121 104 54MB
German Pages 410 Year 1975
Albert Bleckmann · Grundgesetz und Völkerrecht
Grundgesetz und Völkerrecht Ein Studienbuch
Von
Prof. Dr. Dr. Albert Bleckmann
DUNCKER & HÜMBLOT /
BERLIN
Alle Rechte vorbehalten © 1975 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1975 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed I n Germany
ISBN 3428034341
Für Anna-Christine
Vorwort Das Lehrbuch behandelt neben speziellen Völkerrechtsproblemen der Bundesrepublik Deutschland die Beziehungen des Grundgesetzes zum Völkerrecht wie die Beziehungen des Völkerrechts zum Grundgesetz. Auch die Europarechtsproblematik w i r d insoweit mitabgehandelt. Dabei w i r d besonders die bis März 1975 veröffentlichte deutsche Literatur und Rechtsprechung herangezogen. Diese Materie ist bisher nicht Gegenstand eines umfassenden Lehrbuchs gewesen. Die Völkerrechts- und Staatsrechtslehrbücher behandeln sie — von unterschiedlichen Blickpunkten aus — nur am Rande. Die Vertiefung setzt somit bisher das Studium einer umfangreichen Spezialliteratur zu jedem Fragenkreis voraus. Das Völkerrecht und das Europarecht werden heute nur noch als Wahlfächer gelehrt. U m so wichtiger ist für die Studenten, welche diese Fächer nicht gewählt haben, eine allgemeine Einführung i n die — Pflichtfach gebliebenen — „Beziehungen des Grundgesetzes zum Völkerrecht" (und zum Europarecht). Das Lehrbuch richtet sich folglich i n erster Linie an alle Studenten der Rechtswissenschaft. Gerade den Studierenden der Fächer Völker- und Europarecht sollte aber auf der anderen Seite ein Werk über die speziellen Völkerrechtsprobleme der Bundesrepublik und über die Stellung des Grundgesetzes zu diesen Problemen an die Hand gegeben werden. Das Buch richtet sich ferner an alle Richter, Verwaltungsbeamte, Rechtsanwälte und Wirtschaftsjuristen, die i n stets wachsendem Umfang m i t Völker- und europarechtlichen Problemen konfrontiert werden. Mein besonderer Dank gilt Fräulein Anneliese Neureither für die Einrichtung des Buches und das Korrigieren der Fahnen. Heidelberg, i m März 1975 Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Albert Bleckmann
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
17
Kapitel I: Die Völkerrechtsquellen
21
Α. Die völkerrechtlichen Verträge I. Begriff, F o r m u n d Verbindlichkeit der Verträge I I . Das Vertragsschlußverfahren Vertragsfähigkeit zum Abschluß befugten Organe Bevollmächtigung A k t e des Vertragsschlusses
21 22 25
1. 2. 3. 4.
Die Die Die Die
25 25 25 26
5. 6. 7. 8.
Das I n k r a f t t r e t e n des Vertrages 27 Pflichten v o r I n k r a f t t r e t e n des Vertrages 28 Registrierung u n d Veröffentlichung 28 Die W i r k u n g von Verletzungen des nationalen Rechts beim Abschluß v o n Verträgen 29
I I I . Willensmängel
30
I V . Der Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht
34
V. Der Anwendungsbereich der Verträge V I . Vorbehalte V I I . Verträge zugunsten u n d zu Lasten d r i t t e r Staaten V I I I . Die Vertragsauslegung I X . Die Vertragsbeendigung
36 38 41 43 49
B. Völkergewohnheitsrecht
53
C. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze
63
D. Die SteUung der Lehre i n der Rechtsquellenlehre
68
E. Der Rang der Rechtsquellen i m Völkerrecht
70
Kapitel I I : Die Rechtslage Deutschlands I. Fortbestand des Deutschen Reichs 1. V o n der K a p i t u l a t i o n bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 2. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland u n d der D D R 3. Die neue Ostpolitik
73 73 73 77 85
nsverzeichnis
8
II. Berlin 1. Die Rechtslage Berlins bis zur Spaltung
99 99
2. Die Rechtslage West-Berlins bis zum Viermächte-Abkommen 100 3. Das Viermächte-Abkommen über B e r l i n I I I . Die deutschen Ostgebiete
105 108
1. Die Rechtslage bis zum Moskauer u n d Warschauer Vertrag . . 108 2. Der Moskauer u n d der Warschauer Vertrag I V . Das Saarland V. Das Sudetenland V I . Österreich Kapitel Π Ι : Die räumliche und personelle Grundlage der Staatsgewalt
112 116 118 122
125
I. Das Staatsgebiet
125
1. Gebietshoheit
125
2. Das Territorialitätsprinzip
130
3. Der Gebietsumfang I I . Die Staatsangehörigkeit 1. Der Begriff der Staatsangehörigkeit 2. E r w e r b u n d Verlust der Staatsangehörigkeit 3. Die Deutschen i m Sinne des A r t . 116 I G G Kapitel I V : Die Einbettung der Bundesrepublik Deutschland in internationale Organisationen I. Das Recht der internationalen Organisationen I I . Die Organisation der Vereinten Nationen I I I . Die Europäischen Gemeinschaften
131 137 137 139 145
149 149 156 168
1. Einheit u n d Mehrheit der Europäischen Gemeinschaften
169
2. Die Rechtsquellen der Europäischen Gemeinschaften
169
3. Organe
175
4. Aufgaben u n d Befugnisse der E W G
181
5. Die A k t e der EWG-Organe
182
6. Der Europäische Gerichtshof 7. Die H a f t u n g der Europäischen Gemeinschaften 8. Die internationale Rechtspersönlichkeit der Europäischen Gemeinschaften 9. E W G u n d D D R 10. Die Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaften
186 193 196 198 199
Kapitel V : Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik Deutschland 201 I. Der Begriff der auswärtigen Gewalt I I . Die Zuständigkeitsverteilung zwischen B u n d u n d Ländern
201 202
nsverzeichnis 1. Die Auslegung des A r t . 32 GG
202
2. Die innerstaatliche Fortgeltung der v o m Deutschen Reich abgeschlossenen Verträge 209 3. Völkerrechtliche Probleme des Bundesstaats 210 I I I . Der Abschluß der Verträge durch den B u n d A . Die Befugnisse des Bundespräsidenten 1. Völkerrechtliche Vertretungsbefugnis
210 210 211
2. Staatsrechtliche Vertretungsbefugnis
211
3. Die „materielle" auswärtige Gewalt
213
B. Die Zustimmung des Parlaments
214
1. Zweck der Zustimmung
215
2. Der Begriff der Verträge i n A r t . 59 I I G G
216
3. Funktionen des Zustimmungsgesetzes
216
4. M i t w i r k u n g des Bundesrats
217
5. Umfang der Zustimmung
218
6. Verträge über die politischen Beziehungen des Bundes 218 7. Verträge über die Gegenstände der Bundesgesetzgebung 219 8. Verwaltungsabkommen
221
9. Kriegserklärung u n d Friedensschluß
222
10. Gebietsabtretung
223
11. Den Haushalt belastende Verträge
224
12. Aufhebungs- u n d Änderungsverträge
224
13. Zustimmung zu einseitigen Völkerrechtsakten?
225
14. Kodifizierung von Völkergewohnheitsrecht
226
15. Veröffentlichung der Verträge
226
I V . Der Abschluß von Verträgen durch die Länder 1. Zustimmung der Bundesregierung 2. Z u m Abschluß befugte Organe
226 226 227
V. B i n d u n g der auswärtigen Gewalt an das GG
227
A. B i n d u n g an Ziele u n d Grundsätze 227 1. Die Übertragung von Hoheitsbefugnissen: A r t . 241 227 2. Die Einordnung i n ein System kollektiver Sicherheit: A r t . 24 I I GG 230 3. B e i t r i t t zur internationalen Schiedsgerichtsbarkeit: A r t . 24 I I I GG 4. Friedenspflicht: A r t . 26 GG 5. Wiedervereinigungsgebot 6. Verpflichtung auf Europapolitik 7. Verpflichtung auf internationale Grundrechte 8. Verpflichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht 9. Verpflichtungen aus den deutschen Grundrechten
232 233 237 237 238 239 240
10
nsverzeichnis 10. Verpflichtung zu internationaler Zusammenarbeit 11. Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit B. B i n d u n g an die Grundrechte
240 241 241
1. Grundsätzliche B i n d u n g an die Grundrechte
241
2. Annäherungstheorie
242
3. Verfassungskonforme Auslegung
244
4. Die Schutzpflicht der Bundesrepublik Deutschland
245
V I . Die richterliche K o n t r o l l e der auswärtigen Gewalt 246 1. Theorie der Regierungsakte 246 2. Verfahren v o r dem B V e r f G 247 3. Einstweilige Anordnungen des B V e r f G 249 4. Die Befassung des B V e r f G m i t den allgemeinen Regeln des Völkerrechts 252 5. Staatshaftung 254 V I I . B i n d u n g des deutschen Richters an A k t e der deutschen auswärtigen Gewalt? 255 V I I I . Überprüfung fremder Hoheitsakte durch den deutschen Richter 259 1. Nachprüfung am G G 259 2. Nachprüfung am Völkerrecht 262
Kapitel VI: Völkerrecht und Landesrecht I. Dualismus oder Monismus der Rechtsordnungen
264 264
I I . Das Völkerrecht i m innerstaatlichen Rechtsraum fremder Staaten 273 1. Großbritannien 273 2. Frankreich 274 3. I t a l i e n 4. Niederlande
275 275
5. Belgien 6. Österreich
276 276
I I I . Das Völkerrecht i m deutschen Rechtsraum 1. Die Transformationstheorie 2. Die völkerrechtlichen Verträge a) Rang b) Unmittelbare Anwendbarkeit c) Folgerungen aus dem innerstaatlichen Geltungsgrund v ö l kerrechtlicher Verträge: Die Vollzugstheorie 3. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts a) Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts i m Sinne des A r t . 25 GG b) Der Rang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts c) Die unmittelbare Anwendbarkeit der allgemeinen Regeln des Völkerrechts 4. Das Zusammenspiel zwischen nationalem Recht u n d V ö l k e r recht
277 277 277 277 279 285 291 291 293 295 296
nsverzeichnis 5. Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit der nationalen Rechtsordnung 298 I V . Europäisches Gemeinschaftsrecht u n d nationales Recht 302 1. Theoretische Konstruktionen 302 2. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs u n d ihre Übernahme durch die deutschen Gerichte 311 3. Verfassungsmäßigkeit der Zustimmungsgesetze zu den Europäischen Gemeinschafts Verträgen 321 4. Die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts . . 325 5. Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts durch nationales Recht 329 6. Das Zusammenspiel zwischen dem Europäischen schaftsrecht u n d dem nationalen Recht
Gemein-
V. Völkerrecht i m Bundesstaat
Kapitel VII: Das Fremdenrecht I. Das völkerrechtliche Fremdenrecht
333 337
342 342
1. Völkergewohnheitsrecht
342
2. Völkervertragsrecht a) „Einwanderung" b) Niederlassung u n d Aufenthalt c) Vorbehalt der öffentlichen Sicherheit u n d Ordnung d) Inländergleichbehandlung e) Meistbegünstigung 3. Das europäische Niederlassungsrecht
345 346 346 347 347 348 349
I I . Das deutsche Fremdenrecht 1. Ausländergesetz 2. Grundrechte der Ausländer
Kapitel V i l i : Die internationalen Menschenrechte I. Geschichte der internationalen Menschenrechte I I . Die Europäische Menschenrechtskonvention 1. Die Rechte der E M R K
350 350 353
367 367 369 370
2. Ausländerrechte
371
3. Gleichheitssatz 4. Schranken der Grundfreiheiten 5. D r i t t w i r k u n g der Grundrechte
372 372 375
6. 7. 8. 9. 10.
Recht auf w i r k s a m e n Rechtsschutz v o r nationalen Instanzen 377 Innerstaatliche W i r k u n g e n der E M R K 377 E M R K als „Wertordnung"? 378 Die internationalen Verfahren 379 Die E M R K als objektive Rechtsordnung 381
12
nsverzeichnis I I I . Die Europäische Sozialcharta
382
1. Die Rechte der Europäischen Sozialcharta
382
2. Die B i n d u n g der Vertragsparteien an diese Rechte
384
3. Das internationale Verfahren
384
4. Die unmittelbare Anwendbarkeit der Sozialcharta
385
5. Zusammenspiel zwischen E M R K u n d Sozialcharta
386
I V . Der U N - P a k t über die bürgerlichen u n d politischen Rechte 1. Die Rechte der U N - K o n v e n t i o n 2. Das internationale Verfahren
387 387 388
3. Die unmittelbare Anwendbarkeit
389
V. Der U N - P a k t über wirtschaftliche, soziale u n d k u l t u r e l l e Rechte 389 V I . Die Rassenkonvention
390
Kapitel I X : Die Auslieferung I. Die Rechtsgrundlagen der Auslieferung
391 391
I I . Die Voraussetzungen der Auslieferung 392 1. Die Auslieferungsfähigkeit 392 2. Politische Straftaten 392 3. Verbot der Auslieferung Deutscher 393 4. Asylrecht 393 5. Gegenseitigkeit 393 6. Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien durch den ersuchenden Staat 393 I I I . Das Auslieferungsverfahren
394
I V . Die Behandlung des Ausgelieferten
394
1. Berufung auf vertragswidrige Auslieferung 2. Spezialitätsprinzip V. Die verschleierte Auslieferung V I . Weiterlieferung, Rücklieferung u n d Durchlieferung 1. Begriffe 2. Völkerrechtliche Regelung 3. A r t . 16 I I S. 1 G G V I I . Die Zulieferung
394 395 395 395 395 396 396 397
Sachregister
399
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. AFDI AHK AJIL Anm. AöR ArchVR Art. AS Aufl. AuslG AWD BayOLGZ BayVBl. BayVGH BayVerfGH BB Bd., Bde. BFH BFHE BGB BGBl. BGH BGHSt Β GHZ BSG BSGE Buchst. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE BYIL Cal. L a w Review CDE CEE Clunet CMLR CPJI CSR CSSR DA DAG DDR DJT
= = = = = = = = = = = = =
= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =
= = =
anderer Ansicht am angeführten Ort Annuaire Français du D r o i t International A l l i i e r t e Hohe Kommission American Journal of International L a w Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Archiv des Völkerrechts Artikel Amtliche Sammlung des O V G Rheinland-Pfalz Auflage Ausländergesetz Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts i n Zivilsachen Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Bayerischer Verfassungsgerichtshof Betriebs-Berater Band, Bände Bundesfinanzhof Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Zivilsachen Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts Buchstabe Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts B r i t i s h Yearbook of International L a w California L a w Review Cahiers d u droit européen Communauté économique européenne siehe J D I Common M a r k e t L a w Review Cour Permanente de Justice Internationale Tschechoslowakische Republik Sozialistische Tschechoslowakische Republik Deutschlandarchiv Deutsches Auslieferungsgesetz Deutsche Demokratische Republik Deutscher Juristentag
14 DÖV DRZ DVB1. EA EAGV EGBGB EGKS EGKSV
Abkürzungsverzeichnis
= =
= = = = —
EMRK EuGH EuGHRspr.
=
EuGRZ
=
EuR EWG EWGV
=
FamRZ Festg. Festschr. FG Fontes GATT GBl. GewA GG HFR h. L. HLKO ICJ ICLQ IGH ILC ILO IMF Ind. J. Int. L a w Int. IPR IWF JB1. JDI JdT Jh. JIR JöR JR JUS JW JZ KG KPD LG lit.
Die öffentliche V e r w a l t u n g Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt
=
= =
=
=
= = = = —
= = = =
= =
= = = = = = = =
Juristische Blätter (Wien) Journal du D r o i t International (Clunet) Journal des T r i b u n a u x Jahrhundert Jahrbuch für Internationales Recht Jahrbuch für öffentliches Recht Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung
= = = = = = = = = = -
=
General Agreement on Tariffs and Trade Gesetzblatt Gewerbearchiv Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
International Court of Justice International and Comparative L a w Quarterly Internationaler Gerichtshof International L a w Commission International Labour Organisation International Monetary F u n d Indian Journal of Internationa] L a w International (e, es) Internationales Privatrecht Internationaler Währungsfonds
= =
=
Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Festgabe Festschrift Finanzgericht Fontes Iuris Gentium
Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung herrschende Lehre Haager Landkriegsordnung
=
=
Europa-Archiv Euratom-Vertrag Einführungsgesetz zum B G B Europäische Gemeinschaft für Kohle u n d Stahl Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäische Menschenrechtskonvention Europäischer Gerichtshof Sammlung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Grundrechte. Die Rechtsprechung i n Europa: Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag über die Gründung der E W G
Kammergericht Kommunistische Partei Deutschlands Landgericht litera
Abkürzungsverzeichnis MDR
Monatsschrift für Deutsches Recht
NATO NJW no. Nr. NTIR
^ N o r t h A t l a n t i c Treaty Organization — Neue Juristische Wochenschrift number, numéro Nummer = Nederlands Tijdschrift voor Internationaal Recht
OECD
-
ÖJZ ÖZöR OLG OVG OVGE RabelsZ
Organisation européenne de coopération et de développement = österreichische Juristenzeitung = österreichische Zeitschrift f ü r öffentliches Recht = Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte Münster u n d Lüneburg
Rev. crit. dr. int. Rev. dr. int. Rev. hell. dr. int. RG RGBl. RGDIP RGSt RGZ Riv. dir. int. ROW Rs. Rspr. RTDE RuStAG RzW
= Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht " Revue Beige de Droit International Recueil des Cours de l'Académie de droit international de la Haye = Revue du droit européen == Revue du Marché commun —" Randnummer = Revue du droit public = Recueil = Reports of judgments, advisory opinions and orders, International Court of Justice = Revue critique de droit international privé — Revue de droit international = Revue hellénique de droit international = Reichsgericht = Reichsgesetzblatt = Revue générale de droit international public = Entscheidungen des Reichsgerichts i n Strafsachen = Entscheidungen des Reichsgerichts i n Zivilsachen = Rivista di diritto internazionale = Recht i n Ost u n d West = Rechtssache = Rechtsprechung = Revue trimestrielle de droit européen = Reichs- u n d Staatsangehörigkeitsgesetz = Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht
S. SchwJIR SED Sér. s. ο. SPD StAZ StIGH s. u. Suppl.
= = = = = = = = = =
RBDI RdC RdDE RdMC RdNr. RDP Ree. Rep.
Satz Schweizerisches Jahrbuch für Internationales Recht Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Série siehe oben Sozialdemokratische Partei Deutschlands Das Standesamt Ständiger Internationaler Gerichtshof siehe unten supplement
TB
= Taschenbuch
UdSSR umstr. UN, UNO UNTS
= = = =
Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken umstritten United Nations Organization United Nations Treaty Series
Abkürzungsverzeichnis
16 VerwRspr. VG VGH vgl. VO vol. VRÜ WDStRL
= = = = = = = =
Verwaltungsrechtsprechung Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verordnung volume Verfassung u n d Recht i n Übersee Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
Warn. WHO WRV WVR WVRK
= = = = =
Warneyer, Rspr. des Bundesgerichtshofs i n Zivilsachen W o r l d Health Organization Weimarer Reichsverfassung Wörterbuch des Völkerrechts Wiener Vertragsrechtskonvention
YILC
= Yearbook of the International L a w Commission
ZaöRV
= Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht u n d Völkerrecht = Zeitschrift f ü r die gesamte Strafrechtswissenschaft = Zeitschrift f ü r P o l i t i k = Ziffer = Zeitschrift für öffentliches Recht = Zeitschrift für Rechtspolitik = Zeitschrift für Völkerrecht
ZfgesStrRW ZfP Ziff. ZöR ZRP ZVR
Einleitung
1. Das Völkerrecht ist das Recht, welches die Beziehungen zwischen den Völkerrechtssubjekten regelt. I m klassischen Völkerrecht waren Völker rechtssubjekte nur die Staaten, der Heilige Stuhl, der Malteserorden und die anerkannten kriegführenden Aufständischen. I n neuerer Zeit sind zahlreiche internationale Organisationen hinzugetreten. Die Beziehungen der Individuen zu den Staaten und unter sich werden dagegen grundsätzlich durch die innere Rechtsordnung der Staaten geregelt. Sie werden also durch die Staaten mediatisiert. A m Völkerrechtsverkehr nehmen sie aber i n neuerer Zeit i n beschränktem Umfang teil. So können sie heute etwa vor der Europäischen Menschenrechtskommission, also einem internationalen Organ, nach Völkerrecht — nämlich der Europäischen Menschenrechtskonvention — gegen ihren Staat klagen. Die Völkerrechtsordnung unterscheidet sich i n vielfacher Hinsicht von den nationalen Rechtsordnungen. Es fehlt zunächst ein zentrales Gesetzgebungsorgan. Ansätze zu zentraler Gesetzgebung haben sich nur auf regionaler Ebene — etwa i n den europäischen Gemeinschaften — verwirklichen lassen. Das Völkerrecht w i r d vielmehr durch die Handlungen der i h m unterworfenen Völkerrechtssubjekte selbst gesetzt. Sie schließen zu diesem Zweck mehr- und zweiseitige Verträge; aus der übereinstimmenden, von der Rechtsüberzeugung getragenen Praxis der Völkerrechtssubjekte entwickelt sich das Völkergewohnheitsrecht, eine Rechtsquelle, die gerade i n rechtlich noch nicht stark entwickelten Gemeinschaften die Hauptrolle spielt. A u f der völkerrechtlichen Ebene fehlt ferner eine obligatorische Gerichtsbarkeit, die i m nationalen Rechtsraum heute selbstverständlich erscheint. Soweit internationale Gerichte (IGH) und Schiedsgerichte bestehen, können sie nur angegangen werden, soweit der klagende und der beklagte Staat sich dieser Gerichtsbarkeit ausdrücklich unterworfen haben. Die Staaten entscheiden deshalb i n der Regel über ihre völkerrechtlichen Rechte und Pflichten selbst. Der Gefahr des Auseinanderfallens der Entscheidungen kann nur durch internationale Verhandlungen entgegengewirkt werden. Darin und i n der Tatsache, daß die Staaten auch dem materiellen Völkerrecht grundsätzlich nur insoweit unterworfen sind, als sie i h m zugestimmt haben, kommt die Souveränität der Staaten zum Ausdruck, ein Rechtsprinzip, das die ganze Völkerrechtsordnung durchzieht. 2 Bleckmann
18
Einleitung
Trotzdem ist das Völkerrecht effektiver als man meinen könnte, wenn man nur die großen internationalen Streitfälle vor Augen hat. Der ganz überwiegende Teil der Fälle w i r d zwischen den Außenämtern und den anderen Ministerien der beiden betroffenen Staaten auf Grund der Regeln des Völkerrechts einvernehmlich geregelt. Soweit es zum Streit kommt, entscheiden i n vielen Fällen, an denen nur private Parteien beteiligt sind, die nationalen Gerichte über die Anwendung des Völkerrechts, ganz ähnlich wie sie über die Anwendimg der nationalen Rechtsregeln entscheiden. Dabei ist aber zu beachten, daß das Völkerrecht sich an die Staaten als solche wendet und nicht i n deren innere Rechtssphäre eindringt. Die innerstaatlichen Organe und die der Staatsgewalt unterworfenen Individuen werden durch das Völkerrecht also zunächst nicht unmittelbar verpflichtet und berechtigt. Völkerrecht und innerstaatliches Recht sind so zwei getrennte Sphären (Dualismus der Rechtsordnungen). Das Völkerrecht w i r d innerstaatlich erst verbindlich, wenn der Staat dies anordnet. A u f diesen innerstaatlichen Vollzug ist das Völkerrecht aber angewiesen. N u r so können seine der Ergänzung durch das nationale Recht bedürftigen Regeln sich v o l l entfalten. Die Völkerrechtssubjekte sind i m Gegensatz zu den Rechtssubjekten des nationalen Rechts relativ wenige, überschaubare individuelle Gemeinschaften. Stärker als i m nationalen Recht finden sich deshalb i m Völkerrecht individuell bestimmte Rechtsbeziehungen. Die Völkerrechtsregeln gelten — wie etwa die internationalen Verträge — i n der Regel nur zwischen bestimmten Rechtspersonen. Dabei steht bisher das völkerrechtliche Allgemeininteresse hinter den individuellen Interessen der Völkerrechtssubjekte zurück. Die Völkerrechtssubjekte sind schließlich rechtlich gleich. Deshalb kann sich Völkerrecht meist nur m i t Zustimmung aller Staaten bilden. 2. Obwohl Völkerrecht und Landesrecht zwei getrennte Sphären bilden, sind ihre Regelungen doch häufig eng miteinander verzahnt. a) Das Völkerrecht setzt die staatlichen Organisationen für seine Entstehung und Durchführung voraus. Die Welt ist zwischen zahlreichen Staaten aufgeteilt. So entsteht das vom Völkerrecht zu lösende Problem der Abgrenzung der Hoheitsgewalten der Staaten. Ähnlich wie das nationale Recht Kompetenzen, weist das Völkerrecht den Staaten die Hoheit über ihr Gebiet (Territorialhoheit) und ihre Staatsangehörigen (Personalhoheit) zu. Das Völkerrecht muß dann auch das Gebiet abgrenzen; für die Abgrenzung der Staatsangehörigkeit verweist es auf die landesrechtlichen Regelungen. Diese Fragen werden w i r für die Bundesrepublik i m Kapitel Π Ι abhandeln. Dabei entstehen besondere Probleme wegen
N a t u r des Völkerrechts
19
der besonderen Rechtslage Deutschlands, die w i r i m Kapitel I I vorweg untersuchen. b) Das Völkerrecht weist den Staaten Handlungsrechte auf der internationalen Ebene zu; welche Organe die Befugnisse der „auswärtigen Gewalt" ausüben und i n welchem Verfahren dies geschieht, entscheidet das Landesrecht. Insoweit greifen i n der Bundesrepublik die A r t . 32, 70 ff., 83 ff. für die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, die A r t . 59, 65, 115 a ff. GG für die Kompetenzverteilung zwischen Bundespräsident, Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat ein. Die auswärtige Gewalt ist ferner an die Rechtsstaatsprinzipien, an die Grundrechte und an bestimmte, i n der Präambel sowie i n A r t . 24 - 26 GG festgelegte Ziele gebunden. Alle diese Probleme werden i m Kapitel V behandelt. c) Das Verständnis des Völkerrechts setzt eine Untersuchung der Völkerrechtsquellen voraus (Kapitel I). Die Kenntnis der Völkerrechtsquellen ist besonders wichtig für die Analyse der verfassungsrechtlichen Rechtssätze über das Verhältnis des Völkerrechts zum Landesrecht, das i m Kapitel V I behandelt wird. d) Die Bundesrepublik ist Mitglied zahlreicher internationaler Organisationen. Verfassungsprobleme stellen sich hier vor allem insoweit, als die internationalen Organisationen befugt sind, auf deutschem Gebiet unmittelbar Hoheitsbefugnisse gegenüber Individuen auszuüben. Das gilt vor allem für die Europäischen Gemeinschaften. Diese Problematik setzt zunächst gewisse Kenntnisse über die internationalen Organisationen i m allgemeinen und über die Europäischen Gemeinschaften i m besonderen voraus. Diese Fragen werden i m Kapitel I V behandelt. Die innerstaatlichen Wirkungen der europäischen Hoheitsgewalt werden i m Kapitel V I über das Verhältnis des Europarechts zum Landesrecht abgehandelt. Die Übertragung der Hoheitsgewalt w i r d i m Kapitel V über die auswärtige Gewalt noch einmal speziell untersucht. e) I n zahlreichen Bereichen verlangt das Völkerrecht einen innerstaatlichen Vollzug. Das gilt insbesondere für das Fremdenrecht, die internationalen Menschenrechte und das Auslieferungsrecht. Diese Fragen, m i t denen sich der deutsche Richter häufig konfrontiert sieht und i n denen das Völkerrecht und das Landesrecht (GG) eine besonders enge Verbindung eingehen, werden deshalb i n den Kapiteln V I I - I X abgehandelt. 3. Für eine Vertiefung der völkerrechtlichen Kenntnisse w i r d folgende deutschsprachige Literatur empfohlen: a) Kurzlehrbücher Menzel, Völkerrecht (1962) Seidl-Hohenveldern,
2'
Völkerrecht (3. Aufl. 1975)
20
Einleitung
b) umfassendere Werke: Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, 3 Bde. (1960 - 1964), 2. Bd. (2. Aufl. 1969) Dahm, Völkerrecht, 3 Bde. (1962) Verdross, Völkerrecht, 5. neubearbeitete u n d erweiterte Aufl. unter M i t arbeit von Verosta u n d Zemanek (1964) Wengler, Völkerrecht, 2 Bde. (1964) c) Strupp-Schlochauer,
Wörterbuch des Völkerrechts, 3 Bde. (1960 - 1962)
d) deutschsprachige Völkerrechts-Zeitschriften: Archiv des Völkerrechts Europarecht Die Friedens-Warte Jahrbuch für internationales Recht Schweizerisches Jahrbuch f ü r internationales Recht Zeitschrift f ü r ausländisches öffentliches Recht u n d Völkerrecht
KAPITEL
I
Die Völkerrechtsquellen W. R. Bishop, Sources of International L a w , Transactions of the Grotius Society 26 (1940) 235; Ε. M . Borchard, The Theory and Sources of International L a w , Ree. Gény 3 (1936) 328; G. A. Finch , The Sources of Modern International L a w (1937); G. A. Finch , Les sources modernes d u droit international, RdC (1935 I I I ) 535; G. Fitzmaurice, Some Problems Regarding the Formal Sources of International L a w , Symbolae V e r z i j l 1958, 153; P. Guggenheim , Contribution à l'histoire des sources du droit des gens, RdC 94 (1958II) 5 ; E. Härle, Die a l l gemeinen Entscheidungsgrundlagen des S t I G H (1933); P. Heilborn, Les sources d u droit international, RdC 11 (1926 I) 1; J. Kosters, Les fondements d u droit des gens (1925); H. Maschke, Die Rangordnung der Rechtsquellen (1932); T. Perassi, Teoria dommatica delle fonti d i norme giuridiche i n d i r i t t o internazionale, Riv.dir.int. 1917, 195; A. Ross, Theorie der Rechtsquellen (1929); Scelle, Essai sur les sources formelles d u droit international, Ree. Gény 3 (1936) 400; M. Serensen, Les sources d u droit international (1946); Verdross, Die Quellen des universellen Völkerrechts (1973); P. Ziccardi, L a costituzione dell'ordinamento internazionale (1948). N a c h A r t . 38 A b s . 1 des S t a t u t s des I G H h a t dieses G e r i c h t das V ö l k e r v e r t r a g s r e c h t , das V ö l k e r g e w o h n h e i t s r e c h t u n d die a l l g e m e i n e n Rechtsgrundsätze a n z u w e n d e n . Es besteht Ü b e r e i n s t i m m u n g d a h i n , daß h i e r i n n i c h t n u r eine E r m ä c h t i g u n g des I G H , s o n d e r n eine A u f z ä h l u n g der a l l g e m e i n e n V ö l k e r r e c h t s q u e l l e n z u sehen ist, d i e deshalb auch a u ß e r h a l b eines V e r f a h r e n s v o r d e m I G H f ü r die V ö l k e r r e c h t s s u b j e k t e v e r b i n d l i c h sind.
A. Die völkerrechtlichen Verträge Allgemein: Bergböhm, Staatsverträge u n d Gesetze als Quellen des V ö l k e r rechts (1877); Chailley, L a nature j u r i d i q u e des traités internationaux (1932); Fragulis, Théorie et pratique des traités internationaux (1936); H a r v a r d D r a f t Convention on the L a w of Contracts, A J I L 29 (1935) Suppl. T e i l 3; G. Hoijer, Les traités internationaux (1928); A. D. McNair, The L a w of Treaties (1961); C. Parry, The L a w of Treaties, i n : Sorensen, M a n u a l of Public International L a w (1968) 175; W. Pasching, Allgemeine Rechtsgrundsätze über die Elemente des völkerrechtlichen Vertrages, ZöR 14 (1934) 24; Ch. Rousseau, L a théorie générale des traités internationaux (1958/59); C. Rühland, System der v ö l k e r rechtlichen Kollektivverträge (1929); E. Vitta, Studi sui t r a t t a t i (1958).
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Völkerrechtsquellen
Z u r Wiener Vertragsrechtskonvention 1969: R. Ago, D r o i t des traités à la lumière de la Convention de Vienne, RdC 134 (19711) 297; F. Capotorti , Convenzione d i Vienna sul d i r i t t o dei T r a t t a t i (1969); E. De La Guardia / Y. M. Delpech, E l derecho de los tratados y la Convención de Viena de 1969 (1970); R. Kearney / R. Dalton, The Treaty on Treaties, A J I L 64 (1970) 495; M . Lachs, The L a w of Treaties, i n : Ree. P. Guggenheim 1968, 391; A. Mar esca, I l d i r i t t o dei t r a t t a t i (1971); St. E. Nahlik, L a Conférence de Vienne sur le droit des traités, A F D I 15 (1969) 24; G. E. Do Nascimento E Silva, Conferência de Viena sôbre ο D i retto dos tratados (1971); H. Neuhold, Die Wiener Vertragsrechtskonvention 1969, A V R 15 (1971) 1; P. Reuter, Introduction au droit des traités (1972); Sh. Rosenne, The L a w of Treaties — A Guide to the Legislative History of the Vienna Convention (1970); H. Rumpf, Wiener Konvention: Der Vertrag der Verträge, Außenpolitik 1971, 581; St. Verosta, Die Vertragsrechts-Konferenz der Vereinten Nationen 1958/69 u n d die Wiener Konvention über das Recht der Verträge, ZaöRV29 (1969) 654.
Das Völkervertragsrecht w a r bisher gewohnheitsrechtlich geregelt. Die International L a w Commission der Vereinten Nationen hat i n den letzten Jahren einen umfassenden Vertrag über das Völkervertragsrecht ausgearbeitet, der auf der Wiener Vertragsrechtskonferenz am 23. Mai 1969 von den beteiligten Staaten m i t Zweidrittelmehrheit angenommen worden ist. Damit steht die Vertragsrechtskonvention (ZaöRV 29 [1969] 711) der Ratifikation durch die Staaten offen. I n K r a f t getreten ist sie bisher nicht, w e i l die erforderlichen 35 Ratifikationen noch nicht hinterlegt worden sind. Auch ist die Bundesrepublik Deutschland an den Vertrag deshalb nicht gebunden, w e i l sie i h n bisher nicht ratifiziert hat. Die Vertragsrechtskonvention kodifiziert aber w e i t h i n nur bestehendes Völkergewohnheitsrecht. Deswegen und w e i l ihr bei der Konferenz die ganz überwiegende Mehrheit der Staaten zugestimmt hat, darf sie i n weitem Umfang als Ausdruck des Völkergewohnheitsrechts gelten (IGH, Namibia-Gutachten, Rep. 1971, 47; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Golder-Fall, EuGRZ 1975, 91).
I. Begriff, Form und Verbindlichkeit der volkerrechtlichen Verträge A. Rapisardi-Mir int. 50 (1923) 653.
abelli, L a classification des traités internationaux, Rev. dr.
1. Ein völkerrechtlicher Vertrag ist das bewußte und gewollte Zusammentreffen der übereinstimmenden Willenserklärungen von mindestens zwei Völkerrechtssubjekten, das auf die Begründung, Abänderung oder Aufhebung völkerrechtlicher Beziehungen gerichtet ist (vgl. Berber 1,411). a) Völkerrechtsverträge sind nur Abkommen, an denen auf beiden Seiten ein Völkerrechtssubjekt beteiligt ist. Völkerrechtsverträge sind so
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etwa die Verträge zwischen Staaten, zwischen Staaten und internationalen Organisationen und zwischen internationalen Organisationen. Das Konkordat — ein Vertrag zwischen dem Hl. Stuhl und einem Staat — stellt zwar einen Völkerrechtsvertrag dar, weicht aber wegen der Besonderheiten des Hl. Stuhls und der Vertragsbeziehungen von den üblichen Völkerrechtsverträgen erheblich ab. Verträge zwischen einem Staat und einem großen ausländischen Industrieunternehmen sind i n der Regel keine Völkerrechtsverträge, können aber i n Abschlußform und Inhalt sich den völkerrechtlichen Abkommen annähern (quasi-völkerrechtliche Verträge, vgl. Böckstiegel, Der Staat als Vertragspartner ausländischer Privatunternehmen [1971]; Rengeling, Privatvölkerrechtliche Verträge [1971]). Keine Völkerrechtsverträge sind Abkommen zwischen innerstaatlichen juristischen Personen des Privatrechts oder des öffentlichen Hechts (Gemeinden), die verschiedenen Rechtsordnungen angehören. b) Die Verträge müssen auf die Begründung, Abänderung oder A u f hebung rechtlicher Beziehungen gerichtet sein. Diese Rechtsbindungen sind i m Völkerrecht häufig wesentlich unbestimmter als i m nationalen Recht. Dadurch w i r d die Qualität als Vertrag nicht i n Frage gestellt. Verträge können auch auf den Abschluß eines weiteren Vertrages {pactum de contrahendo) oder auf die Verpflichtung zu Verhandlungen (pactum de negotiando) gerichtet sein. Gentlemen agreements, die nur moralische Pflichten begründen, gehören dagegen nicht zu den völkerrechtlichen Verträgen. c) Es muß sich u m völkerrechtliche Verpflichtungen handeln. Die Völkerrechtssubjekte und insbesondere die Staaten haben die Möglichkeit, ihre Verpflichtungen der Rechtsordnung eines bestimmten Staates zu unterstellen. Dann handelt es sich nicht u m völkerrechtliche Verträge, sondern u m privatrechtliche Verträge der betreffenden Rechtsordnung. Eine solche Unterstellung ist jedoch wegen der souveränen Gleichheit der Staaten nicht zu vermuten. Sie kann nur einer ausdrücklichen Regelung entnommen werden. 2. a) Die völkerrechtlichen Verträge tragen unterschiedliche Bezeichnungen. Sie nennen sich etwa Vertrag, Abkommen, Abmachung, Übereinkommen, Übereinkunft, Statut, Deklaration, Protokoll, Notenwechsel. Völkerrechtliche oder innerstaatliche Folgen sind m i t dieser unterschiedlichen Bezeichnung nicht verbunden. b) Verträge zwischen zwei Vertragspartnern werden bilaterale oder zweiseitige Abkommen, Verträge m i t drei oder mehr Vertragspartnern multilaterale oder mehrseitige Verträge genannt. Diese Unterscheidung führt zu gewissen rechtlichen Unterschieden beim Vertragsschluß, bei den Vorbehalten, bei der Auslegung usw.
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Völkerrechtsquellen
c) Wegen der Notwendigkeit der parlamentarischen Zustimmung ist zwischen politischen Verträgen, Verträgen, welche Gegenstände der Bundesgesetzgebung berühren, und anderen Verträgen, insbesondere den Verwaltungsabkommen zu unterscheiden. A u f der völkerrechtlichen Ebene unterscheidet man ebenfalls nach dem Inhalt der Verträge zwischen Friedensverträgen, Bündnisverträgen, kriegsrechtlichen Abkommen, Handelsverträgen, Niederlassungsverträgen, Auslieferungsverträgen, Doppelbesteuerungsabkommen, Sozialversicherungsabkommen etc. Für diese verschiedenen Abkommen haben sich jeweils einheitliche Klauseln entwickelt, was für die Auslegung der Abkommen von Bedeutung ist. d) Wichtig ist auch die Unterscheidung zwischen rechtsetzenden und rechtsgeschäftlichen Verträgen. Rechtsgeschäftliche Verträge (traitéscontrats) erfüllen entgegengesetzte, rechtsetzende Verträge (traités-lois ) gleichlaufende Interessen. Z. B. ist ein Vertrag über eine Gebietsabtretung oder eine Entschädigungsleistung ein rechtsgeschäftlicher Vertrag, der Vertrag über die Einführung eines einheitlichen Kaufgesetzes ein rechtsetzender Vertrag. Diese Unterscheidung beeinflußt u. a. die Auslegung und die innerstaatliche Anwendung. e) Als besondere Vertragsart werden häufig die objektiven oder Statusverträge genannt. Bestimmte Statusabkommen, wie etwa die Grenzverträge, w i r k e n entgegen den allgemeinen Grundsätzen auch „objektiv" gegenüber Drittstaaten. Bei anderen Statusverträgen wie etwa bei den Verträgen über die Bildung von Staaten oder internationalen Organisationen setzt die Bindung von Drittstaaten deren Anerkennung voraus. 3. Die Bindungskraft der völkerrechtlichen Verträge beruht nach einhelliger Auffassung auf dem Rechtssatz pacta sunt servanda, der sich von einem allgemeinen Rechtsprinzip des Völkerrechts zu Völkergewohnheitsrecht verstärkt hat. 4. Völkerrechtliche Verträge können schriftlich oder auch mündlich, ja sogar durch konkludente Handlungen geschlossen werden. Allerdings sind mündlich geschlossene Abkommen sehr selten. Es dürfte eine Vermutung dahin bestehen, daß nur bei Einhaltung der Schriftform ein B i n dungswille besteht. Überdies setzen die innerstaatlichen Verfahrensvorschriften (Zustimmung des Parlaments) die Schriftform der von diesen Vorschriften erfaßten Verträge voraus. Nur schriftlich geschlossene A b kommen können auch von den nationalen Gerichten und Behörden unmittelbar angewendet werden.
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Π . Das Vertragssdilußverfahren R. Arnold, T r e a t y - M a k i n g Procedure (1938); G. Balladore Pallieri, L a formation des traités dans la pratique internationale contemporaine, EdC 74 (1949 I) 469; J. Basdevant I B. Mirkine Guetzévich, Méthodes de conclusion des traités internationaux, Rev. dr. int. (La Pradelle) 11 (1933) 210; H. B l i x , TreatyM a k i n g Power (1960); P. De Visscher, De la conclusion des traités internationaux (1943); F. Mosconi, L a formazione dei t r a t t a t i (1968); Cl. Parry, Some Recent Developments i n the M a k i n g of M u l t i p a r t i t e Treaties, Transactions of the Grotius Society 36 (1950) 149; H. Saba, Certains aspects de l'évolution dans la technique des traités et conventions internationales, R G D I P 54 (1950) 417.
1. Die Vertragsfähigkeit Nach A r t . 6 W V R K besitzt jeder Staat die Fähigkeit zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge. Es entspricht dem bisherigen Völkergewohnheitsrecht, daß auch nicht anerkannte Staaten diese Fähigkeit besitzen. Internationale Organisationen besitzen die Vertragsfähigkeit, soweit der Gründungsvertrag dies vorsieht. Gliedstaaten (Länder) von Bundesstaaten besitzen die Vertragsfähigkeit, soweit die Bundesverfassung dies vorsieht. Beschränkt vertragsfähig ist auch der Hl. Stuhl. 2. Die zum Abschluß befugten Organe L. Wohlmann, Die Kompetenz zum Abschluß von Staatsverträgen nach Völkerrecht (1931).
Das Völkerrecht überläßt die Bestimmung der zum Abschluß von Völkerrechtsverträgen befugten Organe den nationalen Verfassungen bzw. dem Gründungsvertrag der internationalen Organisationen. Die für die Bundesrepublik Deutschland und die Länder zum Abschluß befugten Organe werden also durch das GG und die Landesverfassungen bestimmt. Nur ausnahmsweise verleiht das Völkerrecht selbst innerstaatlichen Organen die Befugnis zum Abschluß von völkerrechtlichen Verträgen. Oberbefehlshaber sind so nach Völkerrecht zum Abschluß von Waffenstillstandsverträgen selbst dann ermächtigt, wenn eine innerstaatliche Zuständigkeitsnorm fehlt oder den Abschluß solcher Verträge ausschließt. Auch w i r d man annehmen können, daß das Völkerrecht selbst das Staatsoberhaupt oder den Außenminister zum Abschluß von Verträgen ermächtigt (umstr.). 3. Die Bevollmächtigung Die Vertragsverhandlungen werden regelmäßig von Diplomaten oder Ministern geführt, die für die Aushandlung und Unterzeichnung einer schriftlichen Vollmacht durch das nach innerstaatlichem Recht zum A b -
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Völkerrechtsquellen
schluß von Verträgen befugte Organ bedürfen. Nach A r t . 7 Π W V R K , der insoweit das Völkergewohnheitsrecht wiedergibt, benötigen eine solche Vollmacht nach Völkerrecht nicht: die Staatsoberhäupter, die Regierungschefs und die Außenminister hinsichtlich aller Akte i m Vertragsschluß verfahr en; die Missionschefs für die Annahme eines Textes eines Vertrages zwischen dem Staat, bei dem sie akkreditiert sind, und ihrem Heimatstaat; die Staatenvertreter, die bei einer internationalen Konferenz oder internationalen Organisation akkreditiert sind, für die Annahme eines Textes auf der Konferenz oder i n dieser Organisation. Akte i n bezug auf den Abschluß von Verträgen, die von einer nicht bevollmächtigten Person ausgehen, haben keine rechtliche Wirkung, wenn der betreffende Staat sie nicht später bestätigt (Art. 8 WVRK). 4. Die Akte des Vertragsschlusses H. Blix, The Requirement of Ratification, B Y I L 30 (1953) 352; J. S. Camera, The Ratification of International Treaties (1949); F. Dehousse, L a ratification des traités (1935); Freymond, L a ratification des traités et le problème des rapports entre le droit interne et le droit international (1947); Georgopoulos, L a ratification des traités et la collaboration d u Parlement (1939) ; Jones, F u l l Powers and Ratification (1946); Meissner, Vollmacht u n d Ratifikation (1934); F. O. Wilcox, The Ratification of International Conventions (1935).
Man unterscheidet zwischen einfachem, zusammengesetztem und gemischtem Verfahren. Einfach ist das Verfahren, wenn der Vertrag bindend durch die Organe abgeschlossen wird, welche den Vertrag ausgehandelt haben, wenn der Vertrag also m i t der Unterzeichnung bindet. Dieses schnelle Verfahren steht heute i m Vordergrund. Beim zusammengesetzten Verfahren w i r d der Vertrag zunächst von den Unterhändlern paraphiert (d. h. m i t den Initialen versehen) oder unterzeichnet und später vom Staatsoberhaupt, vom Regierungschef oder vom Außenminister angenommen. Diese Annahme heißt Ratifikation, wenn sie vom Staatsoberhaupt ausgeht. Bei bestimmten Verträgen bedarf die Ratifikation der vorherigen Zustimmung des Parlaments. Die Ratifikationsurkunden werden bei bilateralen Verträgen ausgetauscht und bei multilateralen Verträgen bei einem Vertragspartner oder bei einer internationalen Organisation (Generalsekretär der UNO) hinterlegt. Beim gemischten Verfahren w i r d der Vertrag von dem einen Vertragspartner durch die Unterzeichnung, beim anderen Vertragspartner durch die Ratifikation angenommen. I . Der Vertragsinhalt w i r d grundsätzlich durch die Zustimmung der Unterhändler aller Vertragspartner angenommen. W i r d der Vertrag auf einer internationalen Konferenz ausgehandelt, genügt die Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit, wenn die Staaten nicht m i t Zweidrittelmehrheit etwas anderes beschließen (Art. 9 WVRK).
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2. Die Endgültigkeit und Richtigkeit des vereinbarten Vertragstextes w i r d durch die Authentifizierung festgestellt. Diese Authentifizierung erfolgt gewöhnlich durch die Unterzeichnung, die Unterzeichnung ad referendum oder die Paraphierung des Textes bzw. durch dessen A u f nahme i n die Schlußakte einer internationalen Konferenz; die Staaten können aber auch i m Vertrag oder außerhalb des Vertrages ein anderes Verfahren vereinbaren (Art. 10 WVRK)! 3. Die endgültige Zustimmung zum Vertrag kann durch die Unterzeichnung, den Austausch der Vertragsurkunden, die Ratifizierung, die Annahme, die Genehmigung oder den Beitritt erfolgen (Art. 11 WVRK). Durch die Unterzeichnung t r i t t die endgültige Bindung ein, wenn der Vertrag dies vorsieht, wenn sich auf sonstige Weise ein entsprechender Wille der Vertragspartner feststellen läßt oder wenn der Wille eines Staates, der Unterzeichnung diese W i r k u n g zu verleihen, aus der V o l l macht hervorgeht oder während der Verhandlungen erklärt worden ist (Art. 12 WVRK). Eine Ratifikation durch das Staatsoberhaupt oder eine Annahme durch den Regierungschef oder den Außenminister ist erforderlich, wenn dies i m Vertrage vorgesehen worden ist, wenn ein entsprechender Wille der Vertragspartner sonstwie festgestellt werden kann, wenn der Unterhändler den Vertrag unter Vorbehalt der Ratifikation unterzeichnet hat und wenn der Wille eines Vertragspartners, den Vertrag unter Vorbehalt der Ratifikation zu unterzeichnen, aus der Vollmacht hervorgeht oder von dem Unterhändler während der Verhandlungen geäußert worden ist (Art. 14 WVRK). Die Ratifikation oder die Annahme entfalten ihre W i r k u n g erst m i t dem Austausch oder der Hinterlegung der entsprechenden Urkunden (Art. 16 WVRK). Der Austausch von Noten bindet schließlich die Vertragspartner, wenn sie dies vereinbart haben (Art. 13 WVRK). Beim Beitritt handelt es sich u m die Annahme eines zwischen anderen Staaten geschlossenen Vertrages. Sie kann durch einseitigen A k t erfolgen, wenn der Vertrag dies ausdrücklich oder stillschweigend vorsieht oder die Vertragspartner dies nachträglich zulassen (Art. 15 WVRK)! 5. Das Inkrafttreten
des Vertrages
Von der Bindung an den Vertrag, die durch die Unterzeichnung oder die Ratifikation herbeigeführt wird, ist das Inkrafttreten des Vertrages zu unterscheiden. Das Datum des Inkrafttretens hängt vom Willen der Vertragspartner ab. So können die Staaten vereinbaren, daß der Vertrag m i t einer bestimmten Zahl von Ratifikationen oder von einem bestimmten Datum an i n K r a f t tritt. Haben die Parteien nichts vereinbart, t r i t t der Vertrag zu dem Zeitpunkt i n Kraft, i n dem er für den letzten Vertragspartner verbindlich wird. W i r d der Vertrag für eine bestimmte
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Völkerrechtsquellen
Partei erst nach seinem Inkrafttreten verbindlich, bindet er diese Partei erst von diesem Zeitpunkt an. Die Vertragsvorschriften über das Verfahren des Vertragsabschlusses (Authentifizierung, endgültige Verbindlichkeit, Hinterlegung der Ratifikationsurkunden usw.) treten m i t der Annahme (Zustimmung aller Unterhändler oder Zweidrittelmehrheit der Konferenz) i n K r a f t (Art. 24 WVRK). Der Vertrag kann vorläufig anwendbar sein, wenn die Vertragspartner dies vereinbaren; die Pflicht zur vorläufigen Anwendbarkeit erlischt für einen Staat, wenn er den anderen Staaten seine Absicht notifiziert, dem Vertrag nicht beizutreten (Art. 25 WVRK). 6. Pflichten vor Inkrafttreten
des Vertrages
R. Bernhardt, Völkerrechtliche Bindungen i n den Vorstadien des Vertragsschlusses, ZaöRV 18 (1957/58) 652; Lettow, Die völkerrechtliche B i n d u n g nicht ratifizierter Verträge (1953); J. Nisot, L a force obligatoire des traités signés non encore ratifiés, J D I 57 (1930) 878; P. Vexler, De l'obligation de ratifier les traités régulièrement conclus (1923).
Schon i m außervertraglichen internationalen Verkehr gilt der Grundsatz der bona fides. U m so mehr lassen sich aus diesem Grundsatz rechtliche Bindungen ableiten, wenn die Staaten durch Verhandlungen i n engere Beziehungen getreten sind (a. A. BVerfG 1, 283). Schon während der Verhandlungen dürfen die Staaten keine Handlungen vornehmen, welche die Zwecke der Verhandlungen gefährden (Berber I, 419). Die Staaten sind zwar frei, ob sie einen ratifikationsbedürftigen unterzeichneten Vertrag ratifizieren wollen oder nicht. Sie sind aber verpflichtet zu prüfen, ob sie den Vertrag ratifizieren wollen. Eine Pflicht zur Zuleitung des Vertrages an das Parlament besteht nicht. Auch eine Pflicht zur Entscheidung innerhalb eines bestimmten Zeitraums ist abzulehnen. Eine Pflicht zur ausdrücklichen Stellungnahme gegenüber den Vertragspartnern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Dagegen ist der Staat zwischen der Unterzeichnung und der Entscheidung über die Ratifikation und zwischen der Ratifikation und dem Inkrafttreten verpflichtet, alles zu unterlassen, was den Vertragszweck gefährden würde (Art. 18 WVRK). 7. Registrierung
und Veröffentlichung
Dehousse, L'enregistrement des traités (1929); Schwab, Die Registrierung der internationalen Verträge beim V ö l k e r b u n d (1929).
I n Reaktion auf die Geheimverträge sah A r t . 18 der Völkerbundsatzung vor, daß die Verträge der Mitgliedstaaten beim Sekretariat einzutragen und von diesem zu veröffentlichen sind; kein Vertrag sollte vor der Eintragung rechtsverbindlich sein. Von der h. L. wurde der Ausschluß der Rechtsverbindlichkeit dahin beschränkt, daß niemand sich
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vor den Organen des Völkerbunds auf ein solches Abkommen berufen könne. A r t . 102 der UN-Satzung übernimmt die Vorschrift der Völkerbundsatzung ausdrücklich i n diesem engeren Sinne. Neben die völkerrechtlichen Vorschriften über die Veröffentlichung treten innerstaatliche Vorschriften. 8. Die Wirkung von Verletzungen des nationalen Rechts beim Abschluß von Verträgen W. K. Geck, Die völkerrechtlichen W i r k u n g e n verfassungswidriger Verträge, Zugleich ein Beitrag zum Vertragsschluß i m Verfassungsrecht der Staatenw e l t (Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht u n d Völkerrecht, 38) (1963); W. K. Geck, The Conclusion of Treaties i n Violation of the I n t e r n a l L a w of a Party, ZaöRV 27 (1967) 429 ff.
Beim Abschluß von Verträgen können nationale Bestimmungen über die Vertragsfähigkeit der Gliedstaaten, über die Kompetenzverteilung von Bund und Ländern, über die Abschlußbefugnis der internationalen Organe (Ratifikationsvorbehalt für den Staatspräsidenten; Gegenzeichnung bei Ratifikation; Zustimmung des Parlaments zur Ratifikation) sowie materielles Verfassungsrecht (etwa die Grundrechte oder die Rechtsstaats- und Sozialstaatsklauseln) verletzt werden. Fraglich ist, ob diese Verletzung der nationalen Verfassung beim Vertragsschluß die völkerrechtliche Verbindlichkeit des Vertrages berührt. I m bisherigen Völkerrecht w a r diese Frage äußerst umstritten. Eine erste Theorie erklärt jede Verletzung des nationalen Verfassungsrechts für unbeachtlich. Die Gegenthese w i l l bei jeder Verletzung des Verfassungsrechts Nichtigkeit des Vertrages annehmen, w e i l das Völkerrecht i n den betreffenden Fragen auf das nationale Recht verweise. Daneben bestehen zwei vermittelnde Theorien. Nach der einen Auffassung ist nur die offenkundige Verletzung nationalen Rechts beachtlich. Geck w i l l dagegen zwischen der Befugnis, eine Erklärung nach außen abzugeben und den Vorschriften über die innerstaatliche Willensbildung (ministerielle Gegenzeichnung bei Ratifizierung; M i t w i r k u n g des Parlaments) unterscheiden. Die Verletzung der Erklärungsbefugnis sei völkerrechtlich relevant, die Verletzung der Vorschriften über die Willensbildung (wie die Verletzung materiellen Rechts) dagegen nicht. Nach A r t . 46 W V R K ist die Verletzung von Kompetenzvorschriften (Erklärungsbefugnis und Willensbildung i m Sinne von Geck, nicht materielle Verfassungsbestimmungen) nur dann beachtlich, wenn es sich um eine offenkundige Verletzung fundamentaler innerstaatlicher Vorschriften handelt; eine Verletzung ist offenkundig, wenn sie für jeden Staat, der nach der üblichen Praxis und nach Treu und Glauben handelt, objektiv evident ist. Es handelt sich also u m eine Generalklausel, die der Auslegung bedarf. U m die Berufung auf innerstaatliche Verfassungs-
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Völkerrechtsquellen
Verletzungen z u begrenzen, i s t das V e r f a h r e n n a c h A r t . 65 f f .
WVRK
einzuhalten. Π Ι . Willensmängel Atassy, Les vices de consentement dans les traités internationaux à l ' e x clusion des traités de paix (1929); Bleiber, Aufgezwungene Verträge i m V ö l kerrecht, Z V R 1938, 385; Buza, Der Zwang i m Völkerrecht, Z V R 21 (1937) 420; Cavaglieri, L a violenza come motivo d i n u l l i t à dei trattati, Riv. dir. int. 27 (1935) 11; F. De Visscher, Des traités imposés par la violence, Rev. dr. int. (De Visscher) 58 (1931) 513; Ο. Golbs-Willms, Erzwungene Staatsverträge (1933); Grad, Der Zwang i m Völkerrecht unter besonderer Berücksichtigung des v ö l kerrechtlichen Vertragsrechts (1912); P. Guggenheim, L a validité et la n u l l i t é des actes juridiques internationaux, RdC 74 (1949 I) 195; Kunz, Die Revision der Pariser Friedensverträge (1932); M . R. Saulle, I n tema d i errore nei t r a t t a t i internazionali, Riv. dir. int. 42 (1959) 607; Schoen, Erzwungene Friedensverträge, Z V R 21 (1937) 277; Seidl-Hohenveldern, Die Bedeutung des Zwanges i m Völkerrecht, ÖJZ 1948, 345; B. Shatzky, L a validité des traités, Rev. dr. int. (La Pradelle) 11 (1933) 549; Α. Verdross, Anfechtbare u n d nichtige Staatsverträge, ZöR 15 (1935) 289; J. H. W. Verzijl, L a validité et la n u l l i t é des actes juridiques internationaux, Rev. dr. int. (La Pradelle) 15 (1935) 284; Weidner, Der erzwungene Vertrag i m Völkerrecht (1939); H. Weinschel, Willensmängel bei v ö l k e r rechtlichen Verträgen, Z V R 15 (1930) 446; G. Wenner, Willensmängel i m V ö l k e r recht (1940); E. Vitta, L a validité des traités internationaux (1940). ff. W. Briggs, Procedures for Establishing the I n v a l i d i t y or Termination of Treaties under the ILC's D r a f t Articles on the L a w of Treaties, A J I L 61 (1967) 976; H. Brosche, Zwang beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge (1974); PJi. Cahier, Les caractéristiques de l a n u l l i t é en droit international et tout particulièrement dans la Convention de Vienne de 1969 sur le droit des traités, R G D I P 76 (1972) 645; T. O. Elias, Problems Concerning the V a l i d i t y of Treaties, RdC 134 (1971 I I I ) 335. 1. a) Es g i b t k a u m e i n e n Bereich, i n d e m die M e i n u n g e n d e r V ö l k e r rechtslehre so w e i t a u s e i n a n d e r g e h e n w i e b e i d e n W i l l e n s m ä n g e l n . U m s t r i t t e n ist, ob die W i l l e n s m ä n g e l ü b e r h a u p t eine Rechtsfolge haben, w i e d i e W i l l e n s m ä n g e l z u d e f i n i e r e n s i n d u n d w e l c h e Rechtsfolge d e n W i l l e n s m ä n g e l n z u k o m m t . Diese L a g e i s t a u f verschiedene U m s t ä n d e z u r ü c k z u f ü h r e n . Z u n ä c h s t g i b t es k a u m L i t e r a t u r , d i e sich m i t d e n G r u n d l a g e n des v ö l k e r r e c h t l i c h e n Rechtsgeschäfts — d e r W i l l e n s e r k l ä r u n g — befaßt. Es b l e i b t deshalb u n k l a r , ob m e h r a u f die E r k l ä r u n g o d e r a u f d e n i n n e r e n W i l l e n der V e r t r a g s p a r t e i e n a b z u s t e l l e n ist. Z w e i tens g i b t es i m B e r e i c h der W i l l e n s m ä n g e l so w e n i g P r a x i s , daß k l a r e Sätze des V ö l k e r g e w o h n h e i t s r e c h t s sich n i c h t b i l d e n k o n n t e n . D e s h a l b g r e i f t die L e h r e i m R a h m e n der a l l g e m e i n e n R e c h t s p r i n z i p i e n a u f die J l e c h t s v e r g l e i c h u n g z u r ü c k . D i e V e r g l e i c h u n g i s t i n diesem B e r e i c h aber noch so u n v o l l s t ä n d i g u n d oberflächlich, u n d sie f ü h r t z u so v e r schiedenen Ergebnissen, daß e i n h e i t l i c h e A u s s a g e n s c h w i e r i g sind. So k o n n t e d e n n u n t e r R ü c k g r i f f a u f d e n Satz pacta sunt servanda b e h a u p t e t w e r d e n , daß die W i l l e n s m ä n g e l i m V ö l k e r r e c h t v ö l l i g u n b e a c h t l i c h sind.
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b) Unter diesen Vorbehalten können folgende Aussagen versucht werden: aa) Der Zwang gegen den Unterhändler w i r d als beachtlich angesehen. Voraussetzung ist einmal, daß die Zwangsanwendung widerrechtlich ist. Das ist der Fall bei widerrechtlichen M i t t e l n (Gefangennahme) oder beim Mißbrauch rechtmäßiger M i t t e l zur Verfolgung rechtswidriger Zwecke. Der Zwang muß zweitens wesentlich sein. Der Gezwungene muß also nach den Umständen annehmen, daß eine nahe und erhebliche Bedrohung von Leib, Leben Ehre, Freiheit, Vermögen oder geistige Werte für i h n selbst oder für nahe Familienangehörige vorliegt. Der Zwang muß schließlich kausal für die Willenserklärung sein. Auch der Zwang von dritter Seite ist beachtlich, wenn der Erklärungsempfänger von der Zwangslage Kenntnis besitzt. Der Zwang gegen den Unterhändler ist unbeachtlich, wenn die Ratifikation vorbehalten wurde und der Staatschef bei der Ratifizierung selbst nicht unter Zwang handelte. bb) Ob der Zwang gegen den Staat beachtlich ist, ist seit dem Zweiten Weltkrieg äußerst umstritten. Anlaß zur Diskussion bot vor allem das „Versailler Diktat", seit 1939 auch das Münchener Abkommen. Aus dem sich allmählich bildenden Gewaltverbot wurde der Schluß gezogen, daß auch der rechtswidrige Zwang gegen den Staat die Verbindlichkeit der Verträge antaste. Z u einem Satz des Völkergewohnheitsrechts hat sich dieser Gedanke allerdings w o h l kaum verdichtet. cc) Äußerst umstritten w a r die Beachtlichkeit des Irrtums. Nachdem der I G H i n zwei Grenzfällen die Berufung auf den I r r t u m zuließ, ist dessen Relevanz w o h l nicht mehr zu bestreiten. Allerdings muß es sich u m einen entschuldbaren I r r t u m handeln und w i r d der I r r t u m eines Staates i n der Regel kaum zu entschuldigen sein. Denn die Verhandlungsdelegationen, die i n ständiger Verbindung m i t den Verwaltungen ihres Heimatlandes stehen, haben Zugang zu umfassenden Informationsmitteln und zum Expertentum. Wenn die Ratifikation vorbehalten wird, stehen weitere Informationsmittel offen. E i n I r r t u m w i r d deshalb bei Staaten nur selten auftreten. Unumstritten ist, daß der I r r t u m zweitens wesentlich sein muß. Was darunter zu verstehen ist, bleibt aber weitgehend unklar. Der error in negotio — jemand gibt eine Willenserklärung ab, die zu Rechtswirkungen führt, die er nicht gewollt hat — und der Rechtsirrtum dürften wegen der Informationsmöglichkeiten der Staaten kaum entschuldbar sein, wenn die Rechtslage einigermaßen klar ist. Allerdings bleibt i m Völkerrecht heute noch vieles unklar und w i r d manchmal meist durch ein internationales Gericht oder Schiedsgericht endgültig geklärt. Der error in persona dürfte i m Völkerrecht kaum vorkommen, da man die
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Staaten, m i t denen man verhandelt, i n der Regel genau kennt oder kennen muß. Ähnliches gilt für den Gegenstand des Vertrages. Ein Erklärungsirrtum, d. h. ein I r r t u m über den Inhalt der Erklärung, die man abgibt, dürfte wesentlich sein. Anders der Motivirrtum. Der I r r t u m muß schließlich für die Abgabe der Willenserklärung kausal sein. dd) Auch die Beachtlichkeit der arglistigen Täuschung ist äußerst umstritten. Das liegt zum größeren Teil daran, daß man sich über die Anforderungen, die man an die „Moral" der Staaten stellen muß, i m unklaren ist. Die Staaten haben sicherlich nicht denselben Anforderungen unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben zu folgen wie die Individuen. I n der Regel darf jeder Staat seine Interessen m i t allen M i t t e l n verfolgen, die vom Völkerrecht nicht ausdrücklich verboten sind. Eine Verpflichtung zur Aufklärung des Partners besteht wegen dessen eigenen Informationsmöglichkeiten kaum. So w i r d man den Standard für die Behauptung falscher Tatsachen, die Ausnutzung eines bestehenden Irrtums und das Verschweigen von Tatsachen relativ hoch ansetzen müssen. Diese Täuschung muß beim Partner einen I r r t u m und dieser I r r t u m die Willenserklärung hervorgerufen haben. ee) Für die W i r k u n g der Willensmängel auf die Verträge wurden alle i m nationalen Recht bekannten Fehlerhaftigkeiten von der Nichtigkeit über die relative Nichtigkeit bis zur Anfechtbarkeit behauptet. Klare Völkerrechtsregeln haben sich also für die Wirkung der Fehler ebensowenig wie für die Voraussetzungen der Fehlerhaftigkeit herausgebildet. Uberwiegende Gründe sprechen allerdings für die Anfechtbarkeit, wobei die Anfechtung den Vertrag ex tunc nichtig macht. Einmal sind die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Anfechtung umstritten, so daß erst die tatsächliche Anfechtung klarere Verhältnisse schafft. Zweitens ist durch die Willensmängel i n erster Linie oder sogar allein der Staat betroffen, der die Erklärung abgegeben hat. N u r i h m darf die Entscheidung vorbehalten werden, ob der Vertrag gelten soll oder nicht. U n d schließlich ist auch i m nationalen Recht — wenn auch unter verschiedenen technischen Ausformungen — d i e Geltendmachung der Willensmängel dem betroffenen Individuum vorbehalten. Daß es i m Völkerrecht nicht wie i m nationalen Recht immer ein Gericht gibt, das über die Willensmängel entscheidet, schließt die Anfechtbarkeit nicht aus, verbietet aber vorbehaltlich einer umfassenden vertraglichen Regelung der Willensmängel (WVRK), die Nichtigkeit erst m i t einer Gerichtsentscheidung eintreten zu lassen, wie dies etwa i m französischen Z i v i l recht vorgesehen ist. 2. Die W V R K enthält einen Teil V über die Nichtigkeit und das Erlöschen der Verträge. Nach A r t . 42 Abs. 1 kann die Gültigkeit eines
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Vertrages oder einer Willenserklärung nur nach den Vorschriften der W V R K angefochten werden. Abschnitt 2 des Teils V behandelt die einzelnen Nichtigkeitsgründe: Verletzung einer innerstaatlichen Kompetenznorm (Art. 46, s. o.), I r r t u m (Art. 48), arglistige Täuschung (Art. 49), Bestechung des Unterhändlers (Art. 50), Zwang gegen den Unterhändler (Art. 51), Zwang gegen den Staat (Art. 52), Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht (Art. 53). Abschnitt 3 des Teils V behandelt die Gründe für das Erlöschen und die Suspendierung von Verträgen. I m Abschnitt 4 ist das Verfahren geregelt, i n welchem die i n Abschnitt 2 und 3 genannten Nichtigkeits- und Erlöschensgründe geltend zu machen sind. A r t . 44 behandelt die Frage, ob der Vertrag i m Ganzen oder nur zum Teil nichtig w i r d und erlischt. Abschnitt 5 schließlich regelt die Wirkungen der Nichtigkeit und des Erlöschens. a) Nach A r t . 48 kann ein Staat sich auf einen I r r t u m berufen, wenn dieser I r r t u m eine Tatsache betrifft, die nach Ansicht des Staates i m Augenblick des Vertragsschlusses existierte und eine wesentliche Grundlage für die Willenserklärung dieses Staates darstellte. Eine Berufung auf den I r r t u m ist ausgeschlossen, wenn der betreffende Staat bei dem I r r t u m durch sein Verhalten mitgewirkt hat oder wenn die Umstände so lagen, daß der Staat m i t der Möglichkeit eines Irrtums rechnen mußte. Damit stimmt die Regelung weitgehend m i t dem bisherigen Völkerrecht überein. Wann ein I r r t u m wesentlich und unverschuldet ist, kann nach der bisherigen Praxis und Rechtsvergleichung nicht klar entschieden werden. Auch die Auslegung führt hier nicht weiter. A r t . 48 gibt also der weiteren Rechtsschöpfung umfassenden Raum. b) Ein weiterer Willensmangel ist die arglistische Täuschung (conduite frauduleuse, fraudulent conduct) des Vertragspartners. Auch hier fehlen noch klare Standards. c) Die Bestechung und der Zwang gegen Unterhändler (Art. 50 f.) entsprechen geltendem Völkergewohnheitsrecht. Neu ist dagegen die Regelung des A r t . 52. Danach ist jeder Vertrag nichtig, dessen Abschluß durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt i n Verletzung der Prinzipien des Völkerrechts erreicht wurde, welche i n die Charta der UNO aufgenommen wurden. Gedacht ist hier an das Gewaltverbot. Gerade insoweit ist aber heute noch umstritten, ob das Verbot nur die militärische oder auch die wirtschaftliche und politische Gewalt umfaßt. Da i n der Diplomatie die Androhung von wirtschaftlichen und politischen Sanktionen häufig ist u n d möglicherweise auf diese M i t t e l auch gar nicht verzichtet werden kann, muß man bei der Ausdehnung des Gewaltbegriffs die notwendige Vorsicht walten lassen, wenn nicht zahlreiche Verträge nichtig werden sollen und damit das Prinzip pacta sunt servanda eingeschränkt wird. A u f jeden Fall schließt das Recht zur Selbstverteidigung die Rechtswidrigkeit der Gewaltanwendung aus. 3 Bleckmann
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d) Nach A r t . 44 t r i f f t die Nichtigkeit grundsätzlich den gesamten Vertrag. Bei Zwang gegen den Unterhändler oder den Staat kann nur die Nichtigkeit des ganzen Vertrages geltend gemacht werden. Bei I r r tum, arglistiger Täuschung oder Bestechung des Unterhändlers t r i f f t die Nichtigkeit dagegen nur bestimmte Klauseln, wenn der Willensmangel sich nur auf diese Klauseln bezieht, diese Klauseln vom Rest des Vertrages hinsichtlich ihres Vollzugs getrennt werden können, die Annahme dieser Klauseln nicht für die anderen Vertragspartner eine wesentliche Grundlage ihrer Willenserklärung war u n d es nicht ungerecht ist, den Rest des Vertrages zu vollziehen. e) Die Nichtigkeit des Vertrages kann nicht mehr geltend gemacht werden, wenn der betreffende Staat ausdrücklich oder stillschweigend die Gültigkeit des Vertrages bestätigt hat (Art. 45). f) Ein Vertrag, dessen Nichtigkeit nach der W V R K festgestellt worden ist, hat keine Rechtswirkungen (Art. 69 I). Dieses Feststellungsverfahren w i r d i n A r t . 65 ff. geregelt. Danach muß der Staat den Vertragspartnern den Willensmangel und die Nichtigkeit schriftlich notifizieren. Erheben die Vertragspartner innerhalb von drei Monaten nach Empfang der Benachrichtigung keine Einwände, kann der betreffende Staat die Nichtigkeit des Vertrages behaupten. Erheben die Vertragspartner Einwände, müssen die Vertragspartner eines der Streitbeilegungsmittel des A r t . 33 der UN-Charta ergreifen. Führen diese Streitbeilegungsmittel 12 Monate nach Erhebung des Einwands nicht zu einer Lösung, folgt das i m Anhang der W V R K festgelegte obligatorische Schlichtungsverfahren.
IV. Der Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht Ch. De Visscher, Positivisme et „ j u s cogens", R G D I P 1971, 5; A. Fahmi, Peremptory Norms of General Rules of International L a w , ÖZöR 22 (1972) 383; Fröhlich, Die Sittlichkeit i n völkerrechtlichen Verträgen (1924); Κ. Marek , Contribution à l'étude d u jus cogens en droit international, i n : Recueil en hommage à Paul Guggenheim (1968) 426 ff.; A. Miaja de la Muela , Jus cogens en derecho internacional, Festschr. Legaz y Lacambra (1960) 1121; H. Mosler, Jus cogens i m Völkerrecht, SchwJIR 1968, 9; Ray, Des conflits entre principes abstraits et stipulations conventionnelles, RdC 48 (1934 I I ) 635; H. B. Reimann, Jus cogens i m Völkerrecht (1971); S. U. Riesenfeld, Jus dispositivum and Jus cogens, A J I L 60 (1966) 511; E. Schwelb, Some Aspects of International Jus Cogens as Formulated b y the International L a w Commission, A J I L 61 (1967) 946 f f.; E. Suy, The Concept of Jus Cogens i n Public International L a w , i n : Carnegie Endowment for International Peace (1967); Verdross, Forbidden Treaties i n International L a w , A J I L 31 (1937) 574; Verdross, Jus Dispositivum and Jus Cogens i n International L a w , A J I L 63 (1966) 55; G. Zotiades, Rechtstheoretische Grundlagen des zwingenden Völkerrechts, Festschr. f ü r V a l l i n das (1970).
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1. a) Während die positivistische Richtung i m Völkerrecht den Staaten den Abschluß von Verträgen beliebigen Inhalts gestattet, nahm die naturrechtliche Strömung schon frühzeitig an, daß Verträge, die gegen gewisse übergeordnete gemeinsame Interessen der Staatengemeinschaft verstoßen, nichtig sind. Teilweise stützte man sich dabei auf die Tatsache, daß alle nationalen Rechtsordnungen und damit auch ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Völkerrechts sittenwidrige Verträge verbieten, teilweise auf den Gedanken, daß es wie i m nationalen Recht auch i m Völkerrecht neben dispositivem, durch Vertrag abänderbarem Völkergewohnheitsrecht auch zwingendes Völkerrecht gebe, das den ordre public international verkörpere und deren Verletzung die Verträge folglich nichtig macht. Auch heute finden sich noch Autoren wie Verdross (Lehrbuch, 171 f.), die Sittenwidrigkeit und Verstoß gegen ins cogens als Nichtigkeitsgründe nebeneinander aufführen. Schon die von Verdross aufgezählten Beispiele für die Sittenwidrigkeit völkerrechtlicher Verträge zeigen aber, daß diese Fälle ebensogut unter den Begriff des ius cogens gefaßt werden können. Tatsächlich ist dem ius cogens und der Sittenwidrigkeit denn auch der Gedanke des Verstoßes gegen übergeordnete gemeinsame Interessen (ordre public) gemeinsam (Bleckmann, Sittenwidrigkeit wegen Verstoßes gegen den ordre public international, ZaöRV 34 [1974] 112). I m folgenden braucht deshalb nur der Verstoß gegen ius cogens untersucht zu werden. b) Vereinzelt w i r d der Versuch unternommen, zur Bestimmung des ius cogens das Völkergewohnheitsrecht selbst zu befragen. Zwingend sollen also Normen des Völkergewohnheitsrechts sein, wenn die von der Rechtsüberzeugung getragene Praxis davon ausgeht, daß der betreffende Rechtssatz durch einen Vertrag nicht aufgehoben werden kann. Da es aber sehr wenig Fälle gibt, i n denen sich die Staaten gegen einen Vertrag ohne Protest der Gegenseite auf ius cogens berufen haben, führt diese Methode fast nie zur Feststellung von ius cogens. Der einschlägige Satz des Völkergewohnheitsrechts oder das allgemeine Rechtsprinzip des ins cogens muß also, u m effektiv zu sein, dem Rechtsanwender auch ohne einschlägige vorherige Praxis die Feststellung gestatten, bestimmte Normen des Völkerrechts seien so wesentlich, daß ein Verstoß gegen sie die Verträge nichtig macht. Nach Verdross (Die Q u e l l e n . . . , 27) muß es sich u m Normen handeln, die i m Interesse der ganzen Staatengemeinschaft bestehen und tief i m allgemeinen Rechtsbewußtsein verankert sind. Es muß sich dabei u m Pflichten handeln, die ein Staat nicht nur gegenüber einem anderen Staat, sondern gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft zu erfüllen hat. Möglicherweise führt darüber hinaus auch die Verletzung von allgemeinen Interessen selbst dann zur Nichtigkeit, wenn diese Interessen nicht von einer Norm des Völkerrechts geschützt werden. 3*
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c) Als Beispiele für zwingendes Völkerrecht führt Verdross (Die Quell e n . . . , 28 f.; Lehrbuch, 172) drei Vertragsgruppen an: (1) Verträge, durch die sich zwei Staaten verpflichten, i n die Rechte dritter Staaten einzugreifen (Beistandsvertrag zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg; Vertrag, der dritten Staaten eine Verpflichtung auferlegen soll); (2) Verträge, durch die ein Staat verpflichtet würde, seine Freiheit soweit einzuschränken, daß er nicht mehr imstande wäre, seine völkerrechtlich gebotenen oder innerstaatlich erforderlichen Aufgaben zu erfüllen. Darunter sollen vor allem Verträge fallen, durch die die völkerrechtlich anerkannten fundamentalen Menschenrechte aufgehoben oder eingeschränkt werden; (3) Verträge, durch die sich zwei Staaten verpflichten würden, entgegen dem Gewaltverbot Konflikte durch zwischenstaatliche Gewalt auszutragen oder sonst gegen die Satzung der UNO zu verstoßen. Berber (Lehrbuch, 439) fügt diesen Fällen zwei weitere Gruppen hinzu: (4) Verträge, i n denen ein Staat bedingungslos auf den Schutz des Völkerrechts verzichtet und sich der W i l l k ü r eines anderen Staates unterwirft (bedingungslose Kapitulation), (5) Verträge, durch welche ein Staat die Völkerrechtsverletzung eines dritten anderen Staates deckt oder anerkennt. 2. Nach A r t . 53 W V R K ist jeder Vertrag nichtig, der i m Augenblick seines Abschlusses gegen eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts (ius cogens) verstößt. Als zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts w i r d eine Norm angesehen, die von der gesamten Staatengemeinschaft als Norm anerkannt wird, von der keine Abweichung gestattet ist und die nur durch eine Norm des allgemeinen Völkerrechts gleicher Qualität geändert werden kann. Diese Definition des zwingenden Völkerrechts ist zu eng, wenn man die Anerkennung durch die Staatengemeinschaft dahin versteht, daß die von der Rechtsüberzeugung getragene Praxis die Änderung der Norm durch einen Vertrag nicht gestattet. Sie kann aber ohne weiteres auch dahin verstanden werden, daß nicht die Praxis, sondern nur die Rechtsüberzeugung der Staaten die Abänderung ausschließen muß. I m Gegensatz zu dem Verfahren bei Willensmängeln ist hier nach der Notifikation des Mangels und dem erfolglosen Verfahren nach A r t . 33 der UN-Satzung der I G H zur Entscheidung zuständig, wenn die Parteien sich nicht auf die Durchführung eines Schiedsverfahrens geeinigt haben (Art. 66 lit. a WVRK). V. Der Anwendungsbereich der Verträge Völkerrechtliche Verträge regeln immer nur bestimmte Sachverhalte. Diese Sachverhalte werden als Anwendungsbereich der Völkerrechtsverträge bezeichnet. Z u unterscheiden ist zwischen dem sachlichen, dem
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personellen, dem räumlichen und dem zeitlichen Anwendungsbereich und dem Anwendungsbereich hinsichtlich der Vertragspartner. 1. Der sachliche Anwendungsbereich bezeichnet die Materie, auf welche der Vertrag anzuwenden ist. So betreffen Auslieferungsverträge nur die Auslieferung und nicht andere Fälle der internationalen Rechtshilfe, Verträge über die Vollstreckung ausländischer Urteile nur Urteile und nicht notarielle Urkunden, wenn der Vertrag nichts anderes vorsieht. Einer besonderen Prüfung bedarf bei multilateralen Rechtsvereinheitlichungsverträgen jeweils die Frage, ob der Vertrag nur auf Sachverhalte m i t internationalen Anknüpfungspunkten — und m i t welchen Anknüpfungspunkten — oder auch auf rein nationale Sachverhalte anzuwenden ist. M i t dem personellen Anwendungsbereich werden die Personengruppen abgegrenzt, auf welche der Vertrag anzuwenden ist: etwa auf Kaufleute, auf internationale Beamte, auf Seeleute usw. 2. Der räumliche oder territoriale Anwendungsbereich bezeichnet die Gebiete, auf welche der Vertrag Anwendung findet. So hatten die Kolonialstaaten i n der Regel die einzelnen Kolonien, Protektorate und Mandatsgebiete, hinsichtlich welcher der Vertrag Rechte und Pflichten begründet, i n den Verträgen genau aufgeführt. Ein anderer Fall ist die sogenannte Berlin-Klausel, durch welche die Bundesrepublik Deutschland Westberlin i n den Anwendungsbereich der Verträge einbezieht. 3. Unter dem zeitlichen Anwendungsbereich w i r d das Problem abgehandelt, ob der Vertrag nur auf zukünftige oder aber auch auf gegenwärtige, ja auf vergangene (Rückwirkung) Sachverhalte anzuwenden ist. Diese Frage ist nicht nach dem nationalen Recht des Gerichtes zu entscheiden, welches den Vertrag anwendet, sondern nach Rechtssätzen des Völkergewohnheitsrechts. Nach dem m i t dem Völkergewohnheitsrecht übereinstimmenden A r t . 28 W V R K ist ein Vertrag, wenn er nichts anderes bestimmt, auf vergangene Sachverhalte nicht anzuwenden. Auch gegenwärtige Sachverhalte werden nicht v o l l von den Verträgen erfaßt. Nur zukünftige Sachverhalte fallen immer v o l l unter die Verträge (im einzelnen vgl. A. Bleckmann, Die Nichtrückwirkung völkerrechtlicher Verträge, ZaöRV 33 [1973] 38 und die dort zitierte Literatur). 4. Völkerrechtliche Verträge sind immer nur auf Sachverhalte anzuwenden, die dem Rechtsverhältnis zwischen den betreffenden Vertragspartnern zuzuordnen sind (Anwendungsbereich hinsichtlich der Vertragspartner). Wann ein Sachverhalt diesem Rechtsverhältnis zuzuordnen ist, ergibt sich i n der Regel aus dem völkerrechtlichen Vertrag selbst. So sind nach den Rechtshilfeverträgen nur Urteile der Vertragspartner durch den anderen Vertragspartner zu vollstrecken; nur Waren des Vertragspartners genießen auf dem Gebiet des anderen Vertragspartners nach den Zollverträgen gewisse Zollerleichterungen; nur Staats-
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angehörige der Vertragspartner besitzen nach den Niederlassungsverträgen i n den anderen Vertragsstaaten das Recht auf Niederlassung. Internationale Rechtsvereinheitlichungsverträge machen ihre Anwendung etwa davon abhängig, daß — bei Verträgen über die Erbfolge — der Erblasser die Staatsangehörigkeit eines Vertragspartners besitzt oder das Testament i n einem Vertragsstaat errichtet wurde, daß — bei IPR-Verträgen — das nach dem Vertrag anwendbare Recht das Recht eines Staates ist, der dem Vertrag beigetreten ist usw. So gibt es für die verschiedenen Vertragsmaterien bestimmte Zuordnungskriterien, welche einem Sachverhalt einem bestimmten Vertragspartner, das heißt dem Rechtsverhältnis zwischen zwei Vertragspartnern zuordnen. Diese Zuordnungskriterien sind ausschließlich und können nicht u m weitere Zuordnungskriterien ergänzt werden. Stellt ein Vertrag über die Urteilsvollstreckung darauf ab, daß ein Urteil i n einem Vertragsstaat erlassen wurde, kann nicht nebenher noch auf die Staatsangehörigkeit des Vollstreckungsklägers abgestellt werden. Fehlt i n einem Vertrag ein Zuordnungskriterium, kann es häufig aus der für diese Vertragsart üblichen Praxis ergänzt werden. (Vgl. A. Bleckmann, Probleme der Anwendung multilateraler Verträge, Gegenseitigkeit und Anwendbarkeit hinsichtlich der Vertragspartner [1974]).
VI. Vorbehalte Bishop, Reservations to Treaties, RdC 103 (1961 I I ) 245; C. Cereti, Saggio sulle riserve (1932) ; J. Α. Enzweiler, Der Vorbehalt i n den Konventionen innerhalb der Vereinten Nationen (1958); E. Göttling, Vorbehalte zu internationalen Verträgen i n der sowjetischen Völkerrechtstheorie u n d Vertragspraxis (1967); K. Holloway, Les réserves dans les traités internationaux (1958); D. Kappeler, Les réserves dans les traités internationaux (1958); M. Khadjenouri, Réserves dans les traités internationaux (1953); H. Lauterpacht, Some Possible Solutions of the Problem of Reservations to Treaties, Grotius Society Transactions 39 (1953) 97; Monaco, Le riserve negli accordi internazionale, Riv. dir. int. 37 (1954) 72; L. A. Podestà Costa, Les réserves dans les traités internationaux (1938); Sanders, Reservations to M u l t i l a t e r a l Treaties, A J I L 1939, 488; J. J. Santa Pinter, Las reservas a los convenios multilaterales (1959); Schachter, The Question of Treaty Reservations, A J I L 54 (1960) 372; U. Scheidtmann, Der V o r behalt beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge (1934); E. Vitta: Le riserve nei t r a t t a t i (1957) ; H.-D. Wolkwitz, Vorbehalte i n Kollektivverträgen (1968).
Der Vorbehalt ist eine beim Vertragsabschluß abgegebene einseitige Erklärung, welche den Vertragsinhalt i n den Beziehungen zwischen dem Vorbehaltsstaat und den anderen Vertragspartnern ändert. 1. a) Durch den Vorbehalt kann ein Staat eine oder mehrere Klauseln des Vertrags ausschließen, auslegen oder abändern. Der Vorbehalt kann nur bei der Unterzeichnung oder bei der Ratifikation, also nicht vor der
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Annahme des Vertragstextes oder nach der endgültigen Bindung an den Vertrag abgegeben werden, soweit der Vertrag nichts anderes vorsieht. Die Erklärung kann i n einer besonderen Note erfolgen, die den Vertragspartnern oder dem Depositar zugestellt wird. Sie kann auch i n die Ratifikationsurkunde oder i n einen Anhang oder i n ein Protokoll zum Vertrag oder i n den procès-verbal der Unterzeichnung, der Ratifikation, der Hinterlegung oder des Beitritts aufgenommen werden. Sie muß von dem zum Vertragsschluß zuständigen oder bevollmächtigten Organ ausgehen. Soweit der Vertrag das Verfahren und den Inhalt von Vorbehalten regelt, ist nur ein Vorbehalt zulässig und wirksam, der diesen Vertragsbestimmungen entspricht. Andere Versuche, den Vorbehalt zu beschränken (Ausschluß bei bilateralen Verträgen, bei traités-lois oder bei Verträgen, welche eine internationale Organisation begründen), sind gescheitert. b) Der Vorbehalt bedarf zu seiner Wirksamkeit der Annahme der Vertragspartner, die auch stillschweigend erfolgen kann und bei Fehlen von Einwänden (Protesten) vermutet wird. Hinsichtlich der Staaten, welche den Vertrag angenommen haben müssen, sind verschiedene Systeme entwickelt worden: aa) I n dem System des klassischen Völkergewohnheitsrechts müssen alle Vertragspartner den Vorbehalt annehmen. Protestiert auch nur ein Staat gegen den Vorbehalt, w i r d der Vorbehaltsstaat nicht Vertragspartner. bb) Nach dem System des panamerikanischen regionalen Völkergewohnheitsrechts w i r d der Vorbehaltsstaat dagegen Vertragspartner, wenn nur eine begrenzte Zahl von Vertragsstaaten dem Vorbehalt zustimmen. Vertragspartner w i r d der Vorbehaltsstaat allerdings nur gegenüber den Staaten, die gegen den Vorbehalt nicht protestiert haben. cc) Nach dem sowjetischen System der absoluten Staatensouveränität w i r k t der Vorbehalt auch gegenüber Staaten, die gegen den Vorbehalt protestiert haben. dd) Das Gutachten des I G H zum Völkermordabkommen (Avis, 24 - 30) unterscheidet zwischen den „wesentlichen" Vertragsklauseln, die sich auf Ziel und Zweck (objet et but) des Vertrages beziehen, und den sekundären Klauseln, welche die wesentlichen Klauseln durchführen oder nur technische Details regeln. Vorbehalte zu den wesentlichen Klauseln müssen von allen Vertragspartnern angenommen werden (klassisches System), bei Vorbehalten zu Sekundärklauseln gilt der Vertrag nur i m Verhältnis zu den Vertragspartnern, welche den Vertrag akzeptiert haben (panamerikanisches System). c) I m klassischen System w i r d der ursprüngliche Vertrag zwischen den Staaten angewendet, die keinen Vorbehalt erklärt haben. Der Vor-
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behaltsstaat ist i m Verhältnis zu allen anderen Vertragspartnern an den Vertrag m i t dem Inhalt gebunden, den i h m der Vorbehalt gegeben hat. I m Verhältnis zwischen zwei Vorbehaltsstaaten gelten die beiden Vorbehalte. I m panamerikanischen System bestehen zwischen dem Vorbehaltsstaat und den Staaten, die gegen den Vorbehalt protestiert haben, keine Vertragsbeziehungen. Zwischen Vertragspartnern, die keinen Vorbehalt erklärt haben, gilt der Vertrag i n der ursprünglichen Fassung. I m Verhältnis zu den Staaten, die den Vorbehalt akzeptiert haben, ist der Vorbehaltsstaat an den Vertrag i n der Fassung des Vorbehalts gebunden. A u f Grund des Vorbehalts ist nur der Vorbehaltsstaat an den Vertrag i n der Fassung des Vorbehalts gebunden. Die anderen Vertragspartner wären also an sich auch dem Vorbehaltsstaat gegenüber an den ursprünglichen Vertrag gebunden. Diese W i r k u n g schließt das Gegenseitigkeitsprinzip aus. Nach diesem Prinzip sind auch die anderen Staaten dem Vorbehaltsstaat gegenüber an den Vertrag nur i n der Fassung des Vorbehalts gebunden. Allerdings steht es den anderen Staaten frei, ob sie sich auf das Gegenseitigkeitsprinzip berufen, den Vertrag also i n der einen oder anderen Form dem Vorbehaltsstaat gegenüber anwenden wollten. Bei traités-lois dürfte ferner das Gegenseitigkeitsprinzip nicht eingreifen, w e i l die anderen Vertragspartner auch unter sich verpflichtet sind, den Vertrag stets, d. h. auch gegenüber dem Vorbehaltsstaat i n der ursprünglichen Fassung anzuwenden. d) Umstritten ist, ob der Vorbehalt einseitig oder nur durch Vereinbarung mit den anderen Vertragspartnern zurückgezogen werden darf. Für eine Vereinbarung spricht, daß die anderen Vertragspartner sich auf den Vorbehalt eingestellt haben. Für die einseitige Rücknahme spricht, daß auf den actus contrarius der Rücknahme die Regeln des ursprünglichen Aktes anzuwenden sind und daß die Rücknahme eine Vertragsanomalie beseitigt, also allen Vertragspartnern zugute kommt. e) Umstritten ist, ob der Vorbehalt rechtstheoretisch als Vertrag oder als einseitiger A k t zu qualifizieren ist. Richtiger Ansicht nach handelt es sich u m ein Rechtsinstitut sui generis . 2. Die Vorbehalte sind i n Abschnitt 2 des 1. Teils der W V R K weitgehend i m Sinne des bisherigen Völkergewohnheitsrechts geregelt worden: Vorbehalte können bei der Unterzeichnung, Ratifikation, Annahme oder beim Beitritt erklärt werden, wenn der Vertrag Vorbehalte allgemein oder bestimmte Vorbehalte nicht verbietet und der Vorbehalt nicht dem Ziel und Zweck (objet et but) des Vertrages widerspricht (Art. 19). Wenn aus der geringen Zahl der Staaten, die an den Verhandlungen teilgenommen haben, oder aus dem Ziel und Zweck des Vertrages folgt,
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daß die volle Anwendung des Vertrages wesentliche Bedingung der A n nahme durch alle Vertragspartner ist, müssen alle Vertragspartner dem Vertrag zustimmen. I n allen anderen Fällen w i r d der Vorbehaltsstaat i m Verhältnis zu den Staaten, die den Vorbehalt akzeptiert haben, Vertragspartner. Der Einwand gegen einen Vertrag schließt das Inkrafttreten des Vertrages zwischen dem Vorbehaltsstaat und dem Staat, der den Einwand erhoben hat, nur aus, wenn dies aus dem Einwand eindeutig hervorgeht. Eine Annahme w i r d unterstellt, wenn ein Staat nicht binnen 12 Monaten nach Zugang der Vorbehaltserklärung gegen diesen einen Einwand erhoben hat (Art. 20). Der Vorbehalt ändert den Vertrag für den Vorbehaltsstaat i n seinen Beziehungen zu den anderen Staaten, aber auch für die anderen Staaten i n ihren Beziehungen zum Vorbehaltsstaat (automatische Gegenseitigkeit, A r t . 20). Der Vorbehalt und Einwände gegen den Vorbehalt können einseitig zurückgenommen werden. Die Rücknahme t r i t t m i t Empfang der Notifizierung der Rücknahme i n K r a f t (Art. 22). Der Vorbehalt, die ausdrückliche Annahme eines Vorbehalts und Einwände gegen den Vorbehalt müssen schriftlich formuliert und den Vertragspartnern zugestellt werden. Ein Vorbehalt bei Unterzeichnung muß abweichend vom Völkergewohnheitsrecht bei der Ratifikation wiederholt werden, u m wirksam zu werden (Art. 23).
V I I . Verträge zugunsten und zu Lasten dritter Staaten W. Ballreich, Völkerrechtliche Verträge zu Lasten D r i t t e r (1954); G. Grotanelli De Santo, I l principio „pacta tertiis nec nocent nec prosunt" e le a t t u a l i tendenze internazionali, Studi Senese 1954/55, 771; H. Kelsen , Traités i n t e r nationaux à la charge d'Etats tiers, Mélanges offerts à E. M a h a i m (1939) 164; A. D. McNair, A Note on Pacta Tertiis, Festschr. J. F. A. François (1959) 188; R. F. Roxburgh, International Conventions and T h i r d States (1917); C. H. Winkler, Verträge zugunsten u n d zu Lasten D r i t t e r i m Völkerrecht (1932); J. Wunschik, Die W i r k u n g der völkerrechtlichen Verträge f ü r dritte Staaten (1970).
1. Nach klassischem Völkerrecht begründen Verträge nur Rechte und Pflichten für die Vertragspartner. Könnten die Vertragspartner Rechte und Pflichten für Dritte begründen, würde deren souveräne Gleichheit verletzt. I n der neueren Völkerrechtsentwicklung w i r d dagegen immer mehr auf die beschränkte Möglichkeit hingewiesen, Drittstaaten auch rechtlich zu begünstigen und zu belasten. a) So hat der StIGH i n der Genfer Zonenfrage (CPJI Series A / B No. 46, S. 147) anerkannt, daß ein Vertrag Rechte zugunsten dritter Staaten
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begründet, wenn die Vertragspartner tatsächlich ein echtes Recht (und nicht nur einen Rechtsreflex) des Drittstaates begründen wollten und der Drittstaat dieses Recht angenommen hat. Obwohl dieses Urteil auf K r i t i k gestoßen ist, haben dessen Grundsätze sich heute durchgesetzt. b) I n einigen Verträgen wurden Drittstaaten auch bestimmte Pflichten auferlegt. So wurden die neu gegründete Republik Krakau durch den Wiener Vertrag vom 3. M a i 1815, Danzig durch den Versailler Vertrag von 1919 rechtlich belastet. Die rechtliche Möglichkeit solcher Verträge bleibt allerdings umstritten. Deshalb dürfte das Potsdamer A b kommen für das Deutsche Reich und die Bundesrepublik Deutschland keine Pflichten begründet haben. Etwas anderes dürfte gelten, wenn der Drittstaat — wie die Tschechoslowakei dem Münchener Abkommen — dem Vertrag zugestimmt hat. Einig ist man sich auch weitgehend darüber, daß Statusverträge Wirkungen für Drittstaaten entfalten können. c) Möglich ist es schließlich auch, daß ein internationaler Vertrag Rechte und Pflichten von Individuen begründet, welche unmittelbar auf der Völkerrechtsebene und nicht erst durch die Transformation i n nationales Recht entstehen. So begründet die E M R K das Recht der Individuen, wegen der Verletzung der ihnen durch diesen Vertrag eingeräumten Grundrechte durch die Mitgliedstaaten unmittelbar die EMRK-Kommission anzugehen. Ähnlich wurde nach dem ersten Weltkrieg den Individuen gestattet, sich unmittelbar an die zwecks Regelung der Entschädigungsfragen eingerichteten Mixed Claims Commissions zu wenden. 2. Die Verträge zugunsten und zu Lasten von Drittstaaten werden nunmehr i n A r t . 34 ff. W V R K weitgehend entsprechend dem bisherigen Völkergewohnheitsrecht geregelt. Danach können Verträge Rechte und Pflichten Dritter Staaten begründen, wenn die Vertragspartner dies wollen und der Drittstaat das Recht oder die Pflicht angenommen hat. Dabei w i r d bei der Rechtsbegründung die Zustimmung des Drittstaates vermutet, während die Pflicht vom Drittstaat ausdrücklich und schriftlich angenommen sein muß. Rechte und Pflichten der Drittstaaten können nur unter erschwerten Bedingungen aufgehoben oder geändert werden. Für die Aufhebung oder Änderung von Pflichten ist die Zustimmung des Drittstaates erforderlich, wenn die Vertragspartner und der D r i t t staat nichts anderes vereinbart haben. Rechte dürfen nur m i t Zustimmung des Drittstaates geändert werden, wenn dieses Recht nach dem Vertrag nur m i t Zustimmung des Drittstaates geändert werden können soll.
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V I I I . Die Vertragsauslegung J. Basdevant, Le rôle d u juge national dans l'interprétation des traités d i plomatiques, Rev. crit. dr. int. 38 (1949) 413; A. Benoist , L'interprétation des traités d'après la jurisprudence française, Rev. hell. dr. int. 6 (1953) 103; L . M . Bentivoglio , L a funzione interpretativa nell'ordinamento internazionale (1958) ; R. Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge insbesondere i n der neueren Rechtsprechung internationaler Gerichte (Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht u n d Völkerrecht, 40) (1963); Y. T. Chang, The Interpretation of Treaties by the Judicial Tribunals (1933); C. H. Cheng, Essai critique sur l'interprétation des traités dans la doctrine et la jurisprudence de la C P J I (1941); V. D. Degan, L'interprétation des accords en droit international (1963); Ch. De Visscher, L'interprétation judiciaire des traités daß ein i m Widerspruch zu dem geschlossenen Vertrage ergehendes innerstaatliches Gesetz mangels einer Kompetenz des Bundesgesetzgebers verfassungswidrig wäre. Überdies sei es dem Zweck des A r t . 24, überstaatliche Zusammenschlüsse zu fördern, förderlich, wenn sie nicht durch nationale Gesetze, die m i t den Gemeinschaftsverträgen i n Widerspruch stehen, gestört werden können. Der nationale Richter müsse ein
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Gesetz, das m i t dem Europäischen Gemeinschaftsrecht nicht übereinstimmt, wegen Verstoßes gegen A r t . 241 GG dem BVerfG vorlegen. Diese Ansicht hat sich schon deswegen nicht durchgesetzt, w e i l sie dem Europarecht mangels dem A r t . 24 GG entsprechenden Bestimmungen nicht i n allen Mitgliedstaaten denselben höheren Rang als die Gesetze einräumt. 2. Verhältnismäßig zahlreich sind die Versuche, den einheitlichen Vorrang des Europarechts aus dem Wesen des Europäischen Gemeinschaftsrechts oder der Europäischen Gemeinschaften zu begründen. Wie gezeigt, nähern sich die Europäischen Gemeinschaften i n manchen Beziehungen dem Bundesstaat, ohne schon den Charakter eines Bundesstaats zu besitzen (Supranationalität). Deshalb wurde die Ansicht vertreten, daß die Europäischen Gemeinschaften sich gerade hinsichtlich des Verhältnisses Europarecht — nationales Recht dem Verhältnis Bundesrecht — Landesrecht annähern. I m Bundesstaat gilt das Bundesrecht m i t Vorrang vor dem Landesrecht i m ganzen Bundesgebiet. Einer Anerkennung durch das Landesrecht bedarf seine Geltung nicht, w e i l es sich kraft eigenen Geltungsbefehls durchsetzt. Der Bundesstaat ist ein umfassender Staat, i n welchem die Landesrechtsräume vom Bundesrechtsraum i m Gegensatz zur Lage beim Völkerrecht nicht durch die Souveränität der Länder — dem ausschließlichen Geltungsanspruch des vom Land gesetzten und anerkannten Rechts — abgegrenzt wird. Auch diese Lehre hat sich, obwohl sie eine einheitliche Lösung für alle Mitgliedstaaten bereitstellt, nicht durchsetzen können, w e i l die europäischen Gemeinschaften sich auch insoweit nicht hinreichend dem Bundesstaat genähert haben. Überdies gebe es keinen allgemeinen Rechtssatz des „allgemeinen Bundesstaatsrechts", nach dem gegen Bundesrecht verstoßendes Landesrecht nichtig ist, wie sich i m österreichischen Falle zeige, wo das Landesrecht bis zur Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof gilt; das Bundesstaatsmodell stelle damit keine eindeutige K o l lisionsregel zur Verfügung. Trotzdem spielt das Bundesstaatsmodell bei den meisten Versuchen, den Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts aus dem Wesen des Europäischen Gemeinschaftsrechts oder durch Vertragsauslegung zu beweisen, stillschweigend eine große Rolle. Selbst wenn sich nämlich auf diese Weise europarechtliche Sonderregeln über die Rechtsposition des Europäischen Gemeinschaftsrechts i m nationalen Rechtsraum ableiten lassen, stößt doch der Geltungsanspruch des Europarechts i m nationalen Rechtsraum auf den Anspruch der ausschließlichen Geltung des vom nationalen Gesetzgeber gesetzten oder anerkannten Rechts und stoßen die Kollisionsregeln des Europarechts m i t den Kollisionsregeln des nationalen Rechts zusammen. Wenn etwa i n einem normalen Völkerrechts20 Bleckmann
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vertrag die unmittelbare Geltung des Völkerrechtsvertrags i m nationalen Rechtsraum und ein Rang über den nationalen Gesetzen vorgesehen ist, wäre dieser Vertrag einschließlich seiner Regeln über das Verhältnis des Vertrags zum nationalen Recht innerstaatlich trotz der Vertragsklausel nicht unmittelbar, sondern kraft der Transformationsregel nur mittelbar als nationales Recht m i t Gesetzesrang gültig: das Zustimmungsgesetz kann dem Vertrag weder die unmittelbare Geltung noch einen höheren Rang als das Gesetzesrecht verschaffen. Vor dieser Schwierigkeit stünde folglich auch das europäische Recht, wenn die Rechtslage möglicherweise auch deswegen etwas erleichtert wäre, weil die Regeln über das Verhältnis des Völkerrechts zum Landesrecht auf das Gemeinschaftsrecht, das nicht Völkerrecht i m engeren Sinne ist, und insbesondere auf das Sekundärrecht, für das nationale Regeln über seine Rechtsposition überhaupt fehlen, nicht ganz passen. Wenn die Theorien, die vom Wesen des Europarechts und von der Vertragsauslegung ausgehend, europarechtliche Regeln für die Position des Europäischen Gemeinschaftsrechts i m nationalen Rechtsraum entwikkeln, diese Schwierigkeiten nicht untersuchen, sondern von der unmittelbaren Geltung dieser Regeln i m nationalen Rechtsraum ausgehen, haben sie das bundesstaatliche System zur Prämisse, nach dem das Bundesrecht kraft eigener Anordnung i m ganzen Bundesgebiet gilt, also nicht auf den Souveränitätspanzer der nationalen Rechtsordnung stößt. Das gilt insbesondere für Ophüls, dem sich Wohlfarth i n weitem Umfang angeschlossen hat. Nach Ophüls hat das Souveränitätsdogma seit dem 19. Jh. weithin Einschränkungen erfahren. Eine solche Einschränkung stelle auch die Gründung der Europäischen Gemeinschaften dar. Durch die Gemeinschaftsverträge würden die Gemeinschaften m i t eigener Hoheitsgewalt ausgestattet, die sich unmittelbar auf das gesamte Gemeinschaftsgebiet erstreckt. Wie der unmittelbaren Geltung des Bundesstaatsrechts auf Grund eigenen Anwendungsbefehls nicht die Souveränität der Länder entgegensteht, steht der unmittelbaren Geltung des Europarechts i n den Mitgliedstaaten nicht die Souveränität der M i t gliedstaaten, d. h. der Anspruch entgegen, daß auf dem Gebiet der M i t gliedstaaten ausschließlich das von den Staaten gesetzte oder anerkannte Recht gilt. Einer Transformation i n nationales Recht (Rechtsetzung durch den nationalen Gesetzgeber) oder einer Anerkennung durch das nationale Recht bedarf die Geltung des Europarechts i m innerstaatlichen Rechtsraum also nicht. Wie das Bundesrecht bildet also auch das Europarecht i m Landesrechtsraum eine vom nationalen Recht verschiedene Rechtsmasse; es gilt i m nationalen Rechtsraum als Europarecht und nicht als nationales Recht. Das Verhältnis dieser Rechtsmasse zum nationalen Recht könne aber nicht vom nationalen Recht, sondern nur vom Europarecht geregelt werden, w e i l das Europarecht nicht i n der Verfügungsge-
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wait des nationalen Gesetzgebers stehe. Die konkrete Kollisionsnorm sei aus der Tatsache zu entwickeln, daß die europäischen Gemeinschaftsverträge dem nationalen Gesetzgeber die Kompetenz zur Regelung bestimmter Materien entzogen und den Gemeinschaftsorganen überwiesen habe. Handele der nationale Gesetzgeber trotzdem i n diesem Bereich — und nur so könnten Widersprüche zwischen Europarecht und nationalem Recht auftreten —, handele er m i t der Folge kompetenzwidrig, daß seine Akte nichtig sind. Gegen diese Konzeption ist vor allem eingewendet worden, daß die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften meist nur punktuell bestimmte Aspekte einer Gesamtmaterie betreffen und sich folglich m i t den umfassenderen nationalen Kompetenzen überschneiden können und daß der nationale Gesetzgeber häufig auch i n Bereichen handeln kann und darf, i n denen der europäische Gesetzgeber noch nicht gehandelt hat. Überdies ist der nationale Gesetzgeber häufig selbst dann noch zuständig, wenn der europäische Gesetzgeber Recht gesetzt hat: entweder u m dieses Recht zu ergänzen oder aber — etwa bei Richtlinien — u m dieses Hecht i n die nationale Rechtsordnung durch Gesetz einzuführen. 3. Ipsen ging beim europarechtlichen Kolloquium 1964 von der Auslegung des A r t . 189 I I I EWGV (unmittelbare Geltung der Verordnung i n allen Mitgliedstaaten) aus. Die Qualität der Gemeinschaftsverordnung bestehe i n ihrem Gemeinschaftscharakter, d. h. i n ihrer unantastbaren Eigenart, i n der Gemeinschaft ganzheitlich und einheitlich zu gelten. Daraus folge, daß ihre ganzheitliche und einheitliche Gemeinschaftsgeltung nicht von einem der Mitgliedstaaten verändert werden könne, weil die Verordnung sonst ihre Gemeinschaftsgeltung einbüßen würde. Daraus folge, daß das Gemeinschaftsrecht m i t dem nationalen Recht keine Einheit bilde, sondern eine davon gesonderte, andersartige Rechtsmasse. M i t dieser Auffassung unvereinbar sei auch die lex posterior-Regel, wonach späteres Gesetzesrecht den europäischen Verordnungen vorgeht. Sie entfalte ihre K r a f t (und zwar aus der Vorstellung und Wertentscheidimg heraus, das jüngere Gesetz sei auch das bessere Gesetz, der jüngere Gesetzgeber liefere die bessere Sachregelung) immer nur i n Hinsicht von Normierungen, die inhaltlich gleichen Werts, gleicher Qualität, gleichen Geltungsgrundes sind. Diese Voraussetzung fehle i m Verhältnis europäische Verordnung — nationales Gesetz ebenso wie etwa i m Verhältnis Bundesrecht — Landesrecht. Indem A r t . 189 I I Konstitutionsnorm der Gemeinschaft geworden sei, habe die Bundesrepublik verfassungskräftig, und zwar m i t A r t . 24 I GG als „Integrationshebel", die Existenz, die Geltung und die Wirksamkeit von Gemeinschaftsnormen i n ihrem Staatsgebiet neben der nationalen Rechtsmasse anerkannt, damit von Normen, die Gemeinschaftsfunktionen entfalten u n d für die deutsche Staatsgewalt i n dieser ihrer Funktion unantastbar sind. Diese Argumentation 20·
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dehnt Ipsen anschließend von den europäischen Rechtsverordnungen auf das gesamte Primär- und Sekundärrecht aus. W i r werden sehen, daß der erste Teil dieser Ausführungen den EuGH und das BVerfG entscheidend beeinflußt hat. I n der Tat stehen bei Ipsen die Ausführungen zur Unantastbarkeit der europäischen Verordnung und die zur Unanwendbarkeit der lex posterior-Regel recht unvermittelt gegenüber. Beide — i m Grunde völlig selbständigen — Argumente können den Vorrang des Verordnungsrechts vor späterem nationalen Gesetz tragen. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß m i t der Unanwendbarkeit der lex posterior-Regel noch nicht die Geltung einer anderen Kollisionsregel, insbesondere nicht der Vorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts begründet ist. A u f der anderen Seite würde der Gedanke der Unantastbarkeit der Verordnung auch den Vorrang vor nationalem Verfassungsrecht begründen. Beide Argumente kommen schließlich nicht darum herum, anzunehmen, daß das Europarecht entgegen dem Völkerrecht nicht auf den Souveränitätspanzer der Staaten stößt, sondern auf Grund eigenen Anwendungsbefehls i m nationalen Rechtsraum gilt. Das kommt bei Ipsen dadurch zum Ausdruck, daß er auf die Funktion des A r t . 24 I GG, den Souveränitätspanzer zu öffnen, hinweist. Dann kann A r t . 241 GG den Souveränitätspanzer natürlich auch nur teilweise öffnen, indem er den Geltungsanspruch des nationalen Rechts etwa an dem Geltungsanspruch anderer Normen des GG, und insbesondere des Grundrechtsteils, scheitern läßt. Die Lehre von Ipsen wurde von dessen Schüler Grabitz weiterentwickelt. Grabitz zeigt i n eindrucksvoller Weise, daß die Geltung des Europarechts i m innerstaatlichen Recht auf einem Geltungsbefehl des europäischen Rechts selbst und nicht auf einem Geltungsbefehl des nationalen Rechts beruht und daß A r t . 24 I GG diese Ausübung „fremder" Hoheitsgewalt auf deutschem Boden gestattet. Die Kollisionsregel könne dann nur vom Europarecht geliefert werden. Hinsichtlich des EWGRechts sieht Grabitz die Kollisionsnorm für das Primärrecht i n A r t . 5 I I EWGV, der alle Maßnahmen der Mitgliedstaaten verbiete, welche die Errichtung und das Bestehen des gemeinsamen Markts gefährden könnten, während die Kollisionsnorm für das Sekundärrecht m i t Ipsen i m A r t . 189 EWGV gesehen wird. Nach Grabitz ist das nationale Recht, das gegen das Europäische Gemeinschaftsrecht verstößt, nichtig, während nach Zuleeg die gemeinschaftsrechtliche Kollisionsnorm nur dem nationalen Richter und Beamten gebietet, i m Konfliktsfall das Europäische Gemeinschaftsrecht und nicht das nationale Recht anzuwenden, das deshalb grundsätzlich gültig bleibt. I n seinem Werk über das Europäische Gemeinschaftsrecht (255 ff.) hat Ipsen seine vorherige Theorie weiterentwickelt: Geltungsgrund allen Gemeinschaftsrechts i m Geltungsbereich der nationalen Rechtsordnungen
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sei seine Herkunft aus der öffentlichen Gemeinschaftsgewalt. Deren Existenz wiederum beruhe auf den nationalen Verfassungsentscheidungen, nach deutschem Recht auf der Verfassungsentscheidung zur Öffnung der Staatlichkeit nach A r t . 24 I GG. Daß für die Begründung der unmittelbar auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten ausgeübten Gemeinschaftsgewalt nach A r t . 24 I GG auch ein Zustimmungsgesetz des Bundestags erforderlich war, mache die Gemeinschaftsrechtsordnung nicht zu einer vom deutschen Recht abgeleiteten Hoheitsgewalt. Das Europäische Gemeinschaftsrecht gelte deshalb i n der Bundesrepublik und i n allen anderen Mitgliedstaaten unmittelbar auf Grund eines Gemeinschaftsbefehls als autonomes Europarecht (besondere Rechtsmasse neben dem nationalen Recht). Die Kollisionsregel müsse dem europarechtlichen Prinzip der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften entnommen werden. Die lex posterior-Regel könne aus den schon oben genannten Gründen nicht eingreifen. Das Prinzip der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften sei geeignet, i n der nach dem Integrationsprinzip gebotenen, aus der Besonderheit der Vergemeinschaftung gerechtfertigten Weise Normierungen des Gemeinschaftsrechts m i t den Qualitäten auszustatten, „ohne welche sie nicht sinnvoll und vernünftig angewendet werden können" (EuGH). Das Prinzip w i r k e einmal als Auslegungsregel. Es sei darüber hinaus aber auch ein das Gemeinschaftsrecht ausrichtender und qualifizierender Leitsatz, der sich ungeschrieben aus dem Wesen der Integration ergebe und i n einzelnen Vertragsregelungen (etwa i n A r t . 189 I I EWGV) seinen positiven Niederschlag finde. I n den Gemeinschaften sei das Instrument der Rechtsregelung eines der wichtigsten und unentbehrlichsten M i t t e l für deren Funktionsfähigkeit. Diese Sicherung aber werde nur erreicht, wenn das Gemeinschaftsrecht i n allen Mitgliedstaaten einheitlich und unantastbar gelte und hierin nicht von unterschiedlichen Entscheidungen oder Maßnahmen der mitgliedschaftlichen Rechtsordnungen abhänge, die die Einheitlichkeit seiner Geltung aufheben würde. Dieser Leitsatz binde auch den nationalen Richter, w e i l der Gesetzgeber gemäß A r t . 24 I I GG dem Gemeinschaftsrecht m i t dieser Qualität ausgestattetem Gemeinschaftsrecht zugestimmt hat. Es reiche zur Funktionssicherung aus, wenn das nationale Recht i m konkreten Anwendungsfall hinter dem Europarecht zurückstehe (Vorzugs- und nicht Rangregel). Die Nichtigkeit widersprechenden nationalen Rechts oder eine Kompetenzsperre für den Erlaß nationaler Gesetze seien nicht erforderlich. Der Vorrang komme allem unmittelbar anwendbaren Europäischen Gemeinschaftsrecht zu. Das Europäische Gemeinschaftsrecht habe Vorrang vor allem nationalen Recht einschließlich des GG. 4. Die Frage, ob die nationalen Grundrechte der Anwendung des Europäischen Gemeinschaftsrechts durch die nationalen Behörden und Gerichte entgegenstehen, w i r d meist auf Grund der oben dargestellten
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Kollisionsnormen entschieden (vgl. G. Gorny, Verbindlichkeit der Bundesgrundrechte bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht durch deutsche Staatsorgane [1969]; Kropholer, Die Europäischen Gemeinschaften und der Grundrechtsschutz, EuR 1969, 128; v. Meibohm/v. Rottenburg/ Bochmann, Der EWGV und die Grundrechte des GG, DVB1. 1969, 437; Mössner, A W D 1972, 610; Pescatore, The Protection of Human Rights i n the European Communities, CMLR 1972, 73; Rupp, Grundrechte und EWG, NJW 1970, 353; Schwaiger, Zum Grundrechtsschutz gegenüber den Europäischen Gemeinschaften, NJW 1970, 975; Sekundäres Gemeinschaftsrecht u n d deutsche Grundrechte, Stellungnahmen zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 29. M a i 1974, Beiträge von M. Hilf, E. Klein, A. Bleckmann, ZaöRV 35 [1975] 51 ff.; Spanner, EWG-Recht und Grundrechtsschutz, BayVBl. 1970, 341; Zieger, Das Grundrechtsproblem i n den Europäischen Gemeinschaften [1970]; Zuleeg, Fundamental Rights and the Law of the European Communities, CMLR 1974, 441). Soweit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht Rang unterhalb der Verfassung zugesprochen wird, gehen die Grundrechte vor und schließen eine A n wendung des widersprechenden Europäischen Gemeinschaftsrechts durch nationale Gerichte und Behörden aus. M i t dem Rang des Europäischen Gemeinschaftsrechts vor dem Verfassungsrecht ist aber umgekehrt noch nicht endgültig entschieden, daß der nationale Richter grundrechtswidriges Europäisches Gemeinschaftsrecht anwenden muß. Denn das Europäische Gemeinschaftsrecht kann i n der deutschen Rechtsordnung unmittelbar m i t Vorrang nur wirken, soweit A r t . 24 I I GG dies zuläßt. Ob und i n welchem Umfang A r t . 24 I I GG dies aber zuläßt, ist i n der Literatur umstritten. Nach der einen Auffassung ist dem Europäischen Gemeinschaftsrecht nach A r t . 24 I I jede Grundrechtsverletzung gestattet, andere sehen die Schranken i n A r t . 19 I I I oder 79 I I I GG, wieder andere lassen überhaupt keine Grundrechtsverletzung zu. Soweit man der A u f fassung ist, A r t . 24 I I GG gestatte nicht die uneingeschränkte innerstaatliche Geltung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, kann man zur Lösung des Konflikts zwei Wege beschreiten: Nach der einen Auffassung darf der Gesetzgeber den Europäischen Gemeinschaften nur dann Hoheitsrechte übertragen, wenn diese i n vollem Umfang, i m Rahmen des A r t . 19 I I I oder 79 I I I GG oder i m Rahmen eines analogen Grundrechtsschutzes wie nach dem deutschen Recht an Grundrechte gebunden sind. Ist das nicht der Fall, sind die Zustimmungsgesetze zu den Europäischen Gemeinschaftsverträgen insoweit nichtig, als sie den Europäischen Gemeinschaften Hoheitsbefugnisse einräumen. Geringere, aber für den Grundrechtsschutz ausreichende Wirkung hat die deshalb vorzuziehende zweite Auffassung, wonach A r t . 24 I I GG das Europäische Gemeinschaftsrecht insoweit nicht i n die innerstaatliche Rechtsordnung einströmen läßt, wie die—durch A r t . 24 I I modifizierten—Grundrechtsschranken reichen. Nach dieser Meinung ist i m konkreten Fall dem Gemeinschaftsrecht die
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richterliche Anwendung zu versagen, wenn es gegen die deutschen Grundrechte oder gegen den Kernbestand der Grundrechte (Art. 19 I I I oder 79 I I I GG) verstößt. Die Entscheidung zwischen diesen beiden Alternativen hängt nicht zuletzt auch von der Funktion ab, die man A r t . 24 I GG zuschreibt. Hat A r t . 24 I GG nur die Funktion, die Konstituierung der Gemeinschaftsgewalt zu gestatten, deren Hoheitsakte dann unmittelbar i m nationalen Rechtsraum wirken, wie Ipsen annimmt, ist bei einer Überschreitung der Grenzen des A r t . 24 I GG das Zustimmungsgesetz zu diesem Konstitutionsakt nichtig. Hebt A r t . 24 I dagegen daneben oder allein den ausschließlichen Geltungsanspruch deutschen Rechts auf deutschem Boden auf, indem er eine Bresche i n den Souveränitätspanzer schlägt und durch diese Bresche das Gemeinschaftsrecht m i t seinem Geltungs- und Vorrangsanspruch einströmen läßt, werden dieser Bresche durch die Schranken des A r t . 24 I I GG Grenzen gezogen: nur das grundrechtsgemäße oder dem K e r n der Grundrechte entsprechende Gemeinschaftsrecht kann dann i n den nationalen Rechtsraum einströmen. 5. Die von Ipsen und Zuleeg befürwortete Vorzugsregel greift nur ein, wenn der Richter vor der Wahl steht, ob er das europäische oder das deutsche Recht anwenden soll, die sich beide widersprüchlich auf dieselbe Frage beziehen. Voraussetzung der Kollision ist also, daß das europäische Recht unmittelbar anwendbar ist. Verstößt das deutsche Recht gegen nicht unmittelbar anwendbares Europarecht, muß der nationale Richter das nationale Recht anwenden. Diese Folge w i r d vermieden, wenn man die Kollision über eine echte Rangregel löst. Dann ist auch das gegen nicht unmittelbar anwendbare Europarecht verstoßende nationale Recht nichtig. 2. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und ihre Übernahme durch die deutschen Gerichte 1. I n seiner Entscheidung i n der Rs. 6/64 Costa v. Enel (15. 7. 1964, Rspr. X , 1251), die durch spätere Urteile bestätigt wurde, hat der EuGH ausgeführt: „ Z u m Unterschied v o n gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der E W G - V e r t r a g eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem I n k r a f t treten i n die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden u n d von ihren Gerichten anzuwenden ist. Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft f ü r unbegrenzte Zeit, die m i t eigenen Organen, m i t der Rechtsu n d Geschäftsfähigkeit, m i t internationaler Handlungsfähigkeit u n d insbesondere m i t echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der M i t g l i e d staaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten, w e n n auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt u n d so einen Rechtskörper geschaffen, der f ü r ihre Angehörigen u n d sie selbst verbindlich ist.
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Diese Aufnahme der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts i n das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten und, allgemeiner, W o r t l a u t u n d Geist des Vertrages haben zur Folge, daß es den Staaten unmöglich ist, gegen eine v o n ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen. Solche Maßnahmen stehen der Anwendbarkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung daher nicht entgegen. Denn es w ü r d e eine Gefahr f ü r die V e r w i r k l i c h u n g der i n A r t i k e l 5 Abs. 2 aufgeführten Ziele des Vertrages bedeuten u n d dem Verbot des A r tikels 7 widersprechende Diskriminierungen zur Folge haben, w e n n das Gemeinschaftsrecht j e nach der nachträglichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte. Die Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten i m Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft eingegangen sind, wären keine unbedingten mehr, sondern n u r noch eventuelle, w e n n sie durch spätere Gesetzgebungsakte der Signatarstaaten i n Frage gestellt werden könnten. Wo der Vertrag den Staaten das Recht zu einseitigem Vorgehen zugestehen w i l l , t u t er das durch klare B e s t i m m u n g e n . . . F ü r Anträge auf Ausnahmegenehmigungen sind andererseits Genehmigungsverfahren vorgesehen..., die gegenstandslos wären, w e n n die Staaten die Möglichkeit hätten, sich ihren Verpflichtungen durch den bloßen Erlaß v o n Gesetzen zu entziehen. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts w i r d auch durch A r t i k e l 189 bestätigt; i h m zufolge ist die Verordnung , verbindlich* u n d ,gilt u n m i t t e l b a r i n jedem Mitgliedstaat 4 . Diese Bestimmung, die durch nichts eingeschränkt w i r d , wäre ohne Bedeutung, w e n n die Mitgliedstaaten sie durch Gesetzgebungsakte, die den gemeinschaftsrechtlichen Normen vorgingen, einseitig ihrer Wirksamkeit berauben könnten. Aus alledem folgt, daß dem v o m Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine w i e i m m e r gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, w e n n i h m nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt u n d wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst i n Frage gestellt werden soll. Die Staaten haben somit dadurch, daß sie nach Maßgabe der Bestimmungen des Vertrages Rechte u n d Pflichten, die bis dahin ihren inneren Rechtsordnungen unterworfen waren, der Regelung durch die Gemeinschaftsrechtsordnung vorbehalten haben, eine endgültige Beschränkung ihrer Hoheitsrechte b e w i r k t , die durch spätere einseitige, m i t dem Gemeinschaftsbegriff unvereinbare Maßnahmen nicht rückgängig gemacht werden kann." Das U r t e i l f ü h r t aus, die europäische R e c h t s o r d n u n g sei „ b e i I n k r a f t t r e t e n des E W G - V e r t r a g e s i n die R e c h t s o r d n u n g e n der M i t g l i e d s t a a t e n a u f g e n o m m e n w o r d e n " ; es s p r i c h t a n a n d e r e r S t e l l e v o n der „ A u f n a h m e der B e s t i m m u n g e n des Gemeinschaftsrechts i n das Recht der e i n z e l n e n M i t g l i e d s t a a t e n " . Diese W e n d u n g e n , die f ü r eine T r a n s f o r m a t i o n des Gemeinschaftsrechts i n n a t i o n a l e s Recht sprechen k ö n n t e n , s i n d nach ü b e r e i n s t i m m e n d e r A u f f a s s u n g der L e h r e als angesichts der d a m a l i g e n U n k l a r h e i t e r k l ä r l i c h e V e r s e h e n z u deuten. D i e w i r k l i c h e A u f f a s s u n g des E u G H k o m m t a n der S t e l l e z u m A u s d r u c k , a n der e r a u s f ü h r t , das G e meinschaftsrecht sei v o m V e r t r a g geschaffen, fließe s o m i t aus e i n e r a u t o n o m e n Rechtsquelle u n d besitze deshalb E i g e n s t ä n d i g k e i t . Diese a u t o -
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nome Eigenständigkeit kommt dem Gemeinschaftsrecht nach dieser und späteren Entscheidungen gerade auch i m nationalen Rechtsraum zu. Das Gemeinschaftsrecht ist also i m nationalen Rechtsraum eine besondere, vom Völkerrecht und vom nationalen Recht verschiedene Rechtsmasse. Geltung, Rang u n d unmittelbare Anwendbarkeit, also alle drei Aspekte der Position des Gemeinschaftsrechts i m innerstaatlichen Rechtsraum, werden nach dieser und den späteren Entscheidungen nicht vom nationalen, sondern vom Gemeinschaftsrecht selbst — abschließend — bestimmt. Zur Feststellung ist folglich der EuGH i n vollem Umfang zuständig. Hinsichtlich des Rangs des Gemeinschaftsrechts führt der EuGH an mehreren Stellen aus, dem Gemeinschaftsrecht könnten nachträgliche staatliche Maßnahmen nicht vorgehen. Wie sich aus anderen Stellen ergibt, sind damit vor allem nachträgliche Gesetze gemeint. Aus dem A n satz der notwendigen gleichen Geltung i n allen Mitgliedstaaten ergibt sich aber auch, daß das Gemeinschaftsrecht auch der Verfassung vorgeht. Diese Folgerung zieht der EuGH selbst, wenn er am Schluß darlegt „dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht (könnten) wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen". Dieser Vorrang vor dem Verfassungsrecht w i r d auch i n anderen Urteilen bestätigt. Der EuGH spricht nicht davon, daß das dem Gemeinschaftsrecht widersprechende nationale Recht nichtig ist. Nach seiner A n sicht geht nur das Gemeinschaftsrecht vor. Es handelt sich also nicht u m eine Rangfrage, sondern u m eine einfache Kollisionsregel. Der Richter hat, wenn er zwei sich widersprechende Regeln anzuwenden hat, dem Gemeinschaftsrecht den Vorzug zu geben. Daraus folgt, daß die K o l l i sionsregel nur anzuwenden ist, wenn auch das Gemeinschaftsrecht unmittelbar anwendbar ist. Die Regelung der drei Aspekte der innerstaatlichen Rechtsposition des Gemeinschaftsrechts durch das Gemeinschaftsrecht selbst w i r k t i m Landesrecht, w e i l die Staaten nach Ansicht des EuGH teilweise auf ihre Souveränität verzichtet haben. Dieser Souveränitätsverzicht besteht i n der Begründung der sich auf das Gebiet der Mitgliedstaaten unmittelbar auswirkenden europäischen Hoheitsgewalten. Das bedeutet aber auch, daß die Staaten insoweit auf die ausschließliche Geltung des vom nationalen Gesetzgeber gesetzten oder anerkannten Rechts verzichtet haben. Wie dieser Verzicht durch die nationalen Verfassungen ermöglicht wurde, konnte der EuGH nicht entscheiden, w e i l i h m die Auslegung und Anwendung nationalen Rechts verschlossen ist. Es besteht aber kein Zweifel, daß für die Bundesrepublik hier Art. 24 I GG eingreift. Damit fehlte dem EuGH aber auch die Zuständigkeit, über die Grenzen zu entscheiden, die A r t . 24 I GG und die übrigen Grundgesetzbestimmungen dieser Öffnung des nationalen Rechtsraums zieht.
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2. Die Benelux-Staaten haben auf Grund ihrer Verfassungen keine Schwierigkeit, dem Gemeinschaftsrecht — wie dem Völkerrecht — einen Rang zumindest über den Gesetzen einzuräumen. Eine besondere Anpassung der nationalen Rechtsordnung war hier also nicht erforderlich. A l lerdings werden hier dann nicht die vom EuGH entwickelten Regeln des Gemeinschaftsrechts über die drei Aspekte der innerstaatlichen Position des Gemeinschaftsrechts, sondern die einschlägigen nationalen Regeln angewendet. So ist insbesondere die belgische Cour de Cassation i m oben zitierten Urteil Société Le Ski vorgegangen. I n Frankreich steht die Souveränität des Parlaments dem Recht des Richters entgegen, die Übereinstimmung nationaler Gesetze m i t dem Gemeinschaftsrecht zu prüfen, obwohl das Gemeinschaftsrecht wie das Völkerrecht dort einen höheren Rang als die Gesetze hat; wahrscheinlich verbietet die Souveränität des Parlaments dem Richter auch, i m Kollisionsfall das Gemeinschaftsrecht vorzuziehen (Langer, Die Anwendung des EWG-Rechts durch die französischen Gerichte, DÖV 1971, 588; Teitgen, L'application du droit communautaire par les juridictions françaises [1965]; Durry-Megret, Les juridictions françaises et l'application du droit européen [1972]). I n Italien und i n der Bundesrepublik hätte das Gemeinschaftsrecht auf Grund der Transformation durch das Zustimmungsgesetz nur Gesetzesrang. Einen höheren Rang kann das Gemeinschaftsrecht nur erwerben, wenn man entweder aus A r t . 24 GG und der entsprechenden italienischen Verfassungsnorm eine nationale Kollisionsregel entwickelt oder aber die europäischen Kollisionsregeln übernimmt. I n Italien ist diese Frage noch offen (Bortolotti, The Application of Community L a w i n Italy, CMLR 1972, 96; Mattioni, La rilevanza degli atti comunitari nell'ordinamento italiano [1971]; Rossi , Osservazioni sui rapporti fra ordinamento comunitario e ordinamento, interno, RTDE 1971, 3; Sorrentino, Corte costituzionale e Corte d i Giustizia delle Comunità europee [1970]; Valenti, Comunità Europea et costituzione italiana, RTDE 1972, 83), während i n der Bundesrepublik die obersten Gerichte die Kollisionsregeln des Gemeinschaftsrechts weitgehend so übernommen haben, wie sie der EuGH entwickelt hat: a) Nach BVerfGE 22, 293 sind die Verordnungen des Rats und der Kommission Akte einer besonderen, durch den Vertrag geschaffenen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen „supranationalen" öffentlichen Gewalt. Die Organe der EWG üben Hoheitsrechte aus, deren sich die Mitgliedstaaten entäußert haben: „Die Gemeinschaft ist selbst k e i n Staat, auch k e i n Bundesstaat. Sie ist eine i m Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener A r t , eine »zwischenstaatliche Einrichtung 1 i m Sinne des A r t . 24 Abs. 1 GG, auf die die Bundesrepublik Deutschland — w i e die übrigen Mitgliedstaaten — bestimmte Hoheitsrechte »übertragen 1 hat. D a m i t ist eine neue öffentliche Gewalt entstanden, die gegenüber der Staatsgewalt der einzelnen M i t g l i e d -
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Staaten selbständig u n d unabhängig ist; ihre A k t e brauchen daher von den Mitgliedstaaten weder bestätigt („ratifiziert") zu werden noch können sie von ihnen aufgehoben werden. Der E W G - V e r t r a g stellt gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar. Die v o n den Gemeinschaftsorganen i m Rahmen ihrer vertragsgemäßen Kompetenzen erlassenen Rechtsvorschriften, das »sekundäre Gemeinschaftsrecht', bilden eine eigene Rechtsordnung, deren Normen weder Völkerrecht noch nationales Recht der M i t gliedstaaten sind. Das Gemeinschaftsrecht u n d das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten sind ,zwei selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen'; das v o m E W G - V e r t r a g geschaffene Recht fließt aus einer »autonomen Rechtsquelle 4 (Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften Bd. V I I I , S. 97,110; Bd. X , S. 1251,1270)."
Aus dieser Rechtsnatur der Gemeinschaft folge, daß die von ihren Organen i m Rahmen ihrer Zuständigkeit erlassenen Akte nicht Akte der deutschen öffentlichen Gewalt sind; die Tatsache, daß keine supranationale oder internationale Gewalt ohne Mitbeteiligung der deutschen Staatsgewalt nach A r t . 24 I GG zustande komme, ändere hieran nichts. Eine Verfassungsbeschwerde gegen europäische Verordnungen sei dam i t unzulässig. Nicht entschieden sei damit, ob und i n welchem Umfang das BVerfG i m Rahmen eines zulässigerweise bei i h m anhängig gemachten Verfahrens Gemeinschaftsrecht an den Grundrechtsnormen des GG messen könne — eine Frage, die ersichtlich von der Entscheidung der weitergreifenden Vorfrage abhänge, ob und i n welchem Sinne von einer Bindung der Organe der EWG an die Grundrechte des GG gesprochen werden könne oder — anders gewendet — ob und i n welchem Maße die Bundesrepublik bei der Übertragung von Hoheitsrechten nach A r t . 24 I GG die Gemeinschaftsorgane von einer solchen Bindung freistellen könne. b) Der B F H hat i n seiner Entscheidung vom 10. J u l i 1968 (E 93,102 ff., 105) ebenfalls sich weitgehend der Rspr. des EuGH angeschlossen (vgl. Rahn, Der B F H und das 'Gemeinschaftsrecht der EWG, A W D [1969] 341): Die von den Organen der EWG erlassenen Normen stellten gemäß A r t . 189 I I EWGV i n den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes und allgemein verbindliches Recht dar. Ihre Aufnahme i n die Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten beruhe jedoch nicht — wie das ζ. B. bei den Bestimmungen eines gewöhnlichen völkerrechtlichen Vertrages der Fall sei — auf einer Transformation der einzelnen Normen mittels besonderer Ratifikationsgesetze. Vielmehr hätten die gründenden Mitgliedstaaten durch den Abschluß des EWG-Vertrages einen neuen und autonomen Träger hoheitlicher Gewalt innerhalb eines begrenzten Wirkungskreises geschaffen und finde das von i h m gesetzte Recht seinen innerstaatlichen Rechtsgrund darin, daß die Mitgliedstaaten ihr Staatsgebiet dieser Hoheitsgewalt unterworfen haben. Das Europäische Gemein-
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Völkerrecht und Landesrecht
schaftsrecht und das nationale Recht der Bundesrepublik stellten zwei selbständige und voneinander unabhängige Rechtsordnungen dar, von denen die erste ihre Grundlage i m EWG-Vertrag, letztere i m GG als nationale Verfassung habe. Die EWG-Verordnungen stellten zwar unmittelbar geltendes Recht i n der Bundesrepublik dar. Vorschriften des GG und insbesondere die Grundrechte könnten aber bewirken, daß der Anwendung einer Verordnimg i m Einzelfall ein Hindernis entgegensteht. Voraussetzung sei allerdings, daß das GG einen höheren Rang als die Verordnung habe. Dieser Rang w i r d dahingestellt gelassen, w e i l ein Verstoß gegen die Grundrechte i m konkreten Fall nicht vorliegt. I n die verfassungsmäßige Ordnung nach A r t . 2 I GG fällt nach Ansicht des B F H auch das „gesamte europäische Recht, und zwar unabhängig davon, welchen Rang man seinen Normen i m Verhältnis zum nationalen Recht zubilligt". c) Nach Ansicht des Beschlusses des BVerfG vom 9. Juni 1971 (E 31, 145 = BayVBl. 1971, 380 m i t Anm. Sommer = DVB1. 1972, 271 m i t Anm. Ipsen = NJW 1971, 2122 m i t Anm. G. Meier) bestanden keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, daß der B F H dem A r t . 95 EWGV auf der Grundlage der gemäß A r t . 177 EWGV eingeholten Vorabentscheidung des EuGH vom 16. Juni 1966 den Vorrang vor entgegenstehendem deutschen Steuerrecht eingeräumt hat. Denn durch die Ratifizierung des EWG-Vertrages sei i n Übereinstimmung m i t A r t . 24 I GG eine eigenständige Rechtsordnung der EWG entstanden, die i n die deutsche Rechtsordnung hineinwirke u n d von den deutschen Gerichten anzuwenden sei. Die i m Rahmen seiner Kompetenz nach A r t . 177 EWGV ergangene Entscheidung des EuGH zur Auslegung des A r t . 95 EWGV sei für den B F H verbindlich. A r t . 24 I GG besage bei sachgerechter Auslegung nicht nur, daß die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt zulässig sei, sondern auch, daß die Hoheitsakte ihrer Organe, wie hier das Urteil des EuGH, vom ursprünglich ausschließlichen Hoheitsträger anzuerkennen seien. Von dieser Rechtslage ausgehend müßten seit dem Inkrafttreten des Gemeinsamen Marktes die deutschen Gerichte auch Rechtsvorschriften anwenden, die zwar einer eigenständigen außerstaatlichen Hoheitsgewalt zuzurechnen seien, aber dennoch auf Grund ihrer Auslegung durch den EuGH i m innerstaatlichen Raum unmittelbare W i r k u n g entfalten und entgegenstehendes nationales Recht überlagern und verdrängen; denn nur so könnten die den Bürgern des Gemeinsamen Marktes eingeräumten subjektiven Rechte verwirklicht werden. Nach der Regelung, die das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Rspr. i m GG gefunden habe, gehöre es zu den Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt, jede i m Einzelfall anzuwendende Norm zuvor auf ihre Gültigkeit zu prüfen. Stehe eine Vorschrift i m Widerspruch zu einer
Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
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höherrangigen Bestimmung, so dürfe sie das Gericht auf den von i h m zu entscheidenden Fall nicht anwenden. Das gelte nur insoweit nicht, als die Verwerfungskompetenz bei Unvereinbarkeit formellen nachkonstitutionellen Rechts m i t dem GG gemäß A r t . 100 I GG dem BVerfG vorbehalten sei. Zur Entscheidung der Frage, ob eine innerstaatliche Norm des einfachen Rechts m i t einer vorrangigen Bestimmung des Europäischen Gemeinschaftsrechts unvereinbar sei und ob ihr deshalb die Geltung versagt werden muß, sei das BVerfG nicht zuständig; die Lösung dieses Normenkonflikts sei daher der umfassenden Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der zuständigen Gerichte überlassen. I m Rahmen dieser Kompetenz habe der B F H dem auf den Streitfall anzuwendenden § 7 Abs. 4 des Umsatzausgleichssteuergesetzes die Gültigkeit für die Einfuhr aus einem Mitgliedstaat der EWG insoweit aberkennen dürfen, als diese Norm nach seiner Überzeugung A r t . 95 EWGV widersprach. Damit habe er lediglich diejenige auf den Einzelfall bezogene Korrektur des innerstaatlichen Rechts vollzogen, die erforderlich gewesen sei, u m der unmittelbaren Wirkung des A r t . 95 EWGV für den einzelnen Bürger und dem Vorrang dieser Norm vor entgegenstehendem nationalen Recht Geltung zu verschaffen. Obwohl i m konkreten Fall das BVerfG dem A r t . 95 EWGV den Vorrang vor einem früheren deutschen Gesetz eingeräumt hat und diese Rechtsfolge sich auch aus der lex posterior-Regel ergäbe, folgt aus den Formulierungen des BVerfG und insbesondere aus seinen Ausführungen zur Verwerfungskompetenz der deutschen zuständigen Gerichte eindeutig, daß das BVerfG i n Abweichung von seiner bisherigen Rechtsprechungspolitik die Gelegenheit ergriffen hat, über den Einzelfall hinausgehend den Vorrang des europäischen vor dem nationalen Recht festzulegen. Uber den konkreten Anlaß ging das BVerfG ferner insoweit hinaus, als dieser Rang nicht nur dem konkret anwendbaren A r t . 95 EWGV oder dem EWGV als ganzem, sondern, wie seine Ausführungen zur „eigenständigen Rechtsordnung der EWG" ergeben, dem gesamten Recht der Europäischen Gemeinschaften eingeräumt wurde, soweit es unmittelbar anwendbar ist. A u f der anderen Seite spricht das BVerfG zwar mehrfach von dem Vorrang vor „nationalem Recht". Trotzdem ist entgegen der Ansicht der Kommentatoren kaum klar, daß damit nicht nur die Bundesgesetze, sondern auch das GG gemeint sind. Denn einerseits handelte es sich i m konkreten Fall nur u m ein einfaches Bundesgesetz. Andererseits hob das BVerfG i m Rahmen der Prüfungskompetenz, also i n den einzigen Ausführungen, die zu dieser Frage konkretere Aussagen enthalten, den Rang vor einer „innerstaatlichen Norm des einfachen Rechts" hervor, und schließlich hat das BVerfG i n seiner Entscheidung vom 18. Oktober 1967 und i n seinem Beschluß vom 4. M a i 1971 (E 31, 58 ff.) die Fragen der Vereinbarkeit des europäischen Rechts m i t dem
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Verfassungsrecht ausdrücklich einer späteren Entscheidung vorbehalten; es ist aber nicht anzunehmen, daß das BVerfG i n dem hier besprochenen Beschluß diese wichtige Frage ohne ausdrückliche Prüfung nebenher entscheiden wollte. d) M i t diesen Entscheidungen hatte das BVerfG die Rspr. des EuGH zu den drei Aspekten der innerstaatlichen Rechtsposition des Gemeinschaftsrechts übernommen. Es war anzunehmen, daß das BVerfG auch den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem GG akzeptieren würde. Allerdings sind, wie oben gezeigt, damit nicht alle Fragen gelöst. Es kann sein, daß A r t . 24 I GG nur soweit die Konstituierung europäischer Hoheitsgewalt m i t den vom EuGH postulierten Qualitäten, insbesondere dem Vorrang vor nationalem Recht, zuläßt, als die Europäischen Gemeinschaften der Bundesrepublik strukturell kongruent sind; dann könnten die Zustimmungsgesetze zu den Europäischen Verträgen insoweit nichtig sein, als sie diese Hoheitsgewalt begründen. A u f der anderen Seite kann A r t . 24 I GG aber auch das Gemeinschaftsrecht m i t seinem Vorranganspruch nur insoweit i n das nationale Recht einströmen lassen, als es nicht die deutschen Grundrechte — ganz oder i m K e r n (Art. 19 I I , 79 I I I GG) verletzt. Diese Frage hatte das BVerfG i n seiner Entscheidung vom 29. Mai 1974 (BVerfGE 37, 271) zu lösen: Das V G Frankfurt war der Auffassung, die europäische Getreidemarktordnung verstoße insoweit gegen Grundrechte, als sie bei Nichtausnutzung der Einfuhrlizenz den Verfall der bei der Erteilung der Lizenz zu stellenden Kaution vorsah. Das V G legte deshalb zunächst dem EuGH die Frage vor, ob die europäische Verordnung m i t dem Gemeinschaftsrecht übereinstimme. Der EuGH stellte i n seiner Entscheidung vom 17. Dezember 1970 (Rspr. X V I , 1125) die Gültigkeit der europäischen Verordnung fest. Insbesondere ein Verstoß gegen allgemeine Rechtsgrundsätze, zu denen auch die Einhaltung der nationalen Grundrechte zähle, sei nicht festzustellen. Das V G blieb bei seiner Auffassung und legte nunmehr dem BVerfG i m Wege der konkreten Normenkontrolle nach A r t . 100 I GG die Frage vor, ob die europäische Verordnung gegen Grundrechte des GG verstoße. Über diese Vorlage entschied des BVerfG durch Beschluß vom 29. M a i 1974. Das BVerfG bestätigte zunächst seine Entscheidungen i m Bd. 22, 296 und 31, 173, nach denen das Gemeinschaftsrecht weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht ist, sondern eine eigenständige Rechtsordnung bilde, die aus einer autonomen Rechtsquelle fließe. Daraus folge, daß der EuGH über die Vereinbarkeit des Sekundärrechts m i t dem Primärrecht, das BVerfG über die Ubereinstimmung des Sekundärrechts m i t dem deutschen Verfassungsrecht zu entscheiden habe. Die Gemeinschaft werde nicht i n Frage gestellt, wenn ausnahms-
Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
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weise das Gemeinschaftsrecht sich gegenüber zwingendem Verfassungsrecht nicht durchsetzen könne. A r t . 24 GG öffne die nationale Rechtsordnung derart, daß der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik i m Geltungsbereich des GG zurückgenommen u n d der unmittelbaren Geltung und A n wendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschaftsbereichs Raum gelassen wird. Diese Öffnung sei aber nicht grenzenlos. A r t . 24 GG müsse wie jede Verfassungsbestimmung ähnlich grundsätzlicher A r t i m Kontext der Gesamtverfassung verstanden und ausgelegt werden. Er eröffne deshalb nicht den Weg, die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruhe, ohne Verfassungsänderung, nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtung zu ändern. Gewiß könnten die zuständigen Gemeinschaftsorgane Recht setzen, das die deutschen zuständigen Verfassungsorgane nach dem Recht des GG nicht setzen könnten und das gleichwohl unmittelbar i n der Bundesrepublik gelte und anzuwenden sei. Aber A r t . 24 begrenze diese Möglichkeit, indem an i h m eine Änderung des Vertrages scheitert, die die Identität der geltenden Verfassung durch Einbruch i n die sie konstituierenden Strukturen aufheben würde. Und dasselbe würde für Regelungen des sekundären Gemeinschaftsrechts gelten, die auf Grund einer entsprechenden Interpretation des geltenden Vertrages getroffen und i n derselben Weise die dem GG wesentlichen Strukturen berühren würden. E i n unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des GG gehörendes Essentiale sei der Gnindrechtsteil. I h n zu relativieren, gestatte A r t . 24 GG nicht vorbehaltslos. Dabei sei der gegenwärtige Stand der Integration der Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung. Sie entbehre noch eines unmittelbar demokratisch legitimierten, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlaments, das Gesetzgebungsbefugnisse besitzt und dem die zur Gesetzgebung zuständigen Gemeinschaftsorgane politisch v o l l verantwortlich sind; sie entbehre insbesondere noch eines kodifizierten Grundrechtskatalogs, dessen Inhalt ebenso zuverlässig und für die Zukunft unzweideutig feststehe wie der des Grundgesetzes und deshalb einen Vergleich und die Entscheidung gestatte, ob derzeit der i n der Gemeinschaft allgemein verbindliche Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts auf die Dauer dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes, unbeschadet möglicher Modifikationen, derart adäquat ist, daß die angegebene Grenze, die A r t . 24 GG zieht, nicht überschritten ist. Solange diese Rechtsgewißheit, die allein durch die anerkanntermaßen bisher grundrechtsfreundliche Rspr. des EuGH nicht gewährleistet sei, i m Zuge der weiteren Integration der Gemeinschaft nicht erreicht sei, gelte der aus A r t . 24 GG hergeleitete Vorbehalt. Vorläufig setze sich i n einem Normenkonflikt deshalb die Grundrechtsgarantie des GG durch. Das BVerfG prüft i n der Folge i m Detail, ob die europäische Verordnung gegen deutsche Grundrechte verstößt.
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Der deutsche Richter, der Zweifel an der Übereinstimmung des Gemeinschaftsrechts mit den deutschen Grundrechten habe, müsse zunächst versuchen, diese Kollision durch harmonisierende Auslegung beizulegen. Gelänge dies nicht, müsse er dem EuGH die Frage vorlegen, ob die Verordnung m i t den europäischen Grundrechten übereinstimme. Erst danach könne das BVerfG i m Wege der konkreten Normenkontrolle nach A r t . 100 I GG angerufen werden. Das BVerfG entscheide i n diesem Verfahren nicht über die Gültigkeit, sondern nur über die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts durch den deutschen Richter. Der Vorlage nach A r t . 100 I GG stehe nicht entgegen, daß es sich hier nicht u m ein deutsches Gesetz handele. Denn i m Vollzug der Verordnung durch eine Behörde oder ein Gericht der Bundesrepublik liege die Ausübung deutscher Hoheitsgewalt. Die Konzentrierung dieser Entscheidung beim BVerfG liege auch i m Interesse der Gemeinschaft und ihres Rechts. Die abweichende Meinung der Richter Hirsch, Rupp und Wand schließt aus A r t . 24 I GG den Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch vor dem Verfassungsrecht und das Verbot der Überprüfung des Gemeinschaftsrechts auch am Maßstab der Verfassung durch den deutschen Richter. I m Widerspruch damit nehmen diese Richter trotzdem an, daß der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber Vorschriften des innerstaatlichen Rechts nur insoweit gelten kann, als das GG die Übertragung von Hoheitsgewalt auf Gemeinschaftsorgane gestatte. A r t . 24 I GG lasse die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen nicht schrankenlos zu. Wie alle Verfassungsvorschriften sei diese Bestimmung so auszulegen, daß sie m i t den elementaren Grundsätzen des GG und seiner Wertordnung i n Einklang stehe. Dabei seien einerseits das Bekenntnis zu einem vereinten Europa i n der Präambel des GG, andererseits die besondere Sorge u m die Wahrung einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung zu berücksichtigen. Die Auslegung des A r t . 24 I GG aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassung ergebe, daß der Verzicht auf die Ausübimg von Hoheitsgewalt i n bestimmten Bereichen und die Duldung der Ausübung von Hoheitsgewalt durch Organe einer überstaatlichen Gemeinschaft nur dann zulässig sind, wenn die öffentliche Gewalt der überstaatlichen Gemeinschaft nach ihrer Rechtsordnung den gleichen Bindungen unterliegt, wie sie sich für den Bereich des innerstaatlichen Rechts aus den fundamentalen u n d unabdingbaren Prinzipien des GG ergeben; dazu gehörten insbesondere der Schutz des Kernbestandes der Grundrechte. I m Gegensatz zum Urteil nimmt die abweichende Meinung aber an, daß dieser Kernbereich durch die Rspr. des EuGH zu den Grundrechtsschranken der europäischen Gewalt hinreichend geschützt sei. Einer Kontrolle durch das BVerfG bedürfe es folglich nicht mehr. Überdies sei A r t . 100 I GG nur auf deutsche Gesetze anwendbar. Europäische Verordnungen könnten i m Wege
Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Recht der konkreten Normenkontrolle werden.
dem BVerfG
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also nicht vorgelegt
Die Entscheidung des BVerfG ist auf herbe K r i t i k gestoßen (vgl. etwa Hallstein, Festschr. Böhm [1975] 205; Ipsen, EuR 1975, 1; Scheuner, AöR 1975, 30). Z u einer richtigen Ansicht gelangt man wohl, wenn man Gedanken des Beschlusses m i t Ausführungen der abweichenden Meinung verbindet: Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht einschließlich dem GG ist dann anzuerkennen. Er wurde vom BVerfG grundsätzlich auch gar nicht i n Zweifel gezogen. Art. 24 I GG läßt aber m i t dem Beschluß das Gemeinschaftsrecht m i t seinem Vorrangsanspruch i n den nationalen Rechtsraum nur einströmen, soweit es i m K e r n m i t den deutschen Grundrechten übereinstimmt. A u f eine Kontrolle durch das BVerfG kann deshalb nur verzichtet werden, soweit das Gemeinschaftsrecht selbst Grundrechtsschranken enthält, die dem K e r n der deutschen Grundrechte entsprechen. Entgegen der abweichenden Meinung kann angesichts der wenigen Urteile des EuGH, welche die europäischen Grundrechte nur ganz punktuell entwickelt haben, diese Frage heute generell noch nicht beantwortet werden. Trotzdem ist eine Kontrolle des BVerfG nicht notwendig, soweit der EuGH wie hier i m konkreten Falle die europäische Verordnung an den deutschen Grundrechten entsprechenden Grundrechten geprüft hat. Soweit der EuGH solche Grundrechte nicht annimmt, bleibt die Überprüfung der europäischen Verordnung notwendig. Allerdings sollte sie nicht, wie das BVerfG meint, sich auf den gesamten Grundrechtsumfang, sondern nur auf den K e r n des Grundrechts erstrecken, den allein anzutasten A r t . 24 I GG nicht gestattet (vgl. Hilf/Klein/Bleckmann, ZaöRV 35 [1975] 51 ff.). 3. Verfassungsmäßigkeit der Zustimmungsgesetze zu den Europäischen Gemeinschaftsverträgen Bross, Die Bedeutung des Grundsatzes der Demokratie für die W i r k s a m k e i t europarechtlicher Sekundärnormen i m Bereich der Bundesrepublik Deutschland (1970); Fuss, Rechtsstaatliche Bilanz der Europäischen Gemeinschaften, Festschr. Küchenhoff, 381; Fuss, Die Europäischen Gemeinschaften u n d der Rechtsstaatsgedanke (1968) ; Kaiser / Badura, Bewahrung u n d Veränderung demokratischer u n d rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur i n den int. Gesellschaften, W d S t R L 23, 1966; Kraus, Der K a m p f u m den Wehrbeitrag (1953) 545; Kruse, Strukturelle Kongruenz u n d Homogenität, Festschr. H. Kraus (1954) 112; Naßmacher, Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaften (1972); Ophüls, A W D 1964, 65; J. Ter-Nedden, Schranken der Übertragung von H o heitsrechten (1965) ; Unger, Die Anforderungen des Grundgesetzes an die S t r u k t u r supranationaler Gemeinschaften (1971); Wengler, D Ö V 1968, 327.
1. Nach der von Kraus entwickelten, bis 1964 häufig vertretenen Forderung der „strukturellen Kongruenz" darf die Bundesrepublik auf 21 Bleckmann
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Völkerrecht und Landesrecht
internationale Organisationen Hoheitsrechte gemäß A r t . 24 I GG nur übertragen, wenn diese internationale Organisation den Grundentscheidungen der deutschen Verfassung — Demokratie u n d Rechtsstaatlichkeit — entspricht. Die Europäischen Gemeinschaften weichen von diesen Entscheidungen der deutschen Verfassung i n mindestens vier Punkten ab: a) Die Gesetzgebungsbefugnis ist abweichend vom Gewaltenteilungsprinzip nicht dem europäischen Parlament, sondern dem Ministerrat, also der „Exekutive" anvertraut, die abweichend von A r t . 80 G G zur „Gesetzgebung" nicht durch ein Gesetz ermächtigt wird, das Inhalt, Gegenstand und Ziel der Rechtsetzung festlegt. b) Der europäische Gesetzgeber, der Ministerrat, ist nicht gewählt, folglich nicht demokratisch legitimiert. c) Die europäische öffentliche Gewalt ist nicht an die Grundrechte des GG gebunden. d) Der Rechtsschutz des Bürgers gegen die Akte der europäischen öffentlichen Gewalt bleibt i n wesentlichen Punkten hinter dem Rechtsschutz i n der Bundesrepublik, insbesondere hinter dem i n A r t . 19 I V GG garantierten Rechtsschutz zurück. Individuen könnten Rechtsverordnungen nicht anfechten, ihre Klagebefugnis ist enger als nach deutschem Recht, der EuGH beläßt der Exekutive einen zu großen Ermessensspielraum (vgl. W. von Simson, DVB1.1966,653). 2. Von dieser Forderung nach rigoroser Ubereinstimmung der Strukturen der Europäischen Gemeinschaften m i t den Strukturen des GG hat sich die Lehre zunehmend distanziert. Zunächst finden sich Versuche, A r t . 24 I GG dahin zu interpretieren, daß er — bis zu den Grenzen des A r t . 79 I I I GG — d i e Übertragung von Hoheitsrechten auch an dem GG nicht v o l l entsprechende internationale Organisationen gestatte. A u f der Staatsrechtslehrertagung von 1964 haben Kaiser und vor allem Badura diesem Versuch eine andere Lösung entgegengesetzt: Die allgemeinen Ideen der Demokratie und des Rechtsstaats sind i n jedem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften unterschiedlich ausgeprägt. Die Bundesrepublik könne deshalb nicht verlangen — und A r t . 24 I GG verlangt folglich auch nicht —, daß die Europäischen Gemeinschaften dem deutschen Standard v o l l entsprechen. Aber auch die durch Rechtsvergleichung aufzudeckenden Gemeinsamkeiten der staatlichen Ausprägung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit können nicht ohne weiteres als Maßstab für die europäischen Gemeinschaften herangezogen werden. Aus dem gemeinsamen Grundgedanken der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit seien vielmehr neue, den Europäischen Gemeinschaften angepaßte Ausprägungen zu finden, die von dem deutschen
Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
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Modell erheblich abweichen können. Es muß also geprüft werden, ob und wie die Gedanken der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie i n den Europäischen Gemeinschaften ausgeprägt wurden und ob diese Ausprägungen den Grundvorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit noch entsprechen. Legt man diesen Maßstab an die europäischen Gemeinschaften an, gelangt man zu folgenden Ergebnissen: a) Überträgt man die Gesetzgebungsbefugnis auf ein unmittelbar gewähltes europäisches Parlament und erfüllt man so die Forderungen nach Demokratie und Gewaltenteilung i n vollem Umfang, ist i m Grunde der Schritt zu dem die Nationalstaaten aufhebenden europäischen Bundesstaat schon vollzogen. Ein solcher Schritt ist nach Badura durch Art. 24 I GG gerade nicht mehr gedeckt, so daß sich diese Bestimmung m i t minderen Anforderungen begnügen muß. Ein solches Modell würde auch den realisierbaren Möglichkeiten weit vorauseilen. Auch heute noch beruht die Funktionsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaften auf dem Konsens der Staaten. Die Entscheidungsgewalt muß also i n dem Organ verankert bleiben, das diesen Konsens trägt: dem Ministerrat als der Gesamtheit der Regierungen. Nur so ist gesichert, daß die europäischen Entscheidungen von den Staaten auch vollzogen werden. A r t . 24 I GG kann keine Forderung für die Struktur der europäischen Gemeinschaften aufstellen, welche diese Gemeinschaften funktionsunfähig machen müßte. Den Forderungen nach Demokratie und Gewaltenteilung müssen also i m Rahmen des A r t . 241 GG andere Ausprägungen genügen: b) I n der Literatur (G. v. Hippel, La séparation des pouvoirs dans les Communautés européennes [1965]; H. Petzold, Die Gewaltenteilung i n den Europäischen Gemeinschaften [1966]; H.-J. Seeler, Die europäische Einigung und das Problem der Gewaltenteilung [1957]) ist häufig zu recht hervorgehoben worden, daß der Gedanke der Gewaltenteilung i m Sinne der gegenseitigen checks and balances i n der Gemeinschaft so stark verankert ist, daß ein einseitiger Machtmißbrauch durch ein Organ der Gemeinschaft ausgeschlossen erscheint. Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die Entscheidungen des Ministerrats der Einstimmigkeit oder zumindest der Mehrheit der nationalen Regierungen bedürfen, die ihrerseits von den nationalen Parlamenten kontrolliert werden, so daß, wie die Entwicklung gezeigt hat, eher die Nichtausnutzung der durch den Vertrag eingeräumten Befugnisse als die Machtüberschreitung zu befürchten ist. Zweitens kann der Ministerrat meist nur auf Vorschlag der Kommission handeln, die ihrerseits durch ihre Unabhängigkeit streng auf den Vertrag ausgerichtet ist und überdies der Kontrolle durch das Europäische Parlament unterliegt. U n d drittens sind allen Organen der Europäischen Gemeinschaften abweichend von den nationalen Parlamenten durch die Europäischen Gemeinschaftsverträge nur wenn auch 21·
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manchmal relativ weite, so doch begrenzte Befugnisse übertragen worden. Der Willensbildungsprozeß und die Einhaltung der Befugnisse aber werden vom EuGH kontrolliert. So enthalten die Europäischen Gemeinschaftsverträge eine Gewaftenbalancierung, die i n ihrer Dichte und Wirksamkeit über die Gewaltenteilung i m nationalen Rechtsraum weit hinausgehen dürfte. c) Auch den Erfordernissen der Demokratie ist i n hinreichendem Maße genügt: Die Organe der Europäischen Gemeinschaften und ihre Befugnisse beruhen auf Verträgen, denen die nationalen Parlamente zugestimmt haben. Diese Verträge halten die europäischen Organe i n Grenzen, die zumindest i n der weiten Auslegung, die das BVerfG dieser Bestimmung gegeben hat, an die des A r t . 80 GG heranreichen. Die Minister i m Rat sind durch die nationalen Parlamente berufen und unterliegen auch hinsichtlich ihrer Tätigkeit i m Rat der Kontrolle dieser Parlamente. Der Ministerrat ernennt die Kommission, die so ebenfalls mittelbar demokratisch legitimiert wird. Die Kommission ist auch durch die Kontrolle durch das Europäische Parlament demokratisch legitimiert. Das Europäische Parlament kann insoweit auch über den Rat eine Kontrolle ausüben, als der Ministerrat an die Vorschläge der Kommission gebunden ist, die ihrerseits durch das Europäische Parlament kontrolliert wird. Daneben bestehen Mitwirkungsrechte des Wirtschaftsund Sozialausschusses, dem Organ der Interessenrepräsentation. Und schließlich steht das Handeln der Europäischen Gemeinschaften ständig i m Lichte der Öffentlichkeit und w i r d so auf die öffentliche Meinung zurückbezogen u n d demokratisch legitimiert. d) Der EuGH kann und w i r d i n zunehmendem Maße über die allgemeinen Rechtsgrundsätze die nationalen Grundrechte als Handlungsschranken für die europäischen Organe heranziehen. Er scheint sich dabei zu bemühen, gerade auch dem deutschen Standard gerecht zu werden. Überdies verankern die Gemeinschaftsverträge selbst — Errichtung eines den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft entsprechenden Gemeinsamen Marktes mit den vier „Grundfreiheiten": Freiheit der Niederlassung und der Freizügigkeit, Freiheit des Waren- und des Kapitalverkehrs sowie dem Diskriminierungsverbot zwischen Inund Ausländern — weitgehend liberales Gedankengut, das sich auch i n den Grundrechten ausprägt. Es ist also zu erwarten, daß der europäische Grundrechtsstatus zunehmend dem deutschen Standard entspricht. Eine völlige Deckung ist nicht notwendig, w e i l A r t . 24 I GG nur verlangen kann, daß die Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaften i m wesentlichen dem gemeinsamen Standard der Mitgliedstaaten entspricht. e) Der Rechtsschutz gegen europäische Gemeinschaftsakte vor dem EuGH entspricht weitgehend dem A r t . 19 I V GG. Eine völlige Deckung
Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales
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kann A r t . 24 I G G auch hier nicht verlangen, w e i l auch die Rechtsschutzsysteme der anderen Mitgliedstaaten berücksichtigt werden müssen. 3. I n seiner Entscheidung, E 22, 293, hat das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit der Zustimmungsgesetze zu den Europäischen Gemeinschaftsverträgen ausdrücklich offen gehalten. Das BVerfG hat aber darauf hingewiesen, daß die Überschreitung der Grenzen des A r t . 24 I GG das Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag nicht i n seiner Gesamtheit, sondern nur insoweit nichtig macht, als es A r t . 189 EWGV betrifft. M i t seiner Entscheidung vom 29. M a i 1974 hat das BVerfG sich m. E. dagegen die Möglichkeit verbaut, noch frei über die Verfassungsmäßigkeit der Zustimmungsgesetze zu entscheiden. Die wichtigste Frage — die Übereinstimmung der Grundrechte — wurde nämlich dadurch gelöst, daß die europäischen Akte i m nationalen Bereich vom BVerfG m i t der Folge an den Grundrechten gemessen werden können, daß grundrechtswidriges Sekundärrecht von den nationalen Gerichten nicht anzuwenden ist. Dieses Bedenken kann also nicht mehr gegen die Verfassungsmäßigkeit der Zustimmungsgesetze durchschlagen. Gleichzeitig hat das BVerfG als Grund für diese Prüfung der Grundrechtskonformität des Sekundärrechts gerade auch die fehlende demokratische Legitimation des europäischen Gesetzgebers hervorgehoben. Nach Ansicht des BVerfG w i r d also diese Legitimation durch die Prüfung der Grundrechtskonformität, Demokratie durch Rechtsstaatlichkeit ersetzt. Gerade gegen die Gewaltenteilung können aber nun am wenigsten durchschlagende Gründe gefunden werden. Überdies war das BVerfG i n dieser Entscheidung nicht an die i n der Vorlage aufgeworfenen Grundrechtsfragen gebunden. Es hätte nachprüfen können, ob A r t . 24 I GG u n d das GG aus anderen Gründen der innerstaatlichen W i r k u n g der europäischen Verordnungen Grenzen zieht. Dabei hätte es die Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes prüfen können. Damit, daß das BVerfG die europäischen Verordnungen nur den Grenzen der Grundrechte unterwarf, hat es also seine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes präjudiziert. 4. Die unmittelbare
Anwendbarkeit
des Gemeinschaftsrechts
Ebenso wie die innerstaatliche Geltung und der innerstaatliche Rang des europäischen Rechts w i r d auch der dritte Aspekt der innerstaatlichen Position des Europarechts, die innerstaatliche unmittelbare Anwendbarkeit, abweichend von der für Völkerrechtsverträge geltenden Regeln unmittelbar vom Europarecht bestimmt; es handelt sich u m eine Frage der Auslegung des europäischen Rechts oder der Anwendung europäischer Rechtsprinzipien auf das europäische Recht, die i n die Zuständigkeit des EuGH fällt und diesem deshalb i m Verfahren nach A r t . 177
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EWGV von den nationalen Gerichten vorgelegt werden kann bzw. — wenn es sich u m die höchsten Gerichte handelt — vorgelegt werden muß. Abweichend von der von uns für das Völkerrecht vertretenen A u f fassung, wonach unter der unmittelbaren Anwendbarkeit die Tatsache zu verstehen ist, daß der nationale Richter die völkerrechtliche Norm anzuwenden hat, versteht der EuGH unter der „unmittelbaren Wirkung" ( effets directs) einer europäischen Rechtsnorm, daß sie Rechte und Pflichten für die Individuen begründet, die der nationale Richter insbesondere i n der Form anzuwenden hat, daß er sie der damit i n Konflikt stehenden nationalen Norm vorzuziehen hat. Der EuGH hat i n ständiger Rspr. (van Gend & Loos, Rspr. I X , 1; Costa c. ENEL , X , 1141; Lütticke, X I I , 293; Fink Frucht GmbH, X I V , 327; Molkereizentrale Westfalen, X I V , 211; Sociaal Fonds, X V , 211; Politi, X V I I , 1971; di Porre, X V I I , 811; SACE, X V I , 1213; Lorenz, X I X , 1471; Markmann, X I X , 1495; Nordsee, X I X , 154; Lohrey, X I V , 1527; Salgoi, X I X , 675; Reyners, X X ; Schlüter, X I X , 1135; Rewe, X I X , 1175; Capolongo, X I X , 611) die Voraussetzungen dieser Wirkung entwickelt: 1. Subjektive Rechte der Individuen entstehen nicht nur, wenn der Vertrag oder das Sekundärrecht ausdrücklich Rechte begründet, sondern können auch entstehen, wenn der Vertrag ausdrücklich nur eine Staatenverpflichtung begründet. Zunächst muß es sich u m eine echte Staatenverpflichtung und darf es sich nicht nur u m ein politisches Programm handeln. Die Norm darf den Staaten zweitens keinen Ermessensspielraum belassen. Nicht unmittelbar anwendbar sind Normen, welche die Staaten verpflichten, die Kommission über eine bestimmte Gesetzgebung zu informieren (etwa A r t . 102 EWGV); ihre Verletzung führt also nicht zur Unanwendbarkeit des "betreffenden nationalen Gesetzes. Das liegt nicht daran, daß diese Normen nicht i m Interesse der Individuen erlassen worden sind (umstr.), sondern daß sie keine ausdrückliche Sanktion für die Pflichtverletzung enthalten. 2. Nach ständiger Rspr. des EuGH sind nur Normen unmittelbar anwendbar, die ein Verbot enthalten, bestimmte nationale Gesetze zu erlassen. Nicht unmittelbar anwendbar sind Normen, welche die Staaten zu einer Gesetzgebung verpflichten, also eine Handlungspflicht enthalten. Solche Gesetzgebungspflichten (Pflicht zur Aufhebung von dem Europarecht widersprechendem nationalen Recht) enthalten z. B. die A r t . 13 II, 16 und 32 I I EWGV. Diese Gesetzgebungspflichten sind nicht unmittelbar anwendbar, w e i l die nationalen Rechtsordnungen weder materielle Ansprüche der Individuen auf eine Gesetzesänderung noch entsprechende Verfahren kennen; wenn der EuGH diese Pflichten für unmittelbar anwendbar erklärt hatte, dann hätte er also die nationalen Rechtskonzeptionen aus den Angeln gehoben. Das bedeutet nicht, daß diese Gesetzgebungspflichten sanktionslos blieben. Nach Ablauf der von dem
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Europarecht für die Gesetzgebung vorgesehenen Frist, also meist nach Ende der Übergangsperiode, werden die Gesetzgebungspflichten vom EuGH vielmehr i n Verbote der weiteren Anwendung entgegenstehenden nationalen Rechts umgedeutet, die ihrerseits unmittelbar anwendbar sind. Gegen eine Handlungspflicht der nationalen Verwaltung bestehen dagegen aus der Sicht der nationalen Verfahrensordnungen keine Bedenken; deshalb hat der EuGH die in einer Verordnung festgelegte Pflicht der Verwaltung, Prämien zu zahlen, für unmittelbar anwendbar erklärt. 3. Die Staatenverpflichtung muß ferner klar und präzise sein. Das ist eine Norm auch, wenn sie der Auslegung durch den EuGH bedarf. Auch die Tatsache, daß die unmittelbare Anwendbarkeit der Norm durch den nationalen Richter zu einem m i t dem deutschen Rechtsstaatsprinzip schwer vereinbaren Chaos i n der Rechtsanwendung führt, steht der unmittelbaren Anwendbarkeit des Europarechts nicht entgegen. Der Gedanke der hinreichenden Präzision der Europarechtsnorm, die auch für das Völkervertragsrecht vertreten wird, beruht auf zwei verschiedenen Gründen. Einmal begründet eine zu unbestimmte Norm keine völkerrechtlichen Verpflichtungen oder doch nur völkerrechtliche Verpflichtungen, die i n dem flexiblen Völkerrechtsverfahren durchgeführt werden müssen; werden sie unter den wesentlich strikteren Voraussetzungen des nationalen Rechts vollzogen, werden sie i n echte Staatenverpflichtungen umgemünzt. Zweitens bestimmt das nationale Gewaltenteilungsprinzip die Rolle des Richters; er darf einerseits nicht selbständig Recht schöpfen, andererseits müssen insbesondere bei Eingriffen i n Grundrechte die Gesetzesgrundlagen hinreichend bestimmt sein. Wenn der EuGH vermeiden w i l l , daß die nationalen Verfassungsgerichte sich der unmittelbaren Anwendung einer i n diesem Sinn nicht hinreichend bestimmten Europarechtsnorm widersetzen, muß er — ähnlich wie bei der Entwicklung allgemeiner Rechtsprinzipien des Europäischen Gemeinschaftsrechts — die europarechtliche Rolle des nationalen Richters unter Rückgriff auf die Rechtsvergleichung entwickeln. 4. Die Staatenverpflichtung darf ferner nicht befristet oder bedingt sein; sie muß nicht erst noch durch einen A k t der Gemeinschaftsorgane oder des nationalen Gesetzgebers konkretisiert werden. Gemeint sind damit einerseits die zahlreichen Fälle, i n denen ein Prinzip des Europarechts durch Akte der Gemeinschaftsorgane verwirklicht werden muß, andererseits die Richtlinien, die durch Akte des nationalen Gesetzgebers i n die nationale Rechtsordnung eingeführt werden. Hier gilt allerdings der schon oben angezogene Satz, daß nach Ablauf der für den Erlaß solcher Akte gesetzten Frist die vom Vertrag oder von der Richtlinie gewollte, hinreichend präzise Regelung selbst ohne Dazwischentreten des Gemeinschaftsgesetzgebers oder des nationalen Ge-
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setzgebers unmittelbar anwendbar wird. So hat der EuGH entschieden, daß nach Ablauf der Übergangsfrist ein Niederländer, der alle erforderlichen Diplome i n Belgien erworben hatte, i n Belgien zur Anwaltschaft zugelassen werden müsse, obwohl die i n A r t . 52 ff. EWGV vorgesehenen Richtlinien und die entsprechenden belgischen Einführungsakte nicht ergangen sind: der A r t . 52 i n Verbindung m i t A r t . 7 wurde so nach Ablauf der Übergangszeit unmittelbar anwendbar (Reyners c. Etat beige). Ebenso ist anzunehmen, daß eine Richtlinie, die dem Gesetzgeber den Erlaß einer bestimmten Regelung vorschreibt, nach Ablauf der i n ihr gesetzten Frist m i t der Folge unmittelbar anwendbar wird, daß die i n ihr vorgesehene Regelung — soweit sie hinreichend präzise ist — von den nationalen Gerichten unmittelbar anzuwenden ist (.LeberpfennigEntscheidungen des EuGH: Grad, Rspr. X V I , 825; Lesage, X V I , 861; Haselhorst, X V I , 881). 5. Die bisher entwickelten Prinzipien stellen nicht auf den Parteiw i l l e n ab. Der Parteiwille spielt auch i m übrigen für die Feststellung der unmittelbaren Anwendbarkeit durch den EuGH keine Rolle. Der EuGH untersucht vielmehr wie das deutsche RG, ob eine Norm ihrer Natur nach zur unmittelbaren Anwendung objektiv geeignet ist. 6. Unter den oben genannten Voraussetzungen sind auch Richtlinien und Entscheidungen der Europäischen Gemeinschaften unmittelbar anwendbar (Leberpfennig-Entscheidungen, 3. o. 4). 7. Nach der Rspr. des EuGH verdrängen die Normen des Europäischen Gemeinschaftsrechts nationales Recht nur, soweit sie unmittelbar anwendbar sind. Denn der Primat des Europarechts kommt nicht i m höheren formellen Rang des Europarechts, sondern i n der Tatsache zum Tragen, daß der nationale Richter, der auf einen vor i h m schwebenden Fall zwei gleichermaßen anwendbare Rechtsregeln anwenden muß, dem Europarecht den Vorzug geben muß. Diese Auffassung führt zu unhaltbaren Ergebnissen: Einmal sind Normen, die dem nationalen Gesetzgeber ein Ermessen einräumen, auch insoweit nicht unmittelbar anwendbar, als sie das Ermessen des Gesetzgebers beschränken: ein Anspruch des Individuums auf fehlerfreie Ermessensausübung hat die Rspr. des EuGH noch nicht entwickelt. Folglich muß der nationale Richter ein Gesetz auch dann anwenden, wenn es i m Hinblick auf das Europarecht ermessensfehlerhaft zustande gekommen ist. Das Europarecht ist nicht unmittelbar anwendbar, solange die den Staaten zur Gesetzgebung belassene Frist nicht abgelaufen ist. Der nationale Richter darf also vor Ablauf dieser Frist nicht überprüfen, ob ein Ausführungsgesetz zum Europäischen Gemeinschaftsrecht europarechtswidrig ist; er muß es aber europarechtskonform anwenden.
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Solange und soweit Richtlinien und Entscheidungen nicht unmittelbar anwendbar sind, können sie das nationale Verfassungsrecht nicht zurückdrängen: Ein Gesetz, das i n Vollzug des Europarechts ergangen ist, ist also bei Verstoß gegen die Verfassung selbst dann nichtig, wenn das Europarecht den Erlaß eines solchen Gesetzes verlangt. 8. Das Europarecht kann grundsätzlich innerstaatlich nur i n den vom nationalen Recht bereitgestellten Verfahren durchgeführt werden. Die vom EuGH entwickelten Regeln über die unmittelbare Anwendbarkeit drängen diese nationalen Verfahrensregeln aber notwendigerweise teilweise zurück und ersetzen sie durch neue Regeln. Die Frage bleibt nur, inwieweit das Europarecht dem EuGH gestattet, diese nationalen Verfahrensvorschriften zu verdrängen, und inwieweit das nationale Verfassungsrecht diese Verdrängung akzeptiert. Sicher ist zunächst, daß das europäische Recht den Kernbereich der nationalen Verfahrensvorschriften nicht berührt. Sieht das nationale Recht kein Verfahren vor, i n dem das europäische Recht von den Individuen durchgesetzt werden kann, werden die bestehenden Zuständigkeiten und Verfahren der Gerichte durch die Begründung subjektiver Rechte der Individuen durch das Europarecht nicht erweitert. Fraglich ist nur, ob solche Voraussetzungen der Anwendung des Europarechts auch eingreifen, wenn die unmittelbare Anwendbarkeit des Europarechts i n stärkerem Maße i n Frage gestellt wird. Läßt eine nationale Verfahrensordnung wie die deutsche etwa nur die Berufung auf subjektive Rechte des Klägers i n einem bestimmten, von der Definition des EuGH abweichenden Sinne zu, ist w o h l anzunehmen, daß die Feststellung des subjektiven Rechts durch das Europarecht die Voraussetzungen des subjektiven nationalen Rechts verdrängt. 5. Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts durch nationales Recht Gemeinschaftsrecht u n d nationales Recht, Das Zusammenwirken der europäischen Rechtsordnung m i t den nationalen Rechtsordnungen, V. Internationaler Kongreß f ü r Europarecht v o m 23. - 26. September 1970 i n Berlin, v e r anstaltet von der Fédération internationale pour le droit européen (Kölner Schriften zum Europarecht, Bd. 13) (1971); Mécanismes propres à assurer l'introduction d u droit communautaire dans les droits nationaux, Fédération internationale de droit européen, 3ème Colloque de droit européen organisé par l'Association des Juristes Européens, Paris les 25, 26, 27 novembre 1965; G. Rambow, L'exécution des directives de la CEE en République Fédérale d'Allemagne, CDE 1970, 379; Rambow , DVB1.1968, 445.
1. Das europäische Gemeinschaftsrecht und insbesondere das Sekundärrecht (Richtlinien und vereinzelt auch Rechtsverordnungen) sieht, wenn es nicht selbst unmittelbar anwendbar ist, häufig vor, daß sein
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Inhalt i n nationales Recht umzugießen ist. Dabei muß der Gesetzgeber häufig das Gemeinschaftsrecht i n bestimmten Punkten ergänzen. Das Gemeinschaftsrecht bestimmt dabei nicht, ob die Transformation durch ein Gesetz oder eine Verordnung erfolgen soll. Eine solche Festlegung durch das Gemeinschaftsrecht ist i n der Tat durch die Gründungsverträge ausgeschlossen und den nationalen Verfassungen überlassen. Allerdings kann das Gemeinschaftsrecht verlangen, daß es durch einen Rechtssatz ein- und durchzuführen ist, so daß Verwaltungsverordnungen ausgeschlossen sind. Dieser Wille kann sich auch aus der Auslegung ergeben; er dürfte, w e i l sich die Europäischen Gemeinschaften durch die Rechtsordnung verwirklichen, zu vermuten sein. 2. Die Zuständigkeit zur Ein- und Durchführung ergibt sich also aus der nationalen Verfassung. Es ist folglich dem GG zu entnehmen, ob der Bund oder die Länder zuständig sind und ob der Gesetzgeber handeln muß oder eine Verordnung ausreicht. Angesichts der Materien des Gemeinschaftsrechts w i r d meist der Bund zur Gesetzgebung zuständig sein. Auf dieser Ebene w i r d meist der Gesetzgeber handeln müssen, w e i l der Inhalt des zukünftigen Sekundärrechts nicht vorausgesehen und deshalb Gegenstand, Inhalt und Ziel einer Ermächtigung nicht hinreichend bestimmt werden können (Art. 80 GG). Daß auf der nationalen Ebene der Gesetzgeber das sekundäre Gemeinschaftsrecht ein- und durchführt, w i r d als ein Nachteil angesehen. Einmal kann es nicht die Funktion der Parlamente sein, Gesetze zu erlassen, deren Inhalt häufig bis ins Detail vom Gemeinschaftsrecht vorgeschrieben ist. Auf der anderen Seite ist das Gesetzgebungsverfahren zu langwierig, u m die erforderliche schnelle Rechtsänderung garantieren zu können. Deshalb wäre eine Änderung der Auslegung des A r t . 80 GG zu begrüßen. E i n Einbruch i n die Rechtsstaatlichkeit ist bei einer generellen Ermächtigung, das europäische Sekundärrecht durch Verordnungen ein- und durchzuführen, nicht zu befürchten, gerade weil der Inhalt der Verordnungen weitgehend vom Gemeinschaftsrecht vorgezeichnet ist. U m überflüssige Wiederholungen zu vermeiden, verweist der deutsche Gesetzgeber häufig auf das durchzuführende Gemeinschaftsrecht. Das BVerfG hat entschieden, daß diese A r t der Verweisung selbst dann zulässig ist, wenn der Text des Gemeinschaftsrechts nur i m Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht ist (BVerfGE 29,198). 3. Selbst wenn der Inhalt des deutschen Gesetzes oder der deutschen Verordnung ganz vom Europarecht bestimmt wird, bleiben diese Rechtssätze deutsches Recht. Sie behalten folglich auch i n der nationalen Normenhierarchie den Rang eines Gesetzes bzw. einer Verordnung. Das Einführungsgesetz oder die Einführungsverordnung muß sich bemühen, Widersprüche zum Gemeinschaftsrecht zu vermeiden. Der
Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Recht nationale Richter und Verwaltungsbeamte hat zwar das Gesetz oder die Verordnung i n Konformität m i t dem ein- und durchzuführenden Rechtssatz des Gemeinschaftsrechts auszulegen. Die i n dem Gesetz oder i n der Verordnung enthaltenen Begriffe sind also i m Sinne des Gemeinschaftsrechts zu verstehen. Entstehen Auslegungsschwierigkeiten, kann der nationale Richter zwar nicht die einschlägige Bestimmung des unmittelbar anzuwendenden Gesetzes (oder der Verordnung), wohl aber die entsprechende Bestimmung des Gemeinschaftsrechts, auf die h i n die nationale Bestimmung auszulegen ist, dem EuGH zur Auslegung vorlegen. Es ist aber trotzdem möglich, daß die Rspr. oder die Verwaltung zu einer m i t dem Gemeinschaftsrecht nicht übereinstimmenden Auslegung gelangt. Dann hat der nationale Gesetzgeber das nationale Recht so zu ändern, daß die Rspr. wieder mit dem Gemeinschaftsrecht übereinstimmt. Sind solche Irrtümer — etwa wegen der unzureichenden Fassung des Gemeinschaftsrechts — vorherzusehen, darf der deutsche Gesetzgeber das Gemeinschaftsrecht nicht einfach i m Wortlaut übernehmen. Dann muß er vielmehr den Gesetzestext dem Verständnis des Richters — u. U. durch Verwendung der deutschen Rechtsterminologie — so anpassen, daß Irrtümer so weit wie möglich ausgeschlossen sind. 4. K o m m t es, w e i l der Gesetzgeber oder w e i l der Richter die obigen Methoden nicht befolgt haben oder weil der Gesetzgeber bewußt vom Gemeinschaftsrecht abweichen wollte, zu einem durch Auslegung nicht mehr zu überbrückenden Widerspruch zwischen dem Gesetz und dem Gemeinschaftsrecht, bleibt das Gesetz auf der nationalen Ebene gültig. Da die Kollision zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht nicht durch ein Rangverhältnis gelöst wird, ist das europarechtswidrige nationale Recht nicht nichtig. Die Kollisionsregeln führen hier nicht zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts i m konkreten Einzelfall, w e i l das auszuführende Gemeinschaftsrecht vom Richter nicht unmittelbar angewendet werden kann. Anders ist die Lösung, wenn man der Theorie des Rangverhältnisses folgt. Dann hat der nationale Richter auch die Ubereinstimmung des nationalen Rechts m i t dem nicht unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrecht zu prüfen. Eine Monopolisierung der Prüfung durch das BVerfG t r i t t allerdings hier nicht ein. Anders ist die Rechtslage, wenn das Gemeinschaftsrecht durch eine Verordnung ausgeführt w i r d und das Ermächtigungsgesetz auf die Einführung des Gemeinschaftsrechts gerichtet ist. Dann ist bei einem Widerspruch zwischen Verordnung und Gemeinschaftsrecht die Verordnung nichtig, w e i l sie sich nicht i m Rahmen der Ermächtigung gehalten hat. 5. Das Einführungsgesetz und die Einführungsverordnung haben den Rang eines Gesetzes bzw. einer Verordnung. Das Gesetz ist folglich nichtig, wenn es gegen die Verfassung verstößt, die Verordnung, wenn sie zur Verfassung oder zu den Gesetzen i n Widerspruch steht. Diese
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Lösung erscheint unbefriedigend, soweit das Gesetz oder die Verordnung erlassen werden mußten, u m dem Gemeinschaftsrecht innerstaatlich Wirksamkeit zu verschaffen, und die Verordnung oder das Gesetz inhaltlich v o l l m i t dem Gemeinschaftsrecht übereinstimmt. Auch dieses Problem läßt sich durch die von der h. L. aufgestellte Kollisionsregel nicht befriedigend lösen. Man kann zwar annehmen, daß nach dieser K o l l i sionsregel i m konkreten Fall das Europarecht auch dann vorzuziehen ist, wenn es sich u m die Festlegung der Normen handelt, welche als Prüfungsmaßstab der Gültigkeit eines nationalen Gesetzes heranzuziehen sind. Geht das Europarecht auch dem Verfassungsrecht vor, würde der Maßstab Verfassungsrecht für die Prüfung der Gültigkeit der nationalen Gesetze i n dem Umfang vom Gemeinschaftsrecht verdrängt, wie der Inhalt des Gesetzes durch das Gemeinschaftsrecht vorgezeichnet ist. Nach den obigen Ausführungen würde allerdings das Gemeinschaftsrecht i n dem Umfang i n die nationale Rechtsordnung nicht hereinströmen, wie es gegen Grundrechte oder den K e r n der Grundrechte (Art. 19 II, 79 I I I GG) verstoße: Insoweit wären die nationalen Gesetze und damit i m plizit auch das Gemeinschaftsrecht an den Grundrechten zu messen. Bei den Verordnungen gälte mutatis mutandis entsprechendes: der Prüfungsmaßstab Verfassungsrecht und Gesetz würde i n dem Umfang, wie der Inhalt der Verordnung durch das Gemeinschaftsrecht bestimmt ist, durch das Gemeinschaftsrecht verdrängt; die Verordnung wäre selbst bei Verstoß gegen das Verfassungsrecht und gegen Gesetze gültig, wenn es nur m i t dem Gemeinschaftsrecht übereinstimmt. Die h. L. kann aber auch hier deswegen nicht zu solchen Lösungen gelangen, w e i l die Kollisionsnorm nur zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts führt, wenn dieses unmittelbar anwendbar ist, und die durch Gesetz oder Verordnung einzuführende Rechtsmasse ex definitione nicht unmittelbar anwendbar ist. Auch hier sollte man auf das Erfordernis der unmittelbaren A n wendbarkeit verzichten. Dann müßten die Gerichte die Frage, ob ein Gesetz gegen die Verfassung verstößt und inwieweit die Verfassung hinter das Gemeinschaftsrecht zurücktritt, dem BVerfG vorlegen. 6. E i n weiteres Problem w i r f t die Frage nach dem Fortbestand des nationalen Ein- und Durchführungsrechts auf, wenn sich durch eine Entscheidung des EuGH herausstellt, daß das ein- oder durchgeführte Sekundärrecht ungültig ist. Hier sind zwei Fälle zu unterscheiden: Widerspricht auch das nationale Ausführungsrecht dem Gemeinschaftsrecht, geht i m Einzelfall das Gemeinschaftsrecht vor, soweit es unmittelbar anwendbar ist. Das löst nicht alle Kollisionsfälle. Deshalb ist anzunehmen, daß der Gesetzgeber sich europarechtskonform verhalten und das Gesetz oder die Verordnung nur für den Fall der Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts erlassen wollte. M i t der Feststellung der Ungültigkeit des eingeführten Gemeinschaftsrechts fällt also auch die europa-
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rechtswidrige Ein- und Durchführungsgesetzgebung fort. Darüber hinaus ist i n der Regel anzunehmen, daß der Gesetzgeber Europarecht nur ein- und durchführen wollte, soweit es Bestand hat. Die Ein- u n d Durchführungsgesetzgebung t r i t t deshalb auch dann außer Kraft, wenn das Europarecht ungültig ist, aber die Ein- und Durchführungsgesetze selbst nicht europarechtswidrig sind. Dasselbe gilt, wenn das ein- u n d durchgeführte Recht vom europäischen Gesetzgeber aufgehoben wird. Das deutsche Ein- u n d Durchführungsgesetz t r i t t dann mangels Zweckerreichung automatisch außer Kraft. Von diesen Regeln gibt es aber w o h l Ausnahmen. Eine solche Ausnahme ist etwa dann anzunehmen, wenn die betreffende Materie unbedingt gesetzlich geregelt sein muß, eine neue Regelung durch den nationalen Gesetzgeber aber noch fehlt. W i r d ζ. B. auf der europäischen Ebene eine alte Marktordnung durch eine neue ersetzt und ist auch die neue Ordnung innerhalb einer bestimmten Frist vom nationalen Gesetzgeber innerstaatlich einzuführen, gilt innerstaatlich das alte deutsche Marktordnungsgesetz trotz seiner A u f hebung durch die europäische Regelung bis zum Erlaß des neuen deutschen Gesetzes selbst dann weiter, wenn der deutsche Gesetzgeber die i h m von den Europäischen Gemeinschaften zur Einführung gesetzte Frist überschreitet. 6. Das Zusammenspiel zwischen dem Europäischen Gemeinschaftsrecht und dem nationalen Recht 1. Auch die unmittelbar anwendbaren Rechtssätze des Gemeinschaftsrechts können i m nationalen Rechtsraum ihre volle W i r k u n g nur entfalten, w e i l das nationale Recht die Lücken des Gemeinschaftsrechts ergänzt, eine Zuständigkeits- und Verfahrensordnung bereitstellt. Probleme w i r f t auch hier die Lückenfüllung des Gemeinschaftsrechts durch nationales Recht auf. Das Gemeinschaftsrecht muß zunächst i n die nationalen Normen m i t blankettartigen Tatbestandsmerkmalen wie „gesetzliches Verbot", „Rechtswidrigkeit", „Schutzgesetz", „subjektives Recht" usw. einbezogen werden (vgl. etwa v. Bonin, Ist A r t . 85 EWGV ein Schutzgesetz i m Sinne des § 823 I I BGB? [1970]). A u f diese Weise kommt die Rechtsfolge der Nichtigkeit von Rechtsgeschäften oder der Aufhebbarkeit von Verwaltungsakten, der Entstehung von Schadensoder Unterlassungsansprüchen zum Zuge. Für die Rückwicklung aufgelöster oder nicht zustande gekommener Rechtsgeschäfte bieten sich die Grundsätze der ungerechtfertigten Bereicherung an (Zuleeg, a.a.O., 189 f.). Dabei ist zu beachten, daß das Verfahren bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts durch deutsche Behörden und Gerichte durch die deutsche und nicht durch die europäische Rechtsordnung bestimmt wird. Es sind also etwa die deutschen Regeln über die Rücknahme und den
Völkerrecht und Landesrecht Widerruf von Verwaltungsakten und nicht die entsprechenden europäischen Regeln anzuwenden. Ebenfalls richtet sich der Schadensersatzanspruch nach deutschem Recht. Der B G H hat i m Saarbergwerke-Fall (BGHZ 30, 74) privatrechtliche Sanktionen des Diskriminierungsverbots i m EGKS-Vertrag abgelehnt. Zur Durchsetzung des Diskriminierungsverbots gebe der Vertrag der Hohen Behörde öffentlich-rechtliche Zwangsmittel i n die Hand. Die privatrechtliche Auswirkung verbiete sich auch wegen der Neuheit der Rechtssätze, die äußerste Behutsamkeit i n der Auslegung überstaatlicher Normen hinsichtlich ihres Einflusses auf bürgerlich-rechtliche Beziehungen der Marktbeteiligten verlange. Überdies entstünden, w e i l die Sanktion dem nationalen Recht entnommen werde, i n den verschiedenen Mitgliedstaaten ungleiche Rechtsansprüche, was dem Gedanken der Gleichbehandlung zuwiderlaufe. Schließlich sei auch die einschlägige Bestimmung des EGKS-Vertrages so unbestimmt, daß es zu großer Rechtsunsicherheit kommen müsse (zu diesen Einwänden vgl. Zuleeg, a.a.O., 192 ff.). 2. Die deutschen Gerichte haben wegen der engen Interdependenz des Gemeinschaftsrechts m i t dem nationalen Recht anerkannt, daß die europäischen Organe „inländische" Organe i m Sinne verschiedener Rechtsvorschriften des deutschen Rechts sind: a) Das BVerfG (E 29, 198, 213) hat i n zwei Beschlüssen Urteile deutscher Gerichte darauf überprüft, ob die Gerichte ihrer Verpflichtung aus A r t . 177 EWGV nachgekommen sind und Auslegungs- und Gültigkeitsfragen des Gemeinschaftsrechts dem EuGH zur Vorabentscheidung unterbreitet hatten. Auch die Verletzung der Pflicht zur Vorlage an ein anderes Gericht könne den Verfassungsgrundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 1011 S. 2 GG) verletzen. Allerdings bezieht sich diese Bestimmung nur auf den inländischen Richter. Ob der EuGH i n diesem Sinne ein inländischer Richter ist, hat das BVerfG offen gelassen. b) Der B G H (St 24, 54) hat dagegen den EuGH als ein inländisches Gericht angesehen, dessen Entscheidung ein deutsches Strafurteil nach dem Grundsatz ne bis in idem (Art. 103 I I I GG) ausschließt: Die Organe der Europäischen Gemeinschaften übten durch den EWG-Vertrag geschaffene „supra-nationale" öffentliche Gewalt aus. Ihnen stünden Hoheitsrechte zu, deren sich die Mitgliedstaaten zugunsten der von ihnen gegründeten Gemeinschaft entäußert hätten (Art. 24 I GG). Zwar werde allgemein angenommen, daß dadurch eine neue öffentliche Gew a l t entstanden sei (BVerfGE 22, 293, 196). Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten seien jedoch i n der Ausübung ihrer Hoheitsbefugnisse eng miteinander verbunden. Die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts seien Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung der Bundesrepu-
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blik (BVerfGE 29, 198). Verfahrensrechtlich sei die Anwendung des Gemeinschaftsrechts und des nationalen deutschen Rechts nicht grundsätzlich streng voneinander geschieden, sondern werden teilweise als Einheit betrachtet. Gerade auf dem Gebiet des Kartellrechts sehe die EWG-VC Nr. 17 eine enge Zusammenarbeit zwischen den Organen der Gemeinschaft und den Behörden der Mitgliedstaaten vor. Die Entscheidungen des EuGH könnten i n den Mitgliedstaaten vollstreckt werden. Die vielfältige Verschränkung von nationaler Gerichtsbarkeit und europäischer Gerichtsbarkeit verböten es, den EuGH wie die Gerichte der Besatzungsmacht (BGHSt 6, 176) als ausländisches Gericht anzusehen. M i t der supranationalen Gerichtsbarkeit, die der EuGH ausübe, sei eine i m Prozeß fortschreitender Integration befindliche zwischenstaatliche Gerichtsbarkeit geschaffen worden, die sich der Einordnung nach der geläufigen Unterscheidung zwischen ausländischer und inländischer Gerichtsbarkeit entziehe. I n dieser Entscheidung w i r d also i m Rahmen von Bestimmungen des deutschen Rechts der EuGH den deutschen Gerichten, das Europarecht dem deutschen Recht gleichgestellt. Wenn i m Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR die faktische Spaltung zu einer Beschränkung des Inlandscharakters ostdeutscher Behörden, Gerichte, Individuen und Gebiete führt, kommen diese Entscheidungen umgekehrt auf Grund der neuen rechtlichen und faktischen Einheit zwischen der europäischen u n d der deutschen Rechtsordnung zu einer automatischen Ausdehnung der einschlägigen deutschen Rechtssätze und damit ohne Rückgriff auf das Europarecht zu einer rechtlichen Angleichung, die eines Tages dahin führen kann, daß i m Rahmen der Materien des Europarechts auch das Gebiet, die Organe und die Angehörigen der Mitgliedstaaten Inlandscharakter erhalten. 3. Das Europarecht führt punktuell zu einer besseren Rechtsstellung der Ausländer gegenüber Deutschen. Es liegt die Frage nahe, ob dann A r t . 3 GG nicht die Ausdehnung dieser Rechtsposition auf die Deutschen verlangt. a) So befreit etwa die i n Durchführung der europäischen Richtlinie vom 7. J u l i 1964 (ABl. EWG 1964, 186/3) ergangene deutsche Verordnung über die für Staatsangehörige der übrigen Mitgliedstaaten der EWG geltenden Voraussetzungen der Eintragung i n die Handwerksrolle vom 4. August 1966 (BGBl. I, 469) die Angehörigen anderer M i t gliedstaaten von der nach der Handwerksordnung vom 28. Dezember 1965 (BGBl. 1966 I, 1) allgemein geforderten Meisterprüfung. Das BVerwG bezweifelt, ob eine i n Durchführung von EWG-Verordnungen erlassene deutsche Verordnung überhaupt am GG gemessen werden könne, n i m m t hierzu aber nicht Stellung, w e i l nach seiner Ansicht diese Unterscheidung nicht w i l l k ü r l i c h ist, der deutsche Normgeber also das
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für deutsche Staatsangehörige geltende Handwerksrecht nicht deshalb zu ändern brauchte, w e i l er zur Ausführung der EWG-Richtlinien die Rechtsstellung ausländischer Handwerker verbesserte. So wenig der Gleichheitssatz allein dadurch verletzt werde, daß Ausländer nicht dieselbe Rechtsstellung wie Inländer genießen, sei er dadurch verletzt, daß der Gesetzgeber das für Inländer geltende Recht nicht dem für Ausländer geltenden Recht angepaßt habe. Einerseits hätten nunmehr auch die deutschen Handwerker i m Ausland Vorteile, zum anderen sehe auch die Handwerksordnung gewisse Ausnahmen von der Meisterprüfung vor: Angesichts des Leistungsstands des deutschen Handwerks und der i n diesem Wirtschaftszweig notwendigen engen und persönlichen Bindungen an den Kundenkreis komme es überdies nur i n beschränktem Umfang zur Niederlassung ausländischer Handwerker. Diese befänden sich schließlich i n einer Sonderlage, w e i l ihnen i n ihrem Heimatstaat eine zur Meisterprüfung führende Ausbildung nicht zur Verfügung stehe (ZaöRV 32 [1972] 102 f.). b) Das deutsche Ausländergesetz vom 28. A p r i l 1965 (BGBl. I, 353) gewährt den ausländischen Familienangehörigen eines Deutschen kein Aufenthaltsrecht. Auch A r t . 6 GG und A r t . 8 EMRK führen nur i n Ausnahmefällen zu einem solchen Recht. Dagegen w i r d nach § 7 Abs. 1 i n Verbindung m i t § 1 Abs. 2 des auf den einschlägigen europäischen Verordnungen u n d Richtlinien beruhenden Gesetzes über Einreise u n d Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EWG vom 22. J u l i 1969 (BGBl. I, 927) Familienangehörigen von Ausländern, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates sind und i n der Bundesrepublik eine Beschäftigung als Arbeiter oder Angestellte ausüben, auf Antrag eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, wenn die Person, deren Familienangehörige sie sind, eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und i h r eine angemessene Wohnung zur Verfügung steht. Das V G München (12. 8. 1970, DVB1. 1971, 364) sieht i n dieser Beschränkung auf Angehörige aus anderen Mitgliedstaaten einen Verstoß gegen A r t . 3 GG. Wenn nämlich schon die Familienangehörigen der EWG-Ausländer ohne Rücksicht auf deren Staatsangehörigkeit zum Aufenthalt berechtigt seien, so müsse dies u m so mehr gelten, wenn es u m den Aufenthalt ausländischer Familienangehöriger von Deutschen gehe. Denn die aufenthaltsrechtliche Stellung der Inländer sei trotz des EWG-Vertrags stärker als die Stellung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EWG. Auf Grund verfassungskonformer Auslegung u n d durch den Schluß a fortiori erstreckt das V G deshalb das Gesetz auf die Angehörigen von Deutschen, obwohl dieser Auslegung der Wortlaut strikt entgegensteht. Das OVG Berlin (12. 5. 1971, DVB1. 1972, 280) hat diese Rechtsansicht zurückgewiesen. Eine analoge Anwendung des Gesetzes von 1969 sei ausgeschlossen, w e i l der Gesetzgeber bei Erlaß des Gesetzes die Rechtslage
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der Familienangehörigen Deutscher gekannt und es trotzdem bei der Regelung des Ausländergesetzes belassen habe. Überdies liege ein Verstoß gegen A r t . 3 GG nicht vor. Die an sich unlogisch erscheinende Differenzierung zwischen Familienangehörigen von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten u n d von Deutschen beruhe einerseits auf der Tatsache, daß die Gesetzgebungsbefugnisse auf die europäischen und die nationalen Organe verteilt seien, beide aber rechtmäßig eine unterschiedliche Politik der Niederlassung verfolgten, andererseits auf der Tatsache, daß der Souveränitätsverzicht gegenüber den EWG-Ausländern dadurch abgegolten werde, daß deutsche Staatsangehörige und deren ausländische Ehegatten i n den anderen EWG-Staaten die gleiche Freizügigkeit genössen, diese Gegenseitigkeit i m Verhältnis zu anderen fremden Staaten aber fehle.
V. Völkerrecht im Bundesstaat A. Bleckmann, Völkerrecht i m Bundesstaat? Gedanken zum zweiten CoburgU r t e i l des Bundesverfassungsgerichts v o m 30. Januar 1973, SchwJIR 1973, 1; W. B. Cowles, International L a w as A p p l i e d between Subdivisions of Federations, RdC 74 (1949 I) 659 ff.; R. Granville Caldwell, The Settlement of I n t e r State Disputes, A J I L 14 (1920) 62 ff.; M . Gut, Staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen den Kantonen u n d ihre Beilegung (1942); M . Hub er, The Intercantonal L a w of Switzerland, A J I L 3 (1909) 83 ; H. Krüger, Völkerrecht i m Bundesstaat, Festg. für E. Kaufmann, Recht u n d Gerechtigkeit (1950) 246; W. Mallmann, Völkerrecht u n d Bundesstaat, W V R Bd. 3 (1962) 640 ff.; Monz, Das Verhältnis der Bundesländer untereinander (1964); D. Schindler, A J I L 15 (1921) 153; H. Schneider / W. Schaumann, Verträge zwischen Gliedstaaten i m Bundesstaat, W d S t R L 1961; J. B. Scott, Judicial Settlement of Controversies between States of the American Union, A n Analysis of Cases decided i n the Supreme Court of the U n i t e d States (1919); R. D. Scott, Kansas v. Colorado Revisited, A J I L 52 (1958) 432; H. Triepel, Völkerrecht u n d Landesrecht (1899) 169 ff.; Wolff, Die Rechtsbeziehungen zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland (1968).
1. Die Rechtsbeziehungen zwischen Bund und Ländern u n d die Rechtsbeziehungen zwischen den Ländern sind durch ausdrückliche Bestimmungen des GG nur punktuell geregelt. Es fragt sich deshalb, ob diese Beziehungen dem Völkerrecht unterliegen. Dabei ist man sich i n allen Bundesstaaten weitgehend darüber einig, daß das Völkerrecht diese Beziehungen nicht unmittelbar regelt. Denn die Länder sind keine souveränen Staaten i m Sinne des Völkerrechts, sie stehen überdies i n einem vom Völkerrecht grundsätzlich abgeschlossenen umfassenderen nationalen Rechtsraum, i n einer vom Völkerrecht weithin abweichenden, w e i l effektiveren u n d entwickelteren Rechtsordnung. Die Länder u n d der Bund haben wegen der sie umschließenden staatlichen Einheit auch i n stärkerem Umfang auf die Interessen des Bundes und der anderen Länder 22 Bleckmann
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Rücksicht zu nehmen als die i n der Völkerrechtsgemeinschaft nur locker verbundenen Staaten. Aus all diesen Gründen kommt nur eine analoge Anwendung des Völkerrechts i n Frage. Eine solche analoge Anwendung ist auf der anderen Seite auch möglich, weil zwischen den Ländern häufig dieselben Rechtsprobleme auftreten wie zwischen den Staaten der Völkerrechtsgemeinschaft und die Lösungen des Völkerrechts als eines Rechts zwischen ebenfalls gleichgeordneten Staaten zumindest i n dem Sinne auf die Rechtsbeziehungen zwischen den Ländern passen, daß sie einen Mindeststandard der gegenseitigen Rücksichtnahme festlegen. 2. Diese Ansicht hat insbesondere der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich i n seiner Entscheidung vom 29. Juni 1925 (Lammers/Simons, Bd. 1, 198) ausgedrückt. Nach dieser Entscheidung w i r d das Verhältnis zwischen den Ländern zwar m erster Linie durch die Reichsverfassung bestimmt, w e i l die gegenseitige Verbindung der Länder i m Deutschen Reich i m Vordergrund steht. Wenn aber die Reichsverfassung keine Anhaltspunkte gibt, sei der Schluß nicht von der Hand zu weisen, daß diejenige Rücksichtnahme auf die Interessen des Gegenkontrahenten eines Staatsvertrages, die i m Völkerrecht jedem Staat zugemutet werde, auch i m Verbände des Deutschen Reichs nicht als unbillig und einer rechtlichen Grundlage entbehrend angesehen werden könne. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, daß einerseits das Völkerrecht nur eine Mindestgrenze für die Rücksichtnahme auf die gegenseitigen Interessen darstellt, die Rechtsbeziehungen zwischen den Ländern darüber hinaus i n einer entwickelten Rechtsordnung stehen, die andere als die vom Völkerrecht fixierten Lösungen erforderlich machen können. Das BVerfG hat i n einem Urteil vom 23. Oktober 1951 (E 1, 14, 51) entschieden, daß die Rechtsbeziehungen zwischen Bund und Ländern ausschließlich durch das Verfassungsrecht geregelt werden. I n seinem Urteil vom 30. Januar 1973 (BVerfGE 34, 216) hat es diese Feststellung dahin ergänzt, daß abweichend vom obigen Urteil des Staatsgerichtshofs heute idie Beziehungen zwischen den Ländern auch nicht mehr subsidiär u n d analog durch das Völkerrecht, sondern nur noch durch das Verfassungsrecht geregelt werden. Soweit das GG keine ausdrücklichen Bestimmungen enthalte, sei auf den Grundsatz der Bundestreue zurückzugreifen. Dieser Grundsatz verpflichte i m K e r n jedes Land, bei der Inanspruchnahme seiner Rechte die gebotene Rücksicht auf die Interessen der anderen Länder und des Bundes zu nehmen u n d nicht auf Durchsetzung rechtlich eingeräumter Positionen zu dringen, die elementäre Interessen eines anderen Landes schwerwiegend beeinträchtigen. I n diesem verfassungsrechtlichen Grundsatz wurzele systematisch auch der ungeschriebene Satz von der clausula rebus sie stantibus, der auf die staatsvertraglichen Beziehungen zwischen den Gliedern der Bundesrepublik einwirke.
Völkerrecht im Bundesstaat
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3. Ob und i n welchem Ausmaß das Völkerrecht i n den verschiedenen Bundesstaaten analog herangezogen werden kann, ist, wie das BVerfG feststellt, i n weitem Umfang historisch bestimmt. Schon Triepel hat erkannt, daß i n Bundesstaaten, die aus dem Zusammenschluß selbständiger Staaten entstanden sind, zwischen denen das Völkerrecht früher i n vollem Umfang galt, die Weitergeltung des Völkerrechts leichter angenommen w i r d als i n einem Bundesstaat, der aus dem Zerfall eines Einheitsstaates entstand, i n dem früher ausschließlich das nationale Recht galt: der frühere Status hat also Auswirkungen bis i n den neuen Status hinein. Darüber hinaus hängt die Geltung des Völkerrechts aber auch davon ab, ob der Bundesstaat wie i n der Bundesrepublik mehr zum Einheitsstaat tendiert oder ob wie i n der Schweiz und i n den Vereinigten Staaten die föderalistischen Tendenzen noch sehr stark sind. I m ersten Fall w i r d überwiegend das Verfassungsrecht, i m zweiten Fall überwiegend das Völkerrecht zur Anwendung gelangen. Die Frage, ob auf eine bestimmte Materie Völkerrecht anzuwenden ist oder nicht, hängt dann jeweils vom Vorliegen bestimmter Strukturen ab: a) Zunächst gibt es Materien, i n denen das Völkerrecht mangels eines entsprechenden Gegenstands nie oder nicht mehr zur Anwendung gelangt. Da das gesamte Staatsgebiet einschließlich der Gewässer der Gebietshoheit des Staates unterliegt, kann das Problem der Hohen See i m Bundesstaat nicht auftreten. Da die Länder i n den einzelnen Bundesstaaten i m Gegensatz zur Lage i m Kaiserreich nicht mehr Botschafter oder Gesandte unter sich oder mit fremden Staaten austauschen, kann sich das Problem der Immunität der Staatenvertreter nicht mehr stellen. Nach Völkerrecht kann der Einzelne auf der Völkerrechtsebene seine Interessen nicht selbst wahrnehmen; seine Interessen werden i m Rahmen des diplomatischen Schutzes von seinem Heimatstaat vertreten. I n den Bundesstaaten besteht dagegen eine entwickelte Rechtsordnung, die gerade dem Einzelnen Rechte und Pflichten einräumt, die er selbst wahrzunehmen hat. Sein „Heimatland" kann seine Interessen also nicht i m Gerichtsverfahren gegenüber einem anderen Land vertreten, das diplomatische Schutzrecht ist auf den Fall beschränkt, daß ein Land die Gesamtheit der Bevölkerung oder doch jedenfalls eine große Zahl von Bewohnern eines anderen Landes verletzt. Aber auch dann kann ein Land nicht vom anderen Land nach den Regeln des Völkerrechts Schadensersatz verlangen, w e i l diese Schadensersatzregelung i n Widerspruch treten würde zu den nationalen Regeln über die Schadensersatzansprüche der betroffenen Einzelpersonen/ Die Länder haben unter sich und gegenüber dem Bund auch nicht denselben Anspruch auf staatliche Immunität wie die Staaten i n der Völkerrechtsgemeinschaft, w e i l alle Glieder des Bundesstaats einem effektiven obligatorischen Gerichtssystem unterworfen sind. 22·
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Völkerrecht und Landesrecht
A n die Stelle der umfassenden, aus der Souveränität fließenden Kompetenzen ist ferner eine beschränkte Zuständigkeitsordnimg getreten, welche Souveränitätsvorstellungen unanwendbar macht. Soweit ein Bundesgesetz Organen der Länder Zuständigkeiten zuweist, werden diese i n der Bundesrepublik überdies — i m Gegensatz etwa zur Schweiz — nicht mehr als Rechte der Länder selbst angesehen, welche diese gegenüber einem anderen Land i m Wege des Zwischenländerstreits verteidigen kann. b) Die Anwendung des Völkerrechts hängt ferner davon ab, ob es i n dem jeweiligen Bundesstaat bestimmte internationale Rechtsinstitutionen noch gibt. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Auslieferung, die angesichts der unterschiedlichen Verfahrensordnungen und Strafgesetze für den Ausgelieferten ein rechtsstaatlich gesichertes Verfahren garantieren soll. Soweit wie heute noch i n den Vereinigten Staaten u n d lange Zeit i n der Schweiz einheitliche materielle und prozessuale Strafrechtsbestimmungen fehlen, wurde am Rechtsinstitut der Auslieferung auch i m Verhältnis zwischen den Ländern festgehalten, auf das — wegen der stärkeren Homogenität der Rechtsstaatlichkeit allerdings i n beschränktem Umfang — die internationalen Regeln des Auslieferungsrechts Anwendung finden. I n der Bundesrepublik m i t ihrem einheitlichen Straf- u n d Strafprozeßrecht dagegen wurde die förmliche Auslieferung durch die formlose Zulieferung ersetzt. Diese Zulieferung mußte allerdings i m Verhältnis zur DDR, i n dem die Homogenität der Rechtsauffassungen fehlt, wiederum durch rechtliche Sicherungen ergänzt und so der Auslieferung angenähert werden. 4. Heute fragt sich i n der Bundesrepublik, ob der vom BVerfG für die Zwischenländerbeziehungen angezogene Grundsatz der Bundestreue für die rechtliche Beurteilung dieser Beziehungen ausreicht. a) Vorweg ist festzustellen, daß die Auffassung des BVerfG, der Grundsatz der Bundestreue dürfe n u r auf schon bestehende Rechtsbeziehungen, nicht aber angewendet werden, u m solche Rechtsverhältnisse erst zu begründen (BVerfGE 21, 326), zu eng ist, w e i l sie die notwendige Entwicklung von Rechtsinstituten wie etwa die Geschäftsführung ohne Auftrag und die ungerechtfertigte Bereicherung, die insbesondere i n der Schweizer Rspr. zum Zwischenländerverhältnis herangezogen wurden, verhindert. b) I m übrigen ist es fraglich, ob dieser Grundsatz den Rückgriff auf das Völkerrecht ganz überflüssig machen wird. So ist ζ. B. nicht zu ersehen, wie aus diesem Grundsatz der gegenseitigen Rücksichtnahme genaue Regeln etwa über die Grenzziehung zwischen Ländern (Talweg i n Grenzflüssen!) entwickelt werden können. Es spricht deshalb vieles dafür, insoweit die analoge Anwendung des Völkerrechts noch zuzulassen. Das scheint übrigens die Auffassung des BVerfG selbst zu sein, wenn es
Völkerrecht im Bundesstaat
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i m Grundlagenvertrags-Urteil das 2. Coburg-Urteil dahin auslegt, i m Verhältnis zwischen den Ländern sei (auch) das Völkerrecht anzuwenden. c) I n anderen Materien erscheint nicht der Rückgriff auf das Völkerrecht, sondern eine analoge Anwendung des nationalen Privatrechts geboten zu sein. So ist etwa entgegen der Schweizer und amerikanischen Rspr. nicht einzusehen, warum auf die Vertragsbeziehungen zwischen den Ländern und zwischen den Ländern und dem Bund das Völkerrecht, d. h. vor allem die aus einem Vergleich der Rechtsordnungen aller K u l turstaaten entwickelten allgemeinen Rechtsprinzipien anzuwenden sind, obwohl das Vertragsverhältnis i n einer vom Völkerrecht abgeschlossenen, stärker als das Völkerrecht entwickelten Rechtsordnung steht. Es ist nicht zu ersehen, warum für diese Rechtsverhältnisse fremde Rechtsauffassungen zu berücksichtigen sind. Außerdem müssen die einer stärker als das Völkerrecht entwickelten Rechtsordnung angemessenen Rechtssätze des nationalen Rechts Anwendung finden.
KAPITEL VII
Das Fremdenrecht Unter Fremdenrecht versteht man die Gesamtheit der Regeln, welche sich auf die Rechtsstellung von Ausländern (fremde Staatsangehörige und Staatenlose) beziehen. Solche Regeln finden sich zunächst i m Völkerrecht. Da die Individuen nicht Völkerrechtssubjekte sind, werden sie aus den Sätzen des Völkerrechts zwar nicht unmittelbar berechtigt und verpflichtet; die Völkerrechtssätze verpflichten vielmehr die Staaten untereinander, fremde Staatsangehörige i n bestimmter Weise zu behandeln. A u f der völkerrechtlichen Ebene machen die Staaten diese Rechte i m Wege des diplomatischen Schutzes geltend. Diese Völkerrechtssätze können i m Völkergewohnheitsrecht, i n allgemeinen Rechtsprinzipien des Völkerrechts und i n Völkerrechtsverträgen enthalten sein. Durch die Transformation dieser Regeln i n innerstaatliches Recht erwirbt der Fremde, soweit sie unmittelbar anwendbar sind, innerstaatlich Rechte gegen den Aufenthaltsstaat, die er vor den Verwaltungsbehörden und Gerichten des fremden Staates geltend machen kann. Neben diese i n innerstaatliches Recht transformierten Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts treten die Regeln des nationalen Fremdenrechts. Das nationale Fremdenrecht darf nicht hinter dem völkerrechtlichen Fremdenrecht zurückbleiben. Das deutsche Recht geht über die Mindestanforderungen des Völkerrechts aber zum Teil weit hinaus. Ein Konflikt zwischen beiden Rechtsmassen ist innerstaatlich über die Regeln hinsichtlich des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht zu lösen. Selbst wenn die völkerrechtlichen Normen nach diesen Regeln innerstaatlich hinter dem nationalen Fremdenrecht zurückstehen müssen, bleibt der Staat völkerrechtlich verpflichtet, das nationale Fremdenrecht aufzuheben, u m dem völkerrechtlichen Fremdenrecht Geltung zu verschaffen. I. Das völkerrechtliche Fremdenrecht 1. Völkergewohnheitsrecht Borchard, The Diplomatie Protection of Aliens Abroad (1916); Ward Cutler, The Treatment of Foreigners, A J I L 27 (1933) 225; Κ . Doehring, Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts u n d das deutsche Verfassungsrecht (Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht u n d Völkerrecht, 39)
Völkergewohnheitsrecht
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(1963); Κ. Doehring, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer i n der B u n desrepublik Deutschland, W d S t R L 32 (1974); Franz, Das Völkerrecht als Quelle des innerdeutschen Aufenthalts- u n d Niederlassungsrechts, DVB1. 1965, 457; Roth, The M i n i m u m Standard of International L a w A p p l i e d to Aliens (1949); Schindler, Gleichberechtigung v o n I n d i v i d u e n als Problem des V ö l kerrechts (1957); Steinbach, Untersuchungen zum internationalen Fremdenrecht (1931); Thomas, L a condition des étrangers et le droit international public, R G D I P 4 (1897) 620; Verdross, Les règles internationales concernant le traitement des étrangers, RdC 37 (1931 I I I ) 327.
1. Nach Völkergewohnheitsrecht darf sich zwar kein Staat w i l l k ü r l i c h vom völkerrechtlichen Verkehr abschließen; er darf aber aus vernünftigen Gründen die Einreise bestimmter Ausländer oder Ausländergruppen ausschließen. Auch eine Verpflichtung, die Niederlassung von Ausländern, also den ständigen Aufenthalt, insbesondere auch die Erwerbstätigkeit der Ausländer auf seinem Boden zu dulden, besteht nicht. Der Staat kann den Ausländer jederzeit aus vernünftigen Gründen wieder ausweisen. Allerdings sind an diese Gründe höhere Anforderungen als an die Ablehnung der Zulassung zu stellen. Der Versuch, die Ausweisung auf bestimmte Gründe zu beschränken, dürfte angesichts der Praxis der Staaten nicht zu halten sein. 2. Sobald der Staat aber Ausländern die Niederlassung auf seinem Gebiet gestattet hat, ist er an bestimmte völkerrechtliche Regeln gebunden, die als „Mindeststandard" bezeichnet werden. Dabei ist der Staat weder verpflichtet noch — wenn die Rechtsstellung des Inländers unter dem Mindeststandard liegt — berechtigt (umstr.), dem Ausländer die Rechtsstellung des Inländers zu verleihen (BVerwG 10. 4. 1956, NJW 1956, 1046; BayVGH 30. 6. 1970, BayVBl. 1970, 368). Außer i m Enteignungsrecht ist er auch nicht verpflichtet, alle Ausländer unter sich gleich zu behandeln. A l l e i m allgemeinen Völkerrecht begründeten Rechte der Ausländer beruhen auf der Idee, daß die Staaten einander verpflichtet sind, i n der Person der Ausländer die Menschenwürde zu achten (Verdross, Völkerrecht [1964] 363). Sie sind daher gehalten, i h m jene Rechte einzuräumen, die für ein menschenwürdiges Leben unerläßlich sind. Das zeigt, daß das völkerrechtliche Fremdenrecht sich zumindest teilweise m i t den völkerrechtlichen Menschenrechten deckt. Dabei kann hier dahingestellt bleiben, ob und i n welchem Umfang der Staat aus menschenrechtlichen Erwägungen verpflichtet ist, die gegenüber Fremden einzuhaltenden Rechtssätze auch auf die eigenen Staatsangehörigen anzuwenden. Hierbei handelt es sich u m die Frage, inwieweit das Völkerrecht i n den domaine réservé der Staaten, i n das Verhältnis zu ihren eigenen Staatsangehörigen, heute schon eingreift. Die konkreten Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts sind auf dieses Verhältnis w o h l nicht anzuwenden, da sie
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Das Fremdenrecht
sich aus einer Praxis ableiten, die gegenüber Ausländern und nicht gegenüber Inländern gesetzt wurde. Nach Verdross (Völkerrecht, 364) läßt sich der oben zitierte allgemeine Satz des Fremdenrechts i n fünf Einzelrechtssätze konkretisieren: (1) Jeder Ausländer ist als Rechtssubjekt anzuerkennen. (2) Die von den Ausländern erworbenen Privatrechte sind grundsätzlich zu achten. (3) Den Ausländern sind wesentliche Freiheitsrechte einzuräumen. (4) Den Ausländern ist der Rechtsweg offenzuhalten. (5) Die Ausländer sind gegen verbrecherische Angriffe auf Leben, Freiheit, Eigentum und Ehre zu schützen. a) Der Staat muß den Ausländer als Träger von Rechten und Pflichten ansehen. Dabei ist er allerdings nur verpflichtet, dem Ausländer die wesentlichsten Rechte zu gewähren: Eigentum an Bedürfnisgegenständen des täglichen Lebens zu erwerben, die Vertragsfähigkeit hinsichtlich dieser Gegenstände, die Ehefähigkeit, die Fähigkeit, Erblasser und Erbe zu sein usw. Der Staat kann aber zum Beispiel den Grundstückserwerb, das Recht zur Bildung einer Aktiengesellschaft u. ä. ausschließen. b) Das Gebot der Achtung erworbener Privatrechte zeigt sich vor allem i n dem Verbot, Ausländer w i l l k ü r l i c h zu enteignen. Auch heute noch dürfte eine Enteignung von Ausländern nur zulässig sein, wenn sie i m öffentlichen Interesse liegt, eine angemessene Entschädigung gezahlt und zwischen den Ausländern nicht diskriminiert wird. Nicht verboten sind dagegen Vermögensstrafen, Steuern und Eigentumsbeschränkungen i m öffentlichen Interesse. c) A m wenigsten bestimmt ist der Rechtssatz des Völkerrechts, wonach den Ausländern wesentliche Freiheitsrechte zu gewähren sind. Das ist — wie bei den bisher aufgezählten Rechten — nicht dahin zu verstehen, daß den Ausländern entsprechende Grundrechte einzuräumen sind, wie sie das GG kennt. Es reicht vielmehr aus, wenn die Gesetze dem Ausländer diese Freiheitsrechte einräumen. Verboten ist zunächst, die fremde Personalhoheit über den Ausländer, seine Treuepflicht zum Heimatstaat, i n Frage zu stellen. Die Ausländer dürfen nicht gehindert werden, einer Einberufung Folge zu leisten und dürfen nicht gezwungen werden, gegen ihren Heimatstaat Kriegsdienste zu leisten. I m übrigen ist umstritten, inwieweit sie zum Wehrdienst des Aufenthaltsstaats gezwungen werden dürfen. Es ist w o h l zulässig, eine Wehrpflicht dann vorzusehen, wenn der Heimatstaat Deutsche zum Wehrdienst einberuft. Außerdem besteht nach Völkerrecht die Pflicht, den Ausländern jene Freiheitsrechte einzuräumen, die für ein menschenwürdiges Dasein unentbehrlich sind (Verdross, Völkerrecht, 369). Hier kann man nicht argu-
Völkervertragsrecht
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mentieren, A r t . 1 I GG betrachte alle i m folgenden aufgezählten Grundrechte des GG als für die Menschenwürde unbedingt erforderlich. Denn der völkerrechtliche Begriff der Menschenwürde ist durch die völkerrechtliche Praxis zu konkretisieren, die sich m i t wesentlich weniger A n forderungen begnügt. Z u den für die Menschenwürde erforderlichen Hechten gehören demnach die politischen Rechte nicht. Auch die Versammlungs- und Vereinsfreiheit braucht den Ausländern nicht gewährt zu werden. Dasselbe gilt für die freie Berufswahl und Berufsausübung. Auch den A r t . 2 und 3 entsprechende Rechte brauchen dem Ausländer nicht i n vollem Umfang eingeräumt zu werden. So beschränken sich die völkerrechtlichen Freiheitsrechte i m wesentlichen auf die Freiheit vor ungerechtfertigter Verhaftung, vor unmenschlicher Behandlung und auf die Freiheit der Religionsausübung. d) Für die bisher aufgezählten materiellen Rechte muß der Staat den Rechtsweg vor unabhängigen Gerichten offenhalten. Das Verfahren i n diesem Rechtsweg muß dem internationalen Standard der Kulturvölker entsprechen. Gerade i n diesem Bereich ist es möglich, durch Rechtsvergleichung auf allgemeine Rechtsprinzipien zu schließen, die den Standard des Völkergewohnheitsrechts ausfüllen (vgl. hierzu Doehring, Fordert das allgemeine Völkerrecht innerstaatlichen Gerichtsschutz gegen die Exekutive?, und Steinberger, Rechtsvergleichung und Gerichtsschutz des Einzelnen gegenüber der vollziehenden Gewalt: Ein Weg zur Gewinnimg von Völkerrecht?, in: Gerichtsschutz gegen die Exekutive / Judicial Protection against the Executive / La protection juridictionnelle contre l'exécutif, Bd. 3: Rechtsvergleichung, Völkerrecht [1971] [Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, 52], 227,269). 2. Völkervertragsrecht Baum, Aufenthaltserlaubnis u n d Niederlassungsrecht auf G r u n d zwischenstaatlicher Verträge, G e w A 1968, 245; Doehring, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer i n der Bundesrepublik Deutschland, W d S t R L 32 (1974) 7 ff.; Meessen, Völkerrechtspflicht zur Inländerbehandlung u n d Grundrechtsbeschränkungen f ü r amerikanische juristische Personen, A W D 1970, 491; Schober, Z u r Auslegung des Begriffs „öffentliche Ordnung" i n zwischenstaatlichen V e r trägen, G e w A 1971, 6; Schütterle, Aufenthaltserlaubnis u n d zwischenstaatliche Vereinbarungen, DVB1. 1971, 345; Schütterle, Die Unzulässigkeit des regelmäßigen Verbots einer selbständigen oder jeglicher Erwerbstätigkeit gegenüber Staatsangehörigen Griechenlands, des I r a n u n d Thailands, G e w A 1971, 196; Voscherau / Klosen, Gewerbeausübung u n d Niederlassungsabkommen, D Ö V 1970,814.
Die Bundesrepublik Deutschland hat m i t zahlreichen Staaten zweiseitige Niederlassungsabkommen geschlossen. Daneben ist das mehrseitige europäische Niederlassungsabkommen vom 13. Dezember 1955 (BGBl. 1959 II, 997) zu beachten. Alle diese Abkommen gewähren nur den Angehörigen der Vertragspartner Niederlassungsrechte. Diese Abkommen
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Das Fremdenrecht
sind zu verschiedenen Zeiten geschlossen worden und enthalten deshalb unterschiedliche Klauseln. Soweit diese Abkommen aus dem Kaiserreich stammen, gewähren sie dem damals sehr liberalen Fremdenrecht entsprechend ihrem Wortlaut nach sehr weitgehende Niederlassungsrechte. I n der neueren Zeit werden diese Niederlassungsrechte dagegen nur i m Rahmen der nationalen Ausländergesetze gewährt, also i n vollem Umfang dem Gesetzesvorbehalt unterstellt. M i t diesem Wandel des Verständnisses des Niederlassungsrechts geht eine Neuinterpretation der älteren Niederlassungsabkommen einher, die nunmehr entgegen der ursprünglichen Tendenz i m Sinne des modernen Fremdenrechts ausgelegt werden. Das führt dazu, daß die Berufung auf die Niederlassungsabkommen, u m über das nationale Recht hinausreichende Niederlassungsrechte zu begründen, durchwegs erfolglos bleibt. Der Abschluß von Niederlassungsabkommen ist also angesichts der Rspr. weitgehend sinnlos geworden. Diese Annäherung der verschiedenen Niederlassungsabkommen zeigt sich nicht zuletzt auch darin, daß Klauseln m i t demselben Ziel (Inländergleichbehandlung, Meistbegünstigung) aber verschiedenem Wortlaut i n verschiedenen Niederlassungsabkommen i n gleichem Sinne ausgelegt werden. a) „Einwanderung" Insbesondere ältere Niederlassungsabkommen beziehen ihre Regelung nicht auf die Niederlassung, sondern auf die Ein- u n d Auswanderung. Darunter verstand man ursprünglich nur die dauernde Verlegung des Aufenthalts i n einen fremden Staat. U m diese Vertragsregelungen auszudehnen, hat das BVerwG (E 36, 45) den Begriff der Einwanderung als „Gegenstück zur Auswanderung" definiert: Nach heutiger Auffassung wandre nicht nur derjenige aus, der seine Heimat verlasse und sich i m Ausland ohne Hoffnung oder Absicht, später i n die Heimat zurückzukehren, niedergelassen habe. Der Tatbestand der Auswanderung könne schon durch eine Niederlassung i m Ausland für längere Zeit begründet werden. Eine Einwanderung liege also schon dann vor, wenn die Niederlassung i n einem anderen Staat eine gewisse Dauerhaftigkeit habe. b) Niederlassung und Aufenthalt Mehrere Niederlassungsabkommen enthalten einerseits Klauseln über den Aufenthalt, welche i n vollem Umfang die Anwendung des betreffenden nationalen Rechts (Ausländergesetz) vorbehalten, andererseits Bestimmungen über die Niederlassung, die ohne einen solchen Vorbehalt die Ausländer i m Bereich der Erwerbstätigkeiten weitgehend den Inländern gleichstellen. Die deutschen Ausländerbehörden haben nun die Übung entwickelt, den Aufenthalt durch Auflagen oder Bedingungen i n der Aufenthaltsgenehmigung nur für bestimmte Berufstätigkeiten zu gestatten. Nach Ansicht der Rspr. verstößt diese nach dem deutschen Aus-
Völkervertragsrecht
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ländergesetz mögliche Regelung nicht gegen die Niederlassungsbestimmungen der Verträge. Die Aufenthalts- und Niederlassungsbestimmungen seien i n den Verträgen so klar voneinander getrennt, daß die Niederlassungsbestimmungen auf die Aufenthaltszulassung keine Anwendung fänden. Für die Gewährung der Aufenthaltserlaubnis seien also allein die aufenthaltsrechtlichen Vertragsbestimmungen maßgebend. Eine A u f enthaltserlaubnis sei auch dann eine rein aufenthaltsrechtliche Maßnahme i m Sinne der Aufenthaltsklauseln, wenn sie m i t einer Auflage verbunden ist, nach welcher der Erlaubnisinhaber eine bestimmte Erwerbstätigkeit zu unterlassen habe. Das ergebe sich u. a. aus der Tatsache, daß Ermächtigungsgrundlage hier das Ausländergesetz, nicht das Wirtschaftsverwaltungsrecht sei (vgl. BVerwG 18. 12. 1969, VerwRspr. 21 Nr. 82, S. 347; 20. 8. 1970, VerwRspr. 22 Nr. 81, S. 359; BayVGH 30. 6. 1970, BayVBl. 1970, 468; OVG Rheinland-Pfalz 30. 6.1969, AS 11,151). Diese Auslegung, die darauf abzielt, die Niederlassungsfreiheit den Schranken des Aufenthaltsrechts zu unterwerfen, ist abzulehnen. Die Abgrenzung der Begriffe „Aufenthalt" und „Niederlassung" der Verträge ist nicht nach den deutschen Kategorien „Ausländergesetz" und „Wirtschaftsverwaltungsrecht" vorzunehmen, sondern nach internationalen Begriffen. Dann ist unter Aufenthalt die Zulassung zum Aufenthalt i m Staatsgebiet, unter „Niederlassung" die erwerbswirtschaftliche Tätigkeit zu verstehen, die nach den Verträgen frei sein soll. c) Vorbehalt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Eine Minderung der i n den Niederlassungsverträgen enthaltenen Rechtspositionen t r i t t ferner auch dadurch ein, daß die Rspr. den i n allen Niederlassungsabkommen enthaltenen Vorbehalt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Volksgesundheit oder Sittlichkeit weder i m engeren Sinne des deutschen Polizeirechts oder i n dem etwas weiteren Sinne des Europäischen Gemeinschaftsrechts (vgl. hierzu BVerwG 24. 4. 1969, VerwRspr. 20 Nr. 231, S. 847), sondern — unter Rückgriff auf das insoweit klarere Europäische Niederlassungsabkommen — i n dem Sinne versteht, wie er allgemein i n den kontinental-europäischen Staaten benutzt w i r d ; er umfaßt dann alle i m § 10 AuslG aufgezählten Belange der Bundesrepublik, ohne daß eine Abwägung dieser Belange m i t den Interessen des Ausländers verlangt wird. d) Inländergleichbehandlung Zahlreiche Niederlassungsabkommen sehen die „Inländerbehandlung" der betreffenden Ausländer i n bestimmten Bereichen, etwa hinsichtlich der Erwerbstätigkeit vor. Darunter ist nicht zu verstehen, daß den Ausländern die diesen Bereichen zuzuordnenden Grundrechte, etwa die Berufsfreiheit des A r t . 12 GG, zu gewähren ist. Die Verträge überlassen
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Das Fremdenrecht
vielmehr dem Staat die Wahl der Mittel, m i t welchen er die Niederlassungsfreiheit verwirklicht; nur i m Endergebnis muß der Ausländer dem Deutschen gleichgestellt sein. Hat allerdings das BVerfG auf Grund des A r t . 12 GG etwa das Bedürfniserfordernis i m Gaststättenrecht aufgehoben, kann es auch einem Ausländer, der sich auf die Inländergleichheit berufen kann, nach Völkerrecht nicht mehr entgegengehalten werden. Die Inländerbehandlung führt nicht i n allen Fällen zum Erfolg. Unterscheidet das deutsche Recht auch hinsichtlich der Inländer zwischen dem Wohnsitz (Aufenthalt) i m Inland und dem Wohnsitz (Aufenthalt) i m Ausland, kann sich der i m Ausland wohnende Ausländer nicht auf die Regeln berufen, die für die i m Inland wohnenden Deutschen gelten. Hat ein Genehmigungsvorbehalt für Ausländer den Zweck, zu sichern, daß dieselben Voraussetzungen wie bei Inländern vorliegen, greift die Inländerklausel gegen den Genehmigungsvorbehalt nicht durch (VG Köln, 6. 7.1967, GewA 1968, 57). Der Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag der Bundesrepub l i k Deutschland m i t den Vereinigten Staaten von Amerika vom 29. Oktober 1954 (BGBl. 1956 II, 487) enthält i m A r t . I V das Gebot, Angehörige der USA i n der Bundesrepublik wie Inländer zu behandeln. Deutsche haben aber auf Grund des A r t . 13 § 1, 3 Abs. 1 und 2 des Allgemeinen Abkommens zwischen der Bundesrepublik und Frankreich über die soziale Sicherheit vom 10. J u l i 1950 (BGBl. 1951 II, 177) das Recht, bei der Bewertung der nach deutschem Recht für das Altersruhegeld erforderlichen Wartezeit von 180 Monaten die i n Frankreich verbrachte Versicherungszeit der i n Deutschland verbrachten Versicherungszeit hinzuzurechnen. A u f dieses den Deutschen vertraglich gewährte Recht kann sich nach Ansicht des BSG (29. 3. 1973, RzW 1973, 319) nach dem Vertrag m i t den USA auch ein Amerikaner berufen, w e i l der Inhalt des deutsch-französischen Vertrages durch das Zustimmungsgesetz insoweit i n innerdeutsches Recht transformiert worden sei, als durch diese Abmachung nicht bloß Verpflichtungen der Staaten zueinander, sondern auch Rechte und Pflichten der einzelnen Staatsbürger erzeugt worden seien. Diese W i r kung hätten dagegen nicht die entsprechenden Vorrechte, die den Angehörigen der Mitgliedstaaten durch die EWG-Verordnung Nr. 3 eingeräumt worden sind. Die Inländerklausel i m Vertrag m i t den USA erstrecke sich nicht notwendig auf diese Rechtspositionen, w e i l das Gemeinschaftsrecht nicht m i t dem staatlichen Recht des einzelnen Mitgliedstaates zu einer Einheit verschmilzt. e) Meistbegünstigung Zahlreiche Niederlassungsabkommen enthalten eine Meistbegünstigungsklausel. Danach ist den Angehörigen des betreffenden Vertragsstaates die beste Rechtsposition einzuräumen, die ein Vertrag der Bundes-
Das europäische Niederlassungsrecht
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republik m i t einem anderen Staat -dessen Angehörigen zusichert. Nach der ständigen Rspr. der deutschen Gerichte sind auch diese Meistbegünstigungsklauseln unmittelbar anwendbar. Über sie ist also der Vertrag m i t dem meistbegünstigten Staat unmittelbar auf die Angehörigen der Staaten anzuwenden, m i t dem die Bundesrepublik eine Meistbegünstigungsklausel vereinbart hat. N u n h i l f t auch die Meistbegünstigungsklausel i n der Regel nicht weiter, weil, wie das anschauliche Beispiel OVG Lüneburg, 17. Februar 1970 (NJW 1970, 1515) zeigt, kein Niederlassungsabkommen der Bundesrepublik einen Rechtsanspruch auf Aufenthalt gewährt. Solche Ansprüche enthält zwar das Europäische Gemeinschaftsrecht und die hierzu ergangenen nationalen Ausführungsbestimmungen. Gemäß B a y V G H 30. Juni 1970 (BayVBl. 1970, 368) zeigt aber die besondere, auf die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes gerichtete Aufgabenstellung, daß es sich bei den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten der EWG u n d den Beziehungen der Bundesrepublik zu anderen Staaten u m völlig verschiedene Dinge handelt. Eine ausländer- und aufentljialtsrechtliche Gleichstellung der Angehörigen dritter Staaten m i t Angehörigen der EWG-Staaten laufe dem Sinn und Zweck der EWG schlechthin zuwider; es könne deshalb nicht angenommen werden, daß die Partner des Niederlassungsvertrages bei der Festlegung der Meistbegünstigungsklausel auch eine solche Gleichstellung beabsichtigt hätten. So läuft auch die aufenthaltsrechtliche Meistbegünstigungsklausel leer. Z u allem Überfluß besteht auch hier die Tendenz, dem Vorbehalt des nationalen Rechts i n anderen Bestimmungen des Vertrages gegenüber der Meistbegünstigungsklausel den Vorrang zu geben (OVG Lüneburg, 17. 2. 1970, NJW 1970, 1515; BVerwG 24. 4.1969, VerwRspr. 20 Nr. 231, S. 847). 3. Das europäische Niederlassungsrecht Bleckmann, Etude sur l'adaptation d u système j u r i d i q u e allemand à la l i berté d'établissement et à la libre prestation des services, prévues par le traité instituant la CEE, i n : Mazziotti / Foschini / Bleckmann / Ducoulaux-Favard / Verhoeven, L a liberté d'établissement et la libre prestation des services dans les Pays de la CEE (1970) 97; Bleckmann, L a libre circulation des travailleurs du traité CEE dans le système j u r i d i q u e allemand, i n : L a libre circulation des travailleurs dans les pays de la CEE (1974) 409; Everling, Europäisches Niederlassungsrecht (1963).
Der EWG-Vertrag regelt i n A r t . 48 ff. die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, i n A r t . 52 ff. die Niederlassungsfreiheit und i n A r t . 59 den freien Dienstleistungsverkehr. Damit w i r d der allgemeine fremdenrechtliche Begriff der Niederlassungsfreiheit, der sich auf den dauernden Aufenthalt m i t oder ohne Erwerbstätigkeit bezieht, verlassen. Alle drei europarechtlichen Begriffe beziehen sich auf die Ausübung einer Er-
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werbstätigkeit i n einem anderen Staat der EWG. Dabei beziehen sich die Freizügigkeit u n d die Niederlassungsfreiheit auf den dauernden Aufenthalt i m fremden Staat; beim Dienstleistungsverkehr verläßt der Erwerbstätige sein Land dagegen nicht, sondern leistet den Dienst über die Grenze hinweg. Die Niederlassungsfreiheit ist das Niederlassungsrecht der selbständigen Unternehmer, die Freizügigkeit das Niederlassungsrecht der abhängigen Erwerbstätigen. Freizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und Freiheit des Dienstleistungsverkehrs sollen bis zum Ende der Übergangszeit verwirklicht werden. Die Freizügigkeit umfaßt die Abschaffung der auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten i n bezug auf Aufenthalt, Beschäftigung und sonstige Arbeitsbedingungen. Sie wurde durch eine Reihe von EWG-Verordnungen (vgl. insbesondere die Verordnung Nr. 1912/68 vom 15. 10. 1968, Amtsbl. der Eur. Gem. 1968 Nr. L 257) verwirklicht. Die Niederlassungsfreiheit u n d der freie Dienstleistungsverkehr w u r den auf Grund von zwei allgemeinen Programmen allmählich durch zahlreiche Richtlinien verwirklicht, die durch deutsche Gesetze übernommen worden sind. I m einzelnen sehen diese Bestimmungen ein echtes Aufenthaltsrecht der Angehörigen der EWG-Staaten und ihrer Familienmitglieder vor, das nur aus — von einer Richtlinie näher bestimmten — Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung begrenzt ist. Diese Regelung findet sich heute i m Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EWG vom 22. J u l i 1969 (BGBl. I, 927). Für Arbeiter besteht ferner keine Arbeitsgenehmigung. Hinzuweisen ist ferner darauf, daß i n zahlreichen Berufen statt der i m deutschen Recht erforderlichen Prüfungen und Diplome eine längere Tätigkeit i n den betreffenden Berufen i n einer bestimmten Position i m Heimatland für die Berufstätigkeit i n der Bundesrepublik ausreicht (vgl. etwa die Verordnung über die für Staatsangehörige der übrigen Mitgliedstaaten der EWG geltenden Voraussetzungen der Eintragung i n die Handwerksrolle vom 4. 8. 1966, BGBl. I I I Nr. 7110-1-3) und daß der deutsche Gesetzgeber i n Ausführung europäischer Richtlinien zahlreiche Sondererfordernisse für Ausländer entweder generell oder i n bezug auf die EWG-Angehörigen gestrichen hat. II. Das deutsche Fremdenrecht 1. Ausländergesetz Kanein, Das Ausländergesetz u n d die wesentlichen fremdenrechtlichen V o r schriften, K o m m e n t a r (1966/67); Kanein, Das Ausländergesetz i m Meinungsstreit, N J W 1973, 729; Kloesel / Christ, Deutsches Ausländerrecht, K o m m e n t a r
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(1965/66) ; Marxen, Deutsches Ausländerrecht (1967) ; Mayer, Umstrittenes A u s länderrecht, ZRP 1972, 252; Rauball ! Krater, Kommentar zum Ausländergesetz (1966); Rittstieg, A k t u e l l e Fragen des Ausländerrechts, N J W 1972, 2153; Schiedermair, Ausländerrecht der Bundesrepublik Deutschland, Kommentar (1966); Weissmann, Ausländergesetz (1966).
Das Ausländergesetz vom 28. A p r i l 1965 (BGBl. I I I Nr. 2600-1) gilt für alle Personen, die nicht Deutsche i m Sinne des A r t . 116 I GG sind (§ 1 I I AuslG). Es regelt die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern i m Geltungsbereich des GG ( § 1 1 AuslG). Ausländer, die i n den Geltungsbereich des GG einreisen oder sich dort aufhalten wollen, bedürfen grundsätzlich (Ausnahmen: § 2 I I AuslG, § 49 AuslG und § 1 der VO zur Durchführung des AuslG vom 12. 3. 1969, BGBl. I I I , 26-1-1) einer Aufenthaltserlaubnis, wenn sie sich länger als drei Monate i m Geltungsbereich des Ausländergesetzes aufhalten und insbesondere, wenn sie dort einer Erwerbstätigkeit nachgehen wollen. Die Aufenthaltserlaubnis w i r d grundsätzlich (vgl. aber § 5 der AusIVO) nach der Einreise erteilt, ist aber vorher einzuholen, insbesondere wenn der Ausländer i n der Bundesrepublik einer Erwerbstätigkeit nachgehen w i l l . Dann bedarf der Arbeitnehmer grundsätzlich auch einer Arbeitserlaubnis. Die Aufenthaltserlaubnis gilt für das gesamte Bundesgebiet; sie kann aber auch räumlich beschränkt werden. Sie w i r d i n der Regel befristet (auf ein Jahr) erteilt, kann dann aber (jeweils u m ein weiteres Jahr) verlängert werden. Die Aufenthaltserlaubnis kann m i t Bedingungen und Auflagen versehen werden. Besonders häufig w i r d sie auf die Ausübung bestimmter Berufstätigkeiten beschränkt (vgl. zum Ganzen § 7 AuslG). Die Aufenthaltserlaubnis darf nur erteilt werden, wenn die Anwesenheit des Ausländers Belange der Bundesrepublik nicht beeinträchtigt (§ 2 I S. 2 AuslG). Die Aufenthaltserlaubnis darf insbesondere dann nicht erteilt werden, wenn die Ausweisungsgründe des § 10 I Ziff. 1 - 1 1 AuslG vorliegen. Selbst wenn die Anwesenheit Belange der Bundesrepublik nicht beeinträchtigt, ist die Ausländerbehörde zur Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung nach dem Wortlaut des § 2 I S. 2 AuslG nicht verpflichtet. Allerdings w i r d man annehmen müssen, daß der Ausländer zumindest ein Recht auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens hat. Dabei müssen die öffentlichen m i t den privaten Interessen abgewogen werden. Da bei Verletzung öffentlicher Interessen die Aufenthaltsgenehmigung verweigert werden muß, bleiben öffentliche Interessen bei der Abwägung nicht mehr übrig. Die Aufenthaltsgenehmigung ist also zu erteilen, wenn öffentliche Interessen dem nicht entgegenstehen. Ausländer können — selbst wenn sie eine noch gültige Aufenthaltserlaubnis besitzen — jederzeit ausgewiesen werden, wenn sie die Tatbe-
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stände des § 10 I Ziff. 1 - 1 1 AuslG erfüllen, insbesondere wenn ihre Anwesenheit erhebliche Belange der Bundesrepublik beeinträchtigt. Diese Bestimmung macht die Ausweisung von schwereren Bedingungen abhängig als die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis u n d w i r d damit dem Völkerrecht u n d den Grundrechten entsprechend der Tatsache gerecht, daß der niedergelassene Ausländer ein stärkeres schutzwürdiges Interesse hat als der Ausländer, der i n die Bundesrepublik erst einreist. Erschwert werden diese Voraussetzungen i n zweifacher Hinsicht: Einmal führt § 10 I enumerativ die Gründe auf, wegen deren eine Ausweisung zulässig ist; auch die Generalklausel der Ziff. 11 setzt gegenüber der Generalklausel des § 2 I S. 2 die Verletzung erheblicher Belange der Bundesrepublik voraus. Zweitens muß die Behörde bei Vorliegen der Gründe des § 10 I die Aufenthaltserlaubnis ablehnen, während sie bei diesen Gründen den Ausländer nur ausweisen kann. Dieses Ermessen muß aber fehlerfrei ausgeübt werden. Dabei muß die Behörde die konkreten Interessen des Ausländers m i t den Interessen der Bundesrepublik abwägen. Den deutschen Interessen darf dabei nicht prinzipiell das Übergewicht gegeben werden. Gerade u m diese Verengung des Ermessensspielraums zu vermeiden, greifen die Behörden auf die befristete Erlaubnis zurück. Dabei w i r d angenommen, daß für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 7 I I S. 2 AuslG die Regel für die erstmalige Erteilung der Aufenthaltserlaubnis (§ 2 1 S. 2 AuslG) gilt. Gerade dies erscheint aber fraglich. Der Interessenlage entspricht vielmehr, wenn für die Verlängerung die Bestimmungen des § 10 I AuslG entsprechend angewendet werden. Es ist auch fraglich, ob die Anwendung des § 2 1 S. 2 AuslG auf die Verlängerimg der Aufenthaltserlaubnis eines Ausländers, der sich i n der Bundesrepublik eine Existenz begründet hat, nicht gegen das Völkerrecht und das GG verstoßen würde. Ausländern, die sich seit mindestens fünf Jahren auf Grund einer ordnungsgemäßen Aufenthaltserlaubnis i m Geltungsbereich des AuslG aufhalten und i n das wirtschaftliche und soziale Leben der Bundesrepublik integriert sind, kann die Erlaubnis zum Aufenthalt als räumlich und zeitlich unbefristete Aufenthaltsberechtigung erteilt werden (§ 8 AuslG). Solche Ausländer können nach § 10 I AuslG nur unter erschwerten Voraussetzungen ausgewiesen werden. Die Tatsache, daß der Ausländer demnächst eine Aufenthaltsb erechtigung erwerben könnte, w e i l er fünf Jahre i n der Bundesrepublik lebt, darf nicht herangezogen werden, u m die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu verweigern. Bei der Erteilung der Aufenthaltsberechtigung hat die Behörde ein freieres Ermessen als bei einer Verlängerung der A u f enthaltserlaubnis. Allerdings w i r d man auch hier verlangen müssen, daß die Ausländerbehörde die Interessen des Ausländers m i t den deutschen öffentlichen Interessen abwägt.
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Besitzt der Ausländer keine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung und ist er von diesen Voraussetzungen — durch das AuslG, die AusIVO oder zwischenstaatliche Verträge — nicht befreit, hat er das Bundesgebiet unverzüglich zu verlassen (§ 12 AuslG). Er ist abzuschieben und kann zu diesem Zwecke i n Haft genommen werden (§ 16 AuslG), wenn seine freiwillige Ausreise nicht gesichert oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Uberwachimg der Ausreise erforderlich erscheint. Eine Abschiebung i n ein Land, i n welchem der Ausländer politischer Verfolgung ausgesetzt wäre, ist unzulässig (§14 AuslG). Darüber hinaus fragt sich, ob der deutsche Staat die Grundrechte des GG verletzt, wenn er den Ausländer i n einen Staat abschiebt, i n dem die Gefahr einer grundrechtswidrigen Behandlung droht. Dabei kann es nicht darauf ankommen, daß der fremde Staat unseren Grundrechten entsprechende Sicherungen generell kennt. Eine solche Ausweisungs- und Abschiebungssperre würde — w e i l nur wenige Staaten der Welt entsprechende Garantien aufgestellt haben — zu einer generellen Sperre der Ausweisung und Abschiebung u n d damit zu einem Aufenthaltsrecht der Ausländer führen, das die Bundesrepublik überfordern würde. Es kann folglich höchstens darauf ankommen, ob dem Ausländer eine konkrete Gefährdung seiner Grundrechte nach dem GG droht. Aber auch insoweit ist darauf abzustellen, daß die Bundesrepublik die Grundrechte des GG i m Ausland nur gegenüber Deutschen schützen muß. Daß durch die Abschiebung etwa die Gefahr entsteht, daß ein i n der Bundesrepublik bestrafter Ausländer wegen derselben Tat i m Ausland noch einmal bestraft w i r d (ne bis in idem/), steht der Abschiebung also nicht entgegen (OVG M ü n ster, 11.1.1973, DÖV 1973,174). 2. Grundrechte der Ausländer Franz, Asylrecht u n d Asylverordnung, DVB1. 1963, 125; Kanein, Z u m A s y l recht der Bundesrepublik, BayVBl. 1967, 291; Kimminich, Völkerrecht u n d Verfassung i n der deutschen Asylpraxis, J I R 1971, 296; Kimminich, Z u r Theorie der immanenten Schranken des Asylrechts, JZ 1965, 733; Mohn, Probleme des Asylrechts politisch Verfolgter (1967); Schmitt, Das Asylrecht des GG, BayVBl. 1964, 13; Veiter, Asylrecht als Menschenrecht (1969); Wollenschläger, Das Asylrecht politisch verfolgter Ausländer, BayVBl. 1973, 460; Wulffert, Asylsuche u n d Asylrecht i n der Bundesrepublik, Osteuropa 1970, 37 ; Wusowski, Das Asylrecht des GG, Vorgänge 1969,421. Behrend, Z u r staatsrechtlichen Stellung der Ausländer i n der Bundesrepub l i k I I I : Kommunalwahlrecht f ü r Ausländer, D Ö V 1973, 376; Dolde, Zur staatsrechtlichen Stellung der Ausländer i n der Bundesrepublik I I : Z u r Beteiligung von Ausländern am politischen Willensbildungsprozeß, D Ö V 1973, 370; Rittstieg, Rechtsstaat auch f ü r Ausländer, JZ 1972, 353; Zuleeg, Z u r staatsrechtlichen Stellung der Ausländer i n der Bundesrepublik I : Menschen zweiter Klasse? D Ö V 1973, 361; K. Doehring! J. Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer i n der Bundesrepublik Deutschland, W d S t R L 32 (1974). 23 Bleckmann
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Dolde, Die politischen Hechte der Ausländer i n der Bundesrepublik Deutschland (1972); Heuer, Politische Betätigung von Ausländern u n d ihre Grenzen (1970); Klinkhardt, Die politische Meinungsfreiheit i m Ausländerrecht, DVB1. 1965, 487; Rolvering, Die Rechtsgarantien f ü r eine politische Betätigung von Ausländern i n der Bundesrepublik Deutschland (1970); Tomuschat, Z u r p o l i tischen Betätigung der Ausländer i n der Bundesrepublik Deutschland (1968). Meessen, Ausländische juristische Personen als Träger von Grundrechten, J Z 1970, 602; Ritter, Der Grundrechtsschutz ausländischer juristischer Personen, N J W 1964, 279; Schmidt, Grundrechte u n d Nationalität juristischer Personen (1966).
1. Das Grundgesetz verleiht m i t wenigen Ausnahmen (Versammlungsrecht, A r t . 8; Vereinigungsrecht, A r t . 9; Freizügigkeit, A r t . 11; Freiheit der Berufswahl, A r t . 12; Verbot der Auslieferung Deutscher, A r t . 16 I I S. 1; Widerstandsrecht, A r t . 20 I V ; staatsbürgerliche Rechte, A r t . 33 I ; Zugang zu öffentlichen Ämtern, A r t . 33 I I GG) die Grundrechte In- und Ausländern i n gleicher Weise: die meisten Grundrechte sind also nicht Bürgerrechte, sondern als Menschenrechte ausgestaltet. Allerdings kann sich hinsichtlich bestimmter Grundrechte ergeben, daß diese entgegen dem Wortlaut des GG nur Ausländern zugebilligt werden. So ist entgegen dem Wortlaut des Art. 38 GG das aktive und passive Wahlrecht zum Bundestag den Deutschen vorbehalten. Das ergibt sich aus A r t . 20 I I GG, nach dem alle Staatsgewalt vom „Volke", d. h. aber vom deutschen Volke ausgeht, ferner aus der Tatsache, daß A r t . 8 und 9 GG die politischen Rechte den Deutschen vorbehalten. Dasselbe muß für die Wahlen zu den Landtagen und Gemeinderäten gelten. A r t . 33 I GG ist also dahin auszulegen, daß die dort verankerten staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten nur den Deutschen zustehen. Da die Parteien nach A r t . 21 I S. 1 GG bei der politischen Willensbildung des (deutschen) Volkes mitwirken, können Ausländer auch keine deutschen Parteien gründen oder einer deutschen Partei angehören; „deutsch" ist eine Partei dann, wenn sie Kandidaten für den Bundestag, einen deutschen Landtag oder deutsche Gemeinderäte aufstellt. M i t Ausnahme des aktiven und passiven Wahlrechts verbietet die Tatsache, daß bestimmte Grundrechte i m GG Deutschen vorbehalten sind, nicht, daß der Gesetzgeber diese Grundrechte auch auf Ausländer erstreckt. Dies ist ζ. B. i m Vereinsgesetz und i m Versammlungsgesetz geschehen. Das Parteiengesetz, das kein ausdrückliches Verbot der Tätigkeit von Ausländern i n deutschen Parteien enthält, ist dagegen verfassungskonform i m Sinne eines solchen Verbots auszulegen. Ausländischen Parteien dürfen Ausländer dagegen grundsätzlich angehören. Eine andere Frage ist, ob die Tatsache, daß es sich u m Ausländer handelt, zumindest bei der politischen Betätigung (Art. 5 G G einerseits, Versammlungsgesetz und Vereinsgesetz andererseits) zu gewissen, gegenüber Deutschen nicht erlaubten Schranken führt. Eine solche — sehr um-
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strittene — Schranke enthält § 6 AuslG. Die dort aufgeführten Einschränkungen der politischen Betätigungsfreiheit der Ausländer sind aber grundsätzlich rechtmäßig. Die politische Betätigungsfreiheit der Ausländer ist nur durch Art. 2 I GG und Art. 5 I GG abgedeckt. Sie steht deshalb unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung bzw. der allgemeinen Gesetze. Die i n § 6 I I und I I I AuslG geschützten Interessen überwiegen abstrakt das Interesse der Ausländer an freier politischer Betätigung. Allerdings müssen die Verwaltungsbehörden die konkreten Interessen in jedem Einzelfall miteinander abwägen. Möglich ist ferner, daß der Grundrechtsschutz der Ausländer durch die Menschenrechte erst bei einer gewissen Kontaktschwelle m i t der Bundesrepublik einsetzt. Das BVerfG (E 31, 58) hat entschieden, daß die Grundrechte bei Sachverhalten mit Auslandsbezügen nicht notwendig i n vollem Umfang eingreifen. Isensee knüpft hieran an, indem er annimmt, der volle Grundrechtsstatus — einschließlich der damit verbundenen innerstaatlichen rechtsstaatlichen Sicherungen — greife erst ein, wenn sich der Ausländer — erlaubt oder unerlaubt — auf deutschem Territorium aufhalte. Damit soll einerseits die Einreise dem Grundrechtsschutz entzogen werden. Andererseits soll m i t der wachsenden Verstärkung der Beziehungen des Ausländers zur Bundesrepublik (Integration i n das w i r t schaftliche Leben, Aufbau einer Existenz) auch der grundrechtliche Schutz wachsen. Wieder eine andere Frage ist, ob den Ausländern nicht auch i m Bereich der Deutschengrundrechte ein minimaler Grundrechtsschutz zusteht. Ansatzpunkt hierfür ist einmal die Menschenwürde des A r t . 1 I, zum anderen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die Menschenwürde soll verlangen, daß den Ausländern auch die Deutschengrundrechte entweder voll oder doch zumindest i n einem Kernbereich zustehen (die Beschränkung auf Deutsche wäre dann verfassungswidriges Verfassungsrecht). Dieser Ansatzpunkt erscheint verfehlt, w e i l der Ausländer — i m Gegensatz zum Deutschen — die Möglichkeit hat, seine Menschenwürde voll i m Ausland zu erfüllen. Auf der anderen Seite verlangt die Menschenwürde wohl nicht, daß den Ausländern alle Grundrechte verliehen werden. Und schließlich würde die Ausdehnung aller Grundrechte auf Ausländer die Leistungsfähigkeit des deutschen Staates und die Rechtsposition der Inländer, welche die Bundesrepublik i n erster Linie zu schützen hat, gefährden. Richtig erscheint dagegen, den Ausländern selbst i m Bereich der leges speciales der Deutschengrundrechte das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zuzubilligen (Art. 2 I GG), die zwar durch alle verfassungsmäßigen Gesetze, aber eben nur durch verfassungsmäßige Gesetze beschränkt werden kann u n d so zur Anwendung des Gesetzesvorbehalts und der Rechtsstaatsprinzipien einschließlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit führt (BVerfGE 35, 23·
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382). I n diesem Rahmen sind dann auch die betroffenen öffentlichen mit den privaten Interessen des Ausländers abzuwägen; hierbei sind insbesondere auch die Dauer des Aufenthalts, der Grad der Angewiesenheit auf die Existenzgrundlage i n der Bundesrepublik, die Integration i n das Sozial- und Wirtschaftsleben der Bundesrepublik zu berücksichtigen. 2. Von besonderer Bedeutung für den Ausländer ist das Aufenthaltsrecht. a) I m Gegensatz zum Deutschen, für den das Aufenthaltsrecht wegen der dort vorgesehenen Schranken zwar nicht aus A r t . 11 GG, sondern aus einem ungeschriebenen Verfassungssatz fließt, gibt A r t . 2 I GG dem Ausländer nur ein durch das AuslG beschränktes Aufenthaltsrecht. I m Beschluß vom 18. J u l i 1973 (E 35, 382 = JZ 1974, 259 Anm. Rittstieg = NJW 1974, 227, 1043 Anm. Schwabe) überprüfte das BVerfG zum ersten M a l die Verfassungsmäßigkeit wesentlicher Vorschriften des AuslG. Nach dieser Entscheidung steht das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit auch Ausländern zu. Die Beschränkung des Grundrechts der Freizügigkeit >auf Deutsche u n d auf das Bundesgebiet schließe nicht aus, auf den Aufenthalt von »Menschen i n der Bundesrepub l i k auch A r t . 2 I GG anzuwenden. Der daraus folgende Schutz sei jedoch nur i n den Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet. Zur verfassungsmäßigen Ordnung gehöre jede Rechtsnorm, die formell und materiell m i t der Verfassung i n Einklang stehe (BVerfGE 6, 32; 10, 21, 54). Der Gesetzgeber sei danach grundsätzlich zu Regelungen über den Aufenthalt und die Ausweisung von Ausländern befugt. Bei solchen Regelungen habe der Gesetzgeber aber das Rechtsstaatsprinzip zu beachten (BVerfGE 17, 306 ff., 313; 19, 342). Dieses Prinzip verlange zunächst, daß den Einzelnen belastende hoheitliche Eingriffe eine hinreichend klare gesetzliche Grundlage haben müssen u n d daß hierbei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angemessen berücksichtigt wird. Die Ausweisung wegen „erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland" (§ 10 I Nr. 11 AuslG) sei i n dieser Hinsicht nicht zu beanstanden, w e i l sich die Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs aus dem Zusammenhang m i t der Aufzählung der i n § 10 I Nr. 1 - 1 0 AuslG näher umschriebenen Ausweisungsgründe ausreichend ermitteln lasse. Da bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der einzelnen Nummern des § 10 I AuslG die Ausweisung nicht zwingend vorgeschrieben sei, sondern i m Ermessen der Ausländerbehörde stehe, lassen die hier von den Behörden angewandten Rechtsvorschriften genügend Raum dafür, bei der Anwendung i m Einzelf all dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen. Nach diesem Grundsatz sind Eingriffe i n die Freiheitssphäre nur dann und insoweit zulässig, als sie zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich seien; die gewählten M i t t e l müßten i n einem vernünftigen Verhältnis zum angestrebten Erfolg stehen. Demgemäß sei bei
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der Anwendung der Tatbestände des § 10 I AuslG das durch die betreffende Einzel Vorschrift jeweils geschützte öffentliche Interesse abzuwägen gegen die privaten Belange des betroffenen Ausländers, d. h. etwa gegen die Folgen der Ausweisung für seine wirtschaftliche, berufliche, persönliche Existenz, insbesondere für die Ehe m i t einer Frau, die i h m nicht ins Ausland folgen w i l l oder kann, sowie für andere soziale Bindungen. Wendet man dieselben Prinzipien auf § 2 I S. 2 AuslG an, ist diese Bestimmung nur zu halten, wenn man zur Konkretisierung der Belange der Bundesrepublik auf § 10 I zurückgreift, den Belangen der Bundesrepublik nicht die alleinige Bedeutung zumißt, sondern sie m i t den konkreten Privatinteressen abwägt, u n d wenn man dem Ausländer bei fehlender Beeinträchtigung der Belange der Bundesrepublik einen Rechtsanspruch auf die Aufenthaltserlaubnis gibt. Ob aber über A r t . 2 I GG die Rechtsstaatsprinzipien auch anwendbar werden, bevor der Ausländer den Boden der Bundesrepublik betreten oder eine Aufenthaltserlaubnis erhalten hat, ist gerade fraglich, w e i l er dann möglicherweise noch nicht i n einem Subordinationsverhältnis zur Bundesrepublik steht, das Voraussetzung der Anwendung der Rechtsstaatsprinzipien sein könnte. A u f jeden Fall sind diese Prinzipien m i t der Folge auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis anzuwenden, daß nicht A r t . 2 I S. 2 GG, sondern § 10 I AuslG analoge Anwendung findet. b) Die Position des Ausländers kann sich über A r t .