Treffs aufgesucht werden können (vgl. DJI 2009, S. 23 f.). Angesichts der voranschreitenden Digitalisierung der unterschiedlichsten Lebensbereiche und einer mediatisierten Kindheit und Jugend (vgl. Tillmann und Hugger 2014) ist jedoch erstaunlich, dass medienpädagogische Angebote zum Zeitpunkt der Befragung nur bei 16 % der befragten Verbände entsprechend vertreten sind (vgl. DJI 2009, S. 24). Es bleibt zu hoffen, dass in zukünftigen Befunden eine stärkere medienpädagogische Ausrichtung der Jugendverbandsarbeit sichtbar wird. Viele Jugendverbände verfügen über kein hauptamtliches Personal, sodass die Organisation und Durchführung von jugendspezifischen Aktivitäten größtenteils von ehrenamtlich Tätigen erbracht werden (vgl. Gängler 2011, S. 710 f.). Wenig verwundern dürfte deshalb, dass sich dieser Umstand auch signifikant in den Inhalten und Formen der durchgeführten Aktivitäten wiederspiegelt. Angebote, deren Planung und Durchführung eine gewisse Qualifikation voraussetzen, wie medienpädagogische oder geschlechtsspezifische Aktivitäten, werden daher häufiger von Verbänden mit hauptamtlichem Personal durchgeführt (vgl. DJI 2009, S. 25).
6 Kompetenzentwicklung und deren (berufs-) biografisches Potenzial Neben den traditionellen Institutionen des Bildungswesens kommt auch den Jugendverbänden eine wichtige Bedeutung bei der Kompetenzentwicklung und -förderung junger Menschen zu. Als „spezifische Lebens- und Bildungsorte“ (Kreher 2008, S. 111) ermöglichen und unterstützen Jugendverbände insbesondere die Ausbildung und Weiterentwicklung sozialer, personaler und verbandspezifischer Kompetenzen. So bestätigen vor allem zahlreiche deutsche Studien die Förderung des Kompetenzerwerbs, etwa im Bereich Organisations-, Strukturierungs-, Problemlöse- und Entscheidungsfähigkeit. Die Forschungs-
Jugendverbände
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lage ist dabei nicht unkritisch zu sehen, denn ein Großteil der Befunde basiert auf explorativen Studien mit subjektiven Selbsteinschätzungen zum Kompetenzerwerb durch die jungen Menschen selbst (vgl. Hemming und Reißig 2015, S. 84). Lernen findet in den Jugendverbänden in unterschiedlichen Dimensionen statt. Durch Organisation und Strukturierung von Aktivitäten erwerben junge Menschen etwa wichtige methodische Kompetenzen. Die Zusammenarbeit mit anderen und im Team eröffnet wichtige Räume für den Erwerb gruppenbezogener Kompetenzen. Die Übernahme von Verantwortung und die Bereitschaft, anderen zu helfen, tragen hierbei ebenso zur Förderung sozialer Kompetenzen bei wie ein ausgeprägter sozialer Gerechtigkeitssinn. Nicht zuletzt werden, je nach Ausrichtung des Verbandes, auch verbandsspezifische Kompetenzen gefördert, wie praktische oder technische Fähigkeiten, wobei hier exemplarisch die freiwillige Jugendfeuerwehr oder das Technische Hilfswerk genannt werden können. Innerhalb der Jugendverbände vollzieht sich der Kompetenzerwerb in unterschiedlichen Settings und Bereichen. Als Ort der Gleichaltrigenkultur zeigt sich die Jugendverbandsgruppe mit ihren regelmäßigen Gruppentreffen als zentraler Lernund Erfahrungsort für informelle und non-formale Bildungsprozesse. Die stärker formalisierten Gruppenleitungsschulungen stellen eine weitere Lerngelegenheit für Jugendliche und junge Erwachsene dar, die bereits sind Verantwortung und Leitungsaufgaben zu übernehmen (vgl. Kreher 2008, S. 115 f.; Kaltenbrunner und Haneschäger 2012, S. 182 f.). Mit Blick auf den Übergang in Ausbildung oder Arbeit zeigt sich, dass der Mitgliedschaft in einem Jugendverband, den dort erworbenen Kompetenzen sowie den bei Schulungen erworbenen Zertifikaten eine wichtige Rolle beizumessen ist. Diese werden von den jungen Menschen bei Bewerbungsverfahren strategisch und geschickt eingesetzt, von den Ausbildungs- und Anstellungsträgern jedoch auch nachgefragt. Der Erwerb von für den beruflichen Einstieg bedeutsamer Kompetenzen stellt für junge Menschen ein willkommener Nebeneffekt dar, auch wenn dies nicht im Vordergrund des Engagements und der aktiven Mitarbeit im Verband steht (Vgl. Kreher 2008, S. 118). Die biografische Nachhaltigkeit reicht schließlich auch über die mit den Lernund Bildungsprozessen einhergehende Kompetenzentwicklung und die Übergänge in Arbeit hinaus. Bei der Bewältigung kritischer Lebenssituationen wie z. B. häuslichen Widrigkeiten kommt den Jugendverbänden auch eine wichtige Bedeutung als Orte der biografischen Geborgenheit und Räume zur Stärkung und Förderung der eigenen Persönlichkeits- und Selbstbewusstseinsausbildung zu (Vgl. Kreher 2008, S. 117 f.). Durch ihre Vereinsstrukturen sind die Jugendverbände auch wichtige und prädestinierte Orte der demokratischen Bildung. So wird z. B. die für eine
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R. Patjens und I. S. Hettler
Demokratie unerlässlichen Aneignung von Fähigkeiten der partnerschaftlichen Kommunikation und Zusammenarbeit durch die Gelegenheiten zur Übernahme von (Leitungs-)Verantwortung in den Verbänden in besonderer Weise gefördert. Kaum ein anderes Feld vermag jungen Menschen wahrscheinlich in einem so großen Ausmaß demokratierelevante Erfahrungen zu eröffnen und verfügt über ein derart großes Potenzial, demokratische Prozesse kennenlernen und Demokratie als Recht zur Mitbestimmung zu praktizieren zu können. Im Hinblick auf die empirisch realisierten Chancen der Demokratiebildung durch Jugendverbände und -vereine ist jedoch zu konstatieren, dass diesbezüglich noch viele Möglichkeiten nicht voll ausgeschöpft werden (vgl. Sturzenhecker 2014, S. 234 f.).
7 Perspektiven und Entwicklungen Seit der Entstehung von Jugendverbänden unterliegen diese einem steten Wandel. Da sie an den Interessen jungen Menschen anknüpfen sollen, müssen Jugendverbände sich immer wieder hinterfragen, was die konkreten Interessen ihres Klientels sind, wie sich die Interessen geändert haben und wie das Angebot angepasst werden muss.
7.1 Untypische Jugendverbände Neben den etablierten und langjährigen Jugendverbänden sind in den letzten Jahren viele neue Jugendverbände entstanden. Darüber hinaus ist – spätestens mit der Wiedervereinigung auch in Westdeutschland – die Entstehung eines neuen Typs von Jugendverbänden, den sogenannten untypischen Jugendverbänden, festzustellen. Diese untypischen Jugendverbände knüpfen zwar an den Interessen junger Menschen an, können aber nicht in die üblichen Kategorien wie z. B. religiös, helfend, sportlich, kulturell etc. eingeordnet werden und erfüllen auch nicht alle Merkmale eines Jugendverbandes, wie z. B. Jugendkunstschulen oder Hausaufgabenhilfen (vgl. DJI 2009, S. 25 f.). Dabei sind die untypischen Jugendverbände deutlich kleiner und haben überwiegend bis 50 Mitglieder (vgl. DJI 2009, S. 27). Dies hängt auch damit zusammen, dass es in solchen untypischen Jugendverbänden häufig keine Mitgliedschaft im klassischen Sinn gibt, sodass sich auch das Angebot nicht primär an die eigenen Mitglieder richten kann. Möglicherweise bildet sich an dieser Stelle auch ein neuer Typus von Klienten heraus, der sich von der bisherigen Typisierung (Konsument, Stammgast, Mitglied, Ehrenamtlicher) unterscheidet und als temporäres oder projektbezogenes
Jugendverbände
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Mitglied betrachtet werden kann. Aus diesem Grund sind untypische Jugendverbände auch weitaus weniger von dem Engagement ehrenamtlich Tätiger abhängig, sondern agieren häufiger mit hauptamtlichem Personal. Gegenüber klassischen Jugendverbänden haben Gruppenstunden eine weitaus geringere Bedeutung, während Angebote an Schulen oder offene Treffs häufiger angeboten werden (vgl. DJI 2009, S. 28). Untypische Jugendverbände erweitern das Spektrum der Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit. Sie erreichen eher eine kleinere Anzahl von Kindern und Jugendlichen, können aber so auch eher Nischen ausfüllen oder eine bestimmte Klientel erreichen. Anders als typische Jugendverbände richtet sich der Fokus aber weniger auf die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen sowie die Einbindung von ehrenamtlich Tätigen, sodass es eher durch Hauptamtliche erbrachte Angebote sind. Dies hat auch eine deutliche geringere Bindung der Kinder und Jugendlichen an den Jugendverband zur Folge. In Hinblick auf das sich ändernde Konsum-, Freizeit- und Partizipationsverhalten von Kindern und Jugendlichen können untypische Jugendverbände aber bestimmte Zielgruppen eher erreichen und stellen damit ein wichtiges Angebot der Kinder- und Jugendarbeit dar.
7.2 Probleme und neue Wege Die Jugendverbände hatten über lange Zeit durch ihre starke Bindung an Milieus sowie der starken Bindungskraft der Gruppen wenig Probleme, sowohl Mitglieder als auch ehrenamtlich Tätige zu gewinnen. Zunehmend verändert sich der Alltag der Kinder und Jugendlichen, insbesondere durch die Schule als auch durch eine Vielfalt von Möglichkeiten der Freizeitgestaltung (vgl. BMFSFJ 2017, S. 198 f.). Gleichzeitig identifizieren sich Kinder und Jugendliche immer weniger über klassische Milieus. Für Jugendverbände bedeutet es, dass sich TeilnehmerInnen und Mitglieder nicht automatisch aus bestimmten Milieus ergeben und neue Zielgruppen erschlossen werden müssen. Eine Ausnahme hierzu bilden allenfalls religiöse/konfessionelle Jugendverbände, die weiterhin aufgrund der Zugehörigkeit zur Religion/Konfession Jugendliche gewinnen können, wobei sich auf der anderen Seite jedoch die zunehmende Säkularisierung bemerkbar macht. Wenn aber die selbstständige Bindungskraft von Milieus für Jugendverbände abnimmt oder nicht mehr vorhanden ist, entwickelt sich daraus für Jugendverbände zunehmend ein Rekrutierungsgproblem (vgl. Gängler 2011, S. 712). Während die Jugendverbände auf der einen Seite die TeilnehmerInnen und Mitglieder nicht mehr automatisch aus bestimmten Milieus schöpfen können und sich daher neue Klientengruppen erschließen müssen, müssen Jugendverbände auf
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der anderen Seite außerdem auch noch gegen die Konkurrenz alternativer Freizeitbeschäftigungen und -angebote bestehen. Dabei sind die „althergebrachten“ pädagogischen Ansätze, die eine hohe Identifikation als auch die Verbindlichkeit der Kinder und Jugendlichen voraussetzen, eher hinderlich, da insbesondere Jugendliche zunehmend weniger bereit sind, sich dauerhaft für ein bestimmtes Angebot oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu binden. Insofern müssen sich Jugendverbände hinterfragen, wie das Gruppenangebot heute so gestaltet werden kann, dass eine nachhaltige Bindungswirkung trotz Konkurrenzangeboten stattfindet. Dabei können insbesondere Kooperationen z. B. mit Schulen oder anderen Jugendverbänden/-einrichtungen ebenso eine Möglichkeit sein, um neue Zielgruppen zu erreichen, wie die stärkere Spezialisierung oder den „Rückzug in Nischen“, wie es teilweise schon von untypischen Jugendverbänden praktiziert wird. Gleichermaßen verstärkt sich auch das Problem, dass Kinder und Jugendliche sich in geringerem Maße ehrenamtlich im Jugendverband engagieren. Sofern die Bindungswirkung nachlässt, überwiegt das Konsumverhalten und die Beliebigkeit. Auch wenn Jugendliche durchaus den Wunsch nach ehrenamtlicher bzw. caritativer Betätigung haben und grundsätzlich dazu bereit sind, konkurriert der Jugendverband mit anderen Möglichkeiten des ehrenamtlichen Engagements, z. B. für die Umwelt in Umweltverbänden oder für Menschenrechte in Menschenrechtsorganisationen. In Hinblick auf die Vielfalt des Arbeitsfeldes und den Anforderungen an die Jugendarbeit müssen Angebote der Qualifikation nicht nur geschaffen, sondern auch hinreichend genutzt werden. Dies setzt aber bei den ehrenamtlich Tätigen die Bereitschaft voraus, sich entsprechend qualifizieren zu lassen. Die Frage danach, ob und wie Jugendliche sich in Jugendverbänden ehrenamtlich engagieren, von einer Gratifikation abhängig zu machen, kann dabei nur bedingt zielführend sein. In materieller Hinsicht bleiben der Gratifikation Grenzen gesetzt, indem beispielsweise vor allem entstandene Kosten für Reisen u.ä. ersetzt werden können. In immaterieller Hinsicht können aber eine verbandliche Anerkennungskultur verbunden mit gesellschaftlicher Anerkennung einen starken Anreiz bilden. Dies kann verstärkt werden, indem die Qualifikationsmaßnahmen nicht nur der verbandlichen Tätigkeit zugutekommen, sondern gleichfalls die Ehrenamtlichen selbst persönlich davon profitieren. Sofern es den Jugendverbänden gelingt über die Gruppenarbeit/-stunden ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen und die Sinnhaftigkeit des Tuns zu vermittelt, hat dies deutliche Auswirkungen auf das ehrenamtliche Engagement von Kindern und Jugendlichen (vgl. Fauser/Fischer/Münchmeier 2007, S. 103 ff.). Eine wesentliche Problematik der Jugendverbandsarbeit stellt der Kinderschutz dar. Gemäß § 8a Abs. 4 SGB VIII sollen die öffentlichen Träger der
Jugendverbände
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Jugendhilfe Kinderschutzvereinbarungen mit Träger von Einrichtungen und Diensten abschließen, in dem die Verpflichtung zum Kinderschutz aufgenommen und Rahmenbedingungen geklärt werden (dazu ausführlich Kap. 9 Rechtliche Rahmenbedingungen in der Kinder- und Jugendarbeit). Im Rahmen der Jugendverbandserhebung gaben 2008 nur 20 % der Jugendverbände an, eine solche Kinderschutzvereinbarung abgeschlossen zu haben (vgl. DJI 2009, S. 72). Ähnlich sieht es auch bei der Ausgestaltung der Kinderschutzvereinbarungen durch entsprechende innerverbandliche Verfahren oder Schutzkonzepte aus – hier lag der Anteil 2008 bei 27 %, wobei die westdeutschen Bundesländer mit 19 % sogar noch deutlich niedriger lagen (vgl. DJI 2009, ebd.). Zwar ist davon auszugehen, dass sich die Anzahl zwischenzeitlich deutlich erhöht haben dürfte, jedoch bleiben Zweifel an einem effektiven Kinderschutz in und durch Jugendverbände, da die genaue Zahl der Jugendverbände kaum zu ermitteln ist und in Jugendverbänden weiterhin häufig die Kapazitäten und die Fachlichkeit fehlen, um eine Kinderschutzvereinbarung abzuschließen und umzusetzen. Minimalstandard sollte es sein, von allen haupt-, neben- und ehrenamtlich mit Kindern und Jugendlichen Tätigen zumindest ein erweitertes Führungszeugnis gem. § 72a Abs. 2 und 4 SGB VIII einzufordern. In Vereinbarungen mit den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe könnten entsprechende Kostenzuschüsse für die erweiterten Führungszeugnisse mit dem öffentlichen Träger der Jugendhilfe übernommen werden, damit nicht die Ehrenamtlichen oder die Jugendverbände trotz knapper finanzieller Ressourcen diese Kosten zu tragen haben. Leider ist zu befürchten, dass eine Vielzahl der Jugendverbände trotzdem weiterhin den Schutzauftrag nicht oder nur bedingt wahrnehmen werden bzw. können.
8 Fazit Jugendverbände sind und bleiben ein wichtiger Akteur der Kinder- und Jugendarbeit, wobei eine Unterscheidung zwischen verbandlicher und offener Jugendarbeit nicht mehr sinnvoll ist. Im Rahmen von Kooperationen mit anderen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit können möglicherweise auch Grenzen zu andere Handlungsfeldern weiter verschwimmen. Mehr als andere Formen der Kinder- und Jugendarbeit müssen Jugendverbände sich an die gesellschaftlichen Gegebenheiten und den damit verbundenen Veränderungen im Freizeitverhalten der Kinder und Jugendlichen anpassen. Dabei werden auch klare Entscheidungen über die weitere Ausrichtung und die Zielgruppen zu treffen sein. Als eine der wichtigsten Aufgaben ist aber der Kinderschutz und die Wahrnehmung des Schutzauftrags zu nennen. Diese wichtigen Aufgaben werden
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aber gerade kleinere Jugendverbände kaum allein bewältigen können, sodass sie gerade in diesem Bereich auf eine intensive Unterstützung von Jugendringen und öffentlichen Trägern der Jugendarbeit angewiesen sind.
9 Übungsfragen a) In § 12 Abs. 1 SGB VIII wird die besondere Förderwürdigkeit von Jugendverbänden gesetzlich normiert. Wieso hat die Jugendverbandsarbeit für den Gesetzgeber eine so hervorragende Bedeutung? b) Welche gesellschaftlichen Entwicklungen begünstigen die Entstehung der ersten Jugendgruppen und -verbände? c) Wie vollzog sich die Entwicklung der Jugendverbandsarbeit von der Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung in Ost- und Westdeutschland? d) Welche Chancen und Schwierigkeiten bringt die Anbindung an bestimmte Milieus für die Jugendverbände? e) Gleichaltrigenbeziehungen können auch außerhalb von Jugendverbänden entstehen und gepflegt werden. Inwiefern sind Gleichaltrigenbeziehungen für die Jugendverbandsarbeit trotzdem in hohem Maße kennzeichnend? Sind die Effekte von Gleichaltrigenbeziehungen in einem (geschützten) Rahmen wie z. B. einer festen Gruppe eines Jugendverbandes anders als sonstige Gleichaltrigenbeziehungen? f) Weshalb ist eine Bestimmung der Reichweite der Jugendverbandsarbeit und der Offenen- Kinder- und Jugendarbeit über Mitgliederzahlen schwierig? g) In welchen Bereichen können junge Menschen in den Jugendverbänden Kompetenzen erwerben und wie findet dieser Kompetenzerwerb statt? h) Inwiefern ist der Kompetenzerwerb nachhaltig mit Blick auf die (berufs-)biografische Entwicklung junger Menschen?
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Offene Arbeit mit Kindern – Theoretische Grundlagen und Handlungsfelder Thomas Meyer
Zusammenfassung
Die Offene Arbeit mit Kindern, gemeint sind hier vor allem die Spielmobilarbeit, Aktiv- bzw. Abenteuerspielplätze oder Jugendfarmen sowie sogenannte Kinderspielstädte, ist ein sowohl von der Literaturlage her als auch bezogen auf empirische Forschungsarbeiten eher stiefmütterlich behandeltes Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit. Die Angebote richten sich meist an Kinder ab dem Schulalter und werden in der Regel bis zum Beginn der Jugendphase in Anspruch genommen. Zielgruppe sind daher Kinder zwischen etwa 6 und 12–14 Jahren. Betrachtet man dieses Handlungsfeld genauer, so lassen sich weitreichende Bezüge zur Entwicklungspsychologie der mittleren und späten Kindheit sowie zur Kindheitssoziologie finden. Aus diesem Grunde verwundert es eher, warum relativ wenig zu diesem Handlungsfeld publiziert wurde. Die nachfolgende Darstellung versucht, der Komplexität der Offenen Arbeit mit Kindern gerecht zu werden, indem einerseits die in dieser Lebensphase relevanten Herausforderungen auf ein theoretisches Fundament gestellt werden, andererseits aber auch ausgewählte Handlungsfelder der Offenen Arbeit mit Kindern, die wiederum auf diesen theoretischen Annahmen beruhen, beschrieben werden. Im Zentrum des Beitrags stehen dabei das sogenannte Aneignungskonzept sowie der sozialökologische Ansatz. Die zentrale Bedeutung dieser beiden Theorieentwürfe werden dann anhand dreier ausgewählter Handlungsfelder (pädagogisch betreute Spielplätze, Spielmobile und Kinderspielstädte) verdeutlicht. T. Meyer (*) Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_6
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1 Einleitung Die „Offene Arbeit mit Kindern“ stellt ein sowohl historisch gewachsenes als auch von der theoretischen Fundierung her gesehenes, eigenständiges Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit dar (vgl. von Spiegel 1997). Umso mehr verwundert es, dass es zu diesem Handlungsfeld vergleichsweise wenig grundlegende Abhandlungen gibt. Zwar findet man zu den einzelnen Handlungsfeldern der Offenen Arbeit mit Kindern, etwa zu pädagogisch betreuten Spielplätzen, zu Spielmobilen oder zur Kinder(spiel)stadt, jeweils entsprechende Literatur, umfassende Erörterungen oder Lehrbücher fehlen hingegen fast gänzlich. Eines der wenigen Überblickswerke zu diesem Thema ist das Buch „Offene Arbeit mit Kindern – (k)ein Kinderspiel“ von Hiltrud von Spiegel (1997) sowie das etwas ältere Grundlagenwerk „Strategien der offenen Kinderarbeit“ von Nahrstedt und Fromme (1986). Ansonsten ist man darauf angewiesen, entweder zu den verschiedenen Handlungsfeldern der Offenen Arbeit mit Kindern zu recherchieren, oder aber sich mit der allgemeinen entwicklungspsychologischen, soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Literatur zur Lebensphase der mittleren und späteren Kindheit (Kinder im Alter zwischen etwa 6 und 14 Jahren) zu befassen. Gerade in der Entwicklungspsychologie und Kindheitssoziologie gibt es eine Fülle an relevanter Literatur und in beiden Wissenschaftsdisziplinen finden bereits seit Jahrzehnten intensive Auseinandersetzungen zu den Entwicklungsaufgaben und Lebenswelten von Kindern statt. Im sozialpädagogischen Kontext sind hingegen vor allem interdisziplinäre Auseinandersetzungen hilfreich, etwa das Kapitel über Kindheit in dem Grundlagenwerk „Sozialpädagogik der Lebensalter“ von Lothar Böhnisch (2008) oder das Buch „Die 6–12-Jährigen“ von Dieter Baacke (1999). Dieser Mangel an fundierter Grundlagenliteratur macht es notwendig, sich dem Handlungsfeld der Offenen Arbeit mit Kindern unter Zuhilfenahme ausgewählter, für die Lebensphase der mittleren und späten Kindheit hilfreichen, theoretischen Abhandlungen zu nähern. Mithilfe psychologischer und pädagogischer Annahmen zur Lebensphase Kindheit, die auf einem anthropologischen Zugang aufbauen, soll zunächst der Frage nachgegangen werden, welche Grundbedürfnisse Kinder in ihrer Entwicklung haben (Abschn. 2). Interessant ist dabei, dass VertreterInnen ganz unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen zu ähnlichen Einschätzungen kommen. Die für diese Lebensphase wichtigen theoretischen Annahmen und Modelle beziehen sich dabei vor allem auf das sogenannte Aneignungskonzept sowie auf den sozialökologischen Ansatz. Wesentliche Gemeinsamkeit dieser beiden Theoriekonzepte ist das Postulat, dass Kinder sich die Welt in einer spezifischen Art und Weise aktiv aneignen. Daran
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schließt sich eine Zusammenstellung verschiedener Trends moderner Kindheit an, um diese den Empfehlungen zur Gestaltung von Aneignungsmöglichkeiten gegenüber zu stellen. Abschließend werden dann die Potenziale einer aneignungsorientierten pädagogischen Arbeit mit Kindern anhand verschiedener Handlungsfelder der Offenen Arbeit mit Kindern (Abschn. 3) aufgezeigt, die im Hinblick auf die als so wichtig erachteten Aneignungs- und Bildungsprozesse erhebliche Chancen beinhalten.
2 Theoretische Grundlagen der Offenen Arbeit mit Kindern Die Frage danach, welche zentralen, pädagogisch relevanten Chancen die Offene Arbeit mit Kindern eröffnet, leitet zu der Frage über, welche Aktionsräume und Umwelten für Kinder besonders entwicklungsförderlich sind. In diesem Zusammenhang muss zu Beginn erörtert werden, was die Lebensphase Kindheit letztendlich ausmacht und welche Bedingungen eine Entwicklung idealtypisch fördern können. Hierzu werden verschiedene Thesen aus der Anthropologie, der Psychologie sowie der Pädagogik gegenübergestellt. Die Darstellungen beginnen mit der grundlegenden Frage, welche Grundbedürfnisse den Menschen letztendlich ausmachen.
2.1 Die Lebensphase Kindheit: Entwicklung zwischen Autonomie- und Sicherheitsstreben Um sich den oben genannten Fragen zu nähern, müssen zunächst einige Kernannahmen der philosophischen Anthropologie diskutiert werden. So betont beispielsweise Erich Fromm (1955/1989, S. 22), dass man die grundlegenden Bedürfnisse des Menschen letztendlich nur verstehen kann, wenn man sich mit der besonderen Situation und Stellung des Menschen in der Natur beschäftigt. Um die spezifisch menschlichen Bedürfnisse, die Fromm zufolge weit über die Befriedigung existenzieller Bedürfnisse (etwa Hunger, Durst, Sexualität) hinausgehen, identifizieren zu können, muss man die Einzigartigkeit der menschlichen Situation verstehen: „Das Verständnis der menschlichen Psyche muß [sic] sich auf die Analyse jener Bedürfnisse des Menschen gründen, die aus den Bedingungen seiner Existenz stammen.“ (ebd.) Die weiteren Ausführungen Fromms ähneln den zentralen Annahmen Arnold Gehlens, der davon ausgeht, dass der Mensch ein „Mängelwesen“ bzw. biologisch „mittellos“ ist (Gehlen
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1940/2004). Gehlen zufolge besitzt der Mensch eine nur unzureichende Ausstattung an überlebensnotwendigen physischen Voraussetzungen bzw. Fähigkeiten und Instinkten. Er wäre damit in einer natürlichen Umgebung im Grunde nicht lebensfähig. Um aber überleben zu können, muss er die Natur entsprechend (um-)gestalten können, d. h. er erschafft eine „zweite Natur“. Gehlen geht deshalb davon aus, dass der Mensch biologisch zur „Naturbeherrschung“ gezwungen ist. Die fehlenden Fähigkeiten sowie die Instinktarmut kompensiert der Mensch dadurch, dass er „weltoffen“, „unspezialisiert“ und damit in besonderer Art und Weise vernunftbegabt und bewusstseinsfähig ist. Diese Weltoffenheit ermöglicht es ihm schließlich, dass er gestaltend in die Natur eingreifen kann, etwa in dem er Werkzeuge, Institutionen und Kultur schafft. Gehlens Annahmen beinhalten darüber hinaus auch sozialisationstheoretische Überlegungen, insofern, dass der Mensch „sich selbsttätig handelnd zum Kulturwesen heranbildet“ (Veith 1996, S. 274). Fromm (1955, 1989, S. 20 ff.) beschreibt diese „spezifische“ Situation des Menschen in der Natur ähnlich, ergänzt die Spezifik des menschlichen Daseins aber noch um weitere Merkmale. Um überleben zu können ist der Mensch beispielsweise auch auf Beziehungen zu anderen Menschen angewiesen. Dieses „Angewiesen sein“ auf andere entspricht ebenfalls der anthropologischen Grundannahme, dass der Mensch aufgrund unzureichender physischer Ausstattung letztendlich ohne den Schutz und die Unterstützung durch andere Menschen nicht überlebensfähig wäre. Johann Gottfried Herder (1744–1803) formulierte in seiner philosophischen Anthropologie ebenfalls entsprechende Thesen (vgl. dazu Honig 2008, S. 20 ff.): Aufgrund des Mangels an Instinkten ist der Mensch (vor allem als Säugling und Kleinkind) äußerst schutzlos, sodass ein relationales Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen sozusagen lebensnotwendig wird. Ein besonderes „Bindungsstreben“ ist also das Resultat anthropologisch bedingter Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit des Menschen, die wiederum Sozialität und Abhängigkeit quasi „erzwingt“. Insgesamt kann also angenommen werden, dass aus der Spezifik der menschlichen Situation in der Natur zwei elementare Grundbedürfnisse resultieren, nämlich das Bedürfnis, die Welt zu verstehen und zu erforschen, sowie das Bedürfnis nach Beziehungen zu anderen Menschen. Fromm nennt diese beiden Bedürfnisse „Bedürfnis nach Transzendenz“ und „Bedürfnis nach Bezogenheit“ (1955/1989, S. 25 ff.). Im Falle von Kindern können diese „elementaren“ Bedürfnisse noch einmal sehr viel deutlicher beobachtet werden. Kinder haben einerseits den „natürlichen“ Drang, die Umwelt zu erforschen und zu verstehen, andererseits sind sie von Anfang an auf die Unterstützung und den Schutz anderer Menschen angewiesen und streben entsprechend nach Bezogenheit:
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„Es [das Kind] kann sich noch nicht selbst ernähren; noch ist es von der Mutter völlig abhängig und würde ohne Hilfe zugrunde gehen. Tatsächlich geht der Geburtsprozeß [sic] weiter. Das Kind fängt an, die Dinge der Außenwelt zu erkennen, affektiv zu reagieren, nach Gegenständen zu greifen, seine Bewegungen zu koordinieren und zu laufen. Aber die Geburt geht weiter. Das Kind lernt sprechen, es lernt Dinge zu gebrauchen und ihre Funktionalität begreifen. Es lernt mit anderen in Beziehung zu treten (…). Die Geburt im herkömmlichen Sinne des Wortes ist demnach nur der Anfang einer Geburt im weiteren Sinne.“ (ebd., S. 22)
Fromm (S. 25 ff.) behauptet zudem, dass die jeweiligen sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dazu beitragen können, dass die Entfaltung dieser beiden Grundmotive gehemmt oder gefördert werden können. Wird beispielsweise das Bedürfnis nach Transzendenz nicht ermöglicht, handelt das Individuum destruktiv. Destruktivität auf der einen Seite und „produktive“ Weltaneignung auf der anderen Seite sind damit Resultate ein und desselben Bedürfnisses: „Es sind beides Antworten auf das gleiche Bedürfnis nach Transzendenz. Der Wille zu zerstören muß [sic] entstehen, wenn der Wille, etwas zu schaffen, nicht befriedigt werden kann.“ (ebd., S. 31). Gleiches gilt auch für das Bedürfnis nach Bezogenheit. Gelingt es dem Kind nicht, eine Beziehung zu anderen Menschen zu entwickeln, prägt sich eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur heraus. Auch hier sind Bindungsfähigkeit auf der einen Seite sowie Narzissmus auf der anderen Seite Ausdruck der Umsetzung ein und desselben Bedürfnisses nach Bezogenheit (vgl. ebd., S. 28 ff.). Deutet man diese Annahmen nun im Kontext entwicklungspsychologischer Debatten, so lassen sich interessante Parallelen finden. Zum einen entspricht das Bedürfnis nach Transzendenz ziemlich genau dem, was das Aneignungskonzept im Kern behauptet: Kinder eignen sich die Welt selbsttätig an, indem sie sich mit ihr aktiv bzw. handelnd auseinandersetzen (vgl. Leontjew 1973, ausführlich dazu auch weiter unten in Abschn. 2.2). Zum anderen spiegelt sich das Bedürfnis nach Bezogenheit in den Grundannahmen der psychologischen Bindungstheorie wider (vgl. beispielsweise Bowlby 1959, 2014; Holmes 2002). Bowlby (1959) betont, dass Bindung nicht mit Abhängigkeit gleichgesetzt werden kann und aus diesem Grunde von einem biologisch angelegten Bindungsstreben gesprochen werden muss. Die Befriedigung dieses Bindungsstrebens sind dabei für Bowlby (2014) eine Voraussetzung dafür, dass das Kind aktiv seine Umwelt erkundet und zu einer selbstsicheren Persönlichkeit heranwächst. Eine sichere Bindung ist demnach wichtig für die „Entfaltung des Explorationsdrangs“ (ebd., S. 114). Daher hängen beide Grundmotive sogar zusammen, wie auch Ergebnisse der Bindungsforschung zeigen: So scheinen Kinder mit einer sicheren Bindung
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(zur Mutter) ein stärker ausgeprägtes Explorationsverhalten zu zeigen als beispielsweise Kinder mit einem unsicher-ambivalenten Bindungsverhalten (Ainsworth u. a. 1978). Insgesamt liegt daher der Schluss nahe, dass sich die nach Erich Fromm aus der „spezifischen menschlichen Existenz“ resultierenden Bedürfnisse in zwei elementaren psychischen Grundmotiven niederschlagen, die miteinander interagieren. In kindheitssoziologischen oder pädagogischen Diskursen lassen sich ebenfalls interessante Parallelen zu diesen Bedürfnissen nach Transzendenz und Bezogenheit finden. So spricht auch Blinkert (1996, S. 186 f.) in einer Publikation zur Bedeutung von Aktionsräumen für Kinder von zwei zentralen kindlichen „Grundbedürfnissen“, die sich in einem „Bedürfnis nach Sicherheit, nach Zugehörigkeit (…)“ und in einem „Bedürfnis nach Autonomie, nach neuen Erfahrungen, nach Möglichkeiten zum Ausprobieren und Gestalten“ (ebd., S. 187) ausdrücken. In Anlehnung an Maslow bezeichnet Blinkert diese Grundbedürfnisse von Kindern als Autonomie- und Sicherheitsbedürfnisse, wobei von einer Verschiebung von Sicherheits- zu Autonomiebedürfnissen im Zuge des Älterwerdens der Kinder ausgegangen wird, d. h., je älter das Kind wird, desto wichtiger werden Autonomiebedürfnisse. Wie bereits in den Überlegungen zur Bindungstheorie deutlich wurde, interpretiert auch Blinkert die Befriedigung von Sicherheitsbedürfnissen als eine wichtige Voraussetzung für das Explorationsstreben der Heranwachsenden. Letztendlich hängt die Befriedigung dieses Sicherheitsstrebens, welches vor allem noch für jüngere Kinder relevant ist, von sozialen Bedingungen ab, d. h. von den Erfahrungen in der eigenen Familie bzw. mit entsprechenden Bezugspersonen. Das Autonomiestreben hingegen, welches vor allem in der mittleren und späten Kindheit zunehmend wichtig wird, kann letztendlich nur durch eine aktive Aneignung der Lebensumwelt umgesetzt werden. Die Aneignungsmöglichkeiten sind wiederum abhängig von der Beschaffenheit der Lebenswelt des Kindes, also von den Möglichkeiten der Exploration und kreativen Auseinandersetzung. Insbesondere die Aneignungsmöglichkeiten spielen daher in der pädagogischen Reflexion moderner Kindheit eine zentrale Rolle. Brinkmann (1987) formuliert hierzu treffend, dass jede pädagogische Zielvorstellung vor allem mit den kindlichen Grundbedürfnissen in Einklang zu bringen ist. An erster Stelle steht hier die Ermöglichung von „Selbsttätigkeit“ und aktivem, selbstgesteuertem Lernen. In seinem Beitrag interpretiert Brinkmann daher die Situation moderner Kindheit äußerst kritisch, weil Kinder zunehmend nur noch als „zu behandelnde Objekte (statt selbsttätig handelnde Subjekte)“ (ebd., S. 46) gesehen werden.
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2.2 Das Aneignungskonzept und der sozialräumliche Ansatz: Entwicklung als aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt Da die Möglichkeiten zur „Weltaneignung“ eine so zentrale Bedeutung für die Lebensphase Kindheit haben, bilden sozialräumliche orientierte Ansätze, wie das Aneignungskonzept und der sozialökologische Ansatz, ein zentrales theoretisches Fundament für die Offene Arbeit mit Kindern. Seit Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts lässt sich hierbei eine Verschiebung des „pädagogischen Blicks (…) von der Arbeit an Defiziten einzelner Kinder auf das Arrangement der Umwelt und die ‚politische‘ Einmischung der PädagogInnen in gesamtstädtische Planungsprozesse (Kinderlobby)“ (von Spiegel 1997, S. 138) beobachten. Im Kern besteht dieser Perspektivenwechsel vor allem in einer kritischen Analyse und Betrachtung der Lebenswelt und der Sozialräume von Kindern. Ziel dieser Ansätze ist unter anderem die Sicherung oder Entwicklung kindgerechter Spielflächen und Aktionsräume in Verbindung mit der Erkenntnis, dass Kinder sich die Welt, in der sie leben, handelnd aneignen. Besondere Bedeutung für die hier relevante Auseinandersetzung hat das Aneignungskonzept, wie es erstmals von dem Entwicklungspsychologen Alexejew Nikolajew Leontjew (1973) in der damaligen Sowjetunion ausgearbeitet wurde. Die psychologischen Annahmen Leontjews als Vertreter der sogenannten „kulturhistorischen Schule“ stehen dabei im Kontrast zur „bürgerlichen Psychologie“ westlicher Prägung (vgl. Holzkamp/Schurig 1973). Nach Leontjew stellt die aktive Aneignung der Umwelt die zentrale Entwicklungsaufgabe im Kindesalter dar. Diese Aneignung grenzt er deutlich von dem Begriff der Anpassung ab. Leontjew zufolge passt sich das Kind „nicht einfach an, sondern macht sie [die Welt] sich zu eigen, das heißt, es eignet sie sich an“ (Leontjew 1973, S. 451). Im Zentrum des von Leontjew entwickelten Ansatzes stehen dabei die „Gegenstände“, die das Kind in seiner Umwelt vorfindet und an denen das Kind eine Tätigkeit vollziehen muss, um deren Bedeutung und Funktion zu entschlüsseln: „Selbst die einfachsten Werkzeuge und Gegenstände des täglichen Bedarfs, denen das Kind begegnet, müssen von ihm in ihrer spezifischen Qualität erschlossen werden. Mit anderen Worten: Das Kind muss an diesen Dingen eine praktische und kognitive Tätigkeit vollziehen, (…).“ (Leontjew 1973, S. 281).
Diese Gegenstände sind wiederum die Manifestationen der jeweiligen Kultur, in der das Kind lebt. Ein Kind wird in eine Welt hineingeboren, in der bereits
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ein historisch gewachsenes Set an Gegenständen und System an Bedeutungen existiert, die von vorangegangenen Generationen geschaffen wurden und in denen sich Errungenschaften der jeweiligen Gesellschaft widerspiegeln (vgl. ebd. S. 281; 454). Insofern sind diese Gegenstände für Leontjew immer auch gesellschaftlich relevante Gegenstände (vgl. ebd., S. 209 f. sowie 219 ff.). Die wesentliche Entwicklungsaufgabe junger Menschen ist es schließlich „diese Gegenstände aus einer Welt, die ihnen im Laufe ihrer Entwicklung immer mehr bewußt [sic!] wird, beherrschen zu lernen“ (ebd., S. 378). Diese Auseinandersetzung vollzieht sich beim Kind dabei insbesondere in Form aktiven Handelns: „Ein Kind, das sich seine Umwelt aneignet, ist bestrebt, in ihr zu handeln“ (ebd.). Im Zuge von Aneignungsprozessen erweitern die jungen Menschen sukzessive „ihre motorischen Fähigkeiten, ihre Handlungs- und Verhaltensrepertoires, etc.“ (Krisch 2009, S. 9). Leontjew postuliert dabei einen stufenförmigen Entwicklungsprozess, in dem eine „dominierende Tätigkeit“ durch die nächste abgelöst wird. In diesem Prozess entwickeln sich dann auch Fähigkeiten und Verhaltensweisen schrittweise weiter (vgl. Krisch 2009, S. 18). Leontjew unterscheidet hierbei verschiedene Tätigkeitsphasen: „Zunächst muß [sic!] sich das Kind die gegenständliche Welt aneignen, die es unmittelbar umgibt; danach lernt es im Spiel einen größeren Bereich von Erscheinungen und zwischenmenschlichen Beziehungen beherrschen; es folgt das systematische Lernen in der Schule, dem sich die weitere Spezialausbildung oder die Arbeit anschließt: In dieser Reihenfolge stellen sich uns die dominierenden Tätigkeiten und Beziehungen dar.“ (Leontjew 1973, S. 403).
Kleinkinder erschließen sich ihre unmittelbare Umgebung also zunächst durch eine aktive „gegenständliche Tätigkeit“ die noch auf sensomotorischen Aktivitäten beruht; danach folgt die „Spieltätigkeit“, in der sich Kinder bereits die „Welt der Erwachsenen“ spielerisch aneignen und sich neue Herausforderungen eröffnen. Die „Lerntätigkeit“ entspricht als dritte Phase bereits dem von der Gesellschaft erwarteten Verhaltenskodex für das Leben in einer modernen Gesellschaft, sodass am Ende die „Arbeitstätigkeit“ steht. Leontjew verweist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Pädagogik, die diesen Prozess unterstützen kann, in dem Kindern ständig neue Kontexte und Rollenanforderungen angeboten werden, und sich so neue Horizonte und Betätigungsfelder eröffnen. (vgl. Veith 1996, S. 326 ff.; Krisch 2009, S. 17 ff.). Insbesondere die Ausführungen Leontjews zur Spieltätigkeit (vgl. ebd. 1973, S. 377 ff.) sind von besonderer Bedeutung, weil sich hierin eine hohe Qualität des Aneignungsprozesses zeigt:
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„Vor allem im Spiel, das jetzt über den engen Rahmen des Hantierens mit den Dingen und des Umgangs mit den Menschen in seiner allernächsten Umgebung hinausgeht, dringt es in immer größere Lebensbereiche ein und eignet sich die Welt in handelnder Form an.“ (Leontjew 1973, S. 398)
Das Spiel ist für Leontjew eine Tätigkeit, in deren Rahmen das Kind den Widerspruch zwischen seinem Bedürfnis nach aktivem Handeln und seinen bis dahin bestehenden Fähigkeiten löst. So spielt das Kind beispielsweise „Auto fahren“, obwohl es noch gar nicht Auto fahren kann, oder es spielt „Reiter“, obwohl es noch gar nicht auf einem Pferd reiten kann. Das Spiel erfüllt dennoch eine wichtige Funktion: „Das Kind kann sich auf diese Weise einen Bereich der Wirklichkeit aneignen, der ihm sonst nicht unmittelbar zugänglich ist“ (ebd., S. 379). Insofern gelingt es dem Kind, sozusagen indirekt über das Spiel, sich gesellschaftlich relevante Erfahrungsbereiche anzueignen, obwohl es in diese Bereiche noch gar nicht involviert ist. Mithilfe der Spieltätigkeit findet gleichermaßen eine Aneignung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der jeweils relevanten Rollen, Regeln und Verhaltensweisen statt. Dafür spricht laut Leontjew auch, dass die Kinder im Spiel häufig eher „verallgemeinerte Handlungen“ vollziehen, d. h. sie spielen allgemeine Rollen oder vollziehen allgemeine Tätigkeiten. Im Rollenspiel etwa „reproduziert das Kind in verallgemeinerter Form eine ihm bekannte Funktion des Erwachsenen“ (ebd., S. 388). Im Zuge dieses Rollenspiels eignet sich das Kind dann spielerisch gleichermaßen die mit dieser Rolle in Zusammenhang stehenden „typischen“ Handlungen und Regelwerke an. Wird das Kind älter, finden zunehmend „Regelspiele“ statt, in deren Rahmen die beteiligten Kinder sich immer mehr aufeinander abstimmen müssen. Das „Zusammenspielen“ nach bestimmten Regeln, d. h. die Beziehungen zwischen den Mitspielenden, wird wichtiger (vgl. ebd., S. 390 f.). Leontjews Annahmen haben deutliche Parallelen zur Sozialisationstheorie von Georg Herbert Mead (1934/1968), der in seiner Betrachtung von „Play“ und „Game“ ähnliche Gedanken ausgearbeitet hat. Mead zufolge erschließt sich das (Klein)Kind die Welt, in der es lebt, zunächst in Form von Rollenspielen („Play“). Es spielt Mutter-Vater-Kind, Polizist, Bäcker, Kaufladen, usw. In diesen Rollenspielen übernimmt es sozusagen gesellschaftliche Rollen und versetzt sich in sie hinein. Für Mead ist diese Rollenübernahme gleichermaßen sozialisationsrelevant als auch identitätsstiftend (vgl. ebd., S. 192 f.). Durch diese Rollenübernahme ist das Kind dann in der Lage, die entsprechenden Reize, die auf diese Rolle einwirken (z. B. bestimmte Erwartungen an diese Rolle), selbst zu erfahren. Schlussendlich können verschiedene Rollen in eine organisierte gesellschaftliche Beziehung zueinander gebracht werden und so
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setzt sich das Kind auch mit entsprechenden Rollenerwartungen und Verhaltensweisen spielerisch auseinander. Zu Anfang eignet sich das Kind jedoch vor allem diejenigen Rollen an, die zu seiner näheren Umwelt gehören. Wird das Kind älter, werden zunehmend komplexere Rollengefüge Gegenstand des kindlichen Spiels, etwa Gruppen- oder Mannschaftsspiele, Wettbewerbsspiele, usw. In der Phase des „Game“ muss sich das Kind daher häufig gleichzeitig in verschiedene Rollen hineinversetzen, um die Konsequenzen des eigenen Handelns auf die gesamte Gruppe abzustimmen und die Spiele angemessen bewerkstelligen zu können. Mead (ebd., S. 193) betont hierbei: „Das spielende Kind muß [sic!] hier bereit sein, die Haltung aller in das Spiel eingeschalteten Personen zu übernehmen, und diese verschiedenen Rollen müssen eine definitive Beziehung zueinander haben“. Der Unterschied zum Rollenspiel ist also, dass das Kind nicht einfach nur andere Rollen einnimmt, „sondern es muß [sic!] die verschiedenen Rollen aller am organisierten Wettspiel Beteiligten übernehmen und sein Handeln dementsprechend steuern“ (Mead 1980, S. 320). Dadurch verinnerlicht das Kind auch die Erwartungen anderer, was eine immense sozialisationstheoretische Bedeutung hat. Die Spieltätigkeit ist also ein elementarer Bestandteil des Aneignungsprozesses und trägt dazu bei, gesellschaftliche Regelwerke und Vorgänge zu entschlüsseln. Spielen ist damit keineswegs eine „unnütze“ Tätigkeit, die lediglich Spaß macht, sodass Spielpädagogik auch eine große Bedeutung in der Offenen Arbeit mit Kindern hat (siehe dazu auch Abschn. 3). Leontjews Idee der Aneignung kann jedoch nicht als isolierter Vorgang der Exploration der Umwelt verstanden werden. Dieser Prozess ist immer auch eingebettet in soziale Beziehungen. Man würde den Ansatz falsch verstehen, wenn man Aneignung ohne (die Mithilfe von) Erwachsenen deutet. Ganz im Gegenteil, in dem Aneignungsprozess, in dem sich gleichermaßen das Bewusstsein des Kindes herausbildet, „ist von vorneherein der Umgang des Kindes mit den Erwachsenen als notwendiges Moment eingeschlossen“ (Holzkamp/Schurig 1973, S. XVIII). Leontjew (1973, S. 285) verdeutlicht diese Bedeutung sozialer Beziehungen an einem Beispiel: So ist das Wegwerfen eines Spielzeugs immer auch eine Aufforderung an den Erwachsenen, „mit ihm [dem Kind] in Kontakt zu treten“. (…) Verschwindet der Erwachsene aus dem Gesichtsfeld des Kindes, dann unterbricht es seine Handlungen; kommt er wieder in seine Nähe, dann setzt es sie fort“. (ebd.) Für Leontjew bedeutet dies, dass die Reaktionen der Erwachsenen die jeweiligen Aneignungsprozesse bekräftigen können. Die gegenständliche Welt eignet sich das Kind demnach immer in Interaktion an. Hierin spiegelt sich wiederum die bereits oben betonte Wechselwirkung zwischen Weltaneignung und sozialen Beziehungen. Auch für Leontjew spielt die Unterstützung
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(und ggf. Anleitung) der Erwachsenen eine wichtige Rolle; das „Zusammenwirken zwischen dem tätigen Kind und dem unterstützenden Erwachsenen“ (Holzkamp/Schurig 1973, S. XL) ist demnach konstitutiv für den Aneignungsprozess. Leontjews Ansatz hat darüber hinaus noch weitreichendere Bedeutung für das Verständnis der kindlichen Entwicklung. Aneignung bedeutet auch, dass sich das Kind im Zuge seiner Welterschließung auch die Kultur, in der es lebt, sowie die gesellschaftlichen Werte und jeweils erwünschten Handlungsweisen, aneignet (vgl. Krisch 2009, S. 15). Aneignung ist also gleichermaßen auch das Erschließen der Bedeutungen und gesellschaftlichen Bezüge (vgl. ebd., S. 17 f.), sodass Aneignung schließlich auch für die gesellschaftliche Integration („Vergesellschaftung“) bedeutsam ist (vgl. ebd., S. 24). In diesem Verständnis ist Aneignung auch gleichermaßen Motor für Sozialisationsprozesse. Entsprechend „stehen die Heranwachsenden immer vor der Aufgabe, sich die aufgespeicherten gesellschaftlichen Erfahrungen individuell anzueignen“ (Veith 1996, S. 314), d. h. sie müssen sich „im Laufe ihrer Individualentwicklung die kulturellen Errungenschaften zu eigen machen“ (ebd. S. 325). Aneignung kann damit verstanden werden als „Aufgabe, die jedem einzelnen durch die Gesellschaft gestellt ist und eine Aufgabe die jeder einzelne, mit wachsendem Alter immer bewußter [sic!] sich selbst stellt.“ (Holzkamp/Schurig 1973, S. XXXIX; Hervorhebung im Original). Die Arbeiten des sowjetischen Entwicklungspsychologen Leontjew wurden in der bundesdeutschen Sozialpädagogik vor allem von Böhnisch/Münchmeier (1990) und Deinet (1990, 1992) aufgegriffen. Die pädagogische Relevanz des Aneignungskonzepts ergibt sich vor allem in der zentralen Annahme, dass Aneignung eine tätigkeitsorientierte Auseinandersetzung mit der Umwelt ist, in deren Rahmen immer auch eine Verinnerlichung der gesellschaftlichen Werte und Normen stattfindet. Aus diesem Grunde sollen Kindern und Jugendlichen Möglichkeitsräume und Beziehungen angeboten werden, in denen sie sich die „Welt“ selbst erschließen können. Verkürzt lassen sich die daraus abgeleiteten sozialpädagogischen Grundgedanken wie folgt zusammenfassen (von Spiegel 1997, S. 138 ff.; Krisch 2009, S. 9 ff.; Deinet 1992, 2009; Deinet/Icking 2009): • Entwicklung und Lernen sind immer eine tätigkeitsorientierte Auseinandersetzung mit der Umwelt. Durch das Erschließen der Umwelt erarbeitet sich das Kind ein „Bild“ über die Welt sowie die benötigten Kompetenzen, um sich in dieser Welt zu bewegen.
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• Kinder sind aktive Koproduzenten („Erfahrungsproduktion“), sie entschlüsseln die „Gegenstände“ der Welt, indem Sie sich mit ihnen auseinandersetzen und deren Sinn (um-) deuten. • Indem sich Kinder die „Gegenstands-Welt“ aneignen, eignen Sie sich gleichzeitig gesellschaftliche Werte, Vorstellungen und Denkweisen an. • Kindern/Jugendlichen sollte daher stets Raumaneignung ermöglicht werden (anregungsreiche Arrangements), in deren Rahmen sie Themen selbst „entschlüsseln“ können. Demnach sollte pädagogisches Handeln darauf abzielen, Kindern und Jugendlichen möglichst anregungsreiche Aneignungsräume zur Verfügung zu stellen, in denen sie relevante und bedeutsame Erfahrungen machen können. In diesen Räumen sollten sie die Möglichkeit haben, die Gegenstände, Themen oder Rollen selbst zu entschlüsseln. Zentral dafür ist letztendlich auch die Forderung nach einer Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen, welche vor allem im sozialökologischen Ansatz, der als nächstes behandelt wird, eine wichtige Rolle spielt. Mit dem Aneignungskonzept in Verbindung steht der sozialökologische Ansatz, der insbesondere auf die praktischen Arbeiten der „Pädagogischen Aktion München e. V.“ in den 70er Jahren zurückgeht. Wesentliche Folgen dieser Bewegung waren dabei die Entwicklung von mobilen Spielaktionen als Reaktion auf die Verstädterung und den Verlust an Spielmöglichkeiten, sowie das Ziel, die unmittelbaren Lebensbedingungen von Kindern zu verbessern. Aus diesem Grunde wurde im Rahmen dieser Aktionen der Begriff „Ökologie des Spielens und Lernens“ geprägt. Ähnlich wie im Aneignungskonzept wird auch in diesem Ansatz das Kind als aktiv handelnde Person begriffen, die in Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Bedingungen ihre jeweils eigene Biografie gestalten. Im Mittelpunkt der Bemühungen stehen die Entwicklung von anregungsreichen und vielfältigen Spielräumen sowie die Verbesserung der Lebensqualität. (vgl. von Spiegel 1997, S. 144 ff.) Die Parallelen zum Aneignungskonzept finden sich vor allem in der Perspektive auf das Kind, das nicht als „Objekt“ von didaktisch verplanten Lernprozessen gesehen wird, sondern als handelndes Subjekt. Wie auch im Aneignungskonzept geht es darum, dem Kind sinnliche Erfahrungen und einen experimentellen Umgang mit seiner Lebenswelt zu ermöglichen. Die subjektive Erfahrungsproduktion, selbstbestimmtes Lernen, Partizipation und Flexibilität in Didaktik und Planung sind entsprechende Arbeitsprinzipien. Ähnlich dem Aneignungskonzept sollen auch hier die Kinder die Lerninhalte selbst entschlüsseln, sodass es bei den Spielaktionen vor allem um die Bereitstellung von Räumen und um das Anbieten bzw. Arrangieren der Materialien geht. Mit
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den Aktionen soll darüber hinaus verdeutlicht werden, „daß [sic] Spielen nicht nur an den dafür vorgesehenen Plätzen möglich ist, sondern prinzipiell überall“ (ebd., S. 147). Die Ausarbeitung des sozialökologischen Ansatzes orientierten sich dabei an den Arbeiten des Entwicklungspsychologen Urie Bronfenbrenner, der in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts eine sozial-ökologische Entwicklungstheorie begründet hat (grundlegend dazu: Bronfenbrenner 1979). Kern dieser Theorie ist die Annahme, dass Kinder ihre Umwelt mit fortschreitendem Alter sukzessive erschließen bzw. erkunden. In diesem Prozess findet eine gegenseitige Anpassung zwischen dem sich entwickelndem Kind und den (neu) erschlossenen, wechselnden Lebensbereichen statt. (vgl. von Spiegel 1997, S. 146; Flammer 1988, S. 259; Krisch 2009, S. 26) Bronfenbrenner entwickelte auf Basis dieser Kernannahmen eine entwicklungspsychologische Theorie, die im Kern die Wechselwirkung zwischen dem aktiv handelnden Subjekt und den umgebenden Umweltbedingungen in den Blick nimmt. Entwicklung kann nach Bronfenbrenner nur in ihrem jeweiligen Umweltkontext verstanden werden, wobei Bronfenbrenner zusätzlich zu dieser Wechselwirkung auch noch die Beziehungen zwischen verschiedenen Lebensbereichen und die Einbettung in die Gesamtkultur berücksichtigt (vgl. Bronfenbrenner 1979, S. 3 ff. sowie S. 21). Den Kern der Theorie Bronfenbrenners bildet ein Modell, dass sich als aufeinander aufbauende Systeme beschreiben lässt (vgl. dazu Bronfenbrenner 1979, S. 22 ff. sowie Flammer 1988, S. 260 ff.): In der Mitte befindet sich das Mikrosystem, welches aus den unmittelbar für das Kind relevanten Beziehungen, Rollengefügen und Interaktionen besteht (das „Zuhause“, Kinderbetreuungseinrichtungen, usw.). Eine Ebene weiter befindet sich dann das Mesosystem, also Kontexte, die sich das Kind selbst erschließt und die aus Beziehungen zwischen zwei Settings bestehen (z. B. die Beziehungen des Kinds zur Nachbarschaft oder zur Schule, zu Spielkameraden, usw.). Das Mesosystem stellt für Bronfenbrenner ein System aus Mikrosystemen dar, weil jedes Setting wiederum für sich ein eigenes Mikrosystem ist. Das Exosystem beinhaltet Kontexte, in denen das Kind nicht aktiv beteiligt ist, die aber durchaus einen Einfluss auf die kindliche Lebenswelt haben können, beispielsweise die Arbeitsstelle der Eltern oder der Freundeskreis der Eltern. Schließlich sind alle diese Kontexte eingebettet in das Makrosystem, das den jeweiligen kulturellen und weltanschaulichen Rahmen der Entwicklungskontexte darstellt. Bronfenbrenner konstruiert darüber hinaus noch ein weiteres System, das Chronosystem, welches markante, biografisch relevante Stationen beinhaltet, etwa die Einschulung, ein Umzug oder aber auch Wendepunkte wie Trennungen bzw. Scheidungen.
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Die kindliche Entwicklung spielt sich der Theorie zufolge innerhalb dieser Systeme ab, aber auch in Form von Übergängen, wobei die Systeme immer auch in Wechselwirkung zueinanderstehen. Entwicklung führt dann zu einer Vergrößerung von Erfahrungen, indem Kinder neue Rollen einnehmen oder sich neue Lebensbereiche erschließen (sogenannte „ökologische Übergänge“; vgl. Bronfenbrenner 1979, S. 26). Entwicklung ist für Bronfenbrenner daher ein Prozess, „durch den die sich entwickelnde Person erweiterte, differenziertere und verläßlichere [sic] Vorstellungen über die Umwelt erwirbt“ (Flammer 1988, S. 261; vgl. dazu auch Bronfenbrenner 1979, S. 27). Da die Theorie die Bedeutung von Kontexten hervorhebt, betont Bronfenbrenner immer wieder auch die Wichtigkeit einer sozialräumlichen Perspektive bei der Gestaltung von kindgerechten Lebenswelten. Demnach sollten entsprechende sozial- und kommunalpolitische Überlegungen auch an das Verständnis der kindlichen Entwicklung gekoppelt sein. Das Modell von Bronfenbrenner wurde in der Pädagogik insbesondere von Dieter Baacke aufgegriffen und adaptiert (Baacke 2007, S. 162 ff.; Baacke 2003, S. 70 ff.; zusammenfassend dazu: Krisch 2009, S. 15 f. sowie 20 ff.). Baacke zufolge geht die Entwicklung von Kindern immer mit einer sukzessiven Erweiterung ihrer Handlungsräume und ihres Erfahrungshorizonts einher. In Anlehnung an die von Bronfenbrenner entwickelten Systemebenen konstruiert Baacke ein Modell sich erweiternder, konzentrischer Kreise (vgl. Baacke 2007, S. 163 f.; Baacke 2003, S. 80 ff., S. 92), in welchem er die sozialisationstheoretischen Potenziale der verschiedenen Ebenen aber noch einmal stärker hervorhebt. Die jeweiligen Handlungsräume, in denen sich die Wechselwirkung zwischen dem handelnden Subjekt und der umgebenden Umwelt manifestiert, nennt Baacke „ökologische Zonen“. Baackes Modell ist dabei sowohl zur Beschreibung der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen geeignet, verdeutlicht gleichermaßen aber auch die zunehmende Erweiterung des Aktionsradius mit fortschreitendem Alter der jungen Menschen (vgl. Baacke 2007, S. 162). Baacke gelingt es damit ein eigenständiges Modell zu entwickeln, er versucht aber auch, die Ideen Bronfenbrenners in sein Modell zu integrieren (vgl. Baacke 2003, S. 87 ff.). Das von Bronfenbrenner benannte Mikrosystem findet sich in dem Modell von Baacke im „ökologischen Zentrum“ wieder. Dieses ökologische Zentrum stellt vor allem das durch Prozesse der primären Sozialisation gekennzeichnete „Zuhause“ des Kindes (i. d. R. die Familie) dar. Von dort aus erobern die Heranwachsenden mit fortschreitendem Alter zunächst den „ökologischen Nahraum“, welcher am ehesten dem Mesosystem bei Bronfenbrenner entspricht (die unmittelbare Wohngegend, die Nachbarschaft, das Viertel, Höfe, Parks, usw.), dann die „ökologischen Ausschnitte“ (funktionsbestimmte Räume
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wie Schulen, Geschäfte, Sportplätze, Kirchen, Kaufhäuser, Bäder, usw.), die wiederum Elemente des von Bronfenbrenner konstruierten Mesosystems und Exosystems beinhalten, bis hin zur „ökologischen Peripherie“ (sporadisch aufgesuchte Orte wie Kinos, weiter weg liegende Freizeitareale, andere Städte, usw.). Dabei wird auch deutlich, dass diese zu erobernden Räume ganz unterschiedliche Qualitäten aufweisen können und entsprechende Lernchancen fördern, aber auch behindern können. Solche fördernden oder auch beschränkenden Faktoren lassen sich dabei in allen Handlungsräumen finden (vgl. dazu Baacke 2003, S. 80 ff.; Krisch 2009, S. 21 ff.): Bereits die Möglichkeiten im ökologischen Zentrum, d. h. die Spielmöglichkeiten zuhause, das eigene Zimmer, usw. können Aneignungsprozesse erleichtern oder hemmen. In Bezug auf den ökologischen Nahraum ist die Verfügbarkeit von Spiel- und Treffmöglichkeiten von zentralem Interesse. Die Entwicklungschancen in den ökologischen Ausschnitten beziehen sich hingegen vor allem auf die Vielfalt an Rollen und Herausforderungen, die sich den jungen Menschen beim Aufsuchen dieser Örtlichkeiten stellen. Dort finden mit zunehmendem Alter auch wichtige Peer-Kontakte statt. Die ökologische Peripherie fordert die jungen Menschen hingegen vor allem durch besonders neuartige und eindrückliche Erfahrungen heraus. Die Peripherie trägt hierbei zudem auch entscheidend zur Horizonterweiterung bei und ermöglicht den jungen Menschen, Alternativen zu ihrer bisherigen Umwelt kennenzulernen. Entwicklungsförderliche oder -hemmende Bedingungen finden sich jedoch nicht nur in den ökologischen Zonen selbst, sondern auch bei den Übergängen. So können diese Übergänge je nach Alter und Möglichkeiten des Kindes bestenfalls selbstständig vollzogen werden (z. B. mithilfe des Fahrrads, Skateboards oder entsprechender Infrastruktur des ÖPNV). In anderen Fällen müssen hingegen die Wegstrecken häufig in Begleitung der Eltern oder durch „Fahrdienste“ der Eltern bewältigt werden. In diesen Fällen bewegen sich die Kinder von „Erlebnisinsel zu Erlebnisinsel“ und erfahren diese nicht mehr als zusammenhängend (Baacke 1999 zitiert in Krisch 2009, S. 23).
2.3 Bedeutung des Aneignungskonzepts und des sozialräumlichen Ansatzes in der sozialpädagogischen Auseinandersetzung über Sozialisation und Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit Sowohl das Aneignungskonzept als auch der sozialökologische Ansatz verdeutlichen die Wichtigkeit einer sozialräumlichen Perspektive in der pädagogischen
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Arbeit mit jungen Menschen (vgl. Krisch 2009, S. 26 ff.). Kinder und Jugendliche eignen sich die Welt, in der sie leben, handelnd an und sind auf entsprechende Räume, Möglichkeiten, Begegnungen und Beziehungsangebote angewiesen. Mit zunehmender Erweiterung ihres Radius erfahren Kinder neue Wissensbestände, schlüpfen in neue Rollen und erwerben Kompetenzen. Kompetenzerwerb und das sukzessive Erschließen der Handlungsräume bedingen sich dabei gegenseitig: Die Ausdehnung geht mit einer Erweiterung von Rollen und Handlungskompetenzen einher, da neue Sozialräume auch gleichzeitig neue Rollenerwartungen und Handlungsanforderungen beinhalten können: „Trotz vieler Einschränkungen ist die Erweiterung ihres Handlungsraumes eine dominante Tätigkeit im Aneignungsprozess von Kindern und Jugendlichen; sie machen sich fremde Orte zu eigen, erschließen sich deren Bedeutung und die Möglichkeiten, die in den Räumen liegen und vergrößern damit Ihren Horizont im Sinne einer Verbreiterung ihres Verhaltensrepertoires“ (Deinet 1999 zitiert in Krisch 2009, S. 24)
Im Zuge dieser kontinuierlichen Erweiterung der Welterfahrung eignen sie sich also auch neue Fähigkeiten, Horizonte und Verhaltensweisen an, die ihnen eine zunehmende Eigenständigkeit und Unabhängigkeit ermöglichen. Eine sozialräumliche Perspektive bedeutet aber auch, dass die verschiedenen Handlungsräume im besten Fall anregungsreich sind und vielfältig Herausforderungen bieten. Zudem sollten sie im Optimum miteinander vernetzt sein, zumal sich – wie gezeigt wurde – Kinder und Jugendliche sukzessive ihre Umwelt aneignen. Werden Aneignungsprozesse behindert, wirkt sich dies negativ auf die Entwicklung der Persönlichkeit und der sozialen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen aus: „Aneignung und damit soziale Entwicklung [wird gestört], wenn die sozialräumliche Umwelt einseitig funktionalisiert, verbaut, für Kinder versperrt ist“ (Böhnisch 1993 zitiert in: Krisch 2009, S. 14)
Relevanz für ein tieferes Verständnis der Offenen Arbeit mit Kindern haben diese Ideen zudem aufgrund der Bildungsdiskussion der letzten Jahre. Im Zuge dieser Entwicklung wird insbesondere das Aneignungskonzept als geeignetes Konzept zur Erklärung von Bildungsprozessen in der sozialpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hochgehalten, weil Räume in diesem Konzept als Bildungschancen begriffen werden (vgl. Deinet/Reutlinger 2004, S. 7 ff.).
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Diese Debatte verweist vor allem auf die Feststellung, dass Bildung nicht nur in der Schule stattfindet. Bildung ist hingegen ein umfassender Prozess der Aneignung, der auch in der unmittelbaren Lebenswelt, der Nachbarschaft, auf Spielplätzen, beim „Herumstreifen“ im Stadtteil oder in der Gemeinde, in Vereinen, im öffentlichen Raum, usw. stattfindet (vgl. ebd., S. 9 f.). Dieser Diskurs wird mittlerweile weitreichend geführt und seit den Ergebnissen der PISA–Studie hat die Diskussion über den Bildungsbegriff eine neue „Qualität“ bekommen (kritisch dazu: Winkler 2004), was sich letztendlich auch in dem 12. Kinderund Jugendbericht der damaligen Bundesregierung niederschlägt. So wird beispielsweise im 12. Kinder- und Jugendbericht explizit auf die Wichtigkeit außerschulischer Bildungsprozesse hingewiesen: „(…) ‚Bildung ist mehr als Schule‘ sollte zum Ausdruck bringen, dass Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen weitaus weniger ortsgebunden sind, als oft unterstellt wird, d. h. dass Lernen diesseits und jenseits der Schule und des Unterrichts stattfindet. Die Frage ist also, wie Bildungsprozesse so gestaltet werden können, damit Kinder und Jugendliche auf ganz unterschiedlichen Wegen und in möglichst breiter Form erreicht werden können“ (BMFSFJ 2005, S. 28 f.).
Die Idee der selbsttätigen „Weltaneignung“ ist wiederum expliziter Bestandteil dieses erweiterten Bildungsverständnisses. Ebenso spiegelt sich hierin die These wider, dass die materiellen, räumlichen und sozialen Rahmenbedingungen entsprechende Bildungsprozesse unterstützen oder hemmen können: „Bildung ist ein umfassender Prozess der Entwicklung einer Persönlichkeit in der Auseinandersetzung mit sich und ihrer Umwelt. Das Subjekt bildet sich in einem aktiven Ko-Konstruktions- bzw. Ko-Produktionsprozess, eignet sich die Welt an und ist dabei auf bildende Gelegenheiten, Anregungen und Begegnungen angewiesen, um kulturelle, instrumentelle, soziale und personale Kompetenzen entwickeln und entfalten zu können“ (BMFSFJ 2005, S. 31).
Wichtig in obigem Zitat ist jedoch auch der letzte Satz, der darauf hinweist, dass mit dem erweiterten Bildungsverständnis auch gleichermaßen ein differenzierteres Verständnis der Wirkungen von Bildungsprozessen einhergeht, nämlich der Erwerb ganz unterschiedlicher Kompetenzen. Ein solcher Kompetenzerwerb findet damit immer auch im Rahmen von Aneignungsprozessen statt (vgl. Deinet/Icking 2009a, 2009b, S. 64 f.). Dabei lassen sich vier verschiedene Ebenen unterscheiden (vgl. BMFSFJ 2005, S. 32; Rauschenbach 2005, S. 18; ähnlich auch Deinet/Icking 2009a, 2009b, S. 65):
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• Kulturelle Kompetenzen: mittels sprachlich-symbolische Fähigkeiten eignen sich Kinder das kulturelle Wissen bzw. das „kulturelle Erbe“ einer Gesellschaft an; sie lernen sich in der Welt zurechtfinden und diese zu verstehen. • Instrumentelle Kompetenzen: die Fähigkeit, sich in der s tofflichgegenständlichen Welt zu bewegen, das Angebot an Waren und Produkten angemessen nutzen zu können; dazu zählt ebenso, mit Medien umgehen zu können. • Soziale bzw. kommunikative Kompetenzen: sich mit anderen verständigen können, an der sozialen Welt teilhaben, an der Gestaltung des Gemeinwesens mitwirken, Fähigkeit zum Aufbau sozialer Beziehungen und eine moralische Urteilsfähigkeit entwickeln. • Personale Kompetenzen: ästhetisch-expressive Fähigkeiten, eine eigene Persönlichkeit und einen eigenen Lebensstil entwickeln, sich als Persönlichkeit im Gemeinwesen einbringen, Verantwortung übernehmen, ein Identitätsgefühl entwickeln. Mit diesen theoretischen Unterscheidungen wird ein erweitertes Bildungsverständnis ausgedrückt, welches dazu beitragen soll, bisherige, verengte Sichtweisen auf Bildung zu überwinden. Standen bisher insbesondere Aspekte der schulischen, d. h. „formalen“ Bildung im Zentrum der Bildungsdiskussion, so wird der Bildungsbegriff heute weiter gefasst. Dieses erweiterte Bildungsverständnis führte schließlich auch zu einer Unterscheidung in verschiedene Bildungsorte, sodass heute neben der sogenannten formalen Bildung (z. B. schulische Wissensvermittlung) auch non-formale Bildungsorte (z. B. Angebote der Kinder- und Jugendarbeit) und informelle Bildungsprozesse (z. B. in der Gleichaltrigengruppe) als Orte von Bildung akzeptiert werden (vgl. Rauschenbach u. a. 2004, S. 28 ff.). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie entwicklungsförderliche Bildungsumwelten in optimaler Art und Weise gestaltet sein sollten. Die hier relevanten Empfehlungen entsprechen wiederum hochgradig den Arbeitsprinzipien der Kinder- und Jugendarbeit, z. B. Offenheit, Freiwilligkeit, Lebensweltorientierung, Partizipation und Beziehungsangebote (vgl. Delmas 2005). Darüber hinaus werden didaktische Methoden empfohlen, die eine aktive Aneignung von Lerninhalten ermöglichen, wie z. B. Projektarbeit und Gruppenarbeit (vgl. ebd.). Aus diesem Grunde stellt die Kinder- und Jugendarbeit ein wichtiges Feld dar, in dem sich Kinder die oben genannten Kompetenzen aneignen können.
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2.4 Sozialisationsbedingungen moderner Kindheit: Trends moderner Kindheit, Folgen sozialer Ungleichheit und Empfehlungen für die Gestaltung von Aktionsräumen Die Ausführungen konnten bisher verdeutlichen, wie wichtig eine aktive „Weltaneignung“ für junge Menschen als Basis eines umfassend verstandenen Sozialisationsprozesses ist. Dies wurde bereits in der bahnbrechenden Studie von Muchow/Muchow (erstmals 1935/2012) dezidiert beschreiben. Der in dieser Studie verfolgte lebensweltbezogene Zugang zur Welt der Kinder lässt erkennen, wie sich Kinder als eigenständige und selbsttätige Subjekte die Welt erschließen bzw. „aneignen“. Dabei spielt die Wechselwirkung zwischen dem (aktiven) Kind und dem das Kind umgebenden Raum eine zentrale Rolle. Demnach befinden sich Kinder immer auch in einem „gelebten Raum“, d. h. Kind und Raum beeinflussen sich gegenseitig. Besonders interessant im Zuge dieser Umweltaneignung ist, dass Kinder die Gegenstände der Erwachsenenwelt umdeuten und anders nutzen. Insofern greifen sie auch selbst gestaltend in den sie umgebenden Raum ein. Diese Vorstellung eines relationalen Verhältnisses zwischen dem handelnden Kind und dem Raum steht in Kontrast zu einseitigen entwicklungspsychologischen Betrachtungen der kindlichen Entwicklung als Abfolge von „Reifungsprozessen“ ohne Berücksichtigung von Umwelteinflüssen. Ebenso wird Entwicklung aber auch nicht verstanden als „bloße“ Verinnerlichung von Lernerfahrungen, sozialem Zwang oder Resultat von Umweltbedingungen. Die wesentliche Stärke dieser sozialisationstheoretischen Überlegungen ist die Idee eines wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisses von Kind und Umwelt, sodass insbesondere Debatten über geeignete Aneignungs- und Spielmöglichkeiten für Kinder mehr ins Zentrum pädagogischer Betrachtungen rücken konnten. Demnach können Aneignungsprozesse unterstützt, aber auch verhindert werden (vgl. Projektgruppe TU Berlin 1997, S. 27). Stellt man diese wichtige Erkenntnis einigen aktuellen „Trends“ moderner Kindheit gegenübergestellt, stellt sich die Frage, ob und inwiefern die aktuelle Lebenssituation von Kindern diesem elementaren Bedürfnis nach Weltaneignung gerecht wird. Darüber hinaus sind aber auch interindividuelle Unterschiede von Relevanz, da aufgrund von sozialer und materieller Benachteiligung nicht alle Kinder gleichermaßen von solchen Aneignungsmöglichkeiten profitieren. Zunächst aber zu den allgemeinen Trends moderner Kindheit. Die Literatursichtung liefert hierzu einen bunten Strauß an verschiedenen Trends
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(exemplarisch: Beck-Gernsheim 1987; Zeiher/Zeiher 1994; Zinnecker 1990; ein guter Überblick findet sich in Blinkert 1996; Brinkmann 1987; von Spiegel 1997; Honig 2008), etwa die „inszenierte Kindheit“, die „organisierte“ bzw. „institutionalisierte Kindheit“, der Trend zur „Verhäußlichung“ und „Verinselung“ oder die „Medienkindheit“. All diesen Trendaussagen ist gemeinsam, dass sich Kindheit immer weniger in „natürlichen“ Spiel- und Aktionsräumen abspielt, sondern immer mehr in von Erwachsenen arrangierten, inszenierten und quasi-künstlichen Sonderwelten. Aufgrund dieser pädagogischen Inszenierung gilt es, das Spannungsverhältnis zwischen „Selbsttätigkeit und Fremdbestimmung“ (Brinkmann 1987) stets kritisch zu reflektieren. Inwiefern diese Trends dem (natürlichen) Explorationsstreben von Kindern entgegenstehen, wurde bereits in den 90er Jahren in einer bemerkenswerten Studie von Blinkert (1996) aufgegriffen. In seiner Studie zeigt Blinkert, dass das Verschwinden von kindgerechten Aktionsräumen einschneidende Veränderungen im Lebensalltag von Kindern (und auch Eltern) nach sich zieht. Blinkert analysiert hierbei einige der oben genannten Trends, die er mit der Raumerfahrung aber auch den sozialen Interaktionschancen von Kindern in Zusammenhang bringt. Als wesentliche Erkenntnis dieser Studie kann zunächst herausgestellt werden, dass Kinder nach wie vor „das Spielen draußen einer domestizierten Freizeitgestaltung vorziehen“ (Deimel 2013b, S. 751). In seiner Studie kann Blinkert (1996; 2003) zudem zeigen, dass die oben genannten Trends miteinander interagieren. So verbringen beispielsweise Kinder, die in ihrem unmittelbaren Nahraum keine qualitativ geeigneten Aktionsräume vorfinden, auch mehr Zeit zuhause. Ebenso steigt der Medienkonsum bei schlechteren Aktionsräumen in der unmittelbaren Nachbarschaft von Kindern deutlich an. Das gleiche gilt für den Bedarf an Betreuung in Institutionen. Blinkert stellt daher die besondere Bedeutung von geeigneten Aktionsräumen für Kinder ins Zentrum seiner Empfehlungen. Geeignete Aktionsräume sind seiner Meinung nach Orte, an denen Kinder nach eigenen Vorstellungen mit anderen Kindern spielen und die Umwelt nach ihren Vorstellungen gestalten können. Nach Blinkert bestimmen vier Kriterien, was geeignete Aktionsräume sind (vgl. Blinkert 1996, S. 10 ff.): • Zugänglichkeit • Gefahrlosigkeit • Gestaltbarkeit • Interaktionschancen (mit anderen Kindern) Die Kernaussage der Studie lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn Kinder in ihrer Umgebung keine angemessenen Möglichkeiten zum Erkunden und Gestalten
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vorfinden, kann sich dies hemmend auf die Entwicklung ihrer Kreativität und Autonomie auswirken. Ein geringeres Interesse am Ausprobieren und Entdecken kann die Folge sein. Das Gestalten und Herstellen von Dingen, aber auch soziale Interaktionen bzw. Beziehungen, und damit einhergehend das Aufstellen und Aushandeln von Regeln, sind zentrale Aspekte für die Entwicklung eines Kindes. Kinder wollen und müssen Dinge erleben und Erlebnisse mit anderen – vor allem Gleichaltrigen – teilen. Der Kinderalltag heute lässt oft nur wenig Raum für solche spannenden Erlebnisse, dabei sind gemeinsame Erlebnisse und ein gemeinsamer Erfahrungshorizont mit anderen Kindern sehr wichtig. Gibt es keine Möglichkeiten und Orte für gemeinsames Erleben, wird auf eine andere Form des Erlebens zurückgegriffen: eine verstärkte Mediennutzung kann die Folge sein. Es ist daher vor allem das sozial-räumliche Umfeld, d. h. die im direkten Umfeld vorhandenen Frei- und Gestaltungsräume, die die Lebenssituation und die Entwicklung von Kindern beeinflussen. Daher plädiert Blinkert auch dafür, dass verschiedene ExpertInnen sich an der Sozialraumgestaltung engagieren. Sozialisationsbedingungen moderner Kindheit können aber nicht nur global, sondern auch milieu- bzw. schichtspezifisch betrachtet werden. So spielen Aspekte der sozialen Ungleichheit eine wichtige Rolle bei den jeweiligen Aneignungs- und Betätigungsmöglichkeiten von Kindern. Die World Vision Kinderstudie (2007, 2010, 2013) zeigt beispielsweise, dass sowohl Bildungschancen als auch Freizeitaktivitäten unterschiedlich ausgeprägt sind: • Der angestrebte Schulabschluss ist auch im Vergleich zwischen der World Vision Kinderstudie von 2007 und 2013 nach wie vor schichtspezifisch geprägt. Nur etwa jedes fünfte Kind, das sich in seiner subjektiven Einschätzung der Unterschicht zuordnet, strebt Abitur an. In der oberen Mittelschicht und Oberschicht sind dies mehr als die Hälfte (in der Oberschicht sogar etwa drei Viertel). • Betrachtet man die Häufigkeit von Freizeitaktivitäten, so nehmen Kinder aus unteren Schichten viel seltener kreativ-musische Angebote wahr als Kinder der Mittel- und Oberschicht. Hingegen ist der Medienkonsum stärker ausgeprägt. Ähnliche Unterschiede gibt es auch beim Lesen und dem Besuch von kulturellen Einrichtungen. • Kinder aus unteren Einkommensschichten geben deutlich seltener Vereinsaktivitäten an als Kinder aus höheren Schichten. Besonders deutlich ist dieser Unterschied bei kulturell-musischen Aktivitäten. Die Analysen der World Vision Kinderstudie zeigen zudem, dass Kinder aus unteren Schichten eine deutlich niedrigere Lebenszufriedenheit haben. Inwiefern
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diese niedrigere Lebenszufriedenheit mit den oben genannten Unterschieden im Bildungs- und Freizeitverhalten in Verbindung stehen, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Deutlich wird jedoch, dass sozioökonomisch benachteiligte Kinder Einschränkungen im Bereich von Aneignungs- und Betätigungsmöglichkeiten erleben und somit auch – gemäß der oben genannten Argumentation – Nachteile in ihrer Entwicklung drohen können. Aus diesem Grunde sind geeignete Aneignungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für sozioökonomisch benachteiligte junge Menschen von besonderer Bedeutung. Die Darstellungen zeigen also: Junge Menschen brauchen Räume, in denen es viel zu erforschen, zu gestalten und zu begreifen gibt. Ebenso brauchen sie Räume, in denen sie mit anderen Kindern interagieren können, weil nur so entsprechende Sozialisations- und Bildungsprozesse in Gang kommen. Und zuletzt brauchen sie Räume, die von ihnen mitgestaltet werden können. Dies gilt in besonderem Maße für Kinder aus sozial benachteiligten Lebenslagen. Die Angebote der Offenen Arbeit mit Kindern greifen diese Forderungen zum einen im Hinblick auf pädagogische Zielsetzung und Methodik auf, zum anderen werden sie selbst zu einem „Medium der Raumaneignung“ (von Spiegel 1997, S. 138), da sich dieses sozialpädagogische Handlungsfeld genau auf die Arbeit in und mit diesen Räumen bezieht. Es geht hierbei aber immer auch um eine anwaltschaftliche Funktion für Kinder, indem sich die Offene Arbeit mit Kindern für die Verbesserung der Spiel- und Lebensbedingungen von Kindern einsetzt. Aus diesem Grunde kommt der Gestaltung von Sozial- und Erfahrungsräumen, auch in städteplanerischer Perspektive, eine wichtige Bedeutung zu, sodass sich die in der Offenen Arbeit mit Kindern tätigen Fachkräfte immer auch in entsprechende Planungsprozesse einbringen sollten (vgl. Projektgruppe TU Berlin 1997, S. 140).
3 Handlungsfelder der Offenen Arbeit mit Kindern – Allgemeine Charakteristik und Ziele Entstanden ist der Begriff der „Offenen Arbeit mit Kindern“ (auch Offene Kinderarbeit) im Kontext der Abenteuerspielplatzbewegung in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als Reaktion auf die Lebensbedingungen in den damaligen Wohnquartieren. Parallel dazu entwickelten sich ab den 70er Jahren weitere Handlungsfelder wie etwa die Spielmobilbewegung, Ferienspielaktionen oder (stadtteilorientierte) Spielräume für Kinder bzw. Kinderhäuser. (vgl. von Spiegel 1997, S. 11 ff.; Nahrstedt/Fromme 1986, S. 17 ff.) Auslöser all dieser Initiativen waren nach Hiltrud von Spiegel (vgl. ebd., S. 12 f.) alternative
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Erziehungskonzepte, die von der Studierendenbewegung der 60er und 70er Jahre ausgingen. Im Zuge des Hinterfragens bisheriger Erziehungs- und Lebensvorstellungen entwickelten sich verschiedene soziale Experimente in den Bereichen Wohnen, Bildung und Erziehung. Die neuen Angebote für Kinder waren dabei direkte Folge der Kritik an den bestehenden sozialen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse und sollten dazu verhelfen, diese zu überwinden. Aus diesem Grunde rückte auch das Kindesalter zunehmend in den Blick von reformpädagogischen Kräften, denn letztendlich sollte auch die Sozialisation im Kindesalter langfristig zur Überwindung bestehender Verhältnisse beitragen. Der Reformschub dieser neuen Angebote für Kinder wurde zudem von Anfang an durch zwei unterschiedliche pädagogische Denkrichtungen geprägt: Dies waren zum einen sozialpädagogische Arbeitsansätze, die auf Autonomie, Selbstsozialisation, Persönlichkeitsentwicklung, Partizipation und politische Bildung setzten, sich zunehmend aber mit gesellschaftlichen Missständen, sozialer Benachteiligung und entsprechenden „Problemgruppen“ konfrontiert sahen. Dem gegenüber standen und stehen noch heute kulturpädagogische Ansätze bzw. Ansätze der kulturellen Bildung, denen es eher um soziokulturelle, sinnlich-ästhetische und ausdrucksorientierte Angebote ging bzw. geht. Nach dem Leitsatz „Kultur für alle“ sollen die Angebote allen Kindern offenstehen und zum „Selbermachen“ anregen. Während in der ersten Tradition eher erziehungswissenschaftliche und sozialarbeitsbezogene Qualifikationen relevant sind, arbeiten im zweiten Bereich der Kulturarbeit verstärkt Kunstschaffende, Lehrerinnen und Lehrer, Medienpädagoginnen und -pädagogen, sowie handwerklich geschultes Personal. Die Offene Arbeit mit Kindern ist dabei durch ein entscheidendes Paradoxon geprägt. So zielt sie einerseits auf die Schaffung von geeigneten Aktions-, Bildungs- und Aneignungsräume für Kinder ab, gleichzeitig sind gerade diese räumlichen Arrangements wiederum eine Inszenierung durch Erwachsene. Oskar Negt (1989, S. 18 ff.) spricht in diesem Zusammenhang von dem Widerspruch, dass Kinder-Öffentlichkeit immer durch Erwachsene hergestellt werden muss, weil sie sich in der Moderne nicht selbst herstellen kann. Entscheidend ist dann jedoch, inwiefern Erwachsene es zulassen, dass Kinder sich diese Räume selbststätig aneignen und gestalten. Der Begriff der Offenheit bezieht sich – neben der Analogie zur Kinder-Öffentlichkeit – vor allem auf die Möglichkeiten, die in diesen Settings vorgefunden werden können (vgl. von Spiegel 1997a, 1997b, S. 11; ausführlich dazu Nahrstedt/Fromme 2986, S. 82 ff.): Offenheit bedeutet, dass die Angebote pädagogisch, sozial und räumlich „offen“ sind, d. h. die Nutzung ist nicht an eine Mitgliedschaft oder an Beiträge gebunden und die Angebote stehen allen Kindern offen:
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„Das hat Folgen für die pädagogische Arbeit, die deswegen im folgenden als ‚offene Kinderarbeit‘ bezeichnet werden soll. Die Einrichtung ist zwar ein kontinuierliches und langfristiges Angebot; doch ist kein Kind verpflichtet, kontinuierlich zu kommen oder mitzumachen.“ (Fromme 1984, S. 316)
Fromme (ebd., S. 316) verweist zudem auf den „Aufforderungscharakter“ der in allen Settings der Offenen Arbeit mit Kindern zu finden ist und eine wichtige Bedeutung für die Attraktivität des Angebots hat. Entsprechend ist auch die pädagogische Arbeit der Fachkräfte weitestgehend „ergebnis-“ bzw. „zukunftsoffen“. Offenheit betrifft also nicht nur den Zugang für die Kinder und die Lernerfahrungen, sondern gleichermaßen auch die in das System involvierten Erwachsenen (vgl. Nahrstedt/Fromme 1986, S. 88). Ein weiteres wichtiges Kriterium dieser „Offenheit“ ist zudem, dass die Lernprozesse auf ganz unterschiedlichen Ebenen ablaufen. Nahrstedt/Fromme betonen hierbei, dass die Lernprozesse „alle Sinne einbeziehen und theoretischer wie praktischer Art sein, geistige wie körperliche Ansprüche stellen, rational wie emotional sein, sportliche, musische und handwerkliche Anforderung stellen [sollen]“ (ebd., S. 104). Die Offene Arbeit mit Kindern erfüllt insgesamt gesehen zwei zentrale Funktionen: Zum einen soll sie dazu beitragen, dass Kinder durch geeignete Aneignungsarrangements in ihrer motorischen, kognitiven und sozialen Entwicklung unterstützt werden. Zum anderen erfüllt die Offene Arbeit mit Kindern aber immer auch eine „Lobbyfunktion“ für Kinder: „Offene Arbeit mit Kindern dient sozialpolitischen Zwecken, in diesem Fall der Sicherung angemessener Sozialisationsbedingungen von Kindern in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft (…). Kinder haben keine eigene Lobby, daher müssen Erwachsene – Fachkräfte und Eltern – deren Interessen offensiv in die Kommunalpolitik und in Planungsprozesse der Stadt- und Kreisverwaltungen einbringen.“ (von Spiegel 1997, S. 7 f).
Gefordert ist in diesem Fall eine „Politik für Kinder“ sowie eine „Politik mit Kindern“ (ebd., S. 8), sodass die Offene Arbeit mit Kindern in allen Bereich stets eine Doppelfunktion erfüllt. AdressatInnen der Arbeit sind demnach zunächst die Kinder selbst, aber auch gleichermaßen die sie umgebenden sozialräumlich relevanten und kommunalpolitischen Akteure und Prozesse der „Erwachsenenwelt“ (z. B. Jugendhilfeplanung, Stadtplanung und Quartiersentwicklung, Gemeinde- und Stadträte, Stadtteilgremien, Elterninitiativen, usw.). Aus diesem Grunde spielt der Leitsatz „das Recht des Kindes zu spielen“ (Nahrstedt/Fromme 1986, S. 18) immer eine wichtige Rolle in der Offenen Arbeit mit Kindern. Diese Doppelperspektive macht die eigentliche Professionalität dieses Handlungsfelds aus und lässt sich im Grunde in allen Arbeitsfeldern der Offenen Arbeit mit Kindern wiederfinden.
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4 Pädagogisch betreute Spielplätze Die Entwicklung pädagogisch betreuter Spielplätze, gemeint sind damit Abenteuer- und Aktivspielplätze, Jugendfarmen, Kinderbauernhöfe sowie Stadtteilfarmen, geht zurück bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts, unter anderem inspiriert durch entsprechende Projekte in skandinavischen Ländern, England und der Schweiz (Deimel 2013b, S. 747; Lange 2007a; S. 9; Thole 2000, S. 119; von Spiegel 1997, S. 12; Projektgruppe TU Berlin 1997; Nahrstedt/ Fromme 1986, S. 17 f.). Ein besonderes Vorbild waren hierbei die sogenannten „Gerümpelspielplätze“, die es in Dänemark bereits seit den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts gab (vgl. Thole 2000, S. 119; Projektgruppe TU Berlin 1997, S. 51 ff.; Nahrstedt/Fromme 1986, S. 17). Im Kontext der Studierendenbewegung Ende der 60er Jahre entstanden dann erstmals Abenteuerspielplätze in West-Berlin, Hamburg und in Nordrhein-Westfalen. Parallel dazu wurden in Baden-Württemberg die ersten „Jugendfarmen“ bzw. „Kinderbauernhöfe“ gegründet (vgl. Deimel 2013b, S. 747; vgl. von Spiegel 1997, S. 12; Fromme 1984, S. 314). Auslöser dieser Gründungen waren vor allem Initiativen von Eltern sowie Forderungen von reformorientierten PädagogInnen, mit dem Ziel die Lebensbedingungen der Kinder in den jeweiligen Wohnquartieren zu verbessern. Damit stellten diese „neuen“ Spielflächen auch einen Gegenpol zu den bisher bestehenden, konventionellen „Gerätespielplätzen“ (Thole 200, S. 119) dar, die eher durch eine unbewegliche und wenig gestaltbare Ausstattung gekennzeichnet sind. Beobachtungen in den 30er Jahren in Dänemark zeigten, dass diese Spielplätze kaum von Kindern genutzt wurden; stattdessen spielten die Kinder auf Freiflächen mit viel Gerümpel, weswegen in Dänemark die Idee der „Gerümpelspielplätze“ entstand (vgl. Projektgruppe TU Berlin 1997, S. 51). Ein weiterer wichtiger Ausgangspunkt der Bewegung war die Kritik an einem Verlust an Naturerfahrungen, der insbesondere Kinder aus großstädtischen Ballungsräumen betrifft. Demnach gibt es gerade für sogenannte „Stadtkinder“ kaum noch Möglichkeiten, „den Umgang mit Pflanzen und Tieren zu erleben und zu lernen, da die Natur immer mehr aus unseren Städten verdrängt wird. Die Folge von städtischen naturarmen Lebensverhältnissen ist, dass sie das Kind in seinen Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten behindern“ (Lange 2007a, S. 9 f.). In jedem Konzept lassen sich daher neben der üblichen Bepflanzung auch elementare Naturmaterialien wie Holz, Steine und Erde sowie Wasser zur freien Gestaltung finden. Über die zahlenmäßige Entwicklung dieser Spielplätze in den letzten 50 Jahren liegen in der Literatur nur uneinheitliche Informationen vor. Bereits Mitte der 70er Jahre ließen sich demnach in der damaligen Bundesrepublik
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Deutschland zwischen 70 und 80 pädagogisch betreute Spielplätze zählen. Zu dieser Zeit planten zudem etwa 5000 Initiativen einen solchen Spielplatz zu gründen. In den 80er Jahren vergrößerte sich die Anzahl auf etwa 350 solcher Einrichtungen mit schätzungsweise bis zu 2000 Mitarbeitenden. In den 90er Jahren verringerte sich die Anzahl wieder auf etwa 300 pädagogisch betreute Spielplätze, was vor allem mit der Auflösung entsprechender Initiativen und Übernahmen in eine kommunale Trägerschaft erklärt wird. (vgl. von Spiegel 1997, S. 14). Thole (2000, S. 119) berichtet hingegen für Mitte der 90er Jahre von über 400 pädagogisch betreuten Spielplätzen mit etwa 1500 Mitarbeitenden (knapp 250 dieser Einrichtungen befanden sich in öffentlicher Trägerschaft und etwa 170 in freier Trägerschaft). Deimel (2013b, S. 747) benennt für Ende der 90er Jahre ebenfalls etwa 400 Abenteuerspielplätze und geht von aktuell ca. 500 solcher Plätze mit 1200 Beschäftigten aus. Auf der Homepage des Bunds für Jugendfarmen und Aktivspielplätzen e. V. werden für 2015 ebenfalls 500 Plätze genannt (www.bdja.org). In einer anderen aktuellen Publikation wird – freie und kommunale Träger zusammengenommen – bundesweit von einer Gesamtanzahl von etwa 1000 betreuten Spielplätzen ausgegangen (vgl. Schock 2007a, S. 4) Das Spielkonzept ist zudem in Europa weit verbreitet, so lassen sich entsprechende Projekte in Frankreich, in den Niederlanden, in Großbritannien, Schweden und Dänemark finden (vgl. Projektgruppe TU Berlin 1997, S. 134 ff.). Pädagogisch betreute Spielplätze sind in der Regel ganzjährig geöffnet und für alle BesucherInnen kostenfrei. Die Kinder können selbst entscheiden, wann sie kommen und wie lange sie bleiben, d. h. von der Grundidee her gibt es keine Anmeldeverfahren. Es handelt sich um meist eingezäunte Areale, in denen sich die verschiedensten Betätigungsmöglichkeiten finden lassen, beispielsweise Hüttenbauareale, Kletterwände und Sportflächen, Wasserspielmöglichkeiten, Hügel, Bäume, Wiesen und Büsche, landwirtschaftlich nutzbare Areale und häufig auch Tiere und Stallungen, Spielgeräte sowie meist auch Feuerstellen und Werkstätten. Ein wichtiges Merkmal pädagogisch betreuter Spielplätze ist hingegen, dass es ein Gebäude (Spielplatzhaus) gibt, das sowohl von den dort tätigen Fachkräften (z. B. für Verwaltungs- und Planungsaktivitäten) als auch von den Kindern genutzt werden kann. Hierbei gehören Kochmöglichkeiten, Spielräume, Toiletten und Waschräume sowie Werk- und Materialräume in der Regel zur Standardausrüstung solcher Spielplätze. Das Angebot richtet sich, je nach konzeptioneller Ausrichtung, an Kinder zwischen 3 und 15 Jahren. Betreut werden die Spielplätze von haupt- und ehrenamtlichem Personal innerhalb definierter Öffnungszeiten. (vgl. von Spiegel 1997, S. 51; Deimel 2013b, S. 748; ausführliche Darstellungen in Dillenburger 1975; ein gesamtbundesweiter
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Überblick über Ausstattung und Personal findet sich in der Veröffentlichung der Projektgruppe TU Berlin 1997, S. 224 f.). Entsprechend dieser Vielfalt ist natürlich eine ausreichende Größe besonders wichtig. Empfohlen wird eine Platzgröße zwischen 3000 und 10.000m2 (vgl. Deimel 2013b, S. 748), die Projektgruppe der TU Berlin (1997, S. 237) hält hingegen eine Fläche von 7000 bis 15.000m2 für angemessen. Die auf diesen Plätzen tätigen hauptamtlichen Fachkräfte (und bedingt auch die ehrenamtlich Tätigen) verstehen sich sowohl als Motor für Bildungs- und Aneignungsprozesse als auch als zentrale Bezugsperson. Sie entwickeln die Gesamtkonzeption, arrangieren die Plätze, offerieren verschiedene Aktivitäten und fungieren als AnsprechpartnerInnen in allen Belangen. Der Beziehungsarbeit kommt daher eine wichtige Bedeutung zu (vgl. Dillenburger 1975, S. 149 ff.; Deimel 2013bb, S. 749). Damit erfüllen sie sowohl Sicherheits- als auch Autonomiebedürfnisse der Kinder (vgl. Abschn. 2.2). Eine dritte Komponente ist schließlich noch die „Lobbyfunktion“. So agieren die dort tätigen Fachkräfte stets auch als Sprachrohr für die Kinder, initiieren Beteiligungsprozesse und vertreten ihre Interessen auf dem Platz, aber auch im Hinblick auf den unmittelbaren Sozialraum bzw. Stadtteil (vgl. Deimel 2013b, S. 749). Die wesentlichen methodischen und theoretischen Säulen betreuter Spielplätze sind die Spielpädagogik (vgl. Helmlinger 2015; Wegener-Spöhring/Zacharias 1990; Dillenburger 1975; Projektgruppe TU Berlin 1997), die Abenteuer- bzw. Erlebnispädagogik (vgl. von Spiegel 1997, S. 109 ff.; Schock 2007a; Deimel 2010), die Natur- und Umweltpädagogik (vgl. von Spiegel 1997, S. 194 ff. sowie Lange 2007a) sowie in einigen Fällen auch kulturpädagogische Ansätze (vgl. von Spiegel 1997, S. 51; Schock 2007b). Spielpädagogische Argumentationen sind im Grunde in allen Konzeptionen pädagogisch betreuter Spielplätze ein wesentlicher Bestandteil. Hierbei stehen vor allem bildende, soziale und kompensatorische Effekte des kindlichen Spiels im Vordergrund. Kinder finden auf diesen Spielplätzen vielfältige Bildungsgelegenheiten und die Spielmöglichkeiten fördern den Aufbau von Sozialbeziehungen, ermöglichen aber vor allem auch Zerstreuung, Entspannung, Bewegung und Spaß. Die Spielpädagogik begreift das Spiel des Kindes vor allem als aktive Umweltaneignung, sodass vielfältige Parallelen zu den unter Abschn. 2 dargestellten theoretischen Grundlagen der Aneignung und sozial-ökologischen Theorie hergeleitet werden können. Abenteuer- bzw. erlebnispädagogische Bezüge lassen sich ebenso in vielfältiger Art und Weise auf pädagogisch betreuten Spielplätzen finden, da dieses Spielkonzept ja gerade auf Räume setzt, die per se nicht „risikoarm“ sind (wenn auch die Geländesicherheit von dem Personal stets im Blick behalten wird). Insbesondere dem „Auf-
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bruch ins Ungewisse“ und dem Mut zur „Selbstüberwindung“ (Schock 2007a, S. 7) wird auf diesen Spielplätzen Rechnung getragen, sodass Abenteuerspielplätze insbesondere Selbstwirksamkeitserlebnisse fördern (vgl. Deimel 2010). In natur- oder umweltpädagogischer Hinsicht setzen pädagogisch betreute Spielplätze insbesondere auf das Thema Nachhaltigkeit und ökologisches Bewusstsein. Naturmaterialien, alternative Energiegewinnung, Recycling, Abfallvermeidung, das Anlegen von Biotopen, Teichen oder Schutzzonen für Pflanzen und Tiere, aber auch das Herstellen und Verarbeiten von eigenen Produkten und Lebensmitteln finden sich im Grunde in vielen Konzepten wieder. All dies ermöglicht eine entsprechende sinnliche Auseinandersetzung, sodass die Kinder „eine Beziehung zu ihrer Umwelt [aufbauen]“ (Lange 2007a, S. 10). Aspekte der Kulturpädagogik manifestieren sich entweder in direkter Art und Weise, etwa indem konkrete Aktivitäten aus den Bereichen künstlerisches Gestalten, Zirkus, Musik, Theater, Film/Medien angeboten werden, oder aber auch indirekt als bewusst gestalteter und gewachsener „Erfahrungsraum“. Die jeweiligen Areale eines solchen Spielplatzes symbolisieren ja nicht selten bestimmte Lebensbereiche der „Erwachsenenwelt“, etwa Hüttenbauareale, Verbindungswege, Tierstallungen, Materialräume, usw.. Hier sind demnach Aspekte der „Soziokultur“ und „Alternativen Kulturarbeit“ (Schock 2007b, S. 30 ff.) zu finden. In Rückgriff auf die theoretischen Grundlagen der Offenen Arbeit mit Kindern lassen sich die wesentlichen pädagogischen Ziele vor allem an dem Aneignungskonzept festmachen, bedingt finden sich aber auch Begründungskontexte im sozialökologischen Ansatz. Die von den Kindern offen und frei zugänglich genutzten Spielflächen bieten viele Aneignungsmöglichkeiten, wobei die Schwerpunkte meist auf Bautätigkeiten und Naturerfahrungen gelegt werden (vgl. Lange 2007a und Lange 2007b). Aus diesem Grunde geht es vor allem um die Aneignung handwerklich-technischer Vorgänge, beispielsweise die Verwendung von allerlei Werkzeugen und Verarbeitung von Materialien, sowie um naturwissenschaftlich-biologisches Wissen. Auf manchen Spielplätzen, die stärker auf die Idee einer „Jugendfarm“ bzw. eines Kinderbauernhofs setzen, werden auch Tiere gehalten und Pflanzenaufzucht angeboten, sodass sich die Kinder einen adäquaten Umgang mit Pflanzen und Tieren aneignen können (vgl. Projektgruppe TU Berlin 1997, S. 100 ff.; Tietjen 2007) und landwirtschaftliche Vorgehensweisen sowie ökologische Kreisläufe verstehen lernen. Je nach konzeptioneller Ausrichtung finden sich aber auch Musik-, Theater- oder andere Angebote der kulturellen Bildung auf diesen Spielplätzen (vgl. von Spiegel 1997, S. 51) und der Grundaufbau eines solchen Spielplatzes kann aufgrund seiner Beschaffenheit als „Stadt“ (etwa im Hüttenbaubereich oder als Farm) auch soziokulturell relevante Aneignungsprozesse ermöglichen (vgl. Schock 2007b, S. 30 f.). Bezüge
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zum sozialökologischen Ansatz lassen sich weitaus schwerer finden, so stellen pädagogisch betreute Spielplätze ja bereits Örtlichkeiten des Mesosystems bzw. des ökologischen Nahraums oder – je nach Wohnort – des ökologischen Ausschnitts für Kinder aus der unmittelbaren Region dar. Pädagogisch betreute Spielplätze werden hierbei meist nur von Kindern genutzt, die in der Nähe wohnen (vgl. Dillenburger 1975, S. 23; von Spiegel 1997, S. 85). Jedoch können die von Bronfenbrenner entwickelten Systeme und Interdependenzen sowie das durch Baacke weiterentwickelte Zonenmodell durchaus auf pädagogisch betreute Spielplätze übertragen werden. Das Mikrosystem (bzw. ökologische Zentrum) ist hierbei die unmittelbare Interaktion im Rahmen einer jeweils angebotenen Aktivität, der gemeinsame Hüttenbau, die Versorgung der Tiere, usw. Das Mesosystem (der ökologische Nahraum und die ökologischen Ausschnitte) könnte eher in den Verflechtungen mit der „Außenwelt“ des jeweiligen Spielplatzes lokalisiert werden, etwa der Austausch mit Nachbarn, umliegenden Betrieben oder anderen Versorgungsstrukturen (beispielsweise muss Tierfutter oder Baumaterialien besorgt werden; manche Spielplätze arbeiten auch mit lokalen Bauern und anderen Akteuren aus der Bauwirtschaft zusammen). Im Exosystem sind hingegen die Verantwortlichkeiten der Fachkräfte und Rahmenbedingungen der Spielplatzarbeit repräsentiert, von denen die Kinder zwar häufig nichts mitbekommen, die aber dennoch Einfluss auf die Spielmöglichkeiten haben. Zu denken ist beispielsweise an die konzeptionelle Arbeit, die Finanzierung sowie die Öffentlichkeitsarbeit. Das gesamte Geschehen ist durchaus eingebettet in ein Makrosystem, also in ein System kultureller und gesellschaftlicher Werte und Normen. Jede dort angebotene Tätigkeit offenbart solche Wertvorstellung und Verhaltensregeln. Ein besonderes gutes Beispiel ist hier der Hüttenbaubereich, der im Grunde nach typischen Spielregeln abläuft und viele Abstimmungsprozesse und Kompromisse erfordert (vgl. beispielsweise Dillenburger 1975, S. 135 ff.). So müssen Kinder, die eine Hütte bauen, sich in ein Grundbuch eintragen lassen, die Parzellen müssen verteilt und verwaltet werden, neue Nägel gibt es nur, wenn alte Nägel gesammelt und abgegeben werden, usw. Zudem finden sowohl im Alltag, bei den vielfältigen Abstimmungsprozessen, als auch in entsprechenden Settings, etwa im Rahmen von Versammlungen, stets demokratische Bildungsprozesse statt (vgl. Dillenburger 1975, S. 137 und 158 ff.). Die entsprechenden „ökologischen Übergänge“ zwischen diesen Systemen sollten also in der pädagogischen Arbeit der Fachkräfte ebenfalls mitbedacht werden, um den Kindern ein „sukzessives“ Erschließen verschiedener Systeme und damit eine Erweiterung ihres Erfahrungshorizonts zu ermöglichen. Der konsequente Einbezug bzw. die Beteiligung der Kinder, auch an Entscheidungen, die den Platz als solchen betreffen, sind also dringend zu empfehlen.
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Alles in allem erfüllen pädagogisch betreute Spielplätze als non-formaler und informeller Bildungsort vielfältige Aufgaben, die sich wiederum den in Abschn. 2.3 beschriebenen Kompetenzbereichen hervorragend zuordnen lassen: 1. Kulturelle und instrumentelle Kompetenzen: Aufgrund der Anregungen zu Bautätigkeiten und Naturgestaltung wird physikalisch-technisches Wissen erworben sowie handwerkliches Geschick geschult. Dieser Kompetenzerwerb kann sowohl im Rahmen eines non-formalen Bildungsangebots, etwa in den Werkstätten oder in einem Workshop, erfolgen, aber auch in Form von informellen Bildungsprozessen, etwa während des Bauens im Hüttenbaubereich oder an einem Wasserlauf. Die Kinder beschäftigen sich mit Konstruktionsherausforderungen, lernen verschiedene handwerkliche Tätigkeiten kennen und verstehen die Wirkungsweise von physikalischen Gesetzen. Die vorgefundenen Möglichkeiten unterstützen darüber hinaus ein fundiertes Verständnis für Natur und Biologie, insbesondere im Hinblick auf ökologische Kreisläufe, und verhelfen damit zu einem breiteren Wissen über Naturmaterialien, Tiere und Pflanzen. Somit tragen Aktiv- und Abenteuerspielplätze sowie Jugendfarmen auch zur naturkundlichen und ökologischen Bildung bei. Im besten Falle unterstützen diese Spielplätze auch ein Bewusstsein für einen nachhaltigen Umgang mit der Umwelt und ökologischen Systemen. (vgl. dazu auch die Ausführungen in von Spiegel 1997, S. 194 ff. sowie Lange 2007a; Tietjen 2007; Fromme 1984, S. 319) 2. Soziale Kompetenzen: Pädagogisch betreut Spielplätze sind in der Regel attraktiv, sodass sich dort immer genügend Kinder finden, mit denen gespielt, gebastelt, gebaut oder anderweitig interagiert werden kann. Aufgrund der dort anfallenden Herausforderungen lernen die Kinder in Teams zu arbeiten und sich mit anderen Kindern zu arrangieren. Aus diesem Grunde sind pädagogisch betreute Spielplätze Räume für soziale Erfahrungen und bieten ein großes Repertoire an Möglichkeiten zum Erwerb sozialer Kompetenzen. Neben sozialen Kompetenzen spielt in diesem Kontext aber auch die Vermittlung ethischer Wertvorstellungen eine wichtige Rolle, etwa im Umgang mit Tieren oder Lebensmitteln (vgl. Lange 2007a, S. 9; Fromme 1984, S. 319). 3. Personale Kompetenzen: Aufgrund der vielfältigen Betätigungsmöglichkeiten ist die Palette an zu erwerbenden personalen Kompetenzen hoch. Verantwortungsbewusstsein eignen sich Kinder beispielsweise sowohl im Hüttenbauchbereich als auch in den vielfältigen Gruppenspielsettings an. Eine besondere Bedeutung hat hierbei jedoch der Tierbereich (Tietjen 2007). Daneben eröffnen die vielen handwerklichen Betätigungsmöglichkeiten ein Erfahrungsfeld für Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz.
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Auch erlebnispädagogische Bezüge können helfen, entsprechende personale Kompetenzen zu stärken, weil die oftmals „riskant“ wirkenden Kletter-, Balancier- und Bewegungsangebote den Kindern abenteuerliche Situationen und ganzheitliche Erfahrungen ermöglichen und zur Überwindung eigener Grenzen anregen (vgl. hierzu auch die Ausführungen in von Spiegel 1997, S. 109 ff.). 4. Motorische Fähigkeiten und Gesundheitsförderung: Letztendlich werden aber auch motorische Fähigkeiten geschult, etwa in non-formalen Werk- oder Bewegungsangeboten, aber auch in informellen Settings, etwa beim Erkunden des Areals, beim Balancieren oder beim Hantieren mit verschiedenen Materialien. Abenteuerspielplätze tragen zudem allgemein zur Gesundheitsförderung bei (vgl. Deimel 2010, 2013b; Fromme 1984, S. 319). Abschließend sollte jedoch auch in kritisch-reflexiver Absicht auf aktuelle Entwicklungen hingewiesen werden. Die pädagogisch betreuten Spielplätze haben sich in den letzten Jahren in zweierlei Hinsicht stark gewandelt. Zum einen erforderte der Ausbau der Ganztagesschule eine zunehmende Orientierung an Kooperationsprojekten, da viele Kinder nicht mehr zu den üblichen Öffnungszeiten die Plätze besuchen können. In Form von Schulkooperationen nutzen hingegen verstärkt Schulklassen den Spielplatz, auch als Ergänzung zum klassischen Unterricht. Ein Verlust der Freiwilligkeit und Offenheit, genauso wie die Gefahr der Vereinnahmung durch die Schule sind hier zu befürchten; entsprechend ist eine kooperative Konzeptentwicklung und Verständigung auf einen ganzheitlichen Bildungsbegriff zu empfehlen (vgl. Ginsberg 2007). Zum zweiten haben sich zunehmend feste Programm- und Angebotsstrukturen etabliert, über deren Ursache nur spekuliert werden kann. Vermutet werden kann, dass mit solchen Angebotsstrukturen dem Betreuungsbedarf berufstätiger Eltern besser entsprochen werden kann, oder aber, dass diese Entwicklung eine Reaktion auf kommerzialisierte Angebote für Kinder (etwa Freizeitparks, Indoor-Spielplätze) ist. In jedem Fall würde damit auch die Gefahr eines Verlusts der ursprünglichen Idee eines möglichst offenen und unstrukturierten Aneignungsraums drohen (vgl. Thole 2000, S. 120).
5 Spielmobile Die Spielmobilbewegung entwickelte sich in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ähnlich rasant und aus den gleichen Gründen wie auch die pädagogisch betreuten Spielplätze (siehe Abschn. 4). Ende der 60er-Jahre und
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Anfang der 70er-Jahre wurden die ersten Spielmobile in den Großstädten Berlin, Köln und München gegründet. Einen Höhepunkt erreichte die Gründungswelle dann 1979 mit dem „Jahr des Kindes“ (vgl. Deimel 2005, 396; Deimel 2013a, S. 753). Bereits zu Beginn der 90er Jahre konnten dann etwa 400 Spielmobile in Westdeutschland gezählt werden (vgl. von Spiegel 1997, S. 14). Spielmobilkonzepte mit der Bezeichnung „Spielwagen“ (Thole 200, S. 136) entwickelten sich Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre auch in der ehemaligen DDR, hier vor allem in den Großstädten. Sie wurden ebenso getragen von pädagogischen und künstlerischen Initiativen, allerdings gestaltete sich dort aufgrund fehlender Fahrzeuge der Transport der Spielgeräte deutlich schwieriger. Daneben sahen sich diese Initiativen immer auch einer ideologischen Erziehungsvorstellung und rigiden Sicherheitsbelangen ausgesetzt. (vgl. von Spiegel 1997, S. 15) Aktuell gibt es in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor etwa 400 Spielmobile (vgl. Deimel 2013a, S. 753), auf der Homepage der Bundesarbeitsgemeinschaft Spielmobile e. V. wird für 2018 von einer Gesamtzahl von über 350 Spielmobilen ausgegangen (https://spielmobile.de). Spielmobile gibt es zudem in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern, etwa in England, Frankreich, den Niederlanden, Italien, Luxemburg, Österreich, Polen, Rumänien, Schweiz sowie in Nordamerika, Australien und Asien. Spielmobile sind, wie der Name schon sagt, mobile Spielaktionen. Sie sind „eine bewegliche Einheit aus Materialien, Ideen und Personen, die an verschiedenen Orten für verschiedene Zielgruppen und zu unterschiedlichen Anlässen erweiterte Spiel- und Erfahrungsmöglichkeiten einerseits in die alltägliche Umwelt bringt und andererseits neue, Kindern bisher unbekannte und unzugängliche Räume, Bereiche und Tätigkeiten erschließt.“ (Zacharias 1981 zitiert in von Spiegel 1997, S. 52; Hervorhebung im Original). Die Grundidee des Spielmobils lässt sich dabei sehr gut mit den beiden Begriffen „Spiel“ und „Mobil“ erklären: Im pädagogischen Verständnis des Spielmobils geht es dabei vor allem um das aktive und freie Spiel. Um ein exploratives Spielverhalten zu unterstützen, müssen dem Kind verschiedene Materialien und Anregungen zur Verfügung gestellt werden, aus denen es auswählen kann. Der Begriff „Mobil“ beinhaltet darüber hinaus die Notwendigkeit, dass Spielmaterialien mobil sein müssen, damit sie Kindern überall zur Verfügung stehen, d. h. dass Kinder dort spielen können, wo sie leben, wo ihr Alltag stattfindet, auch an Plätzen, die sich normalerweise nicht zum Spielen eigenen. Im Zentrum dieses Mobilitätsgedankens steht das unmittelbare Wohnumfeld der Kinder als Lebensraum und Spielfläche. Spielmöglichkeiten „mobil“ zu machen, bedeutet aber auch, die Spielangebote auf die Interessen und Bedürfnisse der Kinder sowie auf deren
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Lebenssituation stets aufs Neue abzustimmen, d. h. eine inhaltliche, örtliche und zeitliche Flexibilität und Offenheit zu gewährleisten: • Örtliche Flexibilität: Spielmobile sind in der Lage, (fast) überall Spielangebote zu erbringen. Auf nahezu allen öffentlichen Plätzen können Spielflächen entstehen. Auch ist es möglich, sich an wechselnde Aktionsorte von Kindern anzupassen. • Inhaltliche Flexibilität: Spielmobilangebote ermöglichen es, die Themen stets an die wechselnden Interessen, Bedürfnisse und spontanen Ideen der Kinder anzupassen oder sich auf unterschiedliche Zielgruppen und Altersstufen einzulassen. Besonders relevant ist es daher, dass die Kinder von Anfang an das Spielmilieu mitgestalten und an der Planung beteiligt sind. • Zeitliche Flexibilität: Spielmobilarbeit hat keine vorgegebenen Zeiten und kann sich flexibel sowohl an Jahreszeiten als auch an Tageszeiten anpassen. Zudem gibt es die Möglichkeit, langfristige sowie kurzfristige Projekte anzubieten. Spielmobile sind daher eine Art „mobile Kurzzeitpädagogik“ (Stuttgarter Jugendhaus e. V. o. J.), d. h. „sie bieten zeitlich befristete, örtlich wechselnde, für alle Kinder ‚offene‘ Spielprojekte an, die sich aus einer Wechselwirkung der drei Komponenten Ort, Form und Inhalt ergeben“. Demnach kann jeder Platz zu jeder Zeit bespielt werden und zentrale Elemente der Spielmobilarbeit sind die Elemente „Ortsungebundenheit, Kurzfristigkeit, Ereignishaftigkeit und Beweglichkeit“, die dem Spielmobil die Chance geben, „einen Gegensatz zur a lltäglich-üblichen, standardisierten Organisation von Pädagogik zu bilden. Der geplant-verplante Kinderalltag braucht das Spielmobil als spontane, unsystematisiert-anregende Alternative in der lebensweltlichen Routine. Die Mobilität, die dauernde Aktualisierung der Spielräume ist dazu der Schlüssel“ (vgl. ebd., S. 18 f.). Dem Charakter der „Kurzzeitpädagogik“ entsprechend sind Spielmobile normalerweise nicht längerfristig an einem Ort. In der Regel sind Spielmobile entweder an festen Wochentagen an bestimmten Stellen, oder eine Woche an ein und demselben Platz (vgl. Deimel 2005, S. 397; Deimel 2013a, S. 754). Insgesamt zeichnet sich die „Spielmobilszene“ in Deutschland durch eine große Vielfalt an Konzepten, Aktionsorten und Aktivitäten aus (vgl. Deimel 2013a, S. 753). Unterschieden werden können grob drei verschiedene konzeptionelle Ausrichtungen (vgl. von Spiegel 1997, S. 52 f.; ähnlich auch Deimel 2013a, S. 754 f.): 1) Ein eher sozialpädagogisch ausgerichtetes Spielmobilkonzept, bei dem es vor allem um eine regelmäßige Versorgung von
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Spiel- und Aneignungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Stadtvierteln oder Gemeinden geht; hierbei steht die Kompensation von fehlenden Angeboten und Aktionsräumen für Kinder im Vordergrund. 2) Kulturpädagogisch ausgerichtete Spielmobile, die eher projektorientiert bzw. sporadisch und häufig thematisch festgelegte Aktionen in bestimmten Stadtvierteln oder Gemeinden anbieten; diese Aktionen verstehen sich eher als Ergänzung bestehender Angebote oder wollen bestehende Aktionsräume und Flächen in verändernder Absicht bespielen. 3) Mobile Spielaktionen als Element einer hinausreichenden Arbeit von Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit zielen darauf ab, die Arbeit der jeweiligen Einrichtung in den umliegenden Sozialraum zu verlagern, um so auch Kinder zu erreichen, die von herkömmlichen Angeboten innerhalb der Jugendeinrichtung nicht angesprochen oder erreicht werden. Neben diesen Unterschieden in der konzeptionellen Ausrichtung kann die Spielmobilarbeit auch hinsichtlich der Einsatzmöglichkeiten systematisiert werden. Zu unterscheiden sind 1) Spielmobile als mobiler Spielplatz: Hierbei werden Spielgeräte zu bestimmten Orten gebracht und können von den Kindern dort frei genutzt werden. Solche Orte sind in der Regel Plätze des öffentlichen Lebens, wie Spielplätze oder andere Freiflächen, Spielstraßen (sofern diese für eine Aktion zur Verfügung stehen), Parkanlagen oder Schulhöfe (vgl. Deimel 2013a, S. 753; Thole 2000, S. 136). Daneben kommen aber auch Wiesen, Sportplätze, Fußgängerzonen, ja sogar Schwimmbäder, oder öffentliche Gebäude wie Museen, Turnhallen, Bibliotheken, Kindergärten oder die Volkshochschule in Frage. Neben den „typischen“ Spielgeräten der Spielmobilarbeit (z. B. Bewegungsspielzeuge) werden häufig auch Materialien zur Verfügung gestellt, mit denen die Kinder künstlerisch oder handwerklich tätig sein können (in der Regel einfache Materialien wie Holz, Blechdosen, Kartons usw.). 2) Spielmobile als mobiles Programmangebot: In manchen Fällen wird die Spielmobilarbeit im Rahmen spezieller Veranstaltungen als Programmangebot bzw. als zeitlich befristetes Projekt angeboten (kritisch dazu Deimel 2013a, S. 754), z. B. als Teil des Kinderangebots bei Stadtteilfesten, als Wahlangebot bei Projekttagen, bei Schulfeiern, oder als Ferienangebot. Hierbei spielen häufig auch thematische Schwerpunkte einer kulturpädagogisch ausgerichteten Spielmobilarbeit eine wichtige Rolle (Kinderkulturtage, Theater- und Zirkusarbeit, Leben im Mittelalter, usw.). 3) Spielmobile als schulergänzendes Angebot: In der Regel finden diese Angebote dann in der Schule statt, etwa auf den Pausenhöfen (diese Entwicklung wird mitunter kritisch beäugt, da hier die Spielmobilarbeit als „Pausenfüller“ dienen könnte). Es ist aber auch denkbar, dass Schulklassen das Spielmobil auf Plätzen außerhalb der Schule aufsuchen. Thematisch erstrecken sich die Einsatzmöglichkeiten von Spielaktionen in den Pausen bis hin zu
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mehr oder weniger regelmäßig stattfindenden Programmangeboten, z. B. im Rahmen des Ganztagesbetriebs. 4) Spielgeräteverleih und Beratung: Neben all diesen Einsatzmöglichkeiten offerieren manche Spielmobilangebote auch einen Beratungsservice und Spielgeräteverleihservice. So können sich Vereine, Schulen, Kindertageseinrichtung, aber auch Privatpersonen Spielgeräte sowie Materialien ausleihen, z. B. um selbst entsprechende Angebote machen zu können. Zusätzlich oder ergänzend bieten manche Spielmobile auch Beratung zu den Einsatzmöglichkeiten von Spielgeräten und/oder zur Organisation von Aktivitäten an. Entsprechend dieser Vielfalt an Konzeptionen und Einsatzmöglichkeiten lässt sich auch eine fast nicht zu überschauende Vielfalt an Fahrzeugen und Spielgeräten finden. Eine (nicht erschöpfende) Liste an Fahrzeugen erstreckt sich vom „‚Bauchladen‘ bzw. Bollerwagen, über Velo-Mobile, PKW mit oder ohne Anhänger, Bauwagen, Kleintransporter wie Kleinbusse und diverse LKW-Typen bis hin zu ausgebauten Tiefladern und umfunktionierten Linienbussen“ (Deimel 2013a, S. 754). Die genutzten Fahrzeuge dienen im Fall größerer Fahrzeuge nicht nur dem Transport, sondern sind oft selbst bespielbar (vgl. ebd.). Spielgeräte wiederum können beispielsweise sein: Bewegungsspielzeuge, Rutschen und Klettergeräte, Matratzen, Wasserspielgeräte, Sportgeräte und -zubehör, Gesellschafts- und Gruppenspiele, Holz, Baumaterialien und Werkzeuge, Werkund Gestaltungsmaterialien, Künstlerbedarf für großflächige Angebote oder spezielle Spielgeräte wie Fallschirme, Stelzen, Slacklines usw. Dabei wurden einige Spielgeräte erst im Rahmen der Spielmobilbewegung entwickelt (z. B. die bekannten „Pedalos“). Die mithilfe dieser Spielgerätschaften durchführbaren Aktivitäten erstrecken sich von einfachen Spielen über künstlerische Aktivitäten bis hin zu sportlichen und erlebnispädagogischen Angeboten (z. B. Klettern) oder Theater und Akrobatik. Die Spielmobilarbeit bezieht ihr Selbstverständnis wiederum entsprechend der Vielfalt an Konzeptionen, Einsatzmöglichkeiten, Fahrzeugen und Spielmaterialien aus unterschiedlichen theoretischen Zugängen, etwa der Sozialpädagogik, der Spielpädagogik, oder der Medien- und Kulturpädagogik. So kann ebenso eine Bildungsfunktion wie auch die Gesundheitsförderung betont werden (vgl. Deimel 2013a). Es finden sich aber auch medienpädagogische Angebote in der Spielmobilarbeit, etwa die Produktion von Audio-, Bild- oder Filmmaterial. Daneben können aber auch Gewaltprävention oder auch generationenübergreifende Begegnungen eine Rolle spielen. Die Idee der Spielmobilarbeit kann besonders gut mit den oben beschriebenen Trends moderner Kindheit in Verbindung gebracht werden, vor allem mit dem Trend zur Verhäußlichung, Verinselung und mit dem Verlust an kindgerechten Aktionsräumen, zu denen Spielmobile eine Art Gegengewicht d arstellen wollen.
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Die Spielmöglichkeiten sollen zu den Kindern gebracht werden und nicht die Kinder zu den Spielflächen. Ziel dieses pädagogischen Angebots ist es daher, Kindern (neue) Spielmöglichkeiten und Aneignungschancen in vor allem urbanisierten Räumen zu eröffnen. Dabei soll bewusst auch der Spielort „Straße“ erschlossen werden, d. h. es wird versucht, explizit auch die Möglichkeiten städtischer Lebensräume zu nutzen und damit auch ein Zeichen zu setzen. So schreibt Zacharias Anfang der 80er Jahre: „Neben durchaus unterschiedlichen Detailzielen geht es allen Spielmobilen darum, die Ghettoisierung der Kinder in dieser Gesellschaft, in der Umwelt wieder aufzuheben, die Stadt als offenen Spielraum wiederzugewinnen und ein Spielmilieu für alle anzubieten, (…). Spielmobile wollen zeitweise eine echte und aktionsorientierte ‚Kinderöffentlichkeit‘ herstellen, die auch Demonstrationscharakter und Wirkungen in Richtung Erwachsene und Institutionen haben soll.“ (Zacharias 1981 zitiert in von Spiegel 1997, S. 52)
Darüber hinaus steht die Spielmobilarbeit in direkter Verbindung mit dem Aneignungskonzept. Wie bereits mehrfach erwähnt, eignen sich Kinder ihre Umwelt aktiv im Spiel an und Spielmobile bieten sozusagen Auseinandersetzungs- und Aneignungsmöglichkeiten dort an, wo diese fehlen, oder sie setzen neue Impulse auf bestehenden Aktionsräumen und Spielflächen (vgl. Deimel 2013a). In diesem Zusammenhang erschließen Spielmobile insbesondere Möglichkeiten der Raumaneignung in Räumen, die ansonsten von Kindern nicht oder nur selten bespielt werden. Damit unterstützen Spielmobile sowohl die kreative Auseinandersetzung der Kinder mit dem öffentlichen Raum als auch das (Um-)Deuten von dort befindlichen Gegenständen, Rollenanforderungen und Situationen. Spielmobilarbeit kann hier insbesondere als Aneignungshilfe in Bezug auf den öffentlichen Raum oder auch funktionalisierter Räume interpretiert werden, sodass die dort spielenden Kinder ganz „nebenbei“ auch die Bedeutung und Funktion solcher Sozialräume als Treff- und Kommunikationsräume und damit einhergehend auch als (kommunal) politische Öffentlichkeit kennen lernen. Bezüge zum sozialökologischen Ansatz im Rückgriff auf die Theorie Bronfenbrenners und die Weiterentwicklung durch Baacke lassen sich insbesondere im Hinblick auf die Mobilität des Konzepts finden. So ist es das ureigene Anliegen der Spielmobilarbeit die Spielaktionen dort hin zu bringen, wo die Kinder leben und eventuell entsprechende Spielmöglichkeiten fehlen. Damit versuchen Spielmobile direkt im Mesosystem bzw. im ökologischen Nahraum der Kinder aktiv zu werden. Aufgrund ihrer Mobilität ermöglichen sie den Kindern in einem bestimmten Sozialraum, die Spielmöglichkeiten in unmittelbarer räumlicher Nähe zu nutzen. Baackes ökologische
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Ausschnitte wären dann relevant, wenn die Spielmobile beispielsweise in funktionalisierten Räumen, z. B. in Schulen, Museen, Bibliotheken oder Bädern präsent sind. Somit ermöglichen Spielmobile auch das Erobern solcher Räume mit neuen Herausforderungen und Rollenanforderungen. Eine gewisse Parallele ließe sich hier dann auch zum Exosystem bei Bronfenbrenner ziehen, da Spielmobile auch in Settings interagieren können, die den Kindern im Normalfall „verborgen“ bleiben. Insgesamt sind diese Aktionen auch eingebettet in das Makrosystem, indem Kindern die Möglichkeit gegeben wird, sich im Rahmen von Spieleaktionen kulturelle Werte und Normen anzueignen. Bezogen auf Bildungsprozesse ist das Spielmobil zwar ein non-formales Bildungsangebot, in den verschiedenen Aktionen und Spielsituationen laufen aber vielfältige informelle Bildungsprozesse ab. Folgende Fähigkeiten und Kompetenzen können mithilfe von Spielmobilarbeit gefördert werden (vgl. dazu insbesondere Deimel 2005, 2013a, von Spiegel 1997): 1. Kulturelle und instrumentelle Kompetenzen: Verschiedene Aktivitäten im Rahmen der Spielmobilarbeit beziehen sich auf (allgemein)bildungsrelevante Aspekte. So ermöglichen Plan- und Rollenspiele beispielsweise die Aneignung von Wissen über verschiedene Themenbereiche, etwa historische, naturwissenschaftliche oder geografische Themen (z. B. „Weltraumflug“, „Leben wie die Römer“ oder die „Reise um die Welt”). Insbesondere die kulturpädagogisch ausgerichtete Spielmobilarbeit führt ihre Aktionen häufig unter einem bestimmten Motto durch. Hierbei lernen Kinder spielerisch verschiedene Wissensgebiete kennen. Kunst- oder Theateraktionen können darüber hinaus das Interesse an der kulturellen Bildung wecken. 2. Soziale Kompetenzen: Spielmobilarbeit setzt auf Gruppengeschehen und häufig auch auf das gemeinsame Lösen einer Aufgabe. Hierbei lernen die Kinder, im Team zu arbeiten oder sich mit anderen zu arrangieren bzw. Konflikte auszutragen. Zudem können Erfahrungen mit Gleichaltrigen geteilt und ausgetauscht werden, was wiederum die Aufgeschlossenheit und kommunikative Kompetenz der Kinder fördert. Letztendlich erleichtert die Offenheit des Ansatzes, die Vermeidung von Leistungsdruck und Vielfalt unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade bei den Spielmöglichkeiten inklusive Prozesse und den Abbau von Berührungsängsten und Vorurteilen. 3. Personale Kompetenzen: Spielmobilarbeit fördert vor allem auf Selbstwirksamkeitserfahrungen und Erfolgserlebnisse, die die Kinder im Rahmen vielfältiger Bewegungs- und Sportaktionen machen können. Im Rahmen von erlebnispädagogischen Spielen kann darüber hinaus das Verantwortungs- und Selbstbewusstsein gestärkt werden.
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4. Motorisches Geschick und Gesundheitsförderung: Insbesondere die für Spielmobilarbeit typischen Bewegungsspielzeuge tragen dazu bei, die Motorik der Kinder sowie deren Körpergefühl zu verbessern. Da die Aktionen draußen stattfinden, dienen Spielmobile ganz „nebenbei“ allgemein der Gesundheitsförderung. Neben diesen Zielen, die eher auf die Förderung der (individuellen) Entwicklung der Kinder setzen, beinhaltet die Spielmobilarbeit aber auch eine sozialräumlich ausgerichtete, anwaltschaftliche Komponente, eine Art „Lobbyfunktion“ für Kinder (vgl. Deimel 2005, 2013a; Baacke 2001; Stuttgarter Jugendhaus e. V. o. J.). In der Spielmobilarbeit geht es darum, einen Ausgleich für den Verlust an Spielmöglichkeiten und für das Zurückdrängen der Kinder aus dem öffentlichen Raum herzustellen. Ziel ist sowohl die „Verteidigung“ von Spielflächen als auch das Erschließen bisher ungenutzter Freiflächen oder das Bespielen von bisher wenig interessanten oder unattraktiven Plätzen. Durch das Inszenieren von Spielmöglichkeiten soll damit auch ein Zeichen gesetzt werden, dass Spielen tendenziell überall möglich ist. Daneben vertreten „SpielmobilerInnen“ stets auch offensiv die Interessen der Kinder (Recht der Kinder auf Spiel) gegenüber der Kommunalpolitik und Quartiers- und Stadtplanung bzw. Stadtentwicklung. Insofern sind sie auch in entsprechenden Gremien tätig oder anderweitig kommunalpolitisch aktiv. Im besten Falle tragen sie zu einer Vernetzung von Spielmöglichkeiten und zu einem Aufbau einer „Spiellandschaft Stadt“ bei (vgl. Thole 200, S. 137). Insgesamt geht es also nicht nur um Kompensation verloren gegangener Spielflächen, sondern auch um die Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern. Zusätzlich zu den kompensierenden Angeboten und der Lobbyarbeit sollen Kinder auch dazu animiert werden, aktiv eigene Ideen und Vorschläge einzubringen und die Aktionen/Aktivitäten mit zu gestalten. Insgesamt geht es darum, die Lebens- und Aktionsräume für Kinder im Wesentlichen (neu) zu „beleben“. Aus diesem Grunde ist Professionalität in der Spielmobilarbeit sehr wichtig, sodass vor allem PädagogInnen, LehrerInnen, ErzieherInnen oder SozialarbeiterInnen in diesem Arbeitsfeld tätig sind. Für eine hauptamtliche Tätigkeit als „SpielmobilerIn“ bzw. SpielmobilbetreuerIn wird manchmal auch eine Zusatzausbildung oder Fortbildung verlangt, in der spezielle Kenntnisse aus den Bereichen Sozialpädagogik, Spielpädagogik und/oder Kinderund Jugendkulturarbeit vermittelt werden. Die Aufgaben der hauptamtlich tätigen MitarbeiterInnen sind vielfältig und umfassen sämtliche Bereiche, die die Offene Arbeit mit Kindern ausmachen (vgl. Stuttgarter Jugendhaus e. V. o. J.; Deimel 2013a, S. 757), etwa Organisation, Planung, Gestaltung, Motivieren, Animation, AnsprechpartnerIn für die Belange der Kinder sein, die Vernetzung mit anderen
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sozialen Einrichtungen, Elternarbeit, die Vermittlung zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt sowie Einmischung und Vertretung der Interessen der Kinder in kommunalpolitischen Belangen. Ähnlich wie bereits bei den pädagogisch betreuten Spielplätzen herausgearbeitet wurde, beziehen sich auch im Falle des Spielmobils die kritischen Überlegungen auf die Gefahr einer Vereinnahmung durch die Schule (z. B. Unterstützung des Ganztagesangebots) sowie auf die Wahrnehmung des Spielmobils als „reine“ Betreuungsmöglichkeit für Kinder, etwa als Ferienprogramm. In beiden Fällen droht längerfristig das Risiko, dass die Grundidee der Spielmobilarbeit ad absurdum geführt wird und insbesondere die wichtige Lobbyfunktion für die Kinder verloren geht. Kritisch zu betrachten sind darüber hinaus kommerzielle Entwicklungen, etwa, wenn Spielmobile bei Privat-, Stadt- oder Firmenfeiern als Programmpunkt zur „Bespaßung“ von Kindern instrumentalisiert werden. In all diesen Fällen ist eine konsequente Orientierung an den Interessen und Bedürfnissen der Kinder sowie die anwaltschaftliche Funktion der Spielmobilarbeit stets hoch zu halten.
6 Die Kinder(spiel)stadt Die Kinderstadt oder auch Kinderspielstadt unterscheidet sich von anderen Handlungsfeldern der Offenen Arbeit mit Kindern durch ihren projektförmigen Charakter. Demnach findet sie in einem begrenzten Zeitrahmen statt, meist in den Schulferien. Es handelt sich dabei um ein Großprojekt, dessen Planung und Vorbereitung teilweise über Monate im Vorfeld laufen kann. Dabei spielt der Einbezug von Ehrenamtlichen eine bedeutsame Rolle, weil sonst ein solches Großprojekt im Grunde häufig gar nicht durchgeführt werden könnte. Zur Kinder(spiel)stadt lässt sich überraschenderweise nur relativ wenig wissenschaftlich fundierte Literatur finden, was diesem außerordentlich interessanten Handlungsfeld keineswegs gerecht wird. Das vermutlich wichtigste Grundlagenwerk zur Kinderstadt wurde Ende der 80er Jahre von den beiden Autoren Gerd Grüneisl und Wolfgang Zacharias (1989) geschrieben. Das Buch beginnt mit einer kurzen aber prägnanten Einführung: „Die Kinderstadt ist ein großes, aufregendes Spiel, in dem sich Leben und Arbeiten, Vergnügen und Lernen, Politik und Kultur, Kinderstadt und Stadt vielfältig verweben.“ (ebd., S. 2, ebenso Einband)
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Kinder(spiel)städte entwickelten sich in den 80er Jahren als Alternative zu herkömmlichen Ferienbetreuungsmodellen. Eine der „ältesten“ und zugleich größten Kinderspielstädte ist „Mini-München“, deren Tradition auf das Jahr 1979 zurückgeht. Bereits damals wird von etwa 2000 teilnehmenden Kindern pro Tag berichtet (vgl. Grüneisl/Zacharias 1989, S. 14), nach Informationen auf der Homepage www.mini-muenchen.info (Stand 2018) nahmen in den letzten Jahren stets etwa 2500 Kinder täglich teil; über die gesamte Dauer (15 Tage) wurde das Angebot im Jahr 2017 von über 30.000 Kindern genutzt. Kinder(spiel)städte gibt es mittlerweile auf der ganzen Welt. Auf der Internetseite www.kinderspielstädte.com werden über 50 Spielstädte in Deutschland und dem europäischen und außereuropäischen Ausland aufgelistet. Auf der Homepage www.mini-muenchen. info findet sich eine weitere stattliche Liste mit knapp 40 Spielstädten in Deutschland und über 30 Kinderstädten im Ausland (vor allem in Japan). Besonders eindrucksvoll geschildert wird das Geschehen in einer solchen Spielstadt in einem eigens produzierten Film (unter: http://kinderspielstadt-deutschland.de/). Im Grundsatz imitieren Spielstädte echte Städte, in denen sich vielfältige Betriebe und Wirtschaftszweige finden lassen. Dort arbeiten die Kinder in verschiedenen Berufen. Die Palette erstreckt sich von Handwerks- und Produktionsbetrieben, über landwirtschaftlich ausgerichtete Betriebe, bis hin zur Dienstleistungs-, Finanz- und Medienindustrie (z. B. Friseursalons, Fitnessstudios, Nagelstudios, Banken, Radio- oder Pressestationen, usw.). Neben dem Wirtschaftssektor finden sich in Kinderspielstädten sämtliche Verwaltungsund Versorgungsstrukturen, die es auch in echten Städten gibt, z. B. Rathäuser, Finanzämter, Arbeitsagenturen, Müllabfuhr, Gastronomie, Post, usw. Zuletzt gibt es in vielen Kinderspielstädten auch noch Bildungs- und Kulturinstitutionen, etwa Kinderuniversitäten, Museen und Theater. Grüneisl (2014, o. S.) beschreibt das Geschehen in einer Kinderspielstadt äußerst treffend: „Die Spielstadt ist ein modellhaftes Abbild der großen Erwachsenenstadt, in der das echte Stadt-Leben die Themen vorgibt. Arbeiten und Studieren, am öffentlichen Leben teilnehmen, Geld verdienen, konsumieren und Dienstleistungen in Anspruch nehmen – die inszenierte Welt der Spielstadt gibt den Kindern die Möglichkeit, probeweise im Spiel, aber in ernst genommenen Rollen und Funktionen Stadt zu spielen, zu erleben und durch eigene Erfahrungsproduktion zu durchschauen. In der Spielstadt treffen die Kinder auf eine Vielzahl von Einrichtungen und Ereignissen, die sie aus der richtigen Stadt kennen, von denen sie dort aber normalerweise ausgegrenzt bleiben und die sie nur als Zuschauer oder Geduldete, wenn nicht gar als Erleidende, mitbekommen. Hier in der Spielstadt sind die Kinder die Macher, schlüpfen in verschiedene Berufsrollen, bilden Öffentlichkeit, formulieren Meinungen, Urteile, betreiben Verwaltung und bestimmen die Politik. (…). Die Bank, das Arbeitsamt, das Rathaus, die Zeitung, das Fernsehstudio, das G asthaus,
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die Müllabfuhr, das Theater, die Hochschule, die Werkstätten, usw. werden in der Wahrnehmung der Kinder durch ihre je spezifische Ausstattung unmittelbar identifizierbar. (…). Auf diese Weise erfolgt Lernen (…) nicht als vereinfachter, je isolierter Wissenserwerb, sondern im Kontext sozialer Interaktionssituationen. (…) insofern kann auch mit gutem Grund von einer ästhetischen Annäherung an die Wirklichkeit gesprochen werden. Diese beruht nicht auf Belehrung, sondern formt sich als Vorgang einer aktiven, vitalen Aneignung der aktuellen Welt.“ (ebd.)
Besonders wichtig ist dabei auch die Erlebbarkeit der komplexen Verflechtungen. So beinhalten Spielstädte als Abbild der Erwachsenenwelt stets auch die interdependenten Zulieferungs-, Abnahme-, Finanz- und Dienstleistungsbeziehungen zwischen verschiedenen Systemen. Das Vorfinden all dieser Läden, Betriebe, Institutionen und Einrichtungen in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander, ermöglicht es Kindern, spielerisch Geld- und Wirtschaftskreisläufe, den Arbeitsmarkt, Kommunalpolitik, Steuerverwaltung, das Bildungs- und Kulturwesen sowie die vielfältigen Ausprägungen der Produktions-, Dienstleistungs- und Finanzindustrie kennen zu lernen und zu erleben (vgl. Burgstaller 2005, S. 12). Auch wenn Kinderspielstädte regional einige Unterschiede aufweisen, haben sie dennoch zentrale Gemeinsamkeiten. Das Spielkonzept wird mit möglichst geringen Gebühren oder auch kostenlos angeboten, damit Kinder aus allen Bevölkerungsschichten daran teilnehmen können. Eine der wichtigsten Besonderheiten ist, dass sich die beteiligten Kinder dort erst mal einen Beruf auswählen müssen, den sie dann häufig den ganzen Tag über auch ausüben sollten (Berufe können in der Regel aber täglich gewechselt werden). Bei der Vergabe von Berufen hilft die Arbeitsagentur, in der natürlich auch Kinder tätig sind. In ihren jeweiligen Berufen verdienen die Kinder dann auch Spielgeld, das sie wiederum in den vielen gastronomischen Betrieben oder Läden ausgeben oder es auf einer Bank anlegen können. In den meisten Fällen wird von dem „Gehalt“ jedoch auch ein kleiner Betrag als „Steuer“ abgezogen, sodass die Kinder auch diese Facette des Erwerbslebens kennenlernen. Neben der Berufswahl spielt die demokratische Bildung in allen Kinderspielstädten eine wichtige Rolle. So lassen sich in allen Kinderspielstädten entsprechende Gremien (Vollversammlungen, Kindergipfel) finden, die regelmäßig tagen. Hier werden Ideen, Herausforderungen, Veränderungswünsche usw. diskutiert. Weiterhin gibt es häufig „typische“ Institutionen der repräsentativen Demokratie, wie Gemeindeoder Stadträte sowie Bürgermeisterposten. Wie im „echten“ Leben finden dazu Wahlkampfaktivitäten statt und es werden letztlich die jeweiligen VertreterInnen in demokratischen Wahlen von den Kindern selbst gewählt. Eine besonders „amüsante“ Eigenheit, die im Grunde ebenfalls in fast jeder Kinderstadt gefunden werden kann, ist der Umgang mit den Eltern bzw. Erwachsenen. Diese müssen
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sich beispielsweise an ein „Elternamt“ wenden oder im „Elterngarten“ warten, wenn sie ihre Kinder abholen oder die Stadt besuchen wollen, d. h. sie dürfen die Kinderspielstadt nicht so einfach betreten bzw. nicht in das Geschehen eingreifen. Sollten Sie doch die Stadt aufsuchen wollen, brauchen sie dafür in der Regel einen „Besucherpass“ oder ein „Besuchervisum“ und werden von bestimmten, dafür ausgewählten Kindern, durch die Stadt geführt. Davon zu unterscheiden sind jedoch diejenigen Erwachsenen, die in die Planung, Gestaltung und Durchführung der Spielstadtaktionen haupt- oder ehrenamtlich involviert sind. Diese spielen eine durchaus wichtige Rolle im Gesamtzusammenhang der Kinderspielstadt, halten sich jedoch während des operativen Betriebs weitestgehend zurück. Unterstützend tätig werden die hauptamtlichen oder ehrenamtlichen Kräfte dann, wenn Kinder Anleitung benötigen (etwa im Kontext der vielen Berufe) oder Entscheidungen getroffen werden müssen. Die Eingriffe sollten jedoch stets non-direktiv erfolgen. Ansonsten sind diese Erwachsenen aber aufgefordert, einfach in ihren jeweiligen Rollen mitzuspielen (vgl. Burgstaller 2005, S. 19 ff.). Zentrales pädagogisches Leitprinzip der Kinderstadt ist nach Grüneisl (2014) das Vertrauen darauf, dass jedes Kind lernen will und der Vielfalt an Interessen, Bedürfnissen und Zeitrhythmen aber Rechnung getragen werden muss, indem unterschiedliche Zugänge geschaffen werden. Im Vordergrund steht dabei immer das selbsttätige, handelnde Lernen, welches wiederum in einem angstfreien Klima am besten gelingt. Das Konzept setzt auf inszenierte Offenheit, Spontaneität und Flexibilität, Partizipation, soziales Lernen und Kommunikation. Die von Grüneisl und Zacharias (1989) formulierten konzeptionellen Eckpfeiler politische Bildung, ästhetisch-kulturelle Bildung sowie Medienpädagogik gelten dabei auch heute noch. In diesem außerschulischen Bildungs- und Spielkonzept finden sich zudem verschiedene praktische und theoretische Ansätze wieder, die sich von rechtlichen Debatten (Kinderrechte), über Grundfragen der Demokratieerziehung und Kinderbeteiligung, bis hin zu sozial- und erziehungswissenschaftlichen Diskursen (Kindheitssoziologie, Spiel- und Sozialpädagogik, Freizeitpädagogik, Kinder- und Jugendkulturarbeit) erstrecken (vgl. Burgstaller 2005). In Anlehnung an Rousseau geht das Konzept der Kinderstadt insgesamt von einem Kind aus, „welches seine Erfüllung und Reife in sich selber trägt“ (Grüneisl/Zacharias 1989, S. 12). Als Gegenbewegung zu einer Institutionalisierung von Bildung und Erziehung und einer damit einhergehenden Ausgliederung von Kindern aus der Welt der Erwachsenen strebt dieses Konzept in „depädagogisierender“ Absicht ein selbsttätiges, spielerisches Lernen in einer simulierten „Welt der Erwachsenen“ an, die den Kindern vor allem Spaß machen soll. (vgl. ebd., S. 10 ff.). Dabei wird eine durchaus paradoxe Situation erzeugt: So soll das Spielstadtkonzept den Kindern ermöglichen, einen „Einblick“ in die Erwachsenenwelt
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zu bekommen, und damit auch Erfahrungen zu machen, die ihnen sonst verwehrt bleiben, die Erwachsenen sind jedoch selbst kaum beteiligt (vgl. Burgstaller 2005, S. 12). Kinder(spiel)städte sind insgesamt gesehen also pädagogisch betreute Aktionsräume, die im Grunde genommen das Leben und Arbeiten in einer richtigen Stadt simulieren. Von der Konzeption her setzt dieses Setting auf die Selbsttätigkeit der involvierten Kinder, daher entspricht dieses Handlungsfeld hochgradig den Grundideen des Aneignungskonzepts. Nach Gerd Grüneisl (2014, o. S.) steht dieses Spielkonzept in Kontrast zum formalisierten Lernen, weil es darauf baut, „… die Kinder selbst aktiv an der Produktion ihrer Lernprozesse zu beteiligen. (…) Kinder eignen sich, von Anfang an, die Welt umfassender an durch ein Lernen, das geprägt ist von unmittelbarem Erleben und dabei gespeicherten Erfahrungen, (…). Daraus resultiert die pädagogische Einsicht, dass zwischen Lebenswelt und Lernwelt Bezüge herzustellen sind, welche die Vermittlung und subjektive Wahrnehmung von Wissen in Relationen bringen mit den gesellschaftlichen Wirklichkeiten, in denen Kinder aufwachsen. (…). Die Brücke dazu ist die Anerkennung der Methode der Kinder, sich die Welt anzueignen, nämlich das Spiel. Damit lernen sie, erwerben Wissen und zugleich wird gewährleistet, dass sie sich auch in sozialer Hinsicht ihrer Welt versichern können.“ (ebd.)
In Anlehnung an die zentralen Aussagen des Aneignungskonzepts bei Leontjew (1973, S. 377 ff.) bietet das Spiels eben die Möglichkeit, in Bereichen handelnd tätig zu werden, die den Kindern sonst verwehrt sind. Die Spielstadt greift diese Idee idealtypisch auf, indem Kinder sich spielerisch als „Erwachsene“ fühlen können. Getreu nach dem Motto „Ich will das selbst machen“ (ebd., S. 378) können Kinder hier im Spiel die relevanten Tätigkeiten vollziehen, die auch im realen Leben, wenn auch in sehr viel komplizierterer Form, vorkommen. Dass die Spielstadt hierbei eine „echte“ Stadt so gut wie möglich imitiert, entspricht diesem Anliegen Leontjews (ebd., S. 382 f.), der betont, dass die „gespielten“ Handlungen so nah wie möglich an der Realität sein sollten. Neben dem Aneignungskonzept greifen die Autoren Grüneisl und Zacharias (1989, S. 51 f.) aber auch auf die sozial-ökologische Entwicklungstheorie von Urie Bronfenbrenner zurück. Für das Spielkonzept der Kinderstadt hat insbesondere die Wechselwirkung der verschiedenen Systeme, die Bronfenbrenner in seinem Modell verarbeitet, eine wichtige Bedeutung. So findet sich das Mikrosystem insbesondere in den direkten Interaktionen und Kommunikationsprozessen im „alltäglichen“ Geschehen der Kinderstadt wieder, d. h. in den jeweiligen Rollen und im Austausch zwischen verschiedenen Akteuren (z. B. in einem Betrieb, in der Arbeitsagentur, in der Bank, usw.). Das Mesosystem
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wird hingegen bestimmt durch die Gesamtorganisation und das jeweilige Regelwerk, in dem diese Interaktionen und Verflechtungen ablaufen. Im Exosystem finden sich schließlich die gesellschaftlichen, finanziellen und politischen Gegebenheiten wieder, die grundsätzlich den Rahmen zur Durchführung einer solchen Spielaktion setzen. Das Makrosystem wiederum bildet das dahinterliegende Wertefundament und die kulturellen Traditionen, in die sowohl die Kinder als auch die Projektdurchführenden eingebunden sind. Analog zur Grundidee Bronfenbrenners erschließen sich Kinder also auch im Setting Spielstadt sukzessive die verschiedenen Sphären des alltäglichen, modernen Lebens. Bezüge zum ökologischen Zonenmodell von Baacke sind hingegen ähnlich wie bei den pädagogisch betreuten Spielplätzen widersprüchlich. Aufgrund des projektförmigen Charakters der Spielstädte sind diese Settings zwar im ökologischen Nahraum oder in den ökologischen Ausschnitten angesiedelt, können von Kindern aber im Grunde genommen gar nicht regelmäßig aufgesucht bzw. genutzt werden. Das Zonenmodell hat jedoch während der Spielaktion eine Bedeutung. So können die Kinder während des Betriebs der Spielstadt umherstreifen oder lernen im Rahmen ihrer (beruflichen) Tätigkeiten verschiedene ökologische Ausschnitte und die vielfältigen Interdependenzen kennen. Wie gezeigt wurde, lassen sich also sowohl aneignungstheoretische Grundlagen als auch die Grundideen des sozialökologischen Ansatzes in diesem Handlungsfeld finden, sodass vielfältige Bildungswirkungen zu erwarten sind. Eine Verortung dieser Wirkungen im Kontext des in Abschn. 2.3 dargestellten Kompetenzmodells führt zu folgenden Schlussfolgerungen: 1. Kulturelle und instrumentelle Kompetenzen: Das Spielkonzept der Kinderstadt setzt ja gerade auf das aktive Entschlüsseln sozialer, ökonomischer und politischer Mechanismen der modernen Gesellschaft, sodass sich die Bildungswirkungen insbesondere auf diese Themen bezieht. Kinder lernen die Abläufe im Stadtleben kennen, verstehen Wirtschaftskreisläufe und eignen sich entsprechende kulturelle und instrumentelle Kompetenzen für ein Leben in der Gesellschaft an. Die Spielstadt bezieht aber insbesondere auch politische Bildung ein. Ganz „nebenbei“ üben sich die Kinder auch im Hinblick auf schulbezogene Anforderungen, etwa Schreiben, Lesen und Rechnen. Das Beschriften von Plakaten, das Rechnen mit und Kalkulieren von Geldbeträgen, das Verfassen von Werbetexten oder Wahlkampfmaterialien sind nur ein paar Beispiele dafür. Des Weiteren fördern die vielen handwerklichen und künstlerischen Betätigungsfelder auch den Erwerb von praktischen
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Kompetenzen und technischem Wissen im Umgang mit vielen Materialien. Letztendlich ermöglicht das Spielgeschehen sogar eine gewisse Berufsorientierung. 2. Soziale Kompetenzen: Das Spielgeschehen in einer Kinderspielstadt ist gekennzeichnet durch eine Vielfalt an Interaktions- und Kommunikationsbeziehungen. Es wird gehandelt, gekauft, verkauft, verhandelt, diskutiert, kooperiert, usw. Die Kinder lernen zudem, im Team zu arbeiten, sich mit verschiedenen Meinungen und Einstellungen auseinanderzusetzen, müssen häufig Kompromisse schließen und gemeinsam Entscheidungen treffen. Die Spielstadt ist daher ein exzellentes Setting für den Erwerb sozialer Kompetenzen. In einer zwanglosen Atmosphäre sind zudem Begegnungen unterschiedlicher Kinder möglich, sodass diese Spielaktion auch Prozesse der Integration und Inklusion fördern kann. 3. Personale Kompetenzen: Ja nach Tätigkeit, die ein Kind in der Spielstadt ausübt, werden verschiedene personale Kompetenzen gefördert. In künstlerisch-kreativen Settings können Kinder z. B. ästhetisch-expressive Erfahrungen sammeln. In anderen Bereichen stehen hingegen wieder andere Erfahrungen im Vordergrund. Die Wahl und Ausübung von Berufen fördert Verantwortungsbewusstsein, Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz. Kritisch zu reflektieren sind einige aktuelle Entwicklungen von Kinderspielstädten. So wandelten sich seit einigen Jahren insbesondere die größeren Spielstädte zu wahren Ferienspektakeln, die eher Erlebnis- und Freizeitparks ähneln als pädagogisch betreuten Settings. Zweitens ist eine Teilnahme an Kinderspielstädten häufig kostenpflichtig, was gegen das Prinzip der Offenheit verstößt und potenziell Kinder aus materiell schlechter gestellten Familien ausschließt. Diese Problematik wird jedoch oft dadurch umgangen, dass es besondere Zuschuss-, Ermäßigungs- oder auch kostenneutrale Modelle gibt. Damit in Zusammenhang steht ein dritter Aspekt, der kritisch reflektiert werden muss. Aus Kostengründen spielt das Sponsoring von häufig lokalen Unternehmen und Betrieben eine große Rolle, sodass sich auch kommerzielle Züge und entsprechende Werbestrategien erkennen lassen. Zuletzt sollte kritisch reflektiert werden, wie sich die hochgelobte Partizipation der Kinder in der Realität der Kinderstädte darstellt. So sind zwar während der Durchführung der Kinderspielstädte vielfältige Partizipationsmöglichkeiten gegeben, in die Planung und Vorbereitung der Kinderspielstädte selbst sind die Kinder jedoch meist nicht einbezogen.
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7 Exkurs: Kinder in offenen Jugendeinrichtungen und in der Mobilen Jugendarbeit Neben den drei oben beschriebenen idealtypischen Handlungsfeldern der Offenen Arbeit mit Kindern, die ausschließlich für die Lebensphase der mittleren und späten Kindheit entwickelt wurden, findet eine offene, sozialpädagogische Arbeit mit Kindern auch in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit sowie in der aufsuchenden Straßensozialarbeit bzw. Mobilen Jugendarbeit statt. Hierbei handelt es sich jedoch meist, vereinfacht gesprochen, eher um eine „Anpassung“ an die zunehmende Nachfrage von Kindern an offenen Angeboten und weniger um eigens für diese Lebensphase entwickelte und konzeptionell begründete Handlungsfelder. Der Vollständigkeit halber werden in diesem abschließenden Kapitel dennoch einige relevante Entwicklungen kurz dargestellt.
7.1 Offene Arbeit mit Kindern in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit Zur Offenen Arbeit mit Kindern in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit liegen kaum gesicherte Daten vor. Die Bedeutung dieser Zielgruppe in der Offenen Jugendarbeit steigt jedoch kontinuierlich. Bereits zu Beginn der 90er Jahren gaben 90 % der Offenen Jugendeinrichtungen an, auch (spezielle) Angebote für Kinder zu haben. Kinder unter 14 Jahren machten zudem bereits damals etwa 40 % der Besucherschaft aus (vgl. von Spiegel 1997, S. 14). Böhnisch (2008, S. 132) beziffert den Anteil der unter 14-Jährigen in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit auf etwa 50 %. Schmidt (2011) benennt in Anlehnung an die Strukturdatenanalyse der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Nordrhein-Westfalen einen Anteil von 54 % und bundesweit von etwa 44 %; längsschnittlich betrachtet stieg der Anteil an jüngeren BesucherInnen an (ebd., S. 50 f.). In aktuellen, regionalen Befragungen von NutzerInnen von Offenen Jugendeinrichtungen werden ebenfalls Anteile von etwa 50 % oder mehr für die unter 14-jährige Besucherschaft berichtet (vgl. beispielsweise Stadt Leipzig 2014, S. 15; Mohnke/Breit 2017, S. 12; Dalaker/Luley 2016; Meyer u. a. 2017, S. 56). In der Leipziger Studie wird zudem deutlich, dass der Anteil der unter 14-Jährigen von Jahr zu Jahr zugenommen hat (zugenommen hat hierbei auch der Besuch von Kindern unter 10 Jahren), während der Anteil der über 16-Jährigen deutlich abnahm (vgl. ebd., S. 13). Der aktuelle 15. Kinder- und Jugendbericht zeigt auf Basis der AID:A-Studie von 2014, dass etwa 10% aller 12–14-Jährigen regelmäßig, d. h. mindestens einmal pro Woche eine Einrichtung der Offenen
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Jugendarbeit besuchen. Nach den 15–17-Jährigen findet sich in der dieser Altersgruppe der zweitgrößte Anteil an jungen Menschen, die regelmäßig Offene Jugendeinrichtungen aufsuchen (vgl. BMFSFJ 2017, S. 383). Im Gegensatz zu den oben dargestellten Handlungsfeldern pädagogisch betreuter Spielplätze, Spielmobile und Kinderspielstädte, entwickelte sich die Offene Arbeit mit Kindern in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit nicht aufgrund einer sozialen Bewegung oder Initiative. Hiltrud von Spiegel (1997) bezeichnet sie als „kleine Schwester“ der Offenen Jugendarbeit, die aufgrund der Gewinnung neuer BesucherInnen häufig notwendig wird, etwa, wenn die älteren BesucherInnengruppen nicht mehr oder kaum noch die Jugendeinrichtung besuchen (vgl. ebd., S. 53). Eine wichtige Rolle spielt aber auch die Kooperation mit der Schule und die damit zusammenhängenden Betreuungsund Unterstützungsangebote für Kinder (vgl. BMFSFJ 2017, S. 383) sowie das Entwickeln schulbezogener Angebotsformen, beispielsweise sogenannter „Schülercafés“ (vgl. Meyer u. a. 2017, S. 94 f.). Im Grunde handelt es sich bei der Offenen Arbeit mit Kindern im Rahmen von Offenen Jugendeinrichtungen eher um eine Adaption der Methoden und Angebote der Offenen Jugendarbeit auf das Kindesalter. Teilweise werden hier aber auch spezielle Settings geschaffen, wie kreative und/oder spielorientierte Angebote und Workshops, oder aber die Arbeit mit Kindern erfolgt zeitlich und räumlich getrennt von der Jugendarbeit (z. B. Teeniedisco, Kinderbasteln, Kindercafé). Solche Abgrenzungen entspringen jedoch häufig weniger bestimmten konzeptionellen Überlegungen, sondern sind eher dafür gedacht, die „‚Kleinen‘ von der Dominanz der Jugendlichen schützen zu wollen“ (von Spiegel 1997, S. 53). Jedoch entwickelten sich in den letzten Jahren aber auch spezielle Offene Einrichtungen für Kinder, wie etwa Spielhäuser, die sich ausschließlich an Kinder und ihre Bedürfnisse richten (vgl. von Spiegel 1997, S. 54; Beck u. a. 1990). Aktuell ist davon auszugehen, dass die Offene Arbeit mit Kindern in Jugendeinrichtungen an Bedeutung zunehmen wird, vor allem als Konsequenz der verstärkten Nachfrage von jungen Menschen unter 14 Jahren an Angeboten und Räumen der Offenen Jugendarbeit (siehe dazu auch den Beitrag von Meyer/Rahn zu offenen Jugendfreizeiteinrichtungen in diesem Buch). Von besonderem Interesse sind hier ältere Kinder zwischen 10 und 15 Jahren, die sogenannten „Kids“ (Böhnisch 2008, S. 132 ff.), also die „Nicht-Mehr-Kinder“ und „Noch-Nicht-Jugendlichen“, weil diese sich letztendlich für die (Offene) Arbeit mit Kindern zu „alt“ fühlen, auf der anderen Seite aber aufgrund ihres Alters den „Abendbereich“ der Offenen Jugendarbeit noch nicht nutzen können. Hinzu kommt, dass diese „Kids“ aufgrund einer zunehmenden Vorverlagerung
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des Eintritts der Jugendphase häufig bereits jugendtypisches Verhalten zeigen (vgl. Böhnisch 2008, S. 132 ff.; Deinet 1992, S. 9 ff.). Inwiefern diese Zielgruppe eigene Angebote benötigt, oder ob die jeweiligen Bedürfnisse und Unterstützungsbedarfe mit einer „Verlängerung“ der Offenen Arbeit mit Kindern bzw. einer „Vorverlegung“ der Jugendarbeit (vgl. ebd., S. 133) abgedeckt werden können, ist umstritten. Faktisch bewegen sich PädagogInnen in Offenen Jugendeinrichtungen, die mit dieser Zielgruppe arbeiten, stets in einem Spagat zwischen Autonomie- und Beziehungswünschen dieser jungen Menschen. Bezüge zu den oben dargestellten theoretischen Grundlagen finden sich am ehestens noch bei den sogenannten Spielehäusern, weil hier spiel- und kulturpädagogische sowie aneignungsorientierte Überlegungen im Vordergrund stehen. Weitere konzeptionelle Reaktionen vonseiten der Offenen Jugendeinrichtungen müssen hierzu aber noch abgewartet werden.
7.2 Mobile Kindersozialarbeit Bereits im vorherigen Abschnitt wurde die „Verfrühung“ der Jugendphase angesprochen, d. h., dass Kinder bereits im Alter von etwa neun, zehn oder elf Jahren jugendtypisches Verhalten zeigen. Dieses Phänomen ist, analog zu den Herausforderungen in der Offenen Jugendarbeit, auch für die aufsuchende Straßensozialarbeit bzw. Mobile Jugendarbeit relevant und fordert neue Konzepte heraus: „Neunjährige kommen zu spät nach Hause, (…), wenden sich zeitweise von ihren Eltern ab, suchen selbstständig Räume, bevölkern öffentliche Plätze, auch die Medien- und Computerecken in Kaufhäusern.“ (Böhnisch 2008, S. 132).
Aufgrund dieser Entwicklung wird die Lebensphase der späten Kindheit zunehmend auch für Formen aufsuchender Jugendarbeit interessant, zumal vermehrt „auch junge Menschen unter 14 Jahren auf der Straße anzutreffen [sind]“ (Delmas u. a. 2011, S. 15). Berichtet wird in diesem Zusammenhang auch eine Zunahme an delinquenten Verhaltensweisen bei Kindern. Fachkräfte aus dem Bereich der Mobilen Jugendarbeit/Streetwork verweisen hierzu einvernehmlich auf die Beobachtung, dass Kindergruppen im Alter zwischen 8–13 Jahren vermehrt durch „jugendtypisches“ Verhalten im öffentlichen Raum auffällig werden, beispielsweise durch den Konsum von Alkohol und/oder Zigaretten, durch riskantes Verhalten jeglicher Art, durch Sachbeschädigungen, Diebstahl, Gewalthandlungen oder anderen straffälligen Verhaltensweisen, sowie
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durch S chulprobleme, Schulverweigerung oder belastete Familienverhältnisse. Gerade diese Gruppierungen werden jedoch nicht oder nicht mehr von anderen Angeboten der Jugendarbeit/Jugendhilfe erreicht. (vgl. dazu Keppeler/Reuting 2017, S. 3 sowie S. 10 f.; Keppeler/Reuting 2015, S. 4 f. sowie 13 ff.; Mobile Jugendarbeit Stuttgart 2015, S. 37 ff.) Aus diesem Grunde hat sich insbesondere der Ansatz der Mobilen Jugendarbeit in den letzten Jahren diesem Thema stärker geöffnet. Die Idee ist jedoch gar nicht so neu: Bereits Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde eine „Straßensozialarbeit im Sinne einer Kinderschutzarbeit“ (Bienemann u. a. 1995 zitiert in von Spiegel 1997, S. 57) für problembelastete Kinder, die von herkömmlichen Angeboten nicht erreicht werden, gefordert. Aktuell beginnen verstärkt Träger der Mobilen Jugendarbeit (z. B. die Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg e. V.) hierzu Projekte zu initiieren und Konzepte zu entwickeln. Zielgruppe sind Kinder im Alter zwischen 8–13 Jahren, „die im öffentlichen Raum durch selbst- und fremdgefährdendes Verhalten verstärkt auffällig werden und durch die bestehenden Angebote der Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und Hilfen zur Erziehung nicht angemessen erreicht werden können“ (Keppeler/Reuting 2015, S. 4). Der Arbeitsansatz der „Mobilen Kindersozialarbeit“ orientiert sich stark an dem für Jugendliche entwickelten Konzept der Mobilen Jugendarbeit, sodass die Arbeitsprinzipien und Arbeitsformen der „klassischen“ Mobilen Jugendarbeit auch in der Mobilen Kindersozialarbeit handlungsleitend sind (ausführlich dazu Keppeler/Reuting 2015 sowie den Beitrag von Meyer zur aufsuchenden Straßensozialarbeit/Mobilen Jugendarbeit in diesem Buch). Die wissenschaftliche Begleitung eines Modellprojekts in Baden-Württemberg (vgl. Keppeler/ Reuting 2017, S. 10 f.; Keppeler/Reuting 2015, S. 17 ff.) zeigt hierbei, dass sich die bereits seit Jahren etablierten Arbeitsprinzipien und fachlichen Standards durchaus auf die Mobile Kindersozialarbeit übertragen lassen. Jedoch stellt die Elternarbeit und Elternberatung neben Streetwork, Cliquen- bzw. Gruppenangeboten, einzelfallorientierter Beratung und Gemeinwesenarbeit eine zusätzliche Komponente in der Mobilen Kindersozialarbeit dar (diese Elternarbeit spielt hingegen in der herkömmlichen Mobilen Jugendarbeit so gut wie keine Rolle). Ebenso kommt dem Schutzauftrag nach §8a SGB VIII sowie der Kooperation mit Schule, Schulsozialarbeit und dem Allgemeinen Sozialen Dienst bzw. den Hilfen zur Erziehung eine weitaus größere Bedeutung zu als in der Arbeit mit Jugendlichen (vgl. Keppeler/Reuting 2015, S. 29 ff.). Des Weiteren ist in der praktischen Arbeit darauf zu achten, dass sich ältere Jugendliche nicht durch diese „neue“ Klientel verdrängen lassen bzw. sich selbst abwenden. Zudem besteht bei altersgemischten Angeboten die Gefahr, dass sich die jüngeren Kinder an den älteren
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NutzerInnen orientieren und ggf. problematische Verhaltensweisen übernehmen (vgl. ebd., S. 5 sowie S. 26). Wie die Ausführungen verdeutlichen, zeigt sich auch in den Handlungsfeldern der Offenen Jugendeinrichtungen und der Mobilen Jugendarbeit ein deutlicher Bedarf an Angeboten für junge Menschen unter 14 Jahren. Dieser Bedarf verweist dabei entweder auf schulbezogene Unterstützung und Raumbedarf (im Falle von Offenen Jugendeinrichtungen) oder aber auf einen Bedarf an niedrigschwelliger sozialpädagogischer Begleitung und einzelfallorientierte Hilfe (im Falle der Mobilen Kindersozialarbeit). Die beschriebenen theoretischen Grundlagen der Offenen Arbeit mit Kindern gelten natürlich auch für diese Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendarbeit: So haben Aneignungsprozesse sowohl in Offenen Jugendeinrichtungen als auch im Selbstverständnis und methodischen Rüstzeug der Mobilen Jugendarbeit eine wichtige Bedeutung. Dies kann im Falle der Offenen Jugendarbeit die Aneignung der jeweiligen Räumlichkeiten und jugendkulturellen Verhaltensweisen sein (vgl. Deinet 1992, S. 9 ff.), in der Mobilen Jugendarbeit geht es hingegen vor allem um die Unterstützung und Begleitung der Aneignung von (halb-) öffentlichen Räumen. Die entscheidende Frage, die sich hierbei stellt, ist jedoch, inwiefern diese (Raum-)Aneignung mit den älteren NutzerInnengruppen kompatibel ist, oder ob es dazu nicht eigener Räume und Möglichkeiten bedarf. In Offenen Jugendeinrichtungen können dies spezielle Öffnungszeiten oder sogar die Etablierung von eigenständigen Räumlichkeiten (Spielehäusern) sein. Für das Handlungsfeld der Mobilen Kindersozialarbeit wird hierbei eine strikte Trennung von den jugendlichen NutzerInnen empfohlen (vgl. Keppeler/Reuting 2015, S. 26). Auch zum sozial-ökologischen Ansatz werden Bezüge deutlich. So sind sowohl Offene Jugendeinrichtungen als auch (hab-) öffentliche Plätze, auf denen die Kinder mir StreetworkerInnen in Kontakt kommen, bereits Teil des ökologischen Nahraums oder der ökologischen Peripherie. Insofern stellt die „Eroberung“ solcher Einrichtungen oder Plätze eine für diese Altersgruppe wichtige Entwicklungsaufgabe dar. Die ökologischen Übergänge können dabei von den dort vertretenen Fachkräften begleitet werden. Neben den Bezügen zum Aneignungskonzept und zum sozial-ökologischen Ansatz kann in diesen beiden Handlungsfeldern aber auch die wichtige Lobbyfunktion für Kinder wahrgenommen werden, indem infrastrukturelle Mängel kompensiert oder auch offensiv angeprangert werden (etwa aufgrund einer kommunalpolitischen Vertretung oder der Teilnahme an relevanten Gremien). Zuletzt lassen sich auch die entsprechenden Bildungspotenziale in den Handlungsfeldern finden, da in diesen Settings ebenfalls kulturelle, instrumentelle, soziale und personale Kompetenzen erworben werden können: Kulturelle Kompetenzen spielen insbesondere in schulbezogenen Unterstützungs-
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arrangements eine Rolle, instrumentelle Kompetenzen können hingegen in einer Vielfalt an non-formalen Angeboten erworben werden. Besondere Bedeutung haben ferner Gruppenangebote, die ein wichtiges Lernfeld für soziale und personale Kompetenzen sind. Daneben ermöglicht die Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeiten den Erwerb von entsprechenden Kompetenzen.
8 Zusammenfassung Der Beitrag sollte, ausgehend von anthropologischen Grundannahmen, verdeutlichen, dass Kinder vor allem ein Bedürfnis nach „Weltaneignung“ haben, das eingebettet ist in soziale Interaktionschancen mit Gleichaltrigen und Beziehungsangeboten von Erwachsenen. Hierfür wurden vor allem das Aneignungskonzept und der sozialökologische Ansatz als theoretisches Grundgerüst der Offenen Arbeit mit Kindern ausführlich dargestellt. In diesem Zusammenhang muss der Blick aber immer auch auf die aktuellen Lebensbedingungen und „Trends“ moderner Kindheit gerichtet werden. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwiefern diese Bedingungen den Aneignungs- und Bildungsmöglichkeiten von Kindern entgegenstehen. Zu nennen sind beispielsweise der Verlust an „natürlichen“ Aktionsräumen, die zunehmende Verplanung des Alltags junger Menschen, der Einfluss neuer Medien, oder die Organisation, Verinselung und Verhäußlichung moderner Kindheit. Bereits ältere Studien (z. B. Blinkert 1996) zeigen jedoch, dass diese Trends in engem Zusammenhang mit den Aktionsräumen von Kindern und Jugendlichen stehen. Ist die Aktionsraumqualität schlecht und finden Kinder bzw. Jugendliche minderwertige Aneignungsräume und fehlende Interaktionsmöglichkeiten in ihrem unmittelbaren Sozialraum vor, dann ziehen sie sich verstärkt in Binnenräume zurück. Zudem lassen sich auch schichtspezifische Unterschiede in der Nutzung von Aneignungs- und Bildungsmöglichkeiten feststellen. Größer angelegte Studien, wie beispielsweise die World Vision Kindestudie (2007, 2010, 2013), verdeutlichen, dass sich die Freizeitaktivitäten nach Schichtzugehörigkeit erheblich unterscheiden. Sowohl die theoretischen Annahmen als auch die aktuellen Entwicklungen werden in den verschiedenen Handlungsfeldern der Offenen Arbeit mit Kindern aufgegriffen. Die im Rahmen der Offenen Arbeit mit Kindern angebotenen Aktionsräume stellen letztendlich den Versuch dar, Kindern geeignete Aneignungs- und Bildungsmöglichkeiten niedrigschwellig anzubieten. Die im Kontext der sozialpädagogischen Arbeit mit Kindern entwickelten Angebote der Offenen Arbeit waren daher immer schon eine Reaktion auf die sich wandelnden Lebensbedingungen von Kindern. Aus diesem Grunde kann die Offene Arbeit mit
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Kindern (nach wie vor) einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation von Kindern leisten.
9 Übungsfragen a) Welche anthropologischen Annahmen liegen der hier relevanten Perspektive auf die mittlere und späte Kindheit zugrunde und wie schlagen sich diese in Entwicklungsaufgaben von Kindern nieder? b) Beschreiben Sie die zentralen Aussagen des Aneignungskonzepts und des sozialökologischen Ansatzes. Verwenden Sie hierbei Beispiele aus der Praxis oder eigene Beobachtungen. c) Was sind die wesentlichen Charakteristika pädagogisch betreuter Spielplätze und welche Facetten der kindlichen Entwicklung sollen hier gefördert und unterstützt werden? d) Welche Ziele verfolgt die Spielmobilarbeit und inwiefern fungiert dieses Handlungsfeld als ein „Gegengewicht“ zu den Trends moderner Kindheit? e) Beschreiben Sie die Grundidee der Kinderspielstadt und ordnen sie die pädagogischen Ziele in die theoretische Perspektive des Aneignungskonzepts ein.
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Aufsuchende Ansätze der Jugendarbeit – Arbeitsformen, theoretische Grundlagen und Vorgehensweisen Thomas Meyer Zusammenfassung
Es ist nicht unumstritten, inwiefern Ansätze der aufsuchenden Jugendarbeit – gemeint sind beispielsweise Mobile Jugendarbeit, Streetwork bzw. Straßensozialarbeit oder hinausreichende Jugendarbeit – tatsächlich Teil der Kinder- und Jugendarbeit sind oder nicht eher als eigenständige Handlungsfelder im Spektrum der sogenannten Jugendsozialarbeit verstanden werden müssen. In diesem Studienbuch wird die aufsuchende Jugendarbeit aber als Teil der Kinder- und Jugendarbeit oder zumindest als jugendarbeitsaffines, kooperationsnahes Handlungsfeld betrachtet. Dabei zeigt die Literatursichtung, dass dieses Handlungsfeld äußert heterogen ist, und es keineswegs ein einheitliches Verständnis im Hinblick auf Zielsetzung und methodisches Handeln gibt. Gleichwohl lassen sich für die in diesem Handlungsfeld relevanten Ansätze meist eine gut fundierte theoretische Basis sowie umfassend ausgearbeitete Leitlinien und Arbeitsformen identifizieren. Der nachfolgende Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die vielfältigen Erscheinungsformen aufsuchender Jugendarbeit und ordnet diese in entsprechende historische Begründungslinien und Kontexte ein. Ausführlich behandelt werden dann die sogenannte Mobile Jugendarbeit (Specht 1979) sowie die Aufsuchende Jugendarbeit Krafeld`scher Prägung (Krafeld 2004). In einer abschließenden Zusammenfassung werden dann die Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet.
T. Meyer (*) Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_7
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1 Einleitung Aufsuchende Ansätze der Jugendarbeit stellen ein äußerst heterogenes Handlungsfeld dar. Die Heterogenität bezieht sich dabei insbesondere auf den jeweiligen Zielgruppenbezug, und damit einhergehend, auf die Ausgangslage, theoretische Orientierung, Zielsetzung, Vorgehensweise und Methodik. Die Bandbreite erstreckt sich von sehr speziellen Ansätzen mit häufig klar definiertem Zielgruppenbezug bis hin zu sozialräumlich orientierten Ansätzen ohne vorgegebenen Fokus auf bestimmte Personengruppen. Entsprechend heterogen sind auch die Begrifflichkeiten, die hierbei Verwendung finden: Mobile Jugendarbeit, Streetwork bzw. Straßensozialarbeit oder hinausreichende Jugendarbeit, um nur die wichtigsten zu nennen. Gemeinsam ist allen diesen Ansätzen jedoch das aktive Aufsuchen der jungen Menschen an den von ihnen selbst gewählten Treffpunkten, d. h. die Fachkräfte „machen sich auf den Weg in die ‚Szenen‘ mit breitem Zielspektrum, reichend von (partiell politisch) motiviertem Engagement für ‚randständige‘ Jugendliche bis hin zu administrativ-politischem Auftrag nach Befriedung“ (Klose, Steffan 2005, S. 306). Aufsuchenden Ansätze der Jugendarbeit haben sich in den letzten Jahrzehnten äußerst dynamisch entwickelt. Diese Dynamik lässt sich dabei in zweierlei Hinsicht beobachten: Einerseits finden sich mittlerweile eine Fülle an ausdifferenzierten, zielgruppen- und sozialraumorientierten Konzepten, andererseits scheint dieses Handlungsfeld eines der wenigen Felder der Kinder- und Jugendarbeit zu sein, welches stark ausgebaut wurde (vgl. Krafeld 2004, S. 8 sowie 11). Insgesamt resümiert Krafeld hierzu, dass „sich die aufsuchende Jugendarbeit inzwischen zum wohl bedeutendsten methodischen Modernisierungsschub“ (ebd., S. 8) innerhalb der Handlungsfelder der Jugendarbeit entwickelt hat. Da unter dem Oberbegriff der „aufsuchenden Ansätze“ in der Jugendarbeit eine ganze Reihe an Konzepten entwickelt wurde, gestaltet sich eine verallgemeinerte Darstellung, die alle diese Arbeitsformen, Leitlinien und Vorgehensweisen berücksichtigt, als äußerst schwierig. Aus diesem Grunde werden in den nachfolgenden Abschnitten zunächst verschiedene Begrifflichkeiten und Ansätze in Form eines kurzen Überblicks vorgestellt. Darauf aufbauend werden zwei Ansätze, die sowohl theoretisch wie auch methodisch besonders umfassend ausgearbeitet wurden, ausführlicher diskutiert: Die Mobile Jugendarbeit Stuttgarter Prägung (Specht 1979) sowie die „Aufsuchende Jugendarbeit“ nach Franz Josef Krafeld (2004). In einem abschließenden Kapitel werden schließlich gemeinsame Grundlinien herausgearbeitet und einer kritischen Reflexion unterzogen.
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2 Aufsuchende Ansätze in der Jugendarbeit – ein Sammelsurium an Begrifflichkeiten Sowohl in der Praxis als auch in der Literatur lässt sich eine Fülle an Bezeichnungen für aufsuchende Ansätze in der Jugendarbeit finden, etwa Straßensozialarbeit, Streetwork, Aufsuchende Jugendarbeit, „Gassenarbeit“ und Mobile Jugendarbeit (vgl. beispielsweise Thole 2000, S. 129 ff.; Kiebel 1995, S. 21 ff.; Krafeld 2004, S. 15). Deren übergreifendes Merkmal ist es, „dass Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sich in den von den Zielgruppen ‚eroberten‘ sozialen Räumen bewegen“ (Thole 2000, S. 129) bzw. „zu den Jugendlichen hin (…) gehen, also dorthin, wo sie sich in der Freizeit aufhalten“ (Krafeld 2004, S. 7). Die aufsuchende Vorgehensweise ist daher allen Ansätzen gemeinsam, sodass die verschiedenen Ansätze auch unter der Bezeichnung „aufsuchende Arbeitsansätze der Jugendarbeit“ (Huber 2014) oder „aufsuchende Jugendarbeit“ (Krafeld 2004) zusammengefasst werden können. In Form eines kurzen Überblicks werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Bezeichnungen herausgearbeitet.
2.1 Die „Metaansätze“: Street Gang Work/Street Corner Work, Mobile Jugendarbeit, Aufsuchende Jugendarbeit, Detached Youth Work Huber (2014, S. 5) nennt exemplarisch vier, seiner Einschätzung nach, eigenständige, d. h. auf einer differenzierten methodischen wie auch theoretischen Entwicklungsarbeit basierenden, Ansätze, die er unter dem Sammelbegriff „aufsuchender Arbeitsansätze der Jugendarbeit“ zusammenfasst: Street Gang Work, Mobile Jugendarbeit, Aufsuchende Jugendarbeit und Detached Youth Work. Der älteste der von Huber dargestellten Ansätze, „Street Gang Work“, wurde in den USA in den 1960er Jahren als Konzept für die Arbeit mit delinquenten Jugendgruppen entwickelt (vgl. ebd., S. 6 ff.). Auch Specht (1979, S. 36 f.) verweist in seiner historischen Einordnung auf diesen Ansatz, nennt diesen jedoch „Street Corner Work“. Theoretischer und methodischer Überbau dieses Ansatzes sind praktische Erfahrungen und Ergebnisse US-amerikanischer Forschung zu delinquentem Verhalten von Jugendlichen, wobei vor allem kontextualistische Theorien herangezogen werden (vgl. dazu auch Abschn. 3). Delinquenz soll hierbei nicht als Resultat persönlicher Defizite oder familiärer und sozialer Verhältnisse erklärt werden, sondern vor allem im Kontext von
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ruppenstrukturen/-prozessen und sozialräumlichen Gegebenheiten. Die eigentG liche Innovation dieses Ansatzes ist für Huber (2014) daher die Abkehr von einer bislang individualistisch-therapeutischen Perspektive und, damit einhergehend, einem stärkeren Einbezug von „Strukturen und Prozesse[n] in den betreffenden Gruppen und Gemeinwesen“ (ebd., S. 6). Aus diesem Grunde forciert Street Gang Work bzw. Street Corner Work die Arbeit mit den Gruppen sowie ein ressourcenorientiertes, vermittelndes und vernetzendes Vorgehen im Gemeinwesen. Wesentliches „Erfolgskriterium“ für diesen Arbeitsansatz ist darüber hinaus das Vertrauen der Jugendlichen, sodass der/die StreetworkerIn keine obrigkeitsstaatliche Kontrollfunktion innehaben sollte (vgl. Specht 1979, S. 36). In diesem Ansatz wurden bereits die in später entwickelten Formen aufsuchender Arbeit typische Kombination verschiedener sozialpädagogischer Methoden (Gruppenberatung bzw. Gruppenarbeit, Einzelberatung und Gemeinwesenarbeit) ausgearbeitet (vgl. Specht 1979, S. 36; Huber 2004, S. 6). Entsprechend sieht Huber (2014, S. 22 ff.) auch deutliche Parallelen und Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ansätzen Street Gang Work und Mobiler Jugendarbeit, etwa was den Begründungskontext, die Methoden und theoretische Fundierung sowie die Ziele und Zielgruppen betrifft (vgl. ebenso Specht 1979, S. 36 f.). Eben jene „Mobile Jugendarbeit“ geht auf die konzeptionelle Fundierung durch Walter Specht (1979) zurück, der diesen Ansatz Ende der 60er Jahre in Stuttgart begründete. Wie die Literatursichtung zeigt, gehört die Mobile Jugendarbeit sicherlich zu den bekanntesten Begrifflichkeiten innerhalb der aufsuchenden Ansätze in der Jugendarbeit. Mobile Jugendarbeit wird dabei nicht selten mit „Streetwork“ (siehe weiter unten) in Verbindung gebracht, jedoch ist Mobile Jugendarbeit nicht einfach gleichzusetzen mit dem Begriff „Streetwork“ (Krebs 2004; Gillich 2003; Klenk/Häberlein 1995). Wesentliches Merkmal dieses Konzepts ist einerseits die Orientierung an einem bestimmten Sozialraum (dezentrale Struktur) sowie andererseits, wie auch beim Street Gang Work/ Street Corner Work, eine sowohl methodisch wie auch theoretisch detailliert ausgearbeitete konzeptionelle Rahmung, in der das Zusammenwirken von aufsuchender Arbeit, einzelfallorientierter Beratung, Gruppenarbeit sowie Gemeinwesenarbeit elementar sind. Wie auch Street Gang Work/Street Corner Work stützt sich die Mobile Jugendarbeit auf Erkenntnisse US-amerikanischer Delinquenzforschung, die eine hohe Relevanz von Gruppenprozessen sowie von sozialräumlichen und sozioökonomischen Faktoren bei der Entstehung und Verfestigung von Jugenddelinquenz nachweisen konnten (vgl. Specht 1979, S. 6 ff. sowie 24 ff.; Krebs 2004, S. 165). Hieraus entwickelte sich ein stadtteilorientiertes Konzept, das deutlich stärker als die weiter unten beschriebenen Streetworkansätze auf eine längerfristig angelegte und intensive Arbeit mit
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sowohl den Jugendgruppen als auch in und mit dem Gemeinwesen abzielt. In Abgrenzung zu anderen Streetwork-/Straßensozialarbeitsansätzen zeichnet die Mobile Jugendarbeit dabei ein umfassendes Betreuungsangebot aus, das über Kontaktaufnahme und Beratungsarbeit hinausgeht. Insbesondere die Arbeit mit den Gruppen (die sogenannte „Clubarbeit“) wird im Konzept der Mobilen Jugendarbeit stärker akzentuiert als in anderen Ansätzen. Im Grunde sollen die „mobilen Anteile“, also die aufsuchende Arbeit, sogar etwas zurückgehen (vgl. Huber 2014, S. 10 ff.), indem die Gruppen in sogenannte „Clubs“ überführt werden und mit diesen Clubs dann intensiver gearbeitet wird (vgl. Specht 1979, S. 50 ff.). Streetwork ist lediglich die Basis „für ein längerfristig angelegtes Beratungs- und Clubarbeitskonzept, das in ein umfassendes Konzept stadtteilbezogener Arbeit eingepaßt [sic!] ist“ (Keppeler 1989, S. 21). Der Begriff der „Aufsuchenden Jugendarbeit“, den Huber als dritten Ansatz unter dem Sammelbegriff „aufsuchender Arbeitsansätze“ subsumiert, wurde durch die Arbeiten von Franz Josef Krafeld (2004) geprägt. Interessant hierbei ist, dass Huber die „Aufsuchende Jugendarbeit“ nach Krafeld als einen eigenständigen Ansatz innerhalb der Gruppe „Aufsuchender Arbeitsansätze“ versteht (vgl. ebd., S. 15 ff.), während Krafeld selbst jedoch den Begriff der „Aufsuchenden Jugendarbeit“ als Ober- bzw. Sammelbegriff für verschiedene Ansätze verwendet (vgl. exemplarisch Krafeld 2004, S. 7 sowie S. 24 ff.). Die Einordnung als eigenständigen Ansatz begründet Huber damit, dass Krafeld durchaus spezifische konzeptionelle Grundlagen ausformuliert, die er auch als Abgrenzung zu anderen aufsuchenden Ansätzen nutzt. Demnach werden sowohl die lebensweltbezogene Perspektive als auch allgemeinpädagogische, aneignungstheoretische Annahmen deutlich stärker in den Vordergrund gestellt. Zudem richtet sich die aufsuchende Jugendarbeit in dem Verständnis von Krafeld „prinzipiell an alle Jugendlichen, die sich im öffentlichen Raum bewegen“ (Huber 2014, S. 16) und nicht nur an eine definierte (z. B. delinquente) Zielgruppe. Im Zentrum dieser aufsuchenden Jugendarbeit steht daher weniger konkretes einzelfall- oder gruppenbezogenes Unterstützungshandeln, sondern, begründet durch den Verlust jugendgerechter Aneignungsräume, die „(Wieder-) aneignung von Umwelt“ (Krafeld 2004, S. 16). In dieser Fokussierung sieht Huber (2014) die Eigenständigkeit des Krafeld´schen Ansatzes, weil die aufsuchende Arbeit im Kontext der „gewandelten Bedingungen des Aufwachsens der jungen Menschen“ (ebd., S. 22 f.) begründet wird. Der oben beschriebene Methodenmix, bestehend aus dem Zusammenwirken von Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit, spielt daher bei Krafeld auch nur situativ eine Rolle. Damit grenzt sich dieser Ansatz von zielgruppen- bzw. delinquenzorientierten Konzepten ab, weist Bezüge zur sogenannten „hinausreichenden
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Jugendarbeit“ (siehe weiter unten) auf und steht den Grundprinzipien der (Offenen) Kinder- und Jugendarbeit näher. Der vierte Ansatz, den Huber (2014, S. 20 ff.) unter dem Dach aufsuchender Ansätze der Jugendarbeit subsumiert, ist „Detached Youth Work“. Unter dieser Bezeichnung lassen sich spezifische aufsuchende Konzepte der Jugendarbeit zusammenfassen, wie sie vor allem in Großbritannien entwickelt wurden. In Abgrenzung zu einer einrichtungsbezogenen Jugendarbeit „findet Detached Youth Work ihren Ausgangspunkt nicht in einer spezifischen Einrichtung“ (ebd., S. 20). Die Arbeit ist nicht „einrichtungsbasiert“, sie ist im wahrsten Sinne des Wortes sowohl von einem bestimmten Standort als auch von den Zielvorgaben einer jeweiligen Institution „losgelöst“ (wörtliche Übersetzung von „detached“). Im Rahmen von Detached Youth Work geht es zum einen um eine dialogische Aushandlung der jeweils benötigten Unterstützungsprozesse und -ziele, zweitens sollen aufgrund einer akzeptierenden und wertschätzenden Haltung tragfähige Beziehungen entstehen, die dann für weitere Hilfeprozesse und ggf. eine Vermittlung in andere Hilfesysteme genutzt werden können. Dritter Bestandteil des Konzepts ist jedoch vor allem die Wahrnehmung eines Bildungsauftrags, in dessen Rahmen Detached Youth Work auch dazu beitragen soll, entsprechende Bildungsprozesse anzustoßen. Die Vorgehensweise ähnelt jedoch stark den bisher dargestellten Ansätzen: So spielen ebenfalls Einzelberatung, (freizeitpädagogisch orientierte) Gruppenarbeit sowie Gemeinwesenarbeit eine wichtige Rolle. In jedem Fall steht aber immer die Beteiligung der jungen Menschen im Zentrum der Aktivitäten (vgl. ebd., S. 21 f.). Der Begriff „Detached Youth Work“ wurde in Deutschland, beispielsweise in Berlin und Hamburg, vor allem in der Arbeit mit drogenkonsumierenden Jugendlichen aufgegriffen (vgl. Kiebel 1995, S. 22 f.). Die oben beschriebene Methodenpluralität spielt hierbei allerdings eine geringere Rolle, weil die aufsuchende Arbeit zunächst lediglich als Teil einer „Therapie-Kette“ begriffen wurde.
2.2 Street Work/Streetwork, Straßensozialarbeit, aufsuchende Sozialarbeit Besonders häufig genannte Begriffe im Kontext aufsuchender Ansätze sind zudem die Begriffe „Street Work“, „Streetwork“, „Straßensozialarbeit“ oder auch „aufsuchende Sozialarbeit“. Die Literatursichtung zeigt hierbei, dass der Begriff „Streetwork“ aktuell am häufigsten auftaucht, weswegen diese Formulierung auch in dem vorliegenden Beitrag verwendet werden soll (auch wenn die korrekte, aus dem Englischen stammende Bezeichnung, street work
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ist). Streetwork richtet sich dezidiert an meist im Vorneherein genau definierte Personengruppen, wobei die Zielgruppenmerkmale sehr heterogen sein können und sich von gewaltbereiten oder straffälligen Jugendgruppen, über Fußballfanprojekte, Jugendliche in besonders schwierigen sozialen Lebenslagen, bis hin zu obdachlosen Jugendlichen, drogenkonsumierenden Jugendlichen oder politisch radikalisierten Jugendgruppen erstrecken können (vgl. beispielsweise Gref 1995, S. 14, Simon 1995, S. 33). Der Blick auf die vielen verschiedenen Streetwork-Projekte und Ansätze der Straßensozialarbeit verweist auf eine große Bandbreite an Konzeptionen und Praxisansätzen, sodass eine konsistente und eindeutige Begriffsbestimmung von „Streetwork“ im Grunde gar nicht möglich ist (vgl. Steffan 1989a, S. 11; Gref 1995, S. 13). Gemeinsam ist allen diesen Konzepten jedoch, dass die relevanten Gruppierungen nicht oder nicht mehr von anderen Angeboten der Jugend- oder Sozialhilfe erreicht werden bzw. diese auch gar nicht nutzen wollen (vgl. Krebs 2004; Gillich 2003; Miltner 1982; Keppeler 1989; Gref 1995). Streetwork wird historisch gesehen als eigenständiger Arbeitsansatz beschrieben, der sich von anderen Ansätzen, etwa der Mobilen Jugendarbeit oder der aufsuchenden Jugendarbeit Krafeld`scher Prägung, dadurch abgrenzt, dass die relevanten Jugendlichen in entsprechende Hilfesysteme oder weiterführende Angebote vermittelt werden und sich die StreetworkerInnen im Grunde genommen nach und nach zurückziehen. Außer der Kontaktaufnahme, dem Aufbau einer tragfähigen Beziehung, gezielter (Gruppen-)Beratung und (anschließender) Vermittlung werden die jeweiligen Gruppierungen von den Streetwork-Projekten nicht weiter versorgt (vgl. Krebs 2004, S. 162). Auch aus diesem Grund empfiehlt Miltner (1982) auf Basis seiner Erfahrungen im Rahmen eines Streetwork-Projekts die „Ausweitung von street work durch Ansätze der auf sie aufbauenden Jugendclubarbeit (…)“ (ebd., S. 160). Streetwork ist daher kein längerfristig angelegtes pädagogisches Betreuungskonzept, sondern soll die aufgesuchten Jugendlichen zunächst schützen (auch in Bezug auf ihr eigenes Handeln), versorgen, sie vor allem advokatorisch vertreten, und sie dann ggf. weitervermitteln, eine langfristige Begleitung ist nicht angestrebt (vgl. Krebs 2004, S. 164). Gref (1995, S. 13 ff.) benennt hierzu verschiedene „Definitionsmerkmale“, die allen Streetworkkonzepten gemeinsam sind: Die Fokussierung auf eine bestimmte Zielgruppe, die Versorgungsorientierung, das Agieren in den jeweils gewachsenen Gruppen- und Szenestrukturen, UniversalansprechpartnerIn zu sein, die Hilfe zur Lebensbewältigung sowie situationsangemessenes Handeln und Authentizität. Zudem wurden im Rahmen von Streetwork-Projekten dezidiert Grundregeln, Vorgehensweisen und Qualifikationsanforderungen für die Kontakt- und Beziehungsaufnahme sowie für die Beratungsangebote entwickeln. Hierbei spielt die genaue
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Analyse der Lebenssituation und der Gruppenstrukturen der Jugendlichen eine zentrale Rolle (vgl. Krebs 2004; Miltner 1982; Keppeler 1989; Becker 1995). Als Abgrenzungsmoment zwischen Mobiler Jugendarbeit und Streetwork/ Straßensozialarbeit wird häufig betont, dass das Konzept der Mobilen Jugendarbeit deutlich über die „klassischen“ Streetworkansätze hinausgeht (vgl. Keppeler/Specht 2011, S. 961). Hierbei schlagen mehrere Autoren (Specht 1979; Miltner 1982; Keppeler 1989, 1997; Gref 1995) vor, Streetwork lediglich als eine Methode zu begreifen und demnach als Bestandteil des übergreifenden Konzepts Mobiler Jugendarbeit. Zuletzt haben Streetwork bzw. Straßensozialarbeit meist einen konkreten Zielgruppenbezug, d. h. die Angebote richten sich in der Regel an definierte, häufig gesellschaftlich marginalisierte, problembelastete oder deviante Personengruppen (vgl. beispielsweise Thole 2000, S. 129 ff.; Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork/Mobile Jugendarbeit 1999, 2003; Krebs 2004, Miltner 1982; Gangway 2010; Gref 1995), in der Mobilen Jugendarbeit können neben oder sogar anstatt einem konkreten Zielgruppenbezug auch sozialräumliche und allgemein-infrastrukturelle Funktionen im Zentrum stehen. Deinet und Krisch (2013) zählen aus diesem Grunde sozialraumorientierte Ansätze mobiler und aufsuchender Jugendarbeit eher zum Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, während sie den Begriff „Streetwork“ deutlich von der Kinder- und Jugendarbeit abgrenzen, weil Sie hierin „einen eigenen Ansatz Sozialer Arbeit [sehen], der sich auf gesellschaftlich marginalisierte Personengruppen bezieht“ (ebd., S. 415; vgl. ähnlich dazu Heckmann 1989; Steffan 1989a). Mehr und mehr haben sich jedoch die beiden Ansätze Streetwork und Mobile Jugendarbeit angenähert, sodass von einer strikten Trennung heute nicht mehr gesprochen werden kann (vgl. Krebs 2004, S. 165 ff.). Aus diesem Grunde wurden auf Fachverbandsebene die Begriffe Streetwork und Mobile Jugendarbeit schließlich zusammengefasst (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork/Mobile Jugendarbeit 1999, 2003).
2.3 Outreach Work, hinausreichende/herausreichende Jugendarbeit Zuletzt werden in Zusammenhang mit aufsuchenden Ansätzen der Jugendarbeit häufig auch die Begriffe „Outreach Work“ bzw. „hinausreichende“ oder „herausreichende Jugendarbeit“ erwähnt (vgl. exemplarisch Deinet/Krisch 2013; Huber 2014, S. 20 f.). Diese „hinausreichende Jugendarbeit“ steht für eine Vorgehensweise im Kontext von (offenen) Jugendeinrichtungen, im Rahmen derer die Fachkräfte, beispielsweise ausgehend von Jugendzentren, Jugendhäusern oder
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Jugendtreffs, junge Menschen im näheren Umfeld dieser Institution aufsuchen und mit ihnen Freizeitaktionen durchführen oder Beratungsgespräche führen. Der hinausreichende Ansatz entspricht dabei hochgradig der Idee einer sozialräumlich orientierten Jugendarbeit: erstens kann dadurch eine größere Anzahl an jungen Menschen erreicht werden und zweitens werden sowohl die sozialpädagogisch konzipierten Projekte als auch die daran teilnehmenden Kinder und Jugendlichen in der Öffentlichkeit sichtbar. Damit kann die Jugendarbeit auch ihrer jugendpolitischen Funktion und Interessensvertretung der Belange junger Menschen nachkommen, etwa indem sie einer Verdrängung Jugendlicher entgegenwirkt und die Nutzung des öffentlichen Raums mitgestaltet. Darüber hinaus eröffnet eine solche hinausreichende Arbeit den Kindern und Jugendlichen erweiterte Aneignungsmöglichkeiten in ihrem unmittelbaren Umfeld. Aus diesem Grund fordern Deinet und Krisch (2013) eine Integration von aufsuchenden Ansätzen in alle Formen einer sozialraumorientierten Jugendarbeit: „Unter sozialräumlichen Gesichtspunkten (….) muss die Trennung zwischen der Arbeit in Einrichtungen und dem öffentlichen Raum überwunden werden, d.h. eine sozialräumlich orientierte Jugendarbeit macht selbstverständlich Angebote außerhalb von Einrichtungen, z. B. auf öffentlichen Plätzen, in Parks, Lokalen, Einkaufszentren etc., nicht nur um Jugendliche zu erreichen, die die Einrichtungen nicht besuchen, sondern um selbst als Jugendarbeit im öffentlichen Raum präsent zu sein, sich im Sinne der Wahrnehmung eines jugendpolitischen Mandats gemeinsam mit Jugendlichen für ihre Belange einsetzen zu können“. (ebd., S. 416)
Alles in allem bezeichnen Deinet und Krisch (2013) die „hinausreichende Arbeit“ als „offene Kinder- und Jugendarbeit im öffentlichen Raum“ (ebd., S. 417). Damit verfolgt die hinausreichende Arbeit die gleichen Ziele wie die Offene Kinder- und Jugendarbeit, wenn auch erweitert um den Fokus der Öffentlichkeit. Allerdings finden sich in diesen hinausreichenden Ansätzen durchaus eine Fülle an Herausforderungen und Methoden, die normalerweise in der klassischen Offenen Jugendarbeit keine Relevanz haben, beispielsweise Stadtteilbegehungen und Sozialraumanalysen sowie Deeskalation und Konfliktmoderation in einem Sozialraum (vgl. ebd.). Inwiefern es sich in der Praxis aber tatsächlich um einen eigenständigen Ansatz der aufsuchenden Jugendarbeit handelt, oder ob diese Entwicklung nicht auch einem allgemeinen Legitimationsdruck der Offenen Jugendarbeit, z. B. aufgrund von schwindenden BesucherInnenzahlen, geschuldet ist, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Für Letzteres spricht, dass manche AutorInnen in diesen hinausreichenden Ansätzen eher die Funktion einer Zielgruppenrekrutierung und -bindung vermuten und weniger eine sozialräumlich fundierte Konzeption:
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„Mit Outreach Work sollen Jugendliche, die bisher die Angebote der entsprechenden Institution nicht nutzen (wollen), für diese oder etwaige andere Projekte interessiert werden. (…). Outreach fungiert in diesem Sinne als eine Art Rekrutierungsstrategie und ist eine Zwischenlösung, die helfen soll ein ggf. nachlassendes Interesse an einrichtungsspezifischen Angeboten zu kompensieren.“ (Huber 2014, S. 20)
In einem kritischen Verständnis ist die hinausreichende Arbeit also keine eigene Arbeitsform, sondern eine Ergänzung zur einrichtungsbezogenen Offenen Jugendarbeit (vgl. Klose/Steffan 2005, S. 306; Krafeld 2004, S. 9, S. 27 f.). Insgesamt können alle in diesem Abschnitt dargestellten Arbeitsformen und Handlungsfelder unter der Bezeichnung „Aufsuchende Ansätze der Jugendarbeit“ (Huber 2014) zusammengefasst werden, weil dieses „Aufsuchen“ der Jugendgruppen und -cliquen eine zentrale Gemeinsamkeit ist. Neben der aufsuchenden Handlungsweise zeichnen sich alle Ansätze des Weiteren durch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte advokatorische Interessensvertretung (randständiger) Jugendlicher, durch den Fokus auf junge Menschen, die von anderen Angeboten der Jugendhilfe nicht (mehr) erreicht werden und deren zentrale Treffpunkte sich in den (halb)öffentlichen Raum verlagert haben, sowie durch einen konsequenten Sozialraumbezug aus.
3 Entstehung und historische Entwicklungslinien verschiedener Formen aufsuchender Jugendarbeit Die Geschichte aufsuchender Formen der Jugendarbeit in Deutschland lässt sich nicht linear und eindeutig bestimmen. Nach Thole (2000, S. 130) finden sich bereits Ansätze von Straßensozialarbeit in der ehrenamtlich geleisteten „Gassenarbeit“ im 19. Jahrhundert sowie in der „Milieuarbeit“ im Rahmen der Jugendfürsorge der Weimarer Republik. Kiebel (1995, S. 22) und Wittmann/ Kampermann (2008, S. 16) verorten erste Ansätze aufsuchender Jugendarbeit ebenfalls in der offenen Fürsorge der Weimarer Republik und nennen darüber hinaus noch die Arbeit mit sogenannten „Wilden Cliquen“ Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Konsens besteht hingegen darin, dass die Wurzeln der aufsuchenden Jugendarbeit auf Erkenntnisse aus Projekten und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur Problematik delinquenter Jugendgruppen in den USA der 1920er Jahre und den sich daran anschließenden, zahlreichen Nachfolgeprojekten zurückgehen (vgl. Krafeld 2004, S. 7; Thole 2000, S. 130; Wittmann/Kampermann 2008, S. 15 f. sowie ausführlich S. 33 ff.; Specht 1979,
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1989; Keppeler/Specht 2011, S. 959). In diesen Projekten entwickelten „so genannte ‚area worker‘ im Rahmen der Gemeinwesenarbeit Programme für Jugendbanden (‚street gangs‘). Losgelöst von ihren Einrichtungen suchten sie delinquent handelnde Jugendliche auf der Straße oder an den Treffpunkten der Jugendlichen auf“ (Wittmann/Kampermann 2008, S 15 f.; vgl. ebenso Keppeler/ Specht 2011, S. 959; Specht 1979, S. 38). Eine zentrale Innovation dieser Vorgehendweise war aber vor allem, dass es nicht darum gehen sollte, die Jugendlichen von ihren Banden zu separieren und die Gruppen zu zerschlagen, sondern mit der Gruppe zu arbeiten und die Gruppe als Sozialisationsinstanz und Lernfeld zu begreifen (vgl. Wittmann/Kampermann 2008, S. 16 f.; vgl. dazu auch Miltner 1982, S. 142 ff.; Huber 2014, S. 7 ff.; Specht 1979, S. 28 ff.; Specht 1989; Keppeler/Specht 2011). Neben der Berücksichtigung dieses Gruppenkontextes spielte in allen Projekten aber auch die Gemeinwesenarbeit eine wichtige Rolle. Die SozialarbeiterInnen verstanden sich hierbei sowohl als Interessensvertretung der jungen Menschen als auch als Vermittler zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen (vgl. Wittmann/Kampermann 2008, S. 33 ff.). In den 50er und 60er Jahren entwickelten sich dann auch in Europa erste Ansätze einer aufsuchenden Jugendarbeit (ein Überblick dazu in Wittmann/ Kampermann 2008, S. 21). So entstand in England der Arbeitsansatz „Detached Work“, der bereits in Abschn. 2 erwähnt wurde. In den Niederlanden hingegen führten Anfang der 1970er Jahre sowohl die zunehmende Problematik der Drogenszene, die „Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ (Hazekamp 1989, S. 62 f.) sowie Unterstützungsbedarfe von jungen Menschen, die von anderen Angeboten der Jugendhilfe nicht mehr erreicht wurden, zur Entwicklung des Arbeitsansatzes „Street Corner Work“, mit dem Ziel, „die Kluft zwischen Jugendlichen und Institutionen für Jugendarbeit und Jugendhilfe zu überbrücken“ (ebd., S. 69; vgl. ebenso Trautmann 1989). In der Schweiz entstand die sogenannte „Gassenarbeit“, die sich jedoch eher zu einem Ansatz für die Arbeit mit Drogenkonsumierenden entwickelte und sich mittlerweile auch an marginalisierte Erwachsene richtet (aktuell scheint sich aber auch in der Schweiz der Begriff der „Mobilen Jugendarbeit“ durchzusetzen; vgl. Huber 2014; Kramer 2004). Auch in Frankreich lässt sich eine Form aufsuchender Jugendarbeit finden („travail de la rue“) und nach den osteuropäischen Transformationsprozessen in den 1990er Jahren entstanden solche Ansätze auch in verschiedenen osteuropäischen Ländern (vgl. dazu Wittmann/Kampermann 2008, S. 21). In Deutschland vollzog sich die Entwicklung in unterschiedlichen Regionen teilweise parallel (vgl. Klose/Steffan 2005, S. 306) und führte in der Folge auch zu unterschiedlichen Bezeichnungen.
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3.1 Die historischen Wurzeln der Mobilen Jugendarbeit in Südwestdeutschland Im Südwesten der Bundesrepublik Deutschlands ist die Geschichte der sogenannten „Mobilen Jugendarbeit“ im Wesentlichen geprägt durch die Arbeiten von Walter Specht (1979). Von ihm wurde das Konzept der Mobilen Jugendarbeit als Reaktion auf aktuelle Vorkommnisse mit delinquenten Jugendcliquen in zwei Stuttgarter Vororten Ende der 60er des letzten Jahrhunderts entwickelt. Hintergrund dessen war, dass aufgrund der zunehmenden Urbanisierung viele Hochhaussiedlungen und Trabantenstädte im Stuttgarter Umland mit häufig unzureichender Infrastruktur für Kinder und Jugendliche gebaut wurden, sodass es vermehrt zu Problemen mit delinquenten Jugendgruppen (u. a. sogar zu einem Polizistenmord) kam (vgl. Keppeler/Specht 2011, S. 960; Specht 1979, S. 85 ff.). Aus diesem Grunde ist es kein Zufall, dass die ersten Standorte der damaligen „Gesellschaft für soziale Jugendarbeit Stuttgart“ in eben solchen Stadtteilen, zunächst in Stuttgart-Freiberg sowie in Stuttgart-Rot im Jahr 1970, und ein Jahr später in Stuttgart-Mönchsfeld, entstanden (vgl. Wittmann/Kampermann 2008, S. 17; Klenk/Häberlein 1995, S. 144 f.; Keppeler 1997, S. 19 f.; ausführlich: Specht 1979, S. 85 ff. sowie S. 96). Specht entwickelte auf Basis der Erfahrungen mit Streetwork-Ansätzen in den USA einen gemeinwesen- und gruppenbezogenen Ansatz aufsuchender Jugendarbeit, der vor allem der Arbeit mit den Gruppen in ihrer jeweiligen Lebenswelt gerecht werden sollte. Damit grenzte sich dieser Ansatz von der „Komm-Struktur“ der Institutionen der Offenen Jugendarbeit sowie von der separierenden und auf Individualhilfe setzenden Jugendhilfemaßnahmen, die den Gruppenkontext und Lebensweltbezug ignorierten, deutlich ab (vgl. Wittmann/Kampermann 2008, S. 17; Huber 2004, S. 10 ff.; vgl. dazu auch Deinet/Krisch 2013, S. 416.). Kernbestandteile dieses Konzepts waren von Anfang an die aufsuchende Kontaktaufnahme (Streetwork), die daran anschließenden, bewusst initiierten Sport- und Freizeitangebote (Clubarbeit), die Einzel- und Gruppenberatung sowie der Einbezug des Gemeinwesens, vor allem mit dem Zweck der Entstigmatisierung der Jugendgruppen (vgl. Specht 1979, S. 112 ff.). Mithilfe dieses neuen Arbeitsansatzes gelang es schließlich, dass die Jugendkriminalität in diesen Stadtteilen zurückging, was als Erfolg der Mobilen Jugendarbeit gewertet wurde (vgl. Huber 2014, S. 13; LAG Mobile Jugendarbeit/ Streetwork e. V. u. a. 2011, S. 6 f.; Klenk/Häberlein 1995, S. 145), sodass in den Folgejahren weitere Standorte für Mobile Jugendarbeit in Stuttgart gegründet
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wurden, auch weil die Offene Jugendarbeit augenscheinlich keine passenden Konzepte für besonders problembelastete und hoch delinquente Jugendgruppen finden konnte (vgl. Keppeler 1997, S. 20). Aus dieser Dynamik heraus entstand ein stadtteilorientierter Ansatz einer aufsuchenden Jugendarbeit, der bis heute in seiner Grundidee besteht und durch die evangelischen und katholischen Kirchengemeinden in den verschiedenen Stadtteilen als auch durch die Evangelische Gesellschaft e. V. und den Caritasverband für Stuttgart e. V. gemeinsam getragen wird (Klenk/Häberlein 1995, S. 145; LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork e. V. u. a. 2011, S. 7). Interessant in diesem Zusammenhang ist jedoch, dass sich das Handlungsfeld der Mobilen Jugendarbeit in Stuttgart völlig unabhängig von den bereits existierenden offenen Jugendeinrichtungen entwickelte und es in der Vergangenheit auch immer wieder zu Abgrenzungsbestrebungen zwischen beiden Handlungsfeldern kam. Begründet werden kann dies sicher damit, dass sich die Mobile Jugendarbeit nicht aus der Offenen Kinder- und Jugendarbeit heraus entwickelt hat und damit auch nicht „mit den Entwicklungsströmen der Offenen Jugendarbeit verbunden [ist]“ (Klose/Steffan 2005, S. 306). Dieses „Nebeneinander“ der beiden Handlungsfelder spiegelt sich nicht zuletzt in den bis heute bestehenden unterschiedlichen Trägerschaften von Mobiler Jugendarbeit und Offener Kinder- und Jugendarbeit in Stuttgart wider (vgl. Deinet/Krisch 2013, S. 416). Ab Mitte der 1970er Jahre wurde dann die Idee der Mobilen Jugendarbeit auch in anderen Städten in Baden-Württemberg aufgegriffen und in den 80er und 90er Jahren breite sich das Konzept auch bundesweit aus. Vor allem in den neuen Bundesländern wurden dabei im Rahmen des „Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt“ Einrichtungen der Mobilen Jugendarbeit gegründet. Insgesamt wird in einer Publikation aus dem Jahr 2008 von bundesweit etwa 500 bis 600 Einrichtungen und Projekten der Mobilen Jugendarbeit berichtet, wobei der zahlenmäßige Schwerpunkt nach wie vor in Baden-Württemberg liegt (vgl. Wittmann/Kampermann 2008, S. 18 f.). Verschiedene Standorte und Projekte schlossen sich in Baden-Württemberg in der „Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg“ zusammen. Deutschlandweit wurde schließlich die „Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork/Mobile Jugendarbeit“ gegründet. Auf internationaler Ebene gibt es zudem die „Internationale Gesellschaft für Mobile Jugendarbeit“ (ISMO) (vgl. dazu LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork e. V. u. a. 2011, S. 7). Insgesamt gehört die Mobile Jugendarbeit damit zu den bekanntesten Ansätzen aufsuchender Jugendarbeit.
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3.2 Historische Entwicklung von Straßensozialarbeit/ Streetwork und aufsuchender Sozialarbeit Neben der Mobilen Jugendarbeit haben sich seit Ende der 1960er und insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren in verschiedenen Regionen der Bundesrepublik Deutschland aber auch spezifische Formen der sogenannten Straßensozialarbeit/Streetwork bzw. aufsuchenden Sozialarbeit entwickelt, hierbei vor allem in den westdeutschen Großstädten Berlin, Hamburg und München (vgl. Klose/Steffan 2005, S. 306; ein Überblick findet sich in Kiebel 1995). Auslöser waren meist spezifische Konflikte oder delinquentes Verhalten Jugendlicher im öffentlichen Raum, die häufig nach ordnungspolitisch motivierten Lösungen verlangten (vgl. beispielsweise Keppeler 1989, S. 16; Kiebel 1995, S. 24 f.; Becker 1995, S. 51). Die daraufhin entwickelten Konzepte und Ansätze sind jedoch so vielfältig, dass eine einheitliche und konsistente Beschreibung des Arbeitsansatzes „Straßensozialarbeit“ im Grunde nicht möglich ist (vgl. Steffan 1989a; Gref 1995, S. 13 f.). Entsprechend heterogen waren und sind auch die Zielgruppen und Problemstellungen. Die Geschichte von Gangway e. V. (2010) in Berlin geht beispielsweise auf die Bildung von sogenannten „Migranten-Gruppen“ als Reaktion auf rassistische Übergriffe rechtsextremer Gruppierungen zurück. Diese Gruppierungen organisierten sich zunehmend in „Straßengangs“ und es kam in der Folge sowohl zu massiven Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen als auch zu vielfältigen, mehr oder weniger stark organisierten, Formen von Kriminalität. In den 90er Jahren kamen als neue Zielgruppe von Gangway e. V. jedoch noch rechtsorientierte Jugendgruppen aus Ost-Berlin hinzu. (vgl. ebd., S. 15 ff. sowie S. 33 ff.) Fremdenfeindlich motivierte Straftaten rechtsorientierter Jugendlicher waren darüber hinaus in den 1990er Jahren Gegenstand in vielen Modellprojekten, sowohl in größeren Städten als auch im ländlichen Raum (vgl. Wurr/Dittrich 1997; Bregenzer 1995; Voß 1995). Streetwork-Projekte als Reaktion auf Jugenddelinquenz, Gewalt und rechtsorientierte Jugendgruppen wurden daher in den 80er und 90er Jahren in der gesamten Bundesrepublik relativ breitflächig ausgebaut, auch bedingt durch das „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“ (AGAG) der damaligen Bundesregierung. Im Osten Deutschlands kam es in den 90er Jahren sogar zu einem regelrechten „‚Boom´ von Streetworkprojekten“ (Becker/Simon 1995, S. 7), dort erfüllte Streetwork jedoch aufgrund einer mangelhaften Jugendarbeitsinfrastruktur zunehmend die Funktionen offener Jugendeinrichtungen und trug damit wesentlich zum Aufbau von Kinder- und Jugendarbeit bei (vgl. ebd. sowie Krebs 2004, S. 160 ff.; Klose/ Steffan 2005, S. 307).
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Andere Ansätze der aufsuchenden Straßensozialarbeit entwickelten sich, ebenfalls in den 1970er/1980er Jahren, aus der Arbeit mit drogenabhängigen Jugendlichen („Szenearbeit“), zunächst als Teil einer „Therapie-Kette“, in der die aufsuchende Arbeit am Anfang stand (Kiebel 1995, S. 21 f.), später dann verstärkt als niedrigschwelliges Angebot, etwa auf Basis der Erkenntnisse des TU-Drop-Projekts in Berlin (vgl. Steffan 1989b), in dem die Konsumreduzierung und Bereitschaft zur Drogenabstinenz jugendlicher HeroinkonsumentInnen in Abhängigkeit zur sozialen Umwelt und zu lebensweltnahen Begleitmaßnahmen untersucht wurde, oder aufgrund der wachsenden Verelendung und komplexen Problemlagen der Drogenszene im Frankfurter Bahnhofsviertel (vgl. Weimer 1989, Heemann/Niemann 1995). Auch die sich Ende der 70er Jahre in der Schweiz herausbildende Gassenarbeit richtete sich zunehmend an DrogenkonsumentInnen (vgl. Kramer 2004; Flückinger 1989). Daneben sind bereits seit den 1970er Jahren auch Nichtsesshafte/Wohnungslose und (junge) Menschen in besonders schwierigen sozialen Lebenslagen (z. B. jugendliche Prostituierte, AusreißerInnen) Zielgruppe von Straßensozialarbeit, wobei hier betont wird, dass es sich aufgrund der im Vergleich zu Jugendbanden oder „Gangs“ grundsätzlich anderen Problematik um häufig sehr spezielle Konzepte handelt (vgl. Sweeny-Riethmüller 1989; Genreith 1989; Denninger 1989; Wollschläger 1995). Abschließend lassen sich insbesondere seit den 1990er Jahren noch einige, spezielle, „szeneorientierte“ Ansätze finden, etwa die aufsuchende Arbeit in der HausbesetzerInnenszene (Heese 1995), aufsuchende Arbeit im Prostitutionsmilieu, die sich sowohl an männliche als auch an weibliche Prostituierte richten kann (vgl. Heinrichs 1995; Fink 1995), oder die Arbeit mit Fußballfans (Heitmann u. a. 1995). Im Grunde basieren alle diese Streetwork-Projekte im Gegensatz zu dem sozialraumorientierten Profil der Mobilen Jugendarbeit auf einem konkreten Zielgruppen- oder Milieubezug und können als diesbezüglich eigenständig konzipierte Ansätze der Sozialen Arbeit verstanden werden (vgl. Krebs 2004; Heckmann 1989; Gref 1995). Gangway Berlin e. V. (2010) bezeichnet seine Zielgruppen auch als „Menschen, mit denen sich keiner beschäftigen mag“ (vgl. ebd., Einband), Wolfgang Heckmann (1989) spricht von „heißen Arbeitsfeldern“ der Sozialarbeit. Sicher auch aufgrund dieser, politisch durchaus gewollten, Zuschreibung entstand häufig der Eindruck, Straßensozialarbeit wäre eine Art „‚letztes Mittel‘ der Sozialarbeit“ (Becker/Simon 1995, S. 8) bzw. „‚Notnagel‘ im sozialpolitischen Raum“ (Simon 1995, S. 34). Konzeptionell gesehen grenzt sich Streetwork bzw. Straßensozialarbeit von anderen Formen der aufsuchenden Jugendarbeit vor allem dadurch ab, dass nach einer Kontaktaufnahme und etwaigen Beratungsangeboten in Verbindung mit einer parteilichen und
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anwaltschaftlichen Interessensvertretung auf Konfliktreduktion, z. B. gegenüber der Polizei oder anderen relevanten Akteuren, sowie auf die Vermittlung in andere Angebote und Maßnahmen gesetzt wird (vgl. Krebs 2004; Gangway Berlin e. V. 2010). Eine intensivierte Weiterbetreuung, wie dies z. B. bei der Mobilen Jugendarbeit der Fall ist, ist bei diesem Arbeitsansatz nicht intendiert. Aufgrund vielfach bestendender Zugangshemmnisse und der häufig fehlenden Niederschwelligkeit weiterführender Hilfen, fand und findet eine solche Weiterbetreuung in der Praxis jedoch durchaus statt (vgl. Krebs 2004, S. 162). Die Streetwork-Projekte richten sich zudem in der Regel an klar definierte Personengruppen und orientieren sich an ethnografischen Beobachtungen im Rahmen der praktischen Arbeit in spezifischen jugendlichen Lebenswelten (vgl. dazu beispielsweise Miltner 1982). Miltner konnte hierbei zeigen, dass das Einlassen auf die Lebenswelt der Jugendlichen, die Verlässlichkeit und Kontinuität, Nützlichkeitserwartungen vonseiten der Jugendlichen und eine damit zusammenhängende Kompetenz und sachorientierte Vorgehensweise, die Parteilichkeit sowie die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Ziele des/der StreetworkerIn besonders wichtig sind (vgl. ebd., S. 111 ff.). Andere Streetwork-Projekte konnten ähnliche Grundvoraussetzungen identifizieren: Eine gute und verlässliche Beziehung, Kontinuität, Respekt und Akzeptanz, das authentische Auftreten der Fachkräfte, die anwaltschaftliche Vertretung der Interessen der Jugendlichen („Lobbyfunktion“), sowie insbesondere die Parteilichkeit (vgl. Dölker 2004, S. 48 ff.; Gangway Berlin e. V. 2010, S. 12 ff.; Gref 1995, S. 19; Simon 1995, S. 47 f.). Becker/Simon (1995, S. 8) verweisen hierbei auf eine „doppelte“ Funktion von Straßensozialarbeit: Parteiliches Handeln gegenüber dem betreuten Klientel auf der einen Seite und sozialpolitisches Agieren in der Lebenswelt dieser Zielgruppe andererseits.
3.3 Neuere Entwicklungen: sozialraumorientierte (hinausreichende) Jugendarbeit und Aufsuchende Jugendarbeit Krafeld’scher Prägung Neben der Mobilen Jugendarbeit und den vielfältigen zielgruppen- und/ oder milieuspezifischen Formen von Streetwork bzw. Straßensozialarbeit entwickelten sich in den 1990er Jahren auch Ansätze, die entweder dem Charakter einer sozialräumlich orientierten (hinausreichenden) Jugendarbeit entsprachen, oder aber Elemente von Mobiler Jugendarbeit und/oder Straßensozialarbeit mit den Zielen und Methoden der „klassischen“ Jugendarbeit, wie beispielsweise Cliquenarbeit, Freizeitpädagogik oder Projektarbeit, kombinierten (z. B. die
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Aufsuchende Jugendarbeit Krafeld’scher Prägung). Grundlegender Unterschied zu den bisher genannten Formen ist die stärkere Verortung in freizeitpädagogischen und aneignungstheoretischen Traditionen, sodass diese Ansätze auch allgemeine erziehungswissenschaftliche und sozialpädagogische Diskurse stärker einbeziehen und sich im Grunde weder ausschließlich an einer bestimmten „Zielgruppenproblematik“ noch an Theorien und Methoden einer delinquenzorientierten Jugendsozialarbeit orientieren. Neben dem Fokus auf freizeitpädagogische Angebote, die im Sinne der „hinausreichenden Arbeit“ außerhalb von bestimmten Jugendeinrichtungen angeboten werden, können aber durchaus auch Unterstützungs- und Beratungsbedarfe auftauchen; diese bilden jedoch nicht den Ausgangspunkt der Arbeit: „Ein Jugendlicher läßt [sic!] sich nicht in einen Freizeit- und einen Problemjugendlichen aufteilen. Freizeitarbeit und Beratung gehören deshalb zusammen“ (Gref 1989, S. 114). Während sich das Selbstverständnis delinquenzorientierter Ansätze, wie etwa der Mobilen Jugendarbeit oder der Straßensozialarbeit, häufig noch aus einer gewollten Abgrenzung zur „klassischen“ Jugendarbeit speist, wird in diesen Ansätzen eine Kombination und ganzheitliche Vorgehensweise angestrebt. Historisch gesehen wurden diese schwerpunktmäßig erst seit den 1990er Jahren entwickelt und bilden damit die „jüngste“ Tradition in der Reihe der aufsuchenden Arbeitsansätze. Im Sammelband „Straßensozialarbeit“ von Werner Steffan (1989) findet sich hierzu bereits ein erster Erfahrungsbericht zu einem Ansatz, der diese Ganzheitlichkeit und Methodenflexibilität explizit herausstellt (vgl. Gref 1989): Die „Stadtteilbezogene Arbeit im Jugendfreizeitbereich“ in Nürnberg wurde bereits Ende der 70er Jahre gegründet und versteht sich als stadtteilbezogenes Konzept, in dem „Streetwork, Freizeitpädagogik, Beratung und Stadtteilarbeit (…) im Verbund zu sehen [sind]“ (ebd., S. 114). Ausdrücklich wird darauf verwiesen, dass der Ansatz nicht den Charakter einer „sozialen Feuerwehr“ (ebd.) trägt, sodass die Zielgruppe auch relativ breit definiert wird: „Jugendliche (…), die durch bestehende Freizeit- und Beratungsangebote nicht angesprochen werden“ (ebd., S. 115). Ein weiteres Charakteristikum ist die Anmietung und Nutzung von kleineren Räumen (ca. 100 m2) als Freizeittreff für Jugendliche. Hierbei wird unterschieden zwischen Jugendtreffs mit festen Öffnungszeiten und kontinuierlicher Betreuung, und Jugendclubs, die von den Jugendlichen in Selbstorganisation genutzt werden (vgl. ebd., S. 116). Diese Räume sind zudem meist in bestimmte Wohngebiete eingebettet und tragen damit zur Akzeptanz und sozialen Integration der jungen Menschen in das Stadtteilgefüge bei. Solche Formen aufsuchender Jugendarbeit findet sich aktuell beispielsweise in Großstädten wie Berlin oder Bremen: Im Gegensatz zu dem an den Prämissen einer delinquenzorientierten Straßensozialarbeit orientierten Ansatz
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von Gangway e. V. (siehe oben) verfolgt beispielsweise Outreach gGmbH in Berlin seit etwa 25 Jahren einen solchen sozialraumorientierten Ansatz. Die Angebotspalette erstreckt sich „von einem pädagogisch begleiteten Raumangebot über sportlich orientierte Aktivitäten und musisch-kreative Arbeit bis hin zu experimentellen Formen von Jugendarbeit.“ (www.outreach-berlin.de). Dabei wird betont, dass sowohl Aspekte der Mobilen Jugendarbeit als auch die Grundprinzipien der sozialräumlichen Jugendarbeit so miteinander kombinierte werden, dass ein eigenständiger Arbeitsansatz entstanden ist. Ziel von Outreach ist es, in Form einer Verzahnung von aufsuchenden und stationären Anteilen, Arrangements zu schaffen, die von Jugendlichen zur Raumaneignung genutzt werden können. Darüber hinaus agiert Outreach als Mediator bei Konflikten im Stadtteil und versucht, Jugendliche an Entscheidungen und Veränderungsprozessen im Stadtteil, die sie unmittelbar betreffen, zu beteiligen (vgl. dazu Outreach 2017). Der „Verein zur Förderung akzeptierender Jugendarbeit e. V.“ (VAJA) in Bremen besteht seit 1992 und richtet sein Angebot an junge Menschen, die von anderen Angeboten der Jugendhilfe nicht (mehr) erreicht werden und für die der öffentliche Raum zentraler Treff- und Freizeitort geworden ist (vgl. VAJA 2017, S. 7). Methodischer und theoretischer Hintergrund sind die grundlegenden Leitlinien der „Akzeptierenden Jugendarbeit“ (Krafeld 1996; Voß 1995) sowie der „Aufsuchenden Jugendarbeit“ Krafeld’scher Prägung (Krafeld 2004). Während in dem von Specht (1979) ausgearbeiteten Konzept der Mobilen Jugendarbeit vor allem eine Kombination von „klassischen“ Methoden der Sozialen Arbeit (Gruppenarbeit, Einzelfallhilfe und Gemeinwesenarbeit) ausformuliert wurden, konzentrierten sich die Arbeiten von Krafeld (2004) auf andere theoretische Begründungs- und Orientierungsmuster. Wie bereits in Abschn. 2.1 skizziert, verweist Krafeld (2004, S. 8 ff.) hierbei auf die Förderung einer produktiven „Aneignung von Umwelt als unverzichtbares Element der Entwicklung junger Menschen“ (ebd., S. 8). Aus diesem Grunde entwickelt Krafeld ein aneignungstheoretisches, der theoretischen Sozialpädagogik nahestehendes Konzept einer aufsuchenden Jugendarbeit, während bei der Mobilen Jugendarbeit und den verschiedenen Streetwork-Ansätzen die konkrete Hilfestellung der Fachkräfte im Hinblick auf problematische Lebenslagen und Delinquenz im Vordergrund stehen. Inwiefern die Aufsuchende Jugendarbeit nach Krafeld jedoch wirklich als ein eigenständiges Handlungsfeld innerhalb der aufsuchenden Arbeitsansätze gesehen werden kann, ist – wie bereits in Abschn. 2 beschrieben – umstritten. So kritisieren Klose/Steffan (2005, S. 306 f.), dass mit der Einführung der „Akzeptierenden Jugendarbeit“ und der „Aufsuchenden Jugendarbeit“ lediglich neue Begriffe in den Fachdiskurs eingebracht wurden, aber damit keine w irkliche
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Weiterentwicklung erkennbar ist. Die praktische Umsetzung dieser „neuen“ Konzepte, beispielsweise durch VAJA e. V. und Outreach gGmbH zeigt jedoch durchaus, dass die bisher delinquenz- und zielgruppenorientierten Perspektiven durch eine sozialraumorientierte, aneignungstheoretische und/oder freizeitpädagogische Ausrichtung ergänzt wurden. Die historische Entwicklung verschiedener Arbeitsansätze verdeutlicht insgesamt, dass die aufsuchenden Konzepte entweder zielgruppenspezifisch/ delinquenzorientiert oder sozialraumorientiert/aneignungstheoretisch begründet werden. Vor allem die anfänglich dargestellten Arbeitsansätze der amerikanischen Straßengang-Projekte, die Anfänge der Mobilen Jugendarbeit sowie die eigenständige Ansätze von Streetwork/Straßensozialarbeit fokussieren stets auf „delinquent handelnde Jugendliche“ (Krebs 2004, S. 163), während sich andere Konzepte, etwa die hinausreichenden Ansätze der Offenen Jugendarbeit, eher auf Verbesserungen der Freizeitsituation und der Aneignungsmöglichkeiten junger Menschen in einem gegebenen Sozialraum beziehen. Letztendlich lassen sich insbesondere zwei Ansätze ausmachen, denen es am ehesten gelungen ist, diese verschiedenen Facetten der aufsuchenden Arbeit miteinander zu kombinieren: Die aktuelle Form der Mobilen Jugendarbeit sowie die Aufsuchende Jugendarbeit Krafeld’scher Prägung. In den folgenden beiden Abschnitten werden diese beiden Ansätze daher nochmals etwas ausführlicher vorgestellt.
4 Das Handlungsfeld der Mobilen Jugendarbeit – Grundlagen, Zielgruppen, Arbeitsformen und Grundprinzipien Die Mobile Jugendarbeit ist eines der bekanntesten Handlungsfelder der aufsuchenden Jugendarbeit. Hierzu lässt sich eine Fülle an Grundlagenliteratur finden und auch die Wirkungen sind hinlänglich belegt (vgl. beispielsweise Stumpp u. a. 2009; Mayrhofer 2017; LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork e. V. u. a. 2011; Wittmann/Kampermann 2008; Delmas 2009). Die Mobile Jugendarbeit zeichnet sich durch einige „typische“, charakteristische Merkmale aus, etwa eine „doppelseitige“ rechtliche Fundierung (hier werden sowohl § 11 SGB VIII als auch § 13 SGB VIII zur Begründung herangezogen), eine damit zusammenhängende spezifische und erweiterte Zielgruppendefinition, eine Orientierung an sozialräumlich- und/oder zielgruppenorientierter Konzepte, eine dezentrale Struktur, eine detailliert ausgearbeitete Methodenkombination, sowie die konsequente Orientierung an bestimmten Leitprinzipien.
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4.1 Rechtliche Grundlagen der Mobilen Jugendarbeit Was die rechtlichen Grundlagen betrifft, so liegt zunächst nach § 1 SGB VIII – „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ – nahe, dass sich auch die Leistungen der Mobilen Jugendarbeit potenziell an alle junge Menschen in einem gegebenen Sozialraum richten können. Aus diesem Grunde basiert dieses Handlungsfeld, wie auch die Kinder- und Jugendarbeit allgemein, zunächst auf dem Forderungskatalog des § 11 SGB VIII (Jugendarbeit). Mobile Jugendarbeit erbringt hierbei „im Sinne von § 11 SGB VIII Jugendarbeit für Jugendliche, die über andere Angebote der Jugendarbeit nicht erreicht werden“ (LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork e. V. u. a. 2011, S. 11). Da dennoch ein spezifischer Zielgruppenbezug, etwa aufgrund von Delinquenz oder sozialer Benachteiligungen, in der Mobilen Jugendarbeit eine besonders wichtige Rolle spielt, wird zur rechtlichen Begründung dieses Handlungsfelds noch der § 13 (Jugendsozialarbeit) herangezogen. Die Mobile Jugendarbeit agiert praktisch an der Schnittstelle zwischen diesen beiden Paragrafen (vgl. Klenk/Häberlein 1995; Keppeler 1997). In der Konzeption der Mobilen Jugendarbeit Stuttgart (2015a, b) wird dies damit begründet, dass es zunächst eines erweiterten Verständnisses von „Zielgruppe“ bedarf, um auf dieser Basis die relevante Personengruppe mit Unterstützungsbedarf überhaupt erst identifizieren zu können. Damit grenzt sich die Mobile Jugendarbeit einerseits von einer „Allzuständigkeit“ im Sinne der Angebote der Kinder- und Jugendarbeit ab, der Zugang zur sogenannten Kernzielgruppe nach § 13 SGB VIII („junge Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind“) gelingt jedoch nur auf Basis einer generellen Offenheit. Dadurch soll auch gewährleistet werden, dass sämtliche junge Menschen, die den Kriterien des § 13 entsprechen, Zugang zu den Angeboten finden können. Die MitarbeiterInnen sind also zunächst potenziell „offen“ für alle Anliegen („potenzielle NutzerInnen“), eine Intensivierung der sozialpädagogischen Arbeit findet dann aber letztendlich mit der Personengruppe statt, die den jeweilig gesetzten Kriterien der „Kernzielgruppe“ nach § 13 entsprechen (vgl. Mobile Jugendarbeit Stuttgart 2015a/2015b). Unabhängig davon bezieht sich die Mobile Jugendarbeit aber auch konkret auf den Leistungskatalog nach § 11, etwa als gemeinwesenorientierte Jugendarbeit nach § 11 Absatz 2 Satz 2 SGB VIII, als Freizeitangebot nach § 11 Absatz 3 Nummer 2 SGB VIII, oder als Jugendberatung nach § 11 Absatz 3 Nummer 6 SGB VIII (vgl. Keppeler 1997,
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S. 35). Ebenso beinhaltet die Mobile Jugendarbeit durchaus auch Ansätze der außerschulischen Jugendbildung (§ 11 Absatz 3 Nummer 1 SGB VIII) sowie einer arbeitswelt-, schul- und familienbezogener Jugendarbeit (§ 11 Absatz 3 Nummer 3 SGB VIII). Insgesamt spielen in allen Fällen auch präventive Anliegen (z. B. Sucht-, Gewalt- oder Kriminalprävention) eine wichtige Rolle (vgl. Mobile Jugendarbeit Stuttgart 2015a/2015b; Klenk/Häberlein 1995).
4.2 Theoretische Traditionslinien und Zielgruppen der Mobilen Jugendarbeit Die Mobile Jugendarbeit ist, zumindest was ihre Historie betrifft, eindeutig delinquenz- und zielgruppenorientiert entwickelt worden (vgl. Specht 1979). Das Zielgruppenmerkmal „Delinquenz“, im engeren Sinne „Jugendkriminalität“, wird dabei von Specht selbst mehrfach herausgestellt. Entsprechend definiert Specht die Zielgruppe dieses Ansatzes wie folgt: „Die sozialpädagogischen Interventionen orientieren sich beim Festlegen der Zielgruppe (…) immer an bereits bestehenden Gruppen, deren Mitglieder (…) nach außen entweder durch die Öffentlichkeit beunruhigende Serien strafbarer Handlungen oder durch besonders spektakuläre Vergehen (…) auf sich und ihre Lebensumstände aufmerksam machten.“ (ebd., S. 108)
Dabei greift das Konzept der Mobilen Jugendarbeit auf theoretische Traditionslinien sozialpsychologischer und soziologischer Forschung im Bereich der Jugenddelinquenz, vor allem auf Erkenntnisse US-amerikanischer Forschung zur Problematik von Jugendbanden bzw. „Gangs“ in amerikanischen Großstädten, zurück (vgl. ebd., S. 13 ff.). Specht entwickelt daraus ein „sozialpädagogisches Verständnis“ von Jugendkriminalität (vgl. ebd., S. 4 ff.) indem er sich von bisherigen, auf Individualhilfe setzende und von der „natürlichen“ Lebenswelt separierenden Maßnahmen abgrenzt, und auf die zentrale Bedeutung der jeweiligen sozial-ökologischen und ökonomischen Bedingungen sowie der Bezugsgruppen verweist. Beide Ebenen, sowohl die Gruppenprozesse (vgl. ebd., S. 6 ff.) als auch die Kontextbedingungen des Lebensumfelds (vgl. ebd., S. 24 ff.), sind für Specht bei der Erklärung von Jugenddelinquenz primär wichtig und rahmen historisch gesehen das Konzept der Mobilen Jugendarbeit. Specht (ebd., S. 6 ff.) begreift Jugenddelinquenz daher zum einen immer in Wechselwirkung zu Gruppenprozessen und verweist auf den zentralen Befund, dass ein Großteil der Straftaten von delinquent handelnden Jugendlichen gemeinsam
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im Gruppenkontext begangen werden und es deswegen eine Alternative zu diesem Gruppenhandeln braucht: „Welche anderen ‚Taten´ mit mindestens den gleichen Befriedigungsqualitäten kann ich dem Jugendlichen innerhalb der Gruppe als Handlungsalternative zu delinquentem Verhalten anbieten?“ (ebd., S. 12). Neben den Gruppenprozessen sind es zum anderen aber insbesondere die sozial-ökologischen Kontextbedingungen, in denen die Jugendlichen aufwachsen, die einen Einfluss auf das Entstehen delinquenter Verhaltensweisen haben. Als Beleg für die Bedeutung dieser Kontextbedingungen nennt er Beobachtungen, dass in bestimmten „Wohngebieten oder Stadtteilen häufiger delinquent handelnde Jugendliche durch Instanzen sozialer Kontrolle registriert werden als in anderen (…)“ (ebd., S. 25). Specht verweist hierbei auf die Ergebnisse stadtsoziologischer Untersuchungen der sogenannten „Chicagoer Schule“ (ebd., S. 26 f.), aus denen hervorgeht, dass manche Stadtgebiete trotz hoher Zu- und Abwanderung konstant hohe Kriminalitätsraten aufweisen. Dabei vermutet er, dass kriminelles Verhalten an neu hinzugezogene oder auch jüngere Jugendliche sozusagen „weitervermittelt“ wird. Als Ursache für diese „kriminelle Tradition“ in manchen Stadteilen nennt Specht sozial-ökologische und ökonomische Mängellagen, weswegen es Ziel sozialpädagogischer Angebote sein müsse, die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern. Beide Ebenen, die Gruppenprozesse sowie die jeweils vorherrschenden sozial-ökologischen Mängellagen, scheinen zudem noch miteinander zu interagieren: So vermutet Specht (ebd., S. 29), dass sich die Bedeutung der Gleichaltrigengruppe als Quelle für Status und Anerkennung in Regionen, in denen diese Mängellagen vorherrschen, noch erhöht. Damit stützt sich das Konzept der Mobilen Jugendarbeit historisch gesehen auf zwei wichtige Traditionslinien: Zum einen auf gruppenbezogene Deutungen delinquenten Verhaltens, aus denen die Wichtigkeit einer sozialpädagogisch ausgerichteten Gruppenarbeit abgeleitet wird, zum anderen auf die sozial-ökologischen Kontextbedingungen, aus denen sich die Bedeutung der Gemeinwesenarbeit herleiten lässt (vgl. ausführlich ebd., S. 30 ff.). In den letzten Jahrzehnten hat die Mobile Jugendarbeit jedoch zunehmend ihr Portfolio erweitert und bezieht gemäß § 13 SGB VIII zunehmend die Merkmale „soziale Benachteiligung“ und/oder „individuelle Beeinträchtigung“ in ihre Zielgruppendefinition mit ein (vgl. beispielsweise Mobile Jugendarbeit 2015a, 2015b). Die frühere delinquenzorientierte Ausrichtung wurde damit stärker zu einem aufsuchenden Ansatz der Jugendsozialarbeit weiterentwickelt. Insgesamt gesehen richtet die Mobile Jugendarbeit daher heute ihre Angebote an einer Kernzielgruppe aus, die den Kriterien des § 13 SGB VIII entsprechen, d. h. sie arbeitet überwiegend mit Kindern und Jugendlichen beiderlei Geschlechts, die aufgrund
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individueller Beeinträchtigung oder sozialer Benachteiligung auf Unterstützung angewiesen sind. Die Bandbreite dieser Benachteiligungsdimensionen ist jedoch groß. In der Literatur wird ein relativ umfassendes Verständnis von sowohl Zielgruppen als auch entsprechenden Formen der Mobilen Jugendarbeit beschrieben (vgl. etwa Klenk/Häberlein 1995, S. 147 f.; LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork e. V. u. a. 2011, S. 11 sowie S. 15): • Straffällig gewordene und/oder gewaltbereite Jugendliche bzw. Jugendgruppen sowie junge Menschen mit anderen devianten Verhaltensweisen; Szenen, Gangs und Cliquen, die häufig als störend und die öffentliche Sicherheit gefährdend empfunden werden, • junge Menschen mit besonderen Schwierigkeiten auf dem Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt (bildungs- und arbeitsmarktbenachteiligte Jugendliche, Jugendliche ohne Schulabschluss und/oder ohne Ausbildung, arbeitslose oder von Arbeitslosigkeit bedrohte Jugendliche), • Jugendliche in prekären Lebenslagen und/oder mit Suchtproblemen (Drogenabhängige, Wohnungslose, Prostituierte, Überschuldete), • hilfe- und ratsuchende Jugendliche in Gefährdungs- und Risikosituationen (z. B. aufgrund belastender Familienverhältnisse, familiärer Gewalt oder sexuellem Missbrauch), • ausgegrenzte oder von Ausgrenzung bedrohte Jugendliche (Jugendliche, die keine Anbindung mehr an herkömmliche Institutionen der Jugendhilfe haben), sowie • junge Menschen aus als soziale Brennpunkte definierten Stadtteilen oder Regionen. Verallgemeinernd betrachtet wird in den bundesweiten Standards zu Streetwork und Mobiler Jugendarbeit im Kern vor allem ein Kriterium hervorgehoben: Jugendliche mit Beratungs- bzw. Unterstützungsbedarf, die von herkömmlichen Angeboten der Sozial- und Jugendarbeit kaum oder nicht erreicht werden (vgl. Krebs 2004). Daneben interagiert die Mobile Jugendarbeit aber auch noch mit weiteren Schlüsselakteuren, die sowohl für den Zugang als auch für den Hilfeprozess selbst von Bedeutung sind, etwa Polizei, LehrerInnen, AusbildungsleiterInnen, MitarbeiterInnen des Sozialen Dienstes, Vereine, usw. Aus diesem Grunde listet die Konzeption der Mobilen Jugendarbeit in Stuttgart neben „potenziellen NutzerInnen“ und „Kernzielgruppe“ auch noch die Arbeit mit erweiterten Zielgruppen auf (vgl. dazu Mobile Jugendarbeit Stuttgart 2015a, S. 10; 2015b, S. 17).
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4.3 Konzepte, Arbeitsformen und Methoden der Mobilen Jugendarbeit Entsprechend dieser aktuell bestehenden Zielgruppenvielfalt lassen sich verschiedene Konzepte Mobiler Jugendarbeit finden. Dabei werden meist zwei verschiedene Formen unterscheiden (vgl. Klose, Steffan 2005, S. 308; Arbeitskreis Mobile Jugendarbeit Stuttgart 1993; Wittmann/Kampermann 2008, S. 20): • Sozialraumbezogene bzw. gemeinwesenorientierte Mobile Jugendarbeit (richtet sich an Jugendliche in einem bestimmten Stadtteil oder einer bestimmten Gemeinde; der Anlass sind meist soziale Probleme, soziale Konflikte, sowie die Verhinderung von Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozessen). • Zielgruppen-, szene- oder delinquenzorientierte Mobile Jugendarbeit (richtet sich vorwiegend an deviante bzw. „auffällige“ Cliquen, subkulturell geprägte Jugendszenen, gewalttätige Jugendgruppen, politisch radikalisierte Gruppierungen oder auch an marginalisierte und von sozialer Benachteiligung betroffene Jugendliche; Auslöser sind meist Probleme, die konkrete Jugendgruppen verursachen, oder bestimmte benachteiligte Lebenslagen und Perspektivlosigkeit) Methodisch unterscheiden sich diese beiden Formen vor allem dadurch, dass in zielgruppen- szene- und delinquenzorientierten Ansätze der Aspekt der (Gruppen-) Beratung und Einzelfallhilfe stärker akzentuiert wird als in gemeinwesenorientierten Konzeptionen (vgl. Wittmann/Kamermann 2008, S. 20). Des Weiteren unterscheiden sich die Konzepte noch dadurch, ob sie auf den (inner) städtischen Raum oder auf den ländlichen Raum bezogen sind (vgl. Keppeler 1997; LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork e. V. u. a. 2011). Ein wichtiges Charakteristikum der Mobilen Jugendarbeit, insbesondere Stuttgarter Prägung, ist die dezentrale Verankerung des Angebots in verschiedenen Stadtteilen. Die „Stadtteilverankerung“ wird dabei als Grundprinzip der Mobilen Jugendarbeit in Stuttgart genannt (vgl. Klenk/Häberlein 1995, S. 147). In Stuttgart manifestiert sich diese Stadtteilorientierung vor allem auch in der Trägerschaft. So wird das Angebot dort sowohl von den evangelischen als auch katholischen Kirchengemeinden der jeweiligen Stadtteile, zusammen mit den beiden Fachverbänden Evangelische Gesellschaft in Stuttgart e. V. und Caritasverband für Stuttgart e. V. bereits von Anfang an gemeinsam getragen (vgl. LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork e. V. u. a. 2011, S. 7; Specht 1979, S. 96).
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Aktuell existieren in Stuttgart 17 verschiedene Standorte im gesamten Stadtgebiet (vgl. Mobile Jugendarbeit Stuttgart 2015a, S. 14). Die bereits vorgestellte Kombination der vier Methoden Streetwork, Gruppenbzw. Cliquenarbeit, individuelle Einzelfallhilfe/-beratung und Gemeinwesenarbeit wurden in keinem anderen Ansatz so detailliert ausgearbeitet wie in dem Ansatz der Mobilen Jugendarbeit. In zahlreichen Veröffentlichungen finden sich hierzu Ausführungen und Beispiele (vgl. beispielsweise Mobile Jugendarbeit Stuttgart 2015a, S. 12 ff; Huber 2014, S. 11 ff.; LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork e. V. u. a. 2011, S. 20 ff.; Keppeler/Specht 2011; Keppeler 1997, S. 36 ff.; Klenk/ Häberlein 1995, S. 149 ff.): • Streetwork wird in der Mobilen Jugendarbeit als eigene Methode verstanden und daher am Anfang der vier Arbeitsformen genannt, weil das Aufsuchen der Jugendlichen an relevanten Treffpunkten und Plätzen die Basis für die Kontakt- und Beziehungsaufnahme zu den jungen Menschen und Ausgangspunkt jeder weiteren Vorgehensweise ist. Streetwork ist jedoch nicht nur die Basis für den weiteren sozialpädagogischen Hilfeprozess, sondern gleichermaßen auch Analysemethode. So dienen die StreetworkGänge der Erkundung des jeweiligen Sozialraums, um so einen Eindruck von den jeweiligen Begebenheiten vor Ort und den relevanten Treffpunkten junger Menschen zu bekommen. Zusätzlich werden Ressourcen identifiziert und Kontakte zu wichtigen Schlüsselpersonen und relevanten Institutionen geknüpft. Insofern hat die Arbeitsform Streetwork direkte Bezüge zur vierten Arbeitsform der Gemeinwesenarbeit. Streetwork findet dabei keineswegs nur auf der „Straße“ bzw. auf öffentlichen Plätzen und in Parks statt. Genauso kommen „halböffentliche Räume“ wie gastronomische Einrichtungen (Miltner 1982), brachliegende Industrie-, Gewerbe- oder Wohnflächen und ehemalige Flugfelder (Verein für Jugendhilfe im Landkreis Böblingen e. V. 2015, 2016) sowie kommerzielle Orte wie Shopping Malls (vgl. dazu exemplarisch Deinet 2017, 2018a, 2018b; Deinet/Thomas 2018; Meyer/Rahn 2017; Neumann 2018; Rahn/Meyer 2017, 2018; Reutlinger/Kemper/Schmid 2018; Schorn 2018) und sogar Bibliotheken (vgl. Meyer/Rahn 2017; Rahn/Meyer 2017, 2018) in Frage. In einigen dieser Felder orientieren sich die Konzepte zudem weniger an einem delinquenzorientierten Zielgruppenbezug, sondern vor allem an einer sozialräumlichen und aneignungstheoretischen Perspektive (vgl. hierzu Deinet 2017, Deinet/Thomas 2018). Alles in allem werden sowohl Örtlichkeit, jeweiliger Beratungs- und Unterstützungsbedarf als auch Zeitpunkt grundsätzlich von dem Treff- und Freizeitverhalten, von den jeweiligen Bedarfen und Interessen, sowie vom Zeitrhythmus der jungen Menschen
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bestimmt. Aus diesem Grund müssen die dort tätigen Fachkräfte über eine besondere Haltung verfügen, weil sie „Gast“ in der Lebenswelt der jungen Menschen sind. Die Leitprinzipien Freiwilligkeit, Akzeptanz und Vertraulichkeit (siehe weiter unten) sind daher besonders wichtig. Wird vonseiten der jungen Menschen kein Gesprächsbedarf signalisiert, ist dies in jedem Fall zu akzeptieren. Streetwork ermöglicht insgesamt einen niederschwelligen, mobilen und flexiblen Zugang zur relevanten Zielgruppe. Aus diesem Grunde darf diese zentrale Methode nicht auf Kosten der Intensivierung anderer Arbeitsformen (z. B. Einzelfallhilfe) vernachlässigt werden. • Im Rahmen von Gruppen-, Cliquen- bzw. Clubarbeit werden den jungen Menschen primär freizeit- und erlebnispädagogische Aktionen angeboten. Die Gruppen bzw. Clubs werden meist aus bestehenden Jugendgruppen gebildet, mit denen im Rahmen von Streetwork-Gängen intensiver gearbeitet wird. Dabei setzt diese Form der Gruppenarbeit auf die zentrale Bedeutung der Gleichaltrigengruppe im Jugendalter als Übungs- und Lernfeld für neue Rollen, soziale Kompetenzen, Freizeitinteressen und Werteentwicklung. Specht (1979) verweist in seinen früheren Arbeiten zudem auf die Bedeutung politischer bzw. demokratischer Lernprozesse (vgl. ebd., S. 143 ff.). Die Gruppen bieten hierbei die Möglichkeit, dass sich junge Menschen in einem geschützten Rahmen ausprobieren, neue Erfahrungen sammeln, Konflikte bearbeiten, kommunikative Kompetenzen und Verantwortungsübernahme erlernen können. Je nach Zielgruppe können diese Gruppen auch relativ offen sein, meist handelt es sich jedoch um feste Gruppen, die sich regelmäßig treffen und mit denen intensiv gearbeitet wird. Des Weiteren wird auch geschlechtshomogene Gruppenarbeit (Mädchen- oder Jungenarbeit) angeboten. Ausflüge oder Exkursionen gehören ebenfalls zum Repertoire der Clubarbeit. Im Rahmen dieser Clubarbeit kann der jeweiligen Jugendgruppe auch ein Raum zur „Eigennutzung“ zur Verfügung gestellt werden (vgl. Keppeler 1989, S. 24 f.; Keppeler 1997, S. 27; Klenk/Häberlein 1995, S. 149 f.). Damit findet im Rahmen der Mobilen Jugendarbeit sogar eine quasi-institutionelle Einbindung der Gruppenarbeit statt, was weit über andere Streetworkansätze hinausgeht. Themen und Inhalt der Gruppenarbeit werden grundsätzlich von den Jugendlichen selbst ausgewählt, die Fachkräfte setzen lediglich Impulse, stellen die benötigten Ressourcen und Räume zur Verfügung und begleiten die Gruppe. Methodisch kann die Clubarbeit sowohl bildungsorientierte Angebote als auch Elemente sozialpädagogischer Gruppenarbeit oder spezieller Trainings umfassen. • Einzelfallbezogene Unterstützung, Beratung, Einzel(fall)hilfe umfasst das gesamte Methodenspektrum der Jugendberatung sowie Vermittlung und ggf.
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Begleitung (etwa zur Drogenberatung, zur Agentur für Arbeit, zur Jugendgerichtshilfe oder zum Sozialen Dienst des Jugendamts). In Fällen, in denen die MitarbeiterInnen der Mobilen Jugendarbeit selbst keine Beratung oder Unterstützung anbieten können, erfolgt in der Regel eine Vermittlung an entsprechende Stellen. Daher müssen die Fachkräfte auch ein fundiertes Wissen über die relevanten Versorgungs- und Hilfestrukturen haben. Initiieren und begleiten die MitarbeiterInnen einen Einzelfallhilfeprozess selbst, so spielt vor allem die aktive Beteiligung des jungen Menschen, das gemeinsame Entwickeln von Lösungsmöglichkeiten und Perspektiven sowie die Orientierung an Stärken und Ressourcen eine wichtige Rolle. Grundsätzlich hat eine vertrauensvolle Beziehung zwischen den Fachkräften und den jungen Menschen hier eine zentrale Bedeutung und es können alle Lebenslagen und Themen Gegenstand einer Einzelberatung bzw. Einzelfallhilfe sein (z. B. familiäre Probleme, Schwierigkeiten in der Schule, Suche von Praktikums-, Ausbildungs- oder Arbeitsplätzen, Wohnungslosigkeit, Schulden, Schwierigkeiten mit Polizei und Justiz, Suchtproblematik, psychische Probleme). Aktuell scheinen solche einzelfallbezogenen Unterstützungsangebote jedoch einen zunehmenden Raum in der Praxis der Mobilen Jugendarbeit einzunehmen, sodass die Gefahr besteht, dass andere Arbeitsformen in den Hintergrund geraten könnten. • Gemeinwesenarbeit zielt darauf ab, die Lebenssituation der jungen Menschen vor Ort zu verbessern, gemeinsam mit ihnen Treff- und Aneignungsmöglichkeiten zu erschließen und ihre Interessen und Bedürfnisse in der Öffentlichkeit zu vertreten. Historisch gesehen spielen aber vor allem auch Entstigmatisierung und Vermittlung im Gemeinwesen eine wichtige Rolle (vgl. dazu Specht 1979, S. 137 ff.). Insofern erfüllt diese Arbeitsform auch die Funktion, geeignete Rahmenbedingungen für die anderen drei Arbeitsformen vor Ort zu schaffen. Dabei nehmen die Fachkräfte Aufgaben auf zwei verschiedenen Ebenen wahr: Zum einen interagieren sie gemeinsam mit den jungen Menschen im unmittelbaren Sozialraum, zum anderen werden aber auch Kooperationen sowie Austauschs- und Vernetzungsstrukturen mit relevanten Schlüsselakteuren im Sozialraum aufgebaut. Grundsätzlich erfüllen die Fachkräfte dabei stets eine anwaltschaftliche Funktion und Interessensvertretung für die jungen Menschen. Eine große Rolle spielen hierbei auch die Verdrängung von bestimmten Jugendgruppen aus dem öffentlichen Raum, Ausgrenzungsszenarien, Stigmatisierungen oder Diskriminierungsprozesse. Neben der stellvertretenden Einmischung durch die Fachkräfte versucht die Mobile Jugendarbeit aber auch die jungen Menschen selbst zu aktivieren und zu befähigen, sich für ihre Interessen und Belange einzusetzen und sich in der
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Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Hierzu werden auch jugendkulturelle Projekte und gemeinwesenorientierte Aktionen und Veranstaltungen durchgeführt. Dadurch werden auch die Stärken der Jugendlichen sichtbar. Zuletzt agiert die Mobile Jugendarbeit nicht selten auch deeskalierend und konfliktmoderierend, etwa im Umgang mit der Polizei und Justiz oder gegenüber AnwohnerInnen und Gewerbetreibenden. Generell sollte die Mobile Jugendarbeit in dem jeweiligen Stadtteil bzw. der jeweiligen Gemeinde gut vernetzt sein, um als Interessensvertretung und Sprachrohr für Jugendliche fungieren zu können. Ergänzend dazu sind MitarbeiterInnen der Mobilen Jugendarbeit meist in bestimmten Gremien vertreten, z. B. in Stadtteilrunden, runden Tischen, Arbeitskreisen, Planungsgruppen, kommunalpolitischen Gremien, usw.. Voraussetzung für eine gelingende Gemeinwesenarbeit ist insgesamt das Wissen über die Sozialstruktur und Besonderheiten des jeweiligen Sozialraums sowie über die Lebensbedingungen der jungen Menschen, welches wiederum im Rahmen von Streetwork-Gängen erschlossen wird (siehe oben). Diese vier Arbeitsformen der Mobilen Jugendarbeit lassen sich im Grunde in allen lokalen Konzeptionen wiederfinden. Sie ergänzen sich gegenseitig und die Hilfeform der Mobilen Jugendarbeit entfaltet vor allem im Zusammenwirken dieser vier Arbeitsformen ihr eigentliches Potenzial (vgl. Keppeler/Specht 2011; LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork e. V. u. a. 2011). Dabei ist Streetwork stets die Basis für weitere Hilfeprozesse, weil im Rahmen von Streetwork-Gängen Kontakte geknüpft und Beziehungen aufgebaut werden. Daraus können dann Beratungs- und Einzelfallhilfeprozesse oder Gruppenangebote entstehen. Parallel bzw. ergänzend dazu agieren die SozialarbeiterInnen im jeweiligen Sozialwesen anwaltschaftlich, vertretend, vernetzend, deeskalierend und konfliktreduzierend (vgl. dazu Mobile Jugendarbeit Stuttgart 2015a/2015b).
4.4 Arbeits- und Leitprinzipien sowie methodisches Handeln in der Mobilen Jugendarbeit Neben der detaillierten Ausarbeitung der vier Arbeitsformen spielt auch die Auseinandersetzung und Festlegung bestimmter Arbeits- bzw. Leitprinzipien als Basis für methodisches Handeln im Ansatz Mobiler Jugendarbeit eine zentrale Rolle. Diese Arbeitsprinzipien gehen bereits auf die Arbeiten von Specht (1979) und Miltner (1982) zurück, die eine Reihe an „Grundregeln“ für die Mobile Jugendarbeit herausgearbeitet haben, etwa das Einlassen auf die Lebenswelt der Jugendlichen, das unbedingte solidarische und parteiliche Handeln im Interesse
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der Jugendlichen, die Problem- und Sachorientierung, eine erkennbare Nützlichkeit, die Kompetenz, Zuverlässigkeit und Kontinuität sowie die Transparenz über Rolle und Aufgabe des/der StreetworkerIn (vgl. beispielsweise Miltner 1982, S. 111 ff. sowie S. 133 ff). Die Literatursichtung fördert aktuell eine große Fülle an Prinzipien zutage, an denen sich die praktische Arbeit orientieren soll (vgl. beispielsweise Gillich 2004a, 2003; Thieme/Zier 2004; Klose/Steffan 2005, S. 308; LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork e. V. u. a. 2011, S. 27 ff.; Delmas 2009, S. 217; Mobile Jugendarbeit Stuttgart 2015a, S. 6 ff.; 2005b, S. 10 ff.). Delmas (2009, S. 127) sowie Klose/Steffan (2005, S. 308) bezeichnen diese Arbeitsprinzipien auch als „Handlungsmaximen“ der Mobilen Jugendarbeit. Genannt werden hier beispielsweise: Akzeptanz, Parteilichkeit, Beziehungsarbeit, Ganzheitlichkeit, die Orientierung an Ressourcen, Bedürfnisorientierung, Alltagsorientierung, Partizipation, Freiwilligkeit, Niedrigschwelligkeit, Flexibilität, Vertrauensschutz, Zuverlässigkeit, die Dezentralität, Prävention, Transparenz, interkulturelle und geschlechterbewusste Arbeitsansätze (vgl. LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork e. V. u. a. 2011, S. 27 ff., Delmas 2009, S. 217; Klose/ Steffan 2005, S. 308). Die nachfolgende Darstellung orientiert sich an einer systematischen Zusammenstellung dieser Arbeitsprinzipien in der Konzeption der Mobilen Jugendarbeit Stuttgart (2015a, 2005b), weil in dieser Konzeption der Versuch unternommen wird, die Vielfalt der Leitprinzipien in Form dreier, aufeinander aufbauender Themencluster aufzubereiten und darzustellen. Diese drei Themencluster sind so angeordnet, dass die „Haltung und Arbeitsethik“ sozusagen die Basis für sowohl das fachliche Selbstverständnis als auch für das konkrete, methodische Handeln darstellen. Aus diesem Grunde werden die drei Themencluster „Haltung und Arbeitsethik“, „Professionelles Selbstverständnis“ und „Methodisches Handeln“ in Form einer Pyramide angeordnet (vgl. Abb. 1). Betrachtet man die erste Ebene, die „Basis“ dieser Pyramide, so finden sich dort spezifische Haltungselemente wieder, über die die Fachkräfte in der Mobilen Jugendarbeit verfügen sollten und die bereits von Specht (1979) und Miltner (1982) dezidiert herausgearbeitet wurden, etwa die Parteilichkeit, die Akzeptanz, die Transparenz des Angebots, die Verbindlichkeit, die Vertraulichkeit sowie die Freiwilligkeit. Alle diese Leit- bzw. Arbeitsprinzipien verweisen auf die zentrale Annahme, dass die in der Mobilen Jugendarbeit tätigen Fachkräfte in der Lebenswelt der jungen Menschen agieren und somit auf deren „Bereitschaft“ und die Einwilligung zum „Tätigwerden“ angewiesen sind. Insbesondere die Freiwilligkeit spielt hier eine zentrale Rolle: Einerseits setzt diese Grenzen im Hilfeprozess, andererseits ermöglicht diese einen intrinsisch motivierten und nachhaltigeren Hilfeprozess (vgl. Mobile Jugendarbeit 2015a, S. 6). In anderen Quellen wird
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Abb. 1 Arbeitsprinzipien der Mobilen Jugendarbeit. (Darstellung nach: Mobile Jugendarbeit Stuttgart 2015b, S. 10)
zudem auf die besondere Bedeutung der sogenannten „akzeptierenden Haltung“ verwiesen, die in enger Verbindung mit der Parteilichkeit steht und wiederum unabdingbare Voraussetzung für die Beziehungsaufnahme und -arbeit ist (vgl. beispielsweise LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork e. V. u. a. 2011, S. 5 sowie S. 27). Daneben wird Akzeptanz als „Grundvoraussetzung für Veränderungsprozesse“ (Mobile Jugendarbeit Stuttgart 2015a, S. 6) gesehen. Aufbauend auf diesen Haltungsaspekten finden sich auf der nächsten Ebene, im Themencluster „Professionelles Selbstverständnis“, Arbeitsprinzipien, die weniger einem verallgemeinerten, normativ-ethischen Kodex entsprechen, und bereits deutlich stärker auf ein methodengeleitetes Vorgehen verweisen: Beziehungsarbeit, Flexibilität und Niederschwelligkeit, Verlässlichkeit, anwaltschaftliche Vertretung sowie die Fähigkeit, eine Bezugsperson unter Wahrung einer professionellen Distanz sein zu können. Kern dieses professionellen Selbstverständnisses ist dabei das professionell gestaltete Beziehungsangebot, dessen Gelingen von der Umsetzung verschiedener, anderer Arbeitsprinzipien abhängt, etwa von der Akzeptanz, der Parteilichkeit und anwaltschaftlichen Vertretung, der Verbindlichkeit und Verlässlichkeit sowie der Vertraulichkeit. Professionell ist das Beziehungsangebot dann, wenn es gelingt, „Beziehungen an[zu]bieten, aber nicht Kumpel [zu] sein“ (ebd.).
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Die „Spitze“ der Pyramide stellt das methodische Handeln dar. Hier sind sowohl Wissens- als auch Handlungskompetenzen zusammengefasst, die eine Tätigkeit in der Mobilen Jugendarbeit erfordert. Das methodische Handeln stützt sich einerseits auf die bereits genannten Prinzipien, hier finden sich aber auch noch darüberhinausgehende, theoretisch orientierte Konzepte der Sozialen Arbeit. Genannt werden die Alltags- bzw. Lebensweltorientierung, damit in Verbindung die Dezentralität der Angebote, die Partizipation und die Ressourcenorientierung, sowie weiterhin die Sozialraumorientierung, die Grundprinzipien der akzeptierenden Jugendarbeit und der Umgang mit Vielfalt. In anderen Quellen wird hierbei stets auf die besondere Bedeutung der Lebensweltorientierung als theoretisches Konzept und Orientierungshilfe hingewiesen (vgl. beispielsweise LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork e. V. u. a. 2011, S. 27). Keppeler und Reuting (2016, S. 153) sprechen davon, dass die Mobile Jugendarbeit ein „Musterbeispiel für Lebensweltorientierung“ ist. Diese Orientierung an der Lebenswelt zeigt, dass sich das methodische Handeln im Kern auf einerseits das Verständnis der Lebenswelt der jungen Menschen, sowie andererseits auf Veränderungsprozesse, die stets auf die Alltagsrealität und Lebenswelt der jungen Menschen sowie auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen bezogen werden müssen, richtet. Daneben werden die Aneignungs- und Interaktionsmöglichkeiten im jeweiligen Sozialraum als Basis für Entwicklungs- und Veränderungsprozesse gesehen.
5 Theoretische Begründungskontexte und Methodik der aufsuchenden Jugendarbeit nach Franz Josef Krafeld Krafeld nimmt in seinem Buch „Grundlagen und Methoden aufsuchender Jugendarbeit“ (2004) eine dezidierte Abgrenzung zu anderen Ansätzen aufsuchender Jugendarbeit vor (etwa zur Mobilen Jugendarbeit sowie zur „klassischen“ Straßensozialarbeit), indem er insbesondere die theoretischen Grundannahmen anders akzentuiert. Dazu nennt er zwei Begründungen: Erstens sei die von ihm (weiter-) entwickelte Form der aufsuchenden Jugendarbeit deutlich stärker an der Theorie der Lebensweltorientierung orientiert, zweitens verfolge sein Verständnis aufsuchender Jugendarbeit vor allem auch allgemeine (sozial-)pädagogische Ziele einer aneignungstheoretischen Jugendarbeit (vgl. ebd. S. 8). Aus diesem Grunde zeichnet sich die von Krafeld entwickelte „Aufsuchende Jugendarbeit“ insbesondere durch andere Begründungskontexte, Ziele und Methoden aus. Im Gegensatz zur Mobilen Jugendarbeit folgt der Ansatz
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von Krafeld damit auch stärker allgemeinen Zielen der Jugendarbeit, richtet sich potenziell an alle Jugendlichen eines bestimmten Sozialraums und ist im Grunde nicht delinquenzorientiert.
5.1 Rechtliche Verortung der Aufsuchenden Jugendarbeit Krafeld´scher Prägung Krafeld leitet die rechtliche Verortung der Aufsuchenden Jugendarbeit ausschließlich aus der Einzelnorm des § 1 SGB VIII ab. In vielen seiner Ausführungen betont Krafeld (vgl. ebd. 2012; 2008; 2004; 2001b) immer wieder diese gesetzliche Grundlage als Orientierung für aufsuchenden Ansätze der Jugendarbeit. Diese Argumentation Krafelds ist für die Betrachtung seiner konzeptionellen Gedanken besonders wichtige, da er – anders als bei der Mobilen Jugendarbeit – stärker auf einen allgemeinpädagogischen Auftrag verweist, die aufsuchende Jugendarbeit in den Kontext allgemeiner Prämissen der Kinder- und Jugendarbeit stellt und von der Jugendsozialarbeit abgrenzt: „Denn für Angebote zur Förderung der eigenen Entwicklung im Sinne des §1 KJHG müsse man sich als bedürftig, nicht als würdig erweisen. (…). All das, was in der Sozialen Arbeit oder – spezieller, in der emanzipatorischen Jugendarbeit – als selbstverständlich gilt, das muss gerade bei extremen und anstößigen Zielgruppen besonders ernst genommen werden, eher zu 150% (…)“. (Krafeld 2008, S. 7 f.).
In diesem Zusammenhang betont Krafeld weiterhin, dass mit dem § 1 SGB VIII Leistungen für Jugendliche begründet werden und nicht für deren Umfeld bzw. für Erwachsene, die die eigentlichen „Profiteure“ einer delinquenz- oder konfliktreduzierenden Strategie sind (vgl. Krafeld 2004, S. 22). Entsprechend findet sich bei Krafeld auch keine Bezugnahme auf den § 13 SGB VIII.
5.2 Theoretische Begründungslinien und Zielgruppen der Aufsuchenden Jugendarbeit Die von Krafeld ausgearbeiteten Theoriestränge finden sich vor allem in seinem Buch „Grundlagen und Methoden aufsuchender Jugendarbeit“ (2004). Hierbei stützt er sich insgesamt auf drei grundlegende Annahmen und damit in Verbindung stehende theoretische Begründungslinien:
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1. Die Aufsuchende Jugendarbeit ist zuallererst professionell gestaltete Beziehungsarbeit, sodass Krafeld hierzu sowohl theoretische Grundlagen als auch detaillierte Anweisungen erarbeitet. Insgesamt spielt hier die Orientierung an der Theorietradition der sogenannten „Akzeptierenden Jugendarbeit“ eine wichtige Rolle. 2. Aufgrund der Notwendigkeit des Aufsuchens der jungen Menschen an ihren (selbstgewählten) Treffpunkten und Freizeiträumen, der Arbeit mit den natürlich gewachsenen Gruppen (Cliquen) als auch zur Planung und Gestaltung „passender“ Angebote muss sich der/die SozialarbeiterIn zwingend auf die Lebenswelten der jungen Menschen einlassen; insofern ist die Lebensweltorientierung wichtiges methodisches Rüstzeug in der praktischen Arbeit. 3. Die Aufsuchende Jugendarbeit ist zudem in der Einschätzung Krafelds eine angemessene Reaktion auf die veränderten Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen; daher ist eine aneignungstheoretische Perspektive unumgänglich. Was den ersten Punkt, die Kontakt- und Beziehungsaufnahme, betrifft, so beschreibt Krafeld (ebd. 2004, S. 57 ff.) ausführlich die Vorgehensweise der Kontaktaufnahme und der (weiteren) Beziehungsarbeit. Insbesondere auf den Seiten 62 ff. geht er hierbei auf sowohl theoretische Grundlagen als auch auf praktische Erfahrungen ein und stellt verschiedene Leitlinien und Grundregeln vor, etwa a) die Bedeutung einer „aufgabengemäße[n] Balance“ von Nähe und Distanz (ebd., S. 63), b) geeignete Techniken wie die „dialogische Kommunikation“ (S. 74 ff.), sowie c) die theoretischen Grundlagen der sogenannten „Akzeptierenden Jugendarbeit“ (S. 66 ff.) als Basis für jeden Beziehungsaufbau. Die letztgenannten Annahmen entsprechen durchaus auch den Erfahrungen anderer Autoren, die in dieser akzeptierenden Grundhaltung ebenfalls einen „optimalen“ Weg sehen, bestimmte Zielgruppen überhaupt erreichen und Beziehungen aufbauen zu können (vgl. Thole 2000, S. 132; Miltner 1982; Voß 1995). In Bezug auf die zweite theoretische Begründungslinie, die Lebensweltorientierung, betont Krafeld bereits in der Einleitung, dass „aufsuchende Arbeit den Anspruch der Lebensweltorientierung in der Jugendarbeit endlich wirklich konkret macht und praktisch umsetzt (…)“ (ebd., S. 8, vgl. dazu auch S. 16 f. sowie S. 125 ff.). Krafeld konkretisiert diesen Anspruch insofern, als dass sich die Aufgabe einer aufsuchenden Jugendarbeit „neben der Methode des Aufsuchens vor allem in einer produktiv entfalteten Verbindung von personalen Angeboten für ihre Zielgruppen und Einmischungen in deren Bedingungen des
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Aufwachsens konkretisiert“ (ebd., S. 17; Hervorh. i. Org.). Dabei verweist er insbesondere darauf, dass sich Lebensweltorientierung nicht in einer bloßen Kooperation und Vernetzung verschiedener Institutionen, die unmittelbare Relevanz für die Jugendhilfe haben, erschöpfen sollte. Stattdessen ginge es weitaus mehr um die Frage der Aneignungsmöglichkeiten, um die jeweils subjektive Bedeutung bestimmter Orte, Verhaltensweisen und Rituale sowie insbesondere um Angebote, die zu dieser Bedeutung passen. Aus diesem Grunde wehrt er sich gegen Angebote, die die Bedürfnisse und Problemlagen der jungen Menschen „so zurecht (…) definieren, dass sie in die Schubladen der ‚bewährten´ Angebotspaletten der beteiligten Institutionen passen“ (ebd., S. 128). Die dritte Traditionslinie bilden hingegen aneignungstheoretische Begründungen, die den Forderungen einer sozialräumlich orientierten Jugendarbeit entsprechen. Krafeld begründet diesen Einbezug der Aneignungstheorie in sein Verständnis von aufsuchender Jugendarbeit vor allem mit „veränderten Bedingungen des Aufwachsens“, mit der „Entstrukturierung der Lebensphase Jugend“, mit der „Pluralisierung von Lebensstilen“ und dem „Bedeutungsverlust sozialer Milieus“ sowie insbesondere mit der zunehmenden „Monofunktionalisierung von Territorien und Räumen“ (ebd., S. 9, S. 16 sowie S. 128 ff.). Ähnliche Argumentationen finden sich auch in einem älteren Aufsatz von Siegfried Keppeler (1989), der ebenfalls den Verlust an jugendlichen „Gesellungsräumen“ zum Ausgangspunkt für seine Begründung aufsuchender Ansätze in der Jugendarbeit nimmt, diese jedoch noch stark als Aufgabe der „klassischen“ Offenen Jugendarbeit versteht. Folgt man dieser Begründung, ist es ein Kernanliegen der aufsuchenden Jugendarbeit, Kinder und Jugendliche stets bei der Aneignung von Räumen zu unterstützen (vgl. Krafeld 2004, S. 128 ff.; Keppeler 1989, S. 18 ff.). Daraus resultiert der Auftrag, entwicklungsförderliche Aneignungsmöglichkeiten für junge Menschen anzubieten: „Denn junge Menschen wachsen heute in einer Umwelt auf, in der fast sämtliche Räume und Flächen in den letzten Jahrzehnten hochgradig monofunktionalisiert wurden. Junge Menschen wurden damit immer mehr aus öffentlichen und halböffentlichen Räumen verdrängt in speziell für sie geschaffene (Rest-)zonen. (…). Ganz zentral ist für sie [die Aufsuchende Jugendarbeit] (…), Jugendliche bei der (Wieder-)Aneignung von Umwelt (…) zu begleiten und zu unterstützen (…).“ (Krafeld 2004, S. 8 f.).
Diese Orientierung an aneignungstheoretischen Begründungen zeigt vielleicht am allermeisten, wie stark Krafeld sein Verständnis der aufsuchenden Jugendarbeit an allgemeinen Zielen und Methoden der Jugendarbeit ausrichtet. Demnach sieht er die aufsuchende Jugendarbeit auch durchaus in der historisch gewachsenen
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Tradition eines Schaffens von „Freiräumen“ für Jugendliche zur eigenen Entfaltung (vgl. ebd., S. 128 ff.). Was die Zielgruppen der aufsuchenden Jugendarbeit im Verständnis von Krafeld betrifft, so sieht er diesen Ansatz in der Pflicht, sich an alle Jugendlichen eines gegebenen Sozialraums zu richten. Hierbei wird explizit eine delinquenz- oder anderweitige Zielgruppenorientierung kritisiert (vgl. ebd., S. 16). Dies wiederspräche, so Krafeld, dem Anliegen einer lebenswelt- und sozialraumorientierten Jugendarbeit mit allgemein-pädagogischer Zielsetzung. Strenggenommen würde sich bei manchen Streetwork-Projekten ohnehin die Frage stellen, ob wirklich die Jugendlichen und nicht vielmehr das jeweilige Umfeld, sprich die Erwachsenen, einen Nutzen von den Angeboten (beispielsweise im Falle einer Konfliktreduzierung) haben (vgl. ebd., S. 11). Des Weiteren kritisiert Krafeld, dass die aufsuchende Arbeit in den allermeisten Fällen einen Art „Ersatzcharakter“ hat, was wiederum einer konzeptionellen Eigenständigkeit dieses Ansatzes entgegenstünde, weil das Aufsuchen dann immer auch verstanden wird „als bloße Methode des Zugangs, die es möglichst schnell zu überwinden gelte, um dann in einer zweiten Phase einrichtungsgebunden effektiver arbeiten zu können“ (ebd., S. 15). Insbesondere in dieser Hinsicht fordert Krafeld daher, die aufsuchende Jugendarbeit nicht mehr als „spezialisiertes“ Arbeitsfeld zu betrachten, sondern als eigenständiges Konzept moderner Jugendarbeit anzuerkennen (vgl. ebd., S. 17).
5.3 Grundmuster und Methodik der Aufsuchenden Jugendarbeit Während in der Mobilen Jugendarbeit vor allem zwei Konzepte bzw. Arbeitsformen (sozialraumorientierte vs. delinquenz-/zielgruppenorientierte Mobile Jugendarbeit) unterschieden werden, abstrahiert Krafeld vier verschiedene „Grundmuster“ aufsuchender Jugendarbeit (vgl. ebd., S. 24 ff.): ein problemorientierter Typus, ein jugendkulturell orientierter Typus, ein gemeinwesenorientierter Typus und ein hinausreichender oder mobiler Typus. Dem „problemorientierten Typus“ ordnet er insbesondere delinquenzorientierte Ansätze in der Tradition der US-amerikanischen Streetwork-Projekte (vgl. dazu Abschn. 2 und 3) sowie Arbeitsfelder mit eindeutigem „Problembezug“, etwa Drogenkonsum, Prostitution, usw., zu. Der „jugendkulturell orientierte Typus“ fokussiert hingegen seine Arbeit auf bestimmte Szenen und Cliquen mit einer mehr oder weniger eindeutigen, häufig expressiver und als „störend“ empfundener, jugendkultureller Orientierung. Hingegen bezieht
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sich der „gemeinwesenorientierte Typus“ stärker auf das Merkmal „Stadtteil“ bzw. Wohngegend, insbesondere in den Fällen, in denen diese Gebiete als sozial benachteiligt oder als sogenannter „sozialer Brennpunkt“ definiert werden. Der letzte Typus, der „hinausreichende oder mobile Typus“, wurde von Krafeld jedoch augenscheinlich nicht sinnvoll konstruiert, weil hier im Grunde zwei völlig verschiedene Ansätze zusammengefasst werden: Der „hinausreichende Typus“ ist Krafeld zufolge „als Ergänzung einrichtungszentrierter Arbeit angelegt“ (ebd., S. 27) und steht damit in der Tradition der bereits oben (Abschn. 2.3) dargestellten „hinausreichenden Ansätze“ (Outreach Work). Zweiter Bestandteil dieses Typus ist der „mobile Typus“, unter den Krafeld insbesondere die Mobile Jugendarbeit subsumiert. Was die Methoden der aufsuchenden Jugendarbeit betrifft, so orientiert Krafeld seine Überlegungen weniger an klassischen Arbeitsmethoden der Sozialen Arbeit, wie dies bei der Mobilen Jugendarbeit der Fall ist, sondern stützt sich auf die typischen Methoden der Kinder- und Jugendarbeit. Besondere Bedeutung haben hier beispielsweise, analog der theoretischen Fundierung, die Beziehungsarbeit, (lebensweltbezogene) Cliquenarbeit und, damit zusammenhängend, Raumaneignung sowie sozialräumliche Vernetzung (vgl. ebd., S 49 ff, S. 62 ff., S. 87 ff., S. 128 ff., S. 139 ff.): • Die Beziehungsarbeit stellt bei Krafeld gleichermaßen Ausgangspunkt und Kern des methodischen Vorgehens dar. Ausgehend von der ersten Kontaktaufnahme (ebd., S. 57 ff.) sollen die Kontakte dadurch intensiviert werden, dass der/die StreetworkerIn ein eindeutiges Unterstützungsangebot offeriert, etwa indem er/sie sich parteilich und moderierend für den Erhalt der selbstgewählten Treffpunkte einsetzt oder gemeinsam neue Räume erschlossen werden. Häufig, so Krafeld, geht es den Jugendlichen vor allem darum, „dass sie dabei unterstützt werden, sich stressärmer irgendwo treffen [zu] können“ (ebd., S. 60). Auf Basis eines wachsenden Vertrauens kann dann eine professionelle Beziehungsarbeit aufgebaut werden, wobei Krafeld stets betont, dass es nicht darum geht, ein (weiterer) Freund oder „Kumpel“ im sozialen Gefüge der Jugendcliquen zu werden; im Gegenteil: Wichtig hierbei ist gerade die „Konfrontation mit dem Anderssein“ (ebd., S. 63; ebenso S. 182). Wie auch in der Mobilen Jugendarbeit sind daher die Arbeitsprinzipien Authentizität und Transparenz besonders wichtig. Als geeignetes methodisches Vorgehen in der praktischen Arbeit selbst verweist Krafeld insbesondere auf die Technik der „dialogischen Kommunikation“ bzw. des „dialogischen Lernens“ (ebd., S. 74 ff.).
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• Die Arbeit mit Cliquen stellt die zweite wichtige methodische Säule der aufsuchenden Jugendarbeit Krafeld‚scher Prägung dar (vgl. ebd., S. 87 ff.). Anders als in der Mobilen Jugendarbeit, in der auch sporadisch zusammenkommende Jugendliche und relativ unverbindliche Gruppierungen zu sogenannten „Clubs“ zusammengefasst werden können, geht es bei Krafeld jedoch um die Arbeit mit der jeweils bereits vorab bestehenden „festen“ Clique. Dabei wird die zentrale Bedeutung der (selbstgewählten) Gleichaltrigengruppe als sowohl identitätsstiftende Sozialisationsinstanz als auch als Lern- und Erfahrungsfeld herausgestellt. Eine „Cliquenorientierte Jugendarbeit“ wendet sich daher nicht gegen diese Gruppen, sondern versucht, die hierin wurzelnden Entwicklungs- und Selbstorganisationsprozesse zu begleiten. Wichtig sind diese Cliquen vor allem auch deswegen, weil im Rahmen dieser Zusammenkünfte eben auch die Aneignung von Räumen stattfinden. • Eben diese Raumaneignung spielt bei Krafeld eine dritte tragende Rolle. Wie oben bereits dargestellt, stützt Krafeld seine Methodik insbesondere auf aneignungstheoretische Begründungen. Entsprechend muss es bei der aufsuchenden Jugendarbeit immer darum gehen, die jungen Menschen in Bezug auf die Aneignung ihre jeweils selbst gewählten Räume zu unterstützen (vgl. ebd., S. 128 ff.). Dies können Räume sein, die für Jugendliche zur Verfügung gestellt werden (beispielsweise Bauwagen, Gemeinderäume, Unterstände) oder die von Jugendlichen selbst erschlossen wurden, in denen sie aber nicht „stören“ (z. B. Sportanlagen, Skateboard-Bahnen). In anderen Fällen, in denen die Raumaneignung jedoch mit Konflikten (etwa bei AnwohnerInnen, gastronomischen Betrieben, Polizei usw.) einhergeht, wird dann ergänzend eine Konfliktmediation notwendig. Generell steht der Erhalt der selbst gewählten Treffpunkte stets im Vordergrund (vgl. ebd., S. 49 ff.). • Zur Unterstützung und als Ergänzung der oben genannten Methoden spielen die Vernetzung und der Aufbau von Kooperationsbeziehungen in dem jeweiligen Sozialraum eine entscheidende Rolle. Basis hierfür ist zunächst eine systematische Erkundung der Bedingungen und Begebenheiten vor Ort. Hierbei sollten auch die Interessen unterschiedlichster Akteursgruppen und mögliche Konfliktpotenziale sensibel und vorausschauend in die Analysen einbezogen werden. Die Vernetzung und der Aufbau von Kooperationen zu relevanten Schlüsselakteuren ist für Krafeld eine wichtige Basis, sozialräumliche Einmischungsprozesse anzustoßen (vgl. ebd., S. 139 ff, siehe auch weiter unten).
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5.4 Arbeits- und Leitprinzipien sowie methodisches Handeln in der aufsuchenden Jugendarbeit Krafeld´scher Prägung Ähnlich wie in der Mobilen Jugendarbeit stützt auch Krafeld seine Überlegungen auf bestimmte Arbeitsprinzipien, die das methodische Handeln bestimmen. Allerdings finden sich weitaus weniger solche Arbeitsprinzipien in seinen Ausarbeitungen als bei der Mobilen Jugendarbeit. Die genauere Analyse seiner Grundlagen der aufsuchenden Jugendarbeit fördert hierbei vor allem drei Prinzipien zutage, die sich wiederum an den oben genannten Theorielinien und Methoden orientieren: Eine akzeptierende Grundhaltung, die Lebenswelt- sowie die Sozialraumorientierung. Eine fundierte theoretische Ausarbeitung der akzeptierenden Grundhaltung für die Praxis der Jugendarbeit findet sich bereits in früheren Arbeiten Krafelds (übersichtlich dargestellt in Krafeld 2001a, 2008; ausführlich in Krafeld 1996, 2001b). Krafeld entwickelte hierbei den Ansatz der sogenannten „Akzeptierenden Jugendarbeit“ auf Basis praktischer Erfahrungen in der Arbeit mit rechtsextremen Jugendcliquen im Rahmen eines gemeinwesenorientierten Studienprojekts der Hochschule Bremen Ende der 1980er Jahre (vgl. Krafeld 2008, S. 6 f.; 1996, S. 45 ff.). Als theoretischer Hintergrund fungierten vor allem soziologische Debatten über eine zunehmende Individualisierung der Gesellschaft, die die Anfälligkeit Jugendlicher für Delinquenz und rechtsextreme Ideologien vor allem als Folge einer zunehmenden Orientierungslosigkeit erklären (vgl. Simon 1995, S. 36; Krafeld 1996, S. 37 ff.). Inspiriert wurde die Idee darüber hinaus durch ähnliche Erfahrungen mit der akzeptierenden Arbeit mit drogenkonsumierenden Jugendlichen (vgl. dazu auch Voß 1995, S. 172, Krafeld 1996, S. 32). Hintergrund dieser Entwicklungen war vor allem die Kritik an entweder stationären Settings (z. B. in der Arbeit mit straffällig gewordenen oder drogenkonsumierenden Jugendlichen) oder aber an der gegebenen Hochschwelligkeit bestimmter Jugendhilfemaßnahmen. Die „Akzeptierende Jugendarbeit“ kann damit als Reaktion auf die bisherige sozialpädagogische Praxis im Umgang mit bestimmten „Problemgruppen“ verstanden werden (vgl. Thole 2000, S. 265; Voß 1995). Der akzeptierende Ansatz rückt dabei einerseits das Verstehen der Lebenswelt und der Probleme der Jugendlichen sowie andererseits die unbedingte Wertschätzung und Verbesserung von Teilhabechancen in den Mittelpunkt der Vorgehensweise. Vereinfacht lassen sich die Kerngedanken der akzeptierenden
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Jugendarbeit Krafeld´scher Prägung wie folgt abstrahieren (vgl. beispielsweise Krafeld 2012, 2008; 2001b, S. 7 ff.): • Hinter jedem Verhalten, auch hinter abweichenden Verhaltensformen, steckt Krafeld zufolge immer ein subjektiver „Sinn“, dieser Sinn muss erschlossen und verstanden werden. Delinquent handelnde Jugendliche ändern ihr Verhalten erst dann, wenn die Veränderung subjektiv auch Sinn macht, für sie also einen „Nutzen“ hat. • Krafeld geht weiterhin davon aus, dass die jungen Menschen in ihrem sozialen Umfeld Anerkennung, Respekt, Beachtung, Einbindung, Zugehörig bzw. Teilhabechancen suchen. Aus diesem Grunde muss die akzeptierende Jugendarbeit diese Wertschätzung ermöglichen und Teilhabechancen eröffnen. Darüber hinaus hat jeder junge Mensch das Bedürfnis nach Selbstentfaltung, sodass entsprechende Räume, auch in der Öffentlichkeit, zur Verfügung stehen müssen. Ziel akzeptierender Jugendarbeit ist es daher, weitere Ausgrenzung zu vermeiden, da eine (Re-) Integration in soziale Bezüge letztendlich nachhaltiger wirken als auf Sanktionen, Disziplinierung und Ausgrenzung setzende Maßnahmen. Erst die Verbesserung von Teilhabechancen und Wertschätzung wirken sich längerfristig positiv aus und bewirken Verhaltensänderungen. Grundsätzlich orientiert sich die akzeptierende Jugendarbeit daher immer an den Problemen, die die Jugendlichen haben, und nicht an den Problemen, die sie verursachen (vgl. Thole 2000, S. 265 f.; Krafeld 2012, S. 55; 2008, S. 8; 2001b, S. 8; 1996, S. 14). Voß (1995, S. 175 ff.) betont hierbei, man müsse die jungen Menschen gleichermaßen als Täter und Opfer sehen (vgl. ebenso Krafeld 2012, S. 58). Methodisch basiert die Akzeptierende Jugendarbeit auf verschiedenen Prämissen, die überblicksartig wie folgt dargestellt werden können (vgl. Krafeld 2008; 2001b): • Über „Akzeptanz“ kann eine Beziehung aufgebaut werden, die Basis für Lernprozesse ist. • Die Arbeit ist dialogisch und nicht einseitig belehrend bzw. bekehrend. • Ziel ist es nicht, das abweichende Verhalten zu sanktionieren, sondern die Betroffenen vor (weiterer) Ausgrenzung zu schützen. • Im Vordergrund der Arbeit selbst stehen das Herstellen von Kontakten, der Aufbau von Beziehungen, die (gemeinsame) Freizeitgestaltung und das Finden und Gestalten von Räumen.
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Insbesondere im Hinblick auf den letzten Punkt wird in den Ausführungen Krafelds nochmals deutlich, dass es dem Ansatz vor allem um eine lebensweltnahe Arbeit mit den Gesellungsformen und Freizeitinteressen junger Menschen geht. Entsprechend dieser methodischen Zugangs verweist Krafeld auf zwei weitere Leitlinien, die er jedoch miteinander kombiniert: Die Lebenswelt- und Sozialraumorientierung (vgl. Krafeld 2004, S. 125 ff.). Im Zentrum stehen das Verständnis der Lebenswelt und die unbedingte Orientierung an den Vorlieben, (Freizeit-) Orten, und Interessen der jungen Menschen. Diese Vermischung zweier zentraler Begriffe der Disziplin Sozialer Arbeit erscheint durchaus etwas gewagt, zumal Krafeld seine Überlegungen grundsätzlich nur an zentralen Fragen der Jugendarbeit konkretisiert, etwa im Hinblick auf die Veränderungen jugendlicher Aktionsräume und Freizeitinteressen. Des Weiteren verweist Krafeld in einer Fußnote darauf, dass in einschlägigen Publikationen der Begriff „Sozialraumorientierung“ eigentlich eher durch „Lebensweltorientierung“ ersetzt werden sollte (vgl. ebd. S. 126), jedoch verkürzt Krafeld selbst die Definition von Sozialraum auf „Planungsräume“ und die Theorie der Lebensweltorientierung auf eine Orientierung an den Orten, Bedürfnissen und Interessen junger Menschen. Zudem verortet er das Aneignungskonzept in der Theorietradition der Lebensweltorientierung (vgl. ebd.), und grenzt dieses von der Sozialraumorientierung ab, die jedoch ausdrücklich (auch) mit der Idee einer selbsttätigen Aneignung operiert. Unabhängig dieser Unschärfe in der Verwendung der beiden Begriffe ist die Kombination dieser zentralen Arbeitsprinzipien jedoch durchaus fruchtbar. So betont Krafeld zu Recht, dass es einer lebenswelt- und sozialraumorientierten Jugendarbeit immer um die Frage gehen muss, „wo sich eigentlich welche Jugendlichen in ihrer freien, unverregelten Zeit mit anderen Gleichaltrigen relativ stressfrei treffen, aufhalten und entfalten (können)“ (ebd., S. 128). Im Kern geht es Krafeld daher vor allem um die Perspektive auf die subjektiv bedeutsamen Räume junger Menschen und die Wichtigkeit einer selbstgesteuerten Aneignung, mittels der sich junge Menschen ihre Umwelt deutend erschließen. Diese grundlegende Annahme erfordert eine bestimmte Haltung vonseiten der aufsuchend tätigen Fachkräfte: Sie sollen a) stets den Wert von Aneignungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im Blick haben, und b) sich unbedingt für den Erhalt bestehender Räume oder ggf. für die Schaffung/Erschließung neuer Räume anwaltschaftlich und vertretend einmischen bzw. einsetzen. Besonders wichtig ist daher auch die Forderung nach „Einmischung“, die für Krafeld zwei Facetten hat: Erstens sollen sich die Fachkräfte aktiv für Räume und Aneignungsmöglichkeiten einsetzen und ggf. Konflikte moderieren, zweitens sollen sie aber auch Einmischungsvorhaben
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vonseiten der jungen Menschen selbst unterstützen und begleiten, quasi eine „Einmischung in die Einmischungen“ (vgl. ebd., S. 134 f.). Insofern lassen sich deutliche Parallelen zur vierten methodischen Säule der Mobilen Jugendarbeit, der Gemeinwesenarbeit, finden.
6 Zusammenfassung: Mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede? Grundlegende Prinzipien aufsuchender Ansätze in kritischer Perspektive Wie bereits bei der historischen Betrachtung der dargestellten aufsuchenden Ansätze der Jugendarbeit deutlich wurde, basieren die verschiedenen Ansätze auf bestimmten theoretischen Begründungslinien. Grob unterschieden werden können stärker delinquenzorientierte Konzepte auf der einen Seite und sozialräumlich-aneignungstheoretische Ansätze auf der anderen Seite. Dabei zeigen sich zwar vielfältige Unterschiede aber auch Gemeinsamkeiten. Auf Basis der vorliegenden Literaturlage wird in diesem abschließenden Abschnitt der Versuch unternommen, die Gemeinsamkeiten, d. h. die in allen Ansätzen vorkommenden grundlegenden Prinzipien, systematisch herauszuarbeiten und zusammenzutragen. Dabei lassen sich mindestens drei theoretisch fundierte Orientierungen finden, die mehr oder weniger deutlich in allen aufsuchenden Arbeitsansätzen eine Relevanz haben: 1. Eine akzeptierende Grundhaltung (Akzeptanz als Leitlinie, akzeptierende Jugendarbeit) 2. Ein konsequenter Lebensweltbezug (z. T. auch Hilfen zur Lebensbewältigung, Lebensweltorientierung) 3. Eine sozialräumliche, auf Einmischung setzende Perspektive Wie sich gezeigt hat, basieren im Grunde alle aufsuchenden Arbeitsansätze auf einer (zunächst) akzeptierenden Grundhaltung. Dies gilt sowohl für die klassischen Streetworkansätze als auch für die umfassend ausgearbeiteten Konzepte der Mobilen Jugendarbeit und der „Aufsuchenden Jugendarbeit“ nach Krafeld. Am Beispiel der aufsuchenden Jugendarbeit Krafeld`scher Prägung wird deutlich, dass diese akzeptierende Haltung Basis jeglicher Beziehungsarbeit ist. Dies gilt auch für die Mobile Jugendarbeit, wie sich beispielsweise in der zentralen Bedeutung des Leitprinzips der „Akzeptanz“ zeigt. Keppeler und Reuting (2016) bemerken hierzu: „Wertschätzung, Respekt und Akzeptanz gelten bis heute als Basis für die Beziehungsgestaltung“ (ebd., S. 155). Diese zentrale
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Prämisse der „Akzeptanz“ ergibt sich vor allem aus dem Umstand, dass sich die SozialarbeiterInnen in der unmittelbaren Lebenswelt der jungen Menschen bewegen, damit sozusagen „Gast“ in deren Lebenswelten sind, und sich demnach auch auf die von den Jugendlichen selbst gesetzten Regeln, Rituale und Handlungsmuster einlassen müssen (vgl. Thole 2000, S. 132; Miltner 1982; Voß 1995; Delmas 2009, S. 225) bzw. deren Verhaltensweisen, auch wenn diese als abweichend definiert werden, zunächst einmal „zu akzeptieren“ haben. Akzeptanz bedeutet jedoch nicht, dass die Fachkräfte mit den Verhaltensweisen, Werten und Ideologien dieser Gruppen einverstanden sein müssen (vgl. Voß 1995, S. 175). Es geht eher darum, dass die Kontaktaufnahme non-direktiv und ohne unmittelbar verändernde Absicht erfolgt: „Dabei sollen sich die Straßensozialarbeiter [sic!] auf die Jugendlichen zu bewegen und sie so annehmen, wie sie sind, ohne gleich mit erhobenem pädagogischen Finger auf sie zu zeigen und ihr Verhalten und ihre Ansichten ändern zu wollen.“ (Stürzbecher 1994, zitiert in: Thole 2000, S. 130).
Betrachtet man die fachlichen Debatten der 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts, so wurde die akzeptierende Grundhaltung als „Neuorientierung“ oder sogar als „Umbruchsphase“ in der Jugendarbeit hochstilisiert, zumal sie in deutlicher Verbindung mit einer zunehmenden Orientierung an lebenswelt- bzw. alltagsnahen Konzepten in der Sozialen Arbeit steht (vgl. Thole 2000. S. 264). Die Wende zu einer solchen akzeptierende Grundhaltung in der Jugendarbeit spiegelt nach Thole (2000, S. 264 ff.) jedoch auch die „Hochkonjunktur“ eines öffentlichen Interesses an Jugendkriminalität und Jugendgewalt wieder, welches insbesondere in den 90er Jahren zu einem verstärkten Auf- und Ausbau entsprechender Ansätze und Konzepte in der Bundesrepublik Deutschland geführt hatte. Es ist daher sicher auch kein Zufall, dass dieser Ansatz als „Königsweg“ im Umgang mit devianten Jugendgruppen hochstilisiert wurde. Besondere Aufmerksamkeit bekam der Ansatz schließlich auch aufgrund der massiven fremdenfeindlichen Übergriffe in den 1990er Jahren (vgl. Krafeld 2008, S. 7). Allerdings wird der Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit jedoch gerade in seiner Anwendbarkeit bei solchen Gruppierungen auch immer wieder kritisiert, in jüngster Zeit vor allem aufgrund des „Scheiterns“ der akzeptierenden Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen in Ostdeutschland. Die „akzeptierende Haltung“ hätte hier – so die KritikerInnen – eher dazu geführt, dass dem Rechtsextremismus sogar noch mehr „Nährboden“ zur Verfügung gestellt wurde. Aber warum der akzeptierende Ansatz aufgrund seiner charakteristischen Methoden und theoretischen Annahmen die Situation in Ostdeutschland nicht wirklich verbessern konnte, ist
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bislang umstritten. Andere Deutungen legen nahe, dass sowohl die theoretische Begründung des Ansatzes als auch die Methoden im Grunde genommen nicht „falsch“ sind, sondern lediglich nicht auf die Ausgangssituation in Ostdeutschland gepasst haben. Entsprechend wird in diesen Deutungen das „Scheitern“ der akzeptierenden Jugendarbeit vor allem in der Tatsache vermutet, dass rechtsextreme Jugendliche in Ostdeutschland weder eine Minderheit bzw. Randgruppe darstell(t)en, noch ein „Akzeptanzproblem“ in der Bevölkerung bestehen würde, und entsprechend es auch keinen Bedarf an einem „akzeptanzorientierten“ Vorgehen gab (vgl. dazu ausführlich IDA-NRW 2013). Krafeld selbst verweist darauf, dass die akzeptierende Jugendarbeit dazu benutzt wurde, die vorhandenen gesellschaftlichen Probleme zu einem „Jugendproblem“ umzudefinieren; die akzeptierende Jugendarbeit könne aber keine gesellschaftspolitischen Probleme lösen (vgl. ebd. 2012, S. 49 ff.; 2008, S. 7; 2001b, S. 9 f.). Aber auch im erziehungswissenschaftlichen Diskurs ist dieser Ansatz nicht unumstritten. Thole (2000, S. 268 ff.) bemängelt hierzu eine mangelnde Verknüpfung zwischen Methodenentwicklung und Theoriediskurs: Unterzieht man diese akzeptierende Haltung einer theoretischen Reflexion, so zeigt sich, dass das „Akzeptanz-Paradigma“ strenggenommen eine gewisse Paradoxie beinhaltet: „Den AdressatInnen wird eine prinzipielle Zweck- und Zieldistanz suggeriert, die jedoch letztlich gar nicht aufrecht erhalten werden kann.“ (ebd., S. 269). So solle auf der einen Seite eine akzeptierende Grundhaltung eingenommen werden, auf der anderen Seite wird den Jugendlichen aber durchaus deutlich gemacht, dass deren Verhalten unakzeptabel ist. Insofern wirft Thole diesen Ansätzen vor, dass sie im Grunde genommen eine „antipädagogische Haltung“ beinhalten, die im schlimmsten Falle zu Intransparenz oder auch „Inkonsistenzen im pädagogischen Handeln“ (Helsper 1993, zitiert in ebd., S. 269) führt. Thole schlägt stattdessen eine „Aushandlung von Perspektiven“ bzw. einen diskursiven „Prozess von Konfrontation und Verhandlung“ (ebd., S. 270) vor. Miltner (1982, S. 135) hatte ihm Rahmen eines aufsuchenden Praxisprojekts ähnliche Forderungen formuliert. Demnach bedeutet Akzeptanz nicht, dass der oder die StreetworkerIn „die Problemsichtweisen und Definitionen der Jugendlichen einfach übernimmt, (…) er muß [sic!] ihnen auch seine eigenen theorieund praxisfundierten Interpretationen gegenüberstellen. Dies impliziert auch Konfrontationen, Erweiterungen und Ergänzungen im Beratungsprozeß [sic!] (….).“ Ein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf die mangelnde Reflexion des Spannungsverhältnisses zwischen Interessensvertretung und Akzeptanz auf der einen Seite, sowie dem Auftrag nach Befriedigung und sozialer Disziplinierung andererseits. Aufgrund des sogenannten „doppelten Mandats“, welches die Arbeit der SozialarbeiterInnen in jedem Fall, auch bei einer akzeptierenden Vorgehens-
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weise, prägt, ist eine grundsätzlich akzeptierende Haltung nur schwer vorstellbar. Stattdessen wird jedoch die Vertretung und Parteilichkeit für die jeweiligen Jugendgruppen überbetont, während eine Bezugnahme auf Ordnungs- und Kontrollinteressen häufig fehlen würde. Logischerweise kann diese Funktion aber schlicht und einfach gar nicht ignoriert oder negiert werden, weil die hier relevanten Interessensgruppierungen letztendlich jedes Vorhaben aufsuchender Straßensozialarbeit finanzieren. (vgl. Thole 2000, S. 270). Zuletzt sei auch auf die Gefahr einer akzeptierenden Haltung in Bezug auf zu homogene Gruppen hingewiesen, insbesondere dann, wenn die praktische Arbeit in einem exklusiven Setting dieser Gruppe verhaftet bleibt. Wichtig ist jedoch, dass (neu) erlernte Sichtweisen und Verhaltensweisen in der Interaktion mit (anderen) Gleichalterigen erprobt werden können (z. B. Besuch anderer Jugendtreffs, zielgruppenübergreifende Veranstaltungen und Projekte usw.). So ist es besonders wichtig, Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozesse zu verringern und eine Separation von anderen Jugendgruppen aufzuheben (vgl. Tschirner 2004). In der Praxis wird insbesondere dieser Schritt häufig vernachlässigt, sodass die Kritik, die betreuenden JugendarbeiterInnen würden in ihrem eigenen „Sumpf“ verharren, nicht ganz unberechtigt ist. Als zweite Gemeinsamkeit sämtlicher Ansätze der aufsuchenden Jugendarbeit können ein konsequenter Lebensweltbezug sowie, stärker ausgeprägt in den klassischen Streetworkansätzen, eine Fokussierung auf Hilfen zur Lebensbewältigung genannt werden. Die Angebote orientieren sich hierbei stets an den Lebenswirklichkeiten und Interessen der Zielgruppen, die eingehend analysiert werden müssen. Diese zentrale Bedeutung eines Lebensweltbezugs konnte bereits Miltner (1982) in seiner Praxisstudie zur aufsuchenden Beratung einer Jugendclique in einer Kneipe herausarbeiten: „In allen mir bekanntgewordenen Projektberichten und allgemeineren Darstellungen zur Praxis von street work wird übereinstimmend betont, daß [sic!] eine erfolgreiche Beratung durch street work auf die Realität des wirklichen Lebens von Jugendlichen Bezug nehmen muß [sic!], und einhellig wird hervorgehoben, daß [sic!] sich Jugendliche durch Methoden des street work nur dann ansprechen (…) lassen, wenn die Beratungsangebote und die Formen und Inhalte des pädagogischen Umgangs in die Strukturen und Prozesse eingebettet werden, die an den Trefforten von Jugendlichen vorherrschen.“ (ebd., S. 5)
Analog dazu forcieren aufsuchende Ansätze häufig insbesondere eine Bewältigung des jeweiligen Alltags bzw. einen adäquaten Umgang mit den
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jeweiligen Lebenslagen und -situationen, und weniger eine grundsätzliche Veränderung der Lebensweisen. Streetworkansätze mit konkretem Zielgruppen- und Milieubezug zielen daher im Kern auf sozialpädagogische Hilfen und Unterstützung zur Lebensbewältigung ab (vgl. Thole 2000, S. 132). Beides – Lebensweltnähe und Hilfe zur Lebensbewältigung – haben einen entscheidenden Vorteil. So beinhaltet dieser Lebensweltbezug Thole zufolge eine „deinstitutionalisierende Tendenz“ (ebd., S. 267), d. h., dass die angebotenen Hilfen weitestgehend frei von institutionellen Barrieren und Zugangsschwellen sind. Zuletzt beinhaltet Lebensweltnähe auch die Chance, sowohl die Perspektive als auch die – oftmals hoch gesteckten – pädagogischen Ziele der jeweils tätigen Fachkräfte einer kritischen Prüfung und Reflexion zu unterziehen. Analog der akzeptierenden Grundhaltung sollte es nicht darum gehen, den betreuten Jugendlichen eine Vorstellung von „Normalität“ überzustülpen, sondern ihnen eher die Bewältigung ihres alltäglichen Lebens zu ermöglichen. Damit ermöglicht Lebensweltnähe auch eine fachliche Reflexion von auf gesellschaftlichen Konstruktionen beruhenden Vorstellungen einer modernen Lebensführung bzw. einer sogenannten „Normal-Biographie“ (vgl. ebd.). Wie bereits bei der akzeptierenden Jugendarbeit kritisiert Thole (2000, S. 268 f.) auch in Bezug auf diesen Lebensweltbezug eine mangelnde Verknüpfung zwischen Theoriediskursen und der praktischen Methodenentwicklung. Thole (2000, S. 265 ff.) vermeidet aus diesem Grund die Verwendung des Begriffs Lebensweltorientierung, weil sich seiner Einschätzung nach in den meisten Konzepten keine explizite Bezugnahme auf die theoretische Ausarbeitung der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit (vgl. beispielsweise Grunwald/Thiersch 2016, 2015, 2008; Thiersch 2014) finden lässt, insbesondere, weil fundierte Auseinandersetzungen mit der Theorie der Lebensweltorientierung fehlen. Für den Ansatz der Mobilen Jugendarbeit ist diese Kritik jedoch eher unbegründet, wie auch neuere Beiträge von Keppeler/Reuting (2016) sowie Wittmann/Kampermann (2008) verdeutlichen. Keppeler/Reuting (2016, S. 153) betonen sogar ausdrücklich, dass sich Thiersch in seinen Veröffentlichungen zur lebensweltorientierten Pädagogik explizit auf die Mobile Jugendarbeit bezieht. Des Weiteren finden sich die Handlungsmaximen der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit nahezu eins zu eins in den Arbeitsprinzipien der Mobilen Jugendarbeit wieder (vgl. ebd., S. 154). Auch Wittman/Kampermann (2008) betrachten die Lebensweltorientierung als tragende Säule der Mobilen Jugendarbeit, indem sie auf die zentrale Bedeutung von Hilfe zur Selbsthilfe, Empowerment und Identitätsarbeit verweisen:
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„Der Adressat bleibt Subjekt seiner Verhältnisse. Der Blick der Mobilen Jugendarbeiter richtet sich folglich auf seine Stärken sowie auf seinen Widerstand gegenüber zugemuteten und aufgezwängten Lebensentwürfen, die für seine eigene Lebensgestaltung bedeutungslos sind. (…). Entsprechend des Konzepts der Lebensweltorientierung geht die Mobile Jugendarbeit davon aus, dass die Lebenswelt ihrer jugendlichen Adressaten durch Belastungen und Überforderungen, durch Offenheit und Widersprüche gekennzeichnet ist, und deshalb die Jugendlichen Sicherheit in ihrem jeweiligen Lebenskonzept finden müssen, damit sie gegen gewalttätiges, delinquentes Auftreten, Sucht und Aussichtslosigkeit gerüstet sind.“ (ebd., 45)
Aber auch bereits in älteren Beiträgen werden deutliche Bezüge zur Theorie der Lebensweltorientierung hergestellt. So verweist Specht (1979, S. 30) auf Hans Thiersch und auf die Bedeutung von Beratung und Unterstützung in der unmittelbaren Lebenswelt der Jugendlichen. Keppeler (1989, S. 24 f.) analysiert wiederum die Arbeitsform der sogenannten Clubarbeit als Bestandteil der Mobilen Jugendarbeit im Kontext der für die Lebensweltorientierung zentralen Dimensionen „Raum“ und „Zeit“. Clubarbeit ermöglicht sowohl eine cliquenspezifische Aneignung als auch „Hilfe zur Lebensbewältigung“. Des Weiteren spielt Partizipation eine elementare Rolle. Auch die theoretische Fundierung der „Aufsuchenden Jugendarbeit“ im Verständnis von Krafeld (2004) widerspricht der Kritik von Thole. Krafeld stellt zwischen den Grundlagen einer aufsuchenden Jugendarbeit und der Theorie der Lebensweltorientierung durchaus systematische Bezüge her (vgl. hierzu insbesondere ebd., S. 125 ff. sowie Huber 2014, S. 17 ff.). Allerdings vermischt Krafeld die Begrifflichkeiten der Lebensweltorientierung zu sehr mit dem Thema Sozialraumorientierung. Eine dritte Gemeinsamkeit, die sich im Grunde genommen in allen aufsuchenden Ansätzen finden lässt, ist die sozialraumorientierte Perspektive mit besonderem Fokus auf Einmischung und Vertretung der Belange von Kindern und Jugendlichen. Gemäß den Grundprinzipien der Sozialraumorientierung sollten die aufsuchend tätigen Fachkräfte stets ein fundiertes Wissen über den jeweiligen Sozialraum haben. Dazu gehören das Wissen über die Lebenssituation und Sozialstruktur der Bevölkerung, die Kenntnis von Besonderheiten sowie das Wissen über die Aneignungs- und Handlungsmöglichkeiten der jungen Menschen vor Ort. Entsprechende Kenntnisse erwerben die Fachkräfte vor allem im Rahmen von Gesprächen, Befragungen und Begehungen. Methodisch können hier beispielsweise gemeinsame Stadtteilbegehungen mit den Jugendlichen, aktivierende Befragungen, Fotostreifzüge, oder die Arbeit mit Stadt- bzw. Gemeindekarten zur Anwendung kommen. Sinnvoll ist darüber hinaus eine Befragung von Schlüsselakteuren in dem jeweiligen Sozialraum (Polizei, Schulen, Kirchen, AnwohnerInnen, Gewerbetreibende, MitarbeiterInnen
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von Kultur- und Bildungseinrichtungen, usw.). Auf Basis dieser Erkenntnisse zu entsprechenden Problemlagen, können sich die aufsuchend tätigen JugendarbeiterInnen auch konkret in sozial- oder städteplanerische Belange einmischen. Dies wiederum ist eine Grundvoraussetzung zur Schaffung positiver Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familie (§ 1 SGB VIII). Letztendlich ist diese sozialräumliche Perspektive unabdingbares Werkzeug in der aufsuchenden Arbeit, weil nur so entsprechende Räume geschaffen bzw. verteidigt werden und Hilfeprozesse moderiert werden können. Dabei geht es nicht nur um die konkrete Präsenz der Fachkräfte im unmittelbaren Sozialraum (Aufsuchen der Jugendlichen), sondern vor allem auch um die Interessensvertretung der jungen Menschen und um ein kommunalpolitisches und sozialplanerisches Agieren in verändernder Absicht: „Straßensozialarbeit ist nicht einfach dadurch hilfreich, dass professionelle sozialpädagogische Akteure in den betreffenden sozialen Räumen anwesend sind, sondern vielmehr darüber, dass sie sich bemühen, durch Kenntnis des Umfelds infrastrukturelle Schwachstellen zu identifizieren und deren Behebung zu initiieren.“ (Thole 2000, S. 132).
Neben dem Herstellen einer „Öffentlichkeit“ und dem Aufdecken bzw. der Weitergabe von Informationen zu bestimmten „Missständen“ spielt aber auch die Vernetzung eine zentrale Rolle, wie Simon (1995) sowie Krafeld (2004, S. 139 ff.) deutlich darlegen. Nur auf Basis einer systematischen Vernetzung kann letztendlich ein umfassend und ganzheitlich angelegter Hilfeprozess organisiert und ermöglicht werden. Darüber hinaus werden Empowerment-Prozesse angestoßen. Die Möglichkeiten all dieser Prämissen, die Schaffung, Verteidigung und Gestaltung von Räumen, eine kommunalpolitische und städteplanerische Einmischung, die Vernetzung und der Aufbau von Kooperationen, sowie eine intensive pädagogische Arbeit mit definierten Zielgruppen, insbesondere, wenn es um einen delinquenzorientierten Ansatz geht, können jedoch, abhängig von den jeweiligen Sozialräumen, begrenzt sein. So haben sich sowohl das Freizeitverhalten der jungen Menschen als auch die jeweils präferierten Räume durchaus verändert. Dies zeigen vor allem auch Projekte aufsuchender Arbeit in eher ungewöhnlichen Sozialräumen, die zwar verstärkt von jungen Menschen aufgesucht und als Freizeitmöglichkeit und Treffpunkt genutzt werden, in denen aber sowohl die Kontakt- und Beziehungsarbeit als auch eine sozialräumliche Einmischung strukturell erschwert werden, beispielsweise Shopping Malls, Einkaufs- und Vergnügungsviertel, oder auch Bibliotheken (mit
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kostenlosem WLAN-Zugang). Ein jüngst hierzu durchgeführtes Projekt der Mobilen Jugendarbeit Stuttgart in einem neu entstehenden Viertel in der Stuttgarter Innenstadt verdeutlicht diese Problematik: So wurden im Rahmen von Streetworkgängen und Freizeitangeboten zwar viele Jugendliche erreicht, die meisten davon können jedoch als sporadische BesucherInnen bezeichnet werden, die zudem gar nicht in diesem Stadtteil leben und auch keinen unmittelbaren Hilfe- und Unterstützungsbedarf anmelden (vgl. hierzu Meyer/Rahn 2017; Rahn/ Meyer 2017, 2018). Inwiefern eine solche, auf Einmischung und advokatorische Vertretung setzende sozialräumliche Perspektive tatsächlich in der konkreten Praxis konsequent verfolgt werden kann, wird aber auch aus anderen Gründen kritisch diskutiert. Zum einen bleibt fraglich, ob es in der Praxis wirklich immer nur um die „Interessen“ der jungen Menschen geht, oder nicht eher um auf Befriedigung und auf Erhalt der „öffentlichen Ordnung“ drängende AnwohnerInnen, Gewerbetreibende, Polizei oder sonstige Akteursgruppen. Es ist zumindest anzunehmen, dass sich Ansätze aufsuchender Arbeit dann politisch besser „verkaufen“ lassen, wenn im Grunde vor allem die (erwachsene) Bevölkerung einen Nutzen davon hat. Damit einhergehend, wird zweitens kontrovers diskutiert, inwiefern die aufsuchende Jugendarbeit wirklich Aneignungsverhalten fördert und als Chance zur „Revitalisierung“ des öffentlichen Raums begriffen werden kann, oder ob sie nicht eher „ein ordnungspolitisches Instrument zur Kontrolle der Jugendlichen im öffentlichen Raum sei“ (Huber 2014, S. 1). Die besondere Bedeutung dieser sozialräumlichen Perspektive steht und fällt daher mit der Frage, wie stark sich aufsuchend tätige Fachkräfte in der Praxis für ihre Zielgruppe stark machen. In Bezug auf diese aneignungstheoretische Begründung betont Krafeld (2004) daher explizit die Bedeutung einer parteilichen Einmischung in die sozialräumlichen Lebensbedingungen junger Menschen, vor allem dann, wenn es um den Erhalt ihrer selbstgewählten Treffpunkte geht (vgl. ebd., S. 48 ff.). Abschließend sollte Anbetracht der vielfältigen Interessenlagen und – teils auch politisch motivierten – Erwartungen auf die Gefahr einer strukturellen (Selbst-) Überforderung aufsuchender Ansätze der Jugendarbeit verwiesen werden. So kämpfen viele dieser Ansätze durchaus mit der paradoxen Situation einer Art Allzuständigkeit auf der einen Seite und der Abgrenzung zu anderen Arbeitsfeldern auf der anderen Seite. Betrachtet man zudem noch die zuhauf in der Literatur genannten Begründungskontexte, so ist eine Überforderung vorprogrammiert: Aufsuchende Arbeit soll die veränderten Bedingungen des Aufwachsens junger Menschen kompensieren (vgl. Krafeld 2004), sie habe sich politisch einzumischen und auch die Folgen von Globalisierung und einer neoliberalen Politik anzuprangern oder sie solle die Bevölkerung für die Themen
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Armut und Ausgrenzung sensibilisieren (vgl. Butterwegge 2003; Gillich 2004b; Stehr 2004; konstruktiv-kritische Überlegungen zur Praxis politischer Einmischung bei Stotz/Vollmer 2004). Auch wenn diese Begründungskontexte lobenswert sind, bleibt an dieser Stelle nur eine abschließende Mahnung zur Besinnung auf das pädagogische Profil.
7 Übungsfragen a) Welche verschiedenen Formen aufsuchender Jugendarbeit sind Ihnen nach der Lektüre dieses Beitrags in Erinnerung geblieben und welche dieser Formen lassen sich Ihrer Meinung nach gut zu Gruppen ähnlicher Ansätze zusammenfassen. Begründen Sie Ihre Zusammenfassung mit den jeweiligen theoretischen Zugängen und methodischen Vorgehensweisen. b) Beschreiben Sie die wichtigsten Grundlagen der Mobilen Jugendarbeit anhand der Ziele, Arbeitsformen und Arbeitsprinzipien. c) Von VertreterInnen der Mobilen Jugendarbeit wird betont, dass Streetwork zwar nur eine Methode in dem gesamten Methodenrepertoire sei, gleichzeitig aber auch die Basis für alle anderen Arbeitsformen. Begründen und erklären Sie diese These. d) Worin unterscheidet sich die Aufsuchende Jugendarbeit nach Franz Josef Krafeld von der Mobilen Jugendarbeit? Nutzen Sie für diesen Vergleich insbesondere die von Krafeld vorgebrachten Begründungen bezüglich der theoretischen Grundlagen und des methodischen Handelns. e) Welche drei Gemeinsamkeiten lassen sich abschließend aus den dargestellten Ansätzen aufsuchender Jugendarbeit herausarbeiten?
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Schulsozialarbeit Mirjana Zipperle und Sebastian Rahn
Zusammenfassung
Schulsozialarbeit hat sich in den letzten Jahren zu einem weitverbreiteten sozialpädagogischen Angebot am Ort Schule entwickelt. Von dieser empirischen Beobachtung ausgehend fragt der Beitrag danach, ob und wie sich Schulsozialarbeit als eigenständiges Handlungsfeld der Sozialen Arbeit etabliert hat. Dabei zeigt sich in der historischen Betrachtung, dass der Ausbau von Schulsoziarbeit oftmals in engen Zusammenhang mit schulischen Problemdefinitionen (sogenannte „Brennpunktschulen“) und gesellschaftlichen Transformationsprozessen stand. Theoretisch-fachliche Begründungsmuster sowie differenzierte Beschreibungen der Methoden und Arbeitsformen von Schulsozialarbeit entstanden demgegenüber erst in den letzten Jahren und reagieren damit auf den steigenden Bedarf nach fachlichen Orientierungspunkten. Der Beitrag kontrastiert diese fachlich-theoretischen Forderungen mit den empirischen Erkenntnissen zu Schulsozialarbeit und zeigt bestehende Differenzen auf. So sind die die Rahmbedingungen von Schulsozialarbeit oftmals durch Teilzeitstellen, Befristungen und den „Einzelkämpferstatus“ der Fachkräfte als prekär zu bezeichnen. In Zusammenhang damit ist die Tendenz
M. Zipperle (*) Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Rahn Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_8
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M. Zipperle und S. Rahn
zu sehen, dass in der Schulsozialarbeit einzelfall- und schulbezogene Tätigkeiten dominieren. Diese Feststellungen verweisen auf zukünftige Herausforderungen im Handlungsfeld, die der Beitrag abschließend skizziert.
1 Schulsozialarbeit als Handlungsfeld zwischen Jugendhilfe und Schule – Einleitende Anmerkungen Schulsozialarbeit wird in diesem Lehrbuch als Teil der Kinder- und Jugendarbeit verortet. Dies erscheint aus einer fachlichen Perspektive hoch attraktiv, da diese Positionierung die Übernahme bestehender Arbeitsprinzipien (z. B. Freiwilligkeit, Offenheit) und Methoden (Erlebnispädagogik, Projektarbeit) ermöglicht und Schulsozialarbeit von der langjährigen Erfahrung der Kinder- und Jugendarbeit hinsichtlich der Begleitung von Kindern und Jugendlichen profitieren kann. Zudem erscheint diese Verortung aufgrund der gängigen rechtlichen Begründung von Schulsozialarbeit mit den §§ 11 (Jugendarbeit) und 13 (Jugendsozialarbeit) SGB VIII legitim. Dennoch ist es im Fachdiskurs umstritten, ob Schulsozialarbeit als Teilbereich der Kinder- und Jugendarbeit anzusehen ist. Sichtet man aktuelle Publikationen, so entsteht der Eindruck, dass Schulsozialarbeit mittlerweile überwiegend als eigenständiges Handlungsfeld – d. h. unabhängig von Kinder- und Jugendarbeit – diskutiert wird und in der Praxis auch als solches etabliert ist. Dies liegt vor allem darin begründet, dass sich Schulsozialarbeit als „bislang intensivste Form der Kooperation von Jugendhilfe und Schule“ (Bolay/ Iser 2016, S. 142) in den letzten Jahrzehnten zu einem weitverbreiteten sozialpädagogischen Angebot am Ort Schule entwickelt hat. Innerhalb von fünf Jahren wuchsen sowohl die Anzahl der Vollzeitstellen für Schulsozialarbeit in Baden-Württemberg (2012: 829.09; 2017: 1507.68) als auch die Anzahl der Fachkräfte (2012: 1286; 2017: 2280) um jeweils knapp 100 % (vgl. KVJS 2017, S. 4), sodass mittlerweile der jeweiligen Hauptzielgruppe mehr hauptamtliche Fachkräfte in der Schulsozialarbeit zur Verfügung stehen als in der offenen und verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit (vgl. KVJS 2017, S. 18). Auch deutschlandweit befindet sich das Handlungsfeld in einem kontinuierlichen Wachstumsprozess (vgl. Zankl 2017, S. 16). Trotz des Ausbaus, der unbestritten zu einer Verstetigung, Normalisierung und Anerkennung des Arbeitsfelds über die Grenzen der Kinder- und Jugendhilfe hinaus geführt hat, wird nach wie vor darum gerungen, mit welchem Auftrag Schulsozialarbeit tätig ist und wie dieser
Schulsozialarbeit
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realisiert werden kann (vgl. Zipperle u. a. 2018, S. 9 f.). Schon die Positionierung des 14. Kinder- und Jugendberichts, nach dem Schulsozialarbeit „zunehmend notwendig für eine gelingende Schule“ sei (BMFSFJ 2014, S. 329), verweist auf die Frage, ob Schulsozialarbeit in ihrer Zielperspektive ein Handlungsfeld zur Unterstützung von Schule darstellt, oder ob sie entsprechend des Auftrags der Kinder- und Jugendarbeit ihr Angebot primär mit Blickrichtung auf die Begleitung von Kindern und Jugendlichen ausgestaltet. Das mit dem Ausbau der Schulsozialarbeit zu einem etablierten Infrastrukturangebot verbundene Ringen um das eigene Profil ist nicht isoliert zu betrachten, sondern steht vielmehr im Zusammenhang mit bestimmten gesellschaftlichen (z. B. Bedeutungszuwachs von formalen Bildungsabschlüssen) und institutionellen (z. B. Ausbau der Ganztagesschule) Entwicklungen. Hinzu kommt, dass Schulsozialarbeit an den unterschiedlichen Schularten ein je spezifisches Profil entwickelt – die Tätigkeit einer/s SchulsozialarbeiterIn an der Grundschule ähnelt derjenigen an einem Berufskolleg zwar hinsichtlich der übergeordneten Ziele, jedoch nicht hinsichtlich der Anforderungen an die Fachkräfte und der Bedürfnisse der AdressatInnen. Bereits diese wenigen angedeuteten Aspekte verdeutlichen die mit dem Ausbau der Schulsozialarbeit verbundene zunehmende Komplexität des Arbeitsfelds, in das der vorliegende Beitrag einführen möchte. Zunächst steht dabei die Frage nach einer fachlich und theoretisch begründeten Profilbildung im Vordergrund. Anknüpfend an die historischen Entwicklungen werden theoretische Begründungsmuster, rechtliche Grundlagen sowie Definitionen und Arbeitsformen von Schulsozialarbeit betrachtet, die den aktuellen Fachdiskurs prägen (2). Demgegenüber zeigen sich in der Praxis sehr heterogene Strukturen von Schulsozialarbeit, was sich sowohl auf die Trägerlandschaft als auch auf Finanzierungsformen und die innerschulische Positionierung bezieht und was sich auch auf die jeweiligen Aufgabenschwerpunkte von Schulsozialarbeit auswirkt (3). Anknüpfend an diese Differenzen zwischen fachlicher Standortbestimmung und empirischen Erkenntnissen zur Schulsozialarbeit thematisiert der Beitrag aktuelle Entwicklungslinien und zukünftige Herausforderungen in vier Dimensionen – der Kooperation zwischen Lehrkräften und Schulsozialarbeit, der systematischen Vernetzung mit anderen Angeboten der Jugendhilfe, der Frage nach den Wirkungen von Schulsozialarbeit sowie der Bedeutung der zunehmenden Ausdifferenzierung des Arbeitsfelds für die Schulsozialarbeit (4). Abschließend wird auf die Relevanz fachlicher Reflexionsprozesse auf mehreren Ebenen und der verbindlichen Festlegung von Qualitätsstandards hingewiesen, um das Profil von Schulsozialarbeit als sozialpädagogisches Angebot am Ort Schule zu stärken (5).
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2 Historische Entwicklung, theoretische und fachliche Begründungen – Bestimmung des Profils von Schulsozialarbeit 2.1 Historische Entwicklungen Mit Ausnahme vereinzelter historischer Vorläufer (z. B. Schulkinderfürsorge, sozialpädagogische Reformschulen) gab es bis in die 1970er Jahre hinein eine weitgehend eindeutige Aufgabenteilung zwischen Schule und Jugendhilfe: Erstere war für die formale Bildung der ‚normalen‘ Kinder und Jugendlichen zuständig, letztere nachgeordnet für die Unterstützung der ‚auffälligen‘ Jugendlichen und für die außerschulische Jugendarbeit (vgl. Speck 2014, S. 12). Die vereinzelte Etablierung von Schulsozialarbeit änderte daran zunächst wenig; sie war jedoch begleitet von einer intensiven fachlichen Auseinandersetzung zur Rolle und Funktion sozialpädagogischer Fachkräfte an der Schule und von einer Kritik an den bestehenden Schulstrukturen (vgl. Abels 1971). Gleichwohl basierte die Anstellung von SchulsozialarbeiterInnen nicht auf einem ausgearbeiteten sozialpädagogischen Konzept, sondern war primär durch einen zunehmenden Betreuungsaufwand sowie einen wahrgenommenen Zuwachs an ‚problematischen‘ SchülerInnen begründet (vgl. Speck 2014, S. 12). Die Funktion von Schulsozialarbeit wurde zunächst darin gesehen, zum Gelingen des Schulbetriebs beizutragen und neue Stellen wurden überwiegend in den im Rahmen der Bildungsreform entstandenen Gesamtschulen geschaffen. Die 1980er Jahre waren aus einer quantitativen Perspektive von einer Stagnation geprägt – angesichts der als gescheitert angesehenen Bildungsreform wurden die bereits geschaffenen Stellen sogar teilweise wieder reduziert, sodass Tillmann (1987, S. 388) konstatierte: „Schulsozialarbeit ist im bundesdeutschen Regelschulsystem eine seltene Erscheinung“. Parallel dazu vermehrten sich jedoch die angebotenen Fortbildungen und Publikationen zu Schulsozialarbeit und mehrere wissenschaftliche Begleitforschungen zu Modellvorhaben wurden durchgeführt (vgl. beispielsweise Kersting 1985). Zudem pluralisierte sich die Trägerlandschaft und es entwickelten sich unterschiedliche sozialpädagogische Angebotsformen am Ort Schule, die unter dem Oberbegriff ‚Schulsozialarbeit‘ zusammengeführt wurden (vgl. Speck 2014, S. 13). In den 1990er Jahren erfolgte schließlich ein deutlicher Ausbau der Schulsozialarbeit sowie der auf diese bezogenen Forschungsarbeiten. Als Gründe identifiziert Speck (ebd., S. 13 f.) aufseiten der Jugendhilfe das neue und prominente Fachkonzept einer lebensweltorientierten Jugendhilfe, die Einführung des auf Kooperationen mit der Schule angelegten Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB
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VIII) sowie die in der Fachdiskussion vorhandenen Forderungen nach einer Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule. Aber auch aufseiten der Schule kam es durch unterschiedliche Debatten zu einer stärkeren Öffnung gegenüber außerschulischen Partnern (vgl. ebd., S. 14). Zudem wurde der Ausbau der Schulsozialarbeit durch mehrere bundeslandbezogene und kommunale Förderprogramme forciert, oftmals verbunden mit der Hoffnung, die Folgen von gesellschaftlichen Transformations- und Veränderungsprozessen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen bearbeiten zu können (vgl. Olk u. a. 2000, S. 41). Allerdings war die Öffnung der Schule in Richtung Jugendhilfe nach wie vor keineswegs selbstverständlich, wie sich am Fehlen sozialpädagogischer und jugendhilfespezifischer Inhalte in bildungspolitischen Programmpapieren zeigt (vgl. ebd., S. 33). Seit Beginn der 2000er Jahre bis heute hat sich der quantitative Ausbau der Schulsozialarbeit fortgesetzt, sodass diese inzwischen „zu den zentralen Angebotsformen der Sozialen Arbeit im Kontext Schule“ (Emanuel 2017, S. 16) gehört. Parallel dazu hat sie sich bundesweit von einer spezialisierten Hilfe für spezifische SchülerInnengruppen an bestimmten Schulen (sogenannten Brennpunktschulen in den 1990er Jahren) zu einem etablierten Infrastrukturangebot entwickelt. Zankl (2017, S. 44) schätzt die Anzahl der SchulsozialarbeiterInnen im Jahr 2015 bundesweit auf zwischen 10.000 und 16.000 Personen. Gleichwohl und insbesondere in Zeiten des quantitativen Wachstums wird im Fachdiskurs eine weitere Profilschärfung der Schulsozialarbeit sowie eine Absicherung bestimmter Mindeststandards gefordert (vgl. Meinunger 2016; Bolay/Iser 2016; Zipperle u. a. 2018). Nach Hollenstein und Nieslony (2016, S. 294) vollzieht sich die Entwicklung der Schulsozialarbeit als „zwar stetige, gleichsam langsame, um eine terminologische Eindeutigkeit ringende professionelle Etablierung des Handlungsfeldes.“ Dieser auf einer Betrachtung der bisherigen Kinder- und Jugendberichte beruhenden Diagnose der Entwicklung hin zu einem eigenständigen sozialpädagogischen Handlungsfeld entsprechen die aktuell vielfältige und intensive – jedoch zumeist auf kommunale Begleitforschung begrenzte – Forschungspraxis (vgl. Stüwe u. a. 2015, S. 218; Speck/Olk 2010) sowie die Etablierung eigenständiger Master-Studiengänge zur Schulsozialarbeit (vgl. Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt 2018).
2.2 Theoretische Begründungsmuster In der geschichtlichen Entwicklung wird immer wieder deutlich, dass bestimmte gesellschaftliche Konstellationen und politische Ziele zum Ausbau (oder zur
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Stagnation) von Schulsozialarbeit beigetragen haben. Damit rückt die Frage nach der jeweiligen Begründung für den Einsatz von SchulsozialarbeiterInnen in den Fokus. Nach Speck (2014, S. 49 ff.) lassen sich grundsätzlich alltagspraktische sowie theoretische Begründungsmuster von Schulsozialarbeit voneinander unterscheiden: die alltagspraktischen Begründungen weisen einen starken Schulbezug auf und benennen das abweichende Verhalten von SchülerInnen sowie die Absicherung von Freizeitangeboten am Nachmittag als zentrale Handlungsanlässe der Schulsozialarbeit (vgl. ebd., S. 51). Mit diesen Begründungsmustern wird oftmals auf einen konkreten Problemdruck reagiert und sie erleichtern – wie sich geschichtlich immer wieder zeigt – eine erstmalige Etablierung von Schulsozialarbeit. Hinsichtlich theoretischer Begründungen unterscheidet Speck (vgl. ebd., S. 51 ff.) insgesamt fünf Argumentationsstränge: • Das sozialisations- und modernisierungstheoretische Begründungsmuster bezieht sich auf die teilweise defizitären Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen und hat damit einen expliziten AdressatInnenbezug, aus dem sich die Aufgabe von Schulsozialarbeit ableitet: Schulsozialarbeit soll „Kinder und Jugendliche in ihrer Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung […] begleiten, in ihrer schulischen und außerschulischen Lebensbewältigung […] unterstützen sowie in ihren sozialen Kompetenzen […] fördern bzw. durch die Verbesserung der Schulerfolgschancen die soziale Integration […] langfristig […] erhöhen.“ (ebd., S. 54) • Einen ebenfalls starken Fokus auf die AdressatInnen hat die bildungstheoretische Begründung von Schulsozialarbeit, in dem sie die bestehenden Bildungsungleichheiten kritisiert und die Ermöglichung von Bildungsprozessen fordert. Von einem erweiterten Bildungsverständnis (formale, non-formale und informelle Bildung) ausgehend wird der primäre Auftrag von Schulsozialarbeit darin gesehen, subjektive Aneignungs- und Lernprozesse zu fördern sowie Bildungsbenachteiligungen abzubauen. • Die schultheoretische Argumentation sieht dagegen den zentralen Auftrag von Schulsozialarbeit im Funktionieren des Gesamtsystems Schule, während der Nutzen für Kinder und Jugendliche lediglich eine indirekte Wirkung darstellt (vgl. ebd., S. 57). Innerhalb dieses Diskurses lassen sich nochmals zwei Argumentationslinien unterscheiden: die stärker schulpädagogisch geprägte Richtung sieht die Funktion von Schulsozialarbeit in ihrer Unterstützung und Ergänzung des Unterrichts und in der Arbeit mit auffälligen SchülerInnen, während die sozialpädagogische Richtung das bestehende Schulsystem kritisiert und in der Schulsozialarbeit einen Akteur sieht, der an der Schulentwicklung mitwirkt.
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• Das transformationstheoretische Begründungsmuster ist eng mit dem Ausbau der Schulsozialarbeit in den 1990er Jahren verbunden. Infolge der deutschen Wiedervereinigung befand sich das Schulsystem in den neuen Bundesländern in einem Wandlungsprozess, zu dessen Bewältigung verstärkt SchulsozialarbeiterInnen eingestellt wurden. Während in der DDR der integrierende Charakter von Schule im Zentrum stand, führte die Umstellung auf das stärker auf Selektion ausgerichtete Schulsystem der BRD sowohl bei LehrerInnen und Eltern als auch bei den SchülerInnen zu einer biografischen Verunsicherung und zum Brüchigwerden von Lebensentwürfen (vgl. Speck 2014, S. 60). Eine Orientierungslosigkeit und ein Anstieg abweichenden Verhaltens war die Folge. Schulsozialarbeit sollte dementsprechend zu einer Ausbalancierung der Hilfesysteme sowie zur Integration der ‚abweichenden‘ Kinder und Jugendlichen beitragen. • Eine im Gegensatz zu den Entwürfen der 1970er Jahre aktualisierte rollenund professionstheoretische Begründung geht davon aus, dass Lehrkräfte aufgrund der Grenzen ihrer Belastbarkeit, fehlender sozialpädagogischer Kenntnisse und ihres Selektions- und Kontrollauftrags keine sozialpädagogischen Aufgaben übernehmen können und es dafür der Schulsozialarbeit bedürfe (vgl. ebd., S. 62). Diese Begründungslinie hebt explizit auf eine Trennung von Jugendhilfe und Schule bei gleichzeitiger Kooperationsnotwendigkeit ab, um Kinder und Jugendliche am Ort Schule umfassend begleiten zu können. Neben diesen von Speck identifizierten theoretischen Begründungsmustern sind noch weitere denkbar, die gerade hinsichtlich einer Bildungs- und Bewältigungsperspektive auf junge Menschen interessant erscheinen: Schulsozialarbeit könnte erstens biografietheoretisch als relevantes Unterstützungsangebot im Lebensverlauf von Kindern und Jugendlichen und bei den damit verbundenen Übergängen (z. B. Kindergarten – Grundschule, Schule – Beruf) begründet werden; zweitens ließe sich Schulsozialarbeit, gerade wenn sie entlang zentraler Prinzipien der Kinder- und Jugendarbeit ihre Angebote ausrichtet, ebenso demokratietheoretisch legitimieren. Aufgrund der teilweise einseitigen Argumentation in den bestehenden Begründungsmustern (z. B. Defizitorientierung, zeitliche Begrenztheit) plädiert Speck (2014, S. 64) für einen „umfassende[n] sozialpädagogische[n] Auftrag […], der trotz der schulischen Nähe weitgehend unabhängig von schulischen Aufträgen umgesetzt wird und die Sozialisations- und Modernisierungsherausforderungen von Kindern und Jugendlichen in den Blick nimmt.“ In ähnlicher Weise knüpft Emanuel (2017, S. 19) in seiner Begründung von Schulsozial-
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arbeit als „sozialstaatlich verbürgte und sozialpädagogisch vermittelte Leistung der Kinder- und Jugendhilfe“ an bildungs- und sozialisationstheoretische Überlegungen an und plädiert für eine „offensiv-emanzipatorische Schulsozialarbeit“ (ebd., S. 20), die sich ihre Unabhängigkeit vom System Schule bewahrt und gleichzeitig ihr fachliches Profil schärft. Diese letztgenannten theoretischen Begründungsansätze verweisen auf ein Verständnis von Schulsozialarbeit als Angebot, das zwar am Ort Schule seinen Ausgangspunkt hat, jedoch nicht auf dessen Logik beschränkt bleibt. Vielmehr zielt sie auf eine ganzheitliche Unterstützung von jungen Menschen in ihren inner- und außerschulischen Bewältigungsaufgaben.
2.3 Rechtliche Grundlagen Rechtliche Bestimmungen zu einem Arbeitsfeld haben die Funktion, standortund trägerübergreifend den fachlichen Auftrag zu klären und die Verantwortung für die Finanzierung der Angebote zu regeln. Die Tatsache, dass es keine bundeseinheitliche gesetzliche Grundlage zu Schulsozialarbeit gibt, führt dazu, dass Schulsozialarbeit je nach Bundesland letztlich unterschiedlich organisiert, finanziert und rechtlich begründet wird. In den meisten Bundesländern wird der §13 SGB VIII (Jugendsozialarbeit) zur rechtlichen Begründung von Schulsozialarbeit herangezogen (vgl. Wiesner/Struck 2015, Rn. 27). Daneben sind auch die programmatischen Postulate des §1 SGB VIII i. V. m. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, der §11 SGB VIII (Jugendarbeit), die strukturelle Verpflichtung zur Kooperation des §81 SGB VIII sowie die Regelungen der jeweiligen Landesschulgesetze relevante rechtliche Grundlagen der Schulsozialarbeit (vgl. Stüwe u. a. 2015, S. 24 ff.). Bereits in der Bezugnahme auf die Rechtsgrundlagen wird ein Dissens in der Wahrnehmung von Schulsozialarbeit deutlich: §13 (1) SGB VIII richtet sich ausschließlich an „[j]unge […] Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind“, während sich Schulsozialarbeit nach §11 (1) SGB VIII allgemein an junge Menschen richtet. Aufgrund dieser Differenzen und Unklarheiten wird regelmäßig die Schaffung einer einheitlichen Rechtsgrundlage für die Schulsozialarbeit gefordert – zuletzt in der Diskussion um eine Reform des SGB VIII (vgl. Hartnuß/Maykus 2004, S. 587; Kunkel 2016, S. 38 ff.). Dabei wird einer Rechtsexpertise von Kunkel (2016, S. 40) folgend vom Kooperationsverbund Schulsozialarbeit ein neuer
Schulsozialarbeit
261
§ 13 SGB VIII gefordert, der durch seine Verortung a) im Jugendhilferecht und b) anschließend an § 12 SGB VIII verdeutlicht, dass sich Schulsozialarbeit als Angebot der Kinder- und Jugendhilfe grundsätzlich an alle Kinder und Jugendlichen richtet:1 § 13 SGB VIII (neu) Schulsozialarbeit (1) Schülern, Eltern und Lehrern sollen im Rahmen der Jugendhilfe (§ 1 Abs. 3) geeignete und erforderliche Angebote der Schulsozialarbeit an der Schule zur Verfügung gestellt werden. (2) Schulsozialarbeit soll durch sozialpädagogische Fachkräfte (§ 72) kontinuierlich in verbindlich vereinbarter Zusammenarbeit mit der Schule (§ 81 Nr.3) geleistet werden. (3) Zu den Schwerpunkten der Schulsozialarbeit gehören: a) Beratung und Begleitung von einzelnen, insbesondere benachteiligten Schülern, b) Prävention und Intervention bei sozialen Konflikten (z. B. Mobbing) und individuellen Problemen (z. B. Absentismus) c) Offene Gesprächs-, Kontakt-, Bildungs- und Freizeitangebote, d) Anregung und Gestaltung erweiterter Bildungsangebote und Lerngelegenheiten, e) Orientierung beim Übergang von der Schule in den Beruf, f) Zusammenarbeit mit und Beratung von Lehrern und Eltern, g) Mitwirkung in schulischen Gremien, h) Gestaltung einer schülerfreundlichen Umwelt, i) Kooperation mit außerschulischen Partnern (4) § 13a Abs. 3 gilt entsprechend. Eine derartige rechtliche Verankerung würde ein ganzheitliches Profil der Schulsozialarbeit festschreiben und somit auf rechtlicher Ebene für eine standort- und trägerübergreifende Auftragsklärung sorgen.
1Für
die weiteren Änderungen, die sich bei diesem Vorschlag in den (teilweise neuen) §§ 2 (Aufgaben der Jugendhilfe), 13a (Jugendsozialarbeit), 79 (Gesamtverantwortung), 79a (Qualitätsmanagement) und 90 (Pauschalisierte Kostenbeteiligung) SGB VIII ergeben würden, vgl. Kunkel 2016, S. 41.
262
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2.4 Definitionen, Methoden und Angebotsformen von Schulsozialarbeit Die historischen, theoretischen und rechtlichen Begründungsmuster verdeutlichen die Vielfältigkeit des Arbeitsfelds und die nach wie vor gegebene Notwendigkeit einer fachlichen Profilklärung, was genau eigentlich unter Schulsozialarbeit zu verstehen ist, mit welchen Methoden sie arbeitet und was ihr Angebotsspektrum umfasst. Diese Aufgabenbestimmungen scheinen im sozialpädagogischen Fachdiskurs relativ geklärt und sollen hier entlang der Positionen von Pötter sowie Speck verdeutlicht werden. Pötter (2014, S. 23, Hervorhebungen MZ/SR) definiert Schulsozialarbeit als „das Ergebnis von Kooperationen zwischen den verschiedenen Akteuren des Systems Schule – insbesondere zwischen den sozialpädagogischen und den schulpädagogischen Fachkräften – mit dem Ziel, ‚Anschlussfähigkeit‘ zwischen den Funktionssystemen – insbesondere dem Erziehungs- und dem Bildungssystem – und den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen sicherzustellen und zu unterstützen.“
In einer unterschiedlichen Gewichtung sieht Speck (2006, S. 23, Hervorhebungen MZ/SR) Schulsozialarbeit als „ein Angebot der Jugendhilfe, bei dem sozialpädagogische Fachkräfte kontinuierlich am Ort Schule tätig sind und mit Lehrkräften auf einer verbindlich vereinbarten und gleichberechtigten Basis zusammenarbeiten, um junge Menschen in ihrer individuellen, sozialen, schulischen und beruflichen Entwicklung zu fördern, dazu beizutragen, Bildungsbenachteiligungen zu vermeiden und abzubauen, Erziehungsberechtigte und Lehrerlnnen bei der Erziehung und dem erzieherischen Kinder- und Jugendschutz zu beraten und zu unterstützen sowie zu einer schülerfreundlichen Umwelt beizutragen.“
In beiden Definitionen zeigt sich die Bedeutung sozialpädagogischer Elemente in der Schulsozialarbeit, die über die ‚klassischen‘ Zielvorstellungen des Schulsystems (Selektion und Wissensvermittlung) hinausgehen. Allerdings zeigen sich auch deutliche Unterschiede: Pötter fokussiert auf die Kooperation von sozial- und schulpädagogischen Fachkräften innerhalb des Systems Schule und auf die Herstellung von ‚Anschlussfähigkeit‘ zwischen dem Schulsystem und den Lebenswelten der Kinder. Dieser auf der Unterscheidung in gesellschaftliche Systeme (Erziehungs- und Bildungssystem) und lebensweltliche Bezüge von Kindern und Jugendlichen beruhende Ansatz fasst Schulsozialarbeit damit als
Schulsozialarbeit
263
Kooperationszusammenhang und eben nicht – wie Speck – als eindeutig sozialpädagogisches Angebot am Ort Schule. Darüber hinaus bleibt diese Definition auf einem vergleichsweise abstrakten Niveau, was eine präzise Funktionsbestimmung von Schulsozialarbeit (Herstellung von Anschlussfähigkeit) erlaubt. Konkrete Handlungsableitungen für die sozialpädagogischen Fachkräfte lassen sich jedoch erst über eine genauere Bestimmung dessen vornehmen, was unter ‚Anschlussfähigkeit‘ zu verstehen ist (vgl. hierzu Spies/Pötter 2011, S. 20 ff.). Speck hebt in seiner Definition dagegen stärker den sozialpädagogischen Charakter von Schulsozialarbeit hervor. Damit wird einerseits eine Profilschärfung des Arbeitsfelds vorgenommen, andererseits dürfen bei dieser Positionierung die strukturellen Bedingungen des Schulsystems nicht aus dem Blick geraten (vgl. Spies/Pötter 2011, S. 20). Dieser stärker handlungstheoretisch ausgerichtete Zugang konkretisiert Schulsozialarbeit in mehrfacher Hinsicht: die unterschiedlichen Ziele (Abbau von Bildungsbenachteiligungen, Aufbau einer schülerfreundlichen Umwelt), Zielgruppen (SchülerInnen, Eltern, LehrerInnen) und Ebenen (Individuen, Institution) des Handelns der Schulsozialarbeit werden benannt. Diese enger gefasste Perspektive impliziert bestimmte Vorannahmen zu einer ‚richtigen‘ Schulsozialarbeit, erlaubt es jedoch in erhöhtem Maße, aus der Definition konkrete Ableitungen für die Praxis vorzunehmen. Diese Ableitungen werden präzisiert in der Diskussion um Methoden, Angebotsformen und Handlungskontexte in der Schulsozialarbeit. In den einzelnen Systematisierungsversuchen zeigt sich eine Orientierung an der klassischen Methodentrias der Sozialen Arbeit (Einzelfallhilfe, Soziale Gruppenarbeit, Gemeinwesenarbeit). Abb. 1 stellt drei unterschiedliche Zugänge dar, welche die Angebotsvielfalt in der Schulsozialarbeit verdeutlichen. Die Auflistung zeigt die methodische Breite der Schulsozialarbeit. Auffällig ist, dass sich in allen Konzeptualisierungen neben Methoden der Einzelfallhilfe auch gruppenbezogene sowie offene und gemeinwesenbezogene Ansätze finden. Nichtsdestotrotz ist die konkrete Ausformung des Angebotsspektrums von Schulsozialarbeit in hohem Maße abhängig von deren Trägerschaft, ihrer Einbindung am Ort ‚Schule‘, der jeweiligen Schulart, des Stellenumfangs und den persönlichen Kompetenzen der Fachkraft sowie den jeweiligen sozialräumlichen Strukturen (vgl. u. a. Zankl 2017, S. 33; Zipperle u. a. 2018, S. 113 f.) Deshalb ist es analog zu theoretischen und fachlichen Bestimmungsversuchen gleichermaßen notwendig, empirische Erkenntnisse zur Praxis sowie zu den Rahmenbedingungen der Schulsozialarbeit zu betrachten. Dies ermöglicht einen kritischen Vergleich des theoretisch bestimmten ‚Soll-Zustands‘ von Schulsozialarbeit mit dem tatsächlichen ‚Ist-Zustand‘ in der Praxis.
264
M. Zipperle und S. Rahn
Quelle
Methoden und Handlungskontexte der Schulsozialarbeit
Spies und Pöer 2011
-
Methoden:
-
Arbeitsfelder / Handlungskontexte:
-
Methoden
-
Kernleistungen
-
Handlungskontexte
Speck 2014
Bolay und Iser 2016
-
Einzelfallhilfe (z. B. Beratung) Sozialpädagogische Gruppenarbeit (z. B. Konfliktbewälgung) Vernetzung im Gemeinwesen (z. B. Offene Angebote für Kinder)
-
Förderung des sozialen Lernens Individuelle Orienerung und Hilfe Bildungsbedingungen
-
Direkte einzelfall- und primärgruppenbezogene Methoden Direkte sekundärgruppen- und sozialraumbezogene Methoden Indirekt intervenonsbezogene Methoden Struktur- und organisaonsbezogene Methoden
-
-
Beratung und Begleitung von einzelnen SchülerInnen Sozialpädagogische Gruppenarbeit Offene Gesprächs-, Kontakt- und Freizeitangebote Mitwirkung in Unterrichtsprojekten und in schulischen Gremien Zusammenarbeit mit und Beratung der LehrerInnen/ Erziehungsberechgten Kooperaon und Vernetzung mit dem Gemeinwesen
-
Einzelfallunterstützung (unter Einbeziehung Sozialer Gruppenarbeit) Offene und projekörmige Angebote Beratung von SchülerInnen, LehrerInnen, Schulleitungen sowie Eltern Gemeinwesenbezug und Vernetzung mit der regionalen Jugendhilfe Schulentwicklung
Abb. 1 Methoden und Arbeitsfelder in der Schulsozialarbeit. (Eigene Darstellung)
3 Empirische Erkenntnisse zur Schulsozialarbeit Gegenüber den theoretischen Bestimmungsversuchen und programmatischen Aufgabenbestimmungen fokussieren empirische Betrachtungen der Schulsozialarbeit vorrangig das alltägliche Handeln der Fachkräfte, potenzielle Wirkungen von Schulsozialarbeit sowie, damit korrespondierend, die jeweiligen Rahmenbedingungen. In einer Vielzahl von (Begleit-)Forschungsprojekten (vgl. Speck/Olk 2010; Bauer u. a. 2017, S. 33 ff., Zankl 2017) zeigen sich die hohe Heterogenität des Handlungsfeldes, die Wirkmächtigkeit der Angebote, aber auch die fehlenden Mindestbestimmungen sowie die stellenweise prekären Arbeitsbedingungen von SchulsozialarbeiterInnen. Im Folgenden sollen die Strukturbedingungen und Aufgabenschwerpunkte entlang zentraler Erkenntnisse aufbereitet werden.
Schulsozialarbeit
265
3.1 Finanzierung und Trägermodelle Die Kinder- und Jugendhilfestatistik weist für das Jahr 2016 insgesamt 5600 in Deutschland tätige SchulsozialarbeiterInnen aus (vgl. Statistisches Bundesamt 2018, S. 63). Allerdings ist aus mehreren Gründen davon auszugehen, dass hier die tatsächliche Anzahl unterschätzt wird: zum einen werden in der Kinder- und Jugendhilfestatistik nur diejenigen Fachkräfte erfasst, die bei einem Träger der Jugendhilfe beschäftigt sind, der einen Teil seines pädagogischen Personals in der Kategorie ‚Schulsozialarbeit‘ führt (vgl. Iser 2013, S. 50). Nicht erfasst werden damit Personen, die zwar als SchulsozialarbeiterInnen tätig sind, jedoch anders bezeichnet werden, sowie diejenigen, die nicht bei einem Träger der Jugendhilfe arbeiten. Zum anderen weichen die Zahlen der Kinder- und Jugendhilfestatistik aufgrund der unterschiedlichen Fördermodalitäten in den Bundesländern stark von den länderspezifischen Statistiken ab (vgl. Zankl 2017, S. 14 f.). Zankl kommt basierend auf einer Zusammenstellung unterschiedlicher Datenquellen (Förderung aus Mitteln der Kinder- und Jugendhilfe, Landesprogramme, Expertenschätzungen, Wachstumsannahmen) zu der Schätzung, dass etwa 10.000 bis 16.000 Fachkräfte in der Schulsozialarbeit in Deutschland tätig sind (ebd., S. 50). Die Unsicherheit in der Datenlage basiert demnach maßgeblich auf zwei unterschiedlichen Quellen – der Vielfalt unterschiedlicher Träger2 und den je nach Bundesland unterschiedlichen Finanzierungsmodellen. Bezogen auf die Jugendhilfe zeigt die Kinder- und Jugendhilfestatistik, dass von den hier erfassten Fachkräften etwa 46% bei öffentlichen und 54% bei freien Trägern arbeiten (vgl. Statistisches Bundesamt 2018, S. 69 f.). In einer längsschnittlichen Perspektive wird deutlich, dass der Anteil von Jugendamtsbezirken mit einer ausschließlich öffentlichen oder nicht-öffentlichen (freien und gewerblichen) Trägerschaft in den letzten Jahren abgenommen hat, während der Anteil an Bezirken mit gemischten (öffentlichen und nicht-öffentlichen) Trägermodellen zugenommen hat (vgl. Zankl 2017, S. 21). Die quantitative Verbreitung einer schulischen Trägerschaft (vorrangig durch Kultusministerien, Bezirksregierungen oder Schulverwaltungsämter) ist dagegen weiterhin ungeklärt. Allerdings ist zu vermuten, dass durch die Förderung im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepakets sowie durch die Verortung mehrerer Landesförderprogramme im
2Gemeint
ist hier nicht die Trägervielfalt innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe, sondern vorrangig die Aufteilung auf Jugendhilfe, Landesschulwesen sowie kommunale Ämter, Stiftungen und Vereine (vgl. dazu auch die Schätzung zur Aufteilung der Schulsozialarbeitsstellen von Eibeck 2014, S. 64).
Schwächen
Stärken
266
M. Zipperle und S. Rahn Schulische Träger
Öffentliche Träger der Jugendhilfe (Jugendamt)
- Wenig Konflikte bei der Integraon von Schulsozialarbeit - Klare Erwartungen und Rollenzuschreibungen (durch die Schule) - Größere Konnuität durch Finanzierungssicherheit
- Sozialpädagogische Kompetenz - Eigenständigkeit der Schulsozialarbeit als Jugendhilfeangebot - Einbindung der Schulsozialarbeit in bestehende Kinder- und Jugendhilfestrukturen - Durch Außensicht/ Unabhängigkeit höheres Veränderungspotenal - Größere Flexibilität als schulischer Träger - Bündelung der Schulsozialarbeit bei - Plurale Trägerstruktur einem Träger (Subsidiaritätsprinzip) - Große Konnuität der - Einbindung zusätzlicher Ressourcen Schulsozialarbeit durch möglich (Spenden, Fördermiel, Finanzierungssicherheit Ehrenamt) - Kurze Wege des JA zu sogenannten - Image der Träger u.U. posiv „Problemfamilien“ - Hohe Flexibilität - Kurze Wege zu anderen öffentlichen Anlaufstellen - Distanz von Lehrkräen und Schulleitung gegenüber Schulsozialarbeit als Angebot der Kinder- und Jugendhilfe - klärungsbedürige strukturelle und organisatorische Einbindung der Schulsozialarbeit - kein bedingter Vorrang freier - keine Bündelung von Träger Schulsozialarbeit - u.U. negaves Image des örtlichen - geringere Finanzierungssicherheit öffentlichen Trägers der Kinder- geringere Gestaltungsmacht als und Jugendhilfe öffentliche Träger der Kinder- und - Risiko der Sgmasierung von Jugendhilfe AdressatInnen - geringere Flexibilität als freier Träger der Kinder- und Jugendhilfe
- geringe sozialpädagogische Kompetenz (beim Träger) - Vereinnahmung der Schulsozialarbeit für schulische Zwecke wahrscheinlich - geringere Einbindung der Schulsozialarbeit in bestehende Kinder- und Jugendhilfestrukturen
Freie Träger der Jugendhilfe
Abb. 2 Stärken und Schwächen unterschiedlicher Trägermodelle in der Schulsozialarbeit. (Nach: Stüwe u. a. 2015, S. 231; Speck 2014, S. 99)
jeweiligen Bildungs- und Kultusministerium die Bedeutung schulischer Träger in den letzten Jahren zugenommen hat (vgl. ebd., S. 20). Die Datenlage zeigt bei aller Ungenauigkeit auf, dass die Trägerpluralität in diesem Feld sehr ausgeprägt ist. Hinsichtlich der Frage, welches Trägermodell für Schulsozialarbeit geeigneter ist, konstatiert Speck (2014, S. 100) das Fehlen gesicherter empirischer Erkenntnisse. Die in Abb. 2 dargestellten Vor- und Nachteile einzelner Trägerformen basieren demnach vorrangig auf fachlichen sowie theoretischen Überlegungen. Im sozialpädagogischen Fachdiskurs wird inzwischen überwiegend und analog zur Forderung nach einer rechtlichen Verortung von Schulsozialarbeit im SGB VIII (siehe Abschn. 2.2) für eine Jugendhilfeträgerschaft argumentiert (vgl. Emanuel 2017, S. 22; Speck 2014, S. 102). Die Frage der Trägerschaft ist einerseits eng mit der Frage der Finanzierung von Schulsozialarbeit verknüpft. Häufige Finanzierungsquellen sind Zankl
Schulsozialarbeit
267
(2017, S. 22) zufolge „neben den Jugendämtern u. a. Länder, Landkreise, Städte, Gemeinden, Schulministerien, sowie Mittel des Europäischen Sozialfonds (ESF) und vom Bund zur Verfügung gestellte Mittel aus dem Bildungs- und Teilhabepaket (BuT).“3 Ein übergreifendes Merkmal der meisten Finanzierungsformen ist, dass sie zeitlich befristet und entweder bereits abgelaufen sind (BuT) oder regelmäßig aktualisiert werden müssen (Landesprogramme). Gleichzeitig sind die Kommunen aufgrund der oftmals angespannten Haushaltslage auf ebendiese Ko-Finanzierungsmodelle angewiesen. Im Ergebnis liegt damit oftmals keine tragfähige finanzielle Absicherung der Schulsozialarbeit vor, was Speck (2014, S. 164) u. a. auf eine fehlende verbindliche Rechtsgrundlage für Schulsozialarbeit zurückführt (siehe Abschn. 2.3). Die Trägerschaft ist andererseits ausschlaggebend für die Dienst- und Fachaufsicht der sozialpädagogischen Fachkräfte. Bei einer schulischen Trägerschaft sind die SchulsozialarbeiterInnen meist direkt der Schulleitung unterstellt, die i. d. R. über keine sozialpädagogische Expertise verfügt und in die schulische Logik eingebunden ist. Die Jugendhilfeträgerschaft ermöglicht dagegen die klare fachliche Anbindung an das Jugendhilfesystem und die damit verbundene sozialpädagogische Expertise.
3.2 Personal und Strukturbedingungen Die beschriebenen Förder- und Finanzierungsmodalitäten wirken sich auch auf die personellen Rahmenbedingungen von Schulsozialarbeit aus: So unterscheiden sich beispielsweise die Anteile von SchulsozialarbeiterInnen mit Hochschulabschluss zwischen den einzelnen Bundesländern auch darin, welche Mindeststandards in der jeweiligen Förderung vorgegeben werden und ob aufgrund einer Verortung im Kinder- und Jugendhilferecht das Fachkräftegebot des § 72 SGB VIII gilt (vgl. Zankl 2017, S. 19). Insgesamt haben etwa 84% der in der Kinder- und Jugendhilfestatistik erfassten SchulsozialarbeiterInnen ein (sozial-)pädagogisches Studium abgeschlossen (vgl. ebd., S. 18.) Des Weiteren ist basierend auf der Kinder- und Jugendhilfestatistik sowie mehrerer regionaler Studien davon auszugehen, dass ca. 65–85% der SchulsozialarbeiterInnen in Teilzeit arbeiten (vgl. Zankl 2017, S. 17). Dies liegt auch darin begründet, dass die Fachkräfte während der Schulzeit oftmals Überstunden aufbauen müssen,
3Mithilfe
von Mitteln aus dem Bildungs- und Teilhabepaket wurde in den Jahren 2011 bis 2013 bundesweit ca. 3.000 Stellen in der Schulsozialarbeit geschaffen (vgl. Eibeck 2014, S. 64).
268
M. Zipperle und S. Rahn
um die Differenz zwischen Urlaubs- und Schulferientagen auszugleichen. Als ein weiterer wichtiger Indikator der Stellenstruktur gilt das Verhältnis von Fachkräften der Schulsozialarbeit (bzw. Stellenanteilen) und der jeweiligen Anzahl an SchülerInnen. Der Kooperationsverbund Schulsozialarbeit (2015, S. 24) fordert hierzu, dass eine Fachkraft höchstens für 150 SchülerInnen zuständig sein sollte. Inwieweit dies in der Praxis realisiert wird, wurde bisher allerdings nur punktuell untersucht und es ist davon auszugehen, dass die Zahlen in der Praxis stark variieren (Stüwe u. a. 2015, S. 237) bzw. größtenteils weit darüber liegen (für Baden-Württemberg durchschnittlich eine Vollzeitkraft für 780 SchülerInnen; vgl. KVJS 2017, S. 11). Übergreifend zeigt sich zudem, dass SchulsozialarbeiterInnen oftmals allein für eine oder mehrere Schulen zuständig sind und somit selten auf Teamstrukturen vor Ort zurückgreifen können (vgl. Stüwe u. a. 2015 S. 355; Speck 2014, S. 98; KVJS 2017, S. 13). Auch ist einer Schätzung von Zankl (2017, S. 18) zufolge etwa jede zweite Stelle in der Schulsozialarbeit befristet. Beschäftigungsverhältnisse in Teilzeit, der ‚EinzelkämpferInnenstatus‘ sowie befristete Stellen verweisen auf die trotz eines quantitativen Ausbaus nach wie vor oftmals prekären Arbeitsverhältnisse von SchulsozialarbeiterInnen und verdeutlichen die Notwendigkeit, Schulsozialarbeit als Regelangebot (der Jugendhilfe) mit besseren Mindeststandards strukturell abzusichern. Hinsichtlich weiterer – über die jeweilige Fachkraft hinausgehender – struktureller Rahmenbedingungen von Schulsozialarbeit liegen überwiegend Erkenntnisse aus einzelnen und oftmals regional begrenzten, schultypspezifischen oder ein bestimmtes Förderprogramm begleitenden Studien vor, die hier lediglich in Bezug auf drei Themengebiete dargestellt werden: Zur materiellen Ausstattung von Schulsozialarbeit belegen mehrere Studien, dass ein eigenes Büro inzwischen zur Regelausstattung von Schulsozialarbeit (bei etwa 90% der Fachkräfte) gehört, während eigene Räume für Gruppenangebote nur bei etwa 50–70% vorhanden sind (vgl. Oelerich 2013, S. 57; Deinet/Nelke 2015). In Bezug auf Unterstützungsangebote der Träger stellen Fortbildungen ein weitverbreitetes Angebot (bei etwa 95% der Fachkräfte) dar, welches von den SchulsozialarbeiterInnen auch überwiegend als hilfreich eingeschätzt wird (vgl. Deinet/Nelke 2015; Zipperle u. a. 2018, S. 123). Supervision und Fachberatungen werden dagegen bisher lediglich bei 65–75% der Fachkräfte vom Träger angeboten. Ein weiteres wichtiges Thema für potenzielle Kooperationen ist die Präsenz weiterer pädagogischer Fachkräfte an der Schule. Hierzu zeigt sich, dass vor allem in den Bereichen Ganztagesangebot, Inklusion sowie Übergang Schule-Beruf an vielen Schulen zusätzliche pädagogische Fachkräfte tätig sind, zu denen sich Schulsozialarbeit in Bezug setzen muss (vgl. Zipperle u. a. 2018, S. 123; hinsichtlich Inklusion: Haude u. a. 2018).
Schulsozialarbeit
269
Aus dieser exemplarischen Darstellung wird deutlich, dass sich Schulsozialarbeit immer in einem komplexen Bedingungsgefüge unterschiedlicher (z. B. personeller, räumlicher, kooperationsbezogener) Rahmenbedingungen mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten (z. B. Schule, Träger, Kommune) befindet. Diese Konstellationen ergeben in ihrer Vielfalt jeweilig spezielle ‚Schulsozialarbeit-Settings‘ in denen die Fachkräfte mit unterschiedlichen Schwerpunkten tätig werden.
3.3 Aufgabenschwerpunkte Innerhalb des oben dargestellten ‚breiten‘ Aufgaben- und Methodenspektrums der Schulsozialarbeit verdeutlichen empirische Betrachtungen einen eindeutigen Schwerpunkt innerhalb der Einzelfallhilfe und -beratung (vgl. Zipperle u. a. 2018, S. 124; Oelerich 2013, S. 55; Deinet/Nelke 2015). Das Tätigkeitsprofil von Schulsozialarbeit lässt sich an den in Abb. 3 dargestellten Ergebnissen einer bei SchulsozialarbeiterInnen an Grundschulen in Baden-Württemberg durchgeführten Erhebung exemplarisch verdeutlichen. Deutlich wird in der Befragung die inhaltliche Schwerpunktsetzung der befragten Fachkräfte auf intervenierende – beratende, unterstützende und vermittelnde – Angebote und die quantitativ betrachtet geringere Relevanz von offenen und sozialräumlichen Angeboten. Diese Tendenz zeigt sich auch bei Schulsozialarbeit an Ganztagesschulen: Schulsozialarbeit wird hier vorrangig die Aufgabe zugeschrieben, die durch die Ganztagesschule für einzelne SchülerInnen strukturell herausfordernd gewordenen Integrationsleistungen in Form von Einzelfallhilfen und Gruppenangeboten zu begleiten. Offene und auf Freizeitpädagogik zielende Angebote werden dort durch weiteres pädagogisches Personal realisiert (vgl. Zipperle 2014)4. Hinsichtlich der Stellung von Schulsozialarbeit ermöglichen diese Schwerpunktsetzungen einerseits die Entwicklung eines fachlichen Profils und eines klar umgrenzten Arbeitsfelds, andererseits besteht dadurch die Gefahr, dass der (sozialpädagogische) Auftrag der umfassenden Unterstützung von Kindern und Jugendlichen und der Gestaltung von deren
4Als
‚weiteres pädagogisch tätiges Personal‘ wird eine sehr heterogene Gruppe von Personen bezeichnet, die im Ganztagsbetrieb SchülerInnen meist außerhalb des Unterrichts in Ganztagsangeboten begleitet. Die Anstellungsverhältnisse und Trägerschaft bzw. Kooperationsbezüge unterscheiden sich erheblich (vgl. Coelen/Rother 2014).
270
M. Zipperle und S. Rahn Tägkeiten in der Schulsozialarbeit (gesamt, Angaben in Prozent) 0%
20%
40%
60%
80%
100%
Konfliktbewälgung (n=346) Beratung und Begleitung von einzelnen Schüler_innen (n=349) Sozialpädagogische Gruppenangebote (n=345) Beratung von Lehrer*innen und pädagogischen Fachkräen (n=349) Präsenz auf dem Schulhof in Pausen (n=349) Einzelfallbezogene Elternarbeit (n=344) Mitwirken in schulischen Gremien (n=346) Offene Angebote für Schüler*innen (n=342) Vermilung von Schüler*innen in andere Angebote (n=340) Öffentlichkeitsarbeit (n=330) Mitwirken in außerschulischen Gremien (n=339) Erlebnispädagogische Angebote außerhalb der Schule (n=329) Einzelfallunabhängige Kooperaon mit dem Gemeinwesen (n=339) Sehr o
O
Gelegentlich
Selten
Nie
Abb. 3 Tätigkeiten der SchulsozialarbeiterInnen an Grundschulen in Baden-Württemberg. (Darstellung nach: Zipperle u. a. 2018, S. 124)
Lebenswelten aus dem Blick gerät. Stüwe u. a. (2015, S. 98 f.) betonen in diesem Zusammenhang die Relevanz eines umfassenden Angebotsspektrums inklusive offener und gemeinwesenbezogener Angebote und fordern, „die dafür notwendigen Zeiten konzeptionell zu verankern, den anderen an Schulsozialarbeit beteiligten Personengruppen gegenüber diese Angebote transparent zu machen sowie sie fachlich zu begründen und gegebenenfalls Ressourcen dafür fachpolitisch und konkret vom jeweiligen Träger einzufordern.“ Auch wenn Schulsozialarbeit bemüht ist, ihre eigenständige Fachlichkeit im schulischen Kontext auszuweisen, zeigen sich immer wieder die oben genannten Tendenzen, den sozialpädagogischen Auftrag vor dem Hintergrund schulischer Erfordernisse
Schulsozialarbeit
271
aufzuweichen und die Schulsozialarbeit auf bestimmte Tätigkeiten – die Unterstützung von ‚problematischen‘ SchülerInnen und die Betreuung am Nachmittag – zu fokussieren. Demgegenüber wird von Bolay und Iser (2016, S. 145) auf die sozialpädagogische Zielsetzung von Schulsozialarbeit und die daraus abgeleitete Stellung von Fachkräften als ‚anderen Erwachsenen‘ hingewiesen, die sie für Kinder und Jugendliche einnehmen können, wenn es ihnen gelingt „persönliche Beziehungen zu Schüler_innen aufzubauen, wenn sie sich offen zeigen für Bildungsprozesse, die immer auch Bildung des Subjekts sind und es ihnen gelingt, die strukturelle Hürde der beurteilenden Funktion ihrer Berufsrolle immer wieder zu überwinden“.
4 Herausforderungen, Zukunftsanforderungen und Ausblick Die empirische Sichtung des Arbeitsfelds (Kap. 3) verdeutlicht, dass den im Fachdiskurs formulierten Begründungsmustern, Definitionen und ‚Methodenkoffern‘ von Schulsozialarbeit (Kap. 2) eine vielfältige Praxis gegenübersteht, die in ihrer strukturellen Ausgestaltung weniger theoretischen Bestimmungsversuchen, sondern vielmehr der Logik von bestimmten Förderprogrammen, den Träger-, und Schulinteressen sowie den jeweiligen kommunalen Besonderheiten folgt. Dies impliziert für die Fachkräfte eine erhöhte Notwendigkeit, das eigene fachliche Profil und die Aufgaben von Schulsozialarbeit als Jugendhilfeangebot am Ort ‚Schule‘ zu reflektieren. Dieses Kapitel thematisiert unterschiedliche Perspektiven, Herausforderungen und Chancen, denen die SchulsozialarbeiterInnen dabei gegenüberstehen. Die nachfolgend exemplarisch skizzierten Themen befinden sich allerdings nicht nur auf der Ebene der Fachkräfte, sondern zeigen die Notwendigkeit von Reflexions-, Austausch- und Planungsprozessen auf Mikro- (Fachkräfte, LehrerInnen, AdressatInnen), Meso(Träger, Schulen, Kommunalpolitik) und Makroebene (Landes- und Bundespolitik, Wohlfahrtsverbände) auf.
4.1 Kooperation mit den Lehrkräften Die Kooperation von SchulsozialarbeiterInnen und LehrerInnen ist seit den 1970er Jahren ein vieldiskutiertes und in mehreren empirischen Studien untersuchtes Thema (vgl. Speck 2014, S. 112; Zankl 2017, S. 24) und eine der zentralen Alltagsherausforderungen in der Praxis. Pötters Definition folgend ist
272
M. Zipperle und S. Rahn
diese Zusammenarbeit konstitutiv für das Arbeitsfeld. Die besondere Herausforderung für Schulsozialarbeit als „dauerhaftes institutionelles Auswärtsspiel in massiver Unterzahl“ (Merchel o.J., zitiert nach Stüwe u. a. 2015, S. 118) liegt dabei darin, gelingende Arbeitsbeziehungen zu den schulpädagogischen Fachkräften zu entwickeln, ohne sich den Funktions- und Definitionslogiken der Schule unterzuordnen. Dass dies in der Praxis unterschiedlich gelingt, zeigt Speck (2014, S. 115), der aufbauend auf mehreren Studien zwischen vier Kooperationsmodellen differenziert: eine additive Kooperation, in der SchulsozialarbeiterInnen und Lehrkräfte ohne Berührungspunkte ‚nebeneinanderher arbeiten‘, eine distanzierte Kooperation, bei der sich die Beteiligten kritisch und abweisend gegenüberstehen, eine hierarchische Kooperation, in der sich die SchulsozialarbeiterInnen den Erwartungen der LehrerInnen unterordnen sowie eine ideale, partnerschaftliche Kooperation, die durch ein gemeinsam abgestimmtes und lösungsorientiertes Handeln gekennzeichnet ist. Dabei deutet sich an, dass Schulsozialarbeitsprojekte mit einem starken Problembezug, die sich überwiegend auf auffällige und benachteiligte SchülerInnen konzentrieren, zu hierarchischen Kooperationsmodellen tendieren (vgl. ebd.). Darüber hinaus ist für die Schulsozialarbeit relevant, zwischen unterschiedlichen Intensitäten von Kooperationen zu differenzieren. Hier unterscheiden Spies und Pötter (2011, S. 32) zwischen dem gegenseitigen Austausch von Informationen und Erfahrungen (Ebene 1), der gegenseitigen Abstimmung von Aufgaben und Funktionen (Ebene 2), der gegenseitigen Beratung zur Planung und Optimierung von Arbeitsprozessen (Ebene 3) sowie der gemeinsamen Entwicklung und Umsetzung von Projekten (Ebene 4). Anstatt in jedem Arbeitsbereich eine Kooperation auf der höchsten Ebene anzustreben, ist es wichtig, jeweils ein gemeinsames Verständnis von Kooperation bei LehrerInnen und SchulsozialarbeiterInnen zu etablieren und sich über den Umfang und die Intensität der Zusammenarbeit abzustimmen (vgl. ebd., S. 33). Die bestehenden Kooperationsprobleme zwischen Lehrkräften und SchulsozialarbeiterInnen lassen sich u. a. durch die getrennte Entwicklung von Schul- und Sozialpädagogik, differierende Organisationsstrukturen, abweichende pädagogische Zielvorstellungen, berufskulturelle Unterschiede sowie durch das bestehende Machtgefälle zwischen Jugendhilfe und Schule erklären (vgl. Speck 2014, S. 115 ff.; Maykus 2017, S. 80). Zudem bestehen oftmals auf beiden Seiten Informationsdefizite zu den Strukturen, Aufgaben und Rechtsgrundlagen der jeweils anderen Profession (vgl. Zankl 2017, S. 27), aus denen Vorurteile entstehen können, die eine Zusammenarbeit erschweren. Es bedarf demnach sowohl auf individueller (z. B. Fremd- und Selbstverständnis von LehrerInnen und SchulsozialarbeiterInnen, Kooperationsbereitschaft, Abstimmung von
Schulsozialarbeit
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gemeinsamen Zielen und Handlungsbereichen) als auch struktureller Ebene (z. B. Angleichung von Anstellungsverhältnissen, Leitbild einer multiprofessionell getragenen Schule, rechtliche und finanzielle Absicherung von Schulsozialarbeit) weiterer Anstrengungen, um die Zusammenarbeit von SchulsozialarbeiterInnen und LehrerInnen zu intensivieren. Dabei sollen die bestehenden Unterschiede zwischen beiden Professionen nicht aufgelöst, sondern vielmehr aus Perspektive der Kinder und Jugendlichen produktiv miteinander verbunden werden. Diese für das Gelingen von Schulsozialarbeit zentrale Herausforderung ist zum einen in der alltäglichen Praxis der Schulsozialarbeit zu bewältigen, zum anderen gerade nicht nur durch die einzelnen Fachkräfte vor Ort zu realisieren. Vielmehr bedarf es hierfür einer intensiven Klärung (z. B. vielfach realisiert über Kooperationsvereinbarungen) und Überprüfung auf der institutionellen Ebene von Schule und dem Träger der Schulsozialarbeit (vgl. hierzu die Stärken und Schwächen unterschiedlicher Trägermodelle in Abb. 2).
4.2 Systematische Vernetzung mit Jugendhilfeangeboten Während die Frage der Kooperation lange nur in Bezug auf Lehrkräfte diskutiert wurde, gibt es in den letzten Jahren vermehrt empirische und theoretische Befunde zu sozialräumlichen Ansätzen in der Schulsozialarbeit und zur systematischen Vernetzung mit anderen Jugendhilfeangeboten (vgl. Bolay u. a. 2003; Deinet 2017; Zipperle u. a. 2018). Diese Befunde betonen die Bedeutung von Schulsozialarbeit für die Öffnung der Schule und die Entwicklung von kommunalen Bildungslandschaften, warnen jedoch auch gleichzeitig davor, dass Schulsozialarbeit die vielfältigen Kooperationsformen zwischen Jugendhilfe und Schule nicht ersetzen kann, ohne sich zu übernehmen (vgl. Deinet 2017, S. 55). Eine in den Sozialraum orientierte Schulsozialarbeit kann allerdings über die bewusste Vernetzung mit anderen AkteurInnen der Jugendhilfe ihr fachliches Profil schärfen und damit sich ihrer Zugehörigkeit zur Kinder- und Jugendhilfe versichern. Mehreren Studien zufolge stellen hier das Jugendamt, Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit sowie SchulsozialarbeiterInnen anderer Schulen die wichtigsten Kooperationspartner dar (Zusammenstellung bei: Zankl 2017, S. 24). Jedoch liegen nach Zankl (ebd., S. 25) viele dieser Kooperationen darin begründet, dass öffentliche und freie Träger die jeweiligen Aufgaben in einer Hand vereinen. Dies führt teilweise zu eher einseitigen Kooperationsnetzwerken, sodass die vielfältige und systematische Vernetzung eine aktiv herzustellende Strategie darstellt (vgl. Zipperle u. a. 2018, S. 92). Der enge Bezug zu anderen
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SchulsozialarbeiterInnen verdeutlicht darüber hinaus die Notwendigkeit eines fachlichen Austauschs innerhalb des Arbeitsfelds. Diese systematische Vernetzung mit anderen Jugendhilfeangeboten ist von bestimmten Rahmenbedingungen abhängig: Ein angemessener Stellenanteil der Schulsozialarbeit, Kontinuität in der Stellenbesetzung sowie die Unterstützung durch ein vielseitiges Kooperationsnetzwerk stellen hierbei Grundvoraussetzungen dar (vgl. Zipperle u. a. 2018, S. 91). Der bundesweite Ausbau der Schulsozialarbeit darf deshalb nicht auf Kosten anderer Bereiche der Kinderund Jugendhilfe (insbesondere der Offenen Kinder- und Jugendarbeit) gehen, da diese die zentralen Bestandteile eines sozialräumlichen Jugendhilfenetzwerks darstellen. Sozialraumorientierte Schulsozialarbeit ist in enger Verbindung mit anderen Jugendhilfeangeboten als Teil einer von einem breiten Bildungsverständnis ausgehenden kommunalen Bildungslandschaft zu verstehen, in der kooperativ die Bedingungen des Aufwachsens für Kinder und Jugendliche gestaltet werden (vgl. Deinet 2017, S. 54 f.; Bauer u. a. 2017). Ein zentraler Fokus gilt hier der Fragestellung, welche Aneignungsmöglichkeiten und -potenziale diese Bildungslandschaften und damit auch die Schulsozialarbeit ihren AdressatInnen eröffnet.
4.3 Wirkungsnachweise aus einer aneignungstheoretischen Perspektive Die in den 1970er Jahren beginnende und zunächst auf die Begleitung von Einzelprojekten beschränkte Forschungspraxis zur Schulsozialarbeit wurde zunächst in den 1980er Jahren durch projektübergreifende Forschungsprojekte und schließlich seit Mitte der 1990er Jahre durch breit angelegte wirkungsorientierte Begleitforschungen von Landesprogrammen, wirkungs- und nutzerorientierte, regional- und schulbezogene Studien sowie durch vereinzelte Überblicksarbeiten zu den Wirkungen von Schulsozialarbeit ergänzt (vgl. Speck/ Olk 2010, S. 310 f.). Speck und Olk (2014, 40 f.) sowie Baier (2015) rekonstruieren basierend auf einer Betrachtung mehrerer Forschungsprojekte die untersuchten Wirkungen von Schulsozialarbeit gegenüber unterschiedlichen AkteurInnen: SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern profitieren als AdressatInnen beispielsweise durch die Ermöglichung non-formaler Bildungsprozesse und die Vermittlung von Anerkennung (SchülerInnen), dem Abbau von Hemmschwellen gegenüber der
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Institution Schule (Eltern) sowie durch veränderte Sichtweisen auf SchülerInnen und eine intensive Kooperation mit außerschulischen Partnern (LehrerInnen). Darüber hinaus wirkt Schulsozialarbeit auch auf organisationsbezogener Ebene, beispielsweise durch eine Verbesserung des Schulklimas (Schule) sowie durch einen erleichterten Zugang des Jugendamtes zu SchülerInnen, die im Einzelfall Unterstützung benötigen (Jugendhilfe). Allerdings sind diese Wirkungen von komplexen Interaktionsprozessen abhängig und können nicht in einem technischen Sinne ‚hergestellt‘ werden. Darauf weist Baier (2015, S. 388) hin, wenn er von „Wirkfaktoren“ spricht, wie beispielsweise einem vertrauensvollen Verhältnis zwischen AdressatInnen und Fachkräften, der Freiwilligkeit der Teilnahme an Angeboten sowie deren Niedrigschwelligkeit. Erst über diese Faktoren können bestimmte Wirkungen von Schulsozialarbeit entstehen. Auch in Bezug auf einen außerschulischen Nutzen von Schulsozialarbeit zeigen erste Befunde auf, dass sich dieser nur im Zusammenwirken mehrerer AkteurInnen über einen längeren Zeitraum entfalten kann (vgl. Zipperle u. a. 2018, S. 153). Darüber hinaus liegen bisher nur wenig empirische Befunde zu subjektiven Aneignungsweisen von Schulsozialarbeit durch die AdressatInnen vor, obwohl diese Aneignung bzw. Nicht-Aneignung eine zentrale Wirkungsdimension von Schulsozialarbeit darstellt (vgl. Speck/Olk 2010, S. 317; Speck/Olk 2014, S. 40). Gleichzeitig verweist eine aneignungstheoretische Perspektive auf die prinzipielle Kontingenz schulsozialarbeiterischen Handelns im Hinblick auf intentionale Wirkungen, da diese Wirkungen immer davon abhängen, ob und auf welche Weise Kinder und Jugendliche sich Schulsozialarbeit ‚aneignen‘ (Bauer 2008, S. 435 f.; zum Aneignungskonzept siehe auch Kap. 6: Offene Arbeit mit Kindern – Theoretische Grundlagen und Handlungsfelder). Dieser Blickwinkel kann es Fachkräften der Schulsozialarbeit ermöglichen, eine radikal subjektorientierte und rekonstruktive Haltung einzunehmen, welche die „Sinnstrukturiertheit und die Kontextualität jeglichen sozialen Handelns in den Mittelpunkt stellt.“ (ebd., S. 436). Das im vorherigen Absatz angedeutete ‚Technologiedefizit‘ der Schulsozialarbeit kann auf diese Weise positiv gewendet als Ausgangspunkt einer fachlichen Ausrichtung dienen, die von den lebensweltlich und sozialstrukturell gerahmten Aneignungspraktiken ihrer AdressatInnen ausgehend ihre Angebote entwirft (vgl. ebd.). Von großer Bedeutung ist dabei das jeweilige Schulsetting, da es den potenziellen Kreis der AdressatInnen vorstrukturiert sowie deren Zugang zur Schulsozialarbeit stark beeinflusst.
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4.4 Auseinandersetzung mit Ausdifferenzierung und Schulentwicklung Die dargestellten sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen je nach Landesprogramm oder Förderstruktur verweisen auf die Vielfältigkeit von Schulsozialarbeit in der Praxis. Dabei ist als eine zentrale Frage noch gar nicht berücksichtigt, inwiefern die jeweilige Schulart, an der Schulsozialarbeit tätig ist, Einfluss auf die Ausgestaltung von Schulsozialarbeit hat. Interessanterweise wird diese Differenzierung weder in den Lehrbüchern (Spies/Pötter 2011; Speck 2014; Stüwe u. a. 2015) ausgewiesen noch gibt es hierzu vergleichende Analysen. In der Statistik zur Schulsozialarbeit in Baden-Württemberg wird jedoch deutlich, dass an allen Schularten Schulsozialarbeit eingesetzt wird (KVJS 2017, S. 8). Aufgrund der sehr unterschiedlichen Altersklassen, den damit verbundenen Bedarfen und Lebenswelten von GrundschülerInnen bis SchülerInnen an beruflichen Schulen, ist anzunehmen, dass sich auf der Umsetzungsebene Schulsozialarbeit an den unterschiedlichen Schularten erheblich unterscheidet. So verweist Thimm (2017) darauf, dass an Grundschulen neben Einzelfallhilfen v. a. auch Präventionsangebote für Klassen eine bedeutende Rolle spielen, die auf die mit dem Übergang an die Grundschule verbundene Herausforderung der Einnahme der Rolle des Schüler-Seins eingehen. Dagegen nimmt an den weiterführenden Schulen und insbesondere an den beruflichen Schulen die Berufsorientierung einen zentralen Stellenwert ein (vgl. Bauer 2017). Aus diesen unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ergeben sich unterschiedliche Kooperationsnotwendigkeiten und spezifische Profile. Der Grund, warum diese Ausdifferenzierung nach Schularten bisher so wenig in der Literatur aufgegriffen wird, könnte einerseits daran liegen, dass sich diese Entwicklung erst mit dem verstärkten Ausbau zeigt (Schulsozialarbeit wurde traditionell vorrangig ‚brennpunktorientiert‘ an Hauptschulen eingerichtet; vgl. KVJS 2014, S. 28). Andererseits unterscheidet sich Schulsozialarbeit hinsichtlich der übergeordneten Ziele und der methodischen Zugänge nur geringfügig und bleibt deshalb als schulartübergreifendes Konzept diskutier- und gestaltbar. Im Bereich der Schulentwicklung sind der Ausbau von Ganztagsschulen und die Realisierung eines inklusiven Schulsystems zwei zentrale und für die Schulsozialarbeit zukunftsprägende Aspekte. Ganztagsschulen sind dadurch gekennzeichnet, dass mehr ‚weiteres pädagogisches Personal‘ an Schulen arbeitet, ohne die Funktion einer Lehrkraft einzunehmen, z. T. aber sehr ähnliche Aufgaben übernimmt wie die Schulsozialarbeit. ErzieherInnen bieten freizeitpädagogische Angebote an, Ehrenamtliche oder Honorarkräfte kommen als LesepatInnen oder JobmentorInnen an die Schulen, Fachkräfte aus den Hilfen zur Erziehung
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bringen sich mit Einzelfallhilfen ein. Schulsozialarbeit ist dann nicht mehr die einzige weitere pädagogisch tätige Person, sondern hat die Chance, in einem innerschulischen, möglicherweise sozialpädagogisch qualifizierten Team zu arbeiten. Sozialpädagogische Arbeitsansätze bekommen so einen anderen Stellenwert in der Schulentwicklung. Schulsozialarbeit ist hierdurch jedoch herausgefordert, im multiprofessionellen Gefüge ihr Profil zu klären. Dies verstärkt sich, wenn im Rahmen von Inklusion zusätzlich sonderpädagogisch qualifiziertes Personal an Schulen tätig ist. „Insbesondere SchulsozialarbeiterInnen, die […] am Ort Schule nur ein Kooperationspartner unter mehreren sind und durch die Profession der Förderschullehrkräfte, die eine klarer konturierte Expertise und Zuständigkeit aufweisen, möglicherweise stärker unter Druck geraten, müssen in diesen multiprofessionellen Arbeitszusammenhängen ihre eigene Rolle finden, einen eigenständigen fachlichen Zugang behaupten und ihre Aufgaben und Zuständigkeiten in der inklusiven Schule möglicherweise neu austarieren“ (Haude u. a. 2018, S. 45). Schulsozialarbeit ist demnach von den unterschiedlichen Schulentwicklungsprozessen massiv tangiert und muss sich immer wieder positionieren, um ihre fachliche Autonomie in den sie prägenden Abhängigkeiten herzustellen (vgl. Zipperle 2016, S. 18).
5 Fazit: Quantität braucht Qualität Schulsozialarbeit hat sich in den letzten Jahrzehnten von einem Angebot an ‚Brennpunktschulen‘ zu einem weit verbreiteten und anerkannten sozialpädagogischen Angebot am Ort Schule entwickelt. Im Rahmen des massiven Ausbaus ist vielerorts sehr viel geleistet worden, mussten doch sämtliche Strukturen in den Schulen und bei den Trägern erst aufgebaut werden. Auch wenn Schulsozialarbeit mittlerweile als Qualitätsausweis an Schulen etabliert ist, ist gerade in Zeiten des stetigen Ausbaus ein achtsamer und kritischer Blick auf die Ausrichtung und Qualität des Angebots unabdingbar. Die Ausführungen zu den vielerorts schwierigen Rahmenbedingungen und in der Praxis eher einseitig realisierten Aufgabenschwerpunkten (vgl. Kap. 3) verweisen auf die Notwendigkeit, den fachlichen Anspruch an das Profil der Schulsozialarbeit mit dem in der Praxis realisierten Profil abzugleichen. Hilfreich für die Durchsetzung des in der Fachliteratur durchgängig geforderten breiten Profils der Schulsozialarbeit wäre erstens die klare rechtliche Bestimmung und Verankerung der Schulsozialarbeit als Angebot der Kinder- und Jugendhilfe. Damit wäre Schulsozialarbeit als ein an den inner- und außerschulischen Bewältigungsaufgaben der Kinder und Jugendlichen ausgerichtetes Angebot mit einer starken Verzahnung zu den sonstigen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe abgesichert. Zweitens braucht
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es eine Entwicklung von Qualität auf allen für die Schulsozialarbeit relevanten Qualitätsebenen. Dazu gehört über das Handeln der Fachkraft hinaus die Klärung des Auftrags zwischen Schule und Jugendhilfeträger, z. B. in Kooperationsund Rahmenvereinbarungen, die Fachberatung der Schulsozialarbeit und die Planungsebene, z. B. zur Kooperationsgestaltung mit anderen Jugendhilfeleistungen. Die Förderprogramme der Länder und Kommunen müssen mehr als bisher in ihren Fördergrundsätzen diese Qualitätsstandards einfordern und die damit verbundenen fachlichen Steuerungsmöglichkeiten nutzen. Der enorme Ausbau der Schulsozialarbeit zeigt des Weiteren, dass sich Schulsozialarbeit inzwischen als eigenständiges Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt hat und in der Regel nicht als Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit diskutiert wird, wenngleich nach wie vor keine rechtliche Klarheit besteht. Die Frage nach den Bezügen zwischen Jugendarbeit und Schulsozialarbeit ist einerseits theoretisch-konzeptionell zu beantworten, im Sinne der normativen Grundlegung einer kommunalen Sozialpädagogik, die sich auf die Gestaltung der Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen bezieht und somit der Auftrag beider Angebote sowohl über den Ort Schule als auch über das Jugendhaus hinaus reicht (vgl. Maykus 2017). In Zeiten einer zunehmend institutionalisierten Kindheit und Jugend und unter der Maßgabe, Kindheit und Jugend im kommunalen Raum zu ermöglichen, scheint die Verflechtung von Schulsozialarbeit und Jugendarbeit inhaltlich hoch produktiv. Wie diese Verflechtungen jeweils realisierbar sind und realisiert werden, ist allerdings eine empirisch zu klärende Frage, die bislang nur in Ansätzen beantwortet wurde.
6 Übungsfragen a. Wie wurde die Notwendigkeit von Schulsozialarbeit in ihren Anfängen in Deutschland begründet und inwiefern unterscheidet sich dies von den aktuelleren Begründungsmustern? Wie würden Sie die Notwendigkeit von Schulsozialarbeit begründen? b. Reflektieren Sie die unterschiedlichen Trägermodelle von Schulsozialarbeit hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen und begründen Sie ihre Empfehlung für ein geeignetes Trägermodell. c. Welche gesetzlichen Grundlagen gelten für das Angebot der Schulsozialarbeit? Diskutieren Sie den Nutzen einer einheitlichen Rechtsgrundlage und deren Verortung im Kinder- und Jugendhilfegesetz. d. Ist die Schulsozialarbeit ein Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit? Begründen Sie Ihre Antwort.
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Querschnittsthemen und Rahmenbedingungen der Kinder- und Jugendarbeit
Rechtliche Rahmenbedingungen in der Kinder- und Jugendarbeit Rainer Patjens
Zusammenfassung
Kinder- und Jugendarbeit bewegt sich in einem rechtlichen Rahmen, dessen Beachtung für die Fachkräfte sowohl Hilfe und Schutz als auch teilweise ein Hindernis darstellen können. Unsicherheit und Unkenntnis der Rechtslage führt aber häufig dazu, dass die sozialpädagogischen Handlungsspielräume nicht oder nicht hinreichend ausgeschöpft werden. Gleichzeit verleiht die sichere Kenntnis der Rechtslage angemessene Handlungssicherheit und stellt damit einen wesentlichen Faktor der Fachlichkeit in der Kinder- und Jugendarbeit dar. Dabei sind insbesondere Fragen zur Haftung (Aufsichts- und Verkehrssicherungspflicht), zur Strafbarkeit (Schweigepflicht und Garantenstellung) oder dem Kinderschutz in der Praxis von erheblicher Bedeutung.
1 Einleitung Rechtliche Themen werden in der Ausbildung von Fachkräften in der Kinder- und Jugendarbeit häufig nur mit mäßiger Begeisterung aufgenommen. Tatsächlich sind Rechtskenntnisse in der Kinder- und Jugendarbeit im direkten Umgang mit den KlientInnen auf den ersten Blick auch nicht von allerhöchster Priorität. Dies kann sich jedoch ändern, wenn Jugendliche mit konkreten Rechtsfragen an die MitarbeiterInnen von Jugendeinrichtungen herantreten und um Auskunft bitten, R. Patjens (*) Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_9
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z. B. ob der Drogenbesitz zum Eigenkomsum strafbar ist oder ob ihnen ihre Mutter verbieten darf, die eigenen Freunde zu treffen. Gerade in der Beratung von Jugendlichen (weniger von Kindern) können immer wieder Rechtsfragen zu klären sein, die in der Lebenssituation der Jugendlichen derzeit relevant sind. Hier ist das Spektrum möglicher Themen groß und kann im Rahmen des Studienbuchs nicht abgedeckt werden. Auf der anderen Seite stellen sich den Mitarbeitenden häufig Fragen in Hinblick auf die eigenen Handlungen. So stellt sich in der Praxis häufig die Frage, ob die Schweigepflicht auch gegenüber den Eltern zu wahren ist oder ob bei einer Ladung als Zeuge zu einer Gerichtsverhandlung eine Aussage gemacht werden muss. Darüber hinaus ist die Kinder- und Jugendarbeit dem Schutz des Kindeswohls verpflichtet. Daher sind bei allen Fachkräften auch Kenntnisse zum Schutzauftrag vorauszusetzen, um im Krisenfall die notwendige Handlungskompetenz zu besitzen. Über diese Kenntnisse hinaus sollten die Fachkräfte in der Kinder- und Jugendarbeit wesentlich dazu beitragen, in ihren Einrichtungen und bei ihren Trägern Schutzkonzepte und -mechanismen zu implementieren und Kinderschutz als zentrale Aufgabe zu verstehen. Nachfolgend werden daher die in der Praxis häufig auftretenden Themen der Aufsichts- und Verkehrssicherungspflicht, der Schweigepflicht und des Zeugnisverweigerungsrechts, der Garantenstellung sowie des Schutzauftrags aufgegriffen.
2 Aufsichtspflicht In der Kinder- und Jugendarbeit ist bei den Fachkräften häufig eine große Unsicherheit in Hinblick auf die Aufsichtspflicht festzustellen, die in der Aussage gipfelt, man „stehe mit einem Bein“ im Gefängnis. Die Verunsicherung kann so weit gehen, dass die pädagogische Arbeit selbst eingeschränkt wird mit dem Hinweis, dass vieles aus Gründen der Haftung gar nicht möglich sei. Dies ist sicher kein Ausdruck höchster Fachlichkeit – vielmehr sollte für das pädagogische Ziel ein rechtlich möglicher Weg gesucht werden. Dabei ist der Maßstab, den der Gesetzgeber anlegt, nicht strenger als bei den Eltern, da das (gemeinsame) Ziel die Abwendung von Schäden am Kind oder Dritten ist. Kommt es zu einem Schaden, kann dies für die MitarbeiterInnen auf verschiedenen Ebenen Konsequenzen haben. So stellt sich die Frage, ob jemand für den entstandenen Schaden aufkommen muss (Haftungsrecht), ob eine schuldhafte Straftat begangen wurde (Strafrecht) und ab das Verhalten als ArbeitnehmerIn Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis hat, z. B. indem der/die MitarbeiterIn abgemahnt oder gekündigt wird (Arbeitsrecht). Die Aufsichts- als auch die Verkehrssicherungspflicht sind im Haftungskontext relevant, d. h. es geht um die
Rechtliche Rahmenbedingungen in der Kinder- und Jugendarbeit Abb. 1 Von der Pflicht zur Haftung. (Eigene Darstellung)
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Bestehen einer Handlungspflicht Pflichtverletzung Schaden Haung
Kompensation des entstandenen Schadens. Dieser Schaden kann materieller Natur sein (Schadensersatz) oder immaterieller Natur (Schmerzensgeld). Grundsätzlich muss eine bestehende Handlungspflicht verletzt worden und ein Schaden eingetreten sein, bevor sich die Frage nach der Haftung stellt. In der Praxis ist daher zu prüfen, ob die Aufsichtspflicht übernommen wurde bzw. eine Verkehrssicherungspflicht bestand. Darüber hinaus kann eine Pflichtverletzung nur zur Haftung führen, wenn tatsächlich ein Schaden entstanden ist (Abb. 1). Grundsätzlich wird nur für eigenen Verschulden gehaftet. Im Falle eines Schadens hat daher der Verursacher auch die Schadenskompensation zu übernehmen. Verursachen Kinder oder Jugendliche einen Schaden, müssten diese grundsätzlich für die Haftung herangezogen werden. Eingeschränkt wird dieses Prinzip aber durch § 828 BGB: § 828 BGB (1) Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. (2) Wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. Dies gilt nicht, wenn er die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat. (3) Wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist, sofern seine Verantwortlichkeit nicht nach Absatz 1 oder 2 ausgeschlossen ist, für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat.
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§ 828 BGB regelt die sog. Deliktsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen, d. h. die Fähigkeit selbstständig zur Haftung herangezogen werden zu können. Bis zur Vollendung des siebenten Lebensjahres haften Kinder daher grundsätzlich nicht, darüber hinaus schließt Absatz 3 die Haftung für den Fall aus, dass die notwendige Einsichtsfähigkeit fehlte. So macht es für die Haftung einen Unterschied, ob ein Jugendlicher von 16 Jahren oder ein Kind von 8 Jahren mit Spiritus ein Feuer anzündet: während von dem 16jährigen Jugendlichen erwartet werden muss, dass er um die besondere Gefahr weiß, ist dies bei einem 8jährigen Kind nicht zu erwarten (vgl. LG Münster, Urt. V. 24. 02.1997, Az. 7 O 163/96 = Jugendwohl 1998, S. 91 ff.). Eltern haften nur für eigenes Verschulden, sie haften also gerade nicht für ihre Kinder. Aus diesem Grund sind auch Schilder mit dem Hinweis „Eltern haften für ihre Kinder“ völliger Unsinn. Eltern haften nur, wenn sie ihre Aufsichtspflicht verletzten, weil eine zurechenbare Pflichtverletzung eigenes Verschulden darstellt. Sofern Kinder nicht deliktsfähig sind (§ 828 Abs. 1 BGB) und die Eltern bzw. andere aufsichtspflichtige Personen keine Pflichtverletzung begangen haben, erhält der Geschädigte ggf. keinen Schadensersatz.
2.1 Übertragung der Aufsichtspflicht durch Vertrag oder Gesetz Die Pflicht zur Beaufsichtigung entspringt der elterlichen Sorge. Gemäß § 1631 Abs. 1 BGB umfasst die Personensorge insbesondere die Pflege, Erziehung, Beaufsichtigung und Aufenthaltsbestimmung des Kindes. Für die Kinder- und Jugendarbeit bedeutet dies, dass die Aufsichtspflicht durch Vertrag von den Personensorgeberechtigten erst ausdrücklich übertragen werden muss. Ohne einen solchen Vertrag besteht keine Pflicht zur Beaufsichtigung. Ein Vertrag kommt rechtlich bindend durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen zustande (Angebot und Annahme, siehe §§ 145 ff. BGB). Die Eltern (genauer: die Personensorgeberechtigten) müssen also ausdrücklich den Willen zur Übertragung der Aufsichtspflicht bekundet haben und die MitarbeiterInnen der Kinder- und Jugendarbeit müssen angenommen haben. Möglich wäre dies entweder schriftlich, mündlich oder durch schlüssiges (konkludentes) Handeln. Beim schlüssigen Handeln muss die Willenserklärung durch die Handlung deutlich werden. Dies wäre z. B. der Fall, wenn die Personensorgeberechtigten ihrem Sohn zwar nicht das unterzeichnete Anmeldeformular für die Teilnahme an einem Ferienlager mitgeben, ihn jedoch mit dem Auto hinbringen, um anschließend selbst in den Kurzurlaub zu fahren.
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Zusammen mit der Aufsichtspflicht wird in der Regel auch die Aufenthaltsbestimmung übertragen. Inwieweit darüber hinaus die Erziehung übertragen wird, ist hingegen fraglich. Daher sollte im Zweifel der Vertrag so gestaltet werden, dass die betroffenen Bereiche der Personensorge auch unzweideutig klar sind. Wird z. B. auf einer Ferienfreizeit ein Informationsabend zur Sexualität und zur Verhütung angeboten, so müssen die Eltern dem grundsätzlich zustimmen. Dies setzt voraus, dass die Eltern entsprechend informiert wurden. Der Vertrag kommt in der Regel zwischen dem Träger bzw. der Einrichtung und den Personensorgeberechtigten zustande. Der Träger bzw. die Einrichtung überträgt die Aufsichtspflicht anschließend auf die jeweiligen MitarbeiterInnen. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die sog. Trägerhaftung (§ 831 BGB, siehe Abschn. 2.4). In der Praxis der Kinder- und Jugendarbeit ist es nicht immer eindeutig, ob ein Vertrag mit den Eltern geschlossen wurde. Gerade in der Offenen Kinderund Jugendarbeit besteht häufig kein Kontakt zu den Eltern, d. h. die Kinder und Jugendlichen kommen selbstständig. Dabei ist mitunter nicht einmal bekannt, ob sie mit oder ohne Zustimmung der Eltern in der Einrichtung sind. In diesen Fällen kann kein Vertrag mit den Eltern geschlossen worden sein, d. h. es besteht auch keine Aufsichtspflicht. Ist aber beispielsweise eine Anmeldung durch die Eltern notwendig (für einzelne Aktivitäten oder für die Teilnahme an einer Freizeit etc.), geht damit in der Regel auch die Übertragung der Aufsichtspflicht einher. Anders ist es bei der Schulsozialarbeit. Den Schulen ist die Aufsichtspflicht durch die jeweiligen Schulgesetze zugewiesen, sodass es nicht darauf ankommt, ob die Eltern der Schule die Beaufsichtigung etc. übertragen haben. Die Schule überträgt die Aufsichtspflicht sowohl an die einzelnen LehrerInnen als auch an die SchulsozialarbeiterInnen (Abb. 2). Elterliche Sorge
Eltern
Pflege
Kind
umfasst: Erziehung
Aufenthaltsbesmmung
Beaufsichgung
Schule
Übertragung kra Gesetz (Schule) oder per Vertrag
Träger/ Einrichtung
LehrerIn
Delegaon an
(SchulsozialarbeiterIn)
Vertretung
MitarbeiterIn
(ehren-/hauptamtlich)
Abb. 2 Überblick elterliche Sorge, §§ 1626, 1629, 1631 BGB. (Eigene Darstellung)
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Auch Minderjährigen kann die Aufsichtspflicht übertragen werden (z. B. auf Freizeiten, wenn Jugendliche als Teamer eingesetzt werden sollen). Allerdings müssen die Personensorgeberechtigten zustimmen, da auch die Übernahme der Aufsichtspflicht aufgrund eines Vertrages erfolgt. Da Minderjährige ab der Vollendung des 7. Lebensjahres bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres gem. § 106 BGB beschränkt geschäftsfähig sind, müssen die Eltern als gesetzliche Vertreter (beide) der Übernahme der Aufsichtspflicht zustimmen.
2.2 Haftungsvoraussetzungen Für die Haftung sind zwei Rechtsnormen relevant, je nachdem, ob es zu einem Schaden bei dem Kind/Jugendlichen oder einem Dritten gekommen ist. So regelt § 823 Abs. 1 BGB als allgemeine Haftungsnorm den Fall, dass die zu beaufsichtigende Person zu Schaden gekommen ist: „Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.“
Soweit das Kind einen Schaden erleidet, richtet sich der Ersatzanspruch an die schädigende Person, also in diesem Fall an die aufsichtspflichtige Person. Die Verletzung der genannten Rechtsgüter muss vorsätzlich oder fahrlässig erfolgen, wobei eine vorsätzliche Schädigung in der Kinder- und Jugendarbeit eher ausgeschlossen werden kann. Fahrlässiges Handeln liegt vor, wenn die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht“ gelassen wird und die Folgen voraussehbar und vermeidbar waren. (vgl. Grüneberg, in: Palandt, BGB § 276 Rn. 12). Konkret richtet sich der Sorgfaltsmaßstab bei der Beaufsichtigung von Kindern und Jugendlichen danach, wie eine besonnene und gewissenhafte Person in der jeweiligen Situation gehandelt hätte, die alle dafür nötigen persönlichen und fachlichen Kenntnisse besitzt. Es ist also nicht zulässig, sich auf die eigene Unkenntnis oder Unfähigkeit zu berufen. (vgl. BGH NJW 1984, S. 2574) Für die Praxis bedeutet dies, dass die Beaufsichtigung tatsächlich nur übernommen werden darf, wenn die Aufsichtsführung aufgrund der vorhandenen Fähigkeiten und Kenntnisse tatsächlich möglich ist.
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Beispiel:
Eine Jugendgruppe mit 14−16 jährigen TeilnehmerInnen macht eine Tour mit Kanadiern auf der mecklenburgischen Seenplatte. Die BetreuerInnen sitzen erstmalig in einem Kanadier und finden es eine großartige Möglichkeit, den Jugendlichen die Natur nahezubringen. Als sie über einen ca. 2 km breiten See paddeln, kentert ein Boot mitten auf dem See bei zunehmendem Seegang. Die Jugendlichen müssen von einem Rettungsboot geborgen werden, dabei geht ein Kanadier kaputt und es entsteht ein Sachschaden. Es kommt für die Beurteilung des Sorgfaltsmaßstabs nicht darauf an, ob die BetreuerInnen erstmalig im Kanadier saßen, die Gefahren nicht einschätzen und eine Bergung auf dem See nicht selbst durchführen konnten. Vielmehr kommt es darauf an, wie eine Betreuerin gehandelt hätte, die alle zum Paddeln notwendigen Kenntnissen und Fähigkeiten besessen hätte. Die TeilnehmerInnen dürfen sich darauf verlassen, dass die BetreuerInnen alle diese Kenntnisse und Fähigkeiten haben oder, falls dies nicht der Fall ist, eine Person mit diesen Kenntnissen mitnehmen. ◄ Für sportliche oder erlebnispädagogische Maßnahmen sind als Sorgfaltsmaßstab die Anwendung der für diese Sportart üblichen Sicherheitsstandards relevant. Vor diesen Aktivitäten sollten die Aufsichtspersonen sich davon überzeugen, dass sie die dafür notwendigen Kenntnisse haben. Im vorgenannten Beispiel müssen daher die Sicherheitsstandards des Deutschen Kanuverbandes (DKV) herangezogen werden. Soweit die Aufsichtspersonen diese Kenntnisse und Fähigkeiten nicht besitzen, kann die Maßnahme so nicht durchgeführt werden oder es müssen Personen mitgenommen werden, die diese Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen. Ebenso sind die Anforderungen an die Aufsichtsführung zu beachten (siehe Abschn. 2.3). Darüber hinaus muss das schädigende Ereignis vorhersehbar sein, d. h. es darf nicht eine ganz fernliegende Möglichkeit sein. Im o. g. Beispiel ist die Gefahr des Kenterns immer naheliegend, insbesondere bei größeren Gewässern, auf denen sich bei Wind größere Wellen bilden können. Den Schaden hätten die BetreuerInnen vermeiden können (und müssen), z. B. indem sie dichter am Ufer paddeln, entsprechende Sicherheits- und Kenterübungen zuvor durchführen oder die Boote nur als kentersichere Katamarane (mit einem Balken am Bug und Heck verbunden) benutzen. Dabei kommt es ausdrücklich nicht darauf an, ob dies mit Unbequemlichkeit, Zeitverlust oder finanziellem Aufwand verbunden wäre (vgl. BGH, NJW 87, S. 402).
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Soweit nicht die zu beaufsichtigende Person einen Schaden erleidet, sondern eine dritte Person, richtet sich die Haftung nach § 832 BGB: „(1) Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustands der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde. (2) Die gleiche Verantwortlichkeit trifft denjenigen, welcher die Führung der Aufsicht durch Vertrag übernimmt.“
In der Kinder- und Jugendarbeit wird die Haftung durch Vertrag übernommen (Abs. 2; Ausnahmen können sich aber in der Schulsozialarbeit ergeben, wenn die Fachkräfte direkt bei der Schule bzw. beim Schulträger eingestellt sind). Die aufsichtspflichtige Person haftet aber nicht in jedem Fall, sondern nur, wenn sie der Aufsichtspflicht nicht genügt hat. Soweit die Aufsichtspflicht vollumfänglich erfüllt ist (zu den Inhalten der Aufsichtspflicht siehe Abschn. 2.3), tritt die Haftung nicht ein. Ebenso tritt die Haftung nicht ein, wenn der Schaden auch dann eingetreten wäre, wenn die Aufsichtspflicht voll erfüllt worden wäre. Beispiel:
Auf einem Zeltlager feiern die BetreuerInnen nachts ein Fest, nachdem alle TeilnehmerInnen ins Bett geschickt wurden. Alle BetreuerInnen waren stark alkoholisiert, die Aufsichtspflicht konnte von niemanden mehr wahrgenommen werden. In der Nacht bricht ein großer und schwerer Ast von einem hohen Baum und begräbt ein Zelt unter sich. Von den drei Jungen, die in dem Zelt schlafen, werden zwei schwer verletzt. In diesem Fall wäre der Schaden auch eingetreten, wenn die BetreuerInnen die Aufsichtspflicht hätten wahrnehmen können. Anders wäre es, wenn zwei Jugendliche in ihrem Zelt heimlich rauchen und die BetreuerInnen wegen der lauten Musik und dem Alkoholkonsum nicht mitbekommen, dass das Zelt Feuer gefangen hat und die Jugendlichen um Hilfe rufen. In diesem Fall wäre der Schaden nicht eingetreten, wenn die Aufsichtspflicht erfüllt worden wäre. ◄ Nicht jeder Schaden bedeutet daher, dass die Aufsichtsperson haften muss. Die Aufsichtsperson haftet nur für eigenes Verschulden, das in diesem Fall in der nicht korrekten Wahrnehmung der Aufsichtspflicht liegt. Auch die Schwere und
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Tragweite eines Schadens (z. B. Tod, schwerste Behinderungen etc.) sind nicht relevant für die Haftung, so tragisch der Einzelfall sein mag. In Hinblick auf die pädagogische Arbeit ist dies von großer Bedeutung – fachliches Handeln bedeutet daher, alles Zumutbare zu unternehmen, um einen Schaden von dem Kind/ Jugendlichen oder Dritten abzuwenden.
2.3 Inhalt der Aufsichtspflicht Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn man der „Aufsichtspflicht genügt“ hat. Die aufsichtspflichtige Person haftet also nicht in jedem Fall, sondern nur, wenn eine Pflichtverletzung dem Schaden zugrunde lag. Allerdings regelt der Gesetzgeber nicht ausdrücklich, wann der Aufsichtspflicht genügt wurde. Dies hat sich daher nach und nach durch Literatur und Rechtsprechung konkretisiert. Dabei sind es fünf Pflichten, die zur Erfüllung der Aufsichtspflicht insgesamt herangezogen werden. Zuerst besteht die Pflicht zur umfassenden Information. Dabei erstreckt sich die Informationspflicht sowohl auf die zu beaufsichtigende Person (persönliche Umstände) als auch auf die örtliche Umgebung (Gefahrenquellen). So müssen über die zu beaufsichtigende Person alle relevanten Informationen beiden Eltern erhoben werden, z. B. Behinderungen, Krankheiten, Allergien, sportliche Fähigkeiten (Schwimmer/Nichtschwimmer etc.). Zu berücksichtigen ist dabei auch, welche Aktivitäten in der Zeit der Beaufsichtigung durchgeführt werden sollen. Ist mit Jugendlichen beispielsweise eine erlebnispädagogische Aktivität in Form einer Bergwanderung geplant, so sollten auch die Trittsicherheit oder Belastbarkeit erfragt werden. Ebenso sollte sich hinreichend über die Gefahrenquellen in der jeweiligen örtlichen Umgebung informiert werden (z. B. Sicherheit von Gebäude/Gelände/Werkzeugen/Spielgeräten prüfen) und die Rettungs- und Hilfeinfrastruktur (z. B. wo ist das nächste Krankenhaus, sind Mobiltelefonate für Notrufe vorhanden etc.). Darüber hinaus müssen Gefahrenquellen beseitigt werden, soweit dies möglich und sinnvoll ist. So müssen beispielsweise Werkzeuge so verwahrt werden, dass kein unbefugter Zugriff möglich ist. Ist die Beseitigung der Gefahrenquellen nicht möglich oder sinnvoll (weil es für die erlebnispädagogische Aktion gerade auf diese Gefahrenquellen ankommt, z. B. Wasser zum paddeln), müssen die zu beaufsichtigenden Personen über den Umgang mit den Gefahrenquellen belehrt werden. Die Belehrung hat so zu erfolgen, dass sie altersgemäß ist und dem Entwicklungsstand der Kinder und Jugendlichen entspricht. Grundsätzlich sollten daher zu Beginn auf einer Ferienfreizeit und darüber hinaus
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in regelmäßigen Abständen diese Belehrungen vorgenommen und wiederholt werden. In der Praxis ist nachfolgend die tatsächliche Aufsichtsführung mit den größten Schwierigkeiten verbunden. Die tatsächliche Aufsichtsführung beinhaltet die Kontrolle, ob die Kinder und Jugendlichen sich an die Belehrung halten und der Umgang mit den Gefahrenquellen sicher ist. Der Bundesgerichtshof hat dazu festgestellt: „Das Maß der gebotenen Aufsicht bestimmt sich nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie danach, was Jugendleitern in der jeweiligen Situation zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was ein verständiger Jugendleiter nach vernünftigen Anforderungen unternehmen muß, um zu verhindern, daß das Kind selbst zu Schaden kommt oder Dritte schädigt.“ (BGH NJW 1984, S. 2574)
Abhängig von verschiedenen Faktoren ist also der Umfang der tatsächlichen Aufsichtsführungen in der Praxis sehr unterschiedlich. Besteht eine Jugendgruppe aus unbekannten TeilnehmerInnen, so ist die Aufsicht strenger zu führen, als bei einer Gruppe, mit der seit Jahren zusammengearbeitet wird und deren Verhalten aufgrund der bisherigen Erfahrungen eingeschätzt werden kann. Je jünger die Kinder und Jugendlichen sind und je gefährlicher die Tätigkeit/Aktivität ist, desto höher sind die Anforderungen an die tatsächliche Aufsichtsführung. Dabei werden keine überzogenen Anforderungen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendarbeit gestellt, vielmehr wird darauf abgestellt, was nach „vernünftigen Anforderungen“ unternommen werden muss, um den Schaden zu verhindern. Weder Überängstlichkeit noch eine Laissez-faire-Haltung sind daher rechtlich als auch pädagogisch geboten. Interessanterweise hat der Bundesgerichtshof bereits 1976 dazu festgestellt: „Nicht unbedingt das Fernhalten von jedem Gegenstand, der bei unsachgemäßem Umgang gefährlich werden kann, sondern gerade die Erziehung des Kindes zu verantwortungsbewußten Hantieren mit einem solchen Gegenstand wird oft der bessere Weg sein, das Kind und Dritte vor Schäden zu bewahren. Hinzu kommt die Notwendigkeit frühzeitiger praktischer Schulung des Kindes, das seinen Erfahrungsbereich möglichst ausschöpfen soll.“ (BGH, NJW 1976, S. 1684)
Für die Praxis der Kinder- und Jugendarbeit bedeutet dies, dass es vor allem darauf ankommt sich darüber klar zu werden, welches pädagogische Ziel mit der jeweiligen Aktivität erreicht werden soll und was nach vernünftigen Anforderungen unternommen werden muss, um einen möglichen Schaden abzuwenden. Gerade hier kommt es darauf an, dass die Fachkräfte in Kenntnis der Rechtslage nach Lösungen suchen. Generell sind die üblichen
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icherheitsstandards zu beachten, wobei es gerade für viele erlebnispädagogische S Aktivitäten von den jeweiligen Sportverbänden entsprechende Richtlinien für die Sicherheitsstandards entwickelt wurden, z. B. vom Deutschen Kanuverband (DKV) für den Kanusport oder vom Deutschen Alpenverein (DAV) für den Klettersport. Zu den „vernünftigen Anforderungen“ gehört es daher, sich vorher über die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen Gedanken zu machen und für das entsprechende Fachwissen und die entsprechende Ausrüstung zu sorgen. Darüber hinaus besteht aber keine Pflicht zur „Totalbeaufsichtigung“. Bereits für 4jährige Kinder hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass eine Überwachung „auf Schritt und Tritt“ nicht notwendig ist (vgl. BGH, Urt. v. 19.03.1957, Az. VI ZR 29/56). Daher können und sollen Kinder und Jugendliche entsprechend dem Alter, dem Charakter, den Fähigkeiten und der Gefahrenlage auch unbeaufsichtigt sein, ohne dass dadurch die Aufsichtspflicht verletzt wird. Beispiel:
Während einer Ferienfreizeit spielen 6 Mädchen und Jungen (12 bis 13 Jahre) zusammen Tischtennis. Die Regeln sind vorher zusammen besprochen worden und wurden von allen TeilnehmerInnen bisher auch beachtet. Nach ca. 10 min verlässt Betreuerin B den Raum. Nach einiger Zeit kommt es zu einem Streit zwischen zwei Jungen um einen regelwidrigen Punkt. Dabei kommt es zur Rangelei, sodass ein Junge hinfällt und sich an der Tischtennisplatte einen Schneidezahn ausschlägt. Der Umfang der Beaufsichtigung bemisst sich hier nach dem Alter der TeilnehmerInnen, der Gefährlichkeit der Tätigkeit und den Vorerfahrungen mit der Gruppe. Je jünger und unbekannter die TeilnehmerInnen sind und je gefährlicher die Aktivität, desto höhere Anforderungen werden an die tatsächliche Aufsichtsführung gestellt. Im Alter von 12–13 Jahren können und wollen Mädchen und Jungen unbeaufsichtigt bleiben und sind in der Lage, sich an Regeln zu halten und ihr Sozialverhalten anzupassen. Darüber hinaus ist Tischtennis zu spielen nicht mit einem erhöhten Risiko verbunden, das eine stärkere Beaufsichtigung verlangt. Nach den bisherigen Erfahrungen mit der Gruppe, hat das Spiel funktioniert – der Streit zwischen den beiden Jungen war unvorhersehbar und musste daher auch bei der Aufsichtsführung nicht berücksichtigt werden. ◄ Wenn im Rahmen der tatsächlichen Aufsichtsführung festgestellt wird, dass die Kinder und Jugendlichen sich nicht an die Hinweise/Belehrungen halten, ist von den Aufsichtspersonen entsprechend zu reagieren und einzugreifen. Das Eingreifen
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hat nicht das Ziel, ein bestimmtes Verhalten zu „bestrafen“, sondern die Sicherheit der zu beaufsichtigenden Personen oder Dritter zu gewährleisten. Gerade hier kommt es daher auf das pädagogische Geschick der Fachkräfte an. So sind zulässige Eingriffsmöglichkeiten beispielsweise: • Ermahnungen, Wiederholung der Belehrung. • „Verwahren“ gefährlicher Gegenstände, spätere Aushändigung ggf. an die Eltern. • Ausschluss eines Teilnehmers/Heimreise. • Abbruch eins Spiels/der Veranstaltung. • Information der Eltern. Wichtig ist jedoch, dass durch das Fehlverhalten einer Einzelperson nicht die gesamte Gruppe sanktioniert wird, weil dies zur Stigmatisierung eines Einzelnen führen würde. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass nicht in die Rechte der Kinder und Jugendlichen eingegriffen werden darf. Nicht zulässig sind daher beispielsweise • • • •
körperliche Züchtigung, Freiheitsentzug, Demütigungen. kollektive Strafen. Gemeinschaftsdienste als Strafe. Entzug von Mahlzeiten (z. B. Nachtisch).
Diese Pflichten (Information, Gefahrenbeseitigung, Belehrung, tatsächliche Aufsichtsführung, Eingreifen/Sanktion) füllen also die Aufsichtspflicht aus. Für das fachliche Handeln in der Kinder- und Jugendarbeit ist es daher notwendig, diese Pflichten immer zu reflektieren und zu prüfen. Insbesondere ist es ratsam, dass Schwachstellen oder Haltungen hinterfragt werden. Während eine L aissez-faire-Haltung das Schadensrisiko deutlich erhöht wird durch eine zu restriktive oder ängstliche Haltung der pädagogische Handlungsspielraum unnötig eingeschränkt und führt zu einer Verunsicherung der MitarbeiterInnen (Abb. 3).
2.4 Haftung des Trägers Überwiegend wird die Aufsichtspflicht im Rahmen einer dienstlichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit übernommen, d. h. man wird für einen Träger oder eine Einrichtung tätig. Die Aufsichtspflicht wird von den Personensorgeberechtigten in
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1. Prüfung des pädagogischen Rahmens Welches pädagogische Ziel wird verfolgt? Ist das Vorhaben für Drie pädagogisch nachvollziehbar?
2. Prüfung der Pflichten im Detail Überlegungen für die Praxis
Habe ich die notwendigen Informaonen gesammelt? Habe ich soweit möglich/nög Gefahrenquellen beseigt/vermieden? Worüber müssen die Kinder/Jugendlichen altersangemessen belehrt werden? Wie überwache ich die Einhaltung der Belehrung? Wie kann ich, soweit notwendig, eingreifen?
3. Reflexion Habe ich Schwachstellen erkannt? Was muss ich noch tun, um mein Vorhaben zu realisieren?
Abb. 3 Überlegungen für die Praxis. (Eigene Darstellung)
diesem (überwiegenden) Fall nicht direkt an die Aufsichtspersonen übertragen, sondern an den Träger bzw. die Einrichtung. Diese wiederum delegieren die Aufsichtspflicht weiter an ihre haupt- oder ehrenamtlichen MitarbeiterInnen. Soweit Einrichtungen die Übernahme der Aufsichtspflicht an ihre MitarbeiterInnen delegieren, sieht das Zivilrecht grundsätzlich eine Haftung des Trägers bzw. der Einrichtung vor, die hier als sog. „Geschäftsherren“ für ihre sog. „Verrichtung“bzw. „Erfüllungsgehilfen“ haften. Dabei sind zwei Konstellationen zu unterscheiden, die beide in der Kinder- und Jugendarbeit relevant sind. Ist die Aufsichtspflicht eine vertragliche (Neben-)Pflicht, richtet sich die Haftung des Trägers als Geschäftsherrn nach § 278 BGB, darüber hinaus richtet sich die Haftung nach § 831 BGB (Abb. 4): Während der Träger als Geschäftsherr beim § 278 BGB keine Möglichkeit hat, sich der Haftung für seine MitarbeiterInnen zu entziehen, haftet der Träger im Rahmen von § 831 Abs. 1 BGB nicht, „wenn der Geschäftsherr bei der Auswahl der bestellten Person […] die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet
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R. Patjens Haung des Trägers (Geschäsherrn) vertragliche Haung
deliksche Haung
gem. h 278 BGB
gem. § 831 BGB
Anwendung:
Anwendung:
Die schadensbegründende Handlung stellt eine Verletzung von Vertragspflichten dar, z.B. auf einer Ferienfreizeit oder bei festen Gruppen.
Die schadensbegründete Handlung verstößt allgemein gegen das Gesetz bzw. ist gesetzlich nicht gestaet, z.B. ein Jugendlicher verletzt sich im Jugendhaus während der allgemeinen Öffnungszeiten (es besteht kein gegenseiges Schuldverhältnis mit den Eltern).
Abb. 4 Überblick Trägerhaftung. (Eigene Darstellung)
oder wenn der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde.“ Der Träger kann sich also der Haftung entziehen, wenn er nachweisen kann, dass er seine MitarbeiterInnen für die jeweilige Arbeit entsprechend ihren persönlichen und fachlichen Fähigkeiten ausgesucht hat. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass den Träger ein Organisationsverschulden trifft, weil er eine ungeeignete Person mit der Wahrnehmung der Aufsichtspflicht betraut hat. Daher muss es im elementaren Interesse eines jeden Trägers und jeder Einrichtung sein, die MitarbeiterInnen (sowohl haupt- als auch ehrenamtliche) für die jeweiligen Aufgaben zu qualifizieren und nur entsprechend ihrer persönlichen und fachlichen Eignung einzusetzen. Darüber hinaus entfällt die Haftung gem. § 831 Abs. 1 BGB, wenn der Schaden auch eingetreten wäre, sofern die Aufsichtspflicht sorgfältig ausgeübt worden wäre. Für die Praxis der Kinder- und Jugendarbeit hat dies erhebliche Auswirkungen, da der Träger dafür verantwortlich ist, beispielsweise auch ausreichend Personen mit der Wahrnehmung der Aufsichtspflicht zu betrauen. Daher sollten Fachkräfte in der Kinder- und Jugendarbeit den Träger immer über solche Situation durch eine Überlastungsanzeige rechtzeitig in Kenntnis setzen, damit der Träger darauf reagieren kann. Reagiert der Träger darauf jedoch nicht, hat er im Rahmen von § 831 BGB keine Möglichkeit sich der Haftung zu entziehen. Darüber hinaus kann auch ein möglicher Versicherungsschutz gekürzt werden oder sogar entfallen, da gem. § 81 Abs. 2 VVG bei grober Fahrlässigkeit die Ver-
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sicherung berechtigt ist, die „Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen“.
2.5 Zusammenfassung Fachkräfte in der Kinder- und Jugendarbeit sollten wissen, ob sie im Einzelfall die Aufsichtspflicht für ein Kind oder Jugendlichen übernommen haben. Dabei kommt es darauf an, dass ein Vertrag mit den Personensorgeberechtigten geschlossen wurde, der die Aufsichtspflicht (und in der Regel auch die Aufenthaltsbestimmung) überträgt. Ohne einen solchen Vertrag, der sowohl mündlich, schriftlich als auch durch schlüssiges Handeln zustande gekommen sein kann, ist die Aufsichtspflicht nicht übertragen worden. So ist es in der klassischen Offenen oder Mobilen Arbeit eher auszuschließen, dass die Aufsichtspflicht übertragen wurde, während in der Schulsozialarbeit die Aufsichtspflicht durch Gesetz an die Schule delegiert und diese in der Regel durch die Kooperationsvereinbarung wiederum an die SchulsozialarbeiterInnen weiterdelegiert wird. Relevant für die Haftung ist aber nicht allein der Schadenseintritt, sondern ob der Aufsichtspflicht genüge getan wurde bzw. sorgfältig erfüllt wurde. Darüber hinaus haftet der Träger bzw. die Einrichtung als Geschäftsherr gegenüber den Geschädigten für das Verschulden seiner haupt- und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen und kann sich nur im Rahmen der deliktischen Haftung durch den Entlastungsbeweis der Haftung entziehen.
3 Verkehrssicherungspflicht Neben der Aufsichtspflicht ist aber vor allem die sog. Verkehrssicherungspflicht für die Haftung in der Kinder- und Jugendarbeit relevant. Während es bei der Aufsichtspflicht darum geht, einen Schaden von der zu beaufsichtigenden Person oder eine Schädigung Dritter durch die zu beaufsichtigende Person abzuwenden, geht es bei der Verkehrssicherungspflicht um den Schutz vor einer Gefahrenquelle, für die eine Verantwortlichkeit besteht. Die Haftung trifft also denjenigen, der für eine Gefahrenquelle verantwortlich (z. B. weil er sie geschaffen hat oder sie in seinen Verantwortungsbereich fällt) und in der Lage ist, die erforderlichen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu treffen. (vgl. BGH, VersR 2006, S. 803 ff.) Die Haftung für eine Verletzung von Verkehrssicherungspflichten richtet sich grundsätzlich nach § 823 BGB, wobei einige Fälle darüber hinaus auch speziell
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geregelt sind, z. B. § 834 (Haftung des Tieraufsehers) oder § 836 (Haftung des Grundstücksbesitzers). Die verkehrssicherungspflichtige Person hat die Pflicht alles Zumutbare zu unternehmen um zu vermeiden, dass sich die von einer Gefahrenquelle üblicherweise ausgehenden Gefahren realisieren. Diese Pflicht trifft aber nur denjenigen, der die Gefahrenquelle geschaffen hat oder dafür verantwortlich ist. Beispiel:
Im Jugendhaus soll abends bei schönem Wetter spontan gegrillt werden. Der Leiter der Einrichtung macht den Grill an und beaufsichtigt ihn als „Grillmeister“. Nachdem die letzte Wurst gegrillt ist, setzt er sich etwas abseits auf eine Bank, um selbst noch zu essen. Dabei hat er den Grill nicht mehr im Blick. Der 14jährige Morten hingegen schaut die ganze Zeit auf das Handy und übersieht den Grill. Als er gegen den Grill läuft, kippt dieser um und die glühenden Kohlen fallen der 15jährigen Jessica auf die Schuhe. Die Schuhe sind völlig kaputt, darüber hinaus erleidet Jessica Verbrennungen am Knöchel. ◄ Die verpflichtete Person muss die erforderlichen und ihm zumutbaren Vorkehrungen treffen, um die Schädigung Dritter möglichst zu vermeiden (vgl. BGH NJW 2007, S. 1684 ff.). Dabei kommt es darauf an, dass die Gefahr nach Einschätzung eines sachkundig Urteilenden naheliegt, also nicht völlig unwahrscheinlich ist (vgl. BGH NJW 2004, S. 1449 f.). Bei Kindern ist dabei ein strengerer Sicherheitsmaßstab anzulegen, da Gefahrenlagen schlechter erkannt und eingeschätzt werden können. Im vorigen Beispiel wäre daher zu fragen, ob die vom Grill ausgehende Gefahr von einem sachkundig Urteilenden naheliegend gewesen wäre. Dies ist bei der generellen Gefahr, die von offenem Feuer oder starken Hitzequellen ausgeht, grundsätzlich zu bejahen, zumal der Grill auch nicht fest am Boden verankert und gegen ein Umkippen gesichert war. Daher müssten die erforderlichen und zumutbaren Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, wobei auch das Alter und die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen berücksichtigt werden muss. Grundsätzlich sind alle Personen zur Gefahrenabwehr verpflichtet, die über die Sache bzw. Gefahrenquelle verfügen können. Im genannten Beispiel wären daher auch andere MitarbeiterInnen im Jugendhaus verpflichtet gewesen, die vom Grill ausgehende Gefahr abzuwenden. Auch hier greift die Haftung des Trägers (siehe Abschn. 2.4).
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Für die Praxis der Kinder- und Jugendarbeit besitzt die Verkehrssicherungspflicht mindestens die gleiche Bedeutung wie die Aufsichtspflicht. Während in manchen Kontexten (z. B. Kinderfreizeit, Kinderspielstadt) sowohl Aufsichts- als auch Verkehrssicherungspflichten bestehen, besteht in anderen Kontext mangels Übertragung der Aufsichtspflicht aber trotzdem die Verkehrssicherungspflicht (z. B. Jugendzentrum, Spielmobil, Abenteuerspielplatz, Jugendfarm – soweit sie ein offenes Angebot sind und eine Anmeldung nicht notwendig ist).
4 Schweigepflicht Grundsätzlich dient die Schweigepflicht dazu, den Vertrauensschutz im Verhältnis zum Klienten zu gewährleisten. Neben der Schweigepflicht sind darüber hinaus auch der Datenschutz, die Anzeigepflicht und das Zeugnisverweigerungsrecht relevant für das Verhältnis zum Klienten. Dahinter steckt der Gedanke, dass manche Berufe und Tätigkeiten nicht möglich sind, wenn die Verschwiegenheit nicht gewährleistet ist bzw. die Klienten sich nicht auf die Verschwiegenheit verlassen können. Neben Ärzten, Rechtsanwälten und Journalisten ist es vor allem die Soziale Arbeit, deren Tätigkeit einen starken Vertrauensschutz verlangt. Die Schweigepflicht soll daher die Fachkräfte nicht in ihrer Tätigkeit einschränken oder verunsichern, sondern gerade bestärken. Die Tragweite der Schweigepflicht und die Abgrenzung zum Datenschutz sind elementar für die Fachlichkeit in der Kinder- und Jugendarbeit (Abb. 5).
Datenschutz
Schweigepflicht
„Dürfen personenbezogene (Sozial-) Daten weitergegeben werden?“
„Dürfen anvertraute Geheimnisse weitergegeben werden?“
Schweigen in der Sozialen Arbeit / Vertrauensschutz
Zeugnisverweigerung
Anzeigepflicht
„Darf man vor Gericht schweigen?“
„Müssen Straaten angezeigt werden?“
Abb. 5 Vertrauensschutz in der Sozialen Arbeit (Patjens und Patjens (2018), Rn. 283)
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Die Schweigepflicht in der Kinder- und Jugendarbeit ergibt sich sowohl aus dem Strafgesetzbuch als auch aus dem Arbeitsvertrag, in dessen Rahmen die Schweigepflicht in der Regel eine vertragliche Nebenpflicht ist. Daher richtet sich die Schweigepflicht immer an das Individuum, also die einzelne Mitarbeiterin und den einzelnen Mitarbeiter und stellt einen Verstoß nur unter bestimmten Voraussetzungen unter Strafe: § 203 StGB Verletzung von Privatgeheimnissen (1) Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als 1. Arzt, Zahnarzt, Tierarzt, Apotheker oder Angehörigen eines anderen Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, 2. Berufspsychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschlußprüfung, 3. Rechtsanwalt, Kammerrechtsbeistand, Patentanwalt, Notar, Verteidiger in einem gesetzlich geordneten Verfahren, Wirtschaftsprüfer, vereidigtem Buchprüfer, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten oder Organ oder Mitglied eines Organs einer Rechtsanwalts-, Patentanwalts-, Wirtschaftsprüfungs-, Buchprüfungs- oder Steuerberatungsgesellschaft, 4. Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberater sowie Berater für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist, 5. Mitglied oder Beauftragten einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, 6. staatlich anerkanntem Sozialarbeiter oder staatlich anerkanntem Sozialpädagogen oder 7. Angehörigen eines Unternehmens der privaten Kranken-, Unfall- oder Lebensversicherung oder einer privatärztlichen, steuerberaterlichen oder anwaltlichen Verrechnungsstelle anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
Sanktioniert wird ein Verstoß gegen die Schweigepflicht mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe. Allerdings ist das Strafbarkeitsrisiko bei alledem trotzdem überschaubar: So wurden 2012 insgesamt 6 Personen verurteilt (deutschlandweit), 2013 waren es 5 Personen, 2014 waren 7 Personen und 2015 waren es 9 Personen (vgl. Statistische Bundesamt, Strafverfolgung Fachserie 10 Reihe 3 – 2012/13/14/15, Abgeurteilte und Verurteilte nach demografischen Merkmalen sowie Art der Straftat, angewandtem Strafrecht und Art der Entscheidung). Die arbeitsrechtlichen Folgen können daher sogar weitaus gravierender sein: so können Verstöße gegen die Schweigepflicht eine Abmahnung oder sogar die Kündigung zur Folge haben.
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4.1 Voraussetzungen der Strafbarkeit Die Strafbarkeit setzt voraus, dass es sich um ein fremdes Geheimnis handelt (in der Praxis der Kinder- und Jugendarbeit regelmäßig aus dem persönlichen Bereich). Während es also jedem freisteht, eigene Geheimnisse zu offenbaren, werden nur fremde Geheimnisse geschützt, die den Angehörigen der genannten Personengruppen anvertraut oder sonst gekannt geworden ist. Ein Geheimnis ist in diesem Kontext eine Information, von der der Geheimnisinhaber nicht möchte, dass sie bekannt wird bzw. höchstens gegenüber einem von ihm festgelegten, beschränkten Personenkreis. Der Geheimnisinhaber muss daher ein Geheimhaltungsinteresse haben, das sich durch seinen Geheimhaltungswillen äußert. Insofern können offenkundige Tatsachen nicht geheim sein (weil sie z. B. schon anderweitig veröffentlicht oder bekannt gemacht wurden oder leicht recherchiert werden können). Beispiel:
Erfasst werden daher auch Eindrücke und Wahrnehmungen, die sich aus dem beruflichen Zusammenhang ergeben. Sofern eine Schülerin unter „4 Augen“ mit der Schulsozialarbeiterin sprechen möchte um dann gleich in Tränen auszubrechen, ist diese Information ein Geheimnis, da es der Schülerin auch darauf ankommt, dass niemand von ihrem emotionalen Ausbruch erfährt. Darüber hinaus kann allein die Tatsache, dass ein Beratungsgespräch geführt wurde, ebenfalls schon ein Geheimnis sein. ◄ Erfasst werden nur die aufgeführten Berufsgruppen, also alle staatlich anerkannten Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen, soweit ihnen das Geheimnis im Rahmen der Berufsausübung anvertraut wurde. Da andere soziale Berufe hier nicht genannt sind, die aber in der Kinder- und Jugendarbeit ebenfalls häufig anzutreffen sind (z. B. PädagogInnen, (Jugend- und Heim-) ErzieherInnen, HeilpädagogInnen u.ä.), unterliegen diese nicht der strafrechtlichen Schweigepflicht (die arbeitsrechtliche Schweigepflicht ist in der Regel vom Arbeitgeber für alle gleichermaßen vertraglich geregelt). Darüber hinaus gilt die Schweigepflicht aber auch für alle „berufsmäßig tätigen Gehilfen“ der genannten Berufsgruppen sowie für Personen, „die bei ihnen zur Vorbereitung auf den Beruf tätig sind“ (§ 203 Abs. 3 S. 1 StGB). Daher werden sowohl AnerkennungspraktikantInnen, Auszubildende als auch dual Studierende ebenfalls von der Schweigepflicht umfasst.
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Erweitert werden diese Berufsgruppen durch die Schweigepflicht für Personen, die als Amtsträger oder als für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete unbefugt ein Geheimnis offenbaren (§ 203 Abs. 2 StGB). Gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 2 und 4 StGB ist Amtsträger, wer nach deutschem Recht Beamter ist oder sonst dazu bestellt ist, bei einer Behörde oder einer sonstigen Stelle Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen, während für den öffentlichen Dienst besonders verpflichtet ist, wer ohne Amtsträger zu sein bei einer Behörde oder sonstigen Stelle Aufgaben der öffentlichen Verwaltung beschäftigt ist und zur gewissenhaften Aufgabenerfüllung durch das Gesetz über die förmliche Verpflichtung nichtbeamteter Personen (Verpflichtungsgesetz) verpflichtet wurde. Dies betrifft z. B. Lehrer, die sowohl verbeamtet als auch im Angestelltenverhältnis tätig sind und mit den Fachkräften der Schulsozialarbeit den Austausch suchen. Nicht erfasst werden Privatgeheimnisse, die diese Berufsgruppen als Privatperson in ihrer Privat-/Freizeit erfahren. Allerdings ist es für Dritte teilweise schwer zu erkennen, ob sich jemand im Dienst oder außerhalb des Dienstes befindet. Daher ist es notwendig, dass Berufsgeheimnisträger es ausdrücklich klarstellen, wenn sie sich nicht im Dienst befinden bzw. derzeit Privatperson sind. Soweit es für den Dritten nicht klar erkennbar ist, ob er sich einem Berufsgeheimnisträger bei der Berufsausübung anvertraut oder nicht, ist im Zweifelsfall davon auszugehen, dass das Geheimnis der Schweigepflicht unterliegt. Ein Geheimnis wurde anvertraut, wenn sich aus den Gesamtumständen ergibt, dass es dem Geheimnisinhaber auf die Verschwiegenheit ankommt (vgl. Fischer, StGB § 203 Rn. 8). Darüber hinaus werden auch Privatgeheimnisse erfasst, die „sonst bekannt geworden“ sind. Dies sind insbesondere Drittgeheimnisse, d. h. wenn der Berufsgeheimnisträger das Geheimnis im Rahmen seiner Tätigkeiten von Dritten erfahren hat. Beispiel:
Schulsozialarbeiterin S erfährt im Beratungsgespräch mit der 14jährigen S, dass ihre beste Freundin F kein Taschengeld von ihren Eltern bekommt und daher die Kosmetikartikel in Kaufhäusern einfach stiehlt. ◄ Das anvertraute Privatgeheimnis müsste darüber hinaus offenbart worden sein. Offenbaren bedeutet die Mitteilung des Geheimnisses an eine dritte Person, die dieses Geheimnis nicht oder nicht vollständig kennt. Problematisch kann dies insbesondere im Kontext der Supervision oder Teambesprechung sein. Auch wenn in der Supervision oder der Teambesprechung ebenfalls KollegInnen dabei sind, die als Berufsgeheimnisträger der Schweigepflicht unterliegen, würde das Geheimnis in diesem Rahmen ggf. trotzdem offenbart werden. Das Bayerische Oberste Landesgericht stellte dazu bereits 1995 klar:
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„Es versteht sich von selbst, daß von dieser Definition auch die Weitergabe des Geheimnisses an einen Schweigepflichtigen erfaßt wird. Angesichts der nicht eingrenzbaren Vielzahl von Personen, die einer Schweigepflicht unterworfen sind, wäre im übrigen der Schutz des § 203 StGB illusorisch, wollte man die Mitteilung an jede von ihnen als nicht tatbestandsmäßig ansehen.“ (BayObLG, NJW 1995, S. 1623 ff.)
Die Schweigepflicht ist also auch in der Teambesprechung oder der Supervision zu wahren. Sofern der Fall aber anonymisiert vorgetragen wird, handelt es sich nicht um ein Offenbaren. Anonymisieren bedeutet, dass die Einzelangaben einer bestimmten Person nicht mehr oder nur unter unverhältnismäßig hohem Aufwand zugeordnet werden können. Sofern bei einer Teambesprechung die KollegInnen trotzdem erkennen können, um welche Person es sich handelt, ist eine Anonymisierung nicht möglich. Daher reicht es insbesondere in der internen Supervision in der Regel nicht, einfach den Namen wegzulassen oder Pseudonyme zu verwenden.
4.2 Befugnisse Es handelt sich aber nur um ein strafbares Verhalten, wenn das Geheimnis unbefugt offenbart wird. Eine Befugnis kann in der Praxis durch eine Einwilligung, eine gesetzliche Offenbarungspflicht oder das Vorliegen eines rechtfertigenden Notstands gegeben sein.
4.2.1 Einwilligung Die Einwilligung hat in der Praxis die größte Relevanz und wird dort überwiegend als „Schweigepflichtentbindung“ bezeichnet. Der Geheimnisinhaber erteilt damit die Erlaubnis, dass das anvertraute Geheimnis Dritten offenbart werden darf. Daher darf sie auch nicht nachträglich erteilt werden, sondern muss vorliegen, bevor das Geheimnis Dritten offenbart wird. Rechtlich gesehen handelt es sich um eine Einwilligung, mit der auf den Schutz für bestimmte Rechtsgüter verzichtet werden kann. So handelt es sich bei einer Operation in der Regel um eine gefährliche Körperverletzung – da die Patienten zuvor in der Regel ausdrücklich in die Operation eingewilligt haben, handeln die Ärzte nicht tatbestandsmäßig. Grundsätzlich kann jeder Mensch darüber selbst entscheiden, sofern er einwilligungsfähig ist. Die Einwilligungsfähigkeit ist gesetzlich nicht definiert und auch nicht mit der Geschäftsfähigkeit gleichzusetzen. Daher können auch Minderjährige bereits einwilligungsfähig sein. Die Einwilligungsfähigkeit setzt voraus, dass die betroffene Person die Bedeutung und Folgen der
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inwilligung erkennen und entsprechend handeln kann (vgl. BGHSt 4, S. 90; 23, E S. 1). Daher kann je nach Alter, Reifegrad, der Tragweite oder den Risiken die Einwilligungsfähigkeit unterschiedlich zu beurteilen sein. Beispiele:
Ein Tritt gegen das Schienbein beim Fußball stellt grundsätzlich eine Körperverletzung gem. § 223 StGB dar. Mit der Teilnahme am Spiel stimmen die SpielerInnen den Körperverletzungen zu, die dem Spiel üblicherweise innewohnen bzw. zu einem körperbetonten Spiel wie Fußball dazugehören. Nicht erfasst werden darüber hinaus gehende Handlungen, wenn z. B. ein Spieler einem anderen Spieler, der bereits am Boden liegt, absichtlich in das Gesicht tritt. Ein 10jähriges Mädchen wird daher beim Fußballspiel in die dem Spiel üblicherweise innewohnenden Verletzungen wirksam einwilligen können, wenn sie die Folgen der Einwilligung und die Risiken des Fußballspiels kennt. In diesem Fall könnte sie wirksam einwilligen. Handelt es sich hingegen um eine Brustvergrößerung, die ein 15jähriges Mädchen vornehmen möchte, wäre es fraglich, ob sie die Folgen und die Risiken der Einwilligung in den Eingriff abschätzen kann. ◄ Maßgeblich ist der individuelle Reifegrad, wobei die Frage der Urteilsfähigkeit nicht generell, sondern in Bezug auf den konkreten Eingriff zu bemessen ist. Es ist immer zu fragen, ob die minderjährige Person die Folgen ihres Handelns realistisch einschätzen kann. Daher ist es ratsam im Falle der Einwilligung Minderjähriger, die relevanten Aspekte zur Einschätzung der Einwilligungsfähigkeit zu dokumentieren. Ist die Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger nicht gegeben, so müssen grundsätzlich die Sorgeberechtigten zustimmen. Falsch ist hingegen die Annahme, dass die Sorgeberechtigten immer zustimmen müssen. Soweit die Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger zu bejahen ist, scheidet die Zustimmung der Sorgeberechtigten aus. Besteht hingegen keine Sicherheit hinsichtlich der Einwilligungsfähigkeit, ist die Einwilligung von den Sorgeberechtigten einzuholen. Der Inhalt einer Einwilligungserklärung bzw. Schweigepflichtentbindung ist gesetzlich nicht vorgegeben. Grundsätzlich sollten aber folgende Aspekte berücksichtigt werden: • „Wer erteilt die Schweigepflichtentbindung?“ Soweit die entbindende Person einwilligungsfähig ist, muss diese allein unterschreiben. Bestehen Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit, müssen alle Personensorgeberechtigten unterzeichnen.
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• Wen entbindet der Erklärende von der Schweigepflicht? Grundsätzlich ist es empfehlenswert, die Namen der konkreten Personen, die von der Schweigepflichtentbindung erfasst werden, ausdrücklich zu benennen. Ist dies nicht möglich oder sinnvoll, können z. B. auch Funktionen oder Tätigkeiten benannt werden (z. B. „der/die zuständige Schulsozialarbeiter/-in“), soweit dadurch der Personenkreis überschaubar bleibt bzw. nicht unangemessen groß wird (z. B. „alle Lehrer der Mörike-Gesamtschule“). In der Praxis sollte in jedem Einzelfall überlegt werden, für wen konkret die Schweigepflichtentbindung gelten soll. • Wofür wird die Entbindung erteilt? Der Zweck der Entbindung muss benannt werden, da eine Schweigepflichtentbindung mit einem allgemeinen Entbindungskontext nicht zulässig ist („entbinde ich von der Schweigepflicht“). Daher sollte überlegt werden, für welche Fälle […] überhaupt eine Schweigepflichtentbindung notwendig ist. Dies könnte beispielsweise Fragen des Kinderschutzes oder des Sozialverhaltens in der Gruppe betreffen („entbinde ich für folgende Angelegenheiten von der Schweigepflicht: …“). • Wem darf Mitteilung gemacht werden? Es ist nicht im Interesse des Entbindenden, dass das Geheimnis an jede Person weitergegeben werden darf. Die Schweigepflichtentbindung muss auch bestimmen, wem das Geheimnis mitgeteilt werden darf. Soweit dies nicht namentlich möglich oder sinnvoll ist, können Funktionen/Stellen/Tätigkeiten herangezogen werden. Zu beachten ist, dass dies möglichst konkret erfolgt. • Wovon entbindet der Erklärende? Eine strafrechtliche Einwilligung und eine datenschutzrechtliche Einwilligung werden häufig nicht genau voneinander unterschieden, sodass nicht klar wird, ob sich die Entbindungserklärung auf die Schweigepflicht oder auf den Datenschutz bezieht. Soweit beide Bereiche erfasst werden sollen (was rechtlich zulässig ist), muss dies aus der Erklärung deutlich hervorgehen. • Wie lange gilt die Schweigepflichtentbindung? Eine Schweigepflichtentbindung ist grundsätzlich unbefristet und kann jederzeit widerrufen werden, sodass es nicht auf eine Befristung ankommt. Grundsätzlich kann eine Befristung sinnvoll sein, gerade wenn die Schweigepflichtentbindung als Beratungsinstrument eingesetzt wird. Dies könnte immer ein Anknüpfungspunkt sein, um mit Schülerinnen und Schülern oder den Eltern regelmäßig ins Gespräch zu kommen. Darüber hinaus dient es dem jugendhilferechtlichen Ziel, die Entwicklung zu einer „eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) zu fördern, gerade wenn die Jugendlichen zwischenzeitlich einwilligungsfähig sind. Allerdings
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besteht das Risiko, dass die Schweigepflichtentbindung nicht erneut erteilt wird (obwohl sie jederzeit widerrufen werden könnte). (Patjens 2019, S. 26 f.). Insbesondere ist darauf zu achten, dass die Einwilligungserklärung nicht zu allgemein gehalten ist. Dies ist der Fall, wenn die betroffene Person nicht überschauen kann, welche Personen für welche Angelegenheiten von der Schweigepflichtentbindung betroffen sind, z. B. wenn alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer bestimmten Schule von der Schweigepflicht entbunden werden. Für die Person, die die Schweigepflichtentbindung unterzeichnet, wäre nicht abzusehen, welche Personen genau von der Entbindungserklärung betroffen wären. Von der Schweigepflicht entbunden wären dann zum Beispiel auch fachfremde Personen wie Hausmeister oder KantinenmitarbeiterInnen. Daher sollte die Schweigepflichtentbindung so konkret wie möglich formuliert werden.
4.2.2 Anzeigepflicht Eine gesetzliche Offenbarungspflicht liegt vor, wenn eine Straftat zur Anzeige gebracht werden muss. Die Anzeigepflicht ist in § 138 StGB normiert und geht daher der Schweigepflicht vor. § 138 StGB Nichtanzeige geplanter Straftaten (1) Wer von dem Vorhaben oder der Ausführung 1. (weggefallen) 2. eines Hochverrats …, 3. eines Landesverrats …, 4. einer Geld- oder Wertpapierfälschung …, 5. eines Mordes (§ 211) oder Totschlags (§ 212) … 6. einer Straftat gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § … 7. eines Raubes oder einer räuberischen Erpressung (§§ 249 bis 251 oder 255) oder 8. einer gemeingefährlichen Straftat in den Fällen der §§ 306 bis 306c … zu einer Zeit, zu der die Ausführung oder der Erfolg noch abgewendet werden kann, glaubhaft erfährt und es unterläßt, der Behörde oder dem Bedrohten rechtzeitig Anzeige zu machen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Strafbar ist die Nichtanzeige von Straftaten, die erst noch in der Zukunft liegen und noch abgewendet werden können. Für Straftaten in der Vergangenheit gibt es keine Anzeigepflicht, d. h. man macht sich nicht strafbar, wenn die Straftat nicht zur Anzeige gebracht wird. Es besteht keine allgemeine Pflicht zum „Denunziantentum“, vielmehr kommt es darauf an, dass die Straftat (bzw. der sog. „Erfolgseintritt“) durch eine Benachrichtigung der Behörde oder der
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bedrohten Person noch abgewendet werden kann. Von der drohenden Straftat muss „glaubhafte“ Kenntnis erlangt worden sein. Insofern braucht man keinen Gerüchten Glauben schenken oder Vorhaben, mit deren Verwirklichung nicht gerechnet wird (vgl. BGH, Beschluss v. 18.03.1977, Az. 5 StR 115/77; Urteil v. 31.03.1982, Az. 2 StR 641/81). Beispiel:
Der 17jährige N ist sauer auf seine Ex-Freundin, weil die nun mit einem anderen „herummacht“. Nach einer Feier ist er hochgradig alkoholisiert und aggressiv. Er erzählt seinen Freunden, dass er jetzt zu dieser „alten Schlampe“ gehen werde, um sie abzustechen. Seine Freunde halten ihn für zu betrunken und gehen davon aus, dass er den Weg von ca. 5 km in seinem Zustand zu Fuß nicht schaffen wird. ◄ Erfasst werden ausschließlich die aufgeführten Straftaten, sodass die Anzeigepflicht gerade nicht für alle Straftaten gilt. Für die Kinder- und Jugendarbeit sind aber nur wenige der genannten Straftaten von Bedeutung: so wird man am ehesten vom Raub oder räuberischen Erpressung (§§ 249 ff. StGB) erfahren – dies wäre z. B. das sog. „Abziehen“ – oder vielleicht von einer Brandstiftung (§§ 306 ff. StGB). Obwohl für die Kinder- und Jugendarbeit äußerst relevant, werden einige Straftaten gerade nicht erfasst, z. B. Körperverletzungsdelikte, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. Für diese Delikte besteht keine Anzeigepflicht. Als gesetzliche Offenbarungspflicht und damit als Befugnis im Rahmen der Schweigepflicht ist daher der Anwendungsspielraum eher gering.
4.2.3 Informationsanspruch der Sorgeberechtigten Von einer weitaus größeren Relevanz ist bei dem Informationsanspruch der Sorgeberechtigten auszugehen. Der elterlichen Sorge entspringt bereits aus Art. 6 Abs. 2 GG der Anspruch, über alle für die Ausübung der elterlichen Sorge relevanten Belange informiert zu werden (vgl. BVerfG, Urteil v. 09.02.1982, Az. 1 BvR 845/79). Insoweit geht beispielsweise auch der Informationsanspruch der Eltern der Schweigepflicht der SchulsozialarbeiterInnen oder LehrerInnen vor. Dies würde aber bedeuten, dass keine vertraulichen Gespräche zwischen SchülerInnen und SchulsozialarbeiterInnen möglichen wären, von denen die Eltern nicht erfahren würden/könnten. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht 1982 festgestellt:
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„Zu einem sinnvollen Zusammenwirken von Eltern und Schule bei der gemeinsamen Erziehung des Kindes gehört ein offenes gegenseitiges Vertrauensverhältnis. Der Informationsanspruch der Eltern bezieht sich grundsätzlich auch auf die Erkenntnisse der schulischen Berater. Deren Einsichten und Erfahrungen im Umgang mit dem Kinde in der Schule können gerade für die individuelle, den Eltern zuvörderst obliegende Erziehung von erheblicher Bedeutung sein. Wenn der Berater ein Vertrauensverhältnis zu dem Schulkinde findet, werden ihm—etwa in persönlichen Gesprächen—oft Umstände zur Kenntnis gelangen, die sich nicht auf den Schulsektor beschränken, sondern auch den intimen Familienbereich berühren. Alles dies kann Gewicht für die Erfüllung der elterlichen Erziehungspflicht haben. Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß in besonders gelagerten Fällen eine Information der Eltern zu Reaktionen führen kann, die im Interesse des Kindeswohls nicht zu verantworten sind. Die Probleme und Schwierigkeiten des Kindes können gerade in einem Elternhaus ihre Ursache haben, in dem kein Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kind mehr besteht (z. B. bei Kindesmißhandlungen). Es sind auch Fälle von Alkohol- und Drogensucht denkbar, in denen die Einschaltung der Eltern den Heilerfolg beeinträchtigen mag (vgl. K. Engler, Schweigerechte und Informationspflichten des Lehrers—am Beispiel von Drogenproblemen in der Schule betrachtet, RdJB 1979, S. 62 ff., S. 130 ff. [131 f.]). Hier kann es im Interesse des Kindes geboten sein, daß der Berater auch den Eltern gegenüber schweigt, um den Heilerfolg nicht zu gefährden und das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und dem Kinde nicht in Frage zu stellen. … Bei der hier in Frage stehenden Schweigepflicht der Berater geht es jedoch darum, daß den Eltern Informationen vorenthalten werden sollen, die für die individuelle Erziehung des Kindes von wesentlicher Bedeutung sein können. Die im Interesse des Kindeswohles gebotene Schweigepflicht der Berater kann deshalb nur in Ausnahmefällen das grundrechtlich gesicherte Informationsrecht der Eltern beschränken.“ (Bundesverfassungsgericht, Urteil v. 09.02.1982, Az. 1 BvR 845/79)
In § 8 Abs. 3 SGB VIII ist dies seit 1991 gesetzlich normiert, indem eine Beratung ohne Kenntnis der Eltern nur in einer Not- und Konfliktlage zulässig ist. Diese Konfliktlage ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eng auszulegen, d. h. es muss eine Kindeswohlgefährdung vorliegen. Freie Träger werden von dieser Regelung allerdings nicht erfasst, sondern regelt das Verhältnis von Staat und seinen Einrichtungen und Institutionen gegenüber den Sorgeberechtigten. Durch die geplante SGB VIII-Reform soll dieser Passus aber geändert und die Beschränkung auf eine Not- und Konfliktlage entfallen. Dies wäre auch sachgerecht, da gerade bei einer Einführung von Kinderrechten im Grundgesetz die Abwägung von Eltern- und Kinderrechen neu erfolgen muss und ansonsten eine Beratung ohne Kenntnis der Eltern durch staatliche Stellen nur in eng beschränkten Fällen zulässig wäre. Dem Ziel des SGB VIII, dass Kinder und Jugendliche zu eigenverantwortlichen Personen werden sollen, würde dies entgegenstehen.
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4.2.4 Rechtfertigender Notstand Eine weitere Befugnis ergibt sich, wenn ein sog. rechtfertigender Notstand gem. § 34 StGB vorliegt. Dahinter steckt der Gedanke, dass ein Verstoß gegen geltendes Recht gerechtfertigt sein kann, wenn eine drohende Gefahr für bestimmte Rechtsgüter abgewendet werden soll: § 34 StGB Rechtfertigender Notstand Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.
Eine Notstandlage ist gegeben, wenn es eine gegenwärtige Gefahr für die aufgezählten Rechtsgüter vorliegt und diese nur abgewendet werden kann, wenn die Schweigepflicht verletzt wird, d. h. es steht keine andere (sichere) Möglichkeit zur Gefahrenabwendung zur Verfügung. Eine Gefahr besteht, wenn aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit eines schädigenden Ereignisses besteht (vgl. BGHSt 18, S. 271; 48, S. 255). Die Gegenwärtigkeit setzt voraus, dass bei natürlicher Weiterentwicklung der Dinge der Schadenseintritt mindestens höchstwahrscheinlich ist, falls nicht Abwehrmaßnahmen getroffen werden (vgl. BGHSt 89, S. 176). Der Schadenseintritt muss also unmittelbar bevorstehen. Beispiel:
Schulsozialarbeiter S erfährt von einem Schüler, dass er an AIDS erkrankt und HIV positiv ist. Allerdings möchte er jetzt unbedingt mit seinem neuen Freund schlafen. Er will dabei aber kein Kondom benutzen und möchte seinem Freund ebenso wenig von seiner Krankheit erzählen. Vielmehr hofft er, dass alles schon gut gehen werde, da er ihn ja nicht gleich beim ersten Mal anstecken werde. Die Gefahrlage wäre hier zu bejahen, da durch den bevorstehenden Geschlechtsverkehr die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung mit AIDS für seinen Freund besteht. Ebenso ist diese Gefahr gegenwärtig – ohne Abwehrmaßnahmen würde es zum ungeschützten Geschlechtsverkehr kommen. Zwar ist die Ansteckungsgefahr statistisch gesehen beim einmaligen Geschlechtsverkehr nicht höchstwahrscheinlich oder gar sicher, allerdings kann dies nicht von der Statistik abhängig gemacht werden, da bereits der nächste Geschlechtskontakt zur Ansteckung führen könnte. ◄
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In der Praxis der Kinder- und Jugendarbeit ist die Einschätzung der Notstandslage nicht immer einfach. Da die bloße Möglichkeit des Schadens nicht ausreicht, muss aufgrund konkreter Anhaltspunkte und dem eigenen Fachwissen eine Prognose gestellt werden (vgl. Patjens und Patjens 2008, Rn. 335). § 34 StGB verlangt, dass die Gefahr nicht anders abgewendet werden kann. Es kommt darauf an, ob es Handlungsalternativen gibt, bei denen die Schweigepflicht nicht gebrochen werden braucht, um die Gefahr gleichermaßen sicher abzuwenden und die damit weniger einschneidend für die betroffene Person ist. Hat der Schulsozialarbeiter im vorgenannten Beispiel die Möglichkeit durch ein intensives Beratungsgespräch den Schüler davon abzuhalten, ungeschützten Geschlechtsverkehr mit seinem Freund zu haben, wäre dies eine gleichermaßen sichere Handlungsalternative. Dies ist in der Praxis besonders sorgfältig zu prüfen. Verlangt wird weiter, dass das bedrohte Interesse das beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegt. In dem oben genannten Beispiel müsste daher abgewogen werden, ob das Leben und die Gesundheit des Freundes (bedrohtes Interesse) das Geheimhaltungsinteresse des Schülers (beeinträchtigtes Interesse) wesentlich überwiegt. Im Hinblick auf die Wertigkeit der Rechtsgüter Leben und Gesundheit, die im Falle einer HIVInfektion beeinträchtigt werden, wäre ein wesentliches Überwiegen zu bejahen. Tatsächlich ist nach alledem der praktische Anwendungsbereich des rechtfertigenden Notstands in der Kinder- und Jugendarbeit auf eher wenige Fälle beschränkt. Denkbar wäre dies vor allem bei schweren Kindeswohlgefährdungen, in denen ein schnelles Handeln zum Schutz von Leib und Leben geboten ist. In Hinblick auf die anderen geschützten Rechtsgüter ist der Anwendungsbereich noch weiter eingeschränkt. So steht zwar auch die Ehre unter dem Schutz von § 34 StGB, jedoch ist ein wesentliches Überwiegen des bedrohten Interesses weitaus schwerer festzustellen. Daher dürfte der Anwendungsbereich von § 34 StGB in der Kinder- und Jugendarbeit vor allem außerhalb von Verstößen gegen die Schweigepflicht liegen, z. B. bei der Abwendung von Unglücken. Beispiel:
Die 15jährige A verletzt sich auf einer Jugendfreizeit schwer und hat eine stark blutende Wunde am Arm. Um die Blutung vorläufig stillen zu können, zerschneidet Sozialarbeiterin die Jacke von A. Die Zerstörung der Jacke wäre als Sachbeschädigung strafbar. In Hinblick auf die gegenwärtige Gefahr des Verblutens und eines Schockzustands bestand keine Zeit auf das Eintreffen des Notarztes zu warten. Das Leben und die Gesundheit der A überwiegen den Schutz des Eigentums an der Jacke deutlich. ◄
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5 Zeugnisverweigerungsrecht Das Zeugnisverweigerungsrecht beschreibt das Recht vor Gericht keine Aussage machen zu müssen. Grundsätzlich ist es eine Bürgerpflicht vor Gericht auszusagen und damit zur Sachverhaltsaufklärung beizutragen. Von dieser Pflicht kann nur in bestimmten Gründen Abstand genommen, wobei der Gesetzgeber persönliche und sachliche Gründe dafür anerkennt. Für die Kinder- und Jugendarbeit entsteht dann ein Problem, wenn ein Klient in dem Vertrauen auf das Bestehen der Schweigepflicht ein Geheimnis anvertraut, aber die betroffene MitarbeiterIn kein Zeugnisverweigerungsrecht geltend machen kann. Leider ist das Zeugnisverweigerungsrecht im Straf- und Zivilrecht unterschiedlich ausgestaltet. So heißt es in § 383 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO): „Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt: 1. der Verlobte einer Partei 2. der Ehegatte einer Partei, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht 2a. der Lebenspartner einer Partei, auch wenn die Lebenspartnerschaft nicht mehr besteht 3. diejenigen, die mit einer Partei in gerader Linie verwandt oder verschwägert, in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder bis zum zweiten Grad verschwägert sind oder waren; 4. Geistliche in Ansehung desjenigen, was ihnen bei der Ausübung der Seelsorge anvertraut ist 5. Personen, die bei der Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung von periodischen Druckwerken oder Rundfunksendungen berufsmäßig mitwirken oder mitgewirkt haben, über die Person des Verfassers, Einsenders oder Gewährsmanns von Beiträgen und Unterlagen sowie über die ihnen im Hinblick auf ihre Tätigkeit gemachten Mitteilungen, soweit es sich um Beiträge, Unterlagen und Mitteilungen für den redaktionellen Teil handelt; 6. Personen, denen kraft ihres Amtes, Standes oder Gewerbes Tatsachen anvertraut sind, deren Geheimhaltung durch ihre Natur oder durch gesetzliche Vorschrift geboten ist, in Betreff der Tatsachen, auf welche die Verpflichtung zur Verschwiegenheit sich bezieht.“
Anerkannte Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter werden in dieser Norm nicht ausdrücklich genannt. Jedoch werden unter Nummer 6 auch Personen, „denen kraft ihres Amtes, Standes oder Gewerbes Tatsachen anvertraut sind, deren Geheimhaltung durch ihre Natur oder durch gesetzliche Vorschrift geboten ist“, vom Zeugnisverweigerungsrecht erfasst. Da die anerkannten Sozialarbeiterinnen
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und Sozialarbeiter gem. § 203 StGB zur Verschwiegenheit gesetzlich verpflichtet sind, fallen sie unter diesen Personenkreis. Dies betrifft aber nur zivilrechtliche Verfahren, wobei insbesondere Verfahren vor dem Familiengericht eine berufliche Relevanz haben, z. B. Verfahren zur Entziehung der elterlichen Sorge nach § 1666 BGB. Völlig anders wird dies in § 53 Abs. 1 S. 1 Strafprozessordnung (StPO) für strafrechtliche Verfahren geregelt: „Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt 1. Geistliche … 2. Verteidiger des Beschuldigten … 3. Rechtsanwälte und Kammerrechtsbeistände, Patentanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer, Steuerberater und Steuerbevollmächtigte, Ärzte, Zahnärzte, Psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Apotheker und Hebammen … 3a. Mitglieder oder Beauftragte einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist; 3b. Berater für Fragen der Betäubungsmittelabhängigkeit in einer Beratungsstelle… 4. Mitglieder des Deutschen Bundestages, … 5. Personen, die bei der Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung von Druckwerken, Rundfunksendungen, Filmberichten oder der Unterrichtung oder Meinungsbildung dienenden Informations- und Kommunikationsdiensten berufsmäßig mitwirken oder mitgewirkt haben. …“
Die Formulierung in § 53 StPO enthält im Gegensatz zu § 383 ZPO kein Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Auch eine Regelung, in der durch Gesetz zum Schweigen verpflichtete Personen ein Zeugnisverweigerungsrecht geltend machen können, existiert nicht. Tatsächlich kommt es zu der Situation, dass vor Zivil- und Strafgerichten das Zeugnisverweigerungsrecht für anerkannte SozialarbeiterInnen unterschiedlich geregelt ist. Da die Aussagepflicht der Schweigepflicht vorgeht, sollte der Klient im Fall einer Straftat bzw. eines möglichen Strafverfahrens darauf hingewiesen werden, dass kein Zeugnisverweigerungsrecht besteht. Beispiel:
Der Jugendliche J erzählt Sozialarbeiterin S bei einem Gespräch im Jugendhaus, dass er in größerem Maße an dem örtlichen Drogenhandel beteiligt ist, obwohl er dabei ein sehr schlechtes Gewissen habe. Keinesfalls wolle er
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deswegen im Gefängnis landen und sich dadurch seine Zukunft verbauen. Sozialarbeiterin S steht zwar unter Schweigepflicht, müsste aber im Strafverfahren gegen den J aussagen, wenn sie als Zeugin vorgeladen werden würde. Daher sollte S den J darauf hinweisen, bevor J weitere Details preisgibt. ◄
6 Garantenstellung Grundsätzlich setzt die Strafbarkeit eine strafbare Handlung voraus. Dabei handelt es sich in der Regel um eine aktive Tat, in der ein Täter durch ein Tun zu einem sog. Taterfolg kommt. Dies ist z. B. der Fall, wenn ein Jugendlicher mit dem Messer einen anderen Jugendlichen im Streit ersticht. Das aktive Tun wäre in diesem Fall der Stich mit dem Messer, der zum Tod als Taterfolgt führt. Bei diesen Delikten handelt es sich um sog. Begehungsdelikte. Darüber hinaus sieht das Strafrecht aber auch die Möglichkeit vor, dass nicht durch eine aktive Tat, sondern durch das Unterlassen einer gebotenen Handlung ein Taterfolg herbeigeführt werden (sog. Unterlassungsdelikte). Strafbar ist in diesem Fall also die Passivität. Dahinter steckt der Gedanke, dass ein Taterfolg (z. B. die Tötung eines Menschen) auch herbeigeführt werden kann, wenn man etwas nicht tut, was man jedoch unbedingt hätte tun sollen. Wird einer ertrinkenden Person nicht der lebensrettende Rettungsring zugeworfen, führt dies zum Ertrinken. Ebenso führt es zum Tode, wenn die Mutter ihren neugeborenen Säugling nicht füttert. Entsprechend ist zwischen sog. echten und unechten Unterlassungsdelikten unterscheiden (Abb. 6). Echte Unterlassungsdelikte können alle Menschen begehen, weil hier eine Rechtspflicht verletzt wird, die sich an alle Personen richtet und eine bestimmte Handlung verlangen. Normiert wäre dies in § 323c Abs. 1 StGB, der sog. unterlassenen Hilfeleistung: Abb. 6 Systematik der Unterlassungsdelikte im Strafrecht. (Eigene Darstellung)
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„Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“
Erfasst werden hier Unglücksfälle, die ein schnelles Handeln von Dritten notwendig machen. Dies können z. B. Verkehrsunfälle sein, ebenso ertrinkende Personen im Badesee/Schwimmbad oder eine schwerverletzte Person, die dringend der medizinischen Versorgung bedarf. In diesen Fällen besteht für jede Person eine Pflicht einzugreifen, sofern dies im Einzelfall zumutbar ist, insbesondere ohne sich selbst erheblich in Gefahr zu bringen. So ist es regelmäßig zumutbar mit dem Telefon die Polizei oder andere Stellen zu informieren und Hilfe zu holen, erste Hilfe zu leisten oder Sicherungs- und Rettungsmittel (beispielsweise einen Rettungsring) einer ertrinkenden Person zuzuschmeißen. Nicht zumutbar ist es hingegen z. B. eine Person unter erheblicher Eigenfährdung aus einem brennenden Auto zu bergen. Die Pflicht zu helfen dauert so lange an, wie die Gefahrensituation besteht. Gefordert ist eine grundsätzliche menschliche Solidarität sich in Unglücksfällen gegenseitig zu helfen und ist damit für ein funktionierendes Gemeinwesen unabdingbar. (Grube, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, § 323c StGB Rn. 13). In der Kinder- und Jugendarbeit trifft diese Nothilfepflicht also generell alle Personen, auch die Jugendlichen ab 14 Jahren (Strafmündigkeitsgrenze, vgl. § 19 StGB) selbst. Die unechten Unterlassungsdelikte hingegen setzen voraus, dass im Einzelfall eine Pflicht besteht, den Schaden von einer bestimmten Person abzuwenden. Geregelt ist die Strafbarkeit in § 13 Abs. 1 StGB: „Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht.“
Die Strafbarkeit setzt voraus, dass die betroffene Person dafür einzustehen hat, dass ein bestimmter Taterfolg nicht eintritt (Garantenstellung). Aus der Garantenstellung entspringen Garantenpflichten, die zum Tätigwerden (insbesondere bei Gefahr) gegenüber der geschützten Person verpflichten (Schutzpflichten). Da es gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt ist, wann und wie eine solche Einstandspflicht für eine andere Person entsteht, hat sich dies im Laufe der Jahre durch die Rechtsprechung der Gerichte entwickelt. So können Garantenpflichten in folgenden Fällen entstehen:
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• Pflichten aus Übernahme. • Pflichten aus Gefahrenschaffung. • Pflichten aufgrund der Beherrschung von Gefahrenquellen. Die Pflichten aus der Gefahrenschaffung und der Beherrschung von Gefahrenquellen korrespondieren häufig mit der (zivilrechtlichen) Verkehrssicherungspflicht (siehe dazu auch Abschn. 3) und erfassen diese von der strafrechtlichen Seite. Daher kann die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht gleichzeitig auch die Verletzung von Garantenpflichten bedeuten und zu einer strafrechtlichen Sanktion führen, z. B. wenn die Jugendlichen auf dem Trampolin im Garten des Jugendhauses springen und dieses plötzlich zusammenstürzt, weil bestimmte tragende Teile durch die Witterungseinflüsse brüchig geworden sind. Neben der Kompensation des Schadens wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht kommt auch die Strafbarkeit wegen Körperverletzung aufgrund der Verletzung von Garantenpflichten in Frage. Einstands- und Schutzpflichten können auf verschiedenen Wegen übernommen werden. So können sich Schutzpflichten „institutionell“ begründen, insbesondere aus familiärer Verbundenheit oder aus den Schutzpflichten von Amtsträgern gegenüber den Bürgern. Im Kontext der Kinder- und Jugendarbeit ergeben sich für die Fachkräfte daraus keine Garantenpflichten, auch wenn sie für einen öffentlichen Träger tätig werden. Anders als bei Polizei, Feuerwehr oder Verwaltungsbehörden übernehmen Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit in der Regel keine Schutzpflichten für den Staat, auf dessen Einhaltung die Bürger vertrauen. (vgl. Weigend, in: Laufhütte u. a., StGB Leipziger Kommentar, § 13 Rn. 25). Anders ist ist dies nur im Handlungsfeld der Schulsozialarbeit einzuschätzen. Durch die Schulgesetze werden den Schulen Erziehungsbefugnisse verliehen, ebenso aber auch Pflichten wie z. B. die Aufsichtspflicht übertragen. Die Schule übernimmt daher grundsätzlich eine Schutzpflicht gegenüber den SchülerInnen, die entsprechend für alle an der Schule tätigen Personen gilt. Insbesondere den zuständigen MitarbeiterInnen im Jugendamt obliegen im Rahmen von § 8a Abs. 1 SGB VIII Garantenpflichten gegenüber ihren Klienten aus institutioneller Übernahme. Darüber hinaus können Garantenpflichten sich aus einer faktischen (tatsächlichen) Übernahme von Schutzpflichten ergeben. Diese können ausdrücklich oder konkludent, also durch schlüssiges Handeln, übernommen werden. Eine ausdrückliche Übernahme von Schutzpflichten erfolgt in der Regel durch Vertrag, z. B. durch eine Anmeldung zu einer Jugendfreizeit oder einem gemeinsamen Ausflug. Konkludentes Handeln setzt voraus, dass die Handlung
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einen erkennbaren Ausdruck des eigenen Willens darstellt. Dies ist der Fall, wenn der zurechenbare Anschein erweckt wird, dass man sich um die Abwendung bestimmter Gefahren kümmern werde sowie das (ggf. auch unreflektierte) Vertrauen des Schutzbedürftigen darauf, dass von der Fachkraft der entsprechende Schutz erbracht wird bzw. werden kann. (vgl. Bringewat, in: LPK-SGB VIII, § 8a Rn. 132 f.) In der Kinder- und Jugendarbeit wird also nicht in jedem Kontext eine Garantenstellung vorliegen, jedoch sollten sich die Fachkräfte im Klaren darüber sein, dass eine solche entstehen kann, wenn der Eindruck erweckt oder geäußert wird, „man werde sich schon um das Kind/den bzw. die Jugendliche kümmern“. Auch das Verhalten der Kinder und Jugendlichen kann dies zum Ausdruck bringen, z. B. das sie sich nach außen erkennbar sicher fühlen, risikobereiter sind, Nähe und Vertrauen entgegenbringen oder darauf verzichten, anderweitig Schutzmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen. (vgl. Weigend in: Laufhütte u. a., StGB Leipziger Kommentar, § 13 Rn. 34) Allein die tatsächliche Unterstützung in Notlagen reicht hingegen nicht. (vgl. BGHSt 26, S. 35, 39) Daher kann nicht nur bei Angeboten der Jugendsozialarbeit, sondern auch bei Angeboten der Jugendarbeit im Einzelfall eine Garantenstellung entstehen. Die Garantenstellung verpflichtet den sog. Garanten alles Zumutbare zu unternehmen, um den Taterfolg zu verhindern. Verlangt werden nur Schutzhandlungen, zu denen der Garant physisch und psychisch in der Lage ist, also nur soweit die tatsächliche Möglichkeit besteht, den Schadenseintritt zu verhindern. Rettungsmöglichkeiten, die der Garant nicht ausführen kann, sind irrelevant. Dies bedeutet in der Praxis der Kinder- und Jugendarbeit vor allem auch Hilfe von anderen Stellen heranzuziehen oder andere Fachkräfte einzuschalten. Dabei ist auf die vorhandene Hilfs- und Leistungsinfrastruktur zurückzugreifen.
7 Grundlagen des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung Nach Art. 6 Abs. 2 GG sind die Erziehung und Pflege der Kinder das natürliche Recht der Eltern und eine den Eltern obliegende Pflicht. Eltern können selbst entscheiden, wie sie die Erziehung und Pflege ausüben und haben dabei eine sehr weitreichende Freiheit (sog. Erziehungsprimat der Eltern). Der Staat darf daher grundsätzlich den Eltern nicht vorschreiben, wie sie die Erziehung auszuüben haben und z. B. welche Werte vermittelt werden. Trotzdem wacht der Staat über die Betätigung der Eltern, ihm obliegt in diesem Zusammenhang ein „Wächteramt“ (ausführlich dazu siehe auch Kap. 3 Rechtsgrundlagen der Kinder- und
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Jugendarbeit). Daraus ergeben sich aber in der Praxis erhebliche Probleme: Der Zeitpunkt, wann die Eltern tatsächlich diese Pflichten nicht mehr zum Wohl des Kindes wahrnehmen können und daher die staatliche Intervention notwendig ist, kann mitunter nur schwer bestimmt werden. Ziel ist es nicht, eine optimale Erziehung zu gewährleisten, sondern den Missbrauch der elterlichen Sorge zu verhindern. Grundsätzlich obliegt es dem Staat daher auch, zuvor entsprechende freiwillige (Hilfs-)Angebote zu unterbreiten, die von der Jugendarbeit (§ 11 SGB VIII) bis zu den Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) reichen können. Die Grenzen der elterlichen Sorge sind schließlich in § 1666 BGB festgelegt, sodass die elterliche Sorge vom Familiengericht entzogen oder eingeschränkt werden kann, wenn das Kindeswohl nicht (mehr) gewährleistet ist.
7.1 Schutzauftrag für Einrichtungen und Dienste nach § 8a Abs. 4 SGB VIII In diesem Zusammenhang ist es Aufgabe des Jugendamts entsprechende Hilfsangebote zu machen und bei einer Gefährdungslage zu intervenieren. Seit dem 01.10.2005 ist in § 8a SGB VIII als Verfahrensnorm geregelt, wie das Jugendamt bei Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte auf eine Kindeswohlgefährdung zu reagieren hat. Darüber hinaus sind Einrichtungen und Dienste zum Kinderschutz nur verpflichtet, wenn eine entsprechende Kinderschutzvereinbarung mit dem Jugendamt geschlossen wurde: (4) In Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist sicherzustellen, dass 1. deren Fachkräfte bei Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte für die Gefährdung eines von ihnen betreuten Kindes oder Jugendlichen eine Gefährdungseinschätzung vornehmen, 2. bei der Gefährdungseinschätzung eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzugezogen wird sowie 3. die Erziehungsberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche in die Gefährdungseinschätzung einbezogen werden, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht infrage gestellt wird. In die Vereinbarung ist neben den Kriterien für die Qualifikation der beratend hinzuzuziehenden insoweit erfahrenen Fachkraft insbesondere die Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte der Träger bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, wenn sie diese für erforderlich halten, und das Jugendamt informieren, falls die Gefährdung nicht anders abgewendet werden kann.
Für die Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit bedeutet es, dass eine Kinderschutzvereinbarung die Einrichtung zum Kinderschutz verpflichtet. Dies
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schließt allerdings nicht aus, dass auch Einrichtungen ohne Schutzvereinbarungen in Kindesschutzfällen aktiv werden. Trotzdem sollte es fachlicher Standard in jeder Einrichtung der Kinder- und Jugendarbeit sein, eine Kinderschutzvereinbarung mit dem Jugendamt zu schließen. Der Begriff der „Einrichtungen und Dienste“ bezieht sich dabei regelmäßig auf solche in freier gemeinnütziger oder freier privatgewerblicher Trägerschaft. Soweit sich diese in öffentlicher Trägerschaft befinden, ist eine entsprechende Vereinbarung nur notwendig, wenn sie nicht dem Zugriff des Jugendamts unterliegen oder nur eine leistungserbringende Funktion haben (vgl. DIJUF-Gutachten v. 30.03.2007 – J 6.100 My, JAmt 2007, S. 297). Grundsätzlich ist es nicht das Ziel, das Jugendamt zwangsläufig von der Schutzproblematik in Kenntnis zu setzen. Vielmehr obliegt es den Einrichtungen und Diensten, möglichst selbst Schutzmaßnahmen zu treffen und das Jugendamt erst einzuschalten, wenn die Gefährdungssituation nicht anders abgewendet werden kann. Zu Beginn müssen gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung der Einrichtung bzw. seinen MitarbeiterInnen bekannt werden. Der Begriff der „Kindeswohlgefährdung“ wird durch höchstrichterliche Rechtsprechung konkretisiert: „Die Gefährdung muss gegenwärtig und in solchem Maße vorhanden sein, dass bei weiterer Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des Kindeswohls mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.“ (BVerfG FamRZ 2009, 1472, 1474; 2012, 1127, 1129; NJW 2014, 2936 f; BGH NJW 2010, 1351 f; FamRZ 2012, 99, 101; 2017; 212 ff; OLG Naumburg FamRZ 2002, 1274 f).
Nicht ausreichend ist daher, wenn sich zukünftig die bloße Möglichkeit ergibt, dass eine erhebliche Schädigung eintritt. Ausgeschlossen sind damit auch geringfügige Beeinträchtigungen des Kindeswohls, die sich z. B. schon durch einen Umzug ergeben können. Das Kindeswohls orientiert sich an dem Erziehungsziel aus § 1 Abs. 1 SGB VIII, dass sich Kinder und Jugendliche zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten entwickeln sollen. Dies umfasst die damit verbundenen Lebensbedürfnisse, die je nach Entwicklungsstand dafür notwendigerweise erfüllt sein müssen. (vgl. OLG Brandenburg, FamRZ 2016, S. 1181) Gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung liegen vor, wenn es hinreichend substantiierte Informationen und Hinweise auf eine Gefährdungssituation gibt, die sich vom Kind/Jugendlichen oder dem Lebensumfeld, ggf. auch durch sonstige Dritte (z. B. aufgrund von Beobachtungen in der Öffentlichkeit) ergeben können.
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Da auch Fachkräfte in der Kinder- und Jugendarbeit nur unregelmäßig mit Kinderschutzfällen zu tun haben, sieht der § 8a Abs. 4 SGB VIII bei der Gefährdungseinschätzung in diesem Falle die Hinzuziehung einer „insoweit erfahrenen Fachkraft“ vor. Diese Fachkraft hat weitergehende Kenntnisse in der Gefährdungseinschätzung, die sich in der Regel neben einer zusätzlichen Qualifikation auch auf die einschlägigen Erfahrungen in diesem Bereich beziehen. Geläufig ist in diesem Zusammenhang auch die Bezeichnung als „Kinderschutzfachkraft“. Jede Person, die beruflich in Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen steht, hat darüber hinaus bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung im Einzelfall gegenüber dem örtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft (§ 8b Abs. 1 SGB VIII). Die Kinderschutzfachkraft berät bei der Gefährdungseinschätzung, nimmt sie aber nicht für die Fachkräfte der Einrichtung vor. Ebenso sollen die Eltern als auch das betroffene Kind in die Gefährdungseinschätzung einbezogen werden, allerdings nur, soweit dadurch der Schutz des Kindes nicht infrage gestellt wird (z. B. wenn von den Eltern die Gefahr ausgeht, weil sie ihr Kind körperlich misshandeln). Allerdings hat nur das Jugendamt eine Amtsermittlungspflicht, so dass eine weitergehende Sachverhaltsaufklärung, die auch Ermittlungen erfordert, von den Einrichtungen und Diensten nicht zulässig ist. Kann ohne weitere Ermittlungen jedoch der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt werden, ist ggf. das Jugendamt zu informieren. Große Anforderungen an die Fachlichkeit stellt es, bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfe hinzuwirken, soweit die Fachkräfte dies für erforderlich halten. Dabei geht es darum, den Erziehungsberechtigten den Weg ins Jugendamt oder anderen Beratungsangeboten zu erleichtern, sie über mögliche Hilfen aufzuklären und zu beraten oder bei der Kontaktaufnahme zu den entsprechenden Stellen zu unterstützen. Die Fachkräfte der Träger haben damit für die Inanspruchnahme von Hilfe eine wichtige Rolle. Neben der Beratungskompetenz muss vor allem auch ein Netzwerk an Kontakten vorhanden sein, um tatsächlich zum Jugendamt oder zu Beratungseinrichtungen Kontakte herstellen zu können. Die Benachrichtigung und Einschaltung des Jugendamts erfolgt erst dann, wenn die Gefährdung nicht anders abgewendet werden kann, also wenn die Eltern keine Hilfe bzw. keine ausreichende Hilfe annehmen wollen, dies aber nach Einschätzung der Fachkräfte erforderlich ist, um die Gefahrenlage abzuwenden. Dabei sind die gesetzlichen Bestimmungen zum Datenschutz und zur Schweigepflicht zu beachten. Entgegen der in der Praxis weitverbreiteten Ansicht enthält § 8a Abs. 4 SGB VIII keine Übermittlungsbefugnis. Diese ist aus dem jeweiligen Datenschutzrecht zu entnehmen bzw. es muss eine Befugnis vorliegen, um anvertraute Geheimnisse an Dritte mitzuteilen.
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7.2 Schutzauftrag für Fachkräfte nach § 4 KKG Da die Einrichtungen und Dienste nur zum Kinderschutz durch eine Kinderschutzvereinbarung verpflichtet werden können, entstehen hier teilweise erhebliche Schutzlücken, wenn keine Kinderschutzvereinbarungen geschlossen wurden. Gerade im Bereich der verbandlichen Jugendarbeit sind beispielsweise Vereinbarungen mit dem Jugendamt nicht flächendeckend verbreitet (Anmerkung: Leider gibt es derzeit keine aktuellen Zahlen zur Verbreitung von Kinderschutzvereinbarungen bei Jugendverbänden. In der Jugendverbanderhebung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) von 2008 hatte gerade einmal jeder fünfte Jugendverband eine Kinderschutzvereinbarung (S. 72) abgeschlossen. Diese Zahl dürfte zwischenzeitlich deutlich höher liegen – aber vor dem Hintergrund der grundsätzlich ehrenamtlichen Strukturen und einem noch immer geringeren Professionalisierungsgrad ist trotzdem davon auszugehen, dass hier eine erhebliche Schutzlücke besteht, vgl. Kap. 5 Jugendverbände). Mit dem Bundeskinderschutzgesetz hat der Gesetzgeber 2012 versucht zumindest eine Schutzlücke zu schließen, indem er durch die Einführung des § 4 KKG (Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz) manche Berufsgruppen unmittelbar zum Kinderschutz verpflichtete: (1) Werden 1. Ärztinnen oder Ärzten, Hebammen oder Entbindungspflegern oder Angehörigen eines anderen Heilberufes, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, 2. Berufspsychologinnen oder -psychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschlussprüfung, 3. Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberaterinnen oder -beratern sowie 4. Beraterinnen oder Beratern für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist, 5. Mitgliedern oder Beauftragten einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, 6. staatlich anerkannten Sozialarbeiterinnen oder -arbeitern oder staatlich anerkannten Sozialpädagoginnen oder -pädagogen oder 7. Lehrerinnen oder Lehrern an öffentlichen und an staatlich anerkannten privaten Schulen in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht infrage gestellt wird.
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(2) Die Personen nach Absatz 1 haben zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft. Sie sind zu diesem Zweck befugt, dieser Person die dafür erforderlichen Daten zu übermitteln; vor einer Übermittlung der Daten sind diese zu pseudonymisieren. (3) Scheidet eine Abwendung der Gefährdung nach Absatz 1 aus oder ist ein Vorgehen nach Absatz 1 erfolglos und halten die in Absatz 1 genannten Personen ein Tätigwerden des Jugendamtes für erforderlich, um eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen abzuwenden, so sind sie befugt, das Jugendamt zu informieren; hierauf sind die Betroffenen vorab hinzuweisen, es sei denn, dass damit der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen infrage gestellt wird. Zu diesem Zweck sind die Personen nach Satz 1 befugt, dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitzuteilen.
Die Angehörigen der aufgeführten Berufe werden durch diese Norm unmittelbar zum Kinderschutz verpflichtet, im Zusammenhang mit der Kinder- und Jugendarbeit vor allem anerkannte SozialarbeiterInnen. Nicht erfasst werden hingegen andere relevante Berufsgruppen, die häufig in der Kinder- und Jugendarbeit tätig sind, z. B. ErzieherInnen, HeilpädagogInnen, Diplom-PädagogInnen etc. Dazu führt die Gesetzesbegründung aus: „Der Anwendungsbereich wird auf solche Berufsgeheimnisträger begrenzt, die von ihrer beruflichen Tätigkeit her in einem unmittelbaren Kontakt zu Kindern und Jugendlichen stehen oder stehen können und von ihrer Ausbildung her zur Erörterung der einschlägigen Problemlagen mit den Eltern befähigt sind, also in erster Linie auf Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten und Sozialpädagen/Sozialarbeiter. Eine noch weitergehende Differenzierung der Berufsgruppen erscheint nicht sachgerecht und würde die gerade für einen wirksamen Kinderschutz notwendige Rechtssicherheit und Rechtsklarheit gefährden.“ (Deutscher Bundestag, BT-Drs. 17/6256, S. 19)
Das Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte verpflichtet diese Berufsgruppen (ähnlich aufgebaut wie § 8a SGB VIII) zur Gefährdungseinschätzung zusammen mit den Personensorgeberechtigten und dem Kind/Jugendlichen, wobei ein Anspruch auf Beratung durch eine Kinderschutzfachkraft besteht. Sofern das Hinwirken auf die Inanspruchnahme von Hilfe erfolglos geblieben ist und die Fachkraft das Tätigwerden des Jugendamts für erforderlich hält, muss das Jugendamt informiert werden. Insofern dürfen sowohl Sozialdaten als auch anvertraute Geheimnisse (§ 203 StGB) weitergegeben werden, sofern die Betroffenen darüber zuvor informiert wurden und dadurch nicht der wirksame Schutz des
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Kindes/Jugendlichen infrage gestellt wird. Im Gegensatz zu § 8a Abs. 4 SGB VIII enthält § 4 Abs. 3 KKG eine ausdrückliche Befugnis zur Weitergabe der entsprechenden Daten sowie der Offenbarung von anvertrauten Geheimnissen gegenüber dem Jugendamt. (vgl. Deutscher Bundestag, BT-Drs. 17/6256 S. 20) (Abb. 7). Adressat
Einrichtungen und Dienste
Fachkräe
Norm
§ 8a Abs. 4 SGB VIII
§ 4 KKG
Voraussetzung: Kinderschutzvereinbarung!
Inhalt
1. Bekanntwerden gewichger Anhaltspunkte. 2. Gefahrenabschätzung im Fachteam (aber: keine Sachverhaltsermilung!). a. Einbeziehung einer insoweit erfahrenen Fachkra. b. Einbeziehung der Personensorgeberechgt en und des Kindes bei der Gefahreneinschätzung, soweit dadurch der wirksame Schutz nicht in Frage gestellt wird. 3. Hinwirken auf Hilfe, soweit diese für erforderlich gehalten wird. 4. Informaon des Jugendamtes, wenn die Gefahr nicht anders abgewendet werden kann.
1. Zugehörigkeit zu einer der genannten Berufsgruppen (z. B. staatlich anerkannte SozialarbeiterInnen). 2. Bekanntwerden gewichger Anhaltspunkte bei Ausübung der beruflichen Tägkeit. 3. Erörterung der Situaon mit dem Kind und den Personensorgeberechgten. 4. Hinwirken auf Hilfe, soweit diese für erforderlich gehalten werden und der wirksame Schutz des Kindes/Jugendlichen dadurch nicht in Frage gestellt wird. Abs. 2 5. Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkra. Abs. 3 6. Soweit die Gefahr durch eine Maßnahme nach Abs. 1 nicht abgewendet werden kann und soweit es für erforderlich gehalten wird, ist das Jugendamt zu informieren. Auf die Informaon des JA ist hinzuweisen, soweit dadurch nicht der wirksame Schutz in Frage gestellt wird.
Abb. 7 Übersicht Kinderschutz in der Kinder- und Jugendarbeit. (Eigene Darstellung)
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7.3 Anspruch auf Beratung gem. § 8b SGB VIII Unabhängig vom Bekanntwerden oder dem Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung beinhaltet § 8b Abs. 1 SGB VIII einen Beratungsanspruch, der sich an einzelne Personen richtet. So regelt Abs. 1, dass „Personen, die beruflich in Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen stehen, … bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung im Einzelfall gegenüber dem örtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft“ haben. Unabhängig vom Vorliegen einer Kinderschutzvereinbarung besteht hier ein individueller Rechtsanspruch auf Beratung, die an alle Personen adressiert ist, die beruflich in Kontakt mit Kindern und Jugendlichen sind. Die Beschränkung auf den beruflichen Kontakt schließt allerdings alle Personen aus, die ehrenamtlich mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Auf der anderen Seite spielt es jedoch keine Rolle, welcher Art dieser berufliche Kontakt ist – daher beschränkt sich der Beratungsanspruch nicht auf Personen, die im pädagogischen Kontext mit Kindern arbeiten. Erfasst werden auch Personen außerhalb der Jugendhilfe, z. B. MitarbeiterInnen der Schulmensa oder die Hausmeisterin der Schule. Ausreichend ist ein Beratungsbedarf für einen konkreten Einzelfall, sodass es – im Gegensatz zu § 8a Abs. 4 SGB VIII – gerade nicht darauf ankommt, dass gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen. Dabei ist jedoch in der Praxis zu beachten, dass sich aus § 8b Abs. 1 SGB VIII keine datenschutzrechtliche Übermittlungsbefugnis ergibt, sodass die Fallschilderung in der Regel anonymisiert/pseudonymisiert erfolgen muss.
7.4 Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses Neben dem Abschluss einer Kinderschutzvereinbarung ist die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses ein wichtiger institutioneller Beitrag zur Wahrnehmung des Schutzauftrags. So regelt § 72a Abs. 2 und 4 SGB VIII, dass öffentliche Träger der Jugendhilfe sicherzustellen haben, dass keine einschlägig vorbestraften MitarbeiterInnen bei freien Trägern tätig sind: „(2) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen durch Vereinbarungen mit den Trägern der freien Jugendhilfe sicherstellen, dass diese keine Person, die wegen einer Straftat nach Absatz 1 Satz 1 rechtskräftig verurteilt worden ist, beschäftigen. … (4) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen durch Vereinbarungen mit den Trägern der freien Jugendhilfe […] sicherstellen, dass unter deren Verantwortung
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keine neben- oder ehrenamtlich tätige Person, die wegen einer Straftat nach Absatz 1 Satz 1 rechtskräftig verurteilt worden ist, in Wahrnehmung von Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe Kinder oder Jugendliche beaufsichtigt, betreut, erzieht oder ausbildet oder einen vergleichbaren Kontakt hat. …“
Die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses zielt darauf ab, dass von den MitarbeiterInnen in der Jugendhilfe keine Gefahr für die Klienten ausgeht. Gerade weil die Gefahr besteht, dass Menschen mit einer sexuellen Präferenz für Kinder und Jugendliche im Bereich der Jugendhilfe tätig werden, um sich so einen Zugang zu möglichen Opfern zu verschaffen, wurde das SGB VIII durch das Bundeskinderschutzgesetz zum 01.10.2012 geändert: „Die Änderungen in § 72a tragen dem besonderen Schutzbedürfnis von Kindern und Jugendlichen gerade mit Blick auf Sexualstraftaten Rechnung, die wegen der Art, Dauer und Intensität des Kontakts ein besonderes Vertrauensverhältnis zu Personen außerhalb der Familie aufbauen. Dies eröffnet möglichen Tätern „Zugänge“ außerhalb des unmittelbaren elterlichen Einflussbereichs. Der Auftrag des Staates zum Schutz von Minderjährigen wird durch die Tatsache verstärkt, dass die Kontaktaufnahme zu Kindern und Jugendlichen im Kontext der Erbringung staatlicher Aufgaben und Leistungen erfolgt. In Umsetzung dieser besonderen staatlichen Schutzpflicht liegt der Regelung die Intention zugrunde, über die Vorlage von erweiterten Führungszeugnissen einschlägig vorbestrafte und damit ungeeignete Personen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe von der Beaufsichtigung, Betreuung, Erziehung oder Ausbildung von Kindern und Jugendlichen auszuschließen.“ (Deutscher Bundestag, BT-Drs. 17/6256, S. 24). Kinder und Jugendliche sollen vor Übergriffen durch haupt-, neben- oder ehrenamtlich Tätige in der Kinder- und Jugendarbeit geschützt werden, die bereits einschlägige Vorstrafen – insbesondere wegen Verletzung der Fürsorgepflicht (§ 171 StGB), Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 ff. StGB) oder der Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB) – aufweisen. Im Gegensatz zu einfachen Führungszeugnissen enthält das erweiterte Führungszeugnis gem. § 32 Abs. 5 i. V. m. Abs. 2 Nr. 3–9 Bundeszentralregistergesetz (BZRG) insbesondere auch • • • •
zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafen von nicht mehr als zwei Jahren Geldstrafen von nicht mehr als 90 Tagessätzen Freiheitsstrafen von nicht mehr als drei Monaten Verurteilungen, in den Maßregeln der Besserung und Sicherung in Verbindung mit Erziehungsmaßregeln angeordnet worden sind.
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Die öffentlichen Träger der Jugendhilfe sind verpflichtet, in Vereinbarungen mit freien Trägern sicherzustellen, dass keine Personen tätig werden, die entsprechenden Vorstrafen aufweisen. Es bietet sich an, dass dies in der Kinderschutzvereinbarung aufgenommen und nicht durch eine separate Vereinbarung geregelt wird. Allerdings sind freie Träger nicht verpflichtet, eine solche Vereinbarung abzuschließen und sich damit zu verpflichten, von allen Mitarbeitenden die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses zu verlangen. Da die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses sowohl mit Kosten als auch mit erheblichen Verwaltungsaufwand verbunden ist, sind nicht alle Träger bereit die Vorlage zu verlangen. Dabei können gerade in Hinblick auf die Kosten auch Regelungen in der Vereinbarung getroffen werden, z. B. dass die Kosten für die Erteilung eines erweiterten Führungszeugnisses i. H. v. 13 EUR ganz oder teilweise vom öffentlichen Träger übernommen werden. In der Praxis sollte immer die Vorlage eines aktuellen Führungszeugnisses verlangt werden, ebenso wie die erneute Vorlage eines aktuellen Führungszeugnisses in regelmäßigen Abständen. Alle notwendigen Informationen zu den Kosten, der Antragstellung oder Inhalt können der Website des Bundesamts für Justiz entnommen werden.
8 Übungsfragen Aufsichtspflicht a. Was sind die rechtlichen Grundlagen der Aufsichtspflicht? b. Wie wird die Aufsichtspflicht übernommen? Unter welchen Voraussetzungen ist man auf Freizeiten oder im Rahmen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit aufsichtspflichtig? c. Wer übernimmt die Aufsichtspflicht – der Träger, die Teamleitung, einzelne Teammitglieder, alle zusammen? d. Können Minderjährige auch die Aufsichtspflicht übernehmen, z. B. minderjährige Teamer? Wenn ja, unter welchen Voraussetzungen? e. Welche Pflichten sind im Rahmen der Aufsichtspflicht zu erfüllen? f. Welche Informationen sollten erhoben werden? g. Wonach bemisst sich die tatsächliche Aufsichtsführung? h. Welche Sanktionen sind möglich, welche sind nicht zulässig? i. Inwieweit haftet der Träger für Aufsichtspflichtverletzungen seiner MitarbeiterInnen?
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Schweigepflicht a. Unter welchen Voraussetzungen ist die Verletzung der Schweigepflicht strafbar? b. Welche Auswirkung hat die Schweigepflicht bzw. die ständige Rechtsprechung zur Schweigepflicht (z. B. BayObLG, NJW 1995, S. 1623 ff.) auf die Durchführung der Supervision? c. Unter welchen Voraussetzungen darf die Schweigepflicht gebrochen werden? Was bedeutet das für die Kinder- und Jugendarbeit? d. Inwieweit müssen die Eltern darüber informiert werden, wenn die Kinder im Rahmen der Einzelhilfe von der Schulsozialarbeiterin beraten werden? Rechtliche Grundlagen des Schutzauftrags a. Welche Bedeutung hat der Schutzauftrag für die Kinder- und Jugendarbeit? b. Was sind die wesentlichen Rechtsgrundlagen für den Schutzauftrag? c. Inwieweit werden freie Träger vom Schutzauftrag erfasst? d. Was unterscheidet § 4 KKG von § 8a SGB VIII?
Literatur Deutscher Bundestag. 2011. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG), Drucksache 17/6256, Berlin. Fischer, Thomas. 2018. Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 65. Aufl. München: C.H. Beck. Freymann, Hans-Peter, und Wolfgang Wellner. 2017. jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 323c StGB 1. Überarbeitung (Stand: 21.08.2017). Zit.: Bearbeiter, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht. Kunkel, Peter Christian, und Jan Kepert. 2019. Sozialgesetzbuch VIII Kinder- und Jugendhilfe, Lehr- und Praxiskommentar, 7. Aufl. Baden-Baden. Zit.: Bearbeiter, in: LPK-SGB VIII. Laufhütte, Heinrich Wilhelm, Ruth Rissing-van Saan, und Klaus Tiedemann. 2007. Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar; Großkommentar, Bd. 1: Einleitung; §§ 1–31, 12. Aufl. Berlin. Zit.: Bearbeiter, in: Laufhütte u. a., StGB Leipziger Kommentar. Palandt, Otto. 2018. Bürgerliches Gesetzbuch, 77. Aufl. München: Beck. Zit.: Bearbeiter, in: Palandt, BGB. Patjens, Rainer. 2019. Rechtliche Rahmenbedingungen. In: Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, Regionalstelle Sachsen-Anhalt. Datenschutz und Schweigepflicht in der Schulsozialarbeit – Eine Orientierung für Sachsen-Anhalt, 2. Aufl, Magdeburg. Patjens, Rainer, und Tina Patjens. 2018. Sozialverwaltungsrecht für die Soziale Arbeit, 2. Aufl. Baden-Baden: Nomos.
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Literatur zur Vertiefung Bayerischer Landesjugendring. 2011. Bauwagen als Jugendtreffpunkt. Beurteilungen und Hinweise, Rechtsgutachten, Praxisbeispiele. Busch, M. 1996. Aufsichtspflicht und Haftung in der Jugendhilfe. Zentralblatt für Jugendrecht 11:456–464. Hundmeyer, S. 2015. Aufsichtspflicht in Kindertageseinrichtungen, 9. Aufl. Kronach: Carl Link. Kepert, Jan. 2019. Aufsichts-und Verkehrssicherungs-pflichten bei deroffenen K inderundJugendarbeitnach § 11 SGB VIII, GutachterlicheStellungnahme für die Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten Baden-Württemberg e. V. (AGJF). Stuttgart. https:// agjf.de/files/cto_layout/Material/Puplikationen-agjf/Rechtsgutachten%20AGJF%20 Aufsichtspflicht%20Verkehrssicherungspflicht%20OKJA.pdf. Zugegriffen: 04. Febr. 2020. Kunkel, P.-C. 2013. Schulsozialarbeit zwischen Elternrecht und Schweigepflicht. RdJB 1:95–100. Lorenz, A. 2012. Aufsichtspflicht und Haftung im Bereich der Erlebnispädagogik. Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe 1:4–13. Papenheim, G. 2008. Schweigepflicht – Datenschutz und Zeugnisverweigerungsrecht im sozial-caritativen Dienst. Freiburg im Breisgau: Lambertus. Schruth, Peter, und Titus Simon. 2018. Strafprozessualer Reformbedarf des Zeugnisverweigerungsrechts in der Sozialen Arbeit – Am Beispiel der sozialpädagogischen Fanprojekte im Fußball, Rechtsgutachten, Frankfurt a. M. https://www.sozialraum.de/ assets/files/praxis/ZEUGNISVERWEIGERUNGSRECHT%20Gutachten%20KOS%20 Endfassung%202018.pdf. Zugegriffen: 20. Febr. 2020.
Projektarbeit als Arbeitsform und Methode in der Kinder- und Jugendarbeit Thomas Meyer
Zusammenfassung
Projektarbeit ist aus dem Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit nicht mehr wegzudenken, was auch gute Gründe hat. So erfüllen Projekte eine durchaus wichtige Funktion in den vielfältigen Handlungsformen einer freizeitorientierten, sozialpädagogischen Arbeit mit jungen Menschen. In dem Beitrag wird zunächst der Frage nachgegangen, wie ein Projekt definiert wird und was Projektarbeit originär auszeichnet. Daraufhin wird geklärt, welche entscheidenden Chancen der Einsatz von Projekten in der Kinderund Jugendarbeit mit sich bringt. Allerdings sollen auch Nachteile aufgezeigt werden. Um einen größtmöglichen Nutzen aus der Projektarbeit ziehen zu können, sind letztendlich jedoch vor allem zwei Dinge elementar: Erstens, ein professionelles und gut organisiertes Projektmanagement, zweitens, eine durchdachte und an den Regeln der empirischen Sozialforschung orientierte Projektevaluation. Beide Kernmerkmale guter Projektarbeit – sowohl die Grundlagen des Projektmanagements als auch die Anforderungen an eine fundierte Projektevaluation – werden in diesem Beitrag intensiv diskutiert.
T. Meyer (*) Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_10
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1 Einleitung Das Thema Projektarbeit nimmt eine prominente Stellung in der Kinder- und Jugendarbeit ein, da Projekte als eine für dieses Handlungsfeld typische Arbeitsform verstanden werden können. Im Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit (Deinet/Sturzenhecker 2005, 2013) wird das Thema Projektarbeit vermutlich deswegen auch in das Kapitel „Methoden“ eingeordnet. Projekte erfüllen in dem vorwiegend freizeitpädagogisch geprägten Handlungsfeld der Kinderund Jugendarbeit zentrale Zielfunktionen. Mithilfe von Projekten können neue, innovative Angebote oder Maßnahmen in einem zeitlich begrenzten Rahmen „getestet“ und systematisch evaluiert werden. Die zeitliche Begrenzung von Projekten bietet sich darüber hinaus an, um bestimmte Zielgruppen anzusprechen, die mit verbindlicheren Angebotsformen nur schwer oder gar nicht erreicht werden können. Projekte sind darüber hinaus als pädagogische Arbeitsform hochgradig geeignet, um jungen Menschen vielfältige Erfahrungen und den Erwerb von Kompetenzen zu ermöglichen. Dieser Beitrag zum Thema Projekte in der Kinder- und Jugendarbeit rückt zum einen den pädagogischen Nutzen von Projektarbeit ins Zentrum der Betrachtung. Eine solche Perspektive zeigt, dass viele Ziele der Kinder- und Jugendarbeit besonders gut im Rahmen von Projektarbeit realisiert werden können. Auf der anderen Seite sollen aber auch Nachteile von Projektarbeit diskutiert werden, welche sich wiederum vor allem an dem typischen Charakter von Projekten festmachen lassen, beispielsweise die temporäre Befristung oder die Konzentration auf vordefinierte Ziele. Im Zentrum des Beitrags stehen jedoch insbesondere die Herausforderungen, die Projektarbeit mit sich bringt. Diese wurzeln einerseits in der systematischen Planung und Durchführung von Projekten, weil hierfür besondere Kenntnisse und Kompetenzen im Bereich Projektmanagement erforderlich sind. Andererseits ist es notwendig, Projekte mit möglichst wissenschaftlichem Anspruch zu evaluieren, sodass die Durchführenden auch über ein entsprechendes Rüstzeug im Bereich der Methoden der empirischen Sozialforschung verfügen sollten. Beide Herausforderungen – Projektmanagement und Projektevaluation – sind untrennbar miteinander verbunden, sodass Projektarbeit besondere Fähigkeiten und Kenntnisse von den in der Kinder- und Jugendarbeit Tätigen abverlangt. Da Projekte im Grunde genommen immer auch von ihrem Abschluss (Zielerreichung) her gedacht werden müssen, kommt dem Thema Projektevaluation in diesem Beitrag eine besondere Bedeutung zu. Die hier dargestellten Hilfestellungen sollen es Projektverantwortlichen in der Kinder- und Jugendarbeit ermöglichen, Projekte von
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Anfang an gut zu planen, um möglichst verwertbare und messbare Ergebnisse erzielen zu können. Nur so können die Potenziale der Projektarbeit größtmöglich ausgeschöpft werden.
2 Historische und ideengeschichtliche Einordnung von Projektarbeit: Von der Reformpädagogik zur Effektivitäts- und Effizienzorientierung Wolfgang Antes (2010) eröffnet sein Buch über Projektarbeit mit der Frage: Warum hat sich Projektarbeit als Methode in pädagogischen Arbeitsfeldern historisch so erfolgreich entwickelt? Dazu gibt er zwei Antworten: Einerseits hat sich der unmittelbare Nutzen der Projektarbeit zunehmend aufgrund eines Bedarfs an innovativen Lösungen im Erziehungs- und Bildungswesen herauskristallisiert. Andererseits lässt sich die „Karriere“ der Projektarbeit aber auch auf eine mehr und mehr auf Effektivitäts- und Effizienzkontrolle ausgerichtete Sozial- und Bildungspolitik zurückführen. Gerade Projekte passen hierbei nahezu „perfekt“ zu diesem Trend, weil sie sowohl eine Effektivitätskontrolle, d. h. eine Kontrolle der Zielerreichung, als auch eine Effizienzkontrolle, d. h. die Kontrolle der Ziel-Mittel- bzw. Kosten-Nutzen-Relation, ermöglichen (zur Unterscheidung von Effektivität und Effizienz siehe Beywl/Schepp-Winter 1999, S. 31). Betrachtet man die aktuelle Verwendung des Begriffs „Projekt“, wird deutlich, dass diese Arbeitsform in vielfältiger Art und Weise Einzug in ganz verschiedene Sphären des Bildungswesens, der industriellen Arbeitswelt und der Sozialen Arbeit gehalten hat. Als Beispiele nennt Antes (2010, S. 8 ff.) Schulen und Hochschulen, Unternehmen und Betriebe sowie größere sozialwirtschaftliche Organisationen und kleinere soziale Einrichtungen. Allen diesen Feldern ist gemeinsam, dass Projekte häufig als „Testverfahren für notwendige Erneuerungen“ (ebd., S. 8) fungieren. Historisch gesehen lässt sich die Methode Projektarbeit dabei auf reformpädagogische Bestrebungen im Bildungswesen vor etwa hundert Jahren in den westlichen Industrienationen zurückführen: „Die Methode der Projektarbeit geht zurück auf erziehungswissenschaftliche Diskussionen an Hochschulen und Schulen in Europa und den USA. Ziel ist es hierbei immer gewesen, Lernende zu befähigen, erlerntes Wissen in praktische Tätigkeit umzusetzen und die Ergebnisse zu überprüfen. Die Barriere zwischen der Vermittlung von Wissen und dessen Anwendung im Alltag sollte überwunden werden – oder gar nicht erst entstehen.“ (ebd.)
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Der Begriff „Projekt“ tauchte beispielsweise als Synonym für das „selbstständige Lösen von Aufgaben nach einem Plan“ (ebd., S. 8 f.) im Jahr 1900 an der Columbia University in den USA auf. Auch in Europa ließen sich ähnliche Entwicklungen beobachten, etwa bei Kurt Hahn, der die Projektidee als expliziten Bestandteil seines Entwurfs einer erlebnisorientierten Pädagogik ausformulierte. Hahn zufolge „stellen Projekte eine Möglichkeit dar, die ‚Lust am Selbstgeschaffenen´ zu fördern“ (ebd., S. 9). Im Bereich der Wirtschaft wird die Projektidee schließlich nach und nach als Innovationsmotor und Organisationsform für Forschung und Entwicklung entdeckt. Eine Renaissance erlebte die Projektarbeit schließlich in den sozialen, ökologischen, kulturpädagogischen, soziokulturellen und emanzipatorischen Bewegungen der 60er, 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts (vgl. Antes 2010, S. 9; Kascha 2013, S. 410). Viele alternative Bewegungen setzten auf Initiativen und Selbstorganisation; es entstand eine Vielzahl an „Projekten“, die auf eine soziale und gesellschaftliche Erneuerung abzielten: „In entsprechenden Projekten sollten experimentelle neue Wege erprobt werden, die in den bekannten Institutionen und Verbänden nicht möglich erschienen. Getragen wurde dieser experimentelle Impuls vom Wunsch, sich zu engagieren und Lebensverhältnisse selbst neu zu gestalten.“ (Antes 2010, S. 9f.)
Viele dieser damaligen Projekte manifestieren sich noch heute in ganz unterschiedlichen Einrichtungen der kulturellen Bildung, politischer Arbeit und sozialen Teilhabe, etwa in sogenannten soziokulturellen Zentren (vgl. May 2013, S. 743). Schließlich entwickelte sich die Projektidee sowohl im Bildungsund Sozialwesen als auch in der Wirtschaft zunehmend zu einem Schlüsselprinzip der Organisation von Innnovationsprozessen. In der Wirtschaft wurde diese Entwicklung vor allem stimuliert durch steigenden Innovationsdruck, die zunehmende Bedeutung von Qualitätsmanagement sowie durch neue Produktions- und Fertigungsmodelle (z. B. Gruppenarbeit). Dies hatte direkte Auswirkungen auf das Bildungswesen, weil im Zuge des Wandels der Arbeitswelt zunehmend organisatorische und soziale Kompetenzen bei den gesuchten Fachkräften nachgefragt wurden. Entsprechend wurden Ansätze eines projektförmigen Unterrichts in den Schulen immer wichtiger. Die wachsende Bedeutung von Projektarbeit in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit geht hingegen auch auf finanzielle Restriktionen aufgrund knapper werdender öffentlicher Mittel in Verbindung mit einer zunehmenden Effektivitäts- und Effizienzorientierung zurück. Hier erfüllen Projekte zwei verschiedene Funktionen: Zum einen wird pauschale Finanzierungen zunehmend mit Projektfinanzierung kombiniert, zum
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anderen kann sowohl die Effektivität als auch die Effizienz sozialer Maßnahmen und Angebote in Verbindung mit Zielvorgaben besser „gemessen“ und überprüft werden. Entsprechend gehören Kenntnisse und Kompetenzen im Bereich Projektarbeit und Projektmanagement heute zur „Basisqualifikation“ von Fachkräften in sozialwirtschaftlichen Organisationen. (vgl. Antes 2010, S. 10; Kascha 2005, S. 280).
3 Zentrale Merkmale von Projektarbeit: Definierte Ziele, Begrenzung, Neuartigkeit sowie eine typische Organisationsform Der Begriff „Projekt“ leitet sich aus dem lateinischen Verb „proicere“ ab und bedeutet „vorstrecken“ oder „vorwärtswerfen“. Im Französischen bedeutet das Verb „projeter“ wörtlich übersetzt „nach vorne werfen“. Alltagssprachlich könnte man das Wort „Projekt“ mit „Vorhaben“ übersetzen. (vgl. Antes 2010, S. 13) Damit geht einher, dass jedes Projekt quasi ein Vorhaben mit „neuartigem Charakter [ist], jedenfalls keine Routineangelegenheit“ (ebd.). Entscheidende Definitionsmerkmale sind die „Einmaligkeit“ und die Begrenzung bzw. Befristung, die sich auf verschiedene Bedingungen beziehen (Meyer/Reher 2016, S. 2). In Anlehnung an das Deutsche Institut für Normung definiert Kascha (2013) den Projektbegriff unter Zuhilfenahme von vier Kernmerkmalen (DIN 1987 zitiert in ebd., S. 409; ähnlich Antes 2010, S. 13; Meyer/Reher 2016, S. 2): • „Zielvorgabe • zeitliche, finanzielle, personelle oder andere Begrenzungen • Abgrenzung gegenüber anderen Vorhaben • projektspezifische Organisation“ Zielvorgaben kennzeichnen jede Projektidee; ein Projekt ohne definierte(s) Ziel(e) ist demnach kein Projekt. Diese Zielvorgaben sind auch wichtig, um die Wirkung des Projekts bewerten zu können (siehe Abschn. 6: Projektevaluation), denn nur vorab definierte Ziele können letztendlich auch überprüft werden. Begrenzungen in den genannten Dimensionen Zeit, Finanzen bzw. materielle Ausstattung und Personal sind ein weiteres wichtiges Definitionskriterium. Demnach ist jedes Projekt im Hinblick auf Ressourcen- und Personalausstattung sowie Zeitbudget begrenzt. Diese Begrenzung bildet zusammen mit den Zielvorgaben den Rahmen für das Projektmanagement (siehe Abschn. 5) sowie für die Projektbewertung (siehe Abschn. 6: Projektevaluation). Als drittes Merkmal wird
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die „Abgrenzung zu anderen Vorhaben“ genannt. Hierunter ist zu verstehen, dass das Vorhaben als Projekt erkennbar sein muss, sprich: Es handelt sich nicht um ein kontinuierlich stattfindendes, fortlaufendes Angebot oder um „Regelaufgaben“. Auch diese Unterscheidung ist wichtig für die Projektbewertung, denn Effekte bzw. Wirkungen von Projekten können nur dann nachgewiesen werden, wenn sie mit dem Projekt in Verbindung stehen, d. h. auf das Projekt zurückgeführt werden können. Die „projektspezifische Organisation“ hängt wiederum mit allen anderen genannten Punkten zusammen, denn in dieser spezifischen Organisation spiegeln sich eben jene Zielvorgaben, Be- und Abgrenzungen sowie die abschließende Projektbewertung wider. Diese „spezifische Organisation“ ist wiederum die Basis für jede Projektmanagement-Strategie (siehe Abschn. 5: Projektmanagement).
4 Vor- und Nachteile von Projektarbeit: Quelle für Innovation und Bildungsprozesse oder Fragmentierung des pädagogischen Handelns? Projekte haben einen erheblichen Nutzen für die Praxis der Kinder- und Jugendarbeit, sowohl was die Kinder und Jugendlichen selbst betrifft als auch für die angebotserbringenden Organisationen. Auf der anderen Seite lässt sich der Trend zur projektförmigen Arbeit in Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit aber auch sehr kritisch betrachten. Projekte sind nach Kascha (2005, S. 276) einerseits „‚Rosinen´ im Alltagskuchen der Offenen Jugendarbeit“, andererseits „erfährt die Kinder- und Jugendarbeit auch Brüche in ihrer Entwicklung, ihrer Präsenz und in ihrem Ablauf (…), sodass verlässliche und kontinuierliche Breitenarbeit im Alltag zersplittert und die Arbeit fragmentarischen Charakter erhält“. Dabei bewertet Kascha (2005, S. 277) insbesondere die damit zusammenhängenden organisationalen und personellen Konsequenzen besonders kritisch: „Mit (…) der Zunahme von befristeten Förderprogrammen und Förderern andererseits verstärkt sich die Organisierung und Beteiligung von Jugendlichen an befristeten und überschaubaren Aktivitäten. Aktionen und Projekte werden zu charakteristischen Formen zeitgenössischer Kinder- und Jugendarbeit (…) – mit stärker werdender Tendenz. (…). Erste Trends zeigen leider auch, dass unter dem Diktat des Kürzens und Sparens die Projekt-förderung [sic] schnell dem Streichkonzert zum Opfer fällt. Für sie gilt weder personelle noch institutionelle Bindung.“
Aus diesem Grund müssen sowohl Chancen als auch Risiken von Projektarbeit stets sorgfältig reflektiert werden. Die nachfolgenden Darstellungen sollen daher
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sowohl bei der Projektplanung und Erstellung etwaiger Projektanträge als auch bei der Reflexion von Projektzielen und -risiken helfen.
4.1 Chancen von Projektarbeit: Innovation anstoßen, Lernprozesse ermöglichen, soziales Miteinander stärken Die wesentlichen Vorteile von Projektarbeit lassen sich auf drei verschiedenen Ebenen festmachen. Projekte haben einen Nutzen für die involvierten Kinder und Jugendlichen, für das soziale Miteinander und entsprechende Gruppenerlebnisse, sowie für die Einrichtungen und Organisationen selbst.
4.1.1 Bedeutung von Projektarbeit für die Leistungsanbieter Projekte ermöglichen es Einrichtungen und Organisationen der Kinder- und Jugendarbeit, neue und innovative Angebotsformen und Inhalte zunächst „unverbindlich“ zu erproben. Diese Möglichkeit, neue Ansätze, Angebote, Methoden oder Dienstleistungen zunächst einmal zu „testen“, macht die Projektarbeit für Leistungsanbieter so attraktiv (vgl. Antes 2010, S. 11). Dabei können Projekte auch dazu beitragen, dass Angebote besser an die Bedarfe und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen angepasst werden. Insofern sind wichtige Stilelemente von Projektarbeit, wie die Kurzfristigkeit und Flexibilität, ein wesentlicher Innovationsmotor. Voraussetzung dafür ist jedoch die systematische und regelmäßige Evaluation, z. B. über Blitzlichtmethoden, Feedback-Schleifen oder Befragungen der Projektteilnehmenden. Projektarbeit ist nach Antes (ebd.) aber auch ein Instrument der Qualitätssicherung. Die Orientierung an Zielen und die Notwendigkeit systematischer Evaluation tragen dazu bei, dass die Effizienz und Wirkung der Arbeit stets reflektiert werden muss. In diesem Zusammenhang unterstützt Projektarbeit auch die Entwicklung hin zu einer „Lernenden Organisation“. Neben der Möglichkeit, Innovationen zu entwickeln und die Qualität zu verbessern, hat Projektarbeit aber auch eine wichtige Bedeutung zur Erhöhung der Attraktivität des Angebotsspektrums für die Zielgruppen (vgl. Kascha 2005, S. 280). Dadurch, dass Projektarbeit zeitlich befristet ist und Experimentierräume ermöglicht, sind Projekte zudem äußerst attraktiv für Kinder und Jugendliche, die sich weniger gerne festlegen wollen. Hierbei ist es wichtig, die Projekte so zu gestalten, dass sie zeitlich entsprechend „konzentriert“ sind (z. B. an einem Wochenende, einzelne Projekttage). Mit dieser „Attraktivitätsfunktion“ in Verbindung steht die Chance, dass Kindern und Jugendlichen, die über herkömmliche Bildungsangebote nur schwer
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oder gar nicht erreicht werden, bestimmte Themen in Form von Projekten nähergebracht werden können. Zuletzt können Projekte aber auch genutzt werden, um (neue) Kooperationen zu erproben bzw. auf- und auszubauen (vgl. Kascha 2005, S. 277). Insbesondere für die zunehmend wichtiger werdende Frage der Kooperation mit der Schule eröffnen sich hier besondere Chancen, zumal Projektarbeit als didaktische Methode auch in der Schule einen immer größeren Stellenwert einnimmt.
4.1.2 Bedeutung von Projektarbeit für die beteiligten Kinder und Jugendlichen Münchmeier (2005, S. 661) verweist in Abgrenzung zu „didaktisch verplante[n] Räume[n]“ aufgrund von festgelegten Programmen und Angebotsinhalten auf die Vorteile von Projektarbeit, weil so die Interessen und Bedürfnisse junger Menschen besser aufgegriffen werden können. In solchen „Projektmilieus“ können Kinder und Jugendliche dann selbst gestaltend aktiv werden, vor allem, wenn eine gewisse Offenheit gegenüber dem Projektverlauf besteht. In einem solchen Setting sind dann vielfältige Lernerfahrungen möglich, die dem Erwerb bestimmter Kompetenzen dienlich sind, z. B. Organisationsgeschick, soziale Kompetenzen, Kommunikationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, usw. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass Kinder und Jugendliche an der Projektplanung, -gestaltung und -durchführung beteiligt werden. Das gleiche gilt für die Projektevaluation (z. B. durch mündliche Feedback-Runden, Gruppendiskussionen). Projektarbeit ist weiterhin hervorragend dafür geeignet, dem Anspruch nach Partizipation und Demokratieerziehung in der Kinder- und Jugendarbeit nachzukommen. In gut geplanten Projekten besteht in der Regel immer die Möglichkeit, dass junge Menschen sich einbringen können und sich auch mit anderen Meinungen und Haltungen auseinandersetzen müssen. Damit erwerben Sie in Form von informellen Bildungsprozessen wichtige demokratische Kompetenzen. Voraussetzung hierfür sind jedoch ausreichende Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten (vgl. Kascha 2013, S. 409 f.). Neben den Lernmöglichkeiten, die sich für Kinder und Jugendliche im Rahmen von Projektarbeit ergeben, lassen sich aber auch noch andere Vorteile finden. Projektarbeit kommt dem „Bedürfnis nach schnellem Erfolg“ (Kascha 2005, S. 276; 2013, S. 410) nach und fördert damit Selbstwirksamkeit. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass Erfolgserlebnisse und Highlights systematisch eingebaut bzw. während des Projekts initiiert werden.
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4.1.3 Bedeutung von Projektarbeit für das soziale Miteinander und den Umgang mit Vielfalt Projektarbeit bietet Raum für soziales Lernen. In Projekten können Jugendliche lernen, Aufgaben kooperativ zu bewältigen und Gruppenkonflikte auszuhalten bzw. zu lösen. Nicht selten sind Projekte bestimmt durch eine äußerst „dichte Arbeits- und Beziehungsatmosphäre“ (Kascha 2005, S. 276) und die Erfahrungen, die junge Menschen in der Projektarbeit sammeln, tragen zu einer Erweiterung ihrer Kompetenzen und ihres Wahrnehmungshorizonts bei: „Nach Projektende geht zwar meist die Projektgruppe auseinander, aber die Erfahrung, die die Einzelnen gemacht haben, können die Sensibilität und die Kompetenz für neue Gruppen erhöhen.“ (Münchmeier 2005, S. 661)
Projektarbeit eignet sich zudem hervorragend zum Abbau von Berührungsängsten und Vorurteilen zwischen verschiedenen (Ziel-)Gruppen. Kascha (2005, S. 278, 2013, S. 411) verweist hier auf die Herausforderungen des „Zielgruppenspagats“ in Einrichtungen der offenen Jugendarbeit. Das Arbeiten an einem gemeinsamen Ziel und/oder Produkt ermöglicht es, dass die Gruppe eine gemeinsame Identität entwickelt; entsprechend kommen Prozesse in Gang, die wiederum zu einem Abbau von Intergruppenkonflikten beitragen können. Eindimensionale Gruppenzuordnungen („wir“ – „die“) können durch das gemeinsame Arbeiten an einem Ziel/Produkt überwunden werden. Die Aktivitäten können dann dazu eingesetzt werden, den Teilnehmenden die Gemeinsamkeiten bewusster zu machen, anstatt die Unterschiede zu betonen. Solche Strategien sind in der Sozialpsychologie bekannt unter den Begriffen Kontakthypothese, Dekategorisierung bzw. Kreuzkategorisierung und Rekategorisierung (vgl. Kessler/Mummendey 2007, Stürmer 2008, Otten/Matschke 2008). Die Kontakthypothese besagt, dass ein unter bestimmten Bedingungen stattfindender Kontakt zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen zu einem Abbau von Antipathien, Vorurteilen und Intergruppendiskriminierung beiträgt (vgl. Stürmer 2008, S. 283 ff.). Dekategorisierung setzt beispielsweise darauf, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Gruppen aufgrund intensiver Kontakte und gemeinsamer Erfahrungen zunehmend als Individuen wahrnehmen und weniger als Mitglieder einer bestimmten Gruppe. Das gleiche Ziel verfolgt die Strategie der Kreuzkategorisierung. Hier wird versucht, bei den Teilnehmenden der Kontaktsituation bestehende Gemeinsamkeiten zu betonen. Rekategorisierung setzt hingegen auf den Aufbau einer neuen, umfassenderen Gruppenidentität, etwa durch
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Kooperation bzw. durch das Arbeiten an einem gemeinsamen Ziel (vgl. Otten/ Matschke 2008, S. 293 f.). Als zentrale „Gelingensfaktoren“ für entsprechende Kontaktsituationen werden insbesondere folgende Bedingungen genannt (vgl. Kessler/Mummendey 2007, S. 521; Stürmer 2008, S. 284 f.): • gemeinsame bzw. übergeordnete Ziele, • die verschiedenen Personen sollten den gleichen Status in der Kontaktsituation haben, • Kooperation und Vermeidung von Wettbewerb, • Begleitung durch Autoritäten bzw. leitende Personen und Orientierung an Normen.
4.2 Risiken und Nachteile von Projektarbeit: Trendorientierung, Erfolgsdruck und Diskontinuitäten Die bisherigen Darstellungen zeigen deutlich, welche Potenziale in der Projektarbeit wurzeln und welche Bedeutung Projektarbeit zur Realisierung des pädagogischen Auftrags der Kinder- und Jugendarbeit hat. Es lassen sich aber auch Risiken und Nachteile zusammentragen, die es bei der Planung und Durchführung von Projekten stets zu berücksichtigen gilt. Die in der Literatur genannten Nachteile der Methode lassen sich wiederum an der „Typik“ von Projektarbeit festmachen. So benennt Kascha (2005, S. 280; 2013, S. 413) folgende Probleme: • Projektarbeit beinhaltet aufgrund des häufig in Verbindung mit der Bewilligung von Geldern stehenden Drucks, innovativ sein zu müssen, immer auch die Gefahr, dass lediglich „Konjunkturen und Moden“ aufgegriffen werden, die gar nicht den Interessen der Kinder und Jugendlichen entsprechen. In solchen Fällen können politisch-administrative Interessen den Bedürfnissen der jungen Menschen diametral gegenüberstehen. • Aufgrund der zeitlichen Begrenzung und selektiven Zielfestlegung besteht zudem die Gefahr, dass die zentrale Bedeutung einer kontinuierlich angelegten und auf Beziehungsarbeit angewiesenen Kinder- und Jugendarbeit aus dem Blick gerät. Kascha verweist hierbei auf das Risiko, dass eine Hochstilisierung von Projekten als „Feuerwerkspädagogik“ (ebd.) die Bedeutung der wichtigen Routinearbeit schmälern könnte. • Die Wichtigkeit von Beziehungsarbeit gilt es hier gesondert herauszustellen: Werden in Projekten beispielsweise zeitlich begrenzte „Spezialkräfte“
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(etwa Honorarkräfte) eingesetzt, kann es zu Diskontinuitäten und – nach Ablauf des Projekts – sogar zu Beziehungsabbrüchen kommen. • Insgesamt kollidiert Projektarbeit mit den Möglichkeiten alltagsrelevanten Lernens und informeller Bildungsprozesse, die vor allem über den sogenannten „Routinebereich“ (z. B. der Offene Bereich in Jugendhäusern) hergestellt werden. Daneben lassen sich noch weitere Nachteile von Projektarbeit finden, die insbesondere mit der Notwendigkeit eines Nachweises von Effektivität und Effizienz zusammenhängen. Projektarbeit bringt es mit sich, dass sowohl die Zielerreichung (Effektivität) als auch eine vertretbare Input-Output-Relation (Effizienz) nachgewiesen werden müssen; dies gilt insbesondere bei finanziell geförderten Projekten. Eine solche Orientierung führt dann dazu, dass die Projektdurchführung einem ständigen Erfolgs- und Legitimationsdruck ausgesetzt ist, sodass häufig kein Raum für „wirkliche“ Experimente und Innovationen bleibt. Diese „Erfolgsorientierung“ ist zudem eine Restriktion, wenn es um den Nachweis von Wirkungen bei Projektevaluationen (siehe Abschn. 6) geht.
5 Projektmanagement: Ein komplexes Unterfangen mit genauen Regeln Projekte müssen gut geplant und konzipiert sowie nach systematischen Regeln durchgeführt und evaluiert werden, damit sie erfolgreich abgeschlossen werden können; kurz: sie müssen „gemanagt“ werden (vgl. Antes 2010, S. 12 ff.). Projektmanagement ist daher die Planung, Durchführung und der Abschluss von Projekten nach bestimmten Regeln. Demnach ist eine strukturierte Vorgehensweise „ein Grundprinzip des Projektmanagements“ (Meyer/Reher 2016, S. 14). Hierzu wurde in verschiedenen Anwendungsfeldern eine Fülle an Strategien entwickelt, die in diesem Beitrag nicht erschöpfend dargestellt werden können (ein Überblick findet sich in Antes 2010 sowie Meyer/Reher 2016). Stattdessen sollen Gemeinsamkeiten und Grundtendenzen, die insbesondere für die Kinder- und Jugendarbeit Relevanz haben, in einem Überblick skizziert werden. Grundvoraussetzung für jede Projektmanagement-Strategie ist das Einhalten und systematische Durchlaufen verschiedener Projektphasen. Projektmanagement beinhaltet dabei immer das Zerlegen der anfallenden Aufgaben in verschiedene „Teilstrecken“ bzw. Phasen (vgl. Meyer/Reher 2016, S. 14). Dabei gibt es verschiedene Phasenmodelle, die sich jedoch im Hinblick auf Inhalt und Abfolge stark ähneln. Meyer/Reher (2016) nennen diese idealtypische Phasenabfolge
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„Makrostrategie“ und verdeutlichen anhand von drei verschiedenen Phasenmodellen die Gemeinsamkeiten: Am Anfang steht dabei immer 1) die Initiierung bzw. „Willensbekundung“, die dann – je nach Phasenmodell – mit der Projektdefinition einhergeht. Schließlich erfolgt 2) die Projektplanung als Resultat der Projekt- und Zieldefinition und mündet in 3) die Projektausführung. Den Abschluss bildet dann 4) die Projektbeendigung. Je nach Phasenmodell werden zwischen drei und fünf Phasen beschrieben (ebd., S. 15 sowie 27 f.). Insgesamt gliedern Meyer/Reher (2016) ihr Lehrbuch schließlich nach vier verschiedenen Projektphasen. So findet sich in der Kapitelabfolge zunächst ein Kapitel zur Projektdefinition (Projektauslöser bzw. -ziel) gefolgt von der Projektplanung und dem Kapitel „Projekte auf Kurs halten“ (Projektdurchführung). Den Abschluss bildet dann ein Kapitel zum Thema „Projekte abschließen“. Kascha (2005, S. 278 f.; 2013, S. 411 f.) unterscheidet in seinem Beitrag ebenfalls vier Phasen: Der Projektauslöser, die Projektplanung, die konkrete Durchführung und die Projektauswertung. In diesem Modell steht am Anfang 1) die Begründung für das Projekt (Projektauslöser). Übertragen auf die Kinder- und Jugendarbeit können solche Auslöser beispielsweise neue Zielgruppen, ein Wandel in der Besucherschaft, neue und/oder komplexere Problemlagen, veränderte Interessen, sich wandelnde sozialräumliche Bedingungen, oder auch eine neue Träger- bzw. Einrichtungsstrategie sein. In dieser ersten Phase muss dann der konkrete Bedarf sowie die angestrebten Ziele identifiziert werden. In der zweiten Phase – die Phase der Projektplanung – muss 2) definiert werden, was in dem Projekt erreicht werden soll (Zielfestlegung) und wie das Projekt umgesetzt wird. Zu einer systematischen Planung gehört dabei, dass ein entsprechender Plan für Kosten, Personaleinsatz, den zeitlichen Ablauf sowie sonstiger, benötigter Ressourcen (z. B. Räume, Sachmittel) erstellt wird. Die dritte Phase der Projektdurchführung ist schließlich 3) die konkrete Durchführung. Nicht selten ist hier Improvisation und Anpassung notwendig, da sich Projekte häufig ganz anders entwickeln, als ursprünglich geplant. Um konstruktiv mit solchen Herausforderungen umgehen zu können, sollten Feedback- und Reflexionsprozesse bereits während der Projektdurchführung eingebaut werden. In der letzten Phase – der Projektauswertung – müssen dann 4) die gemachten Erfahrungen systematisch evaluiert werden. Eine solche Auswertung ist wichtig, um einerseits die Wirkung des Projekts „summativ“ (d. h. abschließend) beurteilen zu können. Andererseits können Projektauswertungen aber auch bereits während der Projektdurchführung erfolgen, die dann „formativ“ genutzt werden, etwa um den bisherigen Projektverlauf zu bewerten und gegebenenfalls Veränderungen im Projektablauf oder bei den Projektzielen vornehmen zu können (siehe dazu ausführlich Abschn. 6: Projektevaluation).
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Antes (2010, S. 19 ff.) unterscheidet ebenfalls verschiedene Projektphasen, teilt diese aber grob in „Entwicklung“ und „Realisierung“ ein. Zur Entwicklungsphase gehören 1) die Projektidee (der Projektauslöser), 2) die Formulierung der Ziele, sowie 3) die Projektplanung. Die Realisierungsphase wird bestimmt durch 4) die Projektdurchführung und 5) die Überprüfung der Zielerreichung. Insofern finden sich die oben genannten vier Phasen auch in diesem Modell wieder, lediglich die Formulierung von Zielen wird als eigenständige Phase begriffen. Grund hierfür ist, dass der Zielfestlegung eine besonders wichtige Bedeutung sowohl für die Projektplanung und -durchführung als auch für die letzte Phase der Bewertung des Projekterfolgs eingeräumt wird: „Die Ziele eines Projekts müssen klar und verständlich formuliert sein. Wird diese Binsenweisheit missachtet, ist das Projekt zum Scheitern verurteilt. (…). Daraus folgt, dass eine präzise Zielformulierung die Richtung angibt, in die geplant werden muss. Gleichzeitig sind Ziele die Kriterien für die Erfolgskontrolle, ohne die eine Beurteilung der Projektergebnisse unmöglich wird.“ (ebd., S. 19).
Im Folgenden werden die oben beschrieben Projektphasen in Form eines 4-Phasen-Modells etwas ausführlicher vorgestellt. Dabei wird die erste Phase (bzw. die ersten beiden Phasen) der Projektbegründung/Projektidee bzw. der Projektdefinition/Zielfindung ausschließlich auf die damit verbundene Zielformulierung sowie auf die Auftragsklärung verkürzt, weil diese beiden Aktivitäten die hier anfallenden Projektmanagementaufgaben maßgeblich bedingen. Die Phase des Projektabschlusses wird ebenfalls nur kurz skizziert, da die Projektevaluation in einem eigenen, abschließenden Kapitel ausführlich dargestellt wird. Die erste Phase, in der sich ausgehend vom Projektauslöser die Projektidee festigt, wird vor allem bestimmt von der Klärung des Projektauftrags („Project-Charter“), in dessen Rahmen das Projektmanagement verschiedene Fragen zur Definition des Auftrags klären muss: Wer wird in dem Projekt mitarbeiten (Projektteam), wer übernimmt bestimmte Leitungsaufgaben oder ist für bestimmte Aufgabenbereiche und das Erreichen von (Zwischen-) Zielen verantwortlich (Rollenklärung, Verantwortlichkeiten), welche Zeitfenster sind relevant, welches Budget steht zur Verfügung, welcher Aufwand ist jeweils damit verbunden, welche Risiken bestehen, welche Kooperationspartnerschaften bzw. Stakeholder-Interessen gibt es und welche Erwartungen haben diese. Im Falle von Kooperationen und Stakeholder-Interessen (z. B. aufgrund der Finanzierung) ist es besonders wichtig, diese in die erste Phase der Projektdefinition und Auftragsklärung mit einzubinden, etwa wenn es um die Klärung und Abstimmung von Erwartungen, um die genaue Projektdefinition oder um eine gemeinsame
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Zielfindung geht. Methodisch bieten sich hier „kick-off-Veranstaltungen´“ oder „Start-up-Workshops“ an. (vgl. Meyer/Reher 2016, S. 41 ff.). Eine Stakeholderanalyse und ein gutes „Stakeholdermanagement“ (auch im weiteren Verlauf) erhöhen letztendlich entscheidend die Wahrscheinlichkeit des Projekterfolgs (vgl. ebd., S. 58 ff.), ebenso wie eine exakte Rollenklärung aller am Projekt Beteiligten (vgl. ebd., S. 80 ff.) sowie die Strukturierung der Teamarbeit und der Kommunikation (ebd., S. 91 ff.). Die wichtigste Herausforderung in der ersten Phase ist jedoch die Zielfindung und Zielformulierung selbst. Die zentrale Bedeutung von Zielen hat zwei Begründungen: Zum einen können klar definierte Ziele die Planung und die Durchführung besser leiten (Koordinierungsund Entscheidungsfunktion nach Meyer/Reher 2016, S. 11), zum anderen wird eine Erfolgskontrolle damit transparenter und unter Umständen auch einfacher (Kontrollfunktion, vgl. ebd.). Ziele sind demnach so zu formulieren, dass sie erreichbar (Projektplanung und -durchführung) und messbar (Erfolgskontrolle) sind. Eine noch spezifischere Anweisung zur Formulierung von Zielen kommt aus der Evaluationsforschung. Demnach bieten sich bei der Zielformulierung insbesondere Ziele an, die den sogenannten S.M.A.R.T-Kriterien entsprechen, also spezifisch, messbar, akzeptabel, realistisch und terminiert sind (Beywl/ScheppWinter 1999, S. 63; Meyer/Reher 2016, S. 11). Ziele müssen demnach also möglichst spezifisch formuliert sein, damit sie überhaupt „messbar“ bzw. überprüfbar sind. Daneben sollen die Ziele aber auch allgemein als Ziele akzeptiert sowie realistisch (d. h. erreichbar) sein. Eine wichtige Bedeutung kommt letztendlich dem zeitlichen Rahmen zu, d. h. das Erreichen des Ziels sollte terminiert sein. In dem Leitfaden zur Zielfindung von Beywl/Schepp-Winter (1999) finden sich darüber hinaus noch weitere nützliche Tipps und Kriterien zu einer inhaltlich und stilistisch korrekten Zielformulierung (vgl. ebd., S. 22). Um eine solche Zielformulierung nach S.M.A.R.T.-Kriterien zu gewährleisten, macht es häufig Sinn, abstrakte Ziele in Form von konkret messbaren Teilzielen bzw. „Meilensteinen“ zu operationalisieren oder eine Trennung in kurz-, mittel- und langfristigen Zielen vorzunehmen. Antes (2010, S. 21) benutzt hierfür das Symbol einer „Zielpyramide“. Die Bedeutung dieser „eigenständigen Phase“ der Zielfindung und -formulierung innerhalb des Projektmanagements kann also gar nicht oft genug betont werden, schließlich hängt sowohl die Durchführung als auch der Gesamterfolg des Projekts maßgeblich davon ab. Beywl/Schepp-Winter (1999, S. 35 f.) fordern daher, ausreichend Zeit für diesen Schritt einzuplanen: „Mit Zielen zu arbeiten, heißt zunächst Zeit in die Klärung der Ziele stecken. (…). Das ist für Menschen, die großen Tatendrang haben, oft unangenehm, denn das Tun wird ja erst noch einmal hinausgezögert. (…). In der Zielklärungsphase üben die
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Projektbeteiligten sich darin, nicht in Aktionen zu denken, sondern über das nachzudenken, was sie erreichen wollen. (…). Mehr Zeit in die Zielklärung und Planung zu stecken, spart Ressourcen, reduziert Umwege und Reibungsverluste bei der Durchführung von Projekten.“
Insgesamt empfiehlt es sich, dass unspezifische Globalziele in sogenannte Feinziele „übersetzt“ werden. Bortz/Döring (ebd., S. 97) sprechen hierbei von „goals“ (Globalziele) und „objectives“ (Feinziele). Beywl/Schepp-Winter (1999, S. 42) unterscheiden hingegen drei Ebenen: „Leitziele“ (übergeordnete Ziele bzw. die „Grundausrichtung des Projekts“), „Mittlerziele“ (Vermittlung zwischen Handlungsziel und Leitziel) und „Handlungsziele“ (spezifische, konkrete, kurzfristig erreichbare Ziele). Die Handlungsziele entsprechen in etwa den Feinzielen bei Bortz/Döring. Die Überprüfung der Feinziele bzw. Handlungsziele, ggf. vermittelt über Mittlerziele, dient dann in der Summe der Überprüfung der Global- bzw. Leitziele (gute Beispiele, wie diese drei Zielebenen miteinander in Verbindung stehen, findet sich bei Beywl/Schepp-Winter 1999, S. 43 ff.). Damit Handlungs- bzw. Feinziele messbar bzw. überprüfbar sind, empfiehlt sich eine Formulierung in Form von wissenschaftlichen Hypothesen. Dabei eignet sich eine Übersetzung der Feinziele in konkrete Unterschieds- oder Zusammenhangshypothesen, die der Logik eines Konditionalsatzes entsprechen. Zwei Beispiele hierfür:
Ziel eines Trainings in einer Schule ist die Verbesserung der Sozialkompetenzen von SchülerInnen einer bestimmten Klasse im Rahmen eines Projekts der Schulsozialarbeit. Das Globalziel wäre also „Verbesserung der sozialen Kompetenzen“. Diese Sozialkompetenzen können operationalisiert werden in „Fähigkeit zur Zusammenarbeit“ und „Fähigkeit, Konflikte adäquat zu lösen“. Feinziele wären dann beispielsweise nach der Logik wissenschaftlicher Hypothesenformulierung: 1. „Die SchülerInnen können Konflikt XY alleine lösen“. Dahinter steckt im Sinne einer Unterschiedshypothese der Konditionalsatz: „Wenn SchülerInnen an dem Projekt teilnehmen, dann können sie (danach) den Konflikt XY ohne fremde Hilfe lösen“. Als Zusammenhangshypothese formuliert: „Je länger/häufiger SchülerInnen an dem Projekt teilnehmen, desto besser können sie Konflikt XY ohne fremde Hilfe lösen.“ 2. „Die SchülerInnen können eine schwierige Aufgabe im Team lösen“. Dahinter steckt im Sinne einer Unterschiedshypothese der Konditionalsatz: „Wenn SchülerInnen an dem Projekt teilnehmen, dann können
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sie eine schwierige Aufgabe im Team, z. B. binnen 30 min, lösen“. Als Zusammenhangshypothese formuliert: „Je länger/häufiger SchülerInnen an dem Projekt teilnehmen, desto schneller können sie die Aufgabe im Team lösen.“ In einer Behindertenhilfeeinrichtung soll im Rahmen eines E mpowermentProjekts die Selbstständigkeit junger Erwachsener mit Behinderung bei der Bewältigung des Alltags gefördert werden. Globalziel wäre also: „Förderung der Selbstständigkeit“, Feinziele wären dann beispielsweise: 1. „Die TeilnehmerInnen können sich selbstständig eine Mahlzeit zubereiten“. Der Konditionalsatz als Unterschiedshypothese lautet: „Wenn die jungen Menschen an dem Projekt teilnehmen, können sie (danach) selbstständig eine Mahlzeit zubereiten“. Als Zusammenhangshypothese formuliert: „Je länger/häufiger die jungen Menschen an dem Projekt teilnehmen, desto selbstständiger können sie eine Mahlzeit zubereiten“. 2. „Die TeilnehmerInnen können eine Waschmaschine bedienen“. Die Unterschiedshypothese wäre: „Wenn die jungen Erwachsenen an dem Projekt teilnehmen, dann können sie (danach) eine Waschmaschine selbstständig bedienen“. Eine mögliche Zusammenhangshypothese würde lauten: „Je länger/häufiger die jungen Erwachsenen an dem Projekt teilnehmen, desto selbstständiger können sie eine Waschmaschine bedienen“. ◄ In der zweiten Phase der konkreten Projektplanung gibt es wiederum wichtige Instrumente, die eine systematische und an Erfolgskriterien orientierte Projektplanung erleichtern können. Antes (2010, S. 28 ff.) unterscheidet hier fünf verschiedene Planungsmethoden: Ein Meilensteinplan kann beispielsweise gut dafür genutzt werden, Zwischenziele oder den Abschluss bestimmter Projektphasen sichtbar zu machen und ggf. in eine chronologische Reihenfolge zu bringen (nach Meyer/Rehr 2016, S. 16 sind Meilensteine „immer mit einem Termin versehen“). Meilensteinpläne sind als erster Einstieg in die grobe Projektplanung sehr nützlich. Die jeweilige Zielerreichung kann dann während der Projektdurchführung stets überprüft werden, sodass auch ein Bedarf an Korrekturen erkennbar wird. Häufig sind Meilensteine auch gekoppelt mit der nächsten Projektphase, sodass die Realisierung der Meilensteine eine Voraussetzung für den weiteren Projektablauf sein kann (Meyer/Reher 2016, S. 23 wählen hier die Bezeichnung „Übergabepunkte“). Der Projektstrukturplan beinhaltet, ähnlich wie der Meilensteinplan, eine inhaltliche Gliederung; statt Zielen werden hier jedoch Teilaufgaben (TA) und Arbeitspakte (AP) zur Erfüllung dieser Teilaufgaben
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festgeschrieben. Die Teilaufgaben bzw. Arbeitspakete können auch bestimmten Personen zugeordnet werden (Verantwortlichkeiten, Arbeitsaufträge). Es besteht zudem die Möglichkeit, Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Teilaufgaben zu visualisieren, etwa, wenn verschiedene Teilaufgaben aufeinander aufbauen. Anders wie bei den Meilensteinen geht es jedoch nicht um die Reflexion der Zielerreichung, sondern um die Kontrolle der bislang erfüllten Arbeitspakte, was durchaus aber mit der Überprüfung der Zielerreichung kombiniert werden kann. Der Vorteil des Projektstrukturplans ist, dass er „eine Aufzählung aller zu erledigenden Jobs, die getan werden müssen“ (Antes 2010, S. 31) visualisiert. Nach Meyer/Reher (2016) ist der Projektstrukturplan daher auch „der Plan der Pläne“ (ebd., S. 107), weil er alle anfallenden Aufgaben des Gesamtvorhabens systematisch in Teilaufgaben und Arbeitspakte zerlegt und demnach alle einzelnen Planungsschritte stets auf dem Projektstrukturplan aufbauen. Insgesamt gibt er daher eine perfekte Orientierung für alle Beteiligten. (vgl. ebd. S. 129 ff.) Im Projektablaufplan werden den verschiedenen Teilaufgabe und Arbeitspakete bestimmte Zeitpunkte bzw. Zeitfenster zugeordnet. Kombiniert mit dem Projektstrukturplan ist der Projektablaufplan sozusagen eine Art Weiterentwicklung. Er enthält also neben inhaltlichen Vorgaben noch chronologische Richtlinien. Entsprechende „Pufferzeiten“ bzw. „Zeitreserven“ sind bei komplexen und länger angelegten Projekten natürlich zu berücksichtigen. (vgl. Antes 2010, S. 34 ff.; Meyer/Reher 2016, S. 171 ff.) Inhaltliche und zeitliche Festlegungen (inklusive Pufferzeiten) können auch in einem zweidimensionalen Balkendiagramm übersichtlich dargestellt werden. Hier werden die jeweils zu erledigenden Aufgaben (Y-Achse) untereinander im Hinblick auf die chronologische Abfolge (X-Achse) eingetragen. Die Länge der Balken symbolisiert dann das Zeitfenster, in dem die jeweilige Aufgabe zu erledigen ist (vgl. Antes 2010, S. 36). Da die Kostenkalkulation bei Projekten stets einen wichtigen Stellenwert einnimmt, kommt man nicht umhin, zusätzlich immer auch einen Kosten- bzw. Finanzierungsplan zu entwickeln (vgl. Antes 2010, S. 37 ff.; Meyer/Reher 2016, S. 183 ff.). Bei Arbeitspakten ist beispielsweise eine Angabe der Kosten je Arbeitspaket möglich, bei chronologischen Ablaufmustern können die Kosten beispielsweise in einer Chronologie angegeben werden (z. B. laufende Personalkosten, monatliche Sachkosten). Ergänzend zu all diesen Instrumenten kann zuletzt auch noch ein Instrumentarium zur Identifizierung, Abschätzung und Bewertung von Risiken sowie Indikatoren zur Sicherung von Prozess- und Ergebnisqualität in das Projektmanagement integriert werden (zum Thema Risikomanagement und Qualitätsmanagement in Projekten siehe Meyer/Reher 2016, S. 145 ff. sowie 160 ff.).
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Die genannten Planungsmethoden können sehr gut miteinander kombiniert werden. So empfiehlt Antes (2010, S. 42) bei der Erstellung der Projektplanung eine Phasenabfolge: Ausgehend von der Zielformulierung wird zunächst ein Meilensteinplan erstellt. Daraufhin werden Teilaufgaben und Arbeitspakete definiert (Projektstrukturplan), die dann in eine chronologische Reihenfolge gebracht werden (Terminierung in Form eines Projektablaufplans). Dies alles kann integriert in einem Balkendiagramm dargestellt und durch eine Kosten- bzw. Finanzplanung ergänzt werden. Die folgende Abbildung zeigt einen fiktiven Entwurf eines solchen kombinierten Modells (Abb. 1): Die dritte Phase der konkreten Projektumsetzung beinhaltet schließlich eine Fülle an Herausforderungen, für die es häufig kein „Patentrezept“ gibt. Im Grunde fallen in dieser Phase hauptsächlich „Steuerungsaktivitäten“ an, d. h.: „Das Projekt muss auf Kurs gehalten werden“ (Meyer/Reher 2016, S. 22). Zu diesen Steuerungsaktivtäten zählen beispielsweise Erfolgs- und Prozesskontrollen, den Arbeitsfortschritt zu dokumentieren und zu bewerten, bestehende
Abb. 1 Beispiel für ein Balkendiagramm zur Projektplanung mit integrierten Meilensteinen, Projektstruktur- und Projektablaufplan, Zuständigkeiten und Kostenplanung. (eigene Darstellung)
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Pläne ggf. anzupassen, aber auch den weiteren Ablauf voranzutreiben, etwa, indem die Teilnehmenden und Projektmitarbeitenden motiviert werden (vgl. ebd.). Anbetracht dieser vielfältigen Aufgaben kann man auch von „Projektcontrolling“ sprechen. Wichtigste Voraussetzung für dieses Projektcontrolling ist, dass stets ausreichend Informationen vorliegen und der Projektverlauf sowie die Zielrealisierung umfassend dokumentiert werden: „Zentrales Element des Projektcontrollings sind daher immer Informationen“ (Antes 2010, S. 48). In dieser Phase fallen die verschiedensten Controllingaufgaben an, sodass auch hierzu einige Instrumente entwickelt wurden (vgl. dazu ausführlich Meyer/Reher 2016, S. 205 ff., Antes 2010, S. 48 ff.). Ausgewählte Instrumente werden in der gebotenen Kürze dargestellt: Wie oben bereits angedeutet, stellen Informationen die Basis jeder Projektsteuerung während der Projektumsetzung dar. Aus diesem Grunde ist es dringend notwendig, ein systematisches Informationssystem aufzubauen (Reporting). Während der Projektumsetzung sind Erfolgs- und Prozesskontrollen häufig enorm wichtig, um den Projektfortschritt und die Zielerreichung im Blick zu haben. Ein Beispiel hierfür ist die Soll-Ist-Analyse. Hierbei geht es insbesondere um die Kontrolle der Meilensteine (Erfolgskontrolle) und des Projektfortschritts (Prozesskontrolle). Es können also gleichermaßen Output und Zeitplanung eine Rolle spielen. Mithilfe einer Soll-Ist-Analyse kann schließlich auch geklärt werden, ob die gesetzten Ziele noch eingehalten werden oder der Zeitplan überhaupt gelingen kann (Prognose). Grundlage für diesen Vergleich ist immer der Projektstruktur- bzw. der Projektablaufplan. Methoden, die stärker auf Kommunikation und Verständigung setzen sind beispielsweise Reviews, Statussitzungen oder Steuerungskreise. Hierbei handelt es sich um Bestandsaufnahmen, z. B. zum Abschluss bestimmter Projektphasen oder auch nach Erreichen bestimmter Meilensteine. Diese Bewertungen können in Form von Dokumentationen, aber auch dialogisch, z. B. in Gesprächsrunden, erfolgen. Eine insgesamt wichtige Komponente in der Phase der Projektumsetzung stellt das „Änderungsmanagement“ dar, z. B. aufgrund von veränderten Anforderungen und/oder Rahmenbedingungen, bestimmten Auflagen oder auch anderen bzw. neuen Interessen. Unter Änderungsmanagement verstehen Meyer/Reher (2016) in Anlehnung an die entsprechende DIN-Norm die „Erfassung, Bewertung, Entscheidung, Dokumentation und Steuerung der Umsetzung von Änderungen im Projekt gegenüber der bisher gültigen Planung“ (DIN 2009 zitiert in ebd., S. 211). Gemeint ist also ein systematischer Prozess der Implementierung und Steuerung eines Änderungsprozesses. Dies können beispielsweise Teilaufgaben, Arbeitspakte, die Zeitplanung oder auch Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche sein. Ja nach Art der Änderung müssen verschiedene Beteiligte, u. U. auch Kooperationspartnerschaften oder Stakeholder einbezogen werden. Neben
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den genannten Instrumenten und Methoden gibt es noch eine Reihe an nützlichen Tipps, die sich auf die Projektorganisation, Projektleitung und Gestaltung der Teamarbeit beziehen (vgl. Antes 2010, S. 53 ff.), die aber aufgrund der Komplexität in diesem Überblicksbeitrag nicht dargestellt werden können. Die vierte Phase der Projektbeendigung endet mit der Bewertung und Reflexion der Zielerreichung sowie des Projektablaufs. Die zentrale Bedeutung der Zieldefinition einerseits (Phase 1) sowie einer systematischen Projektplanung andererseits (Phase 2) ist letztendlich Ausgangsbasis für die Projektbewertung, da eine qualifizierte Projektevaluation auf entsprechend definierte Zielfestlegungen (Ergebnisevaluation) sowie auf Standards einer systematischen Projektplanung (Prozessevaluation) angewiesen ist. Verschiedene Evaluationsstrategien sowie ein idealtypischer Evaluationsverlauf werden in dem letzten Kapitel ausführlich beschrieben.
6 Projektevaluation: Strategien zur Bewertung von Ergebnis- und Prozessqualität von Projekten in der Kinder- und Jugendarbeit Die zentrale Bedeutung von Evaluationen für die Projektarbeit lässt sich gut an den fünf Zielfunktionen von Evaluationen festmachen (vgl. Bortz/Döring 2009, S. 97): Zum einen lassen sich mittels Evaluationen Erkenntnisse über die Wirkungen eines Vorhabens sammeln (Erkenntnisfunktion). Zweitens können Evaluationen dafür genutzt werden, jeweilige oder auch neue (Folge-) Vorhaben zu optimieren (Optimierungsfunktion). Drittens ermöglichen Evaluationen eine gewisse Kontrolle über die intendierten Wirkungen am Ende oder auch im Verlauf des Projektprozesses (Kontrollfunktion). Viertens helfen Evaluationsergebnisse auch bei der Entscheidung bezüglich der weiteren Förderung oder Weiterentwicklung von (neuen) Projektideen (Entscheidungsfunktion). Damit in Verbindung steht zuletzt die Legitimationsfunktion, indem Evaluationen dafür genutzt werden können, die Wichtigkeit und Bedeutung einer Maßnahme, Intervention oder eines Projekts zu verdeutlichen. Insbesondere die Legitimationsfunktion hat eine erhebliche Bedeutung für die Kinder- und Jugendarbeit, denn gerade aufgrund knapper werdender öffentlicher finanzieller Ressourcen und einer damit verbundenen „Legitimationsfrage“ werden Leistungserbringer der Kinder- und Jugendarbeit nicht umhinkommen, „den Wert und die Bedeutung ihrer Arbeit zu belegen“ (Hafenegger 2009, S. 49). Der Nachweis von Wirkungen, als Teil von Qualitätssicherung und -entwicklung, fördert in jedem
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Fall die Reputation und Professionalität von Jugendarbeit (vgl. Fischer 2003, S. 201), was schließlich auch für die Projektarbeit in diesem Arbeitsfeld gilt. Evaluationen sind daher eine wichtige Komponente, um den „Wert“ der eigenen Arbeit, in diesem Falle der Projektarbeit, nachweisen zu können. Entsprechend definiert die Gesellschaft für Evaluation e. V. (DeGEVal) den Begriff Evaluation als „die systematische Untersuchung des Nutzens oder Wertes eines Gegenstands“ (DeGEVal 2008, S. 15) bzw. „der Güte oder des Nutzens eines Evaluationsgegenstands“ (DeGEVal 2017, S. 25). Unter den Beispielen für solche „Evaluationsgegenstände“ werden dabei auch ausdrücklich Projekte genannt. Die im Rahmen von Evaluationen erzielten Erkenntnisse müssen dabei auf empirisch erhobenen Daten basieren und sollten stets nachvollziehbar sein (vgl. ebd.). Projektevaluationen sind daher dem Bereich der Evaluationsforschung zuzuordnen und unterliegen dem gleichen Regelwerk, welches allgemein für die empirische Sozialforschung gilt. Demnach müssen „Evaluationen wissenschaftlichen Kriterien genügen (…), die auch sonst für empirische Forschungsarbeiten gelten“ (Bortz/Döring 2009, S. 98). Aus diesem Grund ist ein systematisches und nachvollziehbares Untersuchungsdesign unabdingbar. Bei der Planung von Evaluationsvorhaben geht es dabei meist um folgende Fragen: • Die Frage nach der geeigneten Evaluationsstrategie („summative“ oder „formative“ Evaluation). • Die Frage nach dem passenden Ablauf eines Evaluationsvorhabens (Zielformulierung, Gesamtkonzeption, Erhebungsmethoden, Indikatoren) Im Folgenden werden einige „Basics“ der Projektevaluation zusammenfassend dargestellt. Dabei ist es wichtig, bereits im Vorfeld zu überlegen, welche Evaluationsstrategie man anstrebt (Abschn. 6.1). Die Vorgehensweise einer Evaluation wird weiterhin bestimmt durch eine spezifische Abfolge von Planungsund Durchführungsschritten (Abschn. 6.2). Abschließend werden noch einige kritische Überlegungen zu den Gefahren „interessensgeleiteter“ Evaluationen präsentiert (Abschn. 6.3).
6.1 Evaluationsstrategien – summative oder formative Evaluation Die Frage nach einer „geeigneten“ Evaluationsstrategie hängt von dem jeweiligen Ziel der Evaluation ab und leitet zu der Frage über, welche Art von Evaluation zur
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Überprüfung von Wirkungen bzw. Projektzielen jeweils sinnvoll ist. Grob können zwei verschiedene Evaluationsstrategien (Abb. 2) unterschieden werden (vgl. z. B. Bortz/Döring 2009, S. 109 f.; DeGEVal 2008, S. 16; DeGEVal 2017, S. 35 sowie 67 ff.; Kuckartz et al. 2007, S. 19, Moser 2015, S. 59 f.): • summative Evaluation (Wirkungsqualität, überwiegend quantitative Methoden) • formative Evaluation (Wirkungs- und Prozessqualität, überwiegend qualitative Methoden) Summative Evaluation versucht am Ende eines Vorhabens herauszufinden, was „summa summarum“ herausgekommen ist, bzw. ob die angestrebten Ziele erreicht worden sind. Wichtigstes Definitionskriterium der summativen Evaluation ist daher, dass die Wirkungsmessung immer nach dem Abschluss der Maßnahme oder des Projekts vorgenommen wird. Die Gesellschaft für Evaluation e. V. (DeGEVal 2017, S. 70) beschreibt die summative Evaluation auch als „Bilanzierende Evaluation“, in der im Nachhinein eine Gesamtbewertung erfolgt, „die dem Zweck der Entscheidungsfindung über den Evaluationsgegenstand (z. B. Fortführung, Ausweitung, Einstellung) dienen soll.“ Die summative Evaluation kann auch als wirkungsorientierte Evaluation beschrieben werden und steht der hypothesenüberprüfenden Forschungstradition nahe. Methodisch überwiegt bei der summativen Evaluation ein quantitativer Zugang, weil in der Regel statistische Verfahren zur Messungen der Zielerreichung eingesetzt werden. Summativ ausgerichtete Wirkungsmessungen können jedoch auch mittels qualitativer Erhebungsverfahren durchgeführt werden, etwa um den Inhalt der Wirkungen und die Zusammenhänge verschiedener Faktoren zu verstehen. Formative Evaluation hat hingegen das Ziel, ein Projekt oder Vorhaben bereits während der Umsetzung, z. B. durch kontinuierliche Rückspiegelung von (Zwischen-) Ergebnissen, mit zu gestalten bzw. zu „formen“. Dadurch soll gewährleistet werden, dass während des Ablaufs noch Veränderungen vorgenommen werden können. Nach den von der Gesellschaft für Evaluation e. V. formulierten Standards für Evaluationsvorhaben (DeGEVal 2017, S. 67) hat die formative Evaluation vorwiegend den „Zweck der Verbesserung und Steuerung des Evaluationsgegenstands“ und „wird in der Regel begleitend zur Maßnahme und oft zyklisch durchgeführt.“ Die formative Evaluation bezieht sich daher stärker auf eine prozessorientierte Forschungsperspektive und steht der Tradition der Begleitforschung nahe. Bereits während eines Projekts oder einer Maßnahme finden immer wieder Erhebungen oder Wirkungskontrollen statt, um so entsprechende Entwicklungs- und Lernprozesse anstoßen zu können. Insofern ist
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bei formativen Evaluationsverfahren eine gewisse „Offenheit“ von Nöten, sodass auch verstärkt qualitative Verfahren der Sozialforschung eingesetzt werden (z. B. Interviews, Gruppendiskussionen, Feedback-Schleifen, teilnehmende Beobachtungen). Dabei ist es sogar möglich, dass sich aufgrund einer formativen Evaluationsschleife die Projektziele im Verlauf eines Projekts ändern können. Während sich also die summative Evaluation auf die abschließende Wirkungsmessung konzentriert, wird die formative Evaluation häufig auch bereits schon während der Projektdurchführung zur Optimierung eines Projektablaufs eingesetzt, d. h. die Erkenntnisse der formativen Evaluation können wiederum für die weitere Projektdurchführung genutzt werden. Daher geht es bei der formativen Evaluation immer auch um eine Einschätzung der Prozessqualität und um das Generieren von entsprechendem Handlungs- und Prozesswissen. In der Realität können aber durchaus auch beide Evaluationsstrategien miteinander kombiniert werden, um einerseits einen „reibungslosen“ Ablauf zu garantieren, andererseits aber auch abschließende Wirkungsmessungen durchführen zu können. Zur Wahl der Evaluationsstrategie zählt weiterhin die Frage nach den jeweiligen Erhebungsmethoden und Auswertungsverfahren. Analog der quantitativen und qualitativen Sozialforschung kann auch bei Evaluationen
Abb. 2 Summative und formative Evaluationsstrategie im Vergleich. (eigene Darstellung)
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unterschieden werden zwischen quantitativen und qualitativen Verfahren. Die jeweiligen Erhebungsmethoden und Auswertungsmöglichkeiten richten sich dabei wiederum vorwiegend nach der Art der Evaluation, d. h. nach der summativen und/oder formativen Ausrichtung des Vorhabens. Methoden der quantitativen Sozialforschung spielen insbesondere bei summativen Evaluationsverfahren eine große Rolle. Summative Evaluation entspricht im Grunde genommen einer hypothesenüberprüfenden Forschungsabsicht (vgl. Bortz/Döring 2009, S. 109 sowie 111 ff.). Demnach basiert die summative Evaluationsstrategie stets auf einer hypothetischen Annahme über eine bestimmte Wirkung. d. h. letztendlich „überprüft die summative Evaluation die Hypothese, dass die Maßnahme wirksam ist bzw. genau so wirkt, wie man es theoretisch erwartet hat“ (ebd., S. 111). Entsprechend dieser Forschungslogik spielen die Gütekriterien der quantitativen Sozialforschung – Objektivität, Reliabilität und Validität – eine entscheidende Rolle bei summativen Evaluationen und gehören zu den „Standards für Evaluationen“ (vgl. DeGEVal 2008, S. 35). Als Methoden zur Datengewinnung werden daher auch eher standardisierte Instrumente angewendet, etwa Fragebogenerhebungen, standardisierte Interviewleitfäden oder Beobachtungsprotokolle. Aufgrund des hypothesenüberprüfenden Charakters der summativen Evaluation kommt experimentellen Designs zudem eine besondere Bedeutung zu (zu den Problemen dieses Designs siehe auch Abschn. 6.3). Letztendlich basiert auch die Auswertung der Daten auf der hypothesentestenden, quantitativen Sozialforschung. Üblicherweise werden Daten zu zwei Zeitpunkten erhoben, die dann statistisch vergleichen werden, um so Rückschlüsse auf Wirkungen ziehen zu können. Qualitative Verfahren der empirischen Sozialforschung werden hingegen deutlich stärker in der formativen Evaluation eingesetzt, weil die Offenheit gegenüber dem Projektverlauf und dem Evaluationsgegenstand dies häufig erfordert. Allerdings ist der Einsatz qualitativer Erhebungs- und Auswertungsmethoden nicht nur auf die formative Evaluation beschränkt, qualitative Verfahren können durchaus auch in der summativen Evaluation eingesetzt werden. Insbesondere in Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit können hoch standardisierte Erhebungsmethoden und hypothesentestende, statistische Auswertungen der Vielschichtigkeit pädagogischer Prozesse nicht gerecht werden (vgl. Schulz 2009, S. 281 ff.). Zum Einsatz kommen hier meist explorative Verfahren wie qualitative Interviews, Gruppendiskussionen, nicht standardisierte Beobachtungsprotokolle oder auch verschiedene Feedback-Methoden und Workshops. Der Vorteil qualitativer Sozialforschung in der Evaluation von Projekten wurzelt dabei in zwei Aspekten: „Qualitativen Methoden schreibt man üblicherweise eine größere Offenheit und eine Berücksichtigung der Perspektive der Beteiligten zu.“ (Kuckartz et al. 2007,
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S. 11) So können mithilfe von qualitativen Verfahren auch sogenannte „Nebenwirkungen“ identifiziert werden, die in einer quantitativ ausgerichteten Evaluation aufgrund der Verengung auf eine bestimmte Wirkhypothese nicht hätten aufgedeckt werden können (vgl. ebd., S. 14). Qualitative Instrumente können hier also auch Effekte identifizieren, die im Vorfeld nicht als Wirkhypothese definiert wurden. Ein wesentlicher Vorteil qualitativer Erhebungsverfahren ist in diesem Zusammenhang die Orientierung an der subjektiven Perspektive der Betroffenen. Diese Perspektive fördert möglicherweise „Wirkungen“ zutage, die sich völlig von den vorab formulierten Zielen unterscheiden können. Die „Wirkung“ eines Projekts kann also sowohl unter dem Blickwinkel der vorab definierten Zieldimensionen des Teams bzw. der Evaluatoren als auch unter dem Blickwinkel der Teilnehmenden eines Projekts „gemessen“ werden. Den „Mehrwert“ einer qualitativ ausgerichteten Evaluation verdeutlichen Kuckartz u. a. an folgenden Aspekten (ebd., S. 66 ff.; einzelne Punkte zusammengefasst): 1. Qualitative Evaluation findet in intensiveren Interaktions- und Kommunikationssituationen statt, sodass die Motivation zur Beteiligung und Beantwortung der Fragen steigt. Weil die Befragten im Rahmen von Interviews einem „Begründungszwang“ unterworfen sind, lassen sich zudem mehr Begründungen und vielfältigere Lösungsvorschläge sammeln. 2. Die eher fallorientierte Perspektive ermöglicht das Verständnis der Wirkungen im jeweiligen Kontext und Prozess. Bestimmte Aussagen über Wirkungen können dann in einen Kontext eingebettet werden. 3. Anstatt eines standardisierten Erhebungsinstruments ermöglicht die qualitative Evaluation eine ganzheitliche Erfassung komplexer Sachverhalte, sodass differenziertere Erklärungen möglich werden. Zudem werden Fehlschlüsse vermieden, da eine qualitative Evaluation ein breites Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten anbietet. 4. Aufgrund der prozessorientierten Perspektive können handlungsleitende Hinweise zur Verbesserung eines Angebots, einer Maßnahme oder eines Projekts gewonnen werden. Die Darstellungen verdeutlichen die jeweiligen Vor- und Nachteile verschiedener Evaluationsstrategien. Es gibt aber durchaus auch die Möglichkeiten, summativ-quantitative und formativ-qualitative Evaluationsstrategien sinnvoll zu kombinieren. In einer solchen Kombination von summativer und formativer Evaluation können insgesamt qualitativ gewonnene Ergebnisse während des Projektverlaufs dafür genutzt werden, den Katalog an summativ zu bewertenden Zielen zu erweitern oder zu verändern.
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6.2 Vorgehensweise bei einer Projektevaluation – ein idealtypischer Evaluationsverlauf als Orientierungsgrundlage Kuckartz et al. (2007, S. 15 ff.) fassen in ihrem Buch „Qualitative Evaluation“ sieben Schritte eines idealtypischen Evaluationsverlaufs zusammen, die durchaus auch auf andere, selbst auf quantitative Evaluationsvorhaben, übertragen werden können. Die folgende Darstellung orientiert sich daher an der Phasenabfolge von Kuckartz et al. (2007), beinhaltet aber gleichzeitig im Hinblick auf Generalisierbarkeit einige Modifikationen und Erweiterungen.
6.2.1 Schritt 1: Evaluationsgegenstand und Evaluationsziele festlegen – die Zielformulierung als zentraler Schritt in jeder Evaluation Zunächst muss festgelegt werden, ob das gesamte Projekt oder nur Teile davon (Meilensteine) evaluiert werden sollen. Dann müssen die Projektziele, die evaluiert werden sollen, geklärt werden (wie bereits mehrfach betont, hängen Zielformulierung und Evaluation unmittelbar zusammen). Jede Evaluation gelingt oder scheitert in dem Maße, wie die Ziele formuliert werden, die sie vorgibt zu messen. Um genaue und auch legitimatorisch verwertbare Ergebnisse zu erhalten, ist es insbesondere für summative Evaluationen zwingend notwendig, dass die Projektziele, die bewertet werden sollen, spezifisch und messbar formuliert werden. Die bereits unter Abschn. 5 (Projektmanagement) dargestellten S.M.A.R.T-Kriterien (vgl. Beywl/Schepp-Winter 1999, S. 63 ff.) stellen hier eine wichtige Orientierungshilfe dar. Man kann, je nach Gegenstand, weiterhin zwischen „harten“ und „weichen“ Zielen unterscheiden. „Harte“ Ziele sind konkrete, an den Zielvorgaben orientierte „Wirkungsziele“. Wenn beispielsweise im Rahmen eines Antiaggressionstrainings als Ziel die merkliche Abnahme aggressiven Verhaltens der Teilnehmenden formuliert wird, dann handelt es sich um ein hartes Ziel. Überprüfbar ist dies beispielsweise auf Basis von standardisierten Beobachtungsbögen in spezifischen Situationen, in denen die Häufigkeit aggressiver Verhaltensweisen (die natürlich noch definiert werden müssten) vor und nach dem Training gezählt wird. „Weiche“ Ziele sind hingegen eher „Nebeneffekte“, wie z. B. eine höhere Sozialkompetenz oder aber auch die Zufriedenheit der Teilnehmenden mit dem Projektverlauf und die Motivation, weitere Trainings mitzumachen.
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Relevante Fragen, die sich in Phase 1 der Projektevaluation stellen sind daher: • Was soll evaluiert werden und was nicht? • Welche Art von Ergebnissen muss hinterher vorliegen? • Wie müssen die Ziele formuliert werden, dass sie erreichbar und überprüfbar sind? • Welche harten Wirkungsziele und welche weichen Ziele sind von Interesse?
6.2.2 Schritt 2: Instrumente sowie Indikatoren entwickeln – geeignete Informationsquellen suchen Dieser Schritt kann auch als Operationalisierung zur Messung der Zielerreichung bezeichnet werden. Dabei müssen zwei Teilschritte bedacht werden: • Erstens müssen jeweils geeignete Untersuchungsmethoden bzw. Erhebungsinstrumente ausgewählt werden (z. B. Fragebogen, Interview, Beobachtung, Methoden-Kombinationen). Das Instrument muss der Zielsetzung der Evaluation angemessen sein (standardisiert vs. nicht-standardisiert; Messung von harten Zielen vs. weichen Zielen). Neben sogenannten reaktiven Methoden, die den Nachteil haben, dass sie bei den Befragten oder Beobachteten eine nicht intendierte Reaktion auslösen (z. B. sozial erwünschte Antworten), können aber auch nicht-reaktive Verfahren eingesetzt werden (z. B. Dokumentenanalyse, Sekundärdaten). • Zweitens gilt es, die zu messenden Ziele in geeignete Indikatoren zu „übersetzen“ (Validität des Instruments). Diese Herausforderung ist nicht zu unterschätzen, weil einige Konstrukte schwierig zu messen sind (wie z. B. Aggression, bestimmte politische Einstellungen). Ein Kernproblem bei Evaluationen ist es meist, geeignete Indikatoren zur „Messung“ von Wirkungen zu finden. An einem Beispiel sei dies verdeutlicht: Eine „negative“ Entwicklung der Sozialhilfestatistik oder der Kriminalstatistik sagt nicht unbedingt etwas über das „Scheitern“ bestimmter Vorhaben aus. Hinter steigenden Sozialhilfeempfängerzahlen in einem Stadtteil kann auch eine „gelungene“ Sozialarbeit stehen, die Menschen dabei unterstützt, ihre (rechtlichen) Ansprüche geltend zu machen. Ebenso kann eine höhere Kriminalitätsrate auch mit einer gesteigerten Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung zusammenhängen. Relevante Fragen in Phase 2 sind:
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• Welches Methodenrepertoire und welche Untersuchungsinstrumente erscheinen der Evaluationsstrategie angemessen? Kommen auch Kombinationen infrage? • Welche Variablen/Merkmale müssen in der Untersuchung/Befragung berücksichtigt werden? • Sind die gewählten Indikatoren passend, um die Zielerreichung zu „messen“?
6.2.3 Schritt 3: Festlegen der Vorgehensweise und Auswahl der Untersuchungspopulation – methodische Regeln der empirischen Sozialforschung beachten Es muss nun entschieden werden, anhand welcher Personen, in welchem Umfang und zu welchem Zeitpunkt die Zielerreichung überprüft wird. Neben einer inhaltlich begründeten Auswahl der Personen (Identifikationsmerkmale) muss ferner über den Umfang der Erhebungen und die Zeitpunkte der „Messung“ entschieden werden: • Identifikationsmerkmale sind diejenigen Merkmale, die die für eine Evaluation infrage kommenden Personen charakterisieren. In den meisten Fällen sind dies die Projektteilnehmenden, je nach Fragestellung können aber auch Befragungen der Projektdurchführenden oder anderer Akteure (Stakeholder, Kooperationspartner) denkbar sein. Um die richtigen Merkmalsträger in die Untersuchung einzubeziehen, muss man genau überlegen, welche Personengruppe also relevant ist. • Bei der Auswahl der Personen gilt es zu entscheiden, ob man eine Stichprobe zieht oder eine Vollerhebung realisieren möchte. Im Falle einer Stichprobe muss zudem überlegt werden, ob man die Untersuchungsgruppe zufällig generiert oder die Personen bewusst auswählt (quantitative vs. qualitative Vorgehensweise). • Was den Zeitpunkt der Untersuchung(en) betrifft, muss entschieden werden, ob sich ein Querschnitts-, Längsschnitt- oder sogar ein Paneldesign eignet. Die jeweiligen Vor- und Nachteile sind zu diskutieren. Ferner sollten Zeitpunkt und Vorgehensweise im Falle von mehreren Untersuchung(en) festgelegt werden. Relevante Fragen in Phase 3 sind: • Welche und wie viele Personen muss ich befragen, um dem Evaluationszweck bestmöglich gerecht zu werden? • Wie soll die Auswahl gesteuert werden (Zufall, gezielte Auswahl)? • Welcher Zeitpunkt erscheint geeignet für eine „Messung“ (nur ein Zeitpunkt, z. B. am Ende des Projekts, oder mehrere Zeitpunkte, um Entwicklungen bzw. Veränderungen aufzudecken). Brauche ich mehrere Messzeitpunkte?
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6.2.4 Schritt 4: Durchführung und Auswertung – methodische und forschungsethische Standards beachten Die Durchführung der jeweils gewählten Untersuchungsvorhaben sowie die Auswertung unterliegen den üblichen Regeln der empirischen Sozialforschung. Zu berücksichtigen sind insbesondere methodische und forschungsethische Grundvoraussetzungen bei der Durchführung empirischer Befragungen und Beobachtungen, etwa das Vermeiden von Suggestivfragen und die Zusicherung von Anonymität. Gleiches gilt für die Datenerfassung, -verarbeitung und -auswertung. Relevante Fragen in Phase 4 sind daher: • Welche Situationen kommen für eine Erhebung in Betracht? Wo und wie soll die Durchführung erfolgen (z. B. Interviews in bestimmten Räumen, anonymer schriftlicher Fragebogen) • Welche potenziellen „Störquellen“ gilt es zu beachten und ggf. zu vermeiden? Bestehen Vorbehalte vonseiten der befragten Personen? • Wie sollten die Daten aufbereitet und dokumentiert sein? Welche Form der Auswertung soll vorgenommen werden?
6.2.5 Schritt 5: Verwertung der Ergebnisse – Ergebnisse reflektieren und Handlungsempfehlungen ableiten In Bezug zu den eingangs formulierten Zielen des Projekts muss an dieser Stelle sowohl die Einschätzungen der Zielerreichung als auch eine Reflexion und ggf. eine Formulierung von Handlungsempfehlungen erfolgen. Die Einschätzung der Zielerreichung muss datengestützt sein, d. h. es können nur „Erfolge“ abgeleitet werden, die sich aus den erhobenen Daten ableiten lassen. Zusätzlich können die Ergebnisse in Form von Handlungsempfehlungen verdichtet werden, etwa als Empfehlung für weitere Projekte, oder wenn bestimmte Ziele nur wenig oder gar nicht erreicht wurden. Dabei gilt es aber auch, die verwendeten Indikatoren zu reflektieren. Daher sind relevante Fragen in Phase 5: • Wie ist der Projekterfolg insgesamt einzuschätzen? Welche Ziele wurden erreicht, welche nicht? Sind auch „Nebeneffekte“ beobachtet worden? • Konnten die Ziele adäquat gemessen werden oder müssen weitere Erkenntnisse gesammelt werden? Waren die Indikatoren geeignet zur Messung der Ziele? • Können (weitere) Handlungsempfehlungen abgeleitet werden?
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6.3 Abschließende und kritische Reflexion zum Thema Projektevaluationen – das Kausalitätsproblem und die Gefahren „interessengeleiteter“ Forschung Eine der größten Herausforderungen bei der Durchführung und Interpretation von Evaluationen ist das Problem einer kausalen Zuordnung von Ursache und Wirkung. Mit anderen Worten: Wie gesichert ist es, dass die festgestellte Wirkung auch wirklich auf das (vorher) durchgeführte Projekt zurückgeführt werden kann? Diese Frage kann strenggenommen nur in einem experimentellen Design beantwortet werden, in dessen Rahmen beispielsweise eine Experimental- und eine Kontrollgruppe randomisiert erzeugt werden, d. h. die einzelnen Personen werden jeweils einer der beiden Gruppen nach dem Zufallsprinzip zugeordnet (vgl. beispielsweise Bortz/Döring 2009, S. 54 ff., 113 ff., 528 f. sowie Schaffer 2009, S. 68 ff.). Die Experimentalgruppe wäre dann die Gruppe, die an dem Projekt teilnimmt, die Kontrollgruppe dann eine weitere Gruppe, die nicht an dem Projekt teilnimmt. Beide Gruppen müssten sich zudem ähneln, was über eine randomisierte Zuordnung erreicht werden kann. Würde sich dann eine bestimmte Wirkung bei der Experimentalgruppe nach Ablauf des Projekts einstellen, die nicht bei der Kontrollgruppe beobachtet wird, wäre dies ein Hinweis auf die Wirkung des Projekts. Letztendlich sind solche Vorhaben in der Praxis der Kinder- und Jugendarbeit jedoch nicht realistisch, denn man könnte den jungen Menschen nicht plausibel erklären, warum einige Personen an dem Projekt teilnehmen dürfen und andere nicht. Dem entgegen steht auch der Freiwilligkeitscharakter der Angebote in der Kinder- und Jugendarbeit. Dennoch kann eine Ursachen-Wirkungs-Reflexion unter experimentellen Gesichtspunkten vorgenommen werden, indem beispielsweise die Projektteilnehmenden mit anderen, möglichst ähnlichen Jugendlichen, die nicht an dem Projekt teilgenommen haben, verglichen werden (etwa auf Basis von methodisch kontrollierten Beobachtungen oder Befragungen). Diese Vorgehensweise entspricht der Idee des „Quasi-Experiments“ (vgl. Bortz/Döring 2009, S. 54, 114, 529 sowie Schaffer 2009, S. 67 f.), bei dem jedoch keine Randomisierung erfolgt. Die jeweilige Interpretation der Ergebnisse muss selbstverständlich entsprechend kritisch reflektiert werden. Ein weiteres Problem wurzelt in der charakteristischen Ausgangslage der meisten Projektevaluationen: Projekte beinhalten aufgrund ihres Charakters, neue, innovative Ideen in einem zeitlich befristeten Rahmen zu erproben, immer auch die Gefahr, dass mit ihnen eine „Erfolgserwartung“ verbunden wird. Eine solche Erfolgserwartung steigt, wenn die Projekte finanziell gefördert werden, etwa mit öffentlichen Geldern. Effizienz- und Effektivitätserwartung machen
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letztendlich auch Projektevaluationen anfällig für interessengeleitete Vorgehensweisen, die gegen die wissenschaftliche „Objektivität“ verstoßen und bisweilen sogar einen fragwürdigen Charakter tragen können. Solche interessengeleitete Vorgehensweisen können auf zwei verschiedenen Ebenen gefunden werden: Einerseits kann bereits das Evaluationsdesign so angelegt sein, dass „positive Wirkungen“ mit großer Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. Beispielsweise kann das Erhebungsinstrument so konstruiert sein, dass bestimmte Fragen einfach weggelassen werden, oder aber die Auswahl der Befragungspersonen orientiert sich an bestimmten Personen, von denen zu erwarten ist, dass sie vor allem positive Eindrücke berichten. Andererseits können aber auch Auswertungen und Darstellungen so manipuliert werden, dass positive Effekte erkennbar sind, etwa indem beispielsweise bestimmte Erkenntnisse in der Berichtstellung einfach „weggelassen“ werden. Entsprechende Reflexionen sind also auf der Ebene des Designs sowie auf der Ebene der Auswertung und Ergebnispräsentation zu berücksichtigen. Hintergrund solcher Vorgehensweisen können verschiedene Gründe sein. Ein paar Beispiele dazu finden sich in Bortz/Döring (2009, S. 97 ff.). Evaluationen können zur Selbstdarstellung oder als „Durchsetzungshilfe“ genutzt werden, etwa, wenn eine Institution oder Organisation die Projektevaluation benötigt, um eine Maßnahme, ein Angebot oder ein Programm als Regelleistung finanziert zu bekommen. Hier werden nicht selten „geschönte“ Ergebnisse produziert. Aber selbst wenn eine Evaluation extern vergeben wird, ist wissenschaftliche Objektivität nicht gesichert. Denn die beauftragte Institution oder Organisation steht dann in einem finanziellen Abhängigkeitsverhältnis oder ist auf das Wohlwollen des zu evaluierenden Akteurs angewiesen.
7 Zusammenfassung Der Beitrag verdeutlicht insgesamt, welche vielfältigen Potenziale in der Projektarbeit wurzeln. Diese Potenziale stehen dabei im Einklang mit wichtigen Zielen der Kinder- und Jugendarbeit: Projekte können dafür genutzt werden, dass sich das Angebot stärker an den Interessen und Bedürfnissen der jungen Menschen orientiert und damit attraktiver wird. Auch werden aufgrund der Charakteristika von Projekten manche Kinder und Jugendliche besser erreicht als mit „festen“ Programmpunkten. Mithilfe von Projekten können unterschiedliche Lernerfahrungen und Bildungsprozesse in Gang gesetzt werden, von denen die teilnehmenden Kinder und Jugendliche entscheidend profitieren. Im Rahmen von Projekten können darüber hinaus vergleichsweise schnell Erfolge erzielt werden, was die Selbstwirksamkeit der Teilnehmenden steigert. Zuletzt sind Projekte ein
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wichtiger Motor für soziale Lernprozesse; Projekte tragen hierbei auch dazu bei, dass Vorurteile, Berührungsängste und Intergruppenkonflikte abgebaut werden können. Voraussetzung zur Nutzung dieser Potenziale ist jedoch die systematische Planung und Durchführung von Projekten sowie entsprechende Kenntnisse zu den Grundregeln der Projektevaluation. Nur so kann der Erfolg eines Projekts auch gesichert werden. Insgesamt erfordert Projektarbeit daher eine hohe Professionalität und fundierte Kenntnisse in den Bereichen Projektmanagement und Projektevaluation. Nicht zuletzt bedeutet diese Professionalität aber auch, die Vor- und Nachteile von Projektarbeit entsprechend reflektieren zu können.
8 Übungsfragen 1. Wie wird ein „Projekt“ definiert und was sind die wesentlichen Kernmerkmale? Erläutern Sie dies an Beispielen? 2. Welche entscheidenden Vorteile hat Projektarbeit im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit? Erläutern Sie diese Vorteile anhand der drei Ebenen Individuum, Organisation/Institution und Gruppe/soziales Miteinander. 3. Kascha (2005, S. 276) bezeichnet Projekte als „‚Rosinen´ im Alltagskuchen“ der Kinder- und Jugendarbeit. Erläutern Sie diese These und gehen Sie dabei auch auf die Nachteile/Risiken ein. 4. Welche Phasen der Projektarbeit werden in der Literatur unterschieden und wie hängen diese zusammen? 5. Welche nützlichen Instrumente zur Projektplanung und -steuerung wurden im Rahmen des professionellen Projektmanagements entwickelt? Erklären Sie diese anhand von Beispielen? 6. Welche beiden Evaluationsstrategien werden idealtypisch unterschieden und welche Relevanz haben diese für die Planung der Vorgehensweise und Wahl der Erhebungsinstrumente?
Literatur Antes, W. 2010. Projektarbeit für Profis. Praxishandbuch für moderne Projektarbeit, 2. Aufl. Weinheim: Juventa. Beywl, Wolfgang, und Ellen Schepp-Winter. 1999. Zielfindung und Zielklärung – ein Leitfaden. Materialien zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe, QS 21. Herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bonn. www.bmfsfj.de/blob/95112/b123324f68070f70b4e3f1b100d0ab49/prm-2982-qs21-data.pdf.
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Bortz, Jürgen, und Nicola Döring. 2009. Forschungsmethoden und Evaluation für Humanund Sozialwissenschaftler, Bd. 4. Heidelberg: Springer Medizin. Deinet, Ulrich, und Benedikt Sturzenhecker, Hrsg. 2013. Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, 4., überarbeitete undaktualisierte Aufl. Wiesbaden: Springer VS. Deinet, Ulrich, und Benedikt Sturzenhecker, Hrsg. 2005. Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, 3., völlig überarbeitete undaktualisierte Aufl. Wiesbaden: VS Verlag. DeGEval – Gesellschaft für Evaluation e. V. 2008. Standards für Evaluation. 4. unveränderte Aufl. Mainz. www.degeval.org/fileadmin/user_upload/Sonstiges/STANDARDS_ 2008-12.pdf. DeGEval – Gesellschaft für Evaluation e. V. 2017. Standards für Evaluation. Erste Revision 2016. Mainz. https://www.degeval.org/fileadmin/Publikationen/DeGEval-Standards_ fuer_Evaluation.pdf. Fischer, Birgit. 2003. Jugendarbeit am Beginn des 21. Jahrhunderts. Politische Perspektiven. In Kinder- und Jugendarbeit – Wege in die Zukunft. Gesellschaftliche Entwicklungen und fachliche Herausforderungen, Hrsg. Thomas Rauschenbach, Wiebken Düx, und Erich Sass, 195–204. Weinheim: Juventa. Hafeneger, Benno. 2009. Zur gegenwärtigen Situation der Kinder- und Jugendarbeit – ein Kommentar zur aktuellen Datenlage. In Kinder- und Jugendarbeit wirkt. Aktuelle und ausgewählte Evaluationsergebnisse der Kinder- und Jugendarbeit, 2. Aufl, Hrsg. Werner Lindner, 37–50. Wiesbaden: VS Verlag. Kascha, R. 2013. Projektarbeit. In Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, 4., überarbeitete u. aktualisierte Auflage Aufl, Hrsg. Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker, 409–413. Wiesbaden: Springer VS. Kascha, Rainer. 2005. Projektarbeit. In Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, 3., völlig überarbeitete u. erweiterte Aufl, Hrsg. Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker, 275–281. Wiesbaden: Springer VS. Kessler, Thomas, und Amélie Mummendey. 2007. Vorurteile und Beziehungen zwischen sozialen Gruppen. In Sozialpsychologie. Eine Einführung, 5., vollständig überarbeitete Aufl, Hrsg. Klaus Jonas, Wolfgang Stroebe, und Miles Hewstone, 487–531. Heidelberg: Springer Medizin. Kuckartz, Udo, Thorsten Dresing, Stefan Rädiker, und Claus Stefer. 2007. Qualitative Evaluation. Der Einstieg in die Praxis. Wiesbaden: VS Verlag. May, Evelyn. 2013. Kinder- und Jugendkulturarbeit in Jugendkunstschulen und Soziokulturellen Zentren. In Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, 4., überarbeitete u. aktualisierte Aufl, Hrsg. Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker, 741–745. Wiesbaden: Springer VS. Meyer, Helga, und Heinz-Josef Reher. 2016. Projektmanagement. Von der Definition über die Projektplanung zum erfolgreichen Abschluss. Wiesbaden: Springer Gabler. Moser, Heinz. 2015. Instrumentenkoffer für die Praxisforschung. Eine Einführung, 6. überarbeitete und ergänzte Auflage. Freiburg im Breisgau: Lambertus. Münchmeier, Richard. 2005. Zukunft der Jugendarbeit. In Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit, 3., völlig überarbeitete u. erweiterte Aufl, Hrsg. Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker, 649–662. Wiesbaden: VS Verlag. Otten, Sabine, und Christina Matschke. 2008. Dekategorisierung, Rekategorisierung und das Modell wechselseitiger Differenzierung. In Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen, Hrsg. Lars-Eric Petersen und Bernd Six, 292–300. Weinheim: Beltz.
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Schaffer, Hanne. 2009. Empirische Sozialforschung für die Soziale Arbeit. Eine Einführung, 2. Aufl. Freiburg im Breisgau: Lambertus. Schulz, Marc. 2009. Evaluation als praktische Haltung in der Kinder- und Jugendarbeit. In Kinder- und Jugendarbeit wirkt. Aktuelle und ausgewählte Evaluationsergebnisse der Kinder- und Jugendarbeit, 2. Aufl, Hrsg. Werner Lindner, 281–293. Wiesbaden: VS Verlag. Stürmer, Stefan. 2008. Die Kontakthypothese. In Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung Theorien, Befunde und Interventionen, Hrsg. Lars-Eric Petersen und Bernd Six, 283–291. Weinheim: Beltz.
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Ehrenamtliches Engagement Paul-Stefan Roß
Zusammenfassung
Kinder- und Jugendarbeit (KJA) war und ist Ort eines vielfältigen ehrenamtlichen, freiwilligen Engagements. Einerseits werden ihre Angebote in hohem Maße von ehrenamtlich Engagierten getragen. Andererseits stellt freiwilliges Engagement eine Gelegenheitsstruktur par excellence dar, Kernziele von Jugendarbeit zu realisieren: Verantwortungsübernahme, Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Teamarbeit usw. Um freiwilliges Engagement in der KJA und die Möglichkeiten seiner Förderung in einer angemessenen Breite und Tiefe zu diskutieren, wird 1) in einer Analyse der verschiedenen verwendeten Begriffen und der mit ihnen verbundenen Engagement-Traditionen die Vielfalt des Engagements (im Allgemeinen und in der KJA im Besonderen) erschlossen; werden 2) aktuelle empirische Daten zum Engagement in Deutschland referiert; wird 3) ein Blick auf den Diskurs und die verfügbaren empirischen Daten zum Engagement in der KJA geworfen; wird 4) die fachliche, politische, gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung von Engagement in der KJA erörtert; werden 5) Perspektiven der Förderung von Engagement in der KJA skizziert.
P.-S. Roß (*) Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Heilbronn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_11
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1 Einleitung Kinder- und Jugendarbeit (KJA) war und ist Ort eines vielfältigen ehrenamtlichen, freiwilligen Engagements. Einerseits werden ihre Angebote in hohem Maße von ehrenamtlich Engagierten getragen. Andererseits ist freiwilliges Engagement „eine ideale Möglichkeit, Ziele von Jugendarbeit umzusetzen“ (Sturzenhecker 1999c, S. 87). Beides scheint unbestritten. Doch der Versuch, sich über dieses Engagement systematisch Gedanken zu machen, stößt auf Schwierigkeiten: • Erstens begriffliche Probleme. Welche Wortwahl ist angemessen: „Ehrenamt“, „Freiwilligenarbeit“, „freiwilliges Engagement“, „bürgerschaftliches Engagement“? • Damit verbunden ein doppeltes Definitions- bzw. Eingrenzungsproblem: a) Was genau gehört in den ausgesprochen vielfältigen Bereich der KJA – und was nicht (siehe dazu auch die Beiträge in Teil II dieses Buchs)? b) Was genau gehört zu (ehrenamtlichem, freiwilligen usw.) Engagement – und was nicht? • Drittens ein Empirieproblem. Valide Daten zum Engagement in der Kinderund Jugendarbeit liegen (abgesehen von einzelnen Fallstudien) nicht vor. Überhaupt gibt es kaum aktuelle Literatur zum Thema. Um dementsprechend bei den Überlegungen zum Engagement in der KJA und zu Möglichkeiten seiner Förderung nicht zu kurz zu greifen, möchte ich die Thematik in fünf Schritten angehen: 1. Den verschiedenen Begriffen auf die Spur kommen, um so ein Verständnis von der Breite des Engagements (im Allgemeinen und in der KJA im Besonderen) zu gewinnen. 2. Einige aktuelle empirische Daten zum Engagement insgesamt in Deutschland darstellen. 3. Einen Blick auf den Diskurs und die verfügbaren empirischen Daten zum Engagement in der KJA werfen. 4. Der Frage nach der fachlichen, politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Bedeutung von Engagement in der KJA nachgehen. 5. Perspektiven der Förderung von Engagement in der KJA skizzieren.
Ehrenamtliches Engagement
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2 Den verschiedenen Begriffen auf die Spur kommen ‚Engagement‘ – hier zunächst sehr allgemein verstanden als Dachbegriff für ein Tätigwerden von Menschen für eigene und/oder fremde Belange jenseits von Erwerbsarbeit – hat in Deutschland in den zurückliegenden zwei Dekaden wachsende Aufmerksamkeit erfahren. Gleichwohl ist, wie einleitend bereits vermerkt, der Gegenstand, um den es geht, keineswegs eindeutig. Dies zeigt bereits die Fülle der verwendeten Begriffe: ‚Ehrenamt‘, ‚Freiwilliges Engagement‘, ‚Freiwilligenarbeit‘, ‚Bürgerschaftliches Engagement‘, ‚Bürgerengagement‘, ‚Bürgerarbeit‘ usw. Die Vielfalt der Terminologie verweist dabei auf die Vielfalt von – in höchst unterschiedlichen Traditionen und sozio-kulturellen Kontexten verankerten – Verständnissen und konkreten Formen von Engagement in einer ausdifferenzierten Gesellschaft (vgl. Evers et al. 2015). Wie Engagement verstanden und konkret praktiziert wird, welche Bedeutung ihm beigemessen und wie es bezeichnet wird, steht in engem Zusammenhang mit den jeweiligen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Kontextbedingungen. Wenn im Folgenden – stark schematisiert – die deutsche Engagementgeschichte der vergangenen zweihundert Jahre nachgezeichnet wird, so geschieht dies nicht primär aus historischem Interesse. Es geht v. a. um die Gegenwart. Im ‚Genom‘ dessen, was wir heute als Engagement vorfinden, haben unterschiedliche geschichtliche, politische und gesellschaftliche Entwicklungen Spuren hinterlassen, die bis heute prägend sind. Dieses Genom zu entschlüsseln ist daher wichtig, um Engagement – insbesondere in der KJA – erstens angemessen zu verstehen und zweitens Erfolg versprechend fördern zu können.
2.1 ‚Ehrenamt‘, ‚freiwilliges Engagement‘, ‚Bürgerschaftliches Engagement‘ – deutsche Engagementtraditionen vom 19. Bis zum 21. Jh. Im Kontext der administrativen Reformen zu Beginn des 19. Jh. (Verankerung der ‚kommunalen Selbstverwaltung‘ mit der Preußischen Städteordnung vom 19.11.1808), der sozialen Reformen und Bewegungen in der Mitte des 19. Jh. (z. B. Armenbesuche durch männliche Honoratioren im sog. ‚Elberfelder System‘, Gründung von Wohltätigkeitsorganisationen durch bürgerliche Frauen,
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männliche Kirchenvertreter oder aus der Arbeiterbewegung heraus) sowie des sich in diesem Zeitabschnitt vollziehenden Aufblühens des Vereinswesens (Sport, Musik, Wohltätigkeit, Geselligkeit) schlägt „die Geburtsstunde des bürgerlichen Ehrenamtes“ (Sachße 2011, S. 18). Aus dieser Konstellation heraus entwickelt sich unter dem Begriff ‚Ehrenamt‘ ein Typus von Engagement, der mit Amtlichkeit, gesellschaftlichem Ansehen, Staatsnähe und Patrimoniat zu tun hat. Charakteristisch für das hier thematisierte und praktizierte Engagement ist ein Changieren zwischen emanzipatorischen und obrigkeitlichen Tendenzen – eine Spannung, die dem ‚Engagement auf Deutsch‘ bis heute anzuhaften scheint. ‚Ehrenamt‘ bleibt bis Mitte der 1980er Jahre die unbestrittene Bezeichnung für Engagement im Sinne einer regelmäßigen, im Prinzip unentgeltlichen und gemeinwohlorientierten Tätigkeit, die in einem organisierten Rahmen stattfindet. In diese Entwicklungslinie sind auch die Jugendverbände, die sich ab Beginn des 20. Jhs. formieren (siehe dazu auch den Beitrag von Patjens und Hettler in diesem Buch, Kap. 5), einzuordnen. Diese Traditionen rahmen und prägen bis heute das Selbstverständnis vieler ‚Ehrenamtlicher‘. Im Nationalsozialismus gerät Engagement in den ideologischen Sog des Dienstes an der ‚gesunden Volksgemeinschaft‘ und wird dementsprechend ‚gleichgeschaltet‘. Die AkteurInnen des Ehrenamts, das bis dahin ganz überwiegend in den die deutsche Gesellschaft des Kaiserreichs und der Weimarer Republik kennzeichnenden weltanschaulich geprägten sozio-kulturellen Großgruppen-Milieus (jeweils mit entsprechenden Jugendorganisationen) verankert war, reihen sich entweder bereitwillig in diesen Strom ein, suchen die innere Emigration oder gehen in kleinen Teilen in den Widerstand. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft ist auch im organisierten Engagement die Tendenz zu beobachten, einen ‚Schlussstrich‘ ziehen zu wollen und ohne schmerzhafte Reflexion darüber, wie es zur Mitwirkung an einer zutiefst menschenverachtenden Politik kommen konnte, relativ umstandslos an Ehrenamts-Traditionen der Weimarer Zeit anzuknüpfen. Mitte des 20. Jhs. verstärkt sich die Pluralisierung der sozio-kulturellen Milieus und der individuellen Werteinstellungen. In der Arbeitswelt steigen die Flexibilitätserwartungen an die Menschen, ‚prekäre Beschäftigung‘ nimmt zu. Es kommt zur Ablösung der lange Zeit vorherrschenden Modelle von ‚Normalbiografien‘ und ‚Normalfamilien‘, an deren Stelle ‚Patchwork-Biografien‘ und ‚Patchwork-Familien‘ treten. Diese Entwicklungen führen dazu, dass auch der Typus des „formstabilen Dauerengagements“ (Müller und Rauschenbach 1992), der für das Ehrenamt kennzeichnend war, zunehmend erodiert. Nun treten die Freiwilligkeit und die relative Verbindlichkeit von Engagement jenseits fester weltanschaulicher
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Einbettungen in den Vordergrund. Engagement wird zum ‚Lebensabschnittsengagement‘. Traditionell altruistische Orientierungen werden abgelöst vom Wunsch nach einer Tätigkeit, die dem individuellen Anspruchsniveau entspricht und auch Selbstentfaltung ermöglicht (Balance von Eigennutz und Gemeinwohl). Was in den 1980er Jahren zunächst als ‚Krise des Ehrenamts‘ und bezogen auf die Jugendverbandsarbeit sogar als „Abschied vom Ehrenamt“ (Müller 1991) thematisiert wird, erweist sich bei genauerem Hinschauen als Strukturwandel des Engagements: Der zurückgehenden Bereitschaft, ehrenamtliche Tätigkeiten in den großen gesellschaftlichen Organisationen und Verbänden (Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Parteien und eben auch Jugendorganisationen) und traditionellen Vereinen zu übernehmen, steht ein hohes Interesse an zeitlich begrenzten, projekthaften, selbstbestimmten und weniger normativ imprägnierten Engagementformen gegenüber.1 Vielen der in diesen Formen aktiven Menschen erscheint daher der Begriff des ‚freiwilligen Engagements‘ angemessener. Was sie praktizieren, hat in ihrer Selbstdeutung weder mit ‚Amt‘ noch mit ‚Ehre‘ zu tun. Traditionelle Engagementformen bleiben gleichwohl bestehen. Ab den 1990er Jahren lenken die Transformationsprozesse der politischen und sozialstaatlichen Systeme den Blick auf die Bedeutung von Engagement für die Stärkung der Demokratie, für eine nachhaltige Entwicklung, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für Daseinsvorsorge insgesamt. Nun rückt die Rede von ‚bürgerschaftlichem Engagement‘ in den Vordergrund, die an republikanische Denktraditionen und den Diskurs zur Zivilgesellschaft angeknüpft (vgl. Enquête-Kommission 2002, S. 7, 57 ff.). Damit wird die gesellschaftspolitische Bedeutung freiwilliger Betätigung in den Mittelpunkt gestellt und der Beitrag, den bürgerschaftliches Engagement „zu den demokratischen Qualitäten der Gesellschaft“ leistet (Klein 2001, S. 260), betont. Dieses erweiterte Verständnis von Engagement als bürgerschaftliches Engagement führt nicht nur zu einer grundsätzlichen Aufwertung des Themas. Es schafft zugleich die Möglichkeit, den gerade skizzierten Entwicklungsstrang, der mit ‚Ehrenamt‘ und ‚freiwilligem Engagement‘ assoziiert ist, mit weiteren Linien zusammenzudenken:
1Nörber
und Sturzenhecker gehen bereits 1999 davon aus, dass „die vielzitierte Krise im sogenannten traditionellen Ehrenamt in Verbänden und Vereinen“ (Nörber und Sturzenhecker 1999, S. 9) weniger mit einer zurückgegangen Engagementbereitschaft zu tun habe, als vielmehr damit, dass „in den Strukturen ehrenamtlicher Arbeit, die in Verbänden praktiziert werden, etwas nicht stimmt“ (ebd.).
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• Mit ‚Selbsthilfe‘, die seit den 1970er Jahren auch in Deutschland stark an Bedeutung gewinnt und gegenüber der ‚Kompetenz professioneller ExpertInnen‘ eine ‚Kompetenz der Betroffenheit‘ reklamiert. Mit Blick auf die verbandliche Jungendarbeit hat interessanter Weise Burkard Müller bereits 1991 (vgl. Mülller 1991, S. 798 f.) vorgeschlagen, diese nicht allein im Traditionsstrang ‚Ehrenamt‘ zu verorten, sondern in der Entwicklungslinie ‚Selbsthilfe‘ (s. u. Kap. „Rechtsgrundlagen der Kinder- und Jugendarbeit“). • Mit ‚politischer Partizipation‘, ‚Bürgerbeteiligung‘ und ‚Bürgerinitiativen‘, die in der Tradition der sozialen und politischen Bewegungen Ende der 1960er und der 1970er Jahre (Studenten-, Anti-Atomkraft-, Friedens-, Umwelt- und Frauen-Bewegung) mit ihren Engagementformen des Protests, des aktiven Widerstands und der Selbstorganisation stehen. Hier einzuordnen sind auch die zu dieser Zeit gegründeten autonome Jugend(kultur)zentren. Aktuell sind Jugend-Initiativen wie die 2018 entstandene Bewegung ‚Fridays for Future‘ sicher eher in dieser Engagement-Tradition zu sehen, als in der des ‚Ehrenamts‘ – wiewohl natürlich jede Protestbewegung von einem erheblichen ‚freiwilligen Engagement‘ ihrer Protagonisten*innen getragen ist. Spätestens seit der Arbeit der Enquête-Kommission Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements des Deutschen Bundestags ist der Begriff des bürgerschaftlichen Engagements in der Bundesrepublik fest etabliert. Auch der Erste und Zweite Engagementbericht der Bundesregierung von 2011 bzw. 2016 (vgl. v. a. BMFSFJ 2017) arbeiten durchgängig mit diesem Begriff.
2.2 Vielfalt, Spannungen, Widersprüche – ‚Engagement‘ in der Gegenwart Vieles spricht dafür, dass heute – in der zweiten Dekade des 21. Jhs. – ein weiterer Schub gesellschaftlicher Entwicklung einen weiteren Typ von Engagement induziert: • Jene Trends, die bereits im Zusammenhang mit der Entwicklung hin zum Freiwilligen Engagement thematisiert worden sind (s. o.), setzen sich fort: Empirisch ist feststellbar, dass sich zunehmend mehr Menschen engagieren – aber sie tun es weniger umfänglich, weniger in Leitungsaufgaben und eher in selbstorganisierten Formen (s. u.). • Die Vielfalt der Formen, in denen Menschen sich engagieren, nimmt kontinuierlich zu: Mitentscheiden wollen steht neben Mitmachen wollen;
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Engagement, dem es um Protest und gesellschaftliche Veränderung geht, steht neben Engagement, das Traditionen bewahren möchte; klar organisierte Engagementformen neben bestenfalls lose organisiertem Engagement; Engagement, das die eigene Gruppe stabilisieren möchte, neben Engagement, dem es um Brückenschläge geht. • Angekommen in einer Zuwanderungsgesellschaft, erfährt Deutschland eine weitere Pluralisierung nicht nur seiner sozio-kulturellen Strukturierung insgesamt, sondern auch seiner ‚Engagement-Landschaft‘ hinsichtlich Motiven, Deutungen, Sozialformen usw. von Engagement (vgl. Roß und Steiner 2014). Insbesondere gewinnen Engagementformen, die weniger stark formal organisiert sind, an Bedeutung. • Die Digitalisierung der Kommunikation im virtuellen Raum des World Wide Web und in den Social Media durchdringt in verschiedenster Weise auch das Engagement: Erweiterte Möglichkeiten und ‚Entörtlichung‘ von Wissensbeschaffung, Meinungsartikulation und Mobilisierung gehören ebenso dazu wie Beschleunigung und Entpersönlichung (vgl. Mercator Stiftung Schweiz 2018). • Die Entwicklung hin zu einer Tätigkeitsgesellschaft führt dazu, dass zwischen existenzsichernder beruflicher Erwerbsarbeit hier und freiwilligem, unentgeltlichem, gemeinwohlorientiertem Engagement dort ein fließendes Kontinuum mit zunehmend schwierigen Abgrenzungen entsteht (vgl. BMFSFJ 2017, S. 217–242). • Gerade im Zusammenhang mit der Zuwanderung geflüchteter Menschen nach Deutschland wird Engagement in neuer Weise ‚politisiert‘, aber auch ‚polarisiert‘: Engagieren sich die einen BürgerInnen für eine ‚Willkommenskultur‘, setzen sich die anderen gegen den Zuzug von MigrantenInnen ein. Noch ist nicht klar abzusehen, wie dieser gerade entstehende Engagement-Typ genau aussehen wird. Auch ist offen, ob es (einmal mehr) zu einer neuen Begriffsbildung kommen wird. Kennzeichnend für diese neue Evolutionsstufe von Engagement ist auf jeden Fall, dass es sich um ein Engagement handelt, das • von vielen Menschen getragen ist und in seinem Umfang nicht abnimmt; • das ausgesprochen vielfältig, damit aber auch spannungsreich und widersprüchlich ist; • sich durch einen klaren Selbstbestimmungsanspruch auszeichnet; • in vielfältiger Weise mit professionellen Tätigkeiten in Bürger-Profi-Mixes, die durchaus Konfliktpotenzial bergen, verknüpft ist; • politisiert und an seinen Rändern polarisiert ist.
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Alle oben skizzierten Stränge von Engagement sowie die Traditionslinien von Selbsthilfe, politischem Engagement und Protest sind im ‚Genom‘ der gegenwärtigen Form von Engagement vorhanden – aber eben jeweils nur als ein Strang unter vielen. Diese Vielfalt (und z. T. Disparität) prägt auch die Aktivitäten in der KJA. Deshalb ist es – dem Zweite Engagementbericht der Bundesregierung folgend (vgl. BMFSFJ 2017, S. 65 ff.) – angemessen, an dieser Stelle mit einem breiten Begriff von ‚Engagement‘ zu arbeiten, der als offener Dachbegriff fungiert und diese Vielfalt abbildet. In einer Gesellschaft der Vielfalt, wie sie heute die Realität in Deutschland prägt, muss also auch mit einem breiten, eine Vielfalt unterschiedlicher Aktivitätsformen abdeckenden Engagement-Begriff gearbeitet werden (s. o. Teil 1). So verstanden spielt Engagement – mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen und Akzentsetzungen – in allen in diesem Band thematisierten Feldern der KJA eine Rolle: in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, der Mobilen Jugendarbeit/ Streetwork, der Kinder- und Jugendarbeit im Umfeld von Schule (einschließlich SchülerInnen-Mitvertretungen) sowie der Jugendverbandsarbeit (einschließlich der großen Bereiche Sport und Kirche); aber auch in der Kulturellen Kinderund Jugendbildung, der politischen Jugendarbeit (einschließlich der Jugendvertretungen in den Jugendringen auf den verschiedenen föderalen Ebenen) und in der Kinder- und Jugendbeteiligung in den Städten und Gemeinden (von Jugendgemeinderäten bis wenig formalisierten Formaten).2
3 Aktuelle empirische Daten zum Engagement in Deutschland Zum Engagement in der KJA gibt es, wie eingangs erwähnt, kaum aktuelle, valide empirische Daten. Insofern ist es sinnvoll, zentrale Ergebnisse von Studien vorzustellen, die das Engagement in Deutschland insgesamt in den Blick nehmen. Dabei machen die oben entfalteten Überlegungen deutlich: Zu welchen
2Zur
Kinder- und Jugendbeteiligung als spezifischer Form von Engagement sei auf den Beitrag „Partizipation“ von Rahn und Meyer in diesem Band (Kap. 12) verwiesen. Die Jugend-Freiwilligendienste werden hier ausgeklammert, weil sie während der Zeit ihrer Ausübung das Zentrum der Lebensgestaltung der jungen Menschen ausmachen und damit völlig anderen Logiken unterliegen, als ein Engagement das – neben Familie, Schule oder Beruf – einen Teil der Lebensgestaltung ausmacht.
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Ergebnissen eine empirisch-statistische Erfassung gelangt, hängt in hohem Maße davon ab, was überhaupt als Engagement betrachtet wird – und was nicht. Eine einigermaßen zuverlässige Datenbasis zum Umfang des freiwilligen Engagements in Deutschland, v. a. aber zur quantitativen Entwicklung (zunehmend, abnehmend, gleichbleibend) bietet seit gut 15 Jahren der sog. ‚Freiwilligensurvey‘. Diese bundesweit repräsentative Erhebung (zuletzt fast 30.000 befragte BürgerInnen ab 14 Jahren) wurde erstmals 1999 durchgeführt. Wiederholungen 2004, 2009 und 2014 ermöglichen eine Längsschnittsbetrachtung zum freiwilligen Engagement in Deutschland. Weitere Hinweise liefern bislang zwei Engagementberichte von 2012 (BMFSFJ 2012) und 2016 (BMFSFJ 2017). Die genannten Studien nehmen im Wesentlichen die Engagementtypen ‚Ehrenamt‘, ‚freiwilliges Engagement‘ und ‚bürgerschaftliches Engagement‘ in den Blick, mit dem Freiwilligensurvey 2014 auch ‚politische Partizipation‘ und ‚informelle Unterstützung im sozialen Nahraum‘.
3.1 Wie viele Menschen engagieren sich und in welchen Bereichen? Eine erste zentrale Größe ist die Engagementquote.3 Der 2016 veröffentlichte Vierte Freiwilligensurvey kommt für 2014 zu dem Ergebnis, dass 43,6 % der in Deutschland lebenden Menschen ab 14 Jahren in irgendeiner Weise freiwillig engagiert sind (vgl. Simonson et al. 2016, S. 15), d. h. in einer gewissen Regelmäßigkeit bestimmte Aufgaben übernehmen, die über eine reine Mitgliedschaft (z. B. in Vereinen) hinausgehen.4 Dies entspricht knapp 31 Mio. Engagierten. Hinsichtlich der Entwicklung in den zurückliegenden 15 Jahren kann mit hoher Sicherheit davon ausgegangen werden, dass in Deutschland der
3Die
Ermittlung dieser Quote (und weiterer Daten zum freiwilligen Engagement) ist keineswegs trivial, sondern hängt von vielfältigen normativen Setzungen (v. a. Klärung des Engagementverständnisses) und forschungsmethodologischen Vorentscheidungen ab. Insofern verwundert es auch nicht, wenn die Zahlen von Studie zu Studie erheblich divergieren. Vgl. hierzu BMFSFJ (2017, S. 125 ff.). 4Konkret: „Jugendtrainer sein“ ist eine freiwillige Tätigkeit i. S. der Studie; „Fußballspielen“ ist eine (Vereins-)Aktivität, aber kein freiwilliges Engagement. Allerdings wird diese Unterscheidung nicht stringent durchgehalten; z. B. dann, wenn die Befragten dezidiert eine andere Eigenzuordnung vertreten.
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Abb. 1 Engagement und Aktivität nach Engagementbereichen
Anteil freiwillig Engagierter in der Bevölkerung in dem genannten Zeitraum nicht zurückgegangen, sondern tendenziell gestiegen ist.5 Das zusätzliche, von den Befragten signalisierte Engagementpotenzial wird seit 2004 relativ konstant auf 32 % bis 33 % geschätzt: Ein Drittel der Befragten gibt an, sich unter bestimmten Bedingungen erstmals oder wieder engagieren zu wollen (vgl. Simonson et al. 2016, S. 152). Dies ist mehr als die Hälfte der aktuell nicht-engagierten Personen. „Sicher“ zur Neuaufnahme eines Engagements bereit sind allerdings nur ca. 6 % der Befragten bzw. 11,6 % der derzeit Nicht-Engagierten (vgl. ebd., S. 165). Betrachtet man die Themenbereiche, in denen bzw. für die sich Menschen engagierten, ergibt sich folgendes Bild (vgl. Simonson et al. 2016, S. 110; Abb. 1): Der Freiwilligensurvey macht darüber hinaus Aussagen, welchen dieser Bereiche sich potenzielle engagementbereite Menschen tendenziell zuwenden
5Diese
gilt trotz einiger nicht zu leugnender forschungsmethodologischer Schwierigkeiten hinsichtlich des Freiwilligensurveys 2014 und der von ihm konstatierten Engagementquote von 43,6 % (vgl. Roß 2018, S. 674).
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Abb. 2 Freiwillig Engagierte nach Altersgruppen
würden (vgl. Simonson et al. 2016, S. 169 f.): Insbesondere für die Engagementfelder „Sozialer Bereich“ und „Umwelt, Naturschutz oder Tierschutz“ wird ein steigender Zuspruch prognostiziert. Engagementquote und potenzielle Engagementbereitschaft weisen deutschlandweit höchst unterschiedliche regionale Verteilungen auf (vgl. Kausmann et al. 2016, S. 38). Während – bezogen auf das Jahr 2014 – Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg mit einer Engagementquote von 48,3 % bzw. 48,2 % die Spitzenposition einnehmen, kommen z. B. SachsenAnhalt auf 37,1 % und Hamburg auf 36,0 % Engagierte ab 14 Jahre.
3.2 Wer engagiert sich? Die Unterschiede gelten nicht nur für Regionen, sondern auch für Bevölkerungsgruppen. Was den Genderaspekt betrifft, so sind 2014 insgesamt die Männer mit 45,7 % stärker freiwillig engagiert als die Frauen mit 41,5 % (vgl. Simonson et al. 2016, S. 95). Allerdings gibt es je nach Engagementbereich erhebliche Unterschiede (vgl. ebd., S. 111): In den Feldern „Schule und Kindergarten“, „kirchlicher oder religiöser Bereich“, „sozialer Bereich“ und „Gesundheitsbereich“ sind v. a. Frauen engagiert. „Männerdominiert“ sind dagegen die Bereiche „Unfall- oder Rettungsdienst sowie Freiwillige Feuerwehr“, „Sport und Bewegung“ und „Freizeit und Geselligkeit“. Auch was die Altersverteilung betrifft, zeigen sich durchaus Unterschiede (vgl. ebd., S. 99; Abb. 2).
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Die Engagementquote ist am höchsten – und dies wird vielleicht überraschen – bei der jüngsten Altersgruppe der 14–19-jährigen und der mittleren Altersgruppe der 45–49-Jährigen. Hier bestätigt sich das auch in Jugendstudien nachgewiesene hohe Interesse Jugendlicher bzw. junger Erwachsener an einem Engagement. Und für die 45–49-Jährigen scheint zu gelten: Beruf und Familie eröffnen vielfältige Engagementmöglichkeiten. Der Freiwilligensurvey 2009 hatte in diesem Zusammenhang von einem „Familiengipfel“ (BMFSFJ 2010, S. 162) des Engagements gesprochen. Zuwächse im Engagement hat es zwischen 1999 und 2009 v. a. in den höheren Altersgruppen gegeben, nämlich bei den 60- bis 69-jährigen und den über 70-jährigen (vgl. BMFSFJ 2010, S. 17). Ganz offenbar birgt der demografische Wandel auch Chancen: Noch nie gab es in unserer Gesellschaft so viele vergleichsweise gesunde und v. a. gesellschaftlich interessierte – und zu einem Engagement bereite – ältere Menschen. Zu beobachten ist, dass es bestimmte Bevölkerungsgruppen gibt, die in unterdurchschnittlichem Umfang freiwillig engagiert sind. „Empirische Studien belegen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den befragten Formen von Engagement und dem Erwerbsstatus, dem Einkommen und dem Bildungsstatus“, fasst Chantal Munsch zusammen (Munsch 2003, S. 7 f.): Angehörige sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen beteiligen und engagieren sich signifikant weniger, als gut ausgebildete, finanziell abgesicherte, sozial und berufliche integrierte Menschen. So besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Engagementquote und Bildungsstatus: Während von Personen mit hoher Bildung (d. h. mit einem höchsten Bildungsabschluss ab Fachhochschulreife oder Abitur) 52,3 % engagiert sind, sind es bei Personen mit niedriger Bildung (d. h. mit Bildungsabschlüssen bis einschließlich Volks- und Hauptschule) nur 28,3 % (vgl. Simonson et al. 2016, S. 97). Das Gleiche gilt für die – eng mit den Bildungsressourcen zusammenhängende – finanzielle Situation: „Nahezu jede zweite Person, die ihre eigene finanzielle Lage als sehr gut oder gut einschätzt, engagiert sich. Bei den Personen mit einer als sehr schlecht eingeschätzten finanziellen Lage engagiert sich dagegen nur etwa jede beziehungsweise jeder Vierte“ (ebd., S. 444). Als unterdurchschnittlich engagiert erweisen sich zudem Menschen, die als arbeitslos gemeldet sind: Während 2014, wie oben angeführt, insgesamt 43,6 % der BundesbürgerInnen über 14 Jahren freiwillig engagiert sind, liegt die Quote bei den Arbeitslosen bei nur 26,1 % (vgl. ebd., S. 440 f.). Auch andere Untersuchungen zeigen: Wer um seine Existenzsicherung kämpfen muss, hat offenbar wenig Freiraum für ein Engagement. Mit Blick auf die Situation von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte gelangt der Freiwilligensurvey 2014 zu einem differenzierten Befund. Bei Menschen, von denen mindestens ein Elternteil nicht aus Deutschland stammt
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(und die damit einen sog. ‚Migrationshintergrund‘ haben), die aber selbst in Deutschland geboren sind und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, liegt die Engagementquote bei 43,2 % und damit fast im Bundesdurchschnitt von 43,6 % (vgl. Simonson et al. 2016, S. 579). „Dagegen ist der Anteil der Engagierten unter den Menschen mit Migrationshintergrund, die zwar in Deutschland geboren sind, aber nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben, deutlich geringer (31,1 %). Am geringsten ist der Anteil der Engagierten bei Personen mit eigener Migrationserfahrung (mit deutscher Staatsangehörigkeit: 26,4 %; ohne deutsche Staatsangehörigkeit: 21,7 %)“ (ebd., S. 579). Die Gründe für diese Unterschiede sind vielfältig. Zum einen hängen sie mit Faktoren wie durchschnittlichem Bildungsniveau, Erwerbs- und Einkommensstatus zusammen. Zum anderen kommen unterschiedliche Verständnisse von Engagement hinzu: So sind oft bereits die verwendeten Begriffe nicht kompatibel. Zudem finden sich höchst unterschiedliche, von den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Gegebenheiten der Herkunftsorte mit geprägte Vorstellungen darüber, welche Aktivitäten als ‚freiwilliges Engagement‘ betrachtet werden (vgl. Huth 2012; Roß und Steiner 2014).
3.3 Warum engagieren sich Menschen? Was gibt den Anstoß, sich freiwillig zu engagieren? Ein erster Befund des Freiwilligensurveys 2014 lautet: Fast die Hälfte der Engagierten – nämlich 47,2 % – ist aus Eigeninitiative aktiv geworden, während 52,8 % seitens anderer dazu angefragt worden ist (und zwar insbesondere durch leitende Personen aus den jeweiligen Gruppen oder Organisationen bzw. durch bereits engagierte Familienmitglieder, Freundinnen und Freunde oder Bekannte; vgl. Simonson et al. 2016, S. 413 f.). „Besonders bei Frauen und jungen Menschen, also 14- bis 29-Jährigen, ist der Anteil der aus eigener Initiative Engagierten hoch“ (ebd., S. 412). Vom konkreten Anstoß für ein Engagement sind die Engagementmotive zu unterscheiden. Im Freiwilligensurvey 2014 wurden diejenigen Personen, die sich als freiwillig engagiert bezeichneten, danach befragt, inwiefern acht Grundmotivationen für freiwilliges Engagement für sie selbst zutreffen oder nicht. Im Ergebnis zeigt sich, dass „Spaß zu haben“ an der freiwilligen Tätigkeit eindeutig im Vordergrund steht – was interessanterweise für alle Altersgruppen gilt (vgl. Simonson et al. 2016, S. 419 ff.). Es folgen drei in etwa gleich bedeutsame Motive, die mit sozialen Aspekten des Engagements (Kontakte zu anderen Menschen) oder im weiteren Sinne politischen Aspekten (Gesellschaft gestalten) zu tun haben. Motive, die sich auf einen individuellen Nutzen für die Engagierten
378
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Abb. 3 Motive der freiwillig Engagierten
selbst beziehen, spielen zwar insgesamt gesehen eine deutlich geringere Rolle; gerade für junge Menschen zwischen 14 und 29 Jahren haben sie aber eine überdurchschnittliche Bedeutung (vgl. ebd., S. 422). Ein Blick in die drei früheren Freiwilligensurveys zeigt im Übrigen, dass diese Gewichtung der Motive in den vergangenen 15 Jahren konstant geblieben ist (Abb. 3). Die AutorIinnen des Surveys fassen zusammen: „Für die große Mehrheit der Engagierten steht also im Mittelpunkt, etwas zu tun, das ihnen Freude bereitet, dass sie etwas mit anderen Menschen zusammen tun können und dabei einen kleinen Beitrag für die Gesellschaft leisten können“ (ebd., S. 419).
3.4 Spezifische Aspekte des Engagements junger Menschen Genaue Zahlen gibt es zwar nicht, aber die ‚Alltagsempirie‘ zeigt, dass in der KJA (neben Erwachsenen) viele junge Menschen engagiert sind. Daher lohnt ein besonderer Blick auf das Engagement der Gruppe der 14- bis 29-Jährigen. Die Engagement-Quote dieser Gruppe liegt – bezogen auf das Jahr 2014 – bei 46,9 %
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und damit auf einem ähnlichen Niveau wie die Quote der der 30- bis 49-Jährigen (47,0 %) bzw. der 50- bis 64-Jährigen (45,5 %) (vgl. Simonson et al. 2016, S. 94). Bezogen auf frühere Erhebungen kann von einem Rückgang nicht die Rede sein.6 Die AutorInnen konstatieren: „Die in der Vergangenheit gelegentlich genannte Befürchtung, dass das Engagement von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufgrund des schulischem Erfolgsdruck oder durch sich ändernde Freizeitaktivitäten, wie Computer- und Mediennutzung abnehme, kann also nicht bestätigt werden.“ (ebd. S. 117). Was die Themenbereiche des Engagements betrifft, so sind junge Menschen im Vergleich mit anderen Altersgruppen „überdurchschnittlich häufig im Bereich Sport und Bewegung engagiert, aber auch im kirchlichen und religiösen Bereich sind die Engagementquoten der Jugendlichen und jungen Erwachsenen vergleichsweise hoch“ (ebd. S. 117). Wichtigste Zielgruppe sind in der Tat Kinder und Jugendliche: 68,6 % der engagierten jungen Menschen von 14 bis 29 Jahre setzen sich für Jüngere bzw. Gleichaltrige ein (vgl. ebd. S. 319). Was die Motive für das Engagement betrifft, so fällt auf, dass „Spaß haben“ keineswegs ein ‚jugend-spezifisches‘ Motiv ist: Es steht vielmehr in allen Altersgruppen an erster Stelle; die 14- bis 29-Jährigen liegen hier nur leicht über dem Durchschnitt (vgl. ebd. S. 422). Eine deutlich überdurchschnittliche Rolle spielen dagegen für junge Menschen die Motive „Qualifikationen erwerben“ (75,9 % stimmen diesem Motiv „voll und ganz zu“ bzw. „eher zu“; im Durchschnitt sind es 51,5 %) und „beruflich vorankommen“ (50,7 % gegenüber 24,9 %). „Mit anderen Generationen zusammenkommen“ stellt dagegen ein unterdurchschnittlich bedeutsames Motiv dar (68,1 % gegenüber 80,1 % im Durchschnitt).
3.5 Fazit: Strukturwandel des freiwilligen Engagements vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels Die während der vergangenen Jahre konstante und in verschiedenen Untersuchungen bestätigte Engagementquote von mindestens einem Drittel der Bundesbevölkerung zeigt, dass von einem Rückgang der Engagementbereitschaft keine Rede sein kann – weder im Allgemeinen noch bei jungen Menschen im Besonderen. Wohl aber hat sich in den vergangenen Jahren ein deutlicher
6Allerdings
gibt es eine Ausnahme: Bei der Untergruppe der 14- bis 29-jährigen Frauen mit niedriger Bildung ist die Engagementquote im Vergleich zu 1999 gesunken (vgl. Simonson et al. 2016, S. 94).
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Strukturwandel des freiwilligen Engagements vollzogen, der (wie in Kap. 1 „Einleitung und Vorbemerkung der Herausgeber“ skizziert) vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklung zu verstehen ist. Engagement ist also auch heute in erheblichem Umfang vorhanden. Aber es ist keineswegs selbstverständlich, ist nicht ‚naturwüchsig‘ vorhanden, sondern in seinem Entstehen und Bestehen an vielfältige Voraussetzungen geknüpft. Hier setzen Konzepte zur systematischen Engagementförderung im kommunalen Raum oder in Organisationen an (s. u. Kap. 5 „Jugendverbände“).
4 Empirie und Diskurs zum Engagement in der KJA 4.1 Empirie zum Engagement in der Kinder- und Jugendarbeit Gesichertes Wissen über Engagement (verstanden i. S. des in Teil 1 begründeten breiten Engagement-Begriffs) in der KJA liegt kaum vor. Dies wurde bereits Ende der 1990 Jahre beklagt (vgl. Nörber und Sturzenhecker 1999, S. 12) – und hat sich bis heute nicht geändert. Die wenigen vorliegenden Untersuchungen, von denen einige aus den 1970er Jahren stammen (vgl. Heidenreich 1991, S. 275; Nöber 1999a, S. 37), beziehen sich auf die verbandliche KJA in ausgewählten Bundesländern oder einzelnen Organisationen. Eine Expertise aus 2010 trägt ausgewählte Befunde zur Situation in Baden-Württemberg zusammen (vgl. Rauschenbach u. a. 2010),7 eine weitere Studien widmet sich der Förderung des Engagements für und von Kindern und Jugendlichen durch die Kommunen (vgl. Schneider und Polinovska 2012). Zur Zahl der Engagierten in der KJA sind keine Aussagen möglich. Der in Teil 2 zitierte Freiwilligensurvey nimmt die KJA nicht als eigenen Engagementbereich in den Blick, sondern subsummiert ihn unter dem Cluster „Außerschulische Jugendarbeit und Bildungsarbeit für Erwachsene“ (s. o.). Hierbei handelt es sich insgesamt um ein vergleichsweise kleines Feld: 4,0 % der BundesbürgerInnen ab 14 Jahre sind hier engagiert (vgl. Simonson et al. 2016, S. 110). Damit rangiert der Cluster an siebter Stelle der insgesamt 14 Engagementbereiche. Als zentrales Motiv für ein Engagement in der KJA wird
7Für
eine gründliche Aufarbeitung von Studien zu KJA in Deutschland und insbesondere in Baden-Württemberg vgl. ebd., S. 28–35.
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der „Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit, nach Geselligkeit und Gemeinschaft mit anderen“ genannt (vgl. ebd., S. 257, unter Berufung auf weitere Studien). Was die sozio-demografische Struktur der Engagierten betrifft, zeigen zwei Untersuchungen zu ehrenamtlichen Mitarbeit in hessischen Jugendverbänden von 1996 bzw. 1997 (vgl. Nörber 1999), dass die zu diesem Zeitpunkt Engagierten ganz überwiegend jünger als 30 Jahre sind. Sie blicken bereits auf etliche Jahre der Zugehörigkeit zur verbandlichen KJA zurück und sind so ins Ehrenamt hineingewachsen. Im Durchschnitt wenden sie pro Woche gut fünf Stunden für ihr Engagement auf, wobei von den Aufgaben her an erster Stelle die pädagogische Arbeit in und mit Gruppen steht, an zweiter Stelle Leitungsaufgaben. Bezogen auf den spezifischen Bereich der verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit wird durchgängig die These vertreten, sie sei – und zwar anders als die offene Jugendarbeit – „ein überwiegend ehrenamtlich geprägtes Arbeitsfeld“ (Rauschenbach u. a. 2010, S. 129): „Verbandliche Kinder- und Jugendarbeit basiert im Kern auf dem ehrenamtlichen Engagement junger Menschen. Sie hat eine lange Tradition der freiwilligen Teilnahme, der aktiven Teilhabe, der Mitbestimmung und Selbstorganisation Heranwachsender. Seit jeher ist sie das klassische Einstiegsfeld für jugendliches Engagement“ (ebd., S. 141). Valide quantitative Daten fehlen aber auch hier. Auf Grundlage einiger länder- bzw. verbandspezifischen Studien wird jedoch zumindest für Baden-Württemberg der Schluss gezogen, für einen grundsätzlichen Rückgang des ehrenamtlichen Engagements gebe es keine Belege. Allerdings scheine es „einen Trend zu geben, dass ehrenamtliche Jugendliche ab etwa 17 Jahren wegen Zeitmangels, insbesondere aufgrund der G8-Gymnasien und der verkürzten Bachelor-Studiengänge, sich vermehrt aus der Jugendverbandsarbeit zurück ziehen“ (ebd. S. 149). Insbesondere für die ländlichen Regionen komme die generell abnehmende Zahl von Kindern und Jugendlichen erschwerend hinzu.
4.2 Diskurse zum Engagement in der Kinder- und Jugendarbeit Hintergrund früherer wie aktueller Diskussionen ist das Credo, Kinder- und Jugendarbeit sei „eine Lernwelt par excellence im Prozess des Aufwachens, um jenseits von Familie und Schule den Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter zu erproben und zu ertasten“ (Rauschenbach u. a. 2010, S. 316). Diese „Lernwelt“ realisiert sich insbesondere dort, wo Kinder und Jugendliche sich ehrenamtlich bzw. freiwillig engagieren und Verantwortung übernehmen.
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Ein ‚klassisches‘ Thema in diesem Kontext ist die Diskussion um die Verhältnisbestimmung von Hauptamtlichkeit und Ehrenamtlichkeit in der KJA (vgl. bereits Heidenreich 1991). Rauschenbach u. a. (2010) sehen hier ein „strukturelles Spannungsverhältnis“ (ebd., S. 315). Auf der einen Seite spielt das ‚Prinzip Ehrenamtlichkeit‘ in der Tradition sowohl der kommunalen Jugendpflege als auch der verbandlichen Jugendarbeit eine zentrale Rolle. Bilanziert man jedoch die Personalentwicklung in der KJA der letzten vier Jahrzehnte, „so zeigt sich, dass das freiwillige und ehrenamtliche Engagement seine überragende Stellung bzw. seine Exklusivität, die es in den 20er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts zweifellos hatte, eingebüßt hat (…). Die Kinder- und Jugendarbeit ist in der Tendenz beruflicher und fachlicher geworden“ (ebd., S. 315). Diese Entwicklung wird im Wesentlichen als positiv eingeschätzt: Erstens, weil die KJA den aktuellen sozial- und bildungspolitischen Herausforderungen wie z. B. die gesellschaftliche Teilhabe von jungen Menschen mit Migrationshintergrund oder mit Bildungsbenachteiligung nur „mit einer fachlich unterfütterten Ehrenamtlichkeit“ (ebd., S. 315) gerecht werden kann. Zweitens, weil für das heute erforderliche „aktive Ehrenamtsmanagement“ Fachkräfte erforderlich sind, „zu deren Aufgabenbereich auch die Gewinnung, Bindung und Weiterbildung der Ehrenamtlichen gehört“ (ebd., S. 316). Gleichwohl bedeutet diese neue Tarierung von Haupt- und Ehrenamtlichkeit keineswegs den Abschied vom freiwilligen, ehrenamtlichen Engagement in der KJA: „Formen der Ehrenamtlichkeit sind als konstitutive Elemente der Kinder- und Jugendarbeit ebenso zu erhalten wie die Prinzipien der Selbstorganisation und der Partizipation“ (ebd., S. 354). Von erheblicher Bedeutung für die Sichtweise von Engagement ist das grundsätzliche (Selbst-)Verständnis von KJA. Wird offene oder verbandliche KJA – implizit oder explizit – primär als freizeitorientiertes Dienstleistungsangebot verstanden, erscheinen ihre AdressatInnen im Kern als ‚KundInnen‘. Wird KJA dagegen vorrangig als sozialpädagogische Unterstützungsmaßnahme interpretiert, betrachtet sie ihr Gegenüber im Wesentlichen als ‚KlientInnen‘. So oder so rückt die durch Fachkräfte erbrachte Dienstleistung in den Vordergrund – und kommt die Frage, wie Kinder und Jugendlich zu Engagierten werden können, kaum noch in den Blick. Umgekehrt kann eine systematische Gewinnung von Kindern und Jugendlichen als Engagierte ein Gegengewicht sowohl zu Ökonomisierungsals auch zu Klientelisierungstendenzen der KJA bilden (vgl. Sturzenhecker 1999c, S. 84–86). Die spezifische Thematik ‚Ehrenamt in der Jugendverbandsarbeit‘ wird bereits zu Beginn der 1990er Jahre von Thomas Rauschenbach und Burkard Müller mit einer Problemanzeige versehen. Müller formuliert die These von der „strukturellen Überforderung des Ehrenamts“ (Müller 1991, S. 795) und fordert schlussendlich den „Abschied vom Ehrenamt“ in der Jugendverbands-
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383
arbeit. Als zukunftsfähigeren Anknüpfungspunkt bringt er demgegenüber die Engagement-Tradition der Selbsthilfe ins Spiel (vgl. ebd. 798 f.). In der Tat zeigt ein Blick sowohl in die Geschichte der Jugendverbandsarbeit (siehe den Beitrag von Patjens und Hettler in diesem Band, Kap. 5) als auch in die historische und gesellschaftliche Entwicklung von Engagement (s.o. Abschn. 2 dieses Beitrags): Von ihren Grundprinzipien her, die sich u. a. im oft zitierten Motto „Jugend führt Jugend“ spiegeln, knüpfen die Jugendbewegung und später die Jugendverbandsarbeit weniger an das ‚klassische Ehrenamt‘ Stein-Hardenbergscher Prägung an, als vielmehr an Traditionen (politischer) Bewegungen und Selbstorganisation.8 Gleichwohl präsentieren sich die nach und nach entstehenden Jugendverbände als „Organisationskerne“ (ebd. S. 795) relativ homogener, weltanschaulich geprägter Jugendkulturen bzw. sozio-kultureller Milieus, mit denen sich ‚Führende‘ und ‚Geführte‘ emotional identifizieren. Mit zunehmender ‚Ver-Verbandlichung‘ in Kombination mit der Übernahme der Rechtsform des eingetragenen Vereins prägen sich sukzessive die klassischen Leitungs-Ehrenämter aus. Mit der Erosion dieser Jugendkulturen und Milieus ändert sich die Form des Mitwirkens in den Verbänden und damit auch des Engagements. Die emotionale Bindung an die Verbände bzw. die Identifikation mit ihren Werten wird sowohl für die Mitgliedschaft als auch für das Engagement immer weniger bedeutsam. Kern des Engagements ist nicht mehr die wechselseitige Vergewisserung einer gemeinsamen jugendkulturellen Identifikation mit geteilten Werten, sondern das (Dienstleistungs)Angebot der einen, die nun im engeren Sinne zu ‚ehrenamtlichen MitarbeiterInnen‘ werden, für die anderen (z. B. TeilnehmerInnen an Gruppen- oder Freizeitaktivitäten). Eben dieses Modell hat jedoch im Lauf der Zeit nicht nur seine „Selbstverständlichkeit verloren“ (Rauschenbach 1991, S. 286), sondern führt geradewegs zu einer „strukturellen Überforderung des Ehrenamts“ (Müller 1991, S. 795). Hieraus könnte wiederum die Konsequenz gezogen werden, sich von der Vorstellung einer ‚eigentlich‘ vom Ehrenamt getragenen (und durch Hauptamt lediglich hier und dort unterstützenden) Jugendverbandsarbeit zu verabschieden. Einhergehend mit dieser Entwicklung kommt es zu einer Professionalisierung der Jugendverbandsarbeit, die von manchen als „Verberuflichung“ wahrgenommen bzw. durchaus auch kritisiert wird, die aber v. a. eine „Verfachlichung“ darstellt (vgl. ebd. 794).
8Vor
diesem Hintergrund lässt sich das Ringen mit der ‚Ehrenamtlichkeit in der Jugendverbandsarbeit‘, das die Beiträge von Müller und Rauschenbach kennzeichnet, auch als Ergebnis eines unreflektierten Umgangs mit den Begriffs- und Vorstellungswelten von „Ehrenamt“ verstehen.
384
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Zusätzlich komplex wird diese Gemengelage dadurch, dass (wie die in Abschn. 2 dieses Beitrags entfalteten Analysen zeigen) die klassischen, ‚ehrenamtsgeprägten‘ Engagementformen keineswegs völlig von neuen Formen abgelöst werden. Sie bestehen durchaus weiter; aber eben partiell und als eine Facette neben vielen anderen, nicht die dominanten Handlungsformen. Traditionsreiche Formen verbandlicher KJA (etwa im Kontext der Kirchen) bestehen ebenso fort, wie jüngere Formationen (z. B. in den aus der Umweltbewegung heraus entstandenen Verbänden und ihren Jugendabteilungen). Hinzu kommen jugendkulturelle Identifikationen mit ‚Szenen‘, die ebenfalls enormes Engagement freisetzen, aber kaum i. S. der klassischen Ehrenamts-Tradition. Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass es tatsächlich zum von Müller postulierten „Abschied vom Ehrenamt“ kommt: Nämlich zum Abschied von der Vorstellung einer ‚eigentlich‘ vom ‚Ehrenamt‘ getragenen, faktisch angebotsorientierten Jugendverbandsarbeit. Nicht kommen wird es dagegen auf absehbare Zeit zu einem ‚Abschied vom Engagement‘. Und insofern sind Müllers bereits 1991 skizzierten Vorstellungen, was in einem solchen ‚post-ehrenamtlichen‘ Szenario Engagementförderung in der (verbandlichen) KJA bedeuten müsste, nach wie vor hoch aktuell: „Die Aufgabe von Hauptamtlichen (bzw. erwachsenen Ehrenamtlichen) ist demnach die Herstellung von infrastrukturellen Voraussetzungen für jugendliche Selbsttätigkeit“ (Müller 1991, S. 798 f.). Darum wird es in Kap. 5 „Jugendverbände“ gehen. Ist die verbandliche KJA im Wesentlichen durch Engagierte getragen, so gilt die Offene Kinder- und Jugendarbeit im Vergleich als „der am weitesten professionalisierte Bereich“ (Deinet 2005, S. 20). Gleichwohl wird auch für sie zumindest von einigen Autoren ein „hohes freiwilliges ehrenamtliches Engagement“ konstatiert (Nörber und Sturzenhecker 1999, S. 10).9 Im Blick ist dabei insbesondere Engagement junger Menschen im Sinne von Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Die unterschiedlichen Tendenzen machen Nörber und Sturzenhecker insbesondere daran fest, dass in der Offenen KJA – anders als in den Verbänden – Engagementbedingungen geboten werden, die den oben in Abschn. 2 dargestellten veränderten Erwartungen entsprechen: Selbstbestimmung, Begrenzung von Engagementinhalten und -zeiten, Individualität usw. (vgl. ebd. S. 10). Nörber und Sturzenhecker heben (gerade auch in Abgrenzung zu manchen von ihnen wahrgenommenen traditionellen E hrenamts-Vorstellungen in Vereinen und Verbänden) auf den
9Allerdings
nennen die Autoren keine konkreten Daten oder Referenzen.
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reiwilligkeits-Charakter von Engagement ab. Diese Sichtweise von Engagement F macht es dann auch möglich, eine Verbindung herzustellen zu anderen für die KJA wichtigen „Konzeptelemente(n) wie Öffnung zum Sozialraum, Partizipation, Integration Empowerment“ (ebd. 12). Mit ‚Fridays for Future‘ (vgl. https://fridaysforfuture.de/; s. o. Anm. 3) werden Jugendbewegungen wieder Thema. Denn diese SchülerInnen-Initiative ist ohne Frage eher in der Engagement-Tradition politischer Protestbewegungen zu verorten, als in der klassischen Ehrenamts-Tradition. Gleichwohl zeigt sich bereits wenige Monate nach ihrer Entstehung, dass auch diese Bewegung beginnt, ‚klassische‘ Verbandsstrukturen mit Orts-, Regional- und Landesgruppen auszuprägen und wenn auch nicht ‚Ämter‘, so doch zahlreiche ‚Aufgaben‘ für Engagierte (Koordination, Veranstaltungsorganisation, Pressearbeit, Fundraising usw.) zu generieren. Hinzu kommt das Phänomen, dass die Akteure der bestehenden (verbandlichen) KJA anfangen sich Gedanken zu machen, wie sie diese Millionen ‚neuer Engagierter‘ an ihre traditionsreichen Strukturen anbinden könnten.
5 Frage nach der Bedeutung von Engagement für die KJA Bevor Konzeptbausteine für eine systematische Förderung von Engagement in der KJA vorgestellt werden, ist die Grundsatzfrage zu klären: Weshalb sollten sich Organisationen10 der KJA überhaupt systematisch darum bemühen, Engagierte zu gewinnen und einzubinden? Eine Antwort auf diese Frage ist zentral, denn sonst wäre das oft wiederholte Mantra von der großen Bedeutung von ehrenamtlichem, freiwilligem Engagement für die KJA letztlich ohne Fundament. Wenn gefragt wird, welchen ‚Nutzen‘ oder – noch besser – welchen ‚Benefit‘ Engagement stiftet, sind mindestens drei Perspektiven relevant.
5.1 Benefit für die Engagierten in der KJA Hier soll der Blick insbesondere engagierten jungen Menschen gelten: Worin liegt für sie der Benefit, wenn sie sich freiwillig engagieren? Unter dem Stichwort
10„Organisationen“
ist hier als Oberbegriff zu verstehen für Träger von KJA, also sowohl für Verbände und Vereine als auch für Kommunen als öffentliche Träger von Jugendhäusern oder Mobiler Jugendarbeit bzw. als Ort von Kinder- und Jugendbeteiligung.
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‚Kompetenzerwerb im freiwilligen Engagement‘ kommen empirische Studien (insbesondere Düx u. a. 2009; ähnlich Simonson et al. 2016, S. 367 f.) zu dem zentralen Befund, „dass in den aktivierenden Formen jugendlichen Engagements innerhalb der Kinder- und Jugendarbeit zumindest für die ehrenamtlich aktiven Personen erhebliche Bildungspotenziale enthalten sind“ (Rauschenbach u. a. 2010, S. 241). Im Engagement wird „bereits im Kindes- und Jugendalter durch die aktive, partielle Übernahme von Verantwortung in der konkreten Praxis in Ernstsituationen gelernt“ (ebd. S. 240). Mehr noch: „Kein anderer Akteur, kein anderer Bildungsort und keine andere Lernwelt bieten jungen Menschen so reichhaltige Gelegenheiten, Anlässe und Möglichkeiten, sich selber einzubringen, sich selber zu engagieren und Verantwortung für sich selbst, für andere und für eine Sache zu übernehmen“ (ebd. S. 316). Engagement-Settings werden damit „zu besonderen Lernfeldern und ‚Ermöglichungsräumen‘ für Heranwachsende“ (ebd. S. 240). Und die AutorInnen fügen hinzu: „Es zeigt sich, dass die in ihrer Jugend Engagierten durchgängig über ein breiteres Spektrum an Erfahrungen und damit offenbar auch über mehr Kompetenzen verfügen als ehemals Nicht-Engagierte“ (ebd. S. 240). Zwei Aspekte werden besonders hervorgehoben: 1. Engagement stellt für junge Menschen aus deren Sicht ein wichtiges gesellschaftliches Lernfeld dar, in dem sie personale, soziale und praktische Kompetenzen erwerben. Dabei geht es um Persönlichkeitsbildung ebenso wie um Teamerfahrungen, rhetorische Fähigkeiten und ganz praktischen Management- oder Leitungskompetenzen (vgl. ebd. S. 239 f.; ähnlich Sturzenhecker 1999c, S. 85). 2. Engagement ist ein wichtiger Lernort für demokratische und zivilgesellschaftliche Bildung: Durch Verantwortungsübernahme im Rahmen eines Engagements werden Formen der Mitbestimmung, der Interessenvertretung und -durchsetzung, aber auch der Kompromissfindung kennen gelernt und eingeübt. Engagierte „produzieren eine Art Basisdemokratie, indem sie ihre Dinge und Interessen (…) selbst in die Hand nehmen“ (Sturzenhecker 1999c, S. 87). Hinzu kommt „Gremienkompetenz“, „also die Kenntnis und Anwendung formal-demokratischer Verfahrensweisen und Spielregeln“ (Rauschenbach u. a. 2010, S. 240).
5.2 Benefit für die Adressat*innen der KJA Der Nutzen, den Engagement für die AdressatInnen der KJA stiftet, liegt – quer zu den verschiedenen Feldern – meines Erachtens insbesondere in folgenden vier
Ehrenamtliches Engagement
387
Aspekten (wobei immer im Blick sein sollte, dass gerade in der KJA Akteure des Engagements und AdressatInnen des Engagements nicht trennscharf zu unterscheiden sind): 1. Erweiterung der Angebote und Kontakte für die Kinder und Jugendlichen. Die Mitwirkung von Engagierten ermöglicht die quantitative Erweiterung des Angebots an Aktivitäten und Kontakten. Ein breiteres Spektrum möglicher Aktivitäten bedeutet wiederum ein Mehr an sozialen Kontakten und damit ein Plus an Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten. 2. Begegnungen von Mensch zu Mensch. Menschen, die sich in der KJA engagieren, ermöglichen den AdressatInnen zusätzliche, persönliche Beziehungsangebote von ‚Mensch zu Mensch‘. Dabei ist es gerade die ‚Normalität‘ und ‚Alltäglichkeit‘ der Beziehung, die als wertvolle Ergänzung zu professionellen Beziehungen erlebt wird. Dies gilt insbesondere, wenn sich Kinder und Jugendliche für Kinder und Jugendliche engagieren, ihnen also als „Peers“ begegnen. 3. Brücken in den lokalen Sozialraum. Durch freiwillig Engagierte ergeben sich intensivere Kontakte in die Gemeinde, den Stadtteil oder die Kommune insgesamt. Weitere alltagsweltliche und für die AdressatInnen in verschiedener Hinsicht nützliche Kontakte (zu Vereinen, Betrieben usw.) entstehen, Ressourcen können erschlossen und Sozialkapital aufgebaut werden. Dies kann gerade für Kinder und Jugendliche, die in benachteiligten Verhältnissen aufwachsen und die von gesellschaftlicher Exklusion betroffen bzw. bedroht sind, bedeutsam sein. 4. Politische und gesellschaftliche Lobbyarbeit. Freiwillige können sich für die Kinder und Jugendlichen, denen ihr Engagement gilt, oft mit größerer Autonomie stark machen, als dies Hauptberuflichen aufgrund ihrer Einbindung in institutionelle Hierarchien oder politische Loyalitäten möglich ist. Die Einbeziehung freiwillig Engagierter in die KJA stiftet für die Kinder und Jugendlichen einen klaren Nutzen, der empirisch belegbar ist und im Kern mit verbesserten Entwicklungs- und Teilhabechancen zu tun hat. Ihn monetär zu bewerten, ist jedoch weder sinnvoll noch möglich. Die für mich plausible Kernargumentation lautet: Ein gutes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen, das ihnen vielfältige Entwicklungschancen bietet und sie am Leben der Gesellschaft aktiv teilhaben lässt, ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft, nicht nur die von professionellen Kräften öffentlicher, frei-gemeinnütziger oder gewerblicher Organisationen.
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P.-S. Roß
5.3 Benefit für Organisationen der KJA Organisations-bezogene Nutzenaspekte der Einbeziehung Engagements sind u. a. (vgl. grundsätzlich Roß 2010):
freiwilligen
1. Verbesserung der Qualität der Aktivitäten und Angebote der Organisation – nichts anderes bedeutet ja die gerade aufgezeigte Steigerung der Entwicklungsund Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen, die durch die Einbeziehung freiwillig Engagierter ermöglicht wird. 2. Erweiterung des Angebots. Sind Freiwillige eingebunden, können die Organisationen der KJA ihr Aktivitäts- und Angebots-Portfolio ausweiten. Dadurch gewinnen die Organisationen an Attraktivität und öffentlicher Legitimation. 3. Stärkere Verankerung im lokalen Sozialraum. Diese Durchlässigkeit ist – wie oben gesehen – wichtig für die Entwicklungs- und Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen. Sie ist aber auch, wie in den folgenden Punkten dargestellt, in mehrfacher Hinsicht nutzbringend für die Organisationen. 4. Werbung für die Organisation, Imagepflege und verbesserte Akzeptanz. Die Engagierten sorgen dafür, dass die Organisation mit ihrem Angebot und ihrem Anliegen im öffentlichen Bewusstsein des jeweiligen Sozialraums präsent ist. Zu einem positiven Image führt dies freilich nur dann, wenn das Angebot und die internen Prozesse tatsächlich qualitativ hochwertig sind. 5. Beitrag zur Qualitätssicherung und Zugang zu kreativen Potenzialen. Von ‚außen‘ hinzukommende Freiwillige bringen neue Ideen ein, hinterfragen gewohnte Abläufe und machen Verbesserungsvorschläge. Dies gilt für die oft eingefahrene Kultur von Verbänden genauso wie für Jugendhäuser oder Schulen. 6. Verbesserte Resonanz. Wird über die Freiwilligen ein positives Image transportiert, führt dies dazu, dass die Aktivitäten und Angebote der Organisation signifikant stärker nachgefragt werden. 7. Unterstützung von Fundraising-Aktivitäten. Ein weiterer Sekundäreffekt einer positiven ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ durch Freiwillige: die Engagierten werben im Bekanntenkreis für Spenden zugunsten ‚ihrer‘ Organisation oder erschließen persönliche Kontakte zu potenziellen Sponsoren. Dieser Nutzen ist nicht primär, wohl aber sekundär in monetären Kategorien zu beschreiben, da es durchaus auch um geldwerte Vorteile für die Organisationen geht. Einfache ökonomisierenden Sichtweisen von Engagement in der KJA bzw. seiner Interpretation als Sparpotenzial für den Staat oder die Organisationen
Ehrenamtliches Engagement
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sind jedoch kritisch zu bewerten (so bereits Nörber und Sturzenhecker Nörber 1999a, S. 11), da sie den Bedeutungskern von Engagement (s. o.) verkennen und Engagement zu funktionalisieren versuchen. Auch in der Praxis erfüllt sich die Hoffnung, durch die Einbeziehung Engagierter Finanzmittel einzusparen, selten: Zum einen sind gerade junge Menschen sehr sensibel gegenüber Versuchen, ihr Engagement zu instrumentalisieren; zum anderen ist eine gute Engagementförderung nicht zum Nulltarif zu haben, sondern erfordert ihrerseits Investitionen. Ob die Einbeziehung freiwillig Engagierter in die KJA tatsächlich den o. g. empirisch klar nachweisbaren Nutzen entfaltet, hängt jedoch davon ab, dass in der jeweiligen Organisation eine systematische, professionelle Freiwilligenarbeit geleistet wird.
6 Perspektiven und Ansatzpunkte der Förderung von Engagement in der KJA Die Zahl der Engagierten in Deutschland nimmt eher zu als ab, und es gibt eine zusätzliche Engagementbereitschaft – aber Engagement wandelt sich beständig und ist keineswegs ‚einfach so‘ vorhanden (s.o. Abschn. 2 und 3 in diesem Beitrag). Für die KJA wird Engagement gestern wie heute ein hoher, jedoch durchaus kritisch diskutierter Stellenwert beigemessen (s.o. Abschn. 4.2 in diesem Beitrag). Dieses Engagement stiftet einen belegbaren Benefit für die AdressatInnen der KJA, für die Engagierten selbst und für die Organisationen der KJA (s.o. Abschn. 5 in diesem Beitrag). Vor der Folie dieser Feststellungen kann die Schlussfolgerung nur lauten: Engagement in der KJA sollte systematisch (also nicht zufällig bzw. ‚nebenbei‘) und professionell (also nicht allein ‚aus dem Bauch heraus‘ und nur, ‚wenn sich jemand findet‘) gefördert werden. So eindeutig dieses Fazit, so ernüchternd der Blick in die Praxis. • Ein umfassendes, systematisches Konzept der Engagementförderung in der KJA wurde letztmals Ende der 1990er Jahre vorgelegt (vgl. Sturzenhecker 1999a, b).11
11Zum
spezifischen Schwerpunkt „freiwillige Tätigkeiten im Jugendhaus“ vgl. Sturzenhecker 1999c, S. 96–104. Insbesondere Sturzenhecker (1999b) weist viele Schnittstellen zu den unter dem Obergriff „Freiwilligenmanagement“ vorgelegten Konzepten auf.
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P.-S. Roß
• Einzelne Ansatzpunkte finden sich in der Expertise von Rauschenbach u. a. 2010. • Ansonsten bleibt der – gleichwohl lohnende – Blick auf die Engagementfelder jenseits der KJA: Dazu, wie eine systematische Freiwilligenarbeit konkret aussehen und tatsächlich gelingen kann, liegen mittlerweile fundierte Erfahrungen und – z. T. unter die Überschrift ‚Freiwilligenmanagement‘ gebrachte – ausgearbeitete Konzepte vor (vgl. insbesondere Reifenhäuser et al. 2009; Rosenkranz und Weber 2012; Caritas in NRW 2013). Diese aktuellen Konzepte weisen darauf hin, dass eine systematische, professionelle Engagementförderung zwei Grundperspektiven umfassen muss: Freiwilligen-Entwicklung (Fokus: vorhandene bzw. potenzielle Engagierte) und Organisations-Entwicklung (Fokus: die Organisation, die Engagierte einbinden möchte).
6.1 Organisations-bezogene Aspekte einer systematischen Engagementförderung in der KJA Sollen freiwillig Engagierte systematisch gewonnen und einbezogen werden, muss die jeweilige Organisation entsprechend gestaltet sein. Dies gilt für einen Jugendverband genauso wie für ein Kinder- und Jugendzentrum, eine Schule oder ein kommunales Projekt. Sturzenhecker bringt es auf den Punkt: „Man kann nicht mit cleveren Tricks ‚neue Ehrenamtliche‘ für die alte Arbeit gewinnen. Alle Methoden zur verbesserten Förderung und Ausweitung von ehrenamtlicher Arbeit können nur Elemente einer grundsätzlichen konzeptionellen Veränderung und Weiterentwicklung von Jugendarbeit sein.“ (1999b, S. 56 f.). Diese Grundvoraussetzung einer erfolgreichen Freiwilligenarbeit wird oft übersehen oder unreflektiert als bereits selbstverständlich gegeben vorausgesetzt. Die Praxis zeigt jedoch: Ist die Organisation nicht entsprechend ‚eingestellt‘ bzw. ‚aufgestellt‘ und nicht wirklich anschlussbereit und anschlussfähig für die Mitwirkung freiwillig Engagierter, kommt es schnell zu erheblichen Problemen. Die unten in Abschn. 6.2 erläuterten methodischen Vorgehensweisen sind dann aufgesetzt und ohne dauerhafte Wirkung. Oder anders gesagt: Es geht darum, die „Adaptionsfähigkeit der Kinder- und Jugendarbeit selbst“ (Nörber und Sturzenhecker 1999, S. 15) gegenüber den aktuellen Engagementpräferenzen zu verbessern und förderliche Rahmenbedingungen zu schaffen – statt sich Engagierte zu wünschen, die in die vorhandenen Schemata der Organisationen passen. Insofern ist das von Nörber und Sturzenhecker 1999 vor zwei Jahrzehnten
Ehrenamtliches Engagement
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formulierte zentrale Motto nach wie vor top aktuell: „Sich ändern, statt jammern“ (ebd., S. 15). Förderung von Engagement heißt dementsprechend zuerst „Selbstveränderung der Jugendarbeit“ (Sturzenhecker 1999b, S. 56) und bedeutet eine Umkehrung der Blickrichtung: „Also nicht: Was können die Ehrenamtlichen für den Träger tun? Sondern: Was kann der Träger für die Ehrenamtlichen tun? Wenn der Träger den Ehrenamtlichen optimale Bedingungen schafft, ihre Engagementinteressen zu realisieren, wird (…) sich die ehrenamtliche Arbeit ausweiten und sich positiv für Adressaten und Träger auswirken“ (ebd., S. 52 f.). Mit Blick auf diese organisationalen Rahmenbedingungen sind vier Aspekte zu berücksichtigen: Leitbild/Handlungskultur: die Einbindung und Unterstützung Engagierter als begründete Zielsetzung (etwa i. S. der in Abschn. 5 dieses Beitrags skizzierten Begründungen) im Leitbild der Organisation verankern und innerhalb der Organisation als selbstverständlich gelebte Kultur verstetigen und pflegen. Strukturen und Prozesse: sich innerhalb der Organisation darüber verständigen, wo und wie Engagierte eingebunden werden sollen; Strukturen und Verfahrensabläufe verankern, die es erlauben, die u. g. operativen Aspekte des Freiwilligenmanagements umzusetzen; die Arbeit mit engagierten in bestehende Standardprozesse (z. B. der Qualitätssicherung oder Evaluation) regelhaft einbinden. MitarbeiterInnenentwicklung: alle beruflich tätigen Fachkräfte der Organisation zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit den Engagierten befähigen; einige Fachkräfte als ‚Freiwilligen-KoordinatorInnen‘ qualifizieren und sie mit einem entsprechenden Arbeitsauftrag sowie Zeitbudget ausstatten. Insofern gilt es, die für die KJA mittlerweile „klassische Zweiteilung zwischen ehrenamtlich und beruflich geleisteter Arbeit“ (Rauschenbach u. a. 2010, S. 41) zu überwinden zu Gunsten einer „fachlich unterfütterten Ehrenamtlichkeit“ (ebd., S. 315). Anzustreben ist eine „stabilere berufliche Unterstützung des ehrenamtlichen Engagements vor Ort (…). Dabei werden die hauptberuflich Beschäftigten in der verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit in Zukunft das Augenmerk ihrer Arbeit verstärkt auf die Gewinnung, die Bindung und Ausbildung ehrenamtlich engagierter junger Menschen legen müssen. Diese Form des ‚Ehrenamtsmanagements‘ muss jedoch weiter qualifiziert werden.“ (ebd. S. 354 f.). Lokale Vernetzung: Vernetzungen mit AkteurInnen aller gesellschaftlichen Felder im lokalen Sozialraum aufbauen, um auf diese Weise potenzielle Engagierte ansprechen und gewinnen zu können.
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P.-S. Roß
6.2 Freiwilligenbezogene Aspekte einer systematischen Engagementförderung in der KJA Abschn. 2 dieses Beitrags hatte deutlich gemacht, das Engagement heute ausgesprochen vielfältig und vielgestaltig ist. In Abschn. 3 waren die Erwartungen, Motive und Präferenzen der Menschen, die heute zu freiwilligem Engagement bereit sind, skizziert worden. Abschn. 4 hatte spezifische Aspekte der KJA in den Blick genommen. Ein Konzept systematischer Engagementförderung in der KJA, das vor diesem Hintergrund erfolgversprechend sein will, hat auf der operativen Ebene der konkreten Arbeit mit Engagierten insbesondere folgende sieben Aspekte zu berücksichtigen: Gewinnung: die Gewinnung Freiwilliger systematisch und kontinuierlich betreiben; vielfältige verschiedene Engagementmöglichkeiten benennen; die Aufgaben der Freiwilligen klar und präzise beschreiben (Inhalt, Umfang, Ort, Dauer, Voraussetzungen) und die Leistungen der Organisation definieren (AnsprechpartnerInnen, Fortbildungen, Auslagenerstattung, Versicherungen usw.); verschiedene Wege der Ansprache potenzieller Engagierter gehen (Printmedien, persönliche Ansprache, Social Media, Freiwilligenagenturen usw.); vor Aufnahme des Engagements Klärungsgespräche zum Abgleich der gegenseitigen Erwartungen und Möglichkeiten führen (‚Clearing‘, ‚Matching‘). Einführung: Vereinbarungen über die Rahmenbedingungen der freiwilligen Mitarbeit treffen (ggf. als schriftlicher Kontrakt); für eine angemessene fachliche Einführung sorgen; ‚Einführungs-Rituale‘ entwickeln (z. B. i. S. einer offiziellen Vorstellung und Begrüßung). Begleitung und Unterstützung: durch klar benannte AnsprechpartnerInnen aus den Reihen der hauptamtlichen MitarbeiterInnen; durch Fortbildungen; durch finanzielle Ressourcen (für Auslagenersatz, für Projekte usw.); durch relevante Informationen; durch regelmäßige MitarbeiterInnen-Gespräche auch mit Freiwilligen; durch Gelegenheiten zum Austausch der Engagierten untereinander und mit beruflichen MitarbeiterInnen. Beteiligung: sowohl an der Gestaltung der konkreten Aufgabe als auch an der Weiterentwicklung der Organisationen; Beteiligung über punktuelle Verfahren (z. B. gemeinsame Zukunftswerkstatt zur Weiterentwicklung der Organisation) oder fest institutionalisierte Formen (‚Beirat‘, regelmäßige gemeinsame Teamsitzungen von Haupt- und Ehrenamtlichen, Freiwilligen-SprecherIn usw.).
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Fortbildung: In-house- oder externe Veranstaltungen zur Vermittlung notwendigen fachlichen Wissens, aber auch zur Auseinandersetzung mit der eigenen Person anbieten; dabei die Fortbildungsgruppe nutzen als Ort des Voneinander-Lernens, des Erfahrungsaustausches und der gegenseitigen Unterstützung. Würdigung: eine ‚Anerkennungskultur‘ entwickeln i. S. eines die Organisation prägenden Stils sowie i. S. einer Vielfalt kreativer, individueller Formen (von traditionellen Formen wie Ehrennadeln, Urkunden oder Plaketten über kostenfreie Fortbildungen und MitarbeiterInnen-Ausflüge bis zur selbstverständlichen Erstattung von Fahrt-, Telefon-, Portoauslagen usw.). Verabschiedung: würdigende Formen der Verabschiedung etablieren (im Team, im internen Mitteilungsorgan, auf der Homepage o. Ä.), ggf. verbunden mit der Übergabe eines Geschenks; Bestätigungen über das Engagement ausstellen. Eine solche systematische, professionelle Engagementförderung gibt es nicht zum Nulltarif. Sie erfordert Investitionen. Aufgrund des Nutzens, der von einer professionell betriebenen Einbeziehung freiwillig Engagierter für alle Beteiligten und insbesondere für die spezifische Qualität der KJA erwartet werden darf (Abschn. 5 dieses Beitrags), sind diese Investitionen mehr als gerechtfertigt.
7 Übungsfragen 1. „Engagement ist immer Kind seiner Zeit – das sieht man auch an den Begriffen, die verwendet werden“. Erläutern Sie diese These. 2. Nennen Sie einige zentrale empirische Befunde zum Engagement in Deutschland. 3. Was halten Sie für das Zusammenwirken von beruflich tätigen Fachkräften und (freiwillig, ehrenamtlich, bürgerschaftlich, …) engagierten Menschen in der KJA für wichtig? 4. Es gibt verschiedene Argumente, mit denen man begründen kann, weshalb es wichtig ist, in die KJA (freiwillig, ehrenamtlich, bürgerschaftlich) engagierte Menschen einzubeziehen. Welche Argumentationen überzeugen Sie, welche nicht? Weshalb?
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P.-S. Roß
5. Was sind die wichtigsten Eckpunkte einer „Engagementförderung mit System“ in der KJA? 6. Bei Ihrem Träger ist ein Stelle „Freiwilligen-Management“ ausgeschrieben. Sie werden gebeten, sich zu bewerben. Dabei sollen Sie ein einseitiges Strategie-Papier vorlegen, wie Sie diese Aufgabe angehen würden. Was würde in diesem Papier stehen?
Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Hrsg. 2017. Bericht der Sachverständigenkommission an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für den Zweiten Engagementbericht „Demografischer Wandel und bürgerschaftliches Engagement: Der Beitrag des Engagements zur lokalen Entwicklung“. Freiburg i. Br. im April 2016. Berlin: Egenverlag. www.bmfsfj. de/blob/115624/d6da5ce2163c59600f48a7a5d360a3b2/2-engagementbericht-undstellungnahme-br-data.pdf. Zugegriffen: 30. März 2017. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Hrsg. 2012. Erster Engagementbericht 2012. Für eine Kultur der Mitverantwortung. Berlin: Eigenverlag. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Hrsg. 2010. Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009. Zivilgesellschaft, soziales Kapital und freiwilliges Engagement in Deutschland 1999–2004–2009. Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und Bürgerschaftlichem Engagement. München: TNS Infratest Sozialforschung. Caritas in NRW, Hrsg. 2013. Praxishandbuch Ehrenamtskoordination. Aachen: Eigendruck. Deinet, Ulrich. 2005. Zukunftsmodell Offene Kinder- und Jugendarbeit. Deutsche Jugend 2005 (1): 19–25. Düx, W., G. Prein, E. Sass, und C. Tully. 2009. Kompetenzerwerb im freiwilligen Engagement. Eine empirische Studie zum informellen Lernen im Jugendalter. Wiesbaden: VS Verlag. Enquête-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestages, Hrsg. 2002. Bericht. Bürgerschaftliches Engagement: Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Schriftenreihe, Bd. 4. Opladen: Leske und Budrich. Evers, A., T. Klie, und P.-S. Roß. 2015. Die Vielfalt des Engagements. Eine Herausforderung an Gesellschaft und Politik. Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (14–15): 39. Heidenreich, H. 1991. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Jugendverbänden. In Handbuch Jugendverbände. Eine Ortsbestimmung der Jugendverbandsarbeit in Analysen und Selbstdarstellungen, Hrsg. L. Böhnisch, H. Gängler, und T. Rauschenbach, 272–281. Weinheim: Juventa. Huth, S. 2012. Freiwilliges Engagement von Migrantinnen und Migranten. Vergleichende Fallstudien in multiethnischer Perspektive. In Erster Engagementbericht 2012. Für eine Kultur der Mitverantwortung, Hsrg. Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend (BMFSFJ). Berlin: Eigenverlag.
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Kausmann, C., J. Simonson, J. P. Ziegelmann, C. Vogel, und C. Tesch-Römer (2016). Länderbericht zum Deutschen Freiwilligensurvey 2014. Berlin, September 2016. https://www.dza.de/fileadmin/dza/pdf/fws/FWS_Laenderbericht_ges_2016.09.13.pdf. Zugegriffen: 1. Okt. 2016. Klein, A. 2001. Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Politische Kontexte und demokratietheoretische Bezüge in der neueren Begriffsverwendung. Bürgerschaftliches Engagement und Non-Profit-Sektor, Bd. 4. Opladen: Leske und Budrich. Mercator Stiftung Schweiz, Hrsg. 2018. Freiwilliges Engagement in einer digitalisierten Welt. Zürich: Manuskript. https://www.stiftung-mercator.ch/fileadmin/documents/ Digitalisierung/Digitalisierung_Engagement_2018.pdf. Zugegriffen: 25. Juli 2019. Müller, B. 1991. Abschied vom Ehrenamt. In Handbuch Jugendverbände. Eine Ortsbestimmung der Jugendverbandsarbeit in Analysen und Selbstdarstellungen, Hrsg. L. Böhnisch, H. Gängler, und T. Rauschenbach, 792–800. Weinheim: Juventa. Müller, S., und T. Rauschenbach, Hrsg. 1992. Das soziale Ehrenamt. Nützliche Arbeit zum Nulltarif, 2. Aufl. Weinheim: Juventa. Munsch, C. 2003. Lokales Engagement und soziale Benachteiligung. In Sozial Benachteiligte engagieren sich doch. Über lokales Engagement und soziale Ausgrenzung und die Schwierigkeiten der Gemeinwesenarbeit, Hrsg. C. Munsch, 7–28 Weinheim: Juventa. Nörber, M., und B. Sturzenhecker. 1999. Jenseits der „Krise“ des Ehrenamtes: Neue Perspeektiven für freiwilliges Engagement in der Kinder- und Jugendhilfe. In Freiwillige fördern. Ansätze und Arbeitshilfen für einen neuen Umgang mit Freiwilligen in der Kinder- und Jugendarbeit, Hrsg. B. Sturzenhecker, 9–16. Weinheim: Juventa. Nörber, M. 1999. Ehrenamtliches Engagement qualifizieren und fördern. Ehrenamtliches Engagement in der verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit. In Freiwillige fördern. Ansätze und Arbeitshilfen für einen neuen Umgang mit Freiwilligen in der Kinder- und Jugendarbeit, Hrsg. B. Sturzenhecker, 19–37. Weinheim: Juventa. Rauschenbach, T. 1991. Das Ehrenamt im Jugendverband. Historisches Relikt oder unverzichtbarer Bestandteil? In Handbuch Jugendverbände. Eine Ortsbestimmung der Jugendverbandsarbeit in Analysen und Selbstdarstellungen, Hrsg. L. Böhnisch, H. Gängler, und T. Rauschenbach, 282–294. Weinheim: Juventa. Rauschenbach, T., S, Borrmann, W. Düx, R. Liebig, J. Pothmann, und I. Züchner. 2010. Lage und Zukunft der Kinder- und Jugendarbeit in Baden-Württemberg. Eine Expertise. Dortmund et al.: Eigenverlag. Reifenhäuser, C., S.G. Hoffmann, und T. Kegel. 2009. Freiwilligen-Management. Augsburg: ZIEL Verlag. Rosenkranz, D., und A. Weber, Hrsg. 2012. Freiwilligenarbeit: Einführung in das Management von Ehrenamtlichen in der sozialen Arbeit. 2, aktual Aufl. Weinheim: Beltz. Roß, P.-S. 2012. Demokratie weiter denken. Reflexionen zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements in der Bürgerkommune. Baden-Baden: Nomos. Roß, P.-S. 2010. Ehrenamt. Nutzen für alle. Sozialwirtschaft 20 (6): 32–36. Roß, P.-S. 2018. Bürgerschaftliches Engagement und seine Förderung. In Sozialwirtschaft. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Hrsg. K. Grunwald und A. Langer, 670–686. Baden-Baden: Nomos. Roß, P.-S., und I. Steiner. 2014. Vielfalt des Engagements in einer offenen Gesellschaft. Warum wir die Diskussion über „Freiwilliges Engagement von Menschen mit
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P.-S. Roß
Migrationshintergrund“ hinter uns lassen sollten. Newsletter Wegweiser Bürgergesellschaft 21/2014. Sachße, C. 2011. Traditionslinien bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland. In Handbuch bürgerschaftliches Engagement, Hrsg. T. Olk und B. Hartnuß, 17–27. Wiesbaden: Springer VS. Schneider, H., und K. Polinovska. 2012. Zivilgesellschaft in deutschen Kommunen. Realität und Förderung des freiwilligen Engagements für und von Kinder(n) und Jugendliche(n). Gütersloh: Bertelsmann Stiftung (Manuskript). https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Jungbewegt/Downloads/BM_Befragung_ Langbericht.pdf. Zugegriffen: 25. Juli 2019. Simonson, J., C. Vogel, und C. Tesch-Römer. Hrsg. 2016. Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). https://www.bmfsfj.de/blob/93916/ af9d3caa4c878c55adb40790013a262d/freiwilligensurvey-2014-langfassung-data.pdf. Zugegriffen: 1. Okt. 2016. Sturzenhecker, B., Hrsg. 1999a. Freiwillige fördern. Ansätze und Arbeitshilfen für einen neuen Umgang mit Freiwilligen in der Kinder- und Jugendarbeit. Weinheim: Juventa. Sturzenhecker, B. 1999b. Neue Arbeitsweisen für einen neuen Umgang mit Freiwilligen in der Jugendarbeit – Eine Konzeption. In Freiwillige fördern. Ansätze und Arbeitshilfen für einen neuen Umgang mit Freiwilligen in der Kinder- und Jugendarbeit, Hrsg. B. Sturzenhecker (51–74). Weinheim: Juventa. Sturzenhecker, B. 1999c. Freiwilliges Engagement im Jugendhaus – Gewinnung und Förderung von Freiwilligen in der Offenen Jugendarbeit. In Freiwillige fördern. Ansätze und Arbeitshilfen für einen neuen Umgang mit Freiwilligen in der Kinder- und Jugendarbeit, Hrsg. B. Sturzenhecker, 84–105. Weinheim: Juventa.
Literatur zur Vertiefung Düx, W., G. Prein, E. Sass, und C. Tully. 2009. Kompetenzerwerb im freiwilligen Engagement. Eine empirische Studie zum informellen Lernen im Jugendalter. Wiesbaden: VS Verlag. Reifenhäuser, C., S.G. Hoffmann, und T. Kegel. 2009. Freiwilligen-Management. Augsburg: ZIEL Verlag. Rosenkranz, D., und A. Weber, Hrsg. 2012. Freiwilligenarbeit: Einführung in das Management von Ehrenamtlichen in der sozialen Arbeit, 2. aktual. Aufl. Weinheim: Beltz. Simonson, J., C. Vogel, und C. Tesch-Römer, Hrsg. 2016. Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). https://www.bmfsfj.de/blob/93916/ af9d3caa4c878c55adb40790013a262d/freiwilligensurvey-2014-langfassung-data.pdf. Zugegriffen: 1. Oct. 2016. Sturzenhecker, B., Hrsg. 1999. Freiwillige fördern. Ansätze und Arbeitshilfen für einen neuen Umgang mit Freiwilligen in der Kinder- und Jugendarbeit. Weinheim: Juventa.
Partizipation – Kernaufgabe und Schlüsselbegriff in der Kinder- und Jugendarbeit Thomas Meyer und Sebastian Rahn
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag bestimmt Partizipation als Kernaufgabe und zentralen Handlungsmodus der Kinder- und Jugendarbeit, da sich in diesem Begriff die Bedeutung von Demokratiebildung mit der Verwirklichung von Mitwirkungsund Beteiligungsrechten von Kindern und Jugendlichen verbindet. Dementsprechend werden sowohl Teilhabe als auch Teilnahme als Facetten von Partizipation erörtert und der Begriff wird im Hinblick auf unterschiedliche sozialpädagogische Handlungsfelder konkretisiert. Ausgehend von einem derart gefassten Partizipationsbegriff fragt der Beitrag nach den Beteiligungsrechten und Partizipationsformen von Kindern und Jugendlichen sowie arbeitsfeldspezifisch nach der Partizipation in der Kinder- und Jugendarbeit. Diese Betrachtung wird ergänzt um empirische Befunde zum Stellenwert von Partizipation für Kinder und Jugendliche und zu partizipativen Prozessen in der Kinder- und Jugendarbeit. Hierbei zeigt sich zum einen die hohe biografische Bedeutung partizipativer Erfahrungen. Zum anderen wird deutlich, dass partizipative Prozesse dann gelingen, wenn sie an den alltäglichen Interessen und Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen anschließen und für diese biografisch sowie subjektiv Sinn machen. Daraus ergibt sich die Bedeutung einer dialogischen Praxis in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Partizipation als alltäglicher Handlungsmodus verankert ist. T. Meyer (*) · S. Rahn Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Rahn E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_12
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1 Partizipation als Grundlage von Demokratiebildung und lebensweltorientierter Jugendhilfe – Einleitende Anmerkungen Partizipation ist seit den 1990er Jahren ein „Modewort“ in der Kinder- und Jugendarbeit (Zinser 2005, S. 157) und in aktuellen gesellschaftlichen Debatten ein allgegenwärtiger Begriff. Im Kontext von Kindheit und Jugend dient der Begriff gleichermaßen der deskriptiven Betrachtung von individuellen oder kollektiven Handlungsprozessen und der normativen Einforderung von Beteiligungs-, Mitwirkungs- und Entscheidungsrechten sowie der Aufforderung an Kinder und Jugendliche, diese Rechte auch wahrzunehmen. Entsprechend geht es in der sozialpädagogisch ausgerichteten Kinder- und Jugendarbeit immer darum, sich einerseits für die Belange von jungen Menschen einzusetzen, ihnen Hilfestellung zu bieten, diese Belange zu artikulieren und ihre Rechte einzufordern, sowie sie gegebenenfalls auch anwaltschaftlich zu vertreten, etwa im kommunalpolitischen Kontext. Andererseits ist Partizipation aber auch gleichzeitig Gegenstand pädagogischer Bemühungen, weil junge Menschen in entsprechenden Settings lernen und befähigt werden sollen, sich an Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Insofern geht Partizipation immer auch mit Demokratiebildung einher. Gerade, weil Partizipation als Lernfeld für die demokratische Gesellschaft so wichtig ist, erscheint die Sorge über ein (vermeintlich) abnehmendes politisches Engagement junger Menschen nachvollziehbar. Das fehlende Interesse an traditionellen politischen Beteiligungsformen (z. B. Mitgliedschaft in politischen Parteien, Gremienarbeit) und das geringe Vertrauen in die entsprechenden Institutionen wird dann mit Nicht-Partizipation übersetzt und als ‚Politikverdrossenheit‘ der Kinder und Jugendlichen gedeutet (vgl. Schneekloth 2010). Insbesondere bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund sowie sogenannten ‚bildungsfernen‘ Jugendlichen konstatieren Studien ein niedrigeres politisches und soziales Engagement (vgl. Schneekloth 2015; Kausmann/Simonson/ Hameister 2017). Allerdings wird diese Entwicklung auch „als Ausdruck eines generationalen Wandels der Partizipationsformen verstanden – von einem konventionellen Engagement […] hin zu mehr dynamischen themen- und problemorientierten Formen“ (Gille u. a. 2016, S. 163) Was Partizipation ist und wer auf welche Weise an gesellschaftlichen Zusammenhängen partizipiert, wird vor diesem Hintergrund zu einer komplexen und nur schwer zu beantwortenden Fragestellung.
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Parallel zu dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung stellt Partizipation im sozialpädagogischen Fachdiskurs seit dem achten Jugendbericht eine Strukturmaxime einer lebensweltorientierten Jugendhilfe dar (vgl. BMJFFG 1990, S. 88; Grunwald/Thiersch 2016, S. 46) und wurde auch in anderen theoretischen Perspektiven als zentraler Begriff eingeführt (vgl. Oechler 2018; Winkler 2018). Partizipation wird dabei sowohl als Ziel (z. B. Sicherung von Teilhabe- und Mitwirkungsrechten der AdressatInnen) als auch als struktureller Handlungsmodus (z. B. gemeinsame Feststellung von Hilfebedarfen und Planung von Angeboten) sozialarbeiterischen Handelns betrachtet (vgl. Schnurr 2018, S. 1132). In der Kinder- und Jugendarbeit verbindet sich im Begriff der Partizipation die Bedeutung von Demokratielernen mit der Verwirklichung von Mitwirkungsund Beteiligungsrechten von Kindern und Jugendlichen (vgl. Zinser 2005, S. 163). Daraus leitet sich die konstitutive Bedeutung einer partizipativen Praxis für dieses Arbeitsfeld ab: „KJA soll an die Interessen der Kinder und Jugendlichen anknüpfen und auf dieser Basis von den Teilnehmenden ‚mitgestimmt und mitgestaltet‘ – wenn man so will: ko-produziert – werden. Charakteristikum von KJA ist also ihre Partizipativität, ja ihre demokratische Verfasstheit.“ (Sturzenhecker/Deinet 2018, S. 696, Hervorhebung im Original). Häufig bleibt jedoch offen, was genau unter Partizipation zu verstehen ist und in welchen Handlungsvollzügen und strukturellen Rahmenbedingungen sich diese verwirklicht. Dies macht es für den vorliegenden Beitrag erforderlich, zunächst den Partizipationsbegriff sowie dessen theoretische und rechtliche Begründung näher zu betrachten. Basierend darauf wird der partizipative Selbstanspruch der KJA und die daraus erwachsenden konkreten Partizipationsformen näher betrachtet und ein empirischer Blick auf Partizipationsprozesse in der KJA gerichtet.
2 Theoretische Perspektiven auf den Partizipationsbegriff Die oftmals synonyme Verwendung von Begriffen wie Partizipation, Mitwirkung, Teilnahme, Teilhabe, Mitbestimmung und Mitgestaltung zeigt erstens die Unschärfe in der fachlichen Diskussion, zweitens die unterschiedlichen Dimensionen von Beteiligungsprozessen und drittens die Konjunktur entsprechender Konzepte im politischen wie im fachlichen Diskurs (vgl. Deinet u. a. 2017, S. 163; Hafeneger 2005b, S. 11). Umso wichtiger erscheint daher eine theoretische Klärung.
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2.1 Definitionen und Modelle von Partizipation Der Begriff „Partizipation“ leitet sich aus dem lateinischen „participare“ ab, was wiederum aus den Wortteilen „pars“ (Teil) und „capere“ (fassen, ergreifen, nehmen) besteht. Dies verdeutlicht bereits, dass es bei Partizipation nicht ein passives ‚Dabei-Sein‘ geht, sondern darum, einen Teil der Verfügungsgewalt zu „ergreifen“ bzw. an sich zu nehmen. Bestandteil dessen ist die Übertragung von Entscheidungsmacht auf diejenigen Personen, die von den Entscheidungen unmittelbar betroffen sind (vgl. Bundesjugendkuratorium 2009, S. 6). Der ursprünglich auf formale Verfahren zur politischen Einflussnahme beschränkte Begriff wird inzwischen entsprechend seiner etymologischen Herkunft für eine Vielzahl von formellen und informellen Möglichkeiten der politischen Beteiligung, des zivilen Engagements und der Mitgestaltung des Lebensumfelds bzw. von Institutionen genutzt (vgl. Pluto 2018, S. 946). Schnurr (2018, S. 1126 f.) stellt in seiner Definition die Begriffe der Teilnahme und Teilhabe ins Zentrum. Unter Teilnahme versteht er die „aktive Beteiligung und Mitwirkung an Beratungen und Entscheidungen, die das Gemeinwesen betreffen.“ (ebd., S. 1126) Damit wird deutlich, dass mit dem Begriff der Partizipation die Idee verbunden ist, dass die in demokratischen Gesellschaften lebenden Menschen gestaltend auf verschiedene Bereiche dieser Gesellschaft Einfluss nehmen und ihre Bedürfnisse und Interessen im öffentlichen Raum artikulieren können. Um dies zu gewährleisten, ist jedoch nach Schnurr (ebd.) die Gewährung von Teilhabe im Sinne eines Zugangs zu den gesellschaftlich produzierten Gütern und zum kulturellen und wirtschaftlichen Leben notwendig: „Voll entwickelte Demokratien gewähren Freiheitsrechte, politische Rechte zur aktiven Teilnahme an Entscheidungen und soziale Rechte auf Teilhabe an Gütern, auf Arbeit und faire Arbeitsbedingungen, auf soziale Sicherheit, Gesundheit und Bildung, die die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Freiheits- und Teilnahmerechte auch tatsächlich realisiert werden können. Durch Partizipation verbindet sich das mit Freiheitsrechten ausgestattete Subjekt mit dem Politischen und mit dem Sozialen. In Akten der Partizipation konstituieren und entwickeln sich Subjektivität und Sozialität zugleich.“ (ebd., S. 1127).
Wird diese grundlegende Definition auf einzelne Handlungsfelder konkretisiert, zeigen sich allerdings oftmals unterschiedliche Auslegungen von Partizipation. Dies lässt sich an den Unterschieden zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe verdeutlichen: während die im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) enthaltenen Partizipationsrechte sowohl die Mitwirkung der AdressatInnen am Hilfeprozess als auch die Befähigung
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zur politischen Teilnahme umfassen (siehe Abschn. 3), fokussiert die Behindertenhilfe (SGB IX, Bundesteilhabegesetz, deutsche Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention) stärker auf den Begriff der Teilhabe als Zugang zu Gütern und Ressourcen, wodurch der Aspekt der politischen Einflussnahme und der Gestaltung von Praxis geringer gewichtet wird (vgl. ebd.). Pluto (2018, S. 964) erachtet deshalb für eine begriffliche Klärung eine genaue Beachtung des Anwendungskontexts von Partizipation für unerlässlich und fasst diese Vielfalt an Partizipationsformen folgendermaßen zusammen: „In all diesen Kontexten geht es um den Einfluss auf gesellschaftliche Entscheidungen, die (Mit)Gestaltung von Lebensverhältnissen und um die Beteiligung an Macht und den Ausgleich von Macht.“
2.2 Begründungen von Partizipation Die oben bereits angesprochene Erweiterung des Partizipationsbegriffs auf nicht formal-politische Kontexte basiert auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland seit den 1960er und 70er Jahren, die sich auf zwei Diskursstränge zuspitzen lassen (vgl. Pluto 2018, S. 946 f.): • Demokratisierung: Hierunter lassen sich diejenigen Entwicklungen fassen, welche eine Demokratisierung der Gesellschaft und eine Erneuerung ihrer Organe und Institutionen bewirkt haben. Im Zentrum stand hier die Erweiterung der Rechte und Handlungsmöglichkeiten insbesondere von denjenigen Gruppen (z. B. Kinder und Jugendliche in Heimen, psychisch kranke Personen), die bisher davon exkludiert waren: „Das Interesse richtete sich auf eine Verbesserung der Einflussmöglichkeiten von Bürgern und Bürgerinnen auf staatliche Entscheidungen und auf jene Gruppen der Gesellschaft, denen demokratische Rechte vorenthalten wurden.“ (ebd., S. 946) • Aktivierung/Ökonomisierung: Diese Entwicklung steht im Zeichen des Rückzugs des „aktivierenden Sozialstaats“ aus bisher öffentlich verantworteten Aufgabenfeldern, was zur Senkung sozialstaatlicher Ausgaben führen soll. Partizipation meint hier die Aufforderung an den Einzelnen, seine Probleme ‚in die eigene Hand zu nehmen‘: „Partizipation wird in einem instrumentellen Verständnis gebraucht mit dem Ziel, die optimale ökonomische Integration des Einzelnen in die Gesellschaft zu erreichen.“ (ebd., S. 947) Partizipation hat demzufolge zufolge zwei Gesichter: Einerseits als Möglichkeit, die Selbstbestimmung und Mitwirkung benachteiligter Personen(-gruppen)
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zu stärken, andererseits als „Erziehungsmittel zu systemgerechter Sozialisation“ (Abeling u. a. 2003, S. 230), das auf die Selbstheilungskräfte des Individuums setzt (vgl. Hafeneger 2005b, S. 11; Pluto 2018, S. 947) Gleichzeitig deuten sich in diesen Diskursen unterschiedliche Begründungsmuster von Partizipation an, denen jedoch, solange sie lediglich situativ und instrumentell zur Forderung nach Partizipation (z. B. zur Verringerung der aktuellen Politikverdrossenheit Jugendlicher) eingesetzt werden, etwas „Beliebiges und Austauschbares“ (Bundesjugendkuratorium 2009, S. 9) anhaftet. Daraus erklärt sich die Relevanz theoretischer Begründungsmuster von Partizipation im Kontext der Sozialen Arbeit. Schnurr (2018, S. 1128 f.) differenziert dabei zwischen einer demokratietheoretischen, dienstleistungstheoretischen und bildungstheoretischen Begründung: • Aus einer demokratietheoretischen Perspektive wird die konstitutive Bedeutung von Partizipation für eine funktionierende Demokratie sichtbar. Gleichwohl, ob die Funktion von Partizipation in der Ermöglichung legitimer Herrschaft (liberale Demokratietheorien), in der politischen und sozialen Integration (partizipatorische Demokratietheorien), in der Verwirklichung einer idealen kommunikativen Prozedur zur Entscheidungsfindung (diskurstheoretische Demokratietheorien) oder in der agonistischen Konfrontation widerstreitender Interessen (radikale Demokratietheorien) gesehen wird, einig sind sich diese Perspektiven in der grundlegenden Relevanz von politischer Partizipation der an einem Gemeinwesen beteiligten Personen (vgl. ebd.). Da die individuelle Verwicklung dieser partizipativen Rechte jedoch wiederum von der sozialen und wirtschaftlichen Lage abhängt, ist es notwendig, die Mitwirkungsrechte um soziale Rechte zu ergänzen und Partizipation wohlfahrtsstaatlich zu ermöglichen (vgl. ebd., S. 1129; Meyer 2009, S. 30). • Der Bezugspunkt dienstleistungstheoretischer Begründungen von Partizipation sind die strukturellen Charakteristika sozialpädagogischer Leistungserbringung als personenbezogene soziale Dienstleistung: Beziehungen und Interaktionen als Kernoperationen, das zeitliche Zusammenfallen von Konsumtion und Produktion (Uno-actu-Prinzip) und die Rolle der AdressatInnen als Ko-ProduzentInnen (vgl. auch Klatetzki 2010). Aufgrund dieser Strukturmerkmale stellt die Partizipation der AdressatInnen eine Mindestvoraussetzung für die Dienstleistungserbringung und einen maßgeblichen Faktor für deren Erfolg dar und dient damit auch der Qualitätskontrolle und Weiterentwicklung der Angebote. • Pädgogische und bildungstheoretische Begründungslinien stellen dagegen weniger auf den funktionalen Beitrag von Partizipation für das Gelingen von
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demokratischen Strukturen und personenbezogenen Dienstleistungen ab, sondern schließen vielmehr „an Theorietraditionen an, die Bildung – in der Zieldimension – als Mündigkeit, Urteilskraft und Handlungsfähigkeit, als Emanzipation und Selbstverwirklichung sowie – in der Prozessdimension – als Selbstbildung durch Selbst- und Welterfahrung verstehen“ (Schnurr 2018, S. 1130). Um Bildung in diesem Sinne zu ermöglichen, ist es erforderlich, Orte der Selbst- und Welterfahrung, Anerkennungsverhältnisse und demokratische Entscheidungsstrukturen in pädagogischen Handlungskontexten zu verankern. Sozialpädagogisch gewendet bedeutet das, Partizipation an die lebensweltlichen Realitäten der AdressatInnen anschlussfähig zu gestalten und in deren Alltag einzubetten, um nicht nur Bildung zur Teilhabe, sondern „Bildung in Teilhabe“ (Walther 2014, S. 131, Hervorhebung im Original) zu ermöglichen (zu den weiteren Theoriebezügen einer bildungstheoretischen Begründung vgl. Schnurr 2018, S. 1131). Zusätzlich lassen sich noch weitere funktional-gesellschaftspolitische Begründungslinien identifizieren, die Partizipation beispielsweise als Chance zu mehr Generationengerechtigkeit oder als kommunalen Standortfaktor interpretieren (vgl. Olk/Roth, 2007, S. 65 ff.). Zusammenfassend zeigt sich aus einer theoretischen Perspektive die Vielgestaltigkeit und Bedeutung partizipativer Prozesse in einem demokratisch verfassten Sozialstaat, woraus Schnurr (2018, S. 1131 f.) das Postulat ableitet, „den Bürgern erweiterte Möglichkeiten und Rechte zur Einflussnahme und Mitwirkung an Entscheidungen einzuräumen – sowohl im Hinblick auf Fragen der Programm- und Versorgungsstruktur als auch im Hinblick auf die Bestimmung von Bedarfen und Leistungen im individuellen Betroffenheitsfall und in den Prozessen der Leistungserbringung“. Um dabei die besondere Bedeutung der KJA herauszuarbeiten, soll dieses Postulat zunächst in Bezug auf Kinder und Jugendliche konkretisiert werden.
3 Partizipation von Kindern und Jugendlichen Für die Beantwortung der Frage, wie Kinder und Jugendliche an gesellschaftlichen Zusammenhängen partizipieren können, sind deren gesetzlich verfasste Mitwirkungsrechte von elementarer Bedeutung (vgl. Richter 2016). Daher stehen diese rechtlichen Grundlagen in einem ersten Schritt im Zentrum, bevor die konkreten Formen partizipativer Prozesse im Kindes- und Jugendalter dargelegt werden.
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3.1 Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen sind sowohl in der nationalen Gesetzgebung als auch in supranationalen und internationalen Gesetzestexten, Konventionen und Resolutionen festgehalten. Obwohl sich auf internationaler Ebene grundsätzlich alle Vereinbarungen ohne Altersgrenze auch an Minderjährige richten, so ist die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) hier doch von besonderer Bedeutung, da sie genuine Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen festschreibt. Artikel 12 UN-KRK verpflichtet die Staaten dazu, Kindern entsprechend ihrem Alter und ihrem Entwicklungsstand die Möglichkeit zu geben, ihre Meinung in allen sie betreffenden Angelegenheiten zu äußern und diese Meinungen in der Entscheidungsfindung auch zu berücksichtigen. Dies meint allerdings nicht, dass die Partizipationsrechte an bereits erlangte Beteiligungskompetenzen gebunden sind. Wie das Bundesjugendkuratorium (2009, S. 9) konstatiert, geht die UN-KRK „von der Vorstellung eines dynamischen Prozesses des Kompetenzaufbaus im Vollzug der Partizipationsrechte aus. […] Demnach können auch junge Kinder in den sie betreffenden Angelegenheiten sehr wohl kompetent mitbestimmen, ohne gleichzeitig allgemeine Fragen politischer (Selbst-)Regierung beurteilen können zu müssen.“ Dies zeigt sich anschlussfähig an bildungstheoretische Begründungen von Partizipation und zeigt, dass die Bedeutung partizipativer Prozesse immer über diese selbst in die Zukunft hinausweist. Auf nationaler Ebene sind Kinder und Jugendliche ebenso wie Erwachsene TrägerInnen der durch das Grundgesetz garantierten ‚politischen Grundrechte‘, wie beispielsweise die Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG), die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) sowie die Vereinigungs- und Parteifreiheit (Art. 9, 21 GG). Allerdings kann das Wahlrecht (zur Wahl des deutschen Bundestags) nach Art. 38 Abs. 2 GG nur von volljährigen Personen ausgeübt werden. Zudem ist es juristisch umstritten, inwiefern Kinder und Jugendliche die ihnen zustehenden Grundrechte auf Beteiligung auch selbstständig ausüben können (vgl. Richter 2016, S. 147 f.). In diesem Zusammenhang wird seit mehreren Jahrzehnten über die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz debattiert (vgl. BMFSFJ 2013). Aus diesem Grund betont das Bundesjugendkuratorium (2009, S. 7) die besondere Bedeutung alltäglicher Partizipationsprozesse im Kindes- und Jugendalter: „Unter der Bedingung, dass Kindern und Jugendlichen die vollen politischen Bürgerrechte (noch) nicht zugestanden werden, ist von konstitutiver Bedeutung, ob und in welchem Maße Kindern und Jugendlichen dort Beteiligungsrechte
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zugesprochen werden, wo sie sich im alltäglichen Leben bewegen, nämlich in Familie, Schule, Einrichtungen und Diensten der Kinder- und Jugendhilfe, Jugendverbänden und im kommunalen Raum.“
Um den Aufbau formaler Beteiligungsstrukturen im kommunalen Raum zu fördern, wurden in mehreren Gemeindeordnungen entsprechende Regelungen aufgenommen, beispielsweise im § 41a Abs. 1 S. 1 und 2 GemO Baden-Württemberg: „Die Gemeinde soll Kinder und muss Jugendliche bei Planungen und Vorhaben, die ihre Interessen berühren, in angemessener Weise beteiligen. Dafür sind von der Gemeinde geeignete Beteiligungsverfahren zu entwickeln. Insbesondere kann die Gemeinde einen Jugendgemeinderat oder eine andere Jugendvertretung einrichten […].“ Neben diesen Regelungen (und den formalen Beteiligungsrechten von Kindern und Jugendlichen in familiengerichtlichen Verfahren) ist das SGB VIII die zentrale Bezugsquelle von Beteiligungsrechten in der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Pluto 2018, S. 950). Bereits in dem in § 1 Abs. 1 SGB VIII festgeschriebenen Recht von jungen Menschen auf „Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ deutet sich bildungstheoretisch gesprochen die Bedeutung einer partizipativen Gestaltung der Bedingungen des Aufwachsens an. Explizit festgeschrieben ist das Recht auf Beteiligung in den § 8 Abs. 1 SGB VIII (Beteiligung von Kindern und Jugendlichen entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe) und § 9 Abs. 1 SGB VIII (Berücksichtigung der wachsenden Fähigkeit und des wachsenden Bedürfnisses des Kindes oder des Jugendlichen zu selbstständigem, verantwortungsbewusstem Handeln sowie der jeweiligen besonderen sozialen und kulturellen Bedürfnisse und Eigenarten junger Menschen und ihrer Familien in der Leistungserbringung) sowie für die Hilfen zur Erziehung im § 36 SGB VIII (Mitwirkung im Hilfeplanverfahren). Darüber hinaus sind die öffentlichen Träger auch bei Entscheidungen zur Förderung freier Träger (§ 74 Abs. 4 SGB VIII) sowie bei der Jugendhilfeplanung (§ 80 SGB VIII) dazu aufgefordert, den Einbezug der Interessen und Bedürfnisse der AdressatInnen sicherzustellen. Ein besonderer Auftrag zur Partizipation ergibt sich für die KJA aus § 11 Abs. 1 S. 2 SGB VIII. Hier heißt es: „Sie [die Angebote der Jugendarbeit, Anm. SR/ TM] sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen.“ Auch für die Jugendverbandsarbeit gilt nach § 12 Abs. 2 SGB VIII: „In Jugendverbänden und Jugendgruppen wird Jugendarbeit von jungen Menschen selbst organisiert, gemeinschaftlich gestaltet und m itverantwortet.
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[…] Durch Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse werden Anliegen und Interessen junger Menschen zum Ausdruck gebracht und vertreten.“ Sturzenhecker (2013, S. 327) begreift den daraus erwachsenden Auftrag (für die offene Arbeit) als „Demokratiebildung“, in der Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform verstanden wird und Demokratie durch die Aneignung derselben in den Einrichtungen der KJA erfahrbar macht. In dieser Perspektive stellt Partizipation allerdings lediglich die notwendige Vorstufe von Demokratie dar, da in ersterer noch keine vollen Entscheidungs- und Beteiligungsrechte gewährt werden (vgl. ebd., S. 327 f.). Dies wirft die Frage danach auf, welche Formen bzw. ‚Intensitäten‘ der Partizipation im Kindes- und Jugendalter differenziert werden können.
3.2 Formen von Partizipation im Kindes- und Jugendalter In der Kindheit und Jugend ist die alltägliche Partizipation von besonderer Bedeutung, worunter nach dem Bundesjugendkuratorium (2009, S. 7 f.) alle „Entscheidungsprozesse des Alltagslebens in Familie, Bildungs-, Betreuungsund Erziehungseinrichtungen, Verbänden und Vereinen, parlamentarischen und vorparlamentarischen Entscheidungsgremien auf örtlicher und überörtlicher Ebene in allen Lebensbereichen“ zu fassen sind. Um jedoch die Intensität solcher Partizipationsprozesse analytisch unterscheiden und hinsichtlich ihrer partizipativen Elemente einschätzen zu können, wurden mehrere Differenzierungen des Partizipationsbegriffs vorgenommen. Ein an eine Leitermetapher angelegtes Verständnis unterschiedlicher Partizipationsstufen wurde ursprünglich von Arnstein (1969) ausgearbeitet und von Hart (1992) und Schröder (1995) für die Partizipation von Kindern und Jugendlichen weiterentwickelt (vgl. Abb. 1). Dieser Differenzierungsvorschlag ist nach Schröder (1995, S. 15 ff.) dazu geeignet, zwischen nur zu Legitimationszwecken durchgeführten ‚Schein-Veranstaltungen‘ und den vielfältigen Chancen einer ‚echten‘ Beteilung von Kindern und Jugendlichen zu unterscheiden. Dabei lassen sich die Stufen zusammengefasst wie folgt unterscheiden (vgl. Schröder 1995; Abeling u. a. 2003, S. 265 f.): • Fremdbestimmung, Dekoration und Alibi-Teilnahme (Nicht-Beteiligung): Zur ‚Nicht-Beteiligung‘ gehören insbesondere diejenigen Formen, in denen Kinder und Jugendliche lediglich von den Erwachsenen überredet bzw. aufgefordert werden, sich in einem bestimmten Kontext zu beteiligen. Ihnen wird dabei
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Abb. 1 Stufen der Partizipation. (Darstellung nach: Schröder 1995; Hart, 1992) (Je nach Autor lassen sich entweder acht oder neun Differenzierungen/Stufen der Partizipation unterscheiden.)
weiterhin eine ‚Unreife‘ zugeschrieben und sie werden von Erwachsenen fremdbestimmt (z. B. Kinder als Plakatträger auf einer Demonstration) oder lediglich zur Aufwertung einer bestimmten Aktion (Dekoration) bzw. zur Teilnahme an einem bereits feststehenden Angebot (Alibi-Teilnahme) genutzt. Entscheidungsmöglichkeiten haben sie in diesen Fällen faktisch keine. • Teilhabe, Zugewiesen/Informiert, Mitwirkung, Mitbestimmung, Selbstbestimmung (Grade der Beteiligung): Je nach Beteiligungsgrad erhalten die Kinder und Jugendlichen hier bestimmte Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten (‚voice-Rechte‘ und ‚choice-Rechte‘), meistens jedoch ohne volle Entscheidungsrechte zu erhalten. Bei den unteren Stufen können die AdressatInnen lediglich sporadisch an der Gestaltung mitwirken (Teilhabe) oder erhalten zumindest umfangreiche Informationen, verbleiben aber in einer niedrigeren Machtposition als die Fachkräfte (Zugewiesen, aber informiert). In der nächsthöheren Stufe werden die Kinder und Jugendlichen stärker in die Planung, Gestaltung und die Durchführung eines Angebots einbezogen (Mitwirken). Auf der Stufe der Mitbestimmung bringen die Erwachsenen lediglich die Projektidee ein, Zielsetzung, Ausgestaltung und Ergebnis definieren die TeilnehmerInnen gemeinschaftlich und das Vorhaben wird mehr oder weniger
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selbstständig organisiert und durchgeführt. Die letztendliche Entscheidungsgewalt verbleibt jedoch noch bei den Erwachsenen. Solche Aktivitäten bieten bereits die Möglichkeit, Beteiligungsprozesse kennen zu lernen und Partizipation zu üben. In der pädagogischen Praxis der Kinder- und Jugendarbeit ist daher die Differenzierungsstufe der Mitbestimmung bereits ein unverzichtbares Gut. Von Selbstbestimmung1 kann allerdings erst gesprochen werden, wenn die Projekte von den Kindern und Jugendlichen ausgehen und von diesen initiiert werden. Auslöser eines solchen Vorhabens ist meist die eigene Betroffenheit (z. B. fehlende Spielmöglichkeiten). Erwachsene unterstützen und begleiten das Engagement, die Entscheidungen fällen jedoch die Kinder und Jugendlichen und entscheiden selbst, inwieweit sie andere Personen dabei miteinbeziehen. • Selbstverwaltung (Geht über Beteiligung hinaus): Auf dieser höchsten Stufe der Partizipation (Selbstverwaltung) agieren Kinder und Jugendliche vollständig als „ExpertInnen in eigener Sache“. Von Beginn an wird das Vorhaben von den Kindern und Jugendlichen initiiert, d. h. die Idee, die Planung sowie die Durchführung liegt vollständig in den Händen der Kinder und Jugendlichen, alle Entscheidungen werden von den Kindern und Jugendlichen selbst getroffen. Vonseiten der PädagogInnen kann das Projekt unterstützt und gefördert werden, eine Beteiligung oder Einmischung findet jedoch nicht statt. Die Fachkräfte werden lediglich von den Ergebnissen in Kenntnis gesetzt. Den Einrichtungen obliegt es vielmehr, gleiche Beteiligungschancen für alle Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten: „Auf dieser höchsten Partizipationsstufe sind mündige NutzerInnen personenbezogener sozialer Dienstleistungen in der Lage und berechtigt, eigene Vorhaben zu leiten und unabhängig von der Dienstleistungsorganisation zu bestimmen, unter welchen Bedingungen Änderungen in der Lebensplanung vorgenommen werden. Ihnen stehen so viele Ressourcen an Macht, Selbstbestimmung, finanziellen Mitteln und allgemeine Kompetenzen zur Verfügung, dass sie selbst über Ziele und Handlungsabläufe entscheiden können“ (Petersen 1999, S. 26). Ausgehend von diesen Stufenmodellen haben sich mehrere Ansätze zur Erfassung von partizipativen Prozessen entwickelt (vgl. zusammenfassend Abeling u. a. 2003, S. 259 ff.). So hat beispielsweise Pluto (2007, S. 53) für die Kinder- und
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Schröder (1995, S. 17) geht auch die Stufe der Selbstbestimmung teilweise bereits über Beteiligung hinaus. In jedem Fall „werden“ Kinder und Jugendliche auf dieser Ebene nicht mehr beteiligt, sondern „beteiligen sich“ selbst.
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Jugendhilfe ein stärker inhaltlich ausgerichtetes Kreismodell entwickelt, das die Facetten und Herausforderungen von Partizipation in diesem Arbeitsfeld beschreibt und die folgenden Dimensionen fokussiert: Mitdenken, Mitreden, Mitplanen, Mitentscheiden, Mitgestalten und Mitverantworten. Der Nutzen dieser Modelle liegt in der dadurch ermöglichten Differenzierung zwischen unterschiedlichen Beteiligungshandlungen und -strukturen über eine duale Unterscheidung in ‚Partizipation‘ und ‚Nicht-Partizipation‘ hinaus. Durch die damit einhergehende analytische Schärfung des Begriffs wird dieser auch für die empirische Erforschung von Partizipationsprozessen nutzbar (siehe Abschn. 5). Zunächst gilt es jedoch, Partizipation historisch, theoretisch und strukturell im Arbeitsfeld der KJA zu verorten.
4 Partizipation in der Kinder- und Jugendarbeit Seit ihrer Entstehung wurde Kinder- und Jugendarbeit durch Ideen der Mit- und Selbstbestimmung geprägt: Dies gilt sowohl in den frühen Anfängen des Wandervogels und anderer Jugendbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in den Jugendclubs der 1950er und 1960er Jahre als auch in der Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre und in den neueren konzeptionellen Debatten der 1980er und 1990er Jahre (vgl. Hafeneger 2013). Andererseits wurden auch immer gesellschaftliche Erwartungen an die KJA herangetragen, wie beispielsweise der Schutz von ‚gefährdeten‘ Jugendlichen und die Weitergabe von Werten und Grundsätzen zum Zwecke der Integration in gesellschaftliche Zusammenhänge (vgl. Seckinger u. a. 2014, S. 230). Historisch lassen sich damit sowohl Phasen rekonstruieren, in denen Partizipation und Demokratieförderung als Leitprinzipien für die KJA dienten, als auch Phasen, in denen von Erwachsenen gestaltete Angebote für Kinder und Jugendliche im Vordergrund standen (vgl. Pluto 2018, S. 958; zur Übersicht vgl. Hafeneger 2005a). In den letzten Jahren wird dieses Thema wieder verstärkt sichtbar als Spannungsfeld einer KJA, die einerseits an ihrem Partizipationsanspruch festhält und von der andererseits gefordert wird, stärker zum Gelingen formaler Bildungsprozesse und zur ganztägigen Betreuung von SchülerInnen beizutragen (vgl. Seckinger u. a. 2014, S. 231). Aufgrund dieser wechselhaften Strukturen im Arbeitsfeld reicht eine historische Betrachtung allein nicht aus, um Partizipation als Leitprinzip der KJA zu begründen. Auch auf theoretisch-konzeptioneller Ebene zeigt sich, dass Partizipation konstitutiv für die KJA ist, wenn diese sich am Ziel der Subjektbildung (vgl. Scherr 2013) orientiert. Denn nach der obengenannten bildungstheoretischen Begründungslinie besteht zwischen Partizipation und Subjektwerdung eine enge Verbindung:
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„Mit Hilfe von Partizipation im Alltag werden Kinder und Jugendliche beginnend bei kleinen Entscheidungen in die Situation gebracht, über ihren eigenen Willen zu reflektieren und damit ein Selbstbewusstsein zu entwickeln. Erfahren sie durch den partizipativ angelegten Alltag ihren eigenen Einfluss auf die Gestaltung dieses Alltags, erleben sie damit gelingende Selbstbestimmung.“ (Deinet u. a. 2017, S. 165).
Auch Sting und Sturzenhecker (2013, S. 385) betonen die Bedeutung von partizipativen Elementen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA), um überhaupt Bildungsprozesse auslösen zu können: „Wer Bildung in pädagogischen Einrichtungen wie der Offenen Kinder- und Jugendarbeit fördern will, muss Entscheidungsbeteiligung eröffnen, anders gesagt: Bildung muss um Partizipation ergänzt werden.“ Neben diesen an einer emanzipatorischen Subjektbildung ansetzenden Konzepten findet sich Partizipation als Leitprinzip auch in anderen Theorieentwürfen, beispielsweise in einer sozialraumorientierten KJA (vgl. Deinet/Krisch 2013). In der KJA lässt sich Partizipation jedoch nicht nur mit den Zielsetzungungen und der Geschichte des Praxisfeldes, sondern auch mit dessen strukturellen Rahmenbedingungen begründen. Weil die Angebote prinzipiell offen sind und die Teilnahme an ihnen freiwillig ist (vgl. Sturzenhecker/Deinet 2018, S. 695 f.), müssen sie anschlussfähig sein für die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen, um von diesen genutzt zu werden; oder wie Seckinger u. a. (2014, S. 229) es formulieren: „[U]m ein Mindestmaß an Partizipation kommt die Jugendarbeit nicht umhin.“ Wenn nun Partizipation als zentrales Element der Kinder- und Jugendarbeit historisch, theoretisch und strukturell verankert ist, dann stellt sich im nächsten Schritt die Frage, wie diese methodisch in der Praxis umgesetzt werden kann. Dabei kann sich die Umsetzung nicht auf einen Teilbereich beschränken, sondern umfasst, wie sich am Beispiel der OKJA zeigt, „den gesamten Alltag im Jugendzentrum, angefangen von den Beziehungen zwischen MitarbeiterInnen und BesucherInnen im Jugendzentrum bis hin zu den Entscheidungen über Inhalte, Ressourcen, Raumgestaltung u. a.“ (ebd., S. 229 f.). Dies lässt sich nach Zinser (2005, S. 158 f.) in drei Aufgabenbereichen konkretisieren: • Die Förderung der Partizipation innerhalb der Einrichtung bedeutet u. a., die Entwicklung eigener Vorstellungen bei den Kindern und Jugendlichen zu fördern, ihnen Räume zur Umsetzung dieser Möglichkeiten bereitzustellen und sie bei Entscheidungen zur Einrichtung miteinzubeziehen und institutionalisierte Partizipationsformen (z. B. Jugendhausrat) in der Einrichtung zu schaffen. Diese Einbeziehung meint dabei nicht die Auswahl zwischen vorgefertigten Angeboten, sondern bezieht sich gemäß dem
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Partizipationsmodell von Pluto (2007, S. 53) entsprechend auf Mitdenken, Mitreden, Mitplanen, Mitentscheiden, Mitgestalten und Mitverantworten des Angebots und damit auf den kompletten Prozess. Denn – wie Seckinger u. a. (2014, S. 239) betonen – es gibt „viele Beispiele dafür, dass Kinder und Jugendliche, z. B. bei einer Ferienfahrt oder der Renovierung eines Teils des Hauses, von der Entscheidung über die Planung bis hin zur Umsetzung beteiligt waren und infolgedessen ganz selbstverständlich auch die Verantwortung für das Gelingen übernehmen.“ Ein besonderes Spannungsfeld liegt Zinser (2005, S. 159) zufolge darin begründet, zwischen der Beteiligung regelmäßiger BesucherInnengruppen an der Gestaltung der Einrichtung und der Offenheit für neue Besucherinnen zu vermitteln. • Neben der einrichtungsbezogenen Beteiligung zielt die Unterstützung von Partizipation in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen darauf, diese zu einer Gestaltung der in ihrem Alltag vorhandenen Strukturen (z. B. Schule, Wohnumfeld) zu befähigen. Dies kann beispielsweise durch gemeinsame Begehungen des Stadtteils, durch das Vermitteln eines Kontakts zu kommunalen EntscheidungsträgerInnen oder durch die Unterstützung beim Versuch, auf kommunale Planungsprozesse einzuwirken, umgesetzt werden. Wichtig ist dabei, dass die Fachkräfte nicht (nur) anwaltschaftlich für die Kinder und Jugendlichen handeln, sondern dass diese sich mit ihren Interessen und Anliegen selbst vertreten können. Darauf hinzuwirken (Befähigung) ist ein wesentliches Merkmal gelungener sozialpädagogischer Praxis. • Aus einer sozialräumlichen Perspektive ist die aktive Mitgestaltung der kommunalen Partizipation zur Schaffung partizipationsförderlicher Strukturen ein Aspekt, der über die Begleitung von einzelnen Beteiligungsprozessen hinausgeht. Hier geht es vielmehr darum, gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen die Formen und Methoden kommunaler Beteiligung zu gestalten, auf deren Repräsentation in kommunalen Entscheidungsgremien hinzuwirken und Kinder und Jugendliche für politische Partizipationsprozesse zu qualifizieren und zu befähigen. In diesen Aufgabenbereichen lässt sich Partizipation methodisch unterschiedlich verwirklichen. Ohne damit sämtliche partizipativen Prozesse erfassen zu können, lassen sich methodisch drei ‚Idealtypen‘ formalisierter Beteiligung unterscheiden (vgl. Bruner u. a. 1999, S. 45 ff.; Zinser 2005, S. 160): • Parlamentarische bzw. repräsentative Beteiligungsformen, also Gremien mit gewählten oder delegierten VertreterInnen, wie beispielsweise Jugendgemeinderäte, Kinderparlamente oder Beiräte in Jugendhäusern. Die (gewählten)
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VertreterInnen (Kinder/Jugendliche) stellen eine Art Sprachrohr und Interessenvertretung aller Kinder und Jugendlichen in einem Stadtbezirk, Stadtteil, einer Gemeinde oder einer Einrichtung dar. Der Vorteil eines solchen Gremiums liegt in der Transparenz der Entscheidungsfindung und der hohen Verbindlichkeit der Absprachen. Andererseits verlangt die Teilnahme von den Jugendlichen eine längerfristige Bindung sowie ein ausgeprägtes Bewusstsein für ihre Funktion als Interessenvertretung. • Projektorientierte Beteiligungsformen, d. h. Projektgruppen, die sich mit einem konkreten Thema oder einem Planungsvorhaben beschäftigen. Meist handelt es sich dabei um eine Arbeitsgruppe oder ein Gremium, welches nur vorübergehend besteht und tätig wird (überschaubare Laufzeit). Hierzu werden oftmals neue Formen der Beteiligung und kreative Methoden ausprobiert. Das Thema einer solchen projektorientierten Beteiligungsform bezieht sich meistens auf ein aktuell zu lösendes Problem oder ein aktuelles Thema (z. B. NutzerInnenbeteiligung bei der Gestaltung neuer Freizeitflächen, Gestaltung des Jugendhauses, Zukunftskonferenzen). • Offene Beteiligungsformen wie Foren und Versammlungen, die für alle Kinder und Jugendlichen offen sind. Solche offenen Beteiligungsforen bieten freien Zugang für alle interessierten Kinder und Jugendlichen und die Möglichkeit spontaner Teilnahme (z. B. kommunale Kinder- und Jugendforen, Kinderversammlungen, Kindergipfel, offene Jugendhausversammlungen). Neben diesen formalisierten Beteiligungsformen ist auch die Alltagspartizipation in den Einrichtungen zentraler Bestandteil der OKJA. Sowohl formelle als auch informelle Partizipation haben dabei spezifische Vor- und Nachteile: „Informelle Formen haben den Vorteil, flexibel auf die Situation in den Einrichtungen angepasst werden zu können, sind aber in der Regel nicht so verbindlich und in ihrer Verlässlichkeit und Reichweite für Kinder und Jugendliche nicht gut zu kalkulieren. Institutionell verankerte Formen haben dagegen den Vorteil, durch festgelegte Rechte und Regelungen einen abgesteckten Partizipationsrahmen zu schaffen. Mit diesen Formen geht jedoch häufig die Hürde einher, dass der Einstieg für neue Kinder und Jugendliche nicht so leicht ist und oft bereits bestimmte Kompetenzen erwartet werden.“ (Seckinger u. a. 2014, S. 233).
Deswegen gilt es, sowohl informelle als auch formelle Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche bereitzustellen und die konkrete Ausgestaltung an deren konkrete Bedürfnisse und Lebenslagen anzupassen. Die theoretisch fundierte Forderung nach Partizipation sowie die Beschreibung entsprechender Methoden führt allerdings nicht zwingend dazu, dass Kinder und Jugendliche
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in der Praxis der KJA auch Partizipationserfahrungen machen und sich dabei als selbstwirksam erleben. Deshalb soll im nächsten Schritt danach gefragt werden, welche empirischen Erkenntnisse es zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen gibt und wie sich die Situation in der KJA darstellt.
5 Empirische Erkenntnisse zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen Hinsichtlich der empirischen Befunde zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen lassen sich mehrere thematische Perspektiven unterscheiden: Einige Studien fragen nach den grundsätzlichen Einstellungen, dem Stellenwert und dem Engagement von Kindern und Jugendlichen im Hinblick auf Partizipation, andere Studien erfassen die konzeptionelle Bedeutung von Partizipation in der Kinderund Jugendarbeit sowie die partizipativen Praxen in diesem Arbeitsfeld. Ein besonderer Fokus richtet sich dabei auf die förderlichen Faktoren bzw. Gründe für Partizipation in der Kinder- und Jugendarbeit. Eine weitere Forschungsrichtung befasst sich mit der subjektiven Bedeutung dieser partizipativen Erfahrungen für Kinder und Jugendliche.
5.1 Stellenwert und Bewertung von Partizipation In den regelmäßig durchgeführten bundesweiten Jugendsurveys (ShellJugendstudien, DJI-Jugendsurvey „Aufwachsen in Deutschland“ und Freiwilligensurvey) wird Partizipation sowohl im Hinblick auf politische als auch auf soziale bzw. zivilgesellschaftliche Partizipation operationalisiert (vgl. von Schwanenflügel 2015, S. 27). Dabei verzeichnet die aktuelle Shell-Studie wieder einen Anstieg der politisch interessierten oder sehr interessierten Jugendlichen (zwischen 15 und 24 Jahren) auf 46 % aller Befragten, nach dem dieser Wert in den Jahrzehnten zuvor von 57 % (1991) auf 34 % (2002) gefallen war (vgl. Schneekloth, 2015, S. 158). Politisches Engagement bezeichnen 32 % der Jugendlichen für sie persönlich als „wichtig“ und weitere 26 % als „mal so, mal so“ (vgl. ebd., S. 158). Außerdem konstatiert die Shell-Studie ein höheres politisches Interesse bei Männern, bei Jugendlichen mit höheren (anvisierten) Bildungsabschlüssen und bei Jugendlichen aus sozioökonomisch bessergestellten Familien. Ähnliche Unterschiede finden sich auch im DJI-Jugendsurvey (vgl. Gille u. a. 2016, S. 165) sowie in der Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Gaiser/de Rijke 2016, S. 60). Auch in Bezug auf freiwilliges Engagement
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zeigen sich soziale Differenzierungen: Jugendliche ohne Migrationshintergrund engagieren sich häufiger als Jugendliche mit Migrationshintergrund und SchülerInnen von Gymnasien und integrierten Gesamtschulen sind anteilig am häufigsten freiwillig engagiert (vgl. Kausmann u. a. 2017). Zusammengefasst zeichnen diese Studien ein eindeutiges Bild, wie von Schwanenflügel (2015, S. 32) betont: „Demnach sind sogenannte ‚benachteiligte‘ oder ‚bildungsferne‘ Jugendliche und solche mit Migrationshintergrund auch im zeitlichen Verlauf signifikant weniger politisch interessiert, aktiv, Mitglied oder engagiert in einer Organisation.“ Diese bundesweiten Untersuchungen zeigen damit einerseits auf, dass Partizipation an bestimmte soziale und ökonomische Voraussetzungen gebunden ist, die nicht allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen zukommen. Dies unterstreicht die Forderung von Meyer (2009) nach einer wohlfahrtsstaatlichen Ermöglichung von Partizipationschancen für alle Menschen in einer „sozialen Demokratie“. Andererseits sind diese Studien vor dem Hintergrund der dort vorgenommenen Setzungen auch kritisch zu betrachten. Denn „[f]ür die Frage der Beschreibung von Partizipation ist es entscheidend, welche Formen dafür überhaupt in den Blick genommen werden“ (Pluto 2018, S. 948) und „derartige Forschungsergebnisse und ihre Darstellung suggerieren, dass vollkommen klar sei, was Politik, was politisches Interesse oder Partizipation heißt, und dass dieses Verständnis über die letzten Jahrzehnte gleich geblieben sei“ (von Schwanenflügel 2018, S. 8). Diese Kritik zielt vorrangig auf ein einseitig institutionenbezogenes und formales Verständnis von Partizipation und sieht darin eine Reproduktion bestehender Denkmuster und eine Adressierung von Jugendlichen als latent problematisch (vgl. Walther 2011, S. 212). In theoretischer Gegenposition dazu schlägt Walther (2010, S. 129) vor, jegliches an die Öffentlichkeit gerichtetes oder öffentliches Handeln Jugendlicher als potenziell partizipatorisch zu betrachten, um für wandelnde Inhalte und Ausdrucksformen von Partizipation offen zu bleiben.
5.2 Partizipative Praxis in der (Offenen) Kinder- und Jugendarbeit In empirischen Untersuchungen zeigt sich die bereits rechtlich, historisch und theoretisch angelegte Bedeutung von Partizipation in der KJA auch auf konzeptioneller Ebene und bei den Angeboten. So ist einer Studie von Deinet u. a. (2017, S. 173) zufolge Partizipation bei 97,1 % der befragten Einrichtungen in der OKJA konzeptionell verankert. Deutlich heterogener stellt sich die
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Situation hinsichtlich der konkreten Partizipationsformen und -themen dar: Dieselbe Untersuchung zeigt nämlich auch, dass lediglich 16 % der Einrichtungen einen Hausrat oder ein ähnliches Gremium haben und 28 % regelmäßig BesucherInnenversammlungen durchführen. In einer weiteren Studie von Seckinger u. a. (2014) geben 53 % der Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit an, über Mitbestimmungsgremien zu verfügen. In München sind es nach Klöver und Strauss (2005) 72 % der Einrichtungen und Koss und Fehrlen (2003) kommen in einer ebenfalls bereits länger zurückliegenden Studie zu dem Ergebnis, dass es in Baden-Württemberg in etwa einem Drittel der Einrichtungen organisierte Formen der Mitbestimmung gibt. Dies zeigt sich spiegelbildlich auch aufseiten der AdressatInnen: Eine regionale Studie zur OKJA in Bielefeld verdeutlicht, dass lediglich 25 % der BesucherInnen von offenen Einrichtungen formale und institutionalisierte Mitbestimmungsrechte in Anspruch nehmen (vgl. Bröckling/Flösser/Schmidt 2011, S. 38). Auf der anderen Seite berichten pädagogische Mitarbeitende auch von einem hohen Desinteresse der BesucherInnen an solchen (institutionalisierten) Mitbestimmungsmöglichkeiten (Klöver/Straus 2005), S. 43). Deinet u. a. (2017, S. 177) zeigen allerdings auf, dass die Kinder und Jugendlichen unter der Ausübung von Mitbestimmungsrechten auch Gespräche mit Fachkräften und die Beteiligung an Interessensabfragen verstehen. Die hohe Zustimmung der BesucherInnen zu den Aussagen „Wir stimmen hier gemeinsam darüber ab, was wir als nächstes machen“ und „Im Jugendzentrum/in der Einrichtung können wir an Abstimmungen über bestimmte Dinge teilnehmen“ deuten die AutorInnen als Indiz dafür, dass „sich die Mehrzahl der Kinder- und Jugendlichen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit beteiligt fühlt.“ (ebd., S. 178). In einer Untersuchung in Baden-Württemberg zeigt sich etwa die Hälfte der befragten Kinder und Jugendlichen zufrieden mit ihren Mitbestimmungsmöglichkeiten (vgl. Meyer u. a. 2017, S. 79). Demnach kann vermutet werden, dass Partizipation, insbesondere in Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, hauptsächlich in nicht-institutionalisierter Form umgesetzt wird, vermutlich auch, weil dies den Interessen und Bedürfnissen junger Menschen eher entspricht als die an der Erwachsenenwelt orientierten Strukturen politischer Beteiligung. Parallel dazu übernimmt auch nur ein geringer Anteil der BesucherInnen von offenen Einrichtungen (im Unterschied zur verbandlichen Jugendarbeit) feste Funktionen und Aufgaben im Sinne einer ehrenamtlichen Mitarbeit (vgl. Schmidt 2011, S. 33, vgl. dazu ausführlich Seckinger u. a. 2014, S. 80 ff.). Tatsächlich zeigt eine Zusammenstellung von Schmidt (2011, S. 66), dass informelle Formen der Partizipation in der Praxis der OKJA überwiegen: „Die Partizipation
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der Besucher/innen der Kinder- und Jugendarbeit findet nach Angabe der Einrichtungen, Träger und ihnen selber in überwiegender Form nicht institutionalisiert und quasi nebenbei statt.“. In diesen Beteiligungsprozessen stehen häufig Fragen der Programmgestaltung, der Entwicklung und Durchführung von Angeboten, der Raumgestaltung und neuer Anschaffungen im Vordergrund, während andere Themen – wie beispielsweise die Einstellung neuer Mitarbeitenden, die Preispolitik im offenen Betrieb, die Öffnungszeiten und die Durchsetzung von Hausverboten – eher von den Fachkräften ohne Einbeziehung der Jugendlichen entschieden werden (vgl. Klöver/Straus 2005), S. 45; Deinet u. a. 2017, S. 169 f.; Seckinger u. a. 2014, S. 236). Auch beschränken sich die Partizipiationsmöglichkeiten aus Sicht der Einrichtungen in einzelnen Bereichen (v. a. neue Anschaffungen) tendenziell auf das Äußern von Wünschen und Kritik, während die Kinder und Jugendlichen an der Planung und der Durchführung seltener beteiligt sind (vgl. Seckinger u. a. 2014, S. 240). Mehr Mitbestimmung wünschen sich die BesucherInnen in der OKJA nach einer Studie von Meyer, Rahn und Daum (2017, S. 79) zufolge am häufigsten in den Bereichen „Essen/Kochen“, „Neue Anschaffungen“, „Raumgestaltung“ und bei der Planung von Angeboten und Events. Zusammengefasst lässt sich damit durchaus von einer partizipativen Praxis in der OKJA sprechen, allerdings mahnen Deinet u. a. (2017, S. 174) an: „Je aufwendiger die Themen ausgehandelt werden müssten (Anschaffungen, Regelgestaltung) umso weniger wird dies partizipativ entschieden.“ Interessant ist ferner, dass es ein Informationsdefizit in Bezug auf Mitwirkungsmöglichkeiten zu geben scheint (vgl. Pluto 2018, S. 958). So zeigt eine Studie, dass BesucherInnen von offenen Jugendeinrichtungen häufig keine Kenntnis darüber haben, wie sie in der genutzten Einrichtung mitbestimmen oder mitgestalten können (Klöver/Strauss 2005, S. 47). Je länger und je regelmäßiger sie jedoch diesen Jugendtreff bzw. dieses Jugendzentrum besuchen, desto eher haben sie auch Kenntnis darüber (vgl. Bröckling u. a. 2011, S. 38). Dies leitet über zu der Frage nach den Bedingungen und Faktoren, die eine partizipative Praxis in der OKJA fördern.
5.3 Förderliche Faktoren für die Partizipation in der (Offenen) Kinder- und Jugendarbeit Die Besuchsdauer ist für die Partizipationsmöglichkeiten in der OKJA in doppelter Weise relevant: Zum einen zeigen mehrere Studien einen positiven Zusammenhang zwischen dem Zeitraum seit dem ersten Besuch und der
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Inanspruchnahme informeller sowie formeller Mitbestimmungsmöglichkeiten (vgl. Bröckling/Flösser/Schmidt 2011, S. 38; Deinet u. a. 2017, S. 182). Zum anderen beteiligen sich regelmäßige BesucherInnen stärker in den Einrichtungen als gelegentliche BesucherInnen (vgl. Klöver/Straus 2005, S. 47). Dieser Zusammenhang könnte auf dem schrittweisen und informellen Aufbau sozialer Zugehörigkeit in den „sozialpädagogischen Arenen“ (Cloos u. a. 2009, S. 15) der Kinder- und Jugendarbeit beruhen und kann sich in der Folge wechselseitig verstärken, denn eine höhere Intensität der Mitbestimmung und Mitgestaltung kann wiederum dazu führen, dass sich die BesucherInnen stärker mit den Angeboten der Einrichtung identifizieren und diese häufiger aufsuchen (vgl. Landeshauptstadt München 1986, S. 123). Aufgrund der Bedeutung der Besuchsdauer überrascht es nicht, dass sich ältere Jugendliche häufiger in den Einrichtungen der OKJA beteiligen. Deinet u. a. (2017, S. 182) zeigen einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Alter der BesucherInnen und deren informeller Partizipation. Andere Studien belegen diesen Zusammenhang auch für formelle und institutionalisierte Beteiligungsformen und für das freiwillige Engagement der Kinder und Jugendlichen in den Einrichtungen (vgl. Bröckling/Flösser/Schmidt 2011, S. 38; Seckinger u. a. 2014, S. 234). Hier manifestiert sich das obengenannte Spannungsfeld zwischen der Beteiligung von StammbesucherInnen und der Offenheit für neue BesucherInnen, das es immer wieder abzuwägen gilt, um allen BesucherInnen gleichermaßen Aneignungs- und Beteiligungserfahrungen zu ermöglichen. Dies deutet bereits an, dass die hauptamtlichen MitarbeiterInnen für Partizipation von zentraler Bedeutung sind. In einer bundesweiten Erhebung werden alle dort abgefragten Beteiligungsformen von den Einrichtungen der OKJA häufiger genannt, wenn diese über hauptamtliches Personal verfügen (vgl. Seckinger u. a. 2014, S. 233). Einzige Ausnahme sind hier selbstgewählte Vertretetungen: selbstverwaltete Jugendhäuser, die sich an ältere Jugendliche ab 14 Jahren richten, verfügen am häufigsten über ein solches Gremium (vgl. ebd). Ähnliches zeigt sich auch in der Jugendverbandsarbeit, in der die Hauptamtlichen wichtige Strukturen für freiwilliges Engagement und Partizipation bereitstellen (vgl. Seckinger u. a. 2009). Dabei ist auch die Haltung der Fachkräfte ein entscheidender Faktor für gelingende Beteiligungsprozesse: Insbesondere der Aufbau vertrauensvoller Beziehung und eine kontinuierliche Begleitung der AdressatInnen fördern Partizipation (vgl. Maul/Lobmeier 2010, S. 306). Empirisch deutet sich dagegen eine in der Praxis dominante ‚abwartende‘ Haltung an, die auf die Partizipationskompetenzen der BesucherInnen vertraut und erst auf deren Eigeninitiative hin Beteiligungsmöglichkeiten bereitstellt (vgl. Bröckling/Schmidt 2012, S. 48).
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Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die unterschiedlichen Beteiligungsformen nicht als voneinander unabhängige Prozesse zu betrachten sind, sondern sich teilweise gegenseitig bedingen. So zeigen Deinet u. a. (2017, S. 181) sowie Bröckling und Schmidt (2012, S. 53) einen Zusammenhang zwischen der informellen und der formellen Partizipation der BesucherInnen. Deshalb ist es wichtig, unterschiedliche (Erst-)Zugänge zu Beteiligung in der KJA zu eröffnen. Dies wird abschließend anhand der subjektiven und biografischen Bedeutung von Partizipationserfahrungen unterstrichen.
5.4 Biografische und subjektive Bedeutung von Partizipation In den letzten Jahren wurde die Partizipationsforschung zunehmend um Studien ergänzt, die aus der (inter-)subjektiven Perspektive der handelnden Kinder und Jugendlichen danach fragen, welches Verständnis von Partizipation diese haben, inwieweit sie sich als beteiligte und gestaltende AkteurInnen in Handlungsprozessen erleben und welche subjektive Bedeutung diese Prozesse für sie besitzen (vgl. Aner 2005; Niebling 2005; Moser 2010; von Schwanenflügel 2015). Damit zusammenhängend wird kritisiert, dass in den oben genannten Jugendsurveys oftmals „scheinbar klar ist, aber nicht systematisch in Frage gestellt oder diskutiert wird, was Partizipation ist“ (von Schwanenflügel 2018, S. 9 f.) und dass der bisherige empirische Fokus eine „normativ und deskriptiv eindeutige Bedeutung von Partizipation“ (Walther 2010, S. 115) suggeriert. Aus den vielfältigen Ergebnissen dieser Studien werden nachfolgend zwei Aspekte zusammenfassend dargestellt, die in Bezug auf Partizipation in der KJA von besonderer Bedeutung sind: Erstens zeigen die Studien auf, dass Partizipation dann entsteht, wenn diese für die Kinder und Jugendlichen subjektiv Sinn macht. So schlussfolgert von Schwanenflügel (2015, S. 182) aus mehreren biografischen Fallrekonstruktionen, „wie wenig ihr Engagement [der Jugendlichen, Anm. SR/TM] zunächst mit der abstrakten Idee zu tun hat, als Mitglied eines Gremiums ein Gemeinwesen oder Jugendhaus mitgestalten zu wollen – also mit einem formalen Partizipationsverständnis. Ihr Mitgestaltungshandeln und ihre Partizipationspraxis entwickeln sich vielmehr aus der Interaktion von biografischen Themen und Anliegen und den ermöglichenden Rahmenbedingungen des Jugendhauses“. Kinder und Jugendliche kommen demnach mit spezifischen biografischen Anliegen in die Einrichtungen der KJA und über eine positive „Resonanz“ (Zeller 2012, S. 205) seitens der Institution auf diese Anliegen entwickelt sich eine partizipative
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Praxis. Analog dazu zeigt sich auch in der Studie von Moser (2010, S. 185), dass Kinder und Jugendliche dann zur Mitwirkung motiviert sind, wenn diese an ihren Bedürfnissen anknüpft und ihnen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung bietet. Des Weiteren soll Partizipation ‚Spaß‘ machen, wobei hier individuell und auch altersspezifisch unterschiedliche Bedürfnisse und Bedeutungen relevant sein können (vgl. ebd.). Daraus lässt sich für die KJA schlussfolgern, dass sie ihren kompletten Alltag partizipativ ausgestalten und statt vorgefertigter Angebote offene, verständigungsorientierte Strukturen anbieten sollte, in denen diese Angebote gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen entwickelt werden können (vgl. von Schwanenflügel 2018, S. 14). Zweitens wird in den Untersuchungen die biografische Bedeutung partizipativer Erfahrungen deutlich. Kinder und Jugendliche wachsen in Partizipationskontexte hinein, erfahren Anerkennung und erweitern sukzessive ihre Handlungsmöglichkeiten (vgl. von Schwanenflügel 2015, S. 183 ff.), sie erwerben konkrete Fähigkeiten, entwickeln soziale Kompetenzen und eine Identität in Partizipationsprozessen (Moser, 2010, S. 322) und sie bilden ein „stabiles und nachhaltiges zivilgesellschaftliches Handeln“ (Aner 2006, S. 60) aus, wenn sie in ihrer Sozialisation partizipative Erfahrungen machen. Diesen Entwicklungen sind nicht als „Quasi-Mechanismen“ zu verstehen und die jeweiligen Aneignungs- und Bildungsprozesse sind immer an individuelle Biografien gebunden, aber gleichzeitig werden die Potenziale einer partizipativen Praxis für die Kinder- und Jugendarbeit deutlich. In diesen empirischen Ergebnissen verbinden sich die demokratie- und bildungstheoretische Begründungen von Partizipation, was deren hohe biografische Relevanz verdeutlicht.
6 Zusammenfassung und Ausblick Wie der Beitrag deutlich machen sollte, erfüllt Partizipation in der sozialpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zwei wichtige Funktionen, die sowohl demokratie- als auch sozialisationstheoretisch von besonderer Bedeutung sind: Zum einen verhilft Partizipation jungen Menschen zu mehr Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten und damit auch zu mehr ‚Gewicht‘ in sozial- bzw. kommunalpolitischen Entscheidungsprozessen. Zum anderen stellen entsprechende Aktivitäten und Beteiligungsmöglichkeiten stets auch wichtige Lernfelder dar, in denen junge Menschen grundlegende Kompetenzen erwerben können, die für ein Leben in der modernen demokratischen Gesellschaft elementar sind. Pädagogisch qualifizierte Fachkräfte in der Kinder- und Jugendarbeit sollten dabei stets beide Funktionen im Blick haben: Sie müssen einerseits die Interessen junger Menschen b estmöglich
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nach ‚Außen‘ vertreten, entsprechende (meist kommunalpolitisch relevante) Missstände anprangern, sich für Beteiligungsmöglichkeiten einsetzen und – wenn nötig – als Sprachrohr der jungen Menschen fungieren. Gleichzeitig geht es immer aber auch um die Befähigung der jungen Menschen, sich für ihre Interessen selbst einzusetzen, sich mit anderen Menschen auszutauschen und zu arrangieren und die dafür benötigten Kompetenzen zu erwerben. Partizipation ist also gleichermaßen Aufgabe und Ausgangspunkt der pädagogischen Arbeit. Was das empirische Wissen zum Themenfeld Partizipation betrifft, so lässt sich mit Schmidt (2011, S. 67) konstatieren: „Obwohl Partizipation eine der Grundmaximen der Sozialen Arbeit ist, liegt abgesehen von verschiedenen quantitativ deskriptiven Erhebungen sehr wenig empirisches Wissen über die tatsächliche Partizipation innerhalb der Offenen Kinder- und Jugendarbeit vor.“ Deinet u. a. (2017, S. 176) kritisieren zudem den Fokus auf formal strukturierte Partizipationsangebote und den regionalen und ausschließlich deskriptiven Charakter vieler empirischer Untersuchungen. Auf dieses Defizit wurde in den letzten Jahren mit mehreren Untersuchungen reagiert (vgl. u. a. Seckinger u. a. 2014; von Schwanenflügel 2015; Deinet u. a. 2017), jedoch bestehen hier nach wie vor Forschungslücken, u. a. im Bereich der verbandlichen Jugendarbeit (vgl. Pluto 2018, S. 958) oder zur Partizipation von Kindern in offenen Einrichtungen. Gleichermaßen müssen die empirischen Untersuchungen rückgebunden werden an die fachliche und fachpolitische Debatte darüber, wie der rechtlich verbriefte und theoretisch begründete Partizipationsanspruch von Kindern und Jugendlichen inhaltlich auszudeuten ist. Denn letztlich bleibt es eine vorerst unüberwindbare Schwierigkeit, „dass keine formal, allgemein gültige Festlegung getroffen werden kann, was in welcher Situation Partizipation genau ist“ (Pluto 2018, S. 959). Dies impliziert für die Kinder und Jugendarbeit die andauernde Herausforderung, die eigenen Beteiligungsstrukturen und -praxen zu überprüfen und auch in dieser Überprüfung selbst partizipativ vorzugehen – also den Perspektiven der Kinder und Jugendlichen eine möglichst hohe Relevanz einzuräumen.
7 Übungsfragen a) Was verstehen Sie selbst unter Partizipation? Schreiben Sie eine kurze Definition (2–3 Sätze) und vergleichen Sie sie mit den Ausführungen in Abschn. 2.1 in diesem Beitrag. b) Wie würden Sie die Notwendigkeit von Partizipation (in der KJA) begründen? Welche eigenen Erfahrungen bzw. Beispiele aus der Praxis fallen Ihnen
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dazu ein? Verwenden Sie hierfür die drei Begründungslinien (demokratietheoretisch, dienstleistungstheoretisch, bildungstheoretisch)? c) Überlegen Sie sich Erfahrungen oder Beispiele aus der Praxis für die einzelnen „Stufen der Partizipation“ von Schröder (1995). Welche Stufen sind Ihrer Ansicht nach in der Praxis häufig zu beobachten? d) Sie haben in dem Artikel unterschiedliche Forschungsrichtungen zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen kennengelernt. Welche Vor- und Nachteile haben diese Perspektiven jeweils? Was kann mit der jeweiligen Perspektive erforscht werden, was nicht?
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Inklusion als Herausforderung und Chance für die Kinder und Jugendarbeit Thomas Meyer
Zusammenfassung
Inklusion wurde in den letzten Jahren mehr und mehr zu einem wichtigen Schlüsselbegriff in der Kinder- und Jugendarbeit, insbesondere wenn es um die Frage einer einrichtungs- oder trägerspezifischen (Neu-) Ausrichtung bzw. strategischen (Neu-) Orientierung oder eines (anstehenden) Konzeptionsentwicklungsprozesses geht. Dies verdeutlichen u. a. die zahlreichen Fachtage, Veranstaltungen und Projekte zu diesem Thema. Auf der anderen Seite verwundert es, dass sich vergleichsweise wenig Literatur und eine überschaubare Anzahl an empirischen Studien zum Themenfeld „Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit“ finden lassen. Diese wenigen Studien zeigen jedoch viele Gemeinsamkeiten auf: Demnach wird Inklusion in der Kinderund Jugendarbeit vielfach im Rahmen von Freizeitenarbeit, in speziellen „Nischenangeboten“ oder in Form von temporären bzw. einmaligen Projekten umgesetzt. Auch verfügen die Akteure, die in diesen Studien befragt wurden, selten über ein spezifisches Konzept und Inklusion wird sozusagen „nebenher gemacht“. Des Weiteren fehlt es nicht selten an einer fundierten Auseinandersetzung darüber, was unter Inklusion zu verstehen ist. Dieser Beitrag gibt daher zunächst einen Überblick über verschiedene Facetten des Inklusionsbegriffs, um auf dieser Basis ein Fundament zu schaffen, wie Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit gedacht und umgesetzt werden sollte. Daran anschließend werden Ergebnisse aus empirischen Untersuchungen zum Stellenwert von Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit vorgestellt. T. Meyer (*) Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_13
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Den Abschluss bilden Überlegungen dazu, welche Chancen Inklusion als Gestaltungsprinzip in Konzeptions- oder Organisationsentwicklungsprozessen bietet.
1 Einleitung: „Inklusion – müssen wir das jetzt auch noch machen?“ Das Thema „Inklusion“ gehört bereits seit einigen Jahren zu den „hippen“ Themen, wenn es um Fragen der strategischen (Neu-)Ausrichtung und konzeptioneller Weiterentwicklung in verschiedenen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit geht. Etliche Fachtage wurden in den letzten Jahren dazu organisiert, viele Modellvorhaben initiiert und einige Träger der Kinder- und Jugendarbeit beschäftigen sich bereits seit geraumer Zeit mit der sogenannten „inklusiven Öffnung“ ihrer Angebote und Einrichtungen. Daneben findet sich eine stattliche Anzahl an geförderten Projekten zu diesem Thema, meist im Rahmen einer Förderung durch Ministerien, Landesverbände oder Stiftungen wie beispielsweise Aktion Mensch. Bundesweit lässt sich darüber hinaus eine Fülle an Handreichungen finden, die allesamt das Ziel haben, die Idee der Inklusion in Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit zu etablieren. Diesem Hype steht eine teilweise begeisterte, teilweise aber auch skeptische Grundhaltung vonseiten der Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendarbeit gegenüber. Sätze wie: „müssen wir das jetzt auch noch machen“ oder: „wir sind doch eh’ schon inklusiv“ gehören zu den Standardfloskeln, wenn es um die Frage der bisherigen Umsetzung inklusiver Konzepte und Gestaltungsvorhaben geht. Empirische Untersuchungen zeigen zudem, dass sowohl Stellenwert als auch Verständnis von Inklusion in der Praxis unterschiedlich ausgeprägt sind (vgl. Voigts 2013) und sich viele Angebote für junge Menschen mit Behinderungen in der Kinder- und Jugendarbeit finden lassen, die alles andere als „inklusiv“ sind (vgl. Seckinger 2014; Roß u. a. 2016; Meyer 2016, S. 92 ff. sowie 109 ff.). Grundanliegen dieses Beitrags ist es daher, zunächst die Basis für ein fundiertes Verständnis von Inklusion zu schaffen, indem sowohl der Begriff als auch die relevanten theoretischen Diskurse ausführlich erläutert werden (Abschn. 2). Im Rahmen einer Begriffsklärung ist es dabei besonders wichtig, die Verwendung des Begriffs „Inklusion“ aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, um so die wesentlichen Gemeinsamkeiten herausarbeiten zu können. In Abschn. 3 wird dann der aktuelle Forschungsstand zur Umsetzung von Inklusion in der Kinderund Jugendarbeit vorgestellt und diskutiert. Abschn. 4 bündelt die bisherigen Darstellungen in zwei verschiedenen Handlungsmodellen, sodass abschließend auf
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Möglichkeiten und Grenzen inklusiver Organisationsentwicklung eingegangen werden kann. Anzumerken ist noch, dass sich die nachfolgenden Darstellungen und Beispiele häufig an einem ‚engeren‘ Inklusionsverständnis orientieren, d. h. an der Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. Dies liegt vor allem daran, dass der Begriff Inklusion aktuell vor allem im Kontext des Merkmals „Behinderung“ diskutiert wird, nicht zuletzt aufgrund der Forderungen der sogenannten UN-Behindertenrechtskonvention sowie der Entwicklungen im bundesdeutschen Bildungswesen (z. B. Inklusion in der Schule) und in der Eingliederungshilfe (z. B. Einführung des neuen Bundesteilhabegesetztes). Die Darstellungen sind jedoch immer auch auf andere Personengruppen übertragbar und beziehen sich häufig auf ein umfassenderes Verständnis von Inklusion. Inklusion in einem solchen weiten Verständnis umfasst dabei alle Dimensionen sozialer Benachteiligung und fragt nach den Verbesserungsmöglichkeiten sozialer Teilhabe im Hinblick auf sämtliche Prozesse von Ausgrenzung und Diskriminierung. Die abschließend in Abschn. 4 behandelten Überlegungen zur inklusiven Organisationsentwicklung können daher als Umsetzungshilfe für Inklusion in einem umfassenden Sinne verstanden werden.
2 Paradigmenwechsel Inklusion: Ausgangslage, theoretische Grundlagen und verschiedene Perspektiven auf den Begriff Inklusion „Jeder hat seine oder ihre eigene Vorstellung davon, was Inklusion bedeutet.“ (Booth u. a. 2006, S. 12)
Der Begriff Inklusion wird häufig als Schlüsselbegriff in der Debatte über einen Paradigmenwechsel im Umgang mit gesellschaftlich benachteiligten, ausgegrenzten oder randständigen Personengruppen benutzt. Inwiefern es sich dabei um einen ‚wirklichen‘ Paradigmenwechsel oder eher um einen Perspektivenwechsel handelt, ist jedoch vielfach noch nicht geklärt. Mit dem Begriff Inklusion sind zudem „typische“ Assoziationen und unzählige programmatische Leitsätze verbunden, beispielsweise: „Inklusion heißt dazugehören“, „Es ist normal verschieden zu sein“, „Akzeptanz von Vielfalt“, oder, „Ausgrenzung von Anfang an vermeiden“ (kritisch dazu Kastl 2016, S. 244). BefürworterInnen des Inklusionsgedankens sehen in dem Konzept ein Patentrezept oder sogar „Allheilmittel“ zur Vermeidung von Ausgrenzung und sozialer Benachteiligung. Kritische Stimmen
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werfen den BefürworterInnen hingegen „Realitätsverkennung“ vor (beispielsweise Kastl 2010, S. 178; ebenso: Kastl 2016, S: 246 f.). Die Diskurse sind vielfältig und kontrovers. Aus diesem Grunde ist es wichtig, sowohl die Begrifflichkeit als auch die Verwendung des Begriffs in unterschiedlichen Kontexten zu beleuchten. Hierbei bieten sich vor allem drei verschieden Perspektiven an, in denen der Begriff besonders häufig verwendet wird. Im nachfolgenden Kapitel wird daher der Inklusionsbegriff in (menschen-) rechtsorientierter, sozialwissenschaftlicher und (inklusions-) pädagogischer Perspektive diskutiert. Im Kern bezieht sich die (menschen-)rechtsorientierte Perspektive dabei auf normativ-ethische Forderungen, wohingegen sich die sozialwissenschaftliche Perspektive stärker mit gesellschaftstheoretischen und sozialpolitisch motivierten Fragestellungen beschäftigt. Da der Begriff Inklusion aber immer auch eine „praktische“ Umsetzungskomponente beinhaltet, runden pädagogische und sozialpsychologische Überlegungen die begriffliche Auseinandersetzung ab. Ziel dieser multiperspektivischen Betrachtung ist es, die Gemeinsamkeiten dieser drei Perspektiven herauszuarbeiten, um dadurch zu einem fundierten Verständnis von Inklusion zu kommen. Zuletzt soll dann auch deutlich werden, dass Inklusion bereits in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ansetzen muss.
2.1 Inklusion aus (menschen-)rechtsorientierter Perspektive: Die UN-Behindertenrechtskonvention Beschäftigt man sich mit dem Begriff Inklusion stößt man unumgänglich auf das von den Vereinten Nationen im Jahr 2006 verabschiedete „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (im englischen „Convention on the Rights of Persons with Disabilities“, vgl. United Nations 2006). Die Kernforderungen der sogenannten „UN-Behindertenrechtskonvention“ (im Folgenden: UN-BRK) sollen daher in Grundzügen und in ihrer Relevanz für die Kinder- und Jugendarbeit dargestellt und diskutiert werden. In diesem Zusammenhang soll auch deutlich werden, dass sich diese Forderungen an alle gesellschaftlichen Teilsysteme, Institutionen und Organisationen richten und nicht (nur) an die Handlungsfelder der Behindertenhilfe. Im Gegenteil: Die in der UN-BRK formulierten Richtlinien haben gesamtgesellschaftliches Gewicht. Aus diesem Grunde haben die Forderungen der UN-BRK auch unmittelbare Gültigkeit für die Kinder- und Jugendarbeit, was sich besonders in den Artikeln 7, 8, 19, 24 und 30 (siehe unten) zeigt. Im Zuge der Erarbeitung der UN-BRK im Jahr 2006 wurden wichtige Forderungen zur Verbesserung der Rechte von Menschen mit Behinderung sowie
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ihrer Lebenssituation erstmals umfassend ausformuliert. Zentrale Leitbegriffe dieser Konvention sind Barrierefreiheit, Chancengleichheit, Selbstbestimmung, Partizipation und eben auch Inklusion (vgl. Baumann 2010). Die Besonderheit der UN-BRK zeigt sich vor allem darin, dass sie eine Lücke in der Tradition der bisher verfassten Menschenrechtskonventionen schließt: So wurden in den vergangenen 60 Jahren Menschen mit Behinderung im internationalen Menschenrechtsdiskurs im Grunde kaum beachtet. In der Anti-Diskriminierungsklausel der ersten Menschenrechtserklärung fehlt beispielsweise der ausdrückliche Hinweis auf Menschen mit Behinderung, wohingegen Alter, Geschlecht und ethnische Herkunft explizit erwähnt werden (vgl. Schulze 2011, S. 12). Auslöser zur Ausformulierung einer internationalen UN-Behindertenrechtskonvention war schließlich der Vorstoß einzelner Länder (v. a. Mexiko und Neuseeland), sodass im Jahr 2006 das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Im Jahr 2009 wurde die Konvention schließlich auch in Deutschland ratifiziert und gilt als wichtige Leitlinie in der bundesdeutschen Politik für Menschen mit Behinderung (vgl. Schulze 2011; Baumann 2010; vergleiche hierzu ebenso BMAS 2011). Eine genauere Betrachtung ausgewählter Artikel der UN-Behinderten rechtskonvention soll nun verdeutlichen, dass es um weitaus mehr geht als nur um Menschenrechte. So findet sich beispielsweise bereits am Anfang der UNBRK in Artikel 4 eine wichtige, allgemeine Verpflichtung (vgl. Vereinte Nationen 2008, Artikel 4): „Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. (…)“
Neben der Sicherung von Menschenrechten werden in diesem Artikel explizit auch „Grundfreiheiten“ und „Diskriminierungsfreiheit“ erwähnt. „Grundfreiheiten“ können hier als Möglichkeit des Zugangs zu gesellschaftlich relevanten Lebensbereichen, und damit als Forderung zur Verbesserung von Inklusion (Einbezug, Zugänglichkeit) verstanden werden. Der Begriff Diskriminierungsfreiheit verweist hingegen auf sowohl das Zugeständnis von Rechten und Teilhabemöglichkeiten, beinhaltet aber auch soziale Lernprozesse. Insofern zeigen sich bereits in diesem Artikel zwei zentrale Perspektiven, die die rein strukturell verankerte Sicherung von Menschenrechten entscheidend ergänzen:
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• Die Forderung nach Verwirklichung von Grundfreiheiten (Zugang) zieht sich durch die gesamte Konvention, etwa im Bildungswesen (Artikel 24), auf dem Arbeitsmarkt (Artikel 27) sowie im Hinblick auf gemeindeintegriertes Wohnens (Artikel 19) und das Recht auf Teilhabe in den Bereichen Sport, Kultur, Erholung und Freizeit (Artikel 30). • Neben diesen Forderungen lassen sich aber auch Hinweise in der Konvention finden, die eher sozialpsychologisches Gewicht haben. Gemeint sind hier ein Abbau von Diskriminierung sowie die Akzeptanz von Menschen mit Behinderung als Teil der Gesellschaft. So fordert beispielsweise Artikel 8 explizit verstärkte Bemühungen zur Bewusstseinsbildung für die Belange von Menschen mit Behinderung und damit eine Sensibilisierung der Bevölkerung. Wie wichtig diese „Doppelperspektive“ der Konvention, d. h. die Forderung nach „Grundfreiheiten“ und „Bewusstseinsbildung“, für die Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderung ist, zeigt sich auch, wenn man den Behinderungsbegriff der UN-BRK genau betrachtet. Behinderung wird hierbei in „Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren“ (Vereinte Nationen 2008, Artikel 1) betrachtet. Barrieren sind wiederum im Verständnis der UN-BRK „einstellungs- und umweltbedingte Barrieren“ (vgl. Vereinte Nationen 2008, Präambel). Behinderung manifestiert sich demnach sowohl in Wechselwirkung mit umweltbedingten (Zugangs-) Barrieren als auch in Wechselwirkung mit (negativen) Einstellungen gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen. Insgesamt beinhaltet die UN-BRK also gleichermaßen die Verpflichtung zum Abbau von Barrieren und strukturell bedingten Ausgrenzungsmomenten als auch die Forderung nach einem gesellschaftlichen Umdenken und sozialen Lernen in der Bevölkerung. Ein Blick in weitere Artikel der UN-BRK bekräftigt diese Perspektive. So werden in Artikel 3 (Allgemeine Grundsätze) einige wichtige Forderungen und Begrifflichkeiten genannt, die genauer analysiert werden sollten. Die Formulierungen bei den Buchstaben a. („Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit“), e. („Chancengleichheit“), g. („die Gleichberechtigung von Mann und Frau“) und h. („die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität“) verweisen nochmals auf zentrale Menschenrechte, während die Buchstaben c. („die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“) und f. („Zugänglichkeit“) wichtige Forderungen zum Abbau von (strukturellen)
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Barrieren und zu einem umfassenden Einbezug beinhalten. Unter den Buchstaben b. („Nichtdiskriminierung“) und d. („Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit“) finden sich dann Hinweise auf Bewusstseinsbildung, Sensibilisierung und soziale Lernprozesse als wichtige Voraussetzungen zur Vermeidung von Diskriminierung. Insgesamt zeigt sich also, dass in der UN-BRK neben der Orientierung an Menschenrechten auch deutliche Forderungen zur Notwendigkeit eines umfassenden Abbaus von Zugangsbarrieren und einer Bewusstseinsbildung formuliert werden. Wichtig ist ferner, dass in Satz c. zwei Begrifflichkeiten benutzt werden, die scheinbar das gleiche meinen: „die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft“ sowie die „Einbeziehung in die Gesellschaft“. Im englischen Originaltext lauten diese Begriffe „participation“ und „inclusion“ (“Full and effective participation and inclusion in society”, vgl. United Nations 2006). Demnach werden also bewusst zwei Begrifflichkeiten verwendet, die jeweils eine eigenständige Bedeutung zu haben scheinen. Der Begriff „Inklusion“ kann von dem lateinischen Begriff „inclusio“ (als Verb: „includere“) abgeleitet werden und bedeutet übersetzt „Einschließung“ oder „Einbeziehung“. Inklusion meint im Zusammenhang der UN-BRK also die strukturelle Einbeziehung, d. h. ein Abbau von Zugangsbarrieren und die Möglichkeit, in zentrale gesellschaftliche Teilsysteme (etwa das Bildungssystem, der allgemeine Arbeitsmarkt, das soziale und kulturelle Leben, Freizeitmöglichkeiten usw.) einbezogen zu werden. Teilhabe, im Englischen „participation“, hat hingegen eine etwas andere Bedeutung, sonst wäre es in der UN-BRK nicht extra erwähnt worden. Für die besondere Bedeutung des Begriffs „Teilhabe“ bzw. Partizipation in der UN-BRK spricht zudem, dass der Begriff fast dreimal so häufig vorkommt wie der Begriff Inklusion (vgl. Kastl 2016, S. 274). Der Begriff „Partizipation“ setzt sich im Lateinischen aus zwei Wörtern zusammen, nämlich aus „partis“ und „capere“. Sinngemäß übersetzt bedeutet dies: „Teil nehmen“, einen „Teil ergreifen“ oder auch einen Teil (z. B. Entscheidungsbefugnisse, begehrte Güter) zugesprochen bekommen. Im Kontext der UN-BRK geht es bei „Partizipation“ also um die Beteiligung von Menschen mit Behinderung an gesellschaftlich relevanten Entscheidungen, Prozessen und Ressourcen. Dies können insbesondere Mitsprachemöglichkeiten oder Entscheidungsmöglichkeiten in Gruppen, Gemeinschaften oder Gesellschaften sein. Die Konvention fordert also im Kern sowohl einen konsequenten Einbezug (Inklusion) als auch eine Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe (Partizipation) von Menschen mit Behinderung in allen relevanten Lebensbereichen. Diese gesamtgesellschaftliche Relevanz, die weit über die Forderungen nach einer Verbesserung der Versorgung von Menschen mit
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Behinderung in den jeweils etablierten Strukturen der Behindertenhilfe hinausgehen, spiegelt sich dabei immer wieder in diesen beiden Begriffen Inklusion und Partizipation wider, was als eigentliches Innovationspotenzial dieser Konvention gesehen wird (vgl. beispielsweise Lindmeier 2009; Flieger/Schönwiese 2011). Die Forderung nach Inklusion, d. h. nach einem konsequenten „Einbezug“ von Menschen mit Behinderung in soziale Systeme, alltägliche Bezüge und relevante Lebensbereiche, sowie die damit einhergehende Forderung nach Partizipation (Teilhabe) betrifft somit gleichermaßen alle gesellschaftlichen Akteure. Gesamtgesellschaftlich soll gesichert werden, dass Menschen mit Behinderung ihr Leben selbstbestimmt, barrierefrei und mit der jeweils benötigten Unterstützung verwirklichen können (vgl. Schulze 2011, S. 15; vgl. ebenso auch BMAS 2009 und Aichele 2010). In diesem Verständnis muss die Forderungen nach Inklusion als behinderungs-, bildungs- und sozialpolitische Aufgabe verstanden werden (vgl. Markowetz 2010, S. 19; Meyer 2013). Die Analysen zeigen also, dass es der UN-BRK, neben der Sicherung von Menschenrechten für Menschen mit Behinderung, um viel weitreichendere Veränderungen geht, die nur in ihrer Mehrdimensionalität und Wechselwirkung verstanden werden können. Demnach lassen sich diese „zusätzlichen“ Forderungen im Hinblick auf drei Kernbereiche abstrahieren: • Einbezug bzw. Inklusion in gesellschaftlich relevante Lebensbereiche/Teilsysteme, • Teilhabe- bzw. Partizipationsmöglichkeiten, d. h. die Beteiligung an relevanten Entscheidungen, Prozessen und Ressourcen. • Gesellschaftliche Lernprozesse, Bewusstseinsbildung, Sensibilisierung, Akzeptanz und Umgang mit Vielfalt. Damit geht die UN-BRK weit über eine „bloße“ Ansammlung ausformulierter Rechte hinaus, indem im Grunde immer drei Dimensionen in den Blick zu nehmen sind: Die erste Dimension – Einbezug bzw. Inklusion – beinhaltet indirekt auch eine Kritik an und eine Forderung nach einem Abbau von Sonderwegen und „Sondersystemen“. Damit wird der Blick gleichsam auf die zweite Dimension geöffnet, denn daraus resultierend bzw. damit in Zusammenhang stehend müssen Wege gefunden und ggf. Unterstützungsmöglichkeiten angeboten werden, die es Menschen mit Behinderung ermöglichen, in gesellschaftlich relevanten Bereichen schließlich auch partizipieren bzw. teilhaben zu können. Ergänzend – und das verweist auf die dritte Dimension – müssen entsprechende Aktivitäten und Anstrengungen unternommen werden, die Bevölkerung für die Belange von Menschen mit Behinderung, für die Vielfalt an Beeinträchtigungen
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sowie für die damit in Verbindung stehenden Barrieren und Unterstützungsbedarfe zu sensibilisieren. Obwohl der Begriff Inklusion sowohl in der deutschen Übersetzung (übersetzt als Einbeziehung) als auch in der englischen Fassung (inclusion) gar nicht so oft auftritt (vgl. Kastl 2016, S. 213 f.) ist Inklusion im Grunde genommen – wie sich noch zeigen wird – stets die Voraussetzung für die beiden anderen Dimensionen Teilhabe und Bewusstseinsbildung und steht daher in logischer Konsequenz am Anfang dieser Verkettung: Einbezug begünstigt soziale Teilhabe und ermöglicht soziale Lernprozesse; „Besonderung“ hingegen schränkt Beteiligungsmöglichkeiten ein und erschwert Begegnungen. Aufgrund der Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention rückte schließlich die Inklusionsdebatte auch zunehmend stärker in den Blickpunkt der Jugendhilfe (vgl. Voigt 2013, S. 212). Diese Forderungen eröffnen neben Herausforderungen aber durchaus auch Chancen für die Kinder- und Jugendarbeit (vgl. Meyer 2016, S. 6 f.): • Herausforderungen ergeben sich vor allem aus den Artikeln 7, 19, 24 und 30. Gefordert sind eine Beteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung, die Inklusion im allgemeinen Bildungssektor, die Möglichkeit zur Nutzung aller gemeindenahen Angebote und Dienstleistungen, die sonst auch allen nichtbehinderten Menschen offenstehen, sowie die Teilhabe an Kultur-, Erholungs-, Sport- und Freizeitangeboten im Sozialraum. Dies bedeutet dann auch, dass sich Träger der Kinder- und Jugendarbeit (z. B. Vereine, Verbände, Offene Jugendarbeit, Institutionen der kulturellen Bildung) bei der Umsetzung von Inklusion engagieren und beteiligen müssen. • Chancen bieten sich hingegen vor allem aufgrund von Artikel 8, der eine Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung fordert. Die Akzeptanz von Vielfalt sowie die Förderung einer „Inklusionsbereitschaft“ in der Bevölkerung sollten der Sache nach bereits im Kindes- und Jugendalter erfolgen. Hierbei kann sich die Kinder- und Jugendarbeit als Akteur positionieren und einen Bildungsauftrag wahrnehmen, indem sie dazu beiträgt, junge Menschen (und ggf. auch Erwachsene) für die Belange von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen zu sensibilisieren und somit den Aufbau einer Kultur der Toleranz und gegenseitiger Unterstützung fördert. Die Forderungen der UN-BRK beziehen sich der Sache nach auf Menschen mit Behinderung, was sich aufgrund der historisch bedingten Marginalisierungsund Besonderungserfahrungen dieser Personengruppe erklären lässt. Rohrmann (2014) spricht hierbei sogar von „Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat“ (ebd., S. 244). Unabhängig davon geht es bei dem Terminus Inklusion aber in
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erster Linie darum, Teilhabe-, Entwicklungs- und Verwirklichungschancen von Menschen zu sichern, die aufgrund von „behindernden“ Strukturen von unterschiedlichsten Exklusionsmechanismen betroffen sind. Aus diesem Grunde ist die UN-BRK auch wegweisend für eine generalisierte Betrachtung von Inklusion.
2.2 Inklusion in sozialwissenschaftlicher Perspektive: Inklusion und Exklusion als binärer Code Inklusion als Begrifflichkeit spielt ebenso wie der entgegengesetzte Begriff Exklusion vor allem in der soziologischen Systemtheorie eine zentrale Rolle. Inklusion bezeichnet hierbei einen Zustand „struktureller und systematischer Einschließung“ (Kastl 2010, S. 178; Hervorhebung im Original), d. h. den Einschluss einzelner Personen in relevante gesellschaftliche Funktionssysteme (z. B. Bildung, Arbeit, kulturelles Leben, Freizeit, Sport usw.) bzw. „in bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge (Systeme, Teilsysteme, Organisationen, Gruppen, Institutionen)“ (Kastl 2016, S. 228). Exklusion als diametral entgegengesetzter Begriff bezieht sich dann auf Phänomene des Ausschlusses aus eben jenen Systemen bzw. Zusammenhängen. In dieser Konsequenz können Inklusion und Exklusion nur als binärer Code, als sich gegenseitig ausschließende Alternativen, verstanden werden, man kann also nicht teilweise inkludiert sein. Wichtig ist nun, dass der Begriff Inklusion in der Systemtheorie zunächst wertneutral interpretiert werden muss. So können Menschen in verschiedensten Kontexten inkludiert oder auch exkludiert sein. Entscheidend sind die Vorteile, die eine Inklusion mit sich bringen kann, denn soziologisch interpretiert, geht der Einschluss (Inklusion) in entsprechende Kontexte stets auch mit spezifischen Rechten, Rollenangeboten sowie dem Zugang zu Ressourcen und dem „Eintritt“ in bestimmte „soziale Kreise“ einher (vgl. Kastl 2010, S. 178 f.; Kastl 2016, S. 214 ff. sowie 228 ff.). Insofern verweist auch das soziologische Verständnis von Inklusion auf die Möglichkeiten von Partizipation bzw. Teilhabe, verstanden als Zugangsmöglichkeit zu gesellschaftlich relevanten Teilhabemöglichkeiten und Ressourcen. Inklusion ist damit in der Soziologie vor allem ein Prinzip des Zugangs zu relevanten Rechten, Rollen und Ressourcen. Insgesamt entspricht die bereits in Abschn. 2.1 dargestellte begriffliche Differenzierung zwischen Inklusion und Partizipation/Teilhabe auch der Argumentation von Kastl (2016, S. 211 ff. sowie 235 ff.), der in seinem aktuellen Lehrbuch „Einführung in die Soziologie der Behinderung“ zwischen Inklusion, Integration und Teilhabe unterscheidet (vgl. ebd., S. 233 ff.). Inklusion ist die strukturelle Einbeziehung in gesellschaftlich relevante (Teil-)Systeme, was
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der Kernforderung nach Einbeziehung (inclusion) in der UN-BRK gleichkommt. Unter „Teilhabe“ versteht Kastl hingegen die Möglichkeit, gesellschaftlich begehrte Güter erschließen zu können, etwa ökonomisches Kapital, die Beteiligung an Entscheidungsprozessen, soziale Beziehungen oder Bildungsmöglichkeiten (vgl. Kastl 2016, S. 236). Diese begriffliche Deutung entspricht ebenfalls der Verwendung des Begriffs „Teilhabe“ (participation) in der UN-BRK. Ergänzend zu den Begrifflichkeiten Inklusion und Teilhabe wird dann noch „Integration“ einer soziologischen Klärung unterzogen. Der Begriff Integration bezieht sich hierbei auf soziale Prozesse der Beziehungsaufnahme und Beziehungsgestaltung, oder – soziologisch interpretiert – auf die soziale Kohäsion einer Gruppe bzw. Gemeinschaft und die Bindungen im jeweiligen sozialen Umfeld (vgl. Kastl 2016, S. 233 ff.; Kastl 2010, S. 179 f.). Auch hier lässt sich eine Entsprechung in der UN-BRK finden, denn der Begriff Integration lässt sich gut mit der Forderung nach Bewusstseinsbildung, Sensibilisierung, sozialen Lernprozesse und der Förderung von Akzeptanz in Verbindung bringen. Wichtig ist jedoch, dass alle drei Begriffe – Inklusion, Teilhabe und Integration – untrennbar miteinander verwoben sind. Zur Ermöglichung von Teilhabemöglichkeiten ist beispielsweise Inklusion häufig essentiell, denn nur der Einbezug in entsprechende Systeme eröffnet auch die Möglichkeit, entsprechende Rechte zu haben oder Güter erschließen zu können. Das Wahlrecht etwa macht es erst möglich, politische Macht auszuüben. Ebenso bringt es das Durchlaufen einer bestimmten Schule mit sich, entsprechende Abschlüsse machen zu können, eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eröffnet die Möglichkeit, einen angemessenen Lohn zu erhalten, usw. Aufgrund dieser Wechselbeziehung zwischen Inklusion und Teilhabe ergeben sich der Sache nach negative Konsequenzen aus einem Ausschluss von Menschen aus relevanten gesellschaftlichen Systemen. Auch der Begriff der Integration ist untrennbar mit Inklusion (und damit auch mit Teilhabe) verbunden. Inklusion ist dabei häufig die Voraussetzung für gelingende Integrationsprozesse. So verweist Kastl beispielsweise in Anlehnung an die sogenannte „Salamanca-Erklärung“ der UNESCO zur Verbesserung der Lebenssituation von SchülerInnen mit Behinderung darauf, dass soziale Integration am besten in inklusiven Schulen gelingt (vgl. Kastl 2016, S. 212). Demnach ist – ähnlich wie bei dem Zusammenhang zwischen Inklusion und Teilhabe – auch im Falle von sozialer Integration die (vorherige) Inklusion Grundvoraussetzung: „wer in etwas integriert werden will, muss zunächst einmal einbezogen sein“ (ebd.). Soziale Integration gelingt demnach am ehesten, wenn durch inklusive Öffnungsprozesse auch konkrete Begegnungen und Interaktionen ermöglicht werden.
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Im besten Fall müssen jedoch Veränderungen auf allen drei Ebenen angestoßen werden, nur so gelingt eine Verbesserung der Lebenssituation benachteiligter Personengruppen. An zwei Beispielen sei dies verdeutlicht: So kann jemand im Sinne des Inklusionsparadigmas einbezogen sein, d. h. aber noch lange nicht, dass er/sie auch in der betreffenden Gruppe (sozial) integriert ist. Eine fehlende Integration bedeutet beispielsweise, dass Menschen „nebeneinanderher leben“ und keine sozialen Beziehungen zueinander unterhalten, was wiederum zeigt, dass Inklusion nicht unbedingt mit Integration einhergehen muss. Andersherum kann ein Mensch gut in eine Gruppe integriert sein, aufgrund fehlender Rechte oder Zugänge aber nicht in das Gesamtsystem inkludiert (beispielsweise im Falle von Asylsuchenden; vgl. Kastl 2016, S. 236). Diese Überlegungen zur wechselseitigen Verwobenheit von Inklusion, Integration und Teilhabe können in Anlehnung an Kastl (2016, S. 228 ff.) zudem noch anhand der drei soziologischen Schlüsselbegriffe „Rechte“, „Rollen“ und „Ressourcen“ in eine logische Verkettung gebracht werden: Ausgehend von Rechten, die einen Einbezug in soziale Systeme oder Zusammenhänge mit sich bringen (etwa in Anlehnung an die Forderungen der UN-BRK), ergeben sich für die zu inkludierenden Menschen relevante Rollen. Diese Rollen erleichtern dabei vor allem die soziale Integration. Das Recht auf Bildung und Berufsfreiheit ermöglicht beispielsweise die Rolle als SchülerIn bzw. ArbeitnehmerIn, das Recht, heiraten zu können und/oder Kinder bekommen und großziehen zu können, ist die Voraussetzung für die Rolle als EhepartnerIn bzw. als Vater oder Mutter, das Recht, wählen zu dürfen, macht letztlich erst die Rolle als StaatsbürgerIn möglich, usw. Das Ausüben dieser gesellschaftlichen Rollen eröffnet zuletzt wichtige Ressourcen für das Leben in modernen Gesellschaften (Teilhabe/Partizipation). Die Rolle als SchülerInnen bzw. die Berufsrolle bringt die Möglichkeit mit sich, einen Schulabschluss machen zu können bzw. einen marktkonformen Lohn zu erhalten, die Rolle als EhepartnerIn bzw. als Vater/ Mutter ziehen entsprechende steuerliche oder sozialrechtliche Vorteile nach sich, und das Recht als StaatsbürgerIn ermöglicht, Einfluss auf die politischen Machtverhältnisse nehmen zu können. Hier schließt sich der Kreis jedoch letztendlich wieder, denn entsprechende Ressourcen sind häufig wiederum die Voraussetzung dafür, dass Rechte wahrgenommen und Rollen ausgeübt werden können. Zusammenfassend ergeben sich aus diesen Ausführungen ähnliche Schlussfolgerungen wie zu den Forderungen der UN-BRK: Erstens, Inklusion, Integration und Teilhabe sind untrennbar miteinander verwoben. In einem alle drei Begriffe integrierenden Verständnis wird es letztendlich erst möglich, umfassend Zugehörigkeit herzustellen. Zweitens: Inklusion, also der strukturelle Einbezug, stellt die wesentliche Voraussetzung (aber nicht die
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Garantie!) für soziale Integration und Teilhabe dar. Insofern ist Inklusion stets die Basis für Integrationsprozesse und Teilhabemöglichkeiten. Auf der anderen Seite reicht eine strukturell angelegte Inklusion nicht aus, es müssen immer auch Partizipationsaspekte (Entscheidungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten, Ressourcen) sowie soziale Integrationsbemühungen (Bewusstseinsbildung, soziale Lernprozesse) mitgedacht werden.
2.3 Inklusion aus pädagogischer Perspektive: Umgang mit Vielfalt und Initiierung von sozialen Lernprozessen Der pädagogische Diskurs zum Begriff Inklusion fand in der Vergangenheit bislang vor allem in den Bereichen Elementarpädagogik und Schule statt. Die inklusive Pädagogik ist dabei ein Gegenmodell zum selektierenden Charakter des bisherigen Bildungssystems. Inklusion ist in diesem Verständnis ein allgemeinpädagogischer Ansatz, „der auf der Basis von Bürgerrechten argumentiert, sich gegen jede gesellschaftliche Marginalisierung wendet und somit allen Menschen das gleiche volle Recht auf individuelle Entwicklung und soziale Teilhabe ungeachtet ihrer persönlichen Unterstützungsbedürfnisse zugesichert sehen will. Für den Bildungsbereich bedeutet dies einen uneingeschränkten Zugang und die unbedingte Zugehörigkeit zu allgemeinen Kindergärten und Schulen des sozialen Umfeldes, die vor der Aufgabe stehen, den individuellen Bedürfnissen aller zu entsprechen – und damit wird dem Verständnis der Inklusion entsprechend jeder Mensch als selbstverständliches Mitglied der Gemeinschaft anerkannt.“ (Hinz 2006, S. 98)
Für den schulischen Kontext wird daher gefordert, die unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener SchülerInnen in den Bick zu nehmen, anstatt auf eine homogenisierende Didaktik zu setzen. InklusionsverfechterInnen fordern eine Abkehr von dem mehrgliedrigen Schulsystem und eine „Schule für alle“. Der pädagogische Prozess der Inklusion fokussiert einen gelingenden, methodisch gesteuerten Umgang mit einer heterogenen Gruppe. Dabei steht der Einschluss am Anfang, d. h. Inklusion bedeutet zu allererst unbedingte Dazugehörigkeit, und zwar von Anfang an. Inklusion ist also gleichermaßen Ausgangspunkt und Ziel pädagogischer Bemühungen. Inklusion als pädagogische Forderung umfasst dabei didaktische Überlegungen, die unter den Begrifflichkeiten „Inklusive Pädagogik“ oder „Inklusionspädagogik“ zusammengefasst werden können. Dabei wird das
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Inklusionsparadigma in der Pädagogik vor allem in Abgrenzung zur Integration beschrieben: Während Integration eher verstanden werden kann als das „Wiederherstellen“ eines Ganzen durch die (Wieder-)Eingliederung bestimmter Teile (d. h. Personengruppen), meint Inklusion das Einschließen bzw. Einbeziehen von Teilen (d. h. Personengruppen) in und zu einem Ganzen. In diesem Verständnis kann der Inklusionsgedanke tatsächlich als eine Art „Optimierung“ oder „erweitertes Verständnis“ von Integration gedeutet werden (vgl. beispielsweise Hinz 2003; 2004; 2008; 2010). Der Gedanke der Inklusion ist aber auch noch aus einem anderen Grund deutlich weiter gefasst als der Begriff der „Integration“: Es geht eben gerade nicht um die Eingliederung von bestimmten Gesellschaftsmitgliedern mit Unterstützungsbedarf in bestehende Kontexte, sondern explizit um eine Veränderung bzw. Weiterentwicklung dieser Kontexte bzw. der gesellschaftlichen Strukturen, sodass diese von vorneherein Verschiedenheit und Vielfalt besser berücksichtigen können. Gemeinsam ist allen inklusionspädagogischen Ansätzen, dass Sie auf eine Wertschätzung von Vielfalt abzielen und entsprechende soziale Lernprozesse pädagogisch initiieren bzw. moderieren wollen. Heterogenität und Vielfalt sind in diesem Verständnis keine Schranken gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern vielmehr Chance und Ressource. (vgl. Meyer 2013, S. 246 ff.) Diese Ausführungen lassen bereits vermuten, dass die pädagogische Umsetzung von Inklusion äußerst komplex ist und mit Veränderungsprozessen auf verschiedenen Ebenen einhergehen muss. Aus diesem Grunde wurde in den letzten Jahren für unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche ein Instrument als Handreichung und praktische Implementierungshilfe entwickelt: Der sogenannte „Index für Inklusion“. Mittlerweile gibt es einen Index für Inklusion für den Bereich Schule (Booth, Ainscow 2000/2002, deutsche Übersetzung durch Boban, Hinz 2003), einen Index für Inklusion für Kindertagesstätten (Booth, Ainscow, Kingston 2006) und einen kommunalen Index für Inklusion (McDonald, Olley 2002; Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft 2010/2011). Adaptiert wurde die Idee eines „Inklusions-Index“ ferner für den Bereich Kinderund Jugendarbeit (Meyer/Kieslinger 2014) sowie für den Sport (Deutscher Behindertensportverband 2014). Der Aufbau des Index sowie die methodischen Handlungsempfehlungen sind im Grunde ähnlich, unabhängig davon, um welche Personengruppen es sich handelt. Eine besondere Relevanz hat die dem Index für Inklusion zugrunde liegende Unterteilung in die drei Kerndimensionen „inklusive Strukturen“, „inklusive Praktiken“ und „inklusive Kulturen“. Demnach gelingt eine erfolgreiche Umsetzung von Inklusion nur dann, wenn gleichermaßen inklusive Strukturen (z. B. Zugänglichkeit Aller, Barrierefreiheit, Vermeidung von Ausgrenzung), inklusive Praktiken (z. B. Umgang mit Vielfalt, spezielle
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Methoden, Unterstützungsformen) und inklusive Kulturen (z. B. Akzeptanz von Vielfalt, Gemeinschaft, Solidarität, inklusive Werte) geschaffen werden. Der Index für Inklusion ist dabei gleichzeitig ein Orientierungsleitfaden als auch Instrument zur Selbstevaluation für inklusive Vorhaben. Diese drei Ebenen erinnern wiederum stark an sowohl die Forderungen der UN-BRK (Abschn. 2.1) als auch an die sozialwissenschaftliche Perspektive (Abschn. 2.2). Die Ebene A: „Inklusive Kulturen schaffen“ entspricht in etwa den Forderungen des Artikels 8 in der UN-BRK (Bewusstseinsbildung) sowie dem sozialwissenschaftlichen Verständnis von sozialer Integration. Ebene B: „Inklusive Strukturen etablieren“ spiegelt – grob verallgemeinert – die in beiden anderen Perspektiven dargestellte rechtlich-normative Forderung nach Öffnung, Zugänglichkeit und Einbezug wider. Die Ebene C: „Inklusive Praktiken entwickeln“ findet ihren Niederschlag in den beiden Begriffen Teilhabe und Partizipation, die sowohl in der UN-BRK als auch in sozialwissenschaftlicher Perspektive eine wichtige Ergänzung zum strukturellen Einbezug darstellt, etwa indem Teilhabe- und Partizipationsprozesse auf Basis geeigneter Unterstützungskonzepte aktiv gestaltet werden. Insbesondere der Aspekt einer Förderung inklusiver Kulturen (bzw. Bewusstseinsbildung, soziale Integration) gewinnt in der pädagogischen Perspektive jedoch nochmals deutlich an Gewicht. Die wichtige Bedeutung einer solchen inklusiven Kultur lässt sich sowohl in einer Mikroperspektive (etwa einzelne Gruppen oder Schulklassen) als auch in einer Makroperspektive (z. B. die Gesamtbevölkerung, die gesamte Mitarbeiterschaft einer Organisation) wiederfinden. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Umsetzung von Inklusion letztendlich „in den Köpfen“ aller Beteiligten stattfindet und eines Aufbaus einer inklusiven Kultur bedarf. Im Zuge einer solchen Öffnung kann es zusätzlich von Nöten sein, dass verschiedene Personengruppen auf den „Einbezug“ und die damit einhergehenden Kontaktsituationen vorbereitet werden müssen, was nicht immer ohne Konflikte abläuft. Letztendlich spielen neben allgemeinpädagogischen Fragen daher immer auch sozialpsychologische Überlegungen (siehe dazu Meyer 2013, S. 253 ff.) eine wichtige Rolle, weil es im Zuge einer inklusiven Öffnung häufig auch um den Umgang mit Vorurteilen, um den Abbau von Berührungsängsten sowie um Strategien zur Vermeidung von Konflikten zwischen verschiedenen Gruppen gehen kann. Aus diesem Grunde ist das Wissen über Gruppenprozesse ein unabdingbares Werkzeug bei der Umsetzung von Inklusion. Kontaktsituationen sollten gut geplant und begleitet werden; zusätzlich bieten sich Maßnahmen zur Sensibilisierung, Bewusstseinsbildung und ggf. Einstellungsänderung an. Am Beispiel der Inklusion von Menschen mit Behinderung
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sei dies verdeutlicht: Damit die Bevölkerung ein Bewusstsein für die Lebenssituation und Belange von Menschen mit Behinderung entwickeln kann, wurden verschiedene Strategien („awareness rising“) entwickelt. Generell eigenen sich Rollenspiele, Simulationen und Sensibilisierungsaktivitäten, in denen sich die Beteiligten in die „Rolle“ behinderter Menschen einfühlen. Sinnvoll sind aber auch Informationen, die von Menschen mit Behinderung selbst übermittelt werden (z. B. öffentliche Informationskampagnen, Vorträge von Menschen mit Behinderung, kulturelle Events wie Theatergruppen, Ausstellungen, Benefit Konzerte usw.). Ziel solcher Sensibilisierungsstrategien ist es, Stereotype und negative Vorstellungen über Menschen mit Behinderung breitflächig abzubauen (vgl. beispielsweise ECCL 2008, 2011). An dieser Stelle wird die These vertreten, dass insbesondere die Kinder- und Jugendarbeit solche Bildungsprozesse im Rahmen niedrigschwelliger, kultur-, medien-, theater-, zirkus- oder erlebnispädagogischer Angebote initiieren oder zumindest unterstützen kann. Dies impliziert dann auch, dass Inklusion bereits in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ansetzen muss (vgl. Meyer 2013; Meyer 2016).
2.4 Inklusion aus verschiedenen Perspektiven: Zusammenfassung und Gemeinsamkeiten Die dargestellten Analysen verdeutlichen, dass der „Paradigmenwechsel“ Inklusion im Grunde genommen eher ein „Perspektivenwechsel“ ist. Anstatt die Perspektive wie bisher auf die „Defizite“ von Menschen mit Unterstützungsbedarf zu richten, rücken strukturelle Bedingungen und gesellschaftlich relevante Barrieren in den Blick. Am Beispiel der Inklusion von Menschen mit Behinderung lässt sich dies verdeutlichen. So soll es in Zukunft nicht mehr (nur) darum gehen, Menschen mit Behinderung im Rahmen von Sonderwegen und Sonderinstitutionen „fit“ für ein Leben in der modernen Gesellschaft zu machen, sondern andersherum: Gesellschaftliche Strukturen müssen im Grunde genommen „fit“ für den Einbezug von Menschen mit besonderen Unterstützungsbedarfen gemacht werden (Meyer 2013, S. 246). In dieser Konsequenz können auch die Forderungen der UN-BRK wie folgt gedeutet werden: „Es geht nicht nur darum, innerhalb bestehender Strukturen Raum zu schaffen auch für Behinderte, sondern gesellschaftliche Strukturen so zu gestalten und zu verändern, dass sie der realen Vielfalt menschlicher Lebenslagen – gerade auch von Menschen mit Behinderungen – von vorneherein gerecht werden“ (Aichele 2008, S. 12).
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Mit dieser Forderung gehen ein gesamtgesellschaftlicher Öffnungsprozess und der Abbau von (Zugangs-) Barrieren einher. Mit Barrieren sind dabei keinesfalls nur räumliche Barrieren gemeint, sondern auch sprachliche Barrieren, soziale Barrieren (wie Berührungsängste, Vorurteile, Diskriminierung), aufgabenbezogene Barrieren (z. B. im Hinblick auf Angebote, Sportarten, Spielabläufe, usw.) oder institutionelle Barrieren wie bestimmte Zugangsvoraussetzungen (etwa in einem Verein). Die Idee der Inklusion betont weiterhin die „Nichtteilbarkeit“ einer an sich heterogenen Gesellschaft und betrachtet Vielfalt als Normalität und Chance. Insofern besteht der „Mehrwert“ des Inklusionskonzepts vor allem darin, ein diskriminierendes „Zwei-Gruppen-Denken“ zu überwinden (Hinz 2004, 2009; kritisch dazu Wocken 2010). Die Vermeidung von Ausgrenzung wird in den Mittelpunkt der Betrachtungsweise gestellt. Damit stellen sich nicht nur Chancen für die von Ausgrenzung bedrohten Personengruppen ein, sondern gleichermaßen auch Potenziale für gesellschaftliche Lernprozesse: Werden Ausgrenzungsprozesse von vorneherein vermieden, gewöhnen sich die Gesellschaftsmitglieder auch daran, mit den unterschiedlichsten Personengruppen zusammen zu leben, zusammen zu arbeiten, zusammen zur Schule zu gehen, gemeinsam Freizeit zu verbringen, usw. Dadurch kommen soziale Lernprozesse in Gang, die es ermöglichen, (weitere) Ausgrenzung von Vorneherein zu vermeiden. Die dargestellten Perspektiven verdeutlichen darüber hinaus, dass es bei der Umsetzung von Inklusion um drei verschiedene Ebenen geht: Inklusion bedeutet, Einbezug zu sichern sowie Teilhabe- bzw. Partizipationsmöglichkeiten auf Basis geeigneter Unterstützung zu ermöglichen. Daneben ist der Aufbau einer inklusiven Kultur wichtig. Die Bedeutung dieser drei Ebenen, die auch im „Index für Inklusion“ leitende Prinzipien sind, lässt sowohl die übliche gesellschaftliche Rhetorik zum Thema Inklusion als auch die häufig gebrauchten grafischen Darstellungen in einem anderen Licht erscheinen. Kastl (2016) hat sich hierzu sowohl mit dieser gesellschaftlichen Rhetorik als auch mit den grafischen Darstellungen besonders kritisch beschäftigt (vgl. ebd., S. 242 ff.). Genau genommen sind die „typischen“ grafischen Darstellungen, wenn es um Inklusion geht, scharf zu kritisieren, denn sie ignorieren die Komplexität der Prozesse und suggerieren, dass Inklusion „wie von selbst funktioniert“. Häufig wird dabei der Unterschied zwischen Inklusion und Integration so dargestellt, dass eine vorher relativ homogene Gruppe „plötzlich“ bunter wird (vgl. Abb. 1). Dabei wird suggeriert, dass diese „bunte Mischung“ die Lösung an sich ist. Diese Annahme erscheint nicht nur höchst fragwürdig, sondern vor allem auch gefährlich. Das hat zwei Gründe: Erstens bedeutet eine Auflösung von beschützenden- bzw. Unterstützungsstrukturen (in Abb. 1 der dunkle Kreis innerhalb des größeren hellblauen Kreises) ja nicht automatisch, dass die betroffenen Menschen weiterhin
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Abb. 1 Herkömmliche grafische Darstellung des Unterschieds zwischen Integration und Inklusion. (Eigene Darstellung)
ohne Unterstützung leben müssen; diese sind natürlich, beispielsweise aufgrund einer Behinderung, auch nach dem Einbezug (in Abb. 1 der Inklusionskreis) auf Unterstützung angewiesen. Zweitens ist nach dem Einbezug nicht gesichert, dass diese Menschen auch sozial integriert sind, in Interaktion zu anderen Menschen treten oder Beziehungen aufbauen können, beispielsweise im Gemeinwesen, in der Schule oder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Aus diesem Grunde müssten diese grafischen Darstellungen eigentlich um zwei weitere Dimensionen ergänzt werden, die genau diesen Ansprüchen gerecht werden: 1) Die Unterstützung zu Teilhabe/Partizipation sowie 2) Prozesse zur Förderung sozialer Integration. Abb. 2 stellt einen Versuch dar, die bisher üblichen, grafischen Darstellungen um genau diese Aspekte zu erweitern. Dabei rückt die „Unterstützung“ zunächst näher an die nach wie vor auf Unterstützung angewiesenen Personen heran („Assistenz“). Zusätzlich müssen soziale Integrationsprozesse initiiert oder zumindest begleitet werden, etwa in Form von Sensibilisierung oder Moderation von Gruppenprozessen. Insgesamt wird deutlich, dass ein erweitertes, auch grafisch anders dargestelltes, Inklusionsverständnis die bereits oben mehrfach erörterten drei
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Abb. 2 Grafische Darstellung eines mehrdimensionalen Verständnisses von Inklusion. (Eigene Darstellung)
Dimensionen a) Einbezug bzw. inklusive Strukturen, b) Unterstützung zur Teilhabe/Partizipation bzw. inklusive Praktiken, und c) Bewusstseinsbildung/soziale Integration bzw. inklusive Kulturen stets beinhalten muss. Neben einer inklusiven Öffnung sind also passende Unterstützungsstrukturen zu entwickeln. Menschen mit Unterstützungsbedarf müssen dort Assistenz erhalten, wo sie leben, arbeiten oder Freizeit verbringen. Gleichermaßen sind soziale Integrationsprozesse in den Blick zu nehmen. Imke Niediek (2010) bezeichnet dies als die Herausforderung, „Person und Sozialraum gleichzeitig zu denken“ (ebd., S. 89). Insofern entstehen für in entsprechenden Handlungsfeldern tätigen Fachkräfte neue Aufgaben, die mit den Schlagworten Sozialraumorientierung und Personenorientierung umschrieben werden können (vgl. dazu Niediek 2010, Meyer 2014a, 2014b, Theunissen 2014, ausführlich: Theunissen 2012). Auch für die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in der Kinder- und Jugendarbeit sind die mehrfach besprochenen drei Dimensionen essentiell: Organisationen, Einrichtungen, Angebote und Projekte der Kinderund Jugendarbeit sind zunächst auf Zugänglichkeit, Barrierefreiheit und Möglichkeiten eines umfassenden Einbezugs Aller zu überprüfen. Auf der
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anderen Seite müssen die Fachkräfte sowohl relevante Informationen über die Wünsche und Bedürfnisse als auch über den jeweiligen Unterstützungsbedarf der teilnehmenden jungen Menschen mit Behinderung haben. Gegebenenfalls können entsprechende Informationen im Austausch mit Angehörigen, Schulen oder Diensten der Behindertenhilfe eingeholt werden. Um den anfallenden Unterstützungsbedarfen gerecht zu werden, können eventuell auch Kooperationen sinnvoll sein; entsprechende Ressourcen sind daher zu aktivieren. Ergänzend dazu ist die Arbeit an einer inklusiven Kultur besonders wichtig, die sowohl die Besucherschaft (Moderation von Gruppenprozessen, Vermeidung von Diskriminierung, soziale Lernprozesse) als auch die Mitarbeitenden (Reflexion, Leitbild) umfasst.
3 Erfahrungen mit der Umsetzung von Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit: „Wir sind ja schon seit jeher inklusiv“ Die intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff Inklusion hat gezeigt, dass eine Veränderung von gesellschaftlichen Strukturen und Rahmenbedingungen hin zu einer inklusiven Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen ansetzen muss. Im nachfolgenden Kapitel wird die These vertreten, dass insbesondere die Kinderund Jugendarbeit aufgrund ihrer Ausrichtung auf informelle Bildungsprozesse, Begegnungsmöglichkeiten, Ergebnisoffenheit und ihrer Methodenvielfalt in Spiel, Spaß, Geselligkeit, Sport, Freizeit und Kulturarbeit hierbei eine Schlüsselrolle einnehmen könnte. Die der Kinder- und Jugendarbeit innewohnenden Arbeitsprinzipien spielen dabei eine große Rolle: Freiwilligkeit, Niedrigschwelligkeit, Zugänglichkeit für alle jungen Menschen, Umgang mit Vielfalt, sowie die Ergebnisoffenheit vieler Angebote ermöglichen ein zwangloses Zusammenkommen. Die Begegnungen laufen dabei in angenehmer Atmosphäre ab, was den Potenzialen zwischenmenschlicher Kontakte zuträglich ist und zu einem Abbau von Berührungsängsten und Vorbehalten beiträgt. Der Vorteil dieser Handlungsfelder ist aber nicht nur die zwanglose Zusammenkunft junger Menschen, sondern auch die interessens-, ressourcen- und bedürfnisorientierte Vorgehensweise. Aufgrund dieser Merkmale wird Inklusion als soziales Lernfeld erlebbar. Für die Kinder- und Jugendarbeit ergibt sich damit quasi die Chance, eine „Vorreiterrolle“ bei der Umsetzung einer inklusiven Gesellschaft einnehmen zu können (vgl. Dannenbeck/Dorrance 2010, 2011). Die genannten Überlegungen stehen zudem in direktem Einklang mit den von Rauschenbach u. a. (2010) beschriebenen Potenzialen der Jugendarbeit.
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Bildungspotenziale, Verantwortungspotenziale, Gemeinschaftspotenziale und Integrationspotenziale bilden gleichermaßen Ausgangspunkt als auch Ziel solcher inklusiven Prozesse und Vorhaben. Diese Potenziale könnten hervorragend dafür genutzt werden, Inklusion in der Praxis umzusetzen und gleichzeitig zur Förderung einer inklusiven Kultur in der Gesellschaft beizutragen. Aus diesem Grunde verwundert es auch, dass die fachlichen und politischen Debatten zum Themenbereich Inklusion sich aktuell vor allem auf die Handlungsfelder Schule und Kindertagesstätten konzentrieren. Viel zu wenig werden hingegen die Potenziale in der Kinder- und Jugendarbeit bzw. Jugendsozialarbeit diskutiert. So erfährt dieses Handlungsfeld beispielsweise auch im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Verwirklichung der UN-Behindertenrechtskonvention nur eine geringe Beachtung. Lediglich das Kapitel „Information und Präsentation“ erwähnt unter dem Stichwort „Bildungsarbeit“ die Möglichkeit, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung im Vereinsleben teilnehmen und dort ihre Interessen verwirklichen können (vgl. Voigts 2013, S. 214).
3.1 Stellenwert des Themas Inklusion in der Kinderund Jugendarbeit und aktueller Forschungsstand – ein Überblick Im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit selbst wurde dieses Potenzial jedoch durchaus erkannt, was sich auch an der relativen Fülle an Umsetzungshilfen und Praxisleitfäden zeigt. Beispielhaft genannt werden können der „Index für die Jugendarbeit zur Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung“ (vgl. Meyer/Kieslinger 2014) sowie die beiden Arbeitshilfen „Inklusion in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit – Anforderungen an die Praxis, Checkliste“ (vgl. Oskamp 2013) und „all inklusive – Praxis der integrativen Jugendarbeit“ (vgl. Forum inklusiver Evangelischer Jugendarbeit 2007, vgl. ebenso Voigts 2013). Alle drei Publikationen erfüllen den Zweck einer Arbeits- bzw. Umsetzungshilfe für die Praxis und beinhalten eine Reihe an Methoden und Beispielen zur inklusiven Öffnung. Von einzelnen Verbänden existieren weiterhin spezielle Orientierungen, Positionspapiere und Umsetzungshilfen, etwa von der Naturfreundejugend Deutschland (vgl. Drücker 2009), von der Deutschen Jugendfeuerwehr (Deutsche Jugendfeuerwehr 2010) oder der vom Deutschen Behindertensportverband (2014) herausgegebene „Index für Inklusion im und durch Sport“. Auf überörtlicher Ebene wurde zur Umsetzung von Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit eine Orientierungshilfe veröffentlicht, die jedoch eher als Positionspapier mit zusammenfassenden Handlungsempfehlungen
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fungiert (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter 2012). Daneben lassen sich noch weitere Publikationen finden, in denen verschiedene „BestPractice-Beispiele“ oder auch Fort- und Weiterbildungsmodule zum Themenspektrum Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit zu finden sind (vgl. zum Beispiel: Dannenbeck/Dorrance 2011; G5/Landeszentrale Trägergruppen der Kinder, Jugend- und Jugendsozialarbeit in NRW 2015; Meyer/Rahn 2017a; Meyer/Rahn 2017b). Wieder andere Publikationen behandeln methodische Fragen einer inklusiven und diversitätssensiblen Pädagogik in der Jugendarbeit, wobei es aber häufig allgemein um den Umgang mit Vielfalt und um den Abbau von Diskriminierung und Rassismus geht (vgl. zum Beispiel Drücker u. a. 2014). Aus dem Bereich der Jugendsozialarbeit liegen hingegen nur wenige Publikationen zu dem Themenfeld vor, weder bezogen auf die Präsenz und Nutzung der Angebote durch Kinder und Jugendliche mit Behinderung, noch als Umsetzungs- oder Arbeitshilfe. Einige grundlegende Artikel zum Thema Inklusion in der Jugendsozialarbeit findet man in der Publikation „Inklusion in Handlungsfeldern der Jugendsozialarbeit“, die in der Reihe „Beiträge zur Jugendsozialarbeit“ veröffentlicht wurde (vgl. Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit 2012). Trotz der deutlich gewordenen „Nähe“ des Inklusionsparadigmas zu den Potenzialen und Arbeitsprinzipien der Kinder- und Jugendarbeit und einiger, teilweise gut ausgearbeiteter Umsetzungshilfen offenbart jedoch ein Blick in die unmittelbare Praxis der Kinder- und Jugendarbeit nach wie vor Wissenslücken. So wurden bislang die Erfahrungen mit Inklusion als leitendes Arbeitsprinzip in den Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendarbeit noch zu wenig systematisch untersucht bzw. dokumentiert. Dies zeigt auch die nach wie vor überschaubare Anzahl an wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Gegenstand. Größer angelegte Studien liegen hierbei nur vereinzelt vor: Im Rahmen einer quantitativen Erhebung des Deutschen Jugendinstituts wurde im Jahr 2011 eine bundesweite Befragung von 1115 Jugendzentren durchgeführt, in der auch die Erfahrungen mit TeilnehmerInnen bzw. BesucherInnen mit Behinderung dokumentiert werden konnten (vgl. Seckinger 2014). Speziell in BadenWürttemberg wurde eine durch das damalige Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familien, Frauen und Senioren (heute: Ministerium für Soziales und Integration) geförderten quantitativ ausgerichtete, baden-württembergweite Bestandsaufnahme zu den Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in der Kinder- und Jugendarbeit sowie Jugendsozialarbeit durchgeführt (vgl. Meyer 2016). Auf Basis dieser Ergebnisse wurde dann ein weiteres Förderprogramm ausgeschrieben, in dessen Rahmen knapp 30 Kleinprojekte mit inklusiver Ausrichtung finanziell unterstützt und wissenschaftlich evaluiert wurden (Meyer/Rahn 2016a; Meyer Rahn 2017b). Des Weiteren liegt eine
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qualitativ ausgerichtete Studie zur Teilnahme von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in der Jugendverbandsarbeit vor (vgl. Voigts 2013). Daneben finden sich noch einige Studien, die jedoch eher aus der Perspektive der Eingliederungshilfe (z. B. Kieslinger/Meyer 2014; Roß u. a. 2016) oder aus sonderpädagogischer und behinderungssoziologischer Perspektive (z. B. Markowetz/Cloerkes 2000; Stein/Orthmann Bless 2009) verfasst wurden. Gegenstand dieser Untersuchungen ist die allgemeine Lebens- und Freizeitsituation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung, die Kinder- und Jugendarbeit stellt in diesen Studien keinen Schwerunkt dar. Dennoch sind auch diese Erkenntnisse relevant, da die hier vorgenommenen Analysen der Freizeit- und Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung verdeutlicht, wie wenig diese bisher in die allgemeine Infrastruktur der Kinder- und Jugendarbeit einbezogen sind. Entsprechend wird bereits seit längerem gefordert: „Kindern und Jugendlichen mit Behinderung muss das gesamte Spektrum der Leistungen der Jugendhilfe offen stehen. Anzustreben ist daher nicht eine sonderpädagogische Erweiterung des Leistungsangebots, sondern der Aufbau von professionellem Wissen zur Entwicklung inklusiver Strukturen in allen Bereichen der Jugendhilfe“ (Rohrmann 2014, S. 247). Dies gilt gleichermaßen auch für die Jugendverbandsarbeit. Auch hier wird kritisch angemerkt, „dass dabei bisher Kinder und Jugendliche mit körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen zu wenig im Blick sind.“ (Voigts 2013, S. 215).
3.2 Aktuelle Erkenntnisse aus verschiedenen Forschungsvorhaben zum Thema Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit – eine Zusammenstellung Ausgehend von der Frage, inwiefern die inklusive Perspektive „mittlerweile in Empfehlungen und Konzepten der offenen und/oder verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit Eingang gefunden haben beziehungsweise ob sich dieses Arbeitsfeld neben der bisherigen Verpflichtung gegenüber der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (…) auch der BRK verschrieben hat“ (Theunissen 2014, S. 253), sollen im nachfolgenden Kapitel einige Ergebnisse aus den oben genannten Untersuchungen in der gebotenen Kürze dargestellt werden. Für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit sowohl dem Stellenwert von Inklusion als auch der Präsenz von jungen Menschen mit Behinderung in der Kinder- und Jugendarbeit sei auf die oben genannten Studien verwiesen (vgl. Voigts 2013;
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Seckinger 2014; Kieslinger/Meyer 2014; Meyer 2016, einzelne Informationen auch in Roß u. a. 2016): • Anzahl an Einrichtungen, Organisationen, Angeboten, Projekten, die auch NutzerInnen mit Behinderung haben: Die Studie von Seckinger (2014) zeigt, dass bundesweit knapp 60 % der befragten Jugendeinrichtungen angeben, auch BesucherInnen mit Behinderung zu haben. Auf die Frage danach, welche Behinderungsformen in den jeweiligen Jugendeinrichtungen vorkommen, wird in der Studie am häufigsten „Lernbehinderung“ angegeben. Würde man diese Personengruppe mit einer, in der Fachwelt durchaus umstrittenen Diagnose (vgl. dazu Cloerkes 2007, S. 94 f.) herausrechnen, reduziert sich der Anteil an Einrichtungen mit NutzerInnen mit Behinderung auf 48 %. Auch Voigts (2013) verweist darauf, „dass Kinder mit körperlichen, geistigen wie seelischen Behinderungen in Jugendverbänden bisher unterrepräsentiert sind“ (ebd., S. 215). Quantifizierbare Hinweise sind in dieser Studie nicht verfügbar. In der baden-württembergischen Bestandsaufnahme von Meyer (2016) wird hingegen ein Anteil von über 70 % errechnet, d. h. fast drei von vier Organisationen der Kinder- und Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit haben auch TeilnehmerInnen bzw. BesucherInnen mit Behinderung. Dieser Anteil entspricht in etwa den Anteilen, die auch lokale Erhebungen in Baden-Württemberg für die nichtkommerzielle Freizeitbranche (Roß u. a. 2016) ausweisen. Meyer (2016) konnte ergänzend dazu noch herausfinden, dass der Anteil an Organisationen mit NutzerInnen mit Behinderung sinkt, je kleiner die Organisationseinheit ist (gemessen sowohl an der Trägerschaft als auch an der Anzahl haupt- und ehrenamtlicher MitarbeiterInnen). Des Weiteren zeigt die Auswertung, ähnlich wie bei Seckinger, dass am häufigsten eine Lernbehinderung als „Behinderungskategorie“ angegebenen wird (hier interessanterweise insbesondere von Akteuren mit dem Geschäftsfeld Jugendberufshilfe). Geistige Behinderungen und Sinnesbeeinträchtigungen kommen hingegen am seltensten vor. • Anzahl an NutzerInnen mit Behinderung je Einrichtung, Organisation, Angebot, Projekt: In der Studie von Seckinger (2014) wird von denjenigen Jugendeinrichtungen, die auch BesucherInnen mit Behinderung haben, im Gesamtschnitt eine Anzahl von knapp 13 NutzerInnen mit Beeinträchtigungen angegeben. Der Median beträgt jedoch nur sieben BesucherInnen mit Behinderung, d. h. mindestens die Hälfte dieser Einrichtungen haben sieben oder weniger solcher BesucherInnen. Kieslinger/Meyer (2014) berichten auf der Basis einer wissenschaftlichen Begleitung ausgewählter Modellvorhaben in Baden-Württemberg zur Umsetzung inklusiver Angebote von ca.
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15–20 % TeilnehmerInnen mit Behinderung an inklusiven Ferienfreizeiten und zwischen 10 % und 20 % Jugendlichen mit Behinderung bei inklusiven Aktionen in offenen Jugendtreffs. Obwohl es sich also um explizit inklusive Angebote handelt, übersteigt der Anteil an NutzerInnen mit Behinderung nicht 20 %. Roß u. a. (2016) konnten anhand lokaler Daten zur Stadt Heidelberg, ähnlich wie Seckinger, zeigen, dass sich der Median und der Mittelwert unterscheiden, was auf einige, wenige Freizeitangebote mit relativ vielen TeilnehmerInnen mit Behinderung verweist (möglicherweise sogar eher „exklusive“ Angebote, siehe auch den nächsten Punkt), während viele der untersuchten Angebote nur einzelne Teilnehmende mit Behinderung haben. Auch die Ergebnisse von Meyer (2016) zeigen für Baden-Württemberg sowohl in der quantitativen Befragung (n = 570) als auch in den Telefoninterviews (n = 45), dass überproportional häufig die Teilnahme von nur einzelnen Kindern/Jugendlichen mit Behinderung angegeben wird. Auch hier unterscheidet sich der Mittelwert vom Median. Eine genaue Berechnung der Anteile der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen mit Behinderung lassen vor allem die Telefoninterviews zu. Hier zeigt sich, dass in fast der Hälfte aller Angebote weniger als fünf Kinder mit Behinderung teilnehmen, allein in 20 % der Fälle handelt es sich sogar nur um einzelne Kinder. Gemessen an der jeweiligen Anzahl aller Teilnehmenden beläuft sich der Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Behinderung auf im Schnitt knapp 7 %, wobei in etwa 25 % der Angebote nur ein Anteil von unter 5 % zu finden war (hierbei mussten Angebote mit Anteilen von 100 % herausgerechnet werden, weil es sich strenggenommen um exklusive Angebote, also um Angebote, die sich ausschließlich an Kinder/Jugendliche mit Behinderung richten, handelt; siehe dazu auch den nächsten Punkt). • Art und Organisationsform der inklusiven Angebote: Auf die Frage, an welchen Angeboten Kinder und Jugendliche mit Behinderung teilnehmen, konnte Seckinger (2014) zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung nach wie vor „eher unter sich“ bleiben. Häufig wurden hierbei einmalige oder nur sporadisch stattfindende Events, feste Gruppenangebote oder spezielle Zeitfenster, spezifische Förderangebote oder Ferienaktionen und Ausflüge genannt. Dies scheint zudem mit Kooperationen mit Akteuren aus dem Bereich der Behindertenhilfe zusammen zu hängen. Nur etwas mehr als ein Drittel aller Einrichtungen mit NutzerInnen mit Behinderung verweist auf eine Teilnahme dieser im „Offenen Bereich“. Auch in der Studie von Voigts (2013) zeigt sich, dass sporadisch stattfindende Aktionen mehrheitlich das Tableau inklusiver Öffnung darstellen, allen voran die Ferienfreizeiten bzw. Ferienaktionen. Hier verfügen insbesondere Jugendverbände
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über breite Erfahrung und viele Verbände haben sich vermutlich deswegen in diesen Settings auch der inklusiven Idee geöffnet. Roß u. a. (2016) konnten nachweisen, dass knapp zwei Drittel aller Freizeitangebote in der Stadt Heidelberg, an denen auch Menschen mit Behinderung teilnehmen, Angebote sind, die sich ausschließlich an Menschen mit Behinderung richten. Nur etwa die Hälfte dieser Akteure führt (auch) inklusive Angebote durch (Mehrfachnennungen möglich). Demnach sind die meisten Freizeitangebote eher als „exklusive“ und nicht als inklusive Angebote zu verstehen. Eine differenziertere Typologie von Angeboten findet sich bei Meyer (2016). In dieser Studie wird ebenso deutlich, dass die meisten Angebotsformen, an denen auch Kinder- und Jugendliche mit Behinderung teilnehmen, einmalige, sporadische oder spezielle „Nischenangebote“ sind (mehr als die Hälfte aller dokumentierten Angebote). Auch hier überwiegen speziell dafür geschaffene Settings oder Programmpunkte, allen voran Ferienfreizeiten. Daneben lassen sich sogar Angebote finden, die eher als „exklusive“ Settings klassifiziert wurden, d. h. sich ausschließlich an Kinder/Jugendliche mit Behinderung richten (etwa 20 %). Eine grundsätzliche Öffnung lässt sich nur in etwa 20 % der dokumentierten Angebote vermuten. Auf die Frage, welche inklusiven Angebote in Zukunft geplant sind, überwiegen ebenso Ferienfreizeiten oder Angebote mit Workshop- bzw. Gruppencharakter oder „spezielle“ Settings. Der Anteil an Akteuren, die eine grundsätzliche Öffnung anstreben ist weitaus geringer (ca. 30 %). • Inhaltliche Ausgestaltung der inklusiven Angebote: Kieslinger/Meyer (2014) konnten im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung verschiedener Inklusions-Projekte zeigen, dass Akteure, die auf gemeinschaftliche Aktivitäten setzen (z. B. Pfadfinder, Jugendhäuser, etc.), tendenziell eher bereit sind, inklusive Angebote einzurichten, als Anbieter, die auf „Einzelleistung“ setzen (z. B. Sportvereine, Bildungsinstitutionen). Inhaltlich besonders geeignet sind zudem Aktivitäten, die a) auf das Erreichen eines gemeinsamen Ziels, b) auf neue Erfahrungen für alle TeilnehmerInnen, c) auf die Offenheit des Ergebnisses, und d) auf eine zwanglose und angenehme Atmosphäre, ohne Leistungs- oder Konkurrenzdruck, setzen. Förderlich wirken sich ferner Partizipationsmöglichkeiten aus. Können alle jungen Menschen mitgestalten und mitbestimmen, erleichtert dies Interaktionen zwischen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung. Entsprechend bestätigt auch die baden-württembergweite Erhebung von Meyer (2016), dass sich in den Handlungsfeldern Kunst, kreatives Gestalten, Zirkus- und Theaterpädagogik, sowie in der kirchlichen und in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit überproportional
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häufig auch NutzerInnen mit Behinderung befinden. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Roß u. a. (2016). • Erfahrungen mit inklusiven Angeboten: Seckinger (2014) konnte herausarbeiten, dass die befragten Jugendeinrichtungen kaum „Probleme“ mit der Personengruppe von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderung sehen. Anders stellt sich dies jedoch bei den Personengruppen mit geistigen Behinderungen, Mehrfachbehinderungen und insbesondere mit psychischen Beeinträchtigungen dar. Hier gaben mindestens 60 % der Einrichtungen „Schwierigkeiten“ bei der Umsetzung von Inklusion an. In der wissenschaftlichen Begleitung verschiedener Modellvorhaben (Kieslinger/Meyer 2014) zeigte sich, dass die Akzeptanz der nichtbehinderten Kinder und Jugendlichen gegenüber Kindern und Jugendlichen mit Behinderung von der Art und dem Schweregrad der Behinderung abzuhängen scheint. Des Weiteren wirkt sich das Alter deutlich auf die Akzeptanz und Offenheit gegenüber Kindern und Jugendlichen mit Behinderung aus: Je jünger die Kinder bei den Kontaktsituationen sind, desto größer ist auch die Akzeptanz und Aufgeschlossenheit. Bestätigt wird dies auch in der Studie von Meyer (2016), in der deutlich wird, dass die Offene Arbeit mit Kindern besonders hohe Anteile an TeilnehmerInnen mit Behinderung hat. Insgesamt werden die Erfahrungen mit inklusiven Angeboten zudem zu über 90 % als „sehr gut“ bzw. „eher gut“ bewertet. Eine weitere, wichtige Erkenntnis dieser Studie ist, dass diejenigen Akteure, die bereits TeilnehmerInnen bzw. BesucherInnen mit Behinderung in ihren Angeboten haben, überproportional häufig auch weiterhin inklusive Angebote planen. Zu der gleichen Erkenntnis kommen auch Roß u. a. (2016). Dies kann als weiteren Beleg dafür gedeutet werden, dass die Erfahrungen eher positiv sind. • Förderliche Faktoren zur Umsetzung von Inklusion: Nach Seckinger (2014) stellen sowohl das hauptamtliche Personal als auch die Barrierefreiheit wichtige Kriterien für die Umsetzung von Inklusion dar. In Einrichtungen mit hauptamtlichen MitarbeiterInnen nutzen im Vergleich häufiger auch Kinder und Jugendliche mit Behinderung die Angebote. Ebenso gibt es in Einrichtungen mit BesucherInnen mit Behinderung seltener (räumliche) Barrieren. Die Kausalitätsfrage ist hierbei jedoch nicht geklärt; die Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass Barrierefreiheit eine Signalwirkung erfüllt. Voigts (2013) verweist vor allem auf den Austausch und Aufbau von Kooperationen mit Sonder- und Förderschulen sowie Elterninitiativen, um so den Zugang zu Jugendverbänden zu erleichtern. Auch Meyer (2016) kommt zu dem Schluss, dass die fehlende Nachfrage vonseiten der jungen Menschen mit Behinderung bzw. deren Angehörigen insbesondere durch eine stärkere Öffentlichkeitsarbeit
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und den Aufbau von Kooperationen und Vernetzungsstrukturen zu Elterninitiativen oder zu Schulen und Angeboten der Behindertenhilfe behoben werden kann. Daneben betont die Studie, ebenso wie Seckinger, die Bedeutung von hauptamtlichem Personal und Barrierefreiheit. Kieslinger/Meyer (2014) listen auf Basis der Erkenntnisse aus mehreren Modellvorhaben zu inklusiven Ferienfreizeiten und inklusiven Angeboten in Jugendeinrichtungen eine ganze Reihe an „Gelingensfaktoren“ auf: So spielen ausreichende und geeignete personelle Ressourcen eine wichtige Rolle. Des Weiteren ist die Kenntnis des jeweiligen Unterstützungsbedarfs unabdingbar; diese Informationen sollten über Eltern, Schulen und/oder Dienstleister der Behindertenhilfe eingeholt werden. Auch der Aufbau von Kooperationen und/oder multidisziplinärer Teams ist zu empfehlen. Nachhaltig wirken zudem vor allem regelmäßige Kontakte und längerfristige Aktionen. Zuletzt ist insbesondere der Einbezug und Einsatz von ehrenamtlich engagierten (jungen) Menschen vorteilhaft (vgl. hierzu insbesondere Meyer/Rahn 2017a, 2017b). Möglich sind dadurch der Aufbau von Assistenzpools, persönliche Unterstützerkreise oder Tandems. Ehrenamtliche ermöglichen aber nicht nur eine engmaschigere Betreuung, sie fördern vor allem Peer-Beziehungen zwischen jungen Menschen mit und ohne Behinderung. Hierbei besteht aber eine unbedingte Notwendigkeit zur Qualifizierung, Vorbereitung und Sensibilisierung. Die Sichtung dieser Studien verdeutlicht insgesamt, dass keineswegs von einer flächendeckenden Teilnahme von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung gesprochen werden kann. Im Gegenteil: Kinder und Jugendliche mit Behinderung „verbringen nach wie vor ihre Freizeit entweder im elterlichen Zuhause oder in einer Einrichtung der ‚offenen Behindertenhilfe‘ für Freizeit- und Bildungsangebote“ (vgl. Voigts 2013, S. 254). Grund dafür sind jedoch nicht nur strukturelle Defizite oder eine fehlende Bereitschaft vonseiten der Einrichtungen und Organisationen der Kinder- und Jugendarbeit, sondern insbesondere auch die Lebenssituation von Familien mit behinderten Kindern, die häufig geprägt ist durch zeitliche, sozialräumliche und finanzielle Einschränkungen (vgl. dazu Beck 2013). Hinzu kommt die historisch gewachsene „Zuständigkeit“ der Behindertenhilfe und damit einhergehender „Ausgliederung“ von jungen Menschen mit Behinderung in „Spezialangebote“ sowie insbesondere fehlendes Wissen über andere Freizeitmöglichkeiten. Die im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung verschiedener Modellvorhaben von Kieslinger/Meyer (2014) durchgeführte Elternbefragung bestätigt diesen „Mangel“ an Wissen: So fühlen sich die befragten Eltern von Kindern mit Behinderung „hinsichtlich der Möglichkeiten inklusiver Angebote aber auch bezüglich spezieller Freizeitaktivitäten für Kinder
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und Jugendliche mit Behinderung zu wenig informiert“ (ebd., S. 157). Weiterhin ergeben sich aus den Ergebnissen unter anderem die Notwendigkeit einer Kooperation zwischen Jugend- und Behindertenhilfe und vor allem ein Bedarf an Ansprechpersonen für die konkrete Umsetzung solcher Angebote (ebd., S. 163). Unabhängig davon ist die Kinder- und Jugendarbeit aufgefordert, Inklusion in einem umfassenderen Verständnis anzugehen. Es darf nicht nur um einen Einbezug in einmalig oder sporadisch stattfindende Angebote, wie etwa Ferienfreizeiten oder spezielle „Nischenangebote“, gehen. Die Orientierung an solchen speziellen (Gruppen-)Angebote oder temporären Events widerspricht der Grundidee von Inklusion, weil streng genommen der Charakter der „Besonderung“ aufrechterhalten bleibt. Der offene Zugang zu allen Angeboten und Leistungen sollte das Ziel einer inklusiven Öffnung sein, weil sporadische Aktionen mit Eventcharakter nur wenig Alltags- und Sozialraumbezug haben. Aus diesem Grunde wurden die im Rahmen der von Meyer/Kieslinger (2014) und Meyer (2016) gewonnenen Erkenntnisse zu handlungsleitenden Konzeptionen weiterentwickelt, die es interessierten Organisationen der Kinder- und Jugendarbeit ermöglichen sollen, einen inklusiven Organisationsentwicklungsprozess anzustoßen. Die daraus entwickelten Instrumente und Handlungsempfehlungen werden im nachfolgenden Abschn. 4 ausführlich vorgestellt.
4 Inklusion als Teil von Konzeptions- und Organisationsentwicklung: Herausforderungen und Chancen einer inklusiven Kinder- und Jugendarbeit Als Beispiel dafür, wie das Gestaltungsprinzip Inklusion als Teil eines (umfassenden) Konzeptions- und/oder Organisationsentwicklungsprozess fungieren kann, werden zwei Modelle vorgestellt: Der „Index für die Jugendarbeit zur Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung“ (Meyer/ Kieslinger 2014) und die „Expertise Inklusion“ (Meyer 2016). Sowohl die Entwicklung des „Index für die Jugendarbeit“ als auch die „Expertise Inklusion“ gehen auf die politische Initiative des damaligen Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familien, Frauen und Senioren des Landes Baden-Württemberg (heute: Ministerium für Soziales und Integration) zurück. So wurde in Baden-Württemberg in den Jahren 2013 und 2014 zunächst im Rahmen der „Inklusionsoffensive für die Jugendarbeit“ die Entwicklung einer Internetplattform (www.inklumat.de) zur Sensibilisierung, Informationsvermittlung und als
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Umsetzungshilfe für Akteure aus dem Bereich der Kinder- und Jugendarbeit gefördert. Im Rahmen dieses Vorhabens entstand ein bundesweit bisher einzigartiges Tool, das sowohl als Instrumentarium zur Selbstevaluation als auch als Praxishilfe zur Umsetzung eines inklusiven Organisationsentwicklungsprozesses dient: der „Index für die Jugendarbeit zur Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung“ (Meyer/Kieslinger 2014). Um die Umsetzung von Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit sowie der Jugendsozialarbeit in ganz B aden-Württemberg zu untersuchen, wurde schließlich im Rahmen des „Zukunftsplan Jugend“ im Jahr 2015 noch eine Expertise vom badenwürttembergischen Sozialministerium in Auftrag gegeben. Ziel war es, den Stand der Umsetzung einer inklusiven Öffnung in der Kinder- und Jugendarbeit/ Jugendsozialarbeit sowie die Nutzung der Angebote durch junge Menschen mit Behinderung quantitativ zu dokumentieren (Meyer 2016). Die Ergebnisse flossen schließlich in ein weiteres Förderprogramm ein, in dessen Rahmen im Jahr 2016 knapp 30 Praxisprojekte finanziell gefördert und wissenschaftlich evaluiert wurden (Meyer/Rahn 2017a, 2017b). Daneben wurde in den Folgejahren auch ein Fortbildungsprogramm zum/zur „InklusionsprozessbegleiterIn“ für hauptund ehrenamtliche Kräfte in der Kinder- und Jugendarbeit vonseiten des Sozialministeriums in B aden-Württemberg gefördert. Im Folgenden werden sowohl der „Index für die Jugendarbeit zur Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung“ als auch die Ergebnisse der „Expertise Inklusion“ ausführlich dargestellt. Da die Themen Bewusstseinsbildung, Sensibilisierung und soziale Lernprozesse (inklusive Kulturen) eine besondere Bedeutung für eine inklusive Jugendarbeit haben, runden entsprechende Empfehlungen die Darstellungen ab.
4.1 Der Index für die Jugendarbeit zur Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung als konkrete Umsetzungshilfe Während sich die Ergebnisse der „Expertise Inklusion“ umfassend auf die strategische Ausrichtung einer Organisation oder sogar von ganzen Dachorganisationen bezieht, fokussiert der 2014 entwickelte „Index für die Jugendarbeit zur Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung“ (vgl. Meyer/Kieslinger, 2014) auf die unmittelbare Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung vor Ort bzw. in den jeweiligen (Einzel-) Einrichtungen. Der „Index für die Jugendarbeit zur Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung“ ist auf Basis der Ergebnisse eines kooperativen Praxisforschungsprojekts, an dem mehrere Modelleinrichtungen beteiligt waren, entstanden.
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Gemeinsam mit dem Kreisjugendring Rems Murr e. V. und dem Kreisjugendring Esslingen e. V. sollte im Rahmen einer Projektförderung durch das Sozialministerium Baden-Württemberg eine möglichst praxisnahe Arbeitshilfe zur Planung, Gestaltung und Umsetzung von inklusiven Bemühungen in der Kinder- und Jugendarbeit entwickelt werden. Auslöser für die Entwicklung dieses Instruments waren zum einen die Ratifizierung der UN-BRK, andererseits aber auch der in der Praxis erkennbare Bedarf nach Informationen, Praxishilfen und Instrumenten zur Umsetzung von Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in der Kinder- und Jugendarbeit. Die Idee, einen Index für den Bereich Jugendarbeit zu entwickeln, wurde schließlich durch die bereits in Abschn. 2.3. genannten Arbeiten internationaler und nationaler AutorInnen zum Index für Inklusion in der Schule sowie in Kindertagesstätten inspiriert. Generell ist der Index für Inklusion gleichzeitig ein Orientierungsleitfaden als auch Instrument zur Selbstevaluation bei der Umsetzung von Inklusion. Der zentrale Grundaufbau des Index ist die zugrunde liegende Unterteilung in „inklusive Strukturen“, „inklusive Praktiken“ und „inklusive Kulturen“. Wie in jedem Index für Inklusion werden daher auch für die Kinder- und Jugendarbeit drei verschiedene Ebenen unterschieden, anhand derer sowohl eine Reflexion des eigenen Handelns erfolgen kann als auch die Umsetzung inklusiver Angebote konkret geplant werden können. Wichtig ist jedoch, dass alle drei Ebenen relevant sind: Zur Umsetzung von Inklusion müssen im Grunde alle drei Ebenen gleichzeitig angegangen bzw. miteinander interagierend betrachtet werden (ausführlich dazu Meyer/Kieslinger 2014, S. 35 ff.). Im Folgenden werden die drei Ebenen skizzenhaft dargestellt.
4.1.1 Inklusive Kulturen schaffen: inklusives Denken in Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit etablieren Als erstes geht es darum, dass Organisationen und Einrichtungen sich mithilfe der Indikatoren kritisch mit der jeweiligen Einrichtungs- bzw. Organisationskultur beschäftigen, etwa im Hinblick auf Offenheit, Akzeptanz von Vielfalt, Respekt und Willkommenskultur. Inklusive Kulturen zu schaffen bedeutet aber nicht nur Selbstreflexion, sondern vor allem auch, einen Bildungsauftrag wahrzunehmen. Um bei den MitarbeiterInnen, BesucherInnen und im sozialräumlichen Umfeld der Einrichtung bzw. des Angebots eine inklusive Haltung zu etablieren, müssen sowohl Begegnungsmöglichkeiten zwischen Menschen mit und ohne Behinderung geschaffen als auch Bewusstseinsbildung betrieben werden. Da jedoch der alleinige Kontakt oftmals nicht ausreicht, ist es eine wichtige Aufgabe
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einer inklusiven Kinder- und Jugendarbeit, sich mit der Gestaltung von Kontaktsituationen, mit Gruppenprozessen, mit dem Umgang mit Diskriminierung sowie mit Methoden der Sensibilisierung zu befassen. Diese Aktivitäten müssen sich dabei auf alle relevanten Personengruppen einer Einrichtung (z. B. auch auf ehrenamtliche MitarbeiterInnen) beziehen, genauso sind aber auch Sensibilisierungs- und Bewusstseinsbildungsaktivitäten denkbar, die sich „nach außen“ richten. Hierzu konnten im Rahmen der Erstellung des Inklusionsindex für die Jugendarbeit durchaus spannende, erfolgreiche und gleichermaßen auch witzige Methoden gesammelt werden, etwa Inklusionsforen (Zielgruppe: Alle Akteure eines Sozialraums), Plakataktionen im Stadtteil, oder theater- bzw. kulturpädagogische Aktionen in der Öffentlichkeit.
4.1.2 Inklusive Strukturen/Leitlinien etablieren: Barrierefreiheit und Gestaltung/Anpassung von Angeboten in Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit Bei der Etablierung inklusiver Strukturen stehen die Punkte Angebotsplanung und Barrierefreiheit im Mittelpunkt. Im Kontext der Planung inklusiver Angebote gilt es, die gegebene Heterogenität der MitarbeiterInnen und TeilnehmerInnen zu berücksichtigen und stets auch individuelle Partizipationsmöglichkeiten zu gewährleisten. Des Weiteren müssen etwaige Unterstützungsbedarfe mitbedacht sowie räumliche, soziale, aufgabenbezogene und sprachliche Teilnahmebarrieren identifiziert und abgebaut werden. Bei der Identifikation und dem Abbau von Barrieren ist es wiederum sinnvoll, möglichst viele Kinder und Jugendliche mit und ohne Beeinträchtigung zu beteiligen, weil so auch die Sensibilität gegenüber Barrieren steigt. Dies kann auch als konkrete Aktion, z. B. als Einrichtungs- oder Stadtteilbegehung, Hindernisparcours, oder als eine erlebnispädagogische Stadtteilrallye mit Rollstühlen durchgeführt werden. Wichtig ist, dass Mitarbeitende sowie Kinder und Jugendliche ein gemeinsames Bewusstsein im Umgang mit Barrieren entwickeln.
4.1.3 Inklusive Praktiken entwickeln: Passgenaue Angebote kreieren, Unterstützung organisieren, aufbauen und sichern Die dritte Dimension der inklusiven Praxis fokussiert auf die konkreten Durchführungsbedingungen und auf die Gestaltung von Angeboten. Dabei geht es insbesondere darum, die Angebote so zu gestalten, dass jede teilnehmende Person zu jeder Zeit beteiligt ist und nicht aufgrund Art, Inhalt oder Aufgabenschwierigkeit ausgegrenzt wird. Manche Angebote müssen ggf. angepasst oder
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sogar modifiziert werden. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Sicherung der Unterstützung, etwa durch informelle Assistenz oder Kooperationen mit entsprechenden Diensten (etwa aus der Behindertenhilfe). Eine inklusive Praxis bedarf daher immer auch der Identifizierung und Nutzung von Ressourcen, um die benötigten Unterstützungsbedarfe abzudecken. Möglich ist es auch, diese Unterstützung aus der Besucherschaft heraus zu aktivieren, etwa indem sogenannte Unterstützerkreise gebildet oder (ehrenamtliche) AssistentInnen-Pools aufgebaut werden. Allerdings müssen sich in jedem Fall alle Unterstützungskräfte und alle KooperationspartnerInnen auf inklusive Leitprinzipien und Ziele verpflichten und dem Aufbau von „Sonderwegen“ entgegenwirken. Die folgende Abb. 3 zeigt nochmals die relevanten Ebenen des Index für Inklusion mit den zentralen Leitindikatoren für die Kinder- und Jugendarbeit. Der komplette Index für Inklusion (Meyer/Kieslinger 2014) enthält über diese Leitindikatoren hinaus in jeder der drei Dimensionen noch etliche einzelne Indikatoren zur Selbstevaluation. Auf der Internetseite www.inklumat.de findet sich zudem ein Online-Fragebogen, der basierend auf den operationalisierten Indikatoren, für einen Selbsttest genutzt werden kann. Zusätzlich zu diesen Leitindikatoren beinhaltet der „Index für die Jugendarbeit“ eine Zusammenstellung an Umsetzungshilfen zur Gestaltung und Umsetzung inklusiver Öffnungsprozesse in Einrichtungen und Organisationen (vgl. ebd., S. 50 ff.). Dieser inklusive Organisationsentwicklungsprozess orientiert sich dabei an dem Prozessmodell des Index für Inklusion für die Schule
Abb. 3 Index für Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit – Leitindikatoren. (Eigene Darstellung)
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und für Kindertageseinrichtungen. Unterschieden werden dabei fünf Phasen: 1) „Mit den Indikatoren beginnen“, 2) „Die Einrichtungssituation beleuchten“, 3) „Einen inklusiven Plan entwerfen“, 4) „Den inklusiven Plan in die Praxis umsetzen“ sowie 5) „Den Index-Prozess evaluieren“. Das Prozessmodell ist aber zirkulär zu verstehen, sodass auf unterschiedlichen Ebenen angesetzt werden kann. Generell muss die Umsetzung von Inklusion stets als dynamischer Prozess begriffen werden, den es facettenreich in sämtlichen Bereichen einer Organisation umzusetzen und zu unterstützen gilt. Modelle, die sich an diesem Prozesscharakter orientieren, sind daher kurzfristigen Lösungen zu bevorzugen. Abschließend muss betont werden, dass der Index für die Jugendarbeit als praxisnahes und gut handhabbares Instrument entwickelt werden sollte, um Einrichtungen und Organisationen der Kinder- und Jugendarbeit einen schnellen Einstieg in die Thematik zu ermöglichen. Aus diesem Grunde handelt es sich hierbei eher um eine im Vergleich zu den hochkomplexen Instrumenten für Schulen, Kindertagesstätten oder Kommunen „verkürzte Version“. Der „Index für die Jugendarbeit“ beinhaltet daher neben einem Indikatorenkatalog auch verschiedene praktische Umsetzungshilfen und Beispiele. Die im Jahr 2014 entwickelte Version des „Index für die Jugendarbeit“ stellt zudem eine (erste) Arbeitsversion dar. Es ist geplant, den Index für ein umfassenderes Verständnis von Inklusion weiterzuentwickeln, etwa auch im Hinblick auf andere Personengruppen.
4.2 Die „Expertise Inklusion“ – Kernergebnisse und Handlungsempfehlungen Die Expertise „Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Kinder- und Jugendarbeit sowie der Jugendsozialarbeit in Baden-Württemberg“ (Meyer 2016) kann quasi als Fortsetzung der „Inklusionsoffensive für die Jugendarbeit“, in deren Rahmen der oben beschriebene Index für die Jugendarbeit entstanden ist, gesehen werden. Gefördert wurde diese Expertise aus Mitteln des Zukunftsplan Jugend (Sozialministerium Baden-Württemberg). Ziel der Expertise war es, den Stand der Umsetzung von Inklusion sowie die bisherigen Erfahrungen mit inklusiven Angeboten in der Kinder- und Jugendarbeit sowie der Jugendsozialarbeit in Baden-Württemberg zu untersuchen. Mithilfe eines O nline-Fragebogens, der im Jahr 2015 über alle relevanten Dachorganisationen und -verbände in Baden-Württemberg beworben und verteilt wurde, konnten insgesamt 570 verwertbare Fragebögen in die Analyse einbezogen werden. Im Anschluss an die Befragung wurden noch 45 vertiefende telefonische Interviews sowie drei
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Fallstudien in ausgewählten Einrichtungen durchgeführt. Die Ergebnisse der Befragungen wurden bereits oben dargestellt, sodass sich dieses Kapitel auf die zentralen Schlussfolgerungen sowie auf die Handlungsempfehlungen der Expertise konzentriert. Auf Basis der Erkenntnisse der Befragungen wurde in der Expertise zur Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in der Kinder- und Jugendarbeit sowie Jugendsozialarbeit ein Modell entwickelt, welches unterschiedliche Prioritäten zur Umsetzung von Inklusion in Form von vier zentralen Bausteinen ausweist. Wichtig ist, dass diese Prioritäten miteinander in Verbindung stehen, sodass Verbesserungen auf der einen Ebene immer auch Verbesserungen auf einer anderen Ebene nach sich ziehen. Empfohlen wird jedoch zunächst ein Tätigwerden auf der ersten Ebene, es ist aber auch denkbar, mit den anderen Prioritäten zu beginnen (vgl. dazu ausführlich Meyer 2016, S. 117–130). Folgende Handlungsebenen können dabei unterschieden werden:
4.2.1 Priorität I: Strategische Ausrichtung und Öffentlichkeitsarbeit Einer der wichtigsten Erkenntnisse der Expertise war, dass bei denjenigen Organisationen, die keine NutzerInnen mit Behinderung haben, die fehlende Nachfrage als Grund für die Nicht-Teilnahme von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung angegeben wurde. Demnach besteht das Problem weniger in einer mangelnden Öffnungsbereitschaft oder vorhandenen Barrieren in den befragten Organisationen und Einrichtungen, sondern schlicht und einfach darin, dass keine Kinder und Jugendlichen mit Behinderung die Angebote nutzen. Aus dieser fehlenden Nachfrage resultiert entsprechend, dass weder ein Bedarf an inklusiver Konzeptentwicklung, noch die Notwendigkeit, Inklusion proaktiv voranzutreiben und entsprechende Angebote zu entwickeln, gesehen wird. Aber auch bei denjenigen Einrichtungen, die NutzerInnen mit Behinderung haben, lässt sich eher ein „Reagieren“ als ein „Agieren“ beobachten. Die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung geht den Befragungsergebnissen zufolge überwiegend auf die Initiative dieser Kinder oder ihrer Eltern sowie aufgrund von Anfragen von Einrichtungen der Behindertenhilfe bzw. von Sonder- bzw. Förderschulen zurück. Um einen umfassenden Öffnungsprozess einzuleiten, ist es daher wichtig, die Öffentlichkeitsarbeit zu intensivieren, Kontakte zu Diensten der Behindertenhilfe, Schulen und ggf. Elterninitiativen aufzubauen und AnsprechpartnerInnen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung sowie für deren Eltern vorzuhalten. Eine besondere Bedeutung hat dabei die Elternarbeit, die im Feld der Kinder- und Jugendarbeit normalerweise eher unüblich ist.
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4.2.2 Priorität II: Zuständigkeitsklärung und fachliches Selbstverständnis Die Befragungsergebnisse deuten weiterhin darauf hin, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung von der Kinder- und Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit häufig gar nicht oder noch nicht als relevante Zielgruppe wahrgenommen werden. Hintergrund ist sicher auch das bereits bestehende, oftmals im Feld der Eingliederungshilfe verortete, Angebotsspektrum. Unabhängig davon, scheinen insgesamt eine gewisse Zurückhaltung sowie eine eher skeptische Haltung im Hinblick auf eine inklusive Ausrichtung der Kinder- und Jugendarbeit zu bestehen. Aus diesem Grund sollten – parallel oder ergänzend zu Priorität I – eine organisations-, einrichtungs- und teaminterne Klärung des fachlichen Selbstverständnisses und der Zuständigkeit erfolgen. Die Forderungen der UN-BRK, die Arbeit mit dem Index für die Jugendarbeit sowie die Klärung eines angemessenen Inklusionsverständnisses sind hier wichtige Anregungen. Erst darauf aufbauend können geeignete Rahmenbedingungen für die Umsetzung von Inklusion (z. B. Öffnung der Angebote, Vernetzung mit Anbietern der Behindertenhilfe, Elternarbeit, usw.) geschaffen werden. Die Reflexion der eigenen Haltung sowie die Sensibilisierung der Mitarbeiter- und Besucherschaft sind hier zentrale und notwendige Schritte. Aus diesem Grunde bietet sich die Arbeit mit dem Index auch besonders in dieser Phase an.
4.2.3 Priorität III: Pädagogische Konzepte, Angebotsentwicklung Sind Priorität I und II angegangen worden, folgt als nächster Schritt die Entwicklung passender pädagogischer Konzepte sowie die Reflexion, Modifikation oder Weiter- bzw. Neuentwicklung bestehender Angebote und Projekte. Veränderungen, die sich aufgrund der Anstrengungen in Priorität I und II ergeben (z. B. eine steigende Nachfrage vonseiten der jungen Menschen mit Behinderung sowie organisationsinterne Reflexion), werden diese Entwicklung vorantreiben. Die häufig noch zu beobachtende zögerliche Praxis, die entweder eine Zuständigkeit für solche Kinder und Jugendliche im Sozialraum ignoriert, oder – wenn es zu einer Teilnahme von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung kommt – sich noch zur sehr auf spezielle „Nischenangebote“ und sporadische Veranstaltungen konzentriert, muss sich dann ändern und durch pädagogisch fundierte und „wirklich“ inklusiv ausgerichtete Angebote erweitert werden. Flankierend dazu ist es wichtig, sowohl Unterstützung zu sichern, als auch Gruppenprozesse moderierend zu steuern. Gemäß dem Anspruch einer inklusiven Kultur sind zudem Sensibilisierungs- und Bewusstseinsbildungsprozesse mit einzubeziehen, sodass auch in diesem Schritt die Arbeit mit dem Index sinnvoll und wichtig erscheint.
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4.2.4 Priorität IV: Organisations- und Teamentwicklung Alle drei bisher genannten Prioritäten kumulieren letztendlich in dem Erfordernis einer inklusiven Organisations- und Teamentwicklung, die gleichsam Folge als auch wiederum Voraussetzung für die anderen Prozesse (Prioritäten I-III) ist. Als Teil eines umfassend verstandenen Organisationsentwicklungsprozesses müssen die Kenntnisse zum Themenspektrum Inklusion und zu den Möglichkeiten einer inklusiven Kinder- und Jugendarbeit in den einzelnen Teams oder Organisationseinheiten erweitert werden. Hierzu bieten sich einerseits Fortund Weiterbildungsmaßnahmen an, andererseits ist aber auch eine Öffnung der Organisation gegenüber anderen Handlungsfeldern nötig (Schulen, Eingliederungshilfe, Elternvertretung), um bestehende Erfahrungen auszutauschen, Kooperationen anzuregen und intra- und interorganisationale Lernprozesse zu fördern. In der Kinder- und Jugendarbeit muss ein besonderes Augenmerk auch auf der Einbeziehung Ehrenamtlicher liegen, um diese für die Belange von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung zu sensibilisieren. Die „Krönung“ wäre zudem eine gezielte Beschäftigung von Mitarbeitenden mit Behinderung (z. B. als Hauptamtliche, FSJ, BufDi, Honorarkräfte), da dies entscheidend zur Sensibilisierung innerhalb und über die Organisation hinaus beiträgt. Die folgende Abb. 4 verdeutlicht die Interaktion zwischen den verschiedenen Ebenen:
4.3 Exkurs: Die besondere Bedeutung von Bewusstseinsbildung, Sensibilisierung und sozialer Integration in einem inklusiven Öffnungsprozess – Empfehlungen Inklusion bringt sowohl Herausforderungen als auch Chancen für die Kinderund Jugendarbeit mit sich. Herausforderungen ergeben sich dabei in Form einer generellen Öffnung der Organisationen, Einrichtungen, Angebote und Projekte, aufgrund der Sicherung von Unterstützungsbedarfen und Teilhabebzw. Partizipationsmöglichkeiten sowie einer Förderung der inklusiven Kultur. Insbesondere letzterer Punkt verweist auf entscheidende Chancen für die Kinder- und Jugendarbeit, weil sie sich hier als eigenständiger Bildungsakteur positionieren kann, der auf Basis non-formaler Bildungsangebote sowie informeller Bildungsprozesse zur Sensibilisierung, Bewusstseinsbildung und zu verschiedenen (sozialen) Lernprozessen beiträgt. Dies bietet gleichermaßen Chancen für Kinder und Jugendliche mit oder auch ohne Beeinträchtigung. So eröffnet die Kinder- und Jugendarbeit den jungen Menschen mit Behinderung
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Abb. 4 Herausforderungen und potenzielle Maßnahmen bei der Umsetzung von Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit sowie Jugendsozialarbeit. (Darstellung nach: Meyer 2016, S. 120)
weitreichende informelle Bildungsmöglichkeiten im Sozialraum, auf der anderen Seite können junge Menschen ohne Beeinträchtigung wichtige Lernerfahrungen im Umgang mit Beeinträchtigungen, Barrieren und Ausgrenzungsprozessen machen (vgl. Meyer 2014a, 2014b). Diese Möglichkeit zu Lernprozessen, Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung, die unter der Begrifflichkeit „inklusive Kulturen“ zusammengefasst werden können, hat in der Kinder- und Jugendarbeit aufgrund der zwanglosen Begegnung besonderes Gewicht. Begegnungen laufen aber nicht immer ohne Konflikte ab (z. B. mit „StammbesucherInnen“, Vereinsmitgliedern, usw.). Kontaktsituationen sollten daher gut geplant und begleitet werden. Aus diesem Grunde ist das Wissen über Gruppenprozesse ein unabdingbares Werkzeug bei der Umsetzung von Inklusion. Hierbei bieten sich Maßnahmen zur Sensibilisierung, Bewusstseinsbildung und ggf. Einstellungsänderung an. Dies gilt nicht nur im Falle von Menschen mit und ohne Behinderung, sondern ganz besonders auch für Situationen, in denen junge Menschen aus verschiedenen Milieus oder mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund aufeinandertreffen.
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Was die Planung, Gestaltung und Begleitung von Kontaktsituationen betrifft, so sind Erkenntnisse, die sich auf die sogenannte „Kontakthypothese“ stützen, hilfreich. Gordon W. Allport (1954/1971; vgl. ebenso Stürmer 2008) stellte bereits in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts eine, auf dieser Hypothese basierende, anerkannte Strategie zur Verringerung von Intergruppendiskriminierung vor. Allport ging davon aus, dass der persönliche Kontakt zwischen verschiedenen Gruppen zu einem Abbau von Vorurteilen und diskriminierenden Verhaltensweisen beiträgt. Zwar konnte diese Annahme immer wieder gestützt werden, es wurden aber auch Belege dafür gesammelt, dass der direkte Kontakt zwischen verschiedenen Gruppierungen auch zu einer Verstärkung von Vorurteilen und Diskriminierung führen kann. Aus diesem Grunde rückten vermehrt die Rahmenbedingungen der Kontaktsituation in den Blick. Hierbei zeigte sich, dass unter bestimmten Bedingungen die Kontaktsituationen keinen positiven Einfluss auf die Begegnungen haben, etwa, wenn der Kontakt nicht häufig genug ist und sich deswegen keine intensiveren Interaktionen oder Beziehungsgeflechte entwickeln können, wenn die Kontaktsituation als bedrohlich empfunden wird (z. B. in Wettbewerbssituationen), oder wenn die Kontaktsituation in einer unangenehmen Atmosphäre stattfindet (vgl. dazu ausführlich Kessler/Mummendey 2007; Stürmer 2008). Alles in allem müssen also spezifische Bedingungen beachtet werden, damit die Kontaktsituationen nachhaltig zu einer Verringerung von Vorurteilen und sozialer Diskriminierung beitragen können. Dazu zählen ein regelmäßiger und dauerhafter Kontakt, eine angenehme Atmosphäre, übergeordnete Ziele, das Vermeiden von Wettbewerbssituationen, ein möglichst gleicher Status aller Beteiligten und die Begleitung, Moderation und Unterstützung durch Fachkräfte. Zusätzlich können Strategien der Dekategorisierung, Rekategorisierung oder Kreuzkategorisierung dafür genutzt werden, das „Zwei-Gruppen-Denken“ in solchen Situationen zu reduzieren oder zu einer differenzierteren Wahrnehmung der Individualität aller Beteiligten beizutragen (vgl. Otten, Matschke 2008, Meyer 2013, S. 260 ff.). Besonders positiv wirken sich Aktivitäten aus, die auf gemeinsame Ziele, wechselseitige Kommunikation, möglichst neuartige Erfahrungen für alle Beteiligte, die Vermeidung eines Wettbewerbs oder Erfahrungsvorsprungs einer Gruppe sowie auf Ergebnisoffenheit setzen. (vgl. dazu Meyer 2013, S. 256 ff. sowie Meyer 2016, S. 61 ff.)
Beispiele aus der wissenschaftlichen Begleitung verschiedener Projekte zur Umsetzung von Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit können diese Wirkungen gut verdeutlichen: Im Rahmen der Beobachtung verschiedener Gruppenangebote mit gemischten Gruppen, bestehend aus Kindern mit und
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ohne Behinderung, zeigten, dass insbesondere Aktivitäten, die auf Gemeinschaftserleben, Ergebnisoffenheit, Kommunikation/Abstimmung, neuartige Erfahrungen, gemeinsame Ziele und künstlerisch-kreative Medien setzen, inklusive Prozesse stärker in Gang bringen, als Aktivitäten, die auf (Einzel-)Leistung, fehlende Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten oder eine wettbewerbsorientierte Logik fokussieren (vgl. Kieslinger/ Meyer 2014, S. 160 ff.). Besonders deutlich wurde dies in einem direkten Vergleich verschiedener Angebote: Während sich bei Angeboten, die nur wenig auf Kommunikation und Kooperation setzen (z. B. Einzelsportarten, Tanzgruppe), sowohl bei der Durchführung als auch nach Beendigung keine größeren Interaktionen zwischen den teilnehmenden Gruppen beobachten ließen, zeigte sich im Rahmen von Angeboten, die auf eine gemeinsame Zielerreichung und Kooperation setzten und in denen alle Beteiligten neue Erfahrungen machen konnten (z. B. Kreativangebote, ein Zirkusprojekt) ein vielfältigerer Austausch zwischen Kindern mit und ohne Behinderung. Die Befragung von Meyer (2016, S. 71) bestätigen diesen Befund: Auch dort werden künstlerisch-kreative Angebote am erfolgversprechendsten eingeschätzt, wenn es um inklusive Prozesse geht.
Zusätzlich bzw. ergänzend zur Gestaltung solcher Kontaktsituationen bieten sich Maßnahmen an, die auf die Entwicklung oder Veränderung bestimmter Einstellungen setzen. Einstellungen bestehen in der sozialpsychologischen Theorie aus drei verschiedenen Komponenten (vgl. Haddock/Maio 2007, S. 190 ff.): Eine kognitive, eine affektive und eine Verhaltenskomponente. Die kognitive Einstellungskomponente umfasst Gedanken und Überzeugungen gegenüber einer bestimmten Person oder Personengruppe, die affektive Komponente besteht aus den damit in Verbindung stehenden Gefühlen, und die Verhaltenskomponente stellt das konkrete Verhalten gegenüber der Person bzw. Personengruppe dar. Die moderne Einstellungsforschung verdeutlicht hierbei, dass sich bereits erworbene Einstellungen durch sachliche Appelle, die letztendlich nur den kognitiven „Kanal“ durchlaufen, nur schwer verändern lassen. Aus diesem Grunde müssen Maßnahmen zur Einstellungsänderung immer auch die anderen beiden „Kanäle“ adressieren, d. h. Gefühle erzeugen und zu einer Modifikation von Verhaltensweisen beitragen. Sozialpsychologische Experimente zeigen, dass sich z. B. aufgrund von Rollenspielen gute Erfolge erzielen lassen, wenn es um
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Einstellungsänderung geht (vgl. dazu beispielsweise den Aufsatz „Einstellungsänderung und Rollenspiel“ von Nuttin 1975). In einem Rollenspiel nehmen die Beteiligten eine andere Perspektive ein und es wird ihnen häufig bewusst, wie sich die nachgespielte Person bzw. Personengruppe fühlt, etwa aufgrund von Diskriminierungen. Aus diesem Grunde eignen sich Rollenspiele oder auch Sensibilisierungsmaßnahmen wie Simulationen hervorragend als Instrument zur Einstellungsänderung. An Beispielen aus der wissenschaftlichen Begleitung von verschiedenen Projekten zur Umsetzung von Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit (vgl. Meyer/Kieslinger 2014) kann die Wirkung solcher Sensibilisierungsmaßnahmen zur Bewusstseinsbildung für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung gut verdeutlicht werden: Der sogenannte „Rollstuhlparcours“ oder das „Dunkel-Restaurant“ sind oft genannte Beispiele für eine entsprechende Sensibilisierung. Im Rahmen solcher Aktionen setzen sich Menschen ohne Behinderung in einen Rollstuhl, oder nehmen sehende Menschen ihr Essen in einem völlig abgedunkelten Raum ein, um so die Herausforderungen eines Lebens mit Mobilitätseinschränkung oder als blinder Mensch selbst zu erleben. Erfahrungen mit solchen Aktionen zeigen hier verblüffende Wirkungen: In Interviews berichten die jungen Menschen dann davon, wie bewusst ihnen verschiedene Barrieren durch die Aktion geworden sind, die ihnen vorher nie auffielen. Zudem wird in solchen Simulationen deutlich, mit welcher außerordentlichen Kompetenz Menschen mit Behinderung ihren Alltag meistern müssen, was zu einer positiven Sichtweise diesen Menschen gegenüber beiträgt.
5 Zusammenfassung Ausgehend von den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention sowie einem sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Zugang zum Begriff Inklusion zeigen sich sowohl Herausforderungen als auch Chancen für die Kinder- und Jugendarbeit. Bei der Umsetzung der inklusiven Idee ist besonders wichtig, der Mehrdimensionalität einer inklusiven Öffnung stets gerecht zu werden. Zusammenfassend ergeben sich aus den Darstellungen einige wichtige
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Kriterien, die zur Reflexion, Einordnung und auch Bewertung der Praxis einer inklusiven Jugendarbeit genutzt werden können: 1. Inklusive Strukturen – Vorausschauender und grundsätzlicher Einbezug Aller: Inklusion bedeutet immer (bedingungslosen) Einbezug von Menschen mit Ausgrenzungserfahrung in die jeweils relevanten sozialen Systeme oder Zusammenhänge. Die Bereitschaft, diesen Einbezug zu ermöglichen, ist dabei eine entscheidende Variable, die es bei der Reflexion und Bewertung praktischen Handelns zu reflektieren gilt. Sind die betreffenden Angebote offen für alle? Konnten Zugangsbarrieren identifiziert, kritisch hinterfragt und ggf. abgebaut werden? Sind die Inhalte, Strukturen und Abläufe so gestaltet, dass sie der Vielfalt an relevanten Personengruppen und ggf. deren Unterstützungsbedarfen von vorneherein gerecht werden? Dies sind nur einige beispielhafte Fragen, die sich stellen. Insgesamt geht es also vor allem um das vorausschauende Antizipieren von möglichen Zugangs- und Beteiligungshindernissen; im Vordergrund sollte daher nicht das bloße „Reagieren“ auf potenzielle Anfragen stehen, sondern ein konzeptionelles „Agieren“. Kastl (2016) verweist hier auf die Notwendigkeit, dass die entsprechende Organisation „von vorne herein mit den jeweiligen Personen oder Personenkategorien ‚rechnet‘, auf sie prinzipiell eingerichtet und eingestellt ist“ (ebd. S. 228). 2. Inklusive Kulturen – Umfassende und nachhaltig wirkende Begegnungsmöglichkeiten, Interaktionen sowie soziale Lernprozesse: Inklusion ist die Voraussetzung für Integrationsprozesse, weswegen potenzielle Angebote immer auch die Möglichkeit zu (positiven) Begegnungen und Interaktionen beinhalten müssen. Angebote, die auf einen segregierenden Charakter, mithin auf eine Beibehaltung eines „Zwei-Gruppen-Denkens“, setzen, sind nicht als inklusive Angebote zu verstehen. Aus diesem Grunde können nur Angebote bzw. Strukturen als „wirklich“ inklusiv betrachtet werden, in denen sich die teilnehmenden Personengruppen mischen, begegnen und in Interaktion treten können. Dazu gehört letztendlich auch, dass die Aktivitäten regelmäßig und über einen längeren Zeitraum stattfinden, weil nur so ein nachhaltiger Integrationsprozess gesichert werden kann. Sporadische bzw. einmalige Aktionen erfüllen den Anspruch an soziale Integration in der Regel nicht, weil „außeralltägliche Gemeinschaftserfahrungen“ (Kastl 2016, S. 248) im Grunde keinen nachhaltigen Veränderungsprozess sicherstellen können. Zweitens kann es aber auch vorkommen, dass trotz inklusiver Ausrichtung Integrationsprozesse nicht wirklich funktionieren. Hier sind entsprechende Gruppenprozesse flankierend zu moderieren.
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3. Inklusive Praktiken – Umfassende Beteiligung und Teilhabe sowie Sicherung von Unterstützung: Wie gezeigt wurde, hängen inklusive Prozesse immer auch mit den Möglichkeiten umfassender Teilhabe bzw. Partizipation zusammen. Hierfür sind zwei Dinge zu beachten: Erstens ist es wichtig, die jeweils zu inkludierende Personengruppe nicht als „zusätzliche“ Kategorie zu betrachten, sondern von Vorneherein als Teil der Gesamtgruppe zu verstehen. Demnach sind alle Teilnehmenden mit den gleichen Entscheidungsbefugnissen, Mitbestimmungsrechten und ggf. Ressourcen auszustatten. Inklusion ist kein einseitiger Prozess eines schrittweisen „Hineinnehmens“ neuer Personengruppen, sondern von Anfang an auf die gleichen Verwirklichungschancen aller ausgerichtet. Zweitens benötigen Menschen mit Behinderungs- oder Ausgrenzungserfahrung eventuell Unterstützung bei der Wahrnehmung dieser Teilhabe- bzw. Partizipationsmöglichkeiten. Hier müssen entsprechende Unterstützungsstrukturen geschaffen werden, weil das Fehlen solcher Strukturen wiederum als zentrale Barriere verstanden werden kann.
6 Übungsfragen a) Wie würden Sie nach der Lektüre dieses Beitrags Inklusion definieren? Versuchen Sie dabei die verschiedenen Facetten des Inklusionsbegriffs in Anlehnung an die dargestellten Fachdisziplinen einzubeziehen. b) Welche drei Dimensionen beschreibt der „Index für Inklusion“ und warum ist es wichtig, alle drei Dimensionen als miteinander interagierend und zusammenhängend zu betrachten? c) Welche Erkenntnisse gibt es bislang zur Frage des Stellenwerts und zur Umsetzung von Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit? Was sind wesentliche Gemeinsamkeiten dieser Befunde? d) Es wurde die These formuliert, dass sich die Kinder- und Jugendarbeit hervorragend dafür eignet, inklusive Prozesse anzustoßen. Begründen Sie diese These und überlegen sich ggf. Beispiele dafür. e) Wie würden Sie Inklusion als Gestaltungsprinzip in einer Jugendorganisation oder -einrichtung verankern? Welche Eckpunkte gilt es bei der Initiierung und Umsetzung von inklusiven Organisationsentwicklungsprozessen zu beachten?
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T. Meyer
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Extremismus und Radikalisierung – Eine Herausforderung für die Kinderund Jugendarbeit Mathieu Coquelin und Jens Ostwaldt
Zusammenfassung
Der Umgang mit Jugendlichen, die sich von radikalen Gruppierungen und Ideologien angezogen fühlen, stellt pädagogische Fachkräfte vor große Herausforderungen. In diesem Kapitel wird argumentiert, dass Fachkräfte der Kinderund Jugendarbeit auf Grundlage ihres Theorie- und Praxiswissens bereits über die notwendigen Kompetenzen verfügen, diese jedoch durch spezifische Kenntnisse der Funktionsweisen einer Radikalisierung ergänzt werden müssen. Das Kapitel stellt ausgewählte Radikalisierungs- und Extremismusmodelle vor und diskutiert sie, um darauf aufbauend Theoriemodelle vorzustellen, die handlungsleitend für die pädagogische Praxis sein können. Diese Perspektive wird durch einen Einblick in extremistische Ideologien angereichert und vor dem Hintergrund der wechselseitigen Radikalisierung von Rechtsextremismus und religiös begründetem Extremismus anhand von Rekrutierungskampagnen diskutiert. Zudem werden Übungen vorgestellt, die exemplarisch für die Möglichkeit stehen, den Themenkomplex der Radikalisierung und die zugrunde liegenden Dynamiken in der pädagogischen Praxis zu adressieren.
M. Coquelin (*) Demokratiezentrum Baden-Württemberg, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Ostwaldt IUBH – Internationale Hochschule, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Meyer und R. Patjens (Hrsg.), Studienbuch Kinder- und Jugendarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24203-9_14
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1 Einleitung „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ – Nietzsche
Warum sich einem solchen Thema in der Kinder- und Jugendarbeit widmen? Nicht erst seit Trump, Putin und Erdogan, von Storch, Wilders und Le Pen reichen politische Diskussionen und die damit verbundenen Konflikte in dieses Arbeitsfeld hinein. Gerade die Erfolge rechtspopulistischer Parteien, die Erkenntnisse aus dem NSU-Prozess und die wachsende salafistische Szene erhöhten die Bereitschaft, sich mit diesem Thema auch in den Wirkungsbereichen der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen präventiv auseinanderzusetzen. Daher lohnt es sich im Kontext eines Studiums oder einer Ausbildung im Bereich Kinderund Jugendarbeit die wesentlichen und grundlegenden Debatten, Akteure und Akteurinnen und die damit verbundenen Begrifflichkeiten näher zu betrachten. Kern dieser Auseinandersetzung stellt zunächst eine Klärung der wesentlichen Termini, die wie in kaum einem anderen Thema – vor allem medial – omnipräsent scheinen und doch selten eine nähere Definition erfahren. Ziel dieses Kapitels ist es, in die grundlegenden Schwierigkeiten der verschiedenen Begrifflichkeiten einzuführen. An Hand ausgewählter Modelle werden wesentliche wissenschaftliche Diskurse gestreift. Den Fachkräften werden hierbei abschließend praxisrelevante Theoreme skizziert mit der Absicht, ihre Handlungsfähigkeit in den eigenen Kontexten zu stärken.
2 Extremismus – Definition und Modelle „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ – Sokrates
Ein wesentliches und kaum zu vermeidendes Dilemma rund um den Extremismusbegriff ist die Tatsache, dass sich wohl weder Hitler, Mussolini noch andere Diktatoren diesen Begriff selbst an ihr Revers geheftet hätten. Ebenso wenig würden sich aktuelle Vertreter und Vertreterinnen extremer Gruppierungen als solche bezeichnen. Wahrscheinlicher wären vielmehr Selbstbeschreibungen als patriotisch, national oder freiheitskämpferisch (Jaschke 2006, S. 16). Der Extremismusbegriff ist somit immer auch politischer Kampfbegriff im pejorativen Sinn, der zur Ausgrenzung jeweilig Andersdenkender dienlich sein soll. Es handelt sich in logischer Konsequenz immer auch um einen
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Abgrenzungsbegriff, so „dass Extremismus nicht allein für sich, sondern in Abhängigkeit von einem anderen Terminus oder Wert definiert werden muss.“ (Pfahl-Traughber 2014, S. 15). Folgt man der Aussage von Pfahl-Traughber, so kann eine politische Position somit sowohl in Abhängigkeit zu der jeweils eigenen, als auch in Bezug zu einem generellen Wertesystem als extrem bewertet werden. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass sich keine Institution finden lässt, welche mit absolutem Anspruch, eine für alle in diesem Themenfeld aktiven Professionen gültige Gemarkungslinie definieren kann. Für Sicherheitsbehörden wie beispielsweise das Bundesamt für Verfassungsschutz sind hierbei vor allem Bestrebungen, welche sich explizit gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richten handlungs- und definitionsleitend.1 Diese Art der Definition wird als Negativdefinition bezeichnet, da der Begriff selbst nicht aktiv bewertet wird, sondern aus der „fundamentale[n] Gegnerschaft zur Demokratie, konkret zu den wesentlichen Ideen des demokratischen Verfassungsstaats.“ (Kailitz 2004, S. 15). Innerhalb der Sozialwissenschaften wird besonders das zu Grunde legen eines generellen Wertesystems als Referenzrahmen mit einer Mitte und extremen Rändern kritisch diskutiert – wie es sich vor allem durch den Bezug auf die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) die unterschiedlichen verfassungsschützenden Institutionen zu eigen machten. Hervorzuheben sind für diesen Rahmen hierbei drei wesentliche Streitpunkte: • Die Konstruktion einer bipolaren Gesellschaftsordnung mit einer Einteilung von links nach rechts und den Extremen an den Rändern, kann in der Konsequenz die postulierte Mitte qua Definition aus dem Blick verlieren. (Jaschke 2006; Backes und Jesse 2005)
1Das
Bundesverfassungsgericht hat im Urteil des Verbotsprozesses gegen die rechtsextremistische „Sozialistische Reichspartei“ (SRP) vom 23. Oktober 1952 die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) als eine Ordnung definiert, „die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“ (BVerfGE 2, 12).
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• Die Verwendung eines Kontinuums besonders in der Darstellung des Hufeisens – wie später näher erläutert – kann eine inhaltliche Gleichsetzung der Phänomenbereiche nach sich ziehen. (Butterwege und Meier 2002, S. 106– 109) • Welcher Institution steht im Sinne einer Positiv-Definition die Autorität zu, den zu bewahrenden Status-quo fortzuschreiben, bzw. festzulegen? (Jaschke 2006, S. 18–19) Gerade für die Rechtsextremismusforschung haben sich hier Schwerpunkte auf die Fokussierung von Ideologien der Ungleichheiten/Ungleichwertigkeiten oder bestimmten gruppenbezogenen Abwertungen, die in spezifischer Korrelation als Marker für ein rechtsextremes Weltbild dienen, etabliert. Dabei werden die Wechselwirkungen zur gesellschaftlichen Mitte stärker in Augenschein genommen (Salzbron 2015; Decker et al. 2016). Hervorzuheben ist in diesem Forschungsansatz ebenfalls die Unterscheidung in der Auseinandersetzung mit Einstellungen auf der einen Seite und dem Verhalten auf der anderen. Dies besonders aus dem Grund, da für pädagogische Fachkräfte in präventiven Ansätzen, nicht erst die Wahl rechtsextremer Parteien, das Engagement in einer salafistischen Gruppierung oder die rassistisch motivierte Gewalttat Ausgangspunkt für ein Handeln sein darf, sondern abwertende Einstellungen, welche dieses Verhalten erst begünstigen (Neumann 2013; Möller und Schuhmacher 2015). Aus dieser Bredouille wird auch dieser Text nicht führen. Er verfolgt lediglich das Ziel, einen Einblick in ausgewählte und im Diskurs relevante Modelle und Erklärungsansätze zu geben. Die jeweiligen Vorzüge und Nachteile selbstständig herauszuarbeiten sind Teil der Reflexionsaufgaben.
2.1 Hufeisenmodell Das in deutschsprachigen Diskursen bekannteste und zugleich kontrovers diskutierte Extremismusmodell geht auf Backes (1989) zurück und fußt ebenfalls auf einer Links-Mitte-Rechts Betrachtung der politischen Orientierungen. Backes belässt hierbei allerdings die Achse nicht in der waagrechten, sondern krümmt die politischen Ränder, sodass sich die, dem Modell den Namen gebende, Form eines Hufeisens ergibt. Im Zentrum steht hierbei ebenfalls die Visualisierung der generellen bipolaren Ordnung nachdem sich Extremismus in fundamentaler Opposition zur Grundverfasstheit der Demokratie befindet. Eben jene Grundverfasstheit definiert Backes allerdings nicht selbst, sondern verweist auf die Idee der freiheitlich demokratischen Grundordnung (fdGO),
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Abb. 1 Das Hufeisenmodell. (Eigene Darstellung nach Backes 1989)
wie sie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil im Verbotsprozess der ‚Sozialistischen Reichspartei‘ 1952 postulierte. (Salzborn 2015, S. 98–99). Demnach sind wesentliche Pfeiler: • Achtung vor den in der Verfassung (GG) konkretisierten Menschenrechten, hierbei insbesondere: das Recht auf Leben und der freien Entfaltung. • Volkssouveränität, • Gewaltenteilung, • Verantwortlichkeit der Regierung, • Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, • Unabhängigkeit Gerichte, • Mehrparteienprinzip, • Recht auf Bildung und Ausübung Opposition. (Jaschke 2006, S. 20; Abb. 1) Das Modell wird bereits in der grafischen Umsetzung unterschiedlich rezipiert. So gibt es Varianten, die, ähnlich der Abb. 1, sich zugeneigte Enden verwenden, deren Vertreterinnen und Vertreter die Wechselwirkung zwischen den Extremen politischen Positionen hervorzuheben suchen. Eine alternative Spielart stellt die extremen Ränder in parallellaufenden Linien dar. So banal dies an dieser Stelle erscheinen mag, so ergeben sich doch bereits durch die unterschiedlichen
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Darstellungen und den damit verbundenen Interpretationen die Gründe, weshalb dieses Modell sehr umstritten ist. Wesentliche Streitpunkte sind hierbei: • Die Unterkomplexität des Modells vernachlässigt die Wechselwirkungen zwischen extremen Positionen an den politischen Rändern und der konstruierten gesellschaftlichen Mitte (Pfahl-Traughber 1992). • Dabei spielt darüber hinaus eine tragende Rolle, dass gerade bei der Variante mit den sich zugeneigten und sich fast berührenden Rändern, eine potenzielle Gleichsetzung der politischen Positionen schwer vermeidbar scheint. Dies vor allem dann, wenn der wissenschaftliche Diskurs, der um trennscharfe Begriffe bemüht ist, und der öffentliche sich vermengen (Wippermann 2000). • Inwieweit der aktuell immer relevanter werdende religiös begründete Extremismus in dieses Modell inkludieren werden kann (Kailitz 2004). • Die klare Zuordnung politischer Positionen durch das Verschieben klassischer linker Positionen wie Umwelt- und Tierschutz, kapitalismus- und globalisierungskritische Narrative quer über alle politischen Lager und deren jeweilige Attraktivität besonders für Jugendliche (Salzborn 2015, S. 118). • Eine fehlende Berücksichtigung hinsichtlich einer Unterscheidung zwischen der Ebene des Verhaltens und der Einstellungen (Kailitz 2004, 25–26). • Eine fehlende Dynamik auf Grundlage der statischen Redundanz auf die bundesdeutsche Verfasstheit (fdGO).
2.2 Extremismus der Mitte Seymour M. Lipset, einer der einflussreichsten und produktivsten politischen Soziologen seiner Zeit, erweiterte die ebenfalls vorherrschende Betrachtung einer politisch bipolaren Betrachtung der Extremen um eine weitere Kategorie. In seinem Werk „Political Man“ aus dem Jahr 1960 unternahm er den Versuch die Demokratie als politisches System zu ergründen. Wesentliche Ansatzpunkte waren hierbei für ihn die unterschiedlichen Formen politischer Konflikte innerhalb der Vereinigten Staaten, das Aufkommen antidemokratischer Tendenzen und dies alles verbunden mit einer Analyse für die Ursachen politischer Partizipation (Hartleb 2007). Ein Ergebnis seines Werks war die Ausdifferenzierung des bis dahin unterkomplexen Extremismusbegriffs. Er beschreibt im Kern drei wesentliche Kategorien, die auf der Grundlage einer Einordnung der politischen Ziele zunächst ebenfalls auf einer Links-Rechts-Achse rekurrieren, erweitert diese kategoriale Ebene der politischen Zuordnung dann allerdings um eine differenzierte
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Abb. 2 Extremismus der Mitte. (Eigene Darstellung nach Lipset 1981)
Charakteristik der jeweils zu Grunde gelegten Weltanschauung (vgl. Abb. 2). Hierbei unterscheidet er in demokratische/moderate und antidemokratisch/ extremistische Einstellungsmerkmale. Zentrale Aspekte hierbei sind die Wertung nach Pluralismus und Monismus. „[…] [W]obei eine antiplurale und monistische Weltanschauung als Kennzeichen von Extremismus interpretiert wird.“ (Salzborn 2015, S. 109). Der damit von ihm geprägte Begriff des „extremism of the center“ (Lipset 1981) verweist damit in seiner Dynamik gegenüber eher statischen Extremismusbegriffen auf „antipluralistische[n] und gegenaufklärerische[n] Bestrebungen aus der Mitte der Gesellschaft“ (Salzborn 2015, 109) und verhindert deren Verklärung im normativen Sinn (Abb. 2). „A study of the social bases of different modern mass movements suggests that each major social stratum has both democratic and extremist political expressions.“ (Lipset 1981, 127)
Nach seiner Auffassung begründen sich sozialpolitische Orientierungen an verärgerten, desintegrierten, orientierungslosen, ungebildeten und differenzierungsunfähigen „und damit letztlich autoritären Personen auf jedem Level der Gesellschaft“ (Salzborn 2015, S. 109). Das in besonderem Maße für die Rechtsextremismusforschung fruchtbare an seinem Ansatz sind die Bezüge extremer Strömungen zu demokratischen Bewegungen. Damit verdeutlicht er, dass es keine starren und undurchlässigen Grenzen zwischen Demokratie und Extremismus
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gibt und nimmt die bisher normativ aus dem Fokus geratene Mitte mit in den Blick und damit auch in die Verantwortung. „The different extremist groups have ideologies which correspond to those of their democratic counterparts.“ (Lipset 1981, 129)
Gerade die benannten auslösenden Faktoren: Verärgerung, Orientierungslosigkeit, Desintegration, Bildungsdefizite und Differenzierungsunfähigkeit (auch Ambiguitätsintoleranz) sind nicht nur Teil des Konzepts der Autoritären Persönlichkeit nach Adorno, sondern werden nach wie vor in aktuellen Diskursen rezipiert und im nachfolgenden Kapitel zu Radikalisierung vertiefend besprochen (Heitmeyer 1997; Adorno 1973; Kraushaar 1994).
2.3 Zwischenfazit „Wer es unternimmt, auf dem Gebiet der Wahrheit und der Erkenntnis als Autorität aufzutreten, scheitert am Gelächter der Götter.“ – Einstein
Die bis hier skizzierten Modelle haben unterschiedliche Vor- und Nachteile. Die damit verbundenen Diskurse sind zumeist abhängig von der fachlichen Perspektive und dem Anspruch, etwas nur zu beschreiben oder Selbiges auch mit perspektivischen Aussagen erklären zu können. So erscheint es ja nur logisch, dass für die Soziale Arbeit eine rein politikwissenschaftliche Perspektive ebenso wenig fruchtbar ist, wie es eine rein historische für die Soziologie sein mag. Dennoch ergeben sich aus der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Betrachtungswinkeln eine wesentliche Erkenntnis: im Kontext des Versuchs ‚den‘ Extremismus definitorisch zu fassen, wird es nach wie vor berechtigt nebeneinanderstehende Entwürfe geben, die es den eigenen praktischen Relevanzen anzupassen gilt. Wesentlich ist darüber hinaus, dass es keine für alle involvierten Professionen zufriedenstellende Definition und damit Gemarkungslinie geben kann, die statisch beschreibt, wo Extremismus beginnt und wo er vice versa in der Ausstiegsarbeit endet. Auch wenn in diesem Kontext, selbst aufseiten der unterschiedlichen wissenschaftlichen Professionen, viele Kontroversen über den Extremismus geführt werden, so herrscht doch insgesamt eine gewisse Einigkeit, dass – was auch immer am Ende sein mag – es sich keineswegs um eine Verwandlung adhoc oder gar einer creatio ex nihilo handelt.
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Dem, was wir als extremistisch oder als Extremismus beschreiben geht also ein Prozess voraus, der gemeinhin als Radikalisierung bezeichnet wird. Während die vorgestellten Theorien versuchen, das Phänomen des Extremismus analytisch zu fassen, stellt sich für die pädagogische Arbeit eine weitere Frage: Wie können Prozesse beschrieben werden, die zu Extremismus führen? Im Folgenden werden deshalb drei Theoriemodelle vorgestellt und miteinander verknüpft, aus denen Schlussfolgerungen für die pädagogische Praxis im Umgang mit Radikalisierungstendenzen gezogen werden können.
3 Radikalisierung – Theoriemodelle für die Praxis „Wenn die Pferde Götter hätten, sähen sie wie Pferde aus.“ – Xenophanes
Im Kontext von Radikalisierung und radikalen Ideologien führt eine multilaterale Verwendung der Begriffe aus den Bereichen Wissenschaft, Medien und Politik zu einem Dilemma: Jeder einzelne Teil öffnet für sich einen neuen Deutungsraum mit verschiedenen ihm verwandten Konzepten, die zwangsläufig mitgedacht werden müssen. Gerade die mediale inhaltliche Gleichsetzung der unterschiedlichen Termini und der damit verbundenen Theoreme erscheint in der Ausarbeitung pädagogischer Herangehensweisen wenig zielführend. Sprechen wir z. B. von Radikalisierung, müssen wir zuvor definieren, was überhaupt radikal ist und wie davon ausgehend radikale Ideologien definiert werden können.
3.1 Radikalisierung – Eine Annäherung Radikalisierung bezeichnet die Entwicklung eines Menschen von unproblematischen hin zu problematischen Verhaltens- und Einstellungsmustern auf Grundlage eines politisch-religiös-ideologischen Wertesystems. Mit dieser These eröffnen wir zumeist unsere Workshops und Vorträge, die sich mit dem Prozess der Radikalisierung beschäftigen und pädagogischen Fachkräften die Funktionsweisen eben dieser näherbringen sollen. Das Wertesystem, das einer Radikalisierung zugrunde liegt, kann diesem Ansatz zufolge zunächst sowohl einer politischen als auch einer religiösen Ideologie entspringen. Die Kernaussage der These ist jedoch, dass sie, strenggenommen, keine Kernaussage hat! Zunächst bleibt nämlich eine Definition von Radikalisierung aufgrund der relativen Natur der Begriffe unproblematisch und problematisch aus. Dies hat
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schlussendlich einen einfachen Grund, denn zunächst setzen Begriffe wie extrem und radikal Wissen darüber voraus, was in einer Gesellschaft als moderat oder als Mainstream gilt. Nur mit diesem spezifischen Wissen können Einstellungsmuster als von einer bestimmten Norm abweichend mit diesen Adjektiven besetzt werden, denn „was eine Gesellschaft für ‚radikal‘ hält, das gehört in einer anderen zum allgemeinen Konsens. Und was heute als ‚extremistisch‘ gilt, ist vielleicht morgen schon unverrückbarer Teil der staatlichen Ordnung.“ (Neumann 2013, S. 4). Mit einer Metapher gesprochen ließe sich der Sachverhalt wie folgt auf den Punkt bringen. Wäre die untersuchende Profession nicht aus der Geisteswissenschaft, sondern der Naturwissenschaft und das zu erforschende Feld nicht die Radikalisierung, sondern der Schatten, so ließe sich recht schnell erkennen, dass eine erkenntnisbringende Auseinandersetzung mit selbigem nur in der wechselseitigen Beschäftigung mit dem Licht erfolgen kann. Schatten ist also nur als die Abwesenheit von Licht zu fassen. Im wissenschaftlichen Diskurs existiert eine Vielzahl verschiedener Definition von Radikalisierung, die z. B. Radikalisierung in diesem spezifischen Kontext als die Übernahme einer Ideologie definieren (Frindte et al. 2016, S. 2–3) oder mit Radikalisierung einen Prozess beschreiben, „der dazu führt, dass ein Individuum oder eine Gruppe zu einer Form der Gewaltausübung greift, die unmittelbar an eine sozial, politisch oder religiös motivierte Ideologie geknüpft ist, von der die herrschende politische, soziale oder kulturelle Ordnung abgelehnt wird.“ (Khosrokhavar 2016, S. 29)
Es herrscht keineswegs Einigkeit über den Begriff bzw. das Konzept von Radikalisierung. Weder stimmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darüber überein, was mit dem Begriff „Radikalisierung“ genau beschrieben wird, noch aus welchen Konzepten sich Radikalisierung im Einzelnen zusammensetzt (Pisoiu 2012, S. 10; Sedgwick 2010). Während man z. B. laut Khosrokhavar nur dann von Radikalisierung sprechen kann, wenn radikale Ideologien mit Gewalt in Verbindung kommen (Khosrokhavar 2016, S. 43), sehen McCauley und Moskalenko (2011, S. 222–223) diese nicht als notwendiges Stadium von Radikalisierung an, denn „ob und wann politische Aktivisten die Grenze zur Illegalität oder sogar zur Gewalt überschreiten, hängt stark von Kultur, Ort und Zeit ab“ (McCauley und Moskalenko 2011, S. 222). Auch die Distanzierung bzw. die von einer in der Gesellschaft verankerten vorherrschende Meinung und eine entsprechende Politisierung kann als Radikalisierung definiert werden, wie Hasenclever und Sändig (2011, S. 208) betonen.
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Die Schwierigkeit bei der Benennung des Phänomens Radikalisierung bzw. bei der Definition eben dieses, setzen sich in Bezug auf das Wie und Warum fort: Im Kontext der Frage, warum sich junge Menschen radikalisieren und ideologischen Gruppierungen zuwenden, werden im Folgenden ausgewählte Faktoren einer Radikalisierung vorgestellt und daraus Möglichkeiten der pädagogischen Prävention skizziert.
3.2 Radikalisierungsfaktoren In der wissenschaftlichen Beschreibung des Prozesses der ideologischen Radikalisierung haben sich in den letzten Jahren vier Theorieschulen manifestiert, die Radikalisierungsprozesse und deren Faktoren von verschiedenen Perspektiven aus betrachten. Diese Vielzahl an Theorien zeigt, dass Radikalisierung ein komplexes Phänomen ist und keine Theorie den Anspruch auf Alleingültigkeit haben kann (Dalgaard-Nielsen 2010; Köhler 2017, S. 69). In der Radikalisierungsforschung wird zwischen einem soziologischen Zugang, einer Betrachtung von sozialen Bewegungen (framing-theory), der Theorieschule der Empiristen und einem psychologischen Ansatz unterschieden. Jeder Ansatz hat seinen spezifischen Beitrag zur Erkenntnisgewinnung geleistet. Die Vertreterinnen und Vertreter des soziologischen Ansatzes zeigen z. B. auf, dass die defizitäre Identifikation mit der Gesellschaft Auslöser für Radikalisierung sein kann (Khosrokhavar 2016; Roy 2006). Die framing-theory nimmt vor allem Gruppenprozesse in den Blick (Sageman 2004; Wiktorowicz 2005), während der psychologische Ansatz betont, dass es kein einheitliches Profil eines sich radikalisierenden Menschen gibt (Horgan 2005). Die Schule der Empiristen liefert vor allem Erkenntnisse über die interne Struktur radikaler Gruppierungen (Nesser 2004). Disziplin- und theorieübergreifend herrscht Konsens darüber, dass eine Vielzahl verschiedener Faktoren die Radikalisierung beeinflussen kann (Köhler 2016, S. 138). Das Vorgehen McCauleys und Moskalenkos (2011) ermöglicht es, verschiedene Faktoren auf der individuellen, der Gruppen- und der Massen- bzw. Makroebene darzustellen und dies nicht nur für religiös begründete Radikalisierung, sondern für alle Formen politisch-ideologischer und religiös-ideologischer Radikalisierung. Die verschiedenen Ebenen mit ihren Dimensionen sind in der Grafik schematisch dargestellt (Abb. 3).
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Abb. 3 Ebenen der Radikalisierung. (Eigene Darstellung)
3.3 Theoriemodelle für die Praxis Für die Konzeptualisierung von Radikalisierung in diesem Artikel wird eine klare und praxisnahe Definition für Radikalisierung benötigt. Die Radikalisierung junger Menschen muss in einer Form beschrieben werden, die auf der einen Seite die Ganzheitlichkeit eines Radikalisierungsprozesses in den Blick nimmt und darauf aufbauend eine Allgemeingültigkeit vermuten lässt. Auf der anderen Seite muss diese Definition im konkreten pädagogischen Handlungskontext von Präventionsangeboten Anknüpfungspunkte für die Konzeption konkreter Maßnahmen und Projekte bieten. Grundlegend für eine solche Konzeptualisierung von Radikalisierung ist der Grundkonsens der Radikalisierungsforschung: Die Prozesshaftigkeit und Nicht-Linearität von Radikalisierungsprozessen, die schlussendlich monokausale Zusammenhänge ausschließen und multifaktorielle Hinwendungsprozesse in den Mittelpunkt rücken (El-Mafaalani et al. 2016, S. 3; Neumann 2013, S. 3).
3.4 Radikalisierung als Depluralisierung Der Ansatz der Radikalisierung als Depluralisierung von Köhler (2017, S. 74–80) ermöglicht es zunächst, den Verlauf einer Radikalisierung als Ideologisierung und eine damit einhergehende Depluralisierung von Handlungskonzepten zu beschreiben: „radicalization can be understood as a process of individual depluralization of political concepts and values (e.g. justice, freedom, honor, violence, democracy), according with those concepts employed by a specific
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ideology“ (Köhler 2017, S. 74). Für die Präventionsarbeit und schlussendlich auch für die pädagogische Praxis kann dieses Modell Radikalisierung in einer Form erklären, aus der direkte handlungsleitende Aspekte destilliert werden können. Durch eine zunehmende Ideologisierung werden die wahrgenommenen Probleme, die auf Grundlage einer spezifischen Ideologie gedeutet werden, immer bedeutsamer. Die Deradikalisierungs- und auch die Präventionsarbeit können Köhler zufolge als Repluralisierung bezeichnet und auch verstanden werden. Wie das Schaubild zeigt, geht es dabei um die Umkehr der Verengung der Perspektiven und die Veranschaulichung multiperspektivischer Lösungsmöglichkeiten für verschiedene Probleme. Ein fiktives Beispiel mit Bezug zu religiös begründeter Radikalisierung soll die Wirkung der Ideologisierung verdeutlichen: Während vor dem Beginn des Radikalisierungsprozesses die Unfreundlichkeit eines Kassierers an der Supermarktkasse auf eine mögliche schlechte Laune oder eine unruhige Nacht seitens des Mannes an der Kasse zurückgeführt und keinerlei Verbindung zu sich selbst als Person hergestellt wird, kann eine zunehmende Ideologisierung dazu führen, dass die gleiche Situation im Sinne der ideologischen Frames gedeutet wird. Der Mann an der Kasse hat nun nicht einfach schlechte Laune oder eine unruhige Nacht hinter sich, die Unfreundlichkeit wird vielmehr auf die eigene Identität als Mitglied einer Gruppierung, in der subjektiven Deutung als Muslim oder Muslimin, zurückgeführt. Für den politisch-ideologischen Kontext ein weiteres, ebenfalls konstruiertes Beispiel. Anfeindungen in den Kommentarspalten von Sozialen Plattformen zum Thema Migration, Umgang mit Geflüchteten oder Berichte über globale Bedrohungssituationen wie Terroranschläge werden nicht mehr auf inhaltlicher Ebene, sondern rein über den Bezug der eigenen Identität zur Gruppe interpretiert. Die ideologisch gerahmte gesellschaftliche Spaltung in „Ihr“ und „Wir“ wird hier ganz praktisch an der Supermarktkasse, am Rechner oder Smartphone – also im Alltag – erfahren (Abb. 4). Aus diesem spezifischen Deutungsrahmen heraus werden nun auch die Möglichkeiten, diesem wahrgenommen Unrecht entgegenzutreten, zusehends weniger. Den Diskriminierungserfahrungen, die diejenigen bereits vor der Ideologisierung erlebt haben, werden noch die Situationen (z. B. die fiktive Situation an der Supermarktkasse oder in den Kommentarspalten) beigestellt, die allein aus einer ideologischen bzw. gruppeninternen Weltsicht heraus als solche wahrgenommen werden können. Zu diesen alltäglichen Problemen kommen nun noch dschihadistische Narrative einer westlichen Allianz aus Kreuzrittern gegen die muslimische Welt oder amerikanisch-jüdischer Weltverschwörungen – die Funktion ist in beiden Fällen ähnlich – die die Anzahl der wahrgenommenen Probleme mit zunehmender Ideologisierung erhöhen. Mit solchen Narrativen
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Abb. 4 Schematische Darstellung der Depluralisierung. (Eigene Darstellung nach Köhler 2017)
schaffen es Gruppierungen, auf individueller Ebene die Zahl der Lösungen derart zu reduzieren – zu depluralisieren –, dass Gewalt oder die Ausreise als Mittel zunehmend in den Fokus der übrigbleibenden Strategien rücken.
3.5 Relative Deprivation als Ausgangspunkt für eine kognitive Öffnung Der depluralisierenden Wirkung einer Vereinnahmung durch eine radikale Gruppierung und der damit einhergehenden Ideologisierung gehen komplexe Prozesse voraus, die die Vulnerabilität eines jungen Menschen für entsprechende Gruppierungen begründen können. Die Präventionsarbeit benötigt für die Beschreibung solcher Prozesse ein Modell, das die Hinwendungsmotive adäquat beschreiben kann und gleichzeitig Anknüpfungspunkte für pädagogisches Handeln bietet. Im Kontext dieser Arbeit ist deshalb die Theorie der relativen Deprivation nach Gurr (1970) unter Miteinbeziehung der soziologischen Erweiterung dieses Theoriemodells, der Theorie der sozialen Desintegration (Heitmeyer 2008), die Theoriefolie der Wahl. Diese beiden Modelle werden ergänzt durch die kognitive Öffnung nach Wiktorowicz (2005; Abb. 5). Wie die nächste Abbildung zeigt, ist auf einer Achse von unten nach oben der gesellschaftliche oder auch soziale Status aufgetragen. Dieser Status ist durch verschiedene Kontexte definiert und variiert von Mensch zu Mensch. Diese Tatsache ist besonders wichtig, da die Relativität der subjektiven Selbsteinschätzung
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Abb. 5 Relative Deprivation und Kognititve Öffnung. (Eigene Darstellung)
individueller Zufriedenheit den Kern dieser speziellen auf die Präventionsarbeit zugeschnittenen Interpretation der relativen Deprivation bildet. Aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe ergibt sich eine spezifische Erwartung an die eigene Position innerhalb einer gesellschaftlichen Konstellation. Auf Grundlage der objektiven Zugehörigkeit zu einer Gruppe (z. B. Menschen mit Hochschulabschluss oder Jugendliche mit Eltern mit einem akademischen Abschluss, Staatszugehörigkeit, Geschlecht, Hautfarbe etc.) und einer subjektiven Zugehörigkeit, z. B. die Selbstzuschreibung als intelligenter Mensch, werden spezifische Erwartungen an das eigene Leben bzw. den eigenen Werdegang formuliert. Diese Erwartungshaltung kann sich auf verschiedenen Ebenen manifestieren. Sowohl das Streben nach finanziellem Erfolg und gesellschaftlichem Aufstieg als auch individuelle Ziele, die auf gesellschaftlicher Ebene nicht als „sozialer Aufstieg“ gesehen werden, können hier erfasst werden. Im Schaubild verdeutlicht durch die grüne Markierung. Diese spezifischen Erwartungen werden durch andere Eigenschaften und/ oder Zugehörigkeiten beeinträchtigt. Solche Faktoren können beispielsweise die Religionszugehörigkeit, das Geschlecht, die Hautfarbe, die Muttersprache oder andere Eigenschaften sein, die der einzelnen Person eine Partizipation an
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gesellschaftlichen Strukturen erschweren. Dies verdeutlicht die rote Linie in der Abbildung. So zeigt z. B. eine Studie, dass kopftuchtragende Frauen bei gleicher Qualifikation mehr als viermal so viele Bewerbungen schreiben müssen, um zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden, wie Bewerberinnen ohne Kopftuch (Weichselbaumer 2016). Individuelle und kollektive Diskriminierungserfahrungen führen dazu, dass ein antizipierter Status nicht oder nur mit großer Mühe erreicht werden kann. Die Diskrepanz zwischen dem Status, der einem subjektiv aufgrund verschiedener Selbst- und Fremdzuschreibungen als mögliche Erwartung an sein persönliches Leben vorschwebt (grün), und den objektiven und subjektiven Diskriminierungen und weiteren einschränkenden Faktoren (rot), wie z. B. Schicksalsschläge oder Gesundheitszustand, wird in diesem spezifischen Verständnis als relative Deprivation bezeichnet. In der Folge können die Effekte einer relativen Deprivation, sofern sie nicht durch ein persönliches Umfeld aufgefangen werden, zu einer kognitiven Öffnung führen. Diese, dem Al-Muhajiroun Modell nach Wiktorowicz (2004) mit der Theorie der relativen Deprivation entnommene Stufe kann erklären, warum vor allem junge Menschen empfänglich werden für neue und zumeist radikale Weltdeutungen. Wiktorowicz schildert, dass junge Menschen durch individuelle Sinnkrisen und vor allem durch traumatische Erlebnisse (Köhler 2017, S. 15; Chowdhury Fink und Haerne 2008, S. 3) dazu veranlasst werden können, das ihnen tradierte Gesellschaftsmodell zu hinterfragen und nach alternativen Deutungen und Lösungen zu suchen. An diesem Punkt setzt die Propaganda der Rekrutierung an, indem die individuellen Deprivationserfahrungen durch klare Weltdeutungen mit einem klaren gute-böse Schema die komplexe demokratische Gesellschaft in Frage stellen.
3.6 Zwischenfazit Das bis hier Beschriebene macht einmal mehr deutlich, dass in der sozialwissenschaftlichen Bearbeitung von Themen, selten Eindeutigkeiten über die Professionen hinweg hergestellt werden kann bzw. gerade in der Ambiguität auch eine Chance liegt. Die vorgestellten Modelle unterstreichen, dass die Theorien nicht exklusiv zu betrachten sind, sondern nur in wechselseitiger Ergänzung ein Verständnis von Radikalisierung ermöglichen, das für die Präventionsarbeit und vor allem auch für die Kinder- und Jugendarbeit fruchtbar gemacht werden kann (vgl. Dalgaard-Nielsen 2010; Köhler 2017, S. 69). Es sei der vollständigkeitshalber noch erwähnt, dass sowohl in Bezug zu den vorgestellten
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Theoremen zu Radikalisierung als auch zum Begriff und den Modellen zu Extremismus im Rahmen dieses Artikels nur sehr selektiv Diskurse abgebildet werden können. Das Literaturverzeichnis bildet hier allerdings einen soliden Ausgangspunkt für weiterführend Interessierte.
4 Aktuelle Herausforderungen Die Herausforderungen für die Kinder- und Jugendarbeit im Kontext der Prävention vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen sind in ihrer Komplexität nicht zu unterschätzen. Sie sind gekennzeichnet durch das Erstarken populistischer, nationalistischer und religiös extremistischer Akteure und öffentlichen Debatten, die zunehmend polarisierend geführt werden. Sie bieten dabei jedoch – und das ist die Kernaussage dieses Artikels, soweit sei dem abschließenden Fazit schon einmal vorgegriffen – hinreichende Anknüpfungspunkte für bewährte Methoden der Kinder- und Jugendarbeit. Um szenespezifische Dynamiken religiöser und/oder politischer Radikalisierung zu verstehen, werden im Folgenden die aktuellen gesellschaftlichen und pädagogischen Herausforderungen mit Schwerpunkt auf der salafistischen, also einer religiös extremistischen Szene, in Deutschland dargestellt.
4.1 Salafismus als jugendkulturelle Protestbewegung Für die Kinder- und Jugendarbeit ist vor allem folgende These interessant: Der Salafismus bildet jugendlichen Protest und das Bedürfnis nach Abgrenzung in einer Welt, die zunehmend von unklaren Generationengrenzen gekennzeichnet ist, ab. Jugendkulturelle, studentische oder andere Protestbewegungen waren schon immer Teil der gesellschaftlichen Veränderungen bzw. ihr Auslöser oder eine spezifische Ausdrucksform wahrgenommenen Unrechts oder Unzufriedenheit. Die studentischen Proteste der 68er, die sexuelle Befreiungsbewegung der „Flower-Power“ Bewegung oder die kapitalismuskritischen Proteste der Punks. Alle diese Jugendbewegungen bzw. -subkulturen haben eines gemeinsam: sie „verbinden in der Regel bestimmte generationsspezifische (politische) Interessen mit einer affektiv-emotionalen Ebene – häufig auch in Kombination mit Musik und Rauschmitteln“ (El-Mafaalani 2014, S. 355) und haben zumeist eine optimistische Zukunftsvision. Kurzum: Die von den Bewegungen vertretenen radikalen
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egenpositionen haben auch irgendwie „Spaß“ gemacht. Dies kann man vom G Salafismus nicht behaupten, denn er „ist grundlegend vergangenheitsorientiert und bietet keine positive Zukunftsvision – zumindest nicht im > Diesseits