Studienbuch institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte 3515111220, 9783515111225

Das Studienbuch zeigt die Herangehensweise und Potenziale einer theoriegeleiteten Wirtschafts- und Unternehmensgeschicht

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German Pages 292 [294] Year 2015

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Inhaltsverzeichnis
VORWORT
1. EINFÜHRUNG ODER WARUM WIR THEORIEN
BRAUCHEN
2. GRUNDELEMENTE INSTITUTIO
NALISTISCHER THEORIE
2.1 NEUE INSTITUTIONENÖKONOMIK
2.2 NEOINSTITUTIONALISMUS
3. THEORETISCHE ANSCHLUSSMÖGLICHKEITEN
3.1 AKTEURSZENTRIERTER INSTITUTIONALISMUS
3.2 VARIETIES OF CAPITALISM-ANSATZ
3.3 SOZIALE NETZWERKE
3.4 INTERSEKTIONALITÄT
3.5 AKTEUR-NETZWERK-THEORIE
4. EMPIRISCHE ANWENDUNGEN
4.1 WIE ENTSTEHEN INSTITUTIONEN?
4.2 WAS LEISTEN INSTITUTIONEN?
4.3 WIE WANDELN SICH INSTITUTIONEN?
5. KONTUREN EINER ERWEITERTEN INSTITUTIONELLEN
THEORIE DER WIRTSCHAFTS- UND UNTERNEHMENSGESCHICHTE
GLOSSAR THEORETISCHER FACHBEGRIFFE
VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN
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Studienbuch institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte
 3515111220, 9783515111225

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Clemens Wischermann / Katja Patzel-Mattern / Martin Lutz / Thilo Jungkind (Hg.)

Studienbuch institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte

6 Geschichte Franz Steiner Verlag

Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte

Clemens Wischermann / Katja Patzel-Mattern / Martin Lutz / Thilo Jungkind (Hg.) Studienbuch institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte

perspektiven der wirtschaftsgeschichte Herausgegeben von Clemens Wischermann und Katja Patzel-Mattern Band 6

Clemens Wischermann / Katja Patzel-Mattern / Martin Lutz / Thilo Jungkind (Hg.)

Studienbuch institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Ölarbeiter 1955 © Ebri / Hulton Archive / Getty Images Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11122-5 (Print) ISBN 978-3-515-11123-2 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort .............................................................................................................. 7 1. Einführung oder warum wir Theorien brauchen.......................................... 9 Katja Patzel-Mattern 2. Grundelemente institutionalistischer Theorie ............................................ 17 Thilo Jungkind 2.1

Neue Institutionenökonomik ............................................................ 20 Clemens Wischermann

2.2

Neoinstitutionalismus ....................................................................... 33 Thilo Jungkind

3. Theoretische Anschlussmöglichkeiten....................................................... 47 Thilo Jungkind 3.1

Akteurszentrierter Institutionalismus ............................................... 48 Martin Lutz

3.2

Varieties of Capitalism-Ansatz ........................................................ 53 Clemens Wischermann

3.3

Soziale Netzwerke ............................................................................ 57 Rabea Limbach

3.4

Intersektionalität ............................................................................... 61 Katja Patzel-Mattern

3.5

Akteur-Netzwerk-Theorie ................................................................ 66 Sandra Schürmann

4. Empirische Anwendungen ......................................................................... 71 Sandra Schürmann 4.1

Wie entstehen Institutionen? ............................................................ 73 4.1.1

Präferenzen .............................................................................. 74 Martin Lutz

Inhaltsverzeichnis

4.1.2

Felder ....................................................................................... 88 Albrecht Franz

4.1.3

Differenzkategorien ............................................................... 103 Katja Patzel-Mattern

4.1.4

Materialität ............................................................................. 121 Sandra Schürmann

4.2

Was leisten Institutionen? .............................................................. 135 4.2.1

Kommunikation ..................................................................... 136 Daniel Wilhelm

4.2.2

Netzwerke .............................................................................. 151 Rabea Limbach

4.2.3

Kultur ..................................................................................... 166 Clemens Wischermann

4.2.4

Kapitalismusformen ............................................................... 180 Christina Lubinski

4.2.5

Visualität ................................................................................ 192 Sandra Schürmann

4.3

Wie wandeln sich Institutionen? .................................................... 205 4.3.1

Pfadabhängigkeiten und Brüche ............................................ 206 Thilo Jungkind

4.3.2

Transformation....................................................................... 223 Armin Müller

4.3.3

Krisen und Unfälle ................................................................. 240 Katja Patzel-Mattern

4.3.4

Innovation .............................................................................. 258 Armin Müller

5. Konturen einer erweiterten institutionellen Theorie ................................ 273 Thilo Jungkind, Martin Lutz, Katja Patzel-Mattern, Clemens Wischermann Glossar theoretischer Fachbegriffe .......................................................... 281 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ................................................ 291

VORWORT Das vorliegende „Studienbuch institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte“ ist das Ergebnis einer intensiven zweijährigen Zusammenarbeit von zehn Historikerinnen und Historikern unterschiedlicher Einrichtungen, Alters- und Qualifikationsstufen – Albrecht Franz, Thilo Jungkind, Rabea Limbach, Christina Lubinski, Martin Lutz, Armin Müller, Katja Patzel-Mattern, Sandra Schürmann, Daniel Wilhelm und Clemens Wischermann. Sie einte der Wunsch, Wirtschaft und Geschichte zusammenzudenken und die Potenziale institutionalistischer Ansätze zu erproben. In Workshops wurden Ausrichtung und Konzept, Beiträge und Schlussfolgerungen diskutiert. Am Ende steht ein Band, der in den einzelnen Beiträgen die Vorstellungen der jeweiligen Autorinnen und Autoren spiegelt, zugleich aber in seinen zentralen Aussagen das Ergebnis gemeinsamen Nachdenkens ist. Er möchte Studierende und Promovierende sowie alle, die sich für Wirtschaftsgeschichte interessieren, zu eigenständigem theoriegeleiteten Arbeiten anregen. Die Workshops wurden von den Professuren für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universitäten Konstanz und Heidelberg ausgerichtet. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beider Professuren haben mit großem Engagement die Treffen vorbereitet und begleitet. Justyna Többens und Stefan Indlekofer haben die Beiträge des Bandes korrigiert und gesetzt. Das Lektorat durch Frau Elke Franke war dank der großzügigen Unterstützung des Siemens Historical Institute möglich. Wir freuen uns, unsere theoretischen Überlegungen mit einem breiteren Publikum zu diskutieren und hoffen, mit dem Studienbuch zu einer fruchtbaren Diskussion über den Nutzen der Theorie für die Wirtschaftsgeschichte beizutragen. Berlin, Heidelberg, Konstanz, Mirabello/Italien im Dezember 2014 Thilo Jungkind, Martin Lutz, Katja Patzel-Mattern und Clemens Wischermann

1. EINFÜHRUNG ODER WARUM WIR THEORIEN BRAUCHEN Katja Patzel-Mattern Wer Wirtschaftsgeschichte betreibt, wird bald mit einem zentralen Erkenntnisinteresse der Disziplin konfrontiert: Es gilt, die Entstehung einer Wettbewerbs- und Wachstumswirtschaft zu erklären. Warum gelang es „den westlich geprägten Gesellschaften in den letzten gut zweihundert Jahren […] die Fessel der Armut, die die Menschheit seit ihrem Anbeginn gefangen hielt, abzuschütteln“1? Zahlreiche Untersuchungen haben sich dieser Frage gewidmet. Der Forschungsstand ist dementsprechend gut; und dennoch offenbart ein Blick in einschlägige Einführungen ganz unterschiedliche Antworten. „Die [deutsche, kpm] Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts haben wir […] als eine Geschichte von sich dramatisch verändernden Verfügungsrechten geschrieben. Sie stehen im Mittelpunkt, weil sie den Rahmen abstecken, innerhalb dessen wirtschaftliches Handeln stattfindet: sie schaffen die Anreize, die letztendlich darüber entscheiden, wie effizient eine Wirtschaft ist. Das institutionelle Arrangement der vorliberalen Welt unterscheidet sich grundlegend von dem der industriellen; die von Reinhard Koselleck als ‚Sattelzeit‘ beschriebene Periode markiert den Übergang der moralisch legitimierten Ökonomie mit starken gemeinschaftlichen Verfügungsrechten zu einer legitimen Wettbewerbsordnung mit starken individuellen Verfügungsrechten.“2

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3

„Die außerordentlichen Fortschritte der deutschen Wirtschaft während des ‚langen‘ 19. Jahrhunderts […] lassen sich gerade auch im Vergleich […] besonders gut mit der deutschen Außenhandelsstatistik illustrieren. […] Die erfolgreiche Importsubstitution führte […] zu einer ‚Industrialisierung‘ der deutschen Außenhandelsstruktur. Um 1860 hatte sich der Exportanteil an Fertigwaren mit gut 50% gegenüber den dreißiger Jahren mehr als verdoppelt. Trotz der hohen Rohstoffimportabhängigkeit der Zollvereinsstaaten konnte dadurch eine ausgeglichene oder gar aktive Handelsbilanz gesichert werden. Seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts war Deutschland damit zu einem wichtigen Faktor in der Weltwirtschaft geworden.“3

Toni Pierenkemper: Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung – oder: Wie wir reich wurden, München 2005, S. 3. Clemens Wischermann, Anne Nieberding: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004, S. 283. Dieter Ziegler: Schlussbetrachtung, in: ders. (Hg.): Die Industrielle Revolution, 2. Aufl., Darmstadt 2009, S. 141–143, S. 141.

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Einführung oder warum wir Theorien brauchen

Während der Text von Anne Nieberding und Clemens Wischermann wirtschaftliches Wachstum mit veränderten Rechtsstrukturen erklärt, stellen die Überlegungen von Dieter Ziegler die Außenhandelswirtschaft in den Vordergrund. Solche Differenzen in der Beantwortung zentraler Forschungsfragen helfen, den Sinn der Theorie für die Wirtschaftsgeschichte zu erkennen. Sie verweisen darauf, dass historisches Wissen nicht dadurch entsteht, dass Fakten aneinandergereiht werden. Vielmehr müssen diese eingeordnet, in einen Interpretationszusammenhang gestellt werden. Doch welche Kontexte sind relevant? Was sind Bezugspunkte der Interpretation? Damit diese Fragen intersubjektiv, das heißt allgemein nachvollziehbar beantwortet werden können, müssen Historikerinnen und Historiker Grundannahmen ihres Forschens offenlegen. Sie reflektieren, wie sie historischen Wandel denken, welche Grundprinzipien ihn befördern. Dabei stützen sie sich auf Theorien. Theorien werden hier verstanden als „explizite und konsistente Begriffs- und Kategoriensysteme, die der Identifikation, Erschließung und Erklärung von […] historischen Gegenständen dienen sollen und sich nicht hinreichend aus den Quellen ergeben“4.

Solche Theorien sind, wie ein Blick in die Geschichte der Wirtschaftsgeschichte zeigt, wandelbar. Eine kurze Geschichte der Wirtschaftsgeschichte und ihres Denkens seit dem 18. Jahrhundert Die Wirtschaft, so eine weitverbreitete Vorstellung, ist ein eigenständiger Gegenstandsbereich, der quasi natürlichen Gesetzen folgt.5 Diese Vorstellung hat ihren Ursprung in der Aufklärung. Sie trennte die Wirtschaft von gesellschaftlichen Entwicklungen und etablierte ein neues Menschenbild: das vernünftige, auf eigenen Vorteil bedachte Individuum, aus dem sich die Modellvorstellung des homo oeconomicus entwickeln sollte. Die Trennung von Wirtschaft und Gesellschaft und das neue Menschenbild boten auch wirtschaftshistorischem Denken und Forschen eine neue Grundlage. Sie fanden in den Arbeiten Adam Smiths Anwendung. Der schottische Moralphilosoph verband in seinem Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“6 ökonomische Gegenwartsanalyse mit historisch-empirischer Argumentation. Er begründete damit eine bis heute andauernde theoretische Re4 5

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Jürgen Kocka (Hg.): Theorien in der Praxis des Historikers. Forschungsbeispiele und Diskussionen, Göttingen 1977, S. 10. Dieser Abschnitt stützt sich wesentlich auf die Überlegungen von Gerold Ambrosius, Werner Plumpe, Richard Tilly: Wirtschaftsgeschichte als interdisziplinäres Fach, in: dies. (Hg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, 2. Aufl., München 2006, S. 9–37, hier vor allem S. 10–15. Im englischen Original: Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1776. Es sei explizit darauf hingewiesen, dass Smith den skizzierten aufklärerischen Vorstellungen nicht in Gänze folgte. So maß er der Gesellschaft eine wichtige Bedeutung zu, wohingegen er die Vernunft als Grundlage menschlichen Handels weniger betonte.

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flexion über die Bedeutung von Geschichte für ökonomisches Handeln. Denn während Adam Smith mit seinen Vorstellungen von Freihandel und Wettbewerb zum Vordenker liberaler ökonomischer Theoriebildung werden konnte, wiesen seine Nachfolger, die sogenannten klassischen Nationalökonomen,7 der Geschichte eine neue Bedeutung zu. Die Vergangenheit fand nicht mehr als historischsinguläres Ereignis Beachtung. Sie diente nun der Bestätigung von Gesetzmäßigkeiten. Dieses Denken sollte, weiterentwickelt zur Neoklassik, ökonomisches und wirtschaftshistorisches Arbeiten langfristig prägen. Doch es regte sich auch Widerspruch. Beginnend mit Friedrich List und weitergetragen von der älteren, später der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie8 wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts Kritik an den „geschichtslosen Gesetzen der Klassik“9 laut. Die Kritiker forderten eine Rückkehr zur historisch-empirischen Arbeit, die Berücksichtigung kultureller Faktoren und strebten sogar danach, eine historisch fundierte Theorie der Wirtschaft zu formulieren. Damit wandten sie sich nicht nur gegen die Geschichtslosigkeit der Klassik, sondern auch gegen die Geschichtsmächtigkeit sozialistischer Vorstellungen, wie sie Karl Marx und Friedrich Engels formulierten. Demnach wäre Geschichte eine gesetzmäßige gesellschaftliche Entwicklung, die durch ökonomische Prozesse bestimmt wird. Es wird deutlich: Die Frage, welche Bedeutung Gesetzmäßigkeiten und Geschichte für ökonomisches Handeln haben, treibt die Wissenschaftler des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts um. Sie sollte auch die weitere theoretische Entwicklung prägen. So konnten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei unterschiedliche theoretische Herangehensweisen innerhalb der Wirtschaftsgeschichte etablieren.10 Die erste argumentiert in erkenntnistheoretischer Perspektive. Sie spricht den materiellen Bedingungen menschlichen Lebens, den ökonomischen Interessen und Konflikten eine zentrale Rolle für die Erklärung historischen Wandels zu. Marxistische, in der Tradition von Karl Marx und Friedrich Engels stehende Konzepte sowie einige modernisierungstheoretische Ansätze zählen zu dieser Richtung. Exemplarisch sei hier auf die Studie von John Foster über Klassenkämpfe in drei englischen Städten im 19. Jahrhundert hingewiesen.11 In dieser Arbeit vergleicht der Verfasser deren Entstehungs- und Ausdrucksformen. Er ordnet diese in 7

Diese Richtung wird auch als Klassische Politische Ökonomie bezeichnet. Maßgeblich sind Ökonomen wie Thomas Robert Malthus, David Ricardo, Jean-Baptiste Say und später John Stuart Mill. 8 Zur älteren Historischen Schule werden Bruno Hildebrand, Karl Knies und Wilhelm Roscher gerechnet; zur jüngeren Historischen Schule zählen u.a. Lujo Brentano, Karl Bücher und Gustav Schmoller. 9 Ambrosius, Plumpe, Tilly (2006), S. 12. 10 Vgl. hierzu Pat Hudson: Economic History, in: Stefan Berger, Heiko Feldner, Kevin Passmore (Hg.): Writing History. Theory and Practice, New York 2003, S. 223–242, hier S. 224– 226. 11 Vgl. John Foster: Class Struggle and the Industrial Revolution. Early Industrial Capitalism in Three English Towns, London 1974. Bekannter ist die Studie von Edward P. Thompson: The Making of the English Working Class, London 1963.

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Einführung oder warum wir Theorien brauchen

eine marxistische Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus ein, die sich an einem Stufenmodell historischen Wandels orientiert. Auf diese Weise werden anhand von Fallbeispielen im Rückgriff auf erkenntnistheoretische Grundpositionen Aussagen formuliert, die eine allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Doch kulturell im Kontext der Postmoderne und politisch spätestens mit den Umbrüchen Ende der Achtziger-, Anfang der Neunziger- Jahre büßen marxistische und andere Metanarrative an Überzeugungskraft ein. Ansätze, die zeit- und kulturübergreifend historischen Wandel und gesellschaftliche Entwicklung erklären wollen, verlieren damit auch innerhalb der Wirtschaftsgeschichte zumindest für zwei Jahrzehnte an Bedeutung. Eine zweite Art der Theoriereflexion innerhalb der Disziplin bezieht sich auf ökonomische Theorien mittlerer Reichweite. Darunter sind Theorien zu verstehen, die bestimmte volkswirtschaftliche Phänomene oder Zustände erklären wollen. Wirtschaftshistorikerinnen und -historiker nutzen Begriffe und Konzepte dieser Theorien, um mit ihrer Hilfe wirtschaftliche Erscheinungen der Vergangenheit systematisch zu erfassen. Viele dieser Theorien legen dabei ein idealtypisches Akteurskonzept zugrunde – den voll informierten und nutzenmaximierenden ökonomischen Akteur (worunter ein Unternehmen, private Haushalte oder der Staat verstanden werden kann). Ein solcher Akteur besitzt alle für eine Entscheidung relevanten Informationen und agiert unter den Bedingungen eines freien Marktes. Seinem Verhalten wird das Streben nach größtmöglichem Gewinn unterstellt. Solche Theorien funktionieren grundsätzlich ahistorisch. Ihr Ziel ist es, ausgehend von Modellannahmen Prinzipien ökonomischen Handelns in der Moderne zu erfassen, nicht aber historische Zusammenhänge zu erklären. Die wirtschaftshistorische Aneignung solcher Theorien knüpft an Überlegungen des Ökonomen Joseph A. Schumpeter (1883–1950) an, der seiner Disziplin Denkfehler infolge fehlender Berücksichtigung historischen Wissens vorwirft. In dieser Perspektive kommt der Wirtschaftsgeschichte die Aufgabe zu, die Validität ökonomischer Theorien zu kontrollieren und zu korrigieren.12 Wirtschaftshistorikerinnen und -historiker, die in diesem Sinn argumentieren, führen Überlegungen der Klassik und ihrer Weiterentwicklung in der Neoklassik fort und weisen der eigenen Disziplin eine spezifische Aufgabe zu. Sie soll die Reichweite des modellhaften und auf theoretische Reduktion von Komplexität gerichteten Denkens der Wirtschaftswissenschaften durch die Arbeit mit Quellen historisch bestimmen. Exemplarisch für eine solche Sicht sind kliometrische Ansätze, wie sie Robert W. Fogel und Douglass C. North vertreten13, die 1993 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurden.

12 Vgl. Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse, Bd. 1, Göttingen 2009 [1965], S. 43; Pierenkemper (2005), S. 9–10. 13 Vgl. Robert W. Fogel, Stanley Engerman: Time on the Cross. The Economics of American Negro Slavery, Bd. 1–2, Boston 1974; Douglass C. North: The Economic Growth of the United States 1790–1860, New York u.a. 1966.

Einführung oder warum wir Theorien brauchen

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Letzterer würdigte allerdings nicht allein kliometrische Leistungen. Douglass C. North wandte sich nämlich seit den späten Sechzigerjahren immer stärker von Rationalitäts- und Effizienzannahmen der neoklassischen ökonomischen Theorie ab und prägt die Weiterentwicklung der Neuen Institutionenökonomik. Dieser Ansatz baut auf Überlegungen von Ronald Coase und Oliver Williamson auf.14 Die Neue Institutionenökonomik widmet sich den Zusammenhängen zwischen gesellschaftlichen Strukturen und ökonomischen Entwicklungen. In ihrem Zentrum stehen Institutionen, verstanden als formelle oder informelle gesellschaftliche Regelsysteme. Deren Wandel sowie ihre Auswirkungen auf menschliches Handeln sollen erklärt werden. Damit bezieht diese ökonomische Theorie explizit kulturelle Faktoren in die Erklärung wirtschaftlicher Prozesse ein: „History matters“15, wie Douglass C. North es formuliert. Dies eröffnete Wirtschaftshistorikerinnen und -historikern neue Perspektiven. In den 1990er- und frühen 2000er- Jahren entstanden allen voran in der Unternehmensgeschichte institutionentheoretisch inspirierte Untersuchungen. Sie lenkten die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Unternehmenskultur und -kommunikation. Damit rückten Bereiche ökonomischen Handelns ins Zentrum, die bis dahin nur wenig Beachtung gefunden hatten. Auch befruchtete der nun wieder intensivierte Austausch mit den Volks- und Wirtschaftswissenschaften die Rezeption theoretischer Ansätze in der Wirtschaftsgeschichte. Ein theoretischer Pluralismus prägt seitdem das Fach, in dem theoriegeleitetes Arbeiten an Bedeutung gewonnen hat. Der Nutzen der Theorie für wirtschaftshistorisches Arbeiten Theoretische Grundannahmen leiten wirtschaftshistorisches Arbeiten. Sie ermöglichen es, erkenntnisleitende Fragestellungen zu formulieren, Quellen zu ordnen und zu interpretieren sowie geschichtswissenschaftliche Texte zu strukturieren. Im Laufe der Geschichte der Disziplin haben sich die maßgeblichen Ansätze verändert. Sie folgen nicht nur aufeinander, sondern werden zum Teil zeitgleich zur Erklärung derselben historischen Phänomene herangezogen. Daraus ergeben sich ganz unterschiedliche Ordnungen und Interpretationen dessen, was in der Vergangenheit geschehen ist. „Ob man eine Geschichte der Industrialisierung unter der Leitperspektive der Führungssektoren (etwa Textilindustrie, Steinkohleförderung, Eisenbahnbau etc.) oder der Organisation der Institutionenordnung schreibt [ergänzen ließe sich hier mit Blick auf das eingangs zitierte Beispiel die Außenhandelswirtschaft, kpm], ergibt jeweils eine andere Geschichte.“16

14 Vgl. Ronald H. Coase: The Nature of the Firm, in: Economica 4 (1937), S. 386–405; Oliver E. Williamson: Markets and Hierarchies. Analysis and Antitrust Implications. A Study in the Economics of Internal Organization, New York 1975. 15 Douglass C. North: Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge 1990, S. VII. 16 Wischermann, Nieberding (2004), S. 13.

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Einführung oder warum wir Theorien brauchen

Aufbau des Buches und Handreichungen zu seiner Nutzung Es ist das Potenzial theoriegeleiteten historischen Arbeitens, neue Zugänge zur Vergangenheit zu eröffnen. Das vorliegende Studienbuch möchte dazu eine Anregung in institutionalistischer Perspektive geben. Es konzentriert sich auf die westeuropäische Wirtschaftsgeschichte vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Anhand vorwiegend deutscher Beispiele werden institutionelle Bedingungen der Wachstumswirtschaft und ihrer Grenzen diskutiert. Dies geschieht in zwei thematischen Abschnitten: Der erste Abschnitt stellt theoretisch-konzeptionelle Überlegungen vor. Er führt in Grundbegriffe institutionalistischer Theorien ein (Kap. 2) und diskutiert deren mögliche Erweiterungen (Kap. 3). Ziel ist es, wirtschaftshistorische Theoriebildung durch den Dialog mit aktuellen, zumeist kulturund sozialwissenschaftlichen Ansätzen, zu bereichern. Ein Glossar der verwendeten Fachbegriffe am Ende des Buches erleichtert die Orientierung. Der zweite inhaltliche Abschnitt prüft anhand von Fallbeispielen den Nutzen erweiterter institutionalistischer Theorie für empirisches Arbeiten (Kap. 4). Die einzelnen Kapitel zeigen jeweils exemplarisch auf, wie theoriegeleitete Quelleninterpretationen historische Erkenntnis befördern können. Ein zusammenfassendes Kapitel (Kap. 5) schließt das Buch ab. Es stellt Potenziale einer erweiterten institutionalistischen Theorie dar und präsentiert die Erträge ihrer Anwendung – ein Statement für eine institutionalistisch fundierte, konzeptionell anschlussfähige Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Ausgehend von dieser Verortung bietet das Studienbuch einen „Baukasten“ der Theorievermittlung und -nutzung. Es ist so konzipiert, dass alle Themen für sich stehen und selektiv rezipiert werden können. Das ausführliche Glossar unterstützt diese Nutzung. Das Baukastenprinzip bezieht sich aber auch auf das grundgelegte Theorieverständnis. Das Buch möchte kein in sich geschlossenes theoretisches Gebäude präsentieren und erhebt keinen Anspruch darauf, die Möglichkeiten empirischer Anwendungen in aller Breite aufzuzeigen. Vielmehr regt es dazu an, institutionalistische Ansätze weiterzudenken und für eigene Fragestellungen nutzbar zu machen. Leserinnen und Leser sind herzlich eingeladen, die vorgestellten Überlegungen für die Entwicklung eines ganz eigenen theoretischen Zuganges zu wirtschaftshistorischen Themen zu nutzen. In diesem Sinne möchte das Buch theoretisches Arbeiten motivieren und zugleich aufzeigen, wie fruchtbar das Zusammenwirken von ökonomischer Theorie und kulturwissenschaftlicher Methode sein kann. Literatur Ambrosius, Gerold/Plumpe, Werner/Tilly, Richard: Wirtschaftsgeschichte als interdisziplinäres Fach, in: dies. (Hg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, 2. Aufl., München 2006, S. 9–37. Hudson, Pat: Economic History, in: Stefan Berger, Heiko Feldner, Kevin Passmore (Hg.): Writing History. Theory and Practice, New York 2003, S. 223–242. North Douglass C.: Structure and Change in Economic History, New York 1981.

Einführung oder warum wir Theorien brauchen

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Wischermann, Clemens/Nieberding, Anne: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004. Ziegler, Dieter: Die Industrielle Revolution, 2. Aufl., Darmstadt 2009.

2. GRUNDELEMENTE INSTITUTIONALISTISCHER THEORIE Thilo Jungkind Der wirtschaftshistorische Mainstream begründete die Frage nach ökonomischem Wachstum lange Zeit mithilfe der neoklassischen Wachstumstheorien der Makroökonomik, die eine implizite Erklärung von mikroökonomischem, das heißt unternehmerischem Erfolg besitzt.1 Danach führten die Zuwächse an Arbeit und Kapital zusammen mit technischem Fortschritt und Investitionen innerhalb westlicher Volkswirtschaften zu zeitverzögerten Industrialisierungen in Europa seit dem 18. Jahrhundert. Pointiert gesprochen müssen viele Menschen gezeugt werden und gesund bleiben, damit sie an vielen Maschinen arbeiten können. Sie müssen gute Ideen entwickeln, um damit Geld an quasi naturgesetzlich entstehenden Märkten zu verdienen. Die Erklärung des immensen Wachstums und der stark anwachsenden Wohlstandsniveaus vor allem der westlichen Gesellschaften unter Zuhilfenahme dieser neoklassischen Sichtweise wurde dann paradigmatisch als Epochen beschreibendes Phänomen, als „Industrielle Revolution“ bezeichnet.2 Allerdings spielen unter analytischen Gesichtspunkten die historisch bedingten Merkmale einer so gedachten Wachstumsgesellschaft in diesem völlig zeit- und raumlosen Konzept keine Rolle. Seit einigen Jahren werden ergänzend zum neoklassischen Ansatz institutionenökonomische Überlegungen in das theoretisch-konzeptionelle Arsenal der Wirtschafts- und Unternehmenshistorikerinnen aufgenommen, da die Wissenschaftler die realitätsfernen Annahmen der neoklassischen Theorie nicht in ihren Forschungen anwenden möchten.3 Wieder sehr vereinfacht würden die Vertreter des institutionenökonomisch-orientierten Ansatzes den Vertretern des Wachstumsparadigmas entgegenhalten, in einer Gesellschaft müssten zunächst Institutionen im Sinne von Spielregeln vorhanden sein. Diese Institutionen müssten Wettbewerb und Privateigentum zulassen, um die in Masse erzeugten Produkte ver1

2 3

Vgl. Robert Merton Solow: A Contribution to the Theory of Economic Growth, in: Quarterly Journal of Economics 70 (1956), S. 65–94; Toni Pierenkemper: Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung – oder: wie wir reich wurden, München 2005. Vgl. Jeff Horn: Reconceptualizing the Industrial Revolution, Cambridge/Mass. 2010. Eine gute Zusammenfassung der Kritik neuerdings bei Jens Beckert: Die Sittlichkeit der Wirtschaft. Von Effizienz- und Differenzierungstheorien zur Theorie wirtschaftlicher Felder, in: MPIfG Working Paper 11/8 (2011). Eine dogmengeschichtliche Übersicht bei Clemens Wischermann: Wirtschaftskultur und Wirtschaftsgeschichte. Von der Historischen Schule zur Neuen Institutionenökonomik, in: Michael Hochgeschwender, Bernhard Löffler (Hg.): Religion, Moral und liberaler Markt. Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2011, S. 56–68.

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Grundelemente institutionalistischer Theorie

kaufen zu können. Es müsse demnach eine „Institutionelle Revolution“ vor oder gleichzeitig mit Phasen von Industrialisierungen stattfinden, um liberale Wettbewerbsordnungen erst zu ermöglichen.4 Ökonomisches Handeln mit dem Ziel, Wachstumsprozesse zu generieren, müsse nach einem solchen Ansatz zunächst erfunden und gesellschaftlich legitimiert werden. Nur so könne Wohlstand erschaffen und ökonomische Stabilität bewahrt werden. Clemens Wischermann stellt in seinem einführenden Beitrag in Kapitel 2.1 die Basiskonzepte des wirtschaftswissenschaftlichen Ansatzes der Neuen Institutionenökonomik (NIÖ) vor, auf denen solche Überlegungen des Konzeptes der Institutionellen Revolution basieren. Wischermann grenzt die NIÖ zur Neoklassik ab und beschreibt die Chancen für die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichtsschreibung, die sich aus der Nutzung des NIÖ-Konzeptes ergeben. Diese Chancen ergeben sich vor allem aus der Tatsache, dass die NIÖ im Gegensatz zur Neoklassik interdisziplinär anschlussfähig für weitere theoretisch-konzeptionelle Überlegungen ist, ohne dabei ökonomische Argumentationen zu vernachlässigen. Seit dem Ende der 1990er-Jahre entstand aus der Möglichkeit, solche Verbindungen herzustellen, innerhalb der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte5 eine Forschungsrichtung, die in Anlehnung an den „cultural turn“ in den Geschichtswissenschaften als „kulturelles Paradigma“ der Fächer Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte bezeichnet werden kann. Das Paradigma stellt eine weitere Ergänzung und eine Alternative dar, wenn es um die Erklärung ökonomischen Erfolges oder Misserfolges von individuellen wie kollektiven Wirtschaftsakteuren oder um die Funktionsfähigkeit wirtschaftlicher Systeme in historischer Perspektive geht.6 Die grundlegende Hypothese des kulturellen Paradigmas besagt: „Institutionen, ebenso wie Märkte, Organisationen und ihre Akteure wirtschaften in geschichts- und kulturgeprägten Kontexten.“7 Diese Sichtweise, nach der eine Verzahnung zwischen makro- und mikroökonomischem Handeln und realen Menschen samt ihren Lebenswelten besteht, deutet auf die existente Wirkung eines sich in historischen Kontexten ständig wandelnden gesellschaftlichen Umfeldes auf ökonomische Systeme und umgekehrt hin. In Kapitel 2.2 stellt Thilo Jungkind mit dem Neoinstitutionalismus (NI) einen in sich konsistenten Ansatz als Erweiterung der Überlegungen von Clemens Wischermann vor. Der NI ist in der Lage, die Verbindungen von gesellschaftlichen Lebenswelten und ökonomischem Handeln analytisch zu fassen und in ihren gegenseitigen Wirkungen darzu4

5 6

7

Vgl. Clemens Wischermann, Anne Nieberding: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004. Vgl. Ralf Ahrens: Unternehmensgeschichte, Version: 1,0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 1.11.2010, online unter: http//docupedia.de/zg/Unternehmensgeschichte (Zugriff 06.02.2014) Zur kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Fächer: Clemens Wischermann: Von der „Natur“ zur „Kultur“. Die Neue Institutionenökonomik in der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Erweiterung, in: Karl-Peter Ellerbrock, Clemens Wischermann (Hg.): Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 17–31. Ebd., S. 17.

Grundelemente institutionalistischer Theorie

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stellen. Der NI greift Elemente der Neuen Institutionenökonomik zusammen mit wirtschafts- und wissenssoziologischen Argumenten auf. So gelingt es, wirtschaftliches Handeln als Ausdruck gesellschaftlicher Erwartungen darzustellen. Umgekehrt kann gesellschaftliche Entwicklung aber auch Ausdruck wirtschaftlichen Handelns sein. Der Neoinstitutionalismus ist damit hervorragend geeignet, Wirtschaft und Gesellschaft als voneinander abhängige Kategorien zu denken und vor allem ökonomisches Handeln und wirtschaftliche Funktionalität in deren historischen Kontexten und damit wandelnden Gesellschaften realitätsnah zu analysieren. Institutionalistische Zugänge betrachten Institutionen als das Herzstück gesellschaftlicher wie ökonomischer Prozesse. Daraus folgt, dass zentrale Kernfragen der Fächer Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte nur durch die Analyse institutioneller Arrangements und deren Veränderungen beantwortet werden können. Institutionen schaffen Sicherheit und Ordnung zur Generierung von Wachstum und zum Schutz von Wohlstand. Sie werden ständig neu erfunden und sind damit integraler Bestandteil jeder historischen Wirklichkeit. Mit den Beiträgen in Kapitel 2 bieten Clemens Wischermann und Thilo Jungkind dem Leser das grundlegende ökonomische und wirtschaftssoziologische Verständnis an, um die Vielzahl der Möglichkeiten institutionalistischer Ansätze in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte nutzen zu können. Die Beiträge in Kapitel 2 sind ebenfalls als Anregungen für Kapitel 3 gedacht, wo exemplarisch institutionalistische Theorien interdisziplinär erweitert werden. Wandel und Stabilität, die Erzeugung und Wirkung von Institutionen sind für viele Wissenschaften oftmals Erkenntnisinteresse und konzeptioneller Zugang zugleich. Indem dieser Zusammenhang anerkannt wird, gelingt es, die Ahistorisierung der Ökonomie ebenso wie die Entökonomisierung der Geschichtswissenschaft aufzubrechen und damit die Generalkritik einer kulturwissenschaftlich orientierten Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte zu entkräften. Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte werden dann realitätsnah. Die Erkenntnisinteressen und Ergebnisse auf der Suche nach den Gründen für ökonomisches Handeln, wirtschaftlichen Erfolg und Misserfolg oder das Funktionieren und Scheitern von Unternehmen werden zu Alltagsgeschichten einer lebendigen und dynamischen Gesellschaft.

2.1 NEUE INSTITUTIONENÖKONOMIK Clemens Wischermann Die Anfänge neueren institutionalistischen Denkens wurden zunächst unter das Signum Property-Rights-Ansatz (den Begriff übersetzt man am ehesten mit Verfügungsrechte) gefasst. Heute hat sich mit erweitertem Inhalt die Bezeichnung New Institutional Economics (NIE) oder Neue Institutionenökonomik (NIÖ) durchgesetzt. Wird die neoklassische Theorie derart erweitert, stehen mit der Frage nach den Institutionen im Wirtschaftsprozess Elemente im Mittelpunkt, die die neoklassische Wirtschaftstheorie in die exogenen Rahmenbedingungen verwiesen hatte. „Institutions matter“ hieß es nun umgekehrt zu dem Grundsatz, der ein halbes Jahrhundert gegolten hatte. Die daran anknüpfende wirtschaftshistorische Theorie institutionellen Wandels behauptet, dass wirtschaftliche Institutionen zu den wirkungsmächtigsten Faktoren der Wirtschaftsentwicklung in der Neuzeit gehört haben. Institutionen Die institutionenökonomische Hauptthese besagt, dass wirtschaftliches Wachstum effiziente Institutionen voraussetzt. „Was ist eine Institution? Eine allgemein akzeptierte Definition gibt es nicht. Wir wollen sagen: Eine Institution ist ein auf ein bestimmtes Zielbündel abgestelltes System von formalen und informellen Regeln (Normen) einschließlich ihrer Garantieinstrumente, mit dem Zweck, das individuelle Verhalten in eine bestimmte Richtung zu lenken.“1

Institutionen sind eine bestimmte Menge von Regeln, die das Verhalten des Einzelnen durch Beschränkungen (Restriktionen) steuern. Welche Aufgabe kommt ihnen zu? „Die Institutionen haben den Zweck, die Unsicherheiten menschlicher Interaktion zu vermindern“2, die aus beschränkter Informationsbeschaffung und -verarbeitung resultieren. Die entscheidende Leistung effizienter Institutionen ist die Verbesserung des Transaktionskosteneinsatzes. Der lange vorherrschende Institutionenbegriff ist ein evolutionstheoretischer im Sinne Friedrich von Hayeks. Institutionen entstehen im Grunde ungeplant zur Bewältigung von Situationen von Unwissenheit und Komplexität. Der wirtschaftliche Wettbewerb rechtfertigt sich für Hayek aus der unvollkommenen Information der Teilnehmer und ihrer systematischen Unfähigkeit zu gesicherten Voraus1 2

Rudolf Richter: Neue Institutionenökonomik. Ideen und Möglichkeiten, in: Gerold KrauseJunk (Hg.): Steuersysteme der Zukunft, Berlin 1998, S. 323–355, hier S. 325. Douglass C. North: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992, S. 30.

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sagen, weshalb er den Wettbewerb „als ein Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen“3 bezeichnet. So verstandener Wettbewerb bringt „spontane Ordnungen“ hervor; in einem Selektionsprozess setzten sich effiziente Institutionen gegen weniger effiziente durch und so fort. Es kommt zu einer Anhäufung von Informationen und Wissen in Institutionen, ohne dass diese vollständig planbar würden. Was institutionell existiert, ist qua Prämissen effizient. Hayeks verbreitetes Konzept ist der Hintergrund, vor dem man Douglass Norths neuartige Institutionentheorie erst richtig einschätzen kann. North legt ein Konzept verlaufsabhängiger oder pfadabhängiger Institutionenbildung vor. Mit anderen Worten: Institutionen haben eine Geschichte, die sie prägt. North setzt folglich auf Kultur statt Natur. Dabei hebt er hervor, dass effiziente Institutionen sich in der Wirtschaftsgeschichte keinesfalls immer durchgesetzt haben (so die westeuropäischen nicht immer in der übrigen Welt) und dass ineffiziente Institutionen durchaus länger existierten als bislang erklärbar.4 Menschen richteten sich offensichtlich nicht nur nach festgeschriebenen, „formgebundenen“ Beschränkungen, wie sie institutionelle Theorien bis dahin ausschließlich untersucht hatten. Wirtschaftliches Handeln folgte noch einer Vielzahl weiterer, sogenannter formloser Beschränkungen. Schon bald wurde erkannt, dass hohe, nicht abschätzbare Transaktionskosten erforderlich wären, um über diese im Einzelnen vollständige Information zu gewinnen oder sie gar in feste Regeln zu überführen. Das bedeutete aber, dass neben den „formgebundenen Beschränkungen“ des Handelns (vor allem in Verträgen, Gesetzen und Ähnlichem) ein weites Feld sogenannter „formloser Beschränkungen“ (in der jeweiligen Kultur weitergegebenen Normen und Werte, Verhaltensregeln, Sitten, Gebräuchen, Konventionen) ökonomisch wichtig wurde. Grundlegende Teile menschlicher Kooperation auch im Wirtschaftsprozess beruhen nämlich auf der Absicherung durch formlose Beschränkungen. Ihnen galt Norths Interesse. Er suchte nach den in der Kultur gespeicherten Informationen, um das Institutionengefüge in Richtung einer Erhöhung der Wirtschaftsleistung besser steuern zu können. Transaktionskosten Die Beeinflussung von Verfügungsrechten verursacht „Transaktionskosten“, verstanden als „Kosten der Definition, Sicherung, Nutzung und Übertragung von Property Rights“.5 Der an Ronald Coase6 anschließende Transaktionskostenansatz 3 4

5

Friedrich A. von Hayek: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Kiel 1968, S. 3. Vgl. Douglass C. North: Structure and Change in Economic History, New York 1981; dt. u.d.T.: Theorie des institutionellen Wandels, Tübingen 1988; ders.: Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge u.a. 1990; dt. u.d.T.: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992; ders.: Understanding the Process of Economic Change, Princeton 2005. Überblicke zur Entwicklung der Northschen Schriften bei Ingo Ries, Martin Leschke (Hg.): Douglass Norths ökonomische Theorie der Geschichte, Tübingen 2009. Richter (1998), hier S. 571.

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bezog sich anfangs nur auf die Kosten der Nutzung des Preismechanismus, weitete sich dann aber auf „alle Kosten, die verbunden sind 1. mit der Bereitstellung und Änderung einer Institution (oder Organisation) sowie 2. mit der Nutzung der Institution“7 aus. Anders ausgedrückt sind das vor allem Kosten der Marktnutzung (Such- und Informationskosten, Vertragskosten, Durchsetzungskosten) und Kosten der Organisationsnutzung von Unternehmen (Vertragskosten, Arbeits- und Qualitätskontrollkosten). Über den reinen Kostenaspekt (s.o.) hinaus hat vor allem Oliver Williamson die Forderung erhoben, auch die Ursachen von Transaktionskosten zu analysieren, mögen sie in der Vielfalt zu koordinierender Aktivitäten, den Informationsbedingungen, den Motiven der Beteiligten oder der Technologie liegen.8 Die neoklassische Theorie betrachtete dagegen die physischen Merkmale eines Gutes als Gegenstand von Transaktionen und definierte ausgehend hiervon Unternehmen über ihre Produktionsfunktion. Sie betrachtet die Koordination der Tauschvorgänge innerhalb des Unternehmens oder zwischen Unternehmen und Markt als kostenlos (Null-Transaktionskosten-Welt). Coase aber konnte zeigen, dass bei der Benutzung des Marktes „Transaktionskosten“ entstehen. „Der ‚Hauptsatz‘ der NIÖ lautet: Die institutionelle Struktur (die Struktur der ‚Transaktionskosten‘) tendiert dazu, ‚sich selbst‘ so zu entwickeln, daß der Nettoertrag der Transaktionen maximiert wird ... Man beachte: Der Satz lautet nicht ‚Minimierung der Transaktionskosten‘, wie gelegentlich zu lesen ist!“9

Es gibt bislang kaum zuverlässige Berechnungen oder gar Prognosen der Höhe der Transaktionskosten. Oft geht man in der Wirtschaftsgeschichte unter Berufung auf North und Wallis von einem starken Anstieg in den letzten 200 Jahren aus.10 Die Transaktionskosten für die gesamte Volkswirtschaft werden Ende des 20. Jahrhunderts auf deutlich mehr als die Hälfte des Bruttosozialproduktes geschätzt. Diese Zahlen sind jedoch aus methodischen Gründen sehr umstritten.11 Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Transaktionskostenansatz auch jenseits seiner empirischen Einlösung ein wichtiges Arbeitsmittel geworden ist. Entscheidend ist in unserem Zusammenhang zunächst nicht die Abwägung von prozentualen Höhen zu bestimmten Zeiten der Geschichte, sondern die Grundannahme, dass es in der Wirtschaftsgeschichte niemals eine Null-Transaktionskosten-Welt gegeben hat. Das verändert den Blick in die Wirtschaftsgeschichte fundamental.

6 7 8

Vgl. Ronald H. Coase: The Nature of the Firm, in: Economica 4 (1937), S. 386–405. Richter (1998), S. 576. Vgl. Oliver E. Williamson: The Economic Institutions of Capitalism: Firms, Markets, Relational Contracting, New York 1985; dt. u.d.T.: Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus. Unternehmen, Märkte, Kooperationen, Tübingen 1990. 9 Richter (1998), S. 326. 10 Vgl. John J. Wallis, Douglass C. North: Measuring the Transaction Sector in American Economy, 1870–1970, in: Stanley L. Engerman, Robert E. Gallman (Hg.): Long-Term Factors in American Economic Growth, Chicago 1986, S. 95–161. 11 Vgl. Horst Löchel: Institutionen, Transaktionskosten und wirtschaftliche Entwicklung. Ein Beitrag zur Neuen Institutionenökonomik und zur Theorie von Douglass C. North, Berlin 1995.

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Alternative Formen der Koordination ökonomischer Aktivitäten Großer Einfluss auf die institutionalistische Ökonomik ging von einem schon 1937 publizierten, aber erst viel später rezipierten Aufsatz von Ronald Coase aus.12 Er ging dort der scheinbar naiven Frage nach, warum in einer arbeitsteiligen Marktwirtschaft überhaupt Unternehmungen entstehen. Die wirtschaftsgeschichtlich am weitesten verbreitete Antwort sah im Anschluss an Adam Smith die Gründe vor allem in der Beherrschung der neuen Technologien und damit verbundener Arbeitsteilung und Spezialisierung zum Zweck der Produktionssteigerung. Coase erschien diese Antwort unbefriedigend, denn der liberalen Theorie folgend hätte die zu erklärende wirtschaftliche Koordinationsleistung der Unternehmung eigentlich über den Markt und den Preismechanismus erfolgen sollen. Doch marktwirtschaftliche Wettbewerbssysteme wiesen unbestreitbar in ihren Unternehmungen ein hohes Maß an Planung auf. Warum entscheiden sich nun die Wirtschaftshandelnden eines Wettbewerbssystems in bestimmten Fällen gegen eine einfache wirtschaftliche Abstimmung durch Konkurrenz und für die Bildung von Unternehmen? Die Antwort fand Coase in der Widerlegung der modellhaften Kostenlosigkeit des Markt- und Preismechanismus; tatsächlich entstehen bei der Benutzung des Marktes empirisch schwer dingfest zu machende, theoretisch aber überzeugend begründbare „Transaktionskosten“. Bei gegebenen Transaktionskosten konnte es Coase folgend vorteilhafter und effizienter werden, statt den Markt zu benutzen, Transaktionen durch die Bildung von Unternehmungen zu internalisieren. In den Unternehmungen tritt an die Stelle des Wettbewerbes die Abstimmung von wirtschaftlichen Interaktionen über Anordnungen und kraft festgelegter Hierarchie. Welche Form letztlich gewählt wird, Markt oder Unternehmen, hängt von Art und Höhe der Transaktionskosten ab; entscheidet man sich für das Unternehmen, taucht allerdings ein neues Problem auf: Denn man braucht nun Institutionen für die wirtschaftliche Koordinierung in der Unternehmung. Ein Beispiel hierfür wäre die Arbeitskontrolle. Natürlich sind keine Koordinierungen kostenlos. In einem ersten Schritt bedeutet dies bereits eine zentrale Verschiebung des Blickes auf die moderne Unternehmung: „Organisationsinnovationen“ rückten in den Mittelpunkt. Damit wird der Blick frei für die Kosten der Organisation einer effektiven Struktur von Anreizen in Unternehmen oder allgemeiner in Organisationen. In Coases’ Überlegungen stellten so „Markt und Unternehmen nichts anderes als alternative Formen der Koordination ökonomischer Aktivitäten dar“.13 Auch die Institutionalisierung wirtschaftlicher Koordination in der Unternehmung war natürlich nicht kostenlos. Die Alternative von „Vertrag“ als horizontaler Koordination der Aktivitäten am Markt und „Hierarchie“ als vertikaler Koordination von Aktivitäten in Unternehmungen war daher immer erneut von ihrer Effizienz her zu beantworten. 12 Vgl. Coase (1937), S. 386–405. 13 Eva Bössmann: Weshalb gibt es Unternehmungen? Der Erklärungsansatz von R. H. Coase, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 137 (1981), S. 667–674, hier S. 668.

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Das von Coase noch ausschließlich thematisierte Gegenüber von Markt und Unternehmung wird in der neueren Forschung zunehmend durch die Anerkennung der Existenz von hybriden und netzwerkartigen Organisationen ergänzt, um – wieder einmal – die Theorie der Vielschichtigkeit der Wirklichkeit anzunähern. Powell argumentiert, es sei falsch, wie Williamson14 die Arten der Transaktionen wie Punkte auf einem Kontinuum zu verteilen und die hierarchische Unternehmung als einen evolutionären Endpunkt der ökonomischen Entwicklung anzunehmen: „Die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte zeigt uns, dass Unternehmen mit exakt definierten Grenzen und hochzentralisierten Operationen sehr untypisch sind. Die Geschichte des modernen Handels, dargestellt durch Braudel, Polanyi, Pollard oder Wallerstein, ist die Geschichte von Familienbetrieben, Zünften, Kartellen und Fernhandelsgesellschaften – Unternehmen mit beweglichen und in hohem Maße durchlässigen Grenzen.“15

Heute seien Hybride und Netzwerke als Organisation dauerhafter und vorteilhafter Beziehungen zwischen Unternehmen ein zunehmend wichtiges Feld wirtschaftlicher Interaktionsalternativen. Märkte Die weithin übliche, auch die New Institutional Economics prägende Vorstellung von „markets as state of nature“ hat Oliver Willamson formuliert: „In the beginning there were markets.“16 Aus wirtschaftshistorischer Perspektive muss dieser Annahme aber widersprochen werden. Es gibt oder gab zu keinem Zeitpunkt einen Naturzustand = Idealzustand des Marktes (etwa im Sinne einer Wirtschaft vollkommener Konkurrenz), sondern die Ergebnisse von Märkten hängen von ihrem Institutionengefüge und den damit verbundenen Transaktionskosten ab. In wirtschaftshistorischer Perspektive sind Wettbewerbsmärkte nicht als quasi Gesetz hinter der wirtschaftlichen Welt einmal entdeckt worden (wie Smith meinte), sondern ihnen liegt eine historische Entwicklung zugrunde, die man als den einzigartigen westeuropäischen Weg in eine Marktgesellschaft bezeichnen könnte. In die noch von Braudel17 verklärte „ursprüngliche Ökonomie“ brachen nicht über Nacht, sondern in einem jahrhundertelangen Prozess liberale Märkte, der „Kapitalismus“, ein. In noch immer faszinierender Weise hat Edward P. Thompson die dabei entstehenden Konflikte für England im 18. Jahrhundert beschrieben, die mit der gesellschaftlichen Durchsetzung der neuen Ordnung enden, die von da aus

14 Vgl. Walter W. Powell: Weder Markt noch Hierarchie: Netzwerkartige Organisationsformen, in: Patrick Kenis, Volker Schneider (Hg): Organisation und Netzwerk. Institutionelle Steuerung von Wirtschaft und Politik, Frankfurt a.M. u.a. 1996, S. 213–271. 15 Powell (1996), S. 217. 16 Oliver E. Williamson: Markets and Hierarchies. Analysis and Antitrust Implications. A Study in the Economics of Internal Organization, New York 1975, S. 20. 17 Vgl. Fernand Braudel: La dynamique du capitalisme, Paris 1985.

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ihren Siegeszug antritt.18 Worauf es hier ankommt, ist, dass diese neue Ordnung, dieses neue institutionelle Arrangement nicht stabil, universal und unpersönlich, sondern eine zeit- und ortsgebundene Schöpfung ist. Märkte sind eben nicht „state of nature“, sondern kulturelle Institutionen.19 In eben diesem Sinne bezeichnet Pierre Bourdieu den „Markt als wissenschaftlichen Mythos“20: „Der sogenannte Markt ist also in letzter Instanz nichts anderes als eine soziale Konstruktion.“21 Bourdieu bevorzugt stattdessen den Begriff des ökonomischen Feldes. Unternehmungen Betrachtet man Unternehmen in der Nachfolge von Coase unter institutionenökonomischen Gesichtspunkten (hierarchische Koordination), dann treten Organisationskosten, vornehmlich Arbeitsüberwachungs- und Qualitätskontrollkosten in den Mittelpunkt. Beides stellt Unternehmen vor ebenso schwierige wie transaktionskostenaufwendige Probleme. War das auch wirtschaftshistorisch gesehen die entscheidende, die zu bewältigende Schwelle bei der Entstehung industrieller Produktionsweisen? Wird diese Frage verfolgt, dann definiert man Unternehmen nicht als Ableger des Marktes, nicht als Marktfolger, sondern sie sind immer schon als übliche Form der Abstimmung vorindustriellen Wirtschaftens vorhanden. Allerdings folgte die Zusammenarbeit in diesen vorindustriellen Organisationseinheiten anderen sozialen, meist gruppenbezogenen Regeln, mit denen etwa auch Opportunismus begegnet wurde. Als Hauptproblem des Umbruches zur Wettbewerbswirtschaft stellt sich in dieser Perspektive die soziale Organisation wirtschaftlichen Handelns in Unternehmen dar (in Analogie zur „Erfindung“ des Marktes). Ihre Nichtbewältigung erklärt auch das Scheitern aller früheren Ansätze zu „industriellen Revolutionen“ vor dem 18. Jahrhundert. Unter Verweis auf die sog. „radikalen“ Ökonomen in der Nachfolge von Marglin22 sagt Reinhard Pirker:

18 Vgl. Edward P. Thompson: The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in: Past and Present 50 (1971), S. 76–136; dt. u.d.T.: Die „moralische Ökonomie“ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: ders.: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1980, S. 67–129. 19 Vgl. Reinhard Pirker: Die Unternehmung als soziale Institution. Eine Kritik der Transaktionskostenerklärung der Firma, in: Günter Ortmann, Jörg Sydow, Klaus Türk (Hg.): Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft, Opladen 1997, S. 67–80, hier S. 73. 20 Pierre Bourdieu: Le champ économique, in: Actes de la recherche en sciences sociales 119 (1997); dt. u.d.T.: Das ökonomische Feld, in: Pierre Bourdieu u.a. (Hg.): Der Einzige und sein Eigenheim, Hamburg 1998, S. 162–204, hier S. 164. 21 Bourdieu (1998), S. 189. 22 Vgl. Stephen A. Marglin: Was tun die Vorgesetzten? Ursprünge und Funktion der Hierarchie in der kapitalistischen Produktion, in: Technologie und Politik 8 (1977), S. 148–203.

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Grundelemente institutionalistischer Theorie „[...] (die Organisation der sozialen Arbeit in Firmen) ist nicht das Resultat der Suche nach einer technologisch überlegenen Arbeitsorganisation, sondern die Arbeitsorganisation entspricht eher den Erfordernissen der sozialen Kontrolle der Arbeiter durch die Unternehmer.“23

Angewandt wurden die Technologien, die zu sozial durchsetzbaren Arbeitskontrollorganisationen passten. Das würde die umstrittene Frage lösen, warum nicht immer die technisch effizienteste Technologie eingeführt wurde. Um funktionsfähige moderne Unternehmen zu institutionalisieren, bedurfte es einer grundlegenden Anpassung des Weltbildes breiter Bevölkerungsschichten, die für den Weg in eine neue, aus älteren sozialen Bezügen gelöste Arbeitswelt bereit sein mussten. Erst mit der Akzeptanz einer neuen Ordnung und Organisation nicht nur der Verfügungsrechte, sondern auch der sozialen Regeln in Unternehmen, wäre demzufolge eine industrielle Ordnung durchsetzbar und effizient geworden. Verwiesen sei hier nur darauf, dass viele Studien mittlerweile gezeigt haben, dass das Schlüsselproblem des Fabrikwesens die Rekrutierung der ersten Generation von Fabrikarbeitern war. Die nächsten Generationen fanden bereits eine ganz andere Lebensund Arbeitswelt vor und wurden in diese neue Ordnung hinein sozialisiert. Property Rights Institutionelle Theorien betrachten nicht die mit bestimmten physischen Merkmalen ausgestatteten Güter, sondern die mit ihnen verbundenen und in Verträgen definierten Property Rights. Güter und Institutionen werden als Bündel von Rechten aufgefasst. Die Verfügungsrechte können sich auf Sachen wie auf Personen (etwa im Arbeitsvertrag) beziehen. „Die zentrale Hypothese des property rights-Ansatzes besteht in der Behauptung, dass die Ausgestaltung der Verfügungsrechte die Allokation und Nutzung von wirtschaftlichen Gütern (Ressourcen) auf spezifische und vorhersagbare Weise beeinflusst.“24

In einer langfristigen historischen Perspektive sehen wir die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verfügungsrechte in ein Geflecht von ökonomischen, sozialen und politischen Rechten und Pflichten des Verfügungsberechtigten, auf dem Land wie in der Stadt, eingebettet. Dies betraf neben den zu leistenden Abgaben und Diensten etwa militärische Verpflichtungen, die Teilhabe und Teilnahme an Gerichtsverhandlungen oder städtische Selbstverwaltungsorgane. Eng begrenzt war der Spielraum individueller Entscheidungsmöglichkeiten speziell durch die herausragende ökonomische Bedeutung gemeinschaftlicher Verfügungsrechte: Das waren auf dem Lande vor allem die von der bäuerlichen Dorfgemeinschaft kollektiv organisierten Praktiken und Termine der Feldbestellung; das waren in der Stadt vor allem die Arbeits-, Qualitäts- und Preisvorschriften der städtischen Zünfte. Im Vordergrund einer an Institutionen interessierten Wirtschaftsgeschich23 Pirker (1997), S. 76. 24 Rudolf Richter: Sichtweise und Fragestellungen der Neuen Institutionenökonomik, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 110 (1990), S. 571–591, hier S. 575.

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te stehen bislang vornehmlich diese exklusiven, andere ausschließenden, gemeinschaftlichen Verfügungsrechte (z.B. an einer Allmende, einer von einem umgrenzten Kollektiv zu nutzenden Weideberechtigung). Norths Sicht der vorliberalen Wirtschaft beschreibt sie als Stadium einer Mangelwirtschaft, in der Teile der Gesellschaft Regeln durchsetzten, um Dritte von knappen Subsistenzmitteln ausschließen zu können. Bei aller Vorsicht gegenüber solchen pauschalen Beschreibungen war es aufs Ganze gesehen ein großer Umbruch der gesellschaftlich dominanten Ordnung der Verfügungsrechte, als sich im Verlauf der Frühen Neuzeit und dort zuerst in den Städten die Eingebundenheit des Eigentums in die ständische Lebensordnung, seine Verquickung mit Herrschaft/Öffentlichkeit/Familie zu lösen begann, als während des 18. Jahrhunderts Eigentum und Herrschaft auch begrifflich auseinandertraten und eine auf die Person bezogene Individualisierung der Verfügungsrechte sich ankündigte. Dieser fundamentale institutionelle Übergang von exklusiven gemeinschaftlichen Property Rights zu exklusiven individuellen Property Rights an Boden wie Arbeitskraft war eine Voraussetzung für den Eintritt in eine Wachstumsökonomie. Bounded Rationality Das in der Neuen Institutionenökonomik herrschende Verhaltensmodell ist das der „Bounded Rationality“. Das Streben der New Institutional Economics nach mehr Wirklichkeitsnähe ließ die Fiktion eines perfekt informierten, vollständig rational maximierenden Entscheidungsträgers unbrauchbar werden: „Thus, the concept of ‚bounded rationality‘ came into existence. The term is used to describe rational choice behavior that is conditioned by the cognitive limits of decision makers - where the limits in question relate not only to the imperfect information possessed by decision makers but also to their restricted capacity for processing information.“25

Mit Herbert A. Simon wird postuliert, „dass die menschliche Rationalität sehr eingeschränkt ist, dass sie situativ und durch die menschlichen Verarbeitungskapazitäten stark begrenzt wird“.26 Simons Konzept einer „begrenzten Rationalität“ sprach dem individuellen Entscheidungsträger eine erweiterte Handlungs- und Lernkompetenz zu. Denn die Begrenztheit seiner Verarbeitungskapazität war nur die eine Seite der Theorie; die andere Seite räumte dem Individuum die Kompetenz ein, den Entscheidungsprozess an einem Punkt abzubrechen, der ihm eine ausreichende Befriedigung seines Bedürfnisses verspricht („Satisfying“). Weitgehend offen blieb allerdings, wodurch dieser Sättigungspunkt bestimmt war. Führte die leitende Forderung der Neuen Institutionenökonomik nach mehr Wirklichkeitsnähe mehrheitlich von Konzepten vollständiger Rationalität zu sol25 Eirik G. Furubotn, Rudolf Richter: Bounded Rationality and the Analysis of State and Society. Editorial Preface, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics 150 (1994), S. 11–17, hier S. 11. 26 Herbert A. Simon: Reasons in Human Affairs, Stanford 1983; dt. u.d.T.: Homo rationalis. Die Vernunft im menschlichen Leben, Frankfurt a.M. u.a. 1993, S. 45.

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chen begrenzter Rationalität, so wurde unter dem Schlagwort „Mental Models“ versucht, der anhaltenden Erklärungsbedürftigkeit der Auswahl und der Sättigungspunkte von Bedürfnissen zu begegnen. Der Begriff in dem hier einschlägigen Sinne wurde von North und Denzau geprägt.27 Inspiriert von kognitionspsychologischen und sozialbiologischen Studien sahen sie die Wahlhandlungen von Individuen durch die von ihnen geteilten „Ideologien“ oder „mentalen Modelle“ entscheidend gelenkt. Der Begriff Ideologie hat hier nicht die im Deutschen oft anzutreffende negative Konnotation, sondern meint jede spezifische Art von Weltdeutung. Die Macht dieser „mental models“ resultiere daher, dass der einzelne Mensch nicht die objektiv gegebene Wirklichkeit wahrnehme und sich daran ausrichte, sondern dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit einen Filter individueller kognitiver Strukturen (aus Wissen und Wertvorstellungen) durchläuft. Die Weltdeutung wird dann nicht angesichts der Objektwelt, sondern durch kognitivmentale Modelle des Subjektes geleistet und dabei möglicherweise verfälscht. Wissen um die Wirklichkeit und Weltdeutung sind darüber hinaus auch keine individuellen Prozesse, sondern sie sind in einen interaktiven, gesellschaftlichen Gruppenprozess eingebunden. Wirtschaftliches Denken und Handeln ist Ergebnis einer gesellschaftlichen Produktion der Wirklichkeit. Auch wenn es dem Mental-Model-Ansatz um die Erweiterung der Handlungstheorie der ökonomischen Theorie in Richtung bislang nicht einbeziehbarer Entscheidungselemente geht, so hält er an zwei für uns zentralen Elementen fest. Erstens: „mental models“ sind nicht als kollektive Weltbilder von Interesse, sondern nur in Bezug auf die individuelle Entscheidung. Zweitens: Der Ansatz hält an der Vorgabe einer gegebenen objektiven Welt fest. Wo Erweiterungen der Rationalitätsannahmen im Sinne der bounded rationality oder der mental models vorliegen, so argumentieren diese weiterhin mit grundlegenden allgemeinmenschlichen Eigenschaften und achten auf die Art und Weise der Regelbildung, nicht auf die Inhalte der Regeln selbst. Der Grund liegt in der Gefahr für den universalistischen Anspruch der Theorie. Der Akteur Auf der Skepsis gegenüber einer grundsätzlichen „universellen Rationalität“, die den Boden für die durch westlichen Ethnozentrismus geprägten Rational-ChoiceModelle abgebe, basiert die Konzeption einer „lokalen, kontextuellen, kulturhistorischen Rationalität“. Sie wird vor dem Hintergrund von ethnologischen und sozialkonstruktivistischen Annahmen vertreten. Danach müsse man die Vorstellung von der „einen Welt“ und ihrer universalen Rationalität im Kopf der Menschen radikal aufgeben. Sinngebungs- und Wahrnehmungsprozesse seien aus einem Homogenitätsmodell zu lösen und die Pluralität kultureller Präferenzbildungen anzuerkennen: 27 Vgl. Arthur T. Denzau, Douglass C. North: Shared Mental Models: Ideologies and Institutions, in: Kyklos 47 (1994), S. 3–31.

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„Die Annahme einer ‚lokal-historischen Rationalität‘ legt die These nahe, dass Bewusstseinsprozesse und -strukturen nicht nach universell gültigen Prinzipien entstehen bzw. sich fortentwickeln, sondern daß sie sich von Anfang an in einem engen Wechselspiel mit kulturellen bzw. historischen Einflussfaktoren befinden. Auf eine kurze Formel gebracht: Bewusstsein und Kultur bedingen und beeinflussen sich gegenseitig. Oder systemisch ausgedrückt: sie ‚koemergieren‘.“28

Rational-Choice-Modelle sind damit – wenn überhaupt – nur auf streng marktförmige Kontexte anwendbar. Diese aber betreffen zum einen nur einen Teilbereich gesellschaftlichen Handelns und werden selbst in entwickelten Marktwirtschaften nur von einem Teil der Akteure beherrscht. Zum anderen gelten selbst in den zentralen Organisationen einer „Marktwirtschaft“ wie dem Markt und dem Unternehmen nicht nur teilweise ‚rationale‘ Wettbewerbsregeln, sondern ebenso in einem großen Umfang sozial-kulturelle Regeln: „Der Bereich der Handlungsentscheidungen, der unter expliziten Vergleichen von erwarteten Kosten erfolgt, ist weitaus kleiner als gemeinhin angenommen, und er variiert nicht nur historisch und kulturell, sondern auch innerhalb eines Institutionenbereichs.“29

Die weitestgehenden Reformulierungen „rationaler“ Verhaltensannahmen finden sich in Überlegungen, retrospektive Verhaltensannahmen einzuführen, nach denen Menschen auf der Grundlage von vergangenen Erfahrungen Entscheidungen für die Zukunft treffen. Ein solches Modell umreißt Krebs: „The decision makers confronts his choice problem with a subjective (and often imperfect) model of the world he inhabits, he optimizes (or otherwise computes) within the model, often using retrospection to estimate important parameters, and he chooses according to what his ‚analysis‘ tells him.“30

Die Masse auch der ökonomischen Handlungsentscheidungen beziehe sich folglich auf eine Wiederanknüpfung an frühere Erfahrungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen. Vergleichbar mit in den Kulturwissenschaften diskutierten erinnerungstheoretischen Ansätzen werden in neuen Situationen Andockmöglichkeiten an die eigenen Erfahrungen gesucht. In vergleichbarer Weise modelliert Bourdieu in Ablehnung ökonomischer Rationalitätstheorien und in expliziter Frontstellung zu Simon31 die Entscheidungsfindung seines Akteurs.32 Die Kritik an den Verhaltensannahmen selbst „eingeschränkter Rationalität“ wird demnach aus mehrfachen Blickwinkeln und unterschiedlichen Disziplinen vorgetragen: Sie fordert 1. die Einbeziehung des (lebens-)geschichtlichen Erfahrungshorizontes, 2. die Aner28 Renaud van Quekelberghe: Klinische Ethnopsychologie. Einführung in die transkulturelle Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie, Heidelberg 1991, S. 12f. 29 Bernhard Giesen: Einige Bedenken gegen den Alleinvertretungsanspruch der Rational Choice Theorie, Diskussionsbeiträge des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs/SFB 485 der Universität Konstanz, Bd. 14, Konstanz 2001, S. 7. 30 David M. Krebs: Bounded Rationality, in: The New Palgrave Dictionary of Economics and Law, London 1998, S. 168–173, hier S. 171. 31 „Die Vernunft (oder Rationalität) ist bounded, begrenzt, und zwar nicht nur, wie Herbert Simon meint, weil der menschliche Geist gattungsmäßig begrenzt ist (was keine Entdeckung wäre), sondern weil er sozial strukturiert und daher beschränkt ist.“ Bourdieu (1998), S. 197. 32 Ebd., S. 167.

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kennung der sozialen Einbettung des Einzelnen und greift schließlich 3. in Konzepten einer Zusammenführung von Psychoanalyse und ökonomischer Theorie in die psychische Fundierung von Handlungen aus: „In entwickelten marktwirtschaftlichen Gesellschaften wird Konsum zu einem besonders geeigneten und bevorzugten Handlungsmuster, um psychische Konflikte/Defizite zu kompensieren. Über die Rationalität oder Nichtrationalität solcher Handlungsmuster lässt sich nur bedingt etwas sagen, solange man die zugrundeliegende Motiv-/Präferenzstruktur nicht miteinbezieht. Phänomene dieser ‚anderen‘ Rationalität finden im Zentrum der Ökonomie, d.h. auf dem Markt statt, und sie scheinen an Bedeutung zuzunehmen […].“33

Es werden wirklichkeitsnahe Verhaltensannahmen gefordert, die – wie der Habitus-Begriff – „zwar nicht ‚rationale‘, wohl aber vernünftige Antizipationen“ hervorbringen.34 Principal-Agent-Theory Die Prinzipal-Agent-Theorie besagt in ihrer Standarddefinition: „Es gibt zwei Wirtschaftssubjekte: den Auftraggeber (Prinzipal) und den Beauftragten (Agent). Der Prinzipal beauftragt einen Vertreter – den Agenten – zur Ausführung einer Leistung in seinem Namen, und zur Erleichterung dieser Tätigkeit überträgt er dem Agenten einen gewissen Entscheidungsspielraum. ... Die Information ist nach Vertragsschluss asymmetrisch.“35

Die Vertragsschließenden haben unterschiedliche Nutzenfunktionen und sind bezüglich des Vertragsgegenstandes unterschiedlich gut informiert. Der Prinzipal als der Beauftragende gilt als der schlechter Informierte. Es ist für ihn mit Kosten verbunden, das Gefälle auszugleichen. Der Agent als der Beauftragte maximiert, z.B. als Arbeitnehmer, daher den Nutzen des Prinzipals nur insoweit, als es in seinem – des Agenten – Eigennutz liegt. Für den Prinzipal – z.B. den Eigentümer eines Unternehmens – stellt sich damit das Problem, ein solches Verhalten zu verhindern. Dazu stehen zwei grundsätzliche Alternativen zur Verfügung: eine möglichst vollständige Überwachung des realen Verhaltens oder eine Festigung der Vertrauensbeziehung zwischen Prinzipal und Agent. Beides ist mit Transaktionskosten verbunden. Neuere Forschungen zur Mikro-Politik haben gezeigt, dass Arbeiter Informationen haben, die sie weitergeben können oder nicht (was man institutionenökonomisch unter den Prinzipal-Agent-Ansatz bei asymmetrischer Information fassen könnte), wobei die spannendste Frage vielleicht ist, wovon diese Weitergabe abhängt.36

33 Klaus Gourgé: Ökonomie und Psychoanalyse. Perspektiven einer Psychoanalytischen Ökonomie, Frankfurt a.M. u.a. 2001, S. 15. 34 Bourdieu (1998), S. 202. 35 Rudolf Richter, Eirik G. Furubotn: Neue Institutionenökonomik, Tübingen 1996, S. 163. 36 Vgl. Thomas Welskopp: Das institutionalisierte Misstrauen. Produktionsorganisation und Kommunikationsnetze in Eisen- und Stahlunternehmen des Ruhrgebiets während der Zwi-

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Relationale Verträge Der „unvollständige“ oder „relationale“ Vertrag bildet eine weitere Komponente der Neuen Institutionenökonomik. Er ist eine Weiterentwicklung eines früheren Ansatzes, dessen Vertragstheorie einen einmaligen, abschließenden und umfassenden Vertragsansatz beinhaltete. Die Kritik daran betonte das Unrealistische dieses Vertragsansatzes, der überdies das Fehlen einer effizienten Ahndung von Verstößen gegen Verträge nicht formulieren konnte. „Der klassische Vertrag ist umfassend. Leistung und Gegenleistung werden für alle Eventualitäten ex ante bis zum Ende der Zeit, über die sich der Vertrag erstreckt, festgelegt. Was die Parteien offen lassen, wird durch Vertragsrecht abgedeckt. Wann der Vertrag beginnt und wann er endet, ist eindeutig bestimmt [...] Der relationale Vertrag lässt dagegen Lücken in den Vereinbarungen (weil es zu kostspielig wäre, sich über alle künftigen Eventualitäten ex ante zu einigen). Die Lücken werden nicht durch Vertragsrecht geschlossen. Der relationale Vertrag ist in ein soziales Beziehungssystem eingebettet, dessen Anfang und Ende nicht genau bestimmbar ist.“37

Wurde die Unternehmung bei Coase noch tendenziell eigentumsrechtlich als Mittel der Machtausübung verstanden, so wird die Unternehmung vor allem bei Williamson38 zum Knotenpunkt von relationalen Verträgen. Kultur Die Leistung von Kultur wird bei Douglass North und den meisten institutionenökonomischen Theoretikern auf das Problem der Koordinierung der schieren Informationsmenge reduziert, die die menschliche Kapazität der Informationsspeicherung und -verarbeitung übersteige. Wer sie beherrscht, kann damit die im Kooperationsprozess aufzubringenden Transaktionskosten senken. Daraus resultiert die verstärkte Beachtung von formlosen Restriktionen, die zur Auffüllung einer schlichten Speichertheorie von Verhaltensalternativen und -steuerungselementen dienen sollen. Doch Kultur erzeugt kein Speicherwissen, sondern ein Wissen, das nie eindeutig ist (wie dies auch die NIE noch unterstellt), das immer der Interpretation, der Deutung bedarf. Entstehung und Wandel von Kultur verweisen auf mehr als bloßes Weitergeben unter Beschränkungen. Deshalb wird von Soziologen und Kulturwissenschaftlern die Sinngebung und Sinndeutung der Lebenswelt als zentrale Leistung von Kultur betrachtet, die sich dazu vieler Institutionen bedient.39 Kultur kann man auch als Chiffre für kollektiv geteilte Sinnmuster beschenkriegszeit, in: Karl-Peter Ellerbrock, Peter Borscheid, Clemens Wischermann (Hg.): Unternehmenskommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Dortmund 2000, S. 199–226. 37 Richter (1990), S. 583. 38 Vgl. Oliver E. Williamson (1985); ders.: Economic Organization: Firms, Markets and Policy Control, Brighton 1986; ders.: The Nature of the Firm: Origins, Evolution, and Development, New York 1991. 39 Vgl. Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1980, besonders S. 56–72.

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zeichnen, die individuelles Denken und Handeln bestimmen. Dies gilt auch für das ökonomische Unternehmen und Volkswirtschaften. Auf die Frage nach wirtschaftlichem Wandel treten dann nicht mehr Institutionen, sondern Institutionalisierungsprozesse von Sinnentwürfen und ihren Regeln in den Mittelpunkt. Als deutlich wurde, dass sein Kulturbegriff nicht zu halten war, schlug North zusammen mit Denzau das Konzept der „Mental Models“ vor.40 North vertrat – bei allen Modifikationen – noch eine Art „Eine-Welt-Modell“, das nicht aufgegeben wird, weil daraus ein zumindest partieller Verzicht auf den Universalitätsanspruch ökonomischer Theorie folgen müsste. 2005 hat sich North von seinen früheren kulturtheoretischen Positionen – zumindest implizit – verabschiedet: „Wenn wir also versuchen, institutionelle Rahmenbedingungen zu gestalten, … dürfen wir keineswegs außer Acht lassen, dass das jeweilige Anreizsystem … eine abhängige Variable des kulturellen Erbes einer bestimmten Gesellschaft ist. Dies ist einer der Gründe, warum Wirtschaftswissenschaftler als Berater anderer Länder so oft falsch liegen. Sie gehen davon aus, dass ein und dasselbe Wirtschaftsmodell überall anwendbar ist. Aber das kulturelle Erbe, das dafür verantwortlich ist, in wieweit wir dieses Wirtschaftsmodell als ein sinnvolles betrachten, ist eben nicht universal.“41

So finden wir North – wohl eher notgedrungen – auf der Suche nach dem Sinn menschlichen Wirtschaftens. In seiner aktuellen Konzeption wird kein universalistisches Modell mehr verfolgt, aber über die Annahme eines kulturellen Erbes und kultureller Vielfalt hinaus kommt er zu keiner positiven Definition. Literatur Bourdieu, Pierre: Le champ économique, in: Actes de la recherche en sciences sociales 119 (1997); dt. u.d.T.: Das ökonomische Feld, in: Pierre Bourdieu u.a. (Hg.): Der Einzige und sein Eigenheim, Hamburg 1998, S. 162–204. Erlei, Mathias/Leschke, Martin/Sauerland, Dirk: Neue Institutionenökonomik, 2. Aufl., Stuttgart 2007. North, Douglass C.: Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge u.a. 1990; dt. u.d.T.: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992. Ders.: Understanding the Process of Economic Change, Princeton 2005. Richter, Rudolf/Furubotn, Eirik G.: Neue Institutionenökonomik, 4. Aufl., Tübingen 2010. Voigt, Stefan: Institutionenökonomik, 2. Aufl., München 2009. Wischermann, Clemens: Von der „Natur“ zur „Kultur“. Die neue Institutionenökonomik in der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Erweiterung, in: Karl-Peter Ellerbrock, Clemens Wischermann (Hg.): Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung der New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 17–30.

40 Vgl. Denzau, North (1994), S. 3–31. 41 Douglass C. North: Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des wirtschaftlichen Wandels, in: Max Miller (Hg.): Welten des Kapitalismus. Institutionelle Alternativen in der globalisierten Ökonomie, Frankfurt a.M. u.a. 2005, S. 127–143, hier S. 137f. Eine ausführliche Darstellung bei North (2005).

2.2 NEOINSTITUTIONALISMUS Thilo Jungkind Der Neoinstitutionalismus entstammt den angelsächsischen Organisationswissenschaften, wo er spätestens seit den 1970er-Jahren etabliert war und seither in vielen Forschungsaktivitäten erweitert und vorangetrieben wird. Seit den 1990erJahren gilt er als einer der führenden konzeptionellen Zugänge und erlangt auch in der deutschen Organisations- und Wirtschaftssoziologie eine immer bedeutendere Rolle. Seine Kernthese lautet: „Die Umwelt von Organisationen besteht aus institutionalisierten Erwartungsstrukturen, die die Ausgestaltung von Organisationen nachhaltig prägen.“1 Damit behaupten die Neoinstitutionalisten, dass die Art und Weise, wie Organisationen wirtschaften, Anerkennung in der Gesellschaft finden müsse. Von dieser Zuschreibung hänge das Überleben der Organisation ab.2 Wenn hier von „Organisationen“ die Rede ist, sind in erster Linie gewinnorientierte Unternehmen innerhalb von Wettbewerbsgesellschaften gemeint.3 Diese Gesellschaften wandeln sich in Raum und Zeit, weshalb sich den Neoinstitutionalisten zufolge auch die Handlungsweisen von Unternehmen ändern müssen. Dieses Postulat zu überprüfen und damit die Funktionsfähigkeit und das Überleben von Unternehmen im Wechselspiel mit gesellschaftlichem Wandel zu analysieren, ruft Wirtschaftshistorikerinnen und Wirtschaftshistoriker auf den Plan. Mehrwert für wirtschafts- und unternehmensgeschichtliches Forschen Es geht in neoinstitutionalistischen Denkfiguren darum, die Funktionsfähigkeit von Unternehmen zu erklären, und zwar ausgehend von der Hypothese, dass sich das gesellschaftliche Umfeld auf eben dieses Funktionieren auswirkt. Diese Aussage erscheint zunächst trivial, doch unterscheidet sie die neoinstitutionalistischen Vorstellungen von Handlungstheorien der rationalen Wahl.4 Die Wirtschaftswissenschaften und deshalb auch viele Wirtschafts- und Unternehmenshistoriker gründen ihre Forschungen auf solche Handlungsmodelle, bei denen das Akteurshandeln von Raum und Zeit abgekoppelt ist. Das Handeln von Menschen und Unternehmen sowie die Funktionsfähigkeit von Märkten werden nur auf Optimali1 2 3 4

Peter Walgenbach, Renate Meyer: Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, Stuttgart 2008, S. 11. Vgl. ebd., S. 12. Die Begriffe Unternehmen und Organisation werden im Neoinstitutionalismus synonym verwendet. Vgl. Walgenbach, Meyer (2008), S. 116.

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tätsbedingungen unter modelltheoretischen Annahmen reduziert. Solche Modelle bieten weder Platz für die Geschichte ökonomisch handelnder Akteure selbst noch für den historischen Kontext, in dem sie sich befinden. Zugespitzt formuliert funktionieren dort Menschen, Märkte und Unternehmen überall und zu jeder Zeit gleich. Gesellschaftliche Erwartungen und Bedürfnisse, Werte und Normen werden aus der Funktions- und Handlungsanalyse individueller und kollektiver ökonomischer Akteure ausgeklammert. Der gesellschaftliche Wertkanon und aus ihm entsprungene Erwartungen werden als stabil und somit nicht als wirkungsmächtig auf das ökonomische Handeln von Unternehmen angesehen. Insgesamt herrschen in ökonomischen Modellen universalistische, also nicht situations- und kontextabhängige Vorstellungen über die Zusammenhänge der Welt, in der ökonomische Austauschbeziehungen stattfinden.5 Der Preis dieser Reduktion ist ein Verlust an Realitätsnähe, wenn es um die Erklärung wirtschaftlichen Handelns geht. Das neoinstitutionalistische Paradigma hingegen geht von einer multikontextuellen und multikausalen Einbettung von Organisationen in ihr gesellschaftliches Umfeld aus. Neu daran ist, dass neben technischen und ökonomischen Umwelten auch kulturelle Umwelten das Fortbestehen von Unternehmen mit bestimmen.6 Damit geht die Annahme einher, dass Handlungen ökonomischer Systeme niemals einer universalen Rationalität folgen. Die raum- und zeitgebundenen Handlungen von Organisationen sind nach der Abwägung der Folgen des Handelns durch die Organisation selbst innerhalb ihres gesellschaftlichen Umfeldes kulturrational. Kulturrationalität bedeutet, dass die Handlungen von Organisationen mit den Erwartungen ihres gesellschaftlichen Umfeldes übereinstimmen müssen, oder anders gewendet: Die Erwartungen dieses gesellschaftlichen Umfeldes sind das Ergebnis der Spielregeln, die sich die Gesellschaft auferlegt hat. Durch die Spielregeln werden historisch-kulturell bedingte Vorstellungen über Rationalität und Regeln rationalen Handelns erzeugt, die von Unternehmen und der Gesellschaft eingehalten werden müssen, wollen sie nicht die Erwartungen des jeweils anderen verletzen. Auf diesen Regeln bauen Ordnungen zwischen Unternehmen und ihrem gesellschaftlichen Umfeld auf, und innerhalb dieser Ordnungen entstehen normative und kulturelle Vorstellungen darüber, wie die Welt ökonomischer Austauschprozesse bzw. ökonomischen Handelns zu funktionieren habe. Das gesellschaftliche Umfeld eines Unternehmens generiert folglich von Zeit und Raum abhängige informative und performative Handlungsräume des Sozioökonomischen.

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Eine gute Zusammenfassung findet sich bei Ulrich Albertshauser: Kompaktlehrbuch Makroökonomie. Wirtschaftspolitik, moderne Verwaltung, Göttingen 2007. Ebenso Gebhard Kirchgässner: Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Tübingen 2008; kritisch dazu Jens Beckert: Die Sittlichkeit der Wirtschaft. Von Effizienz- und Differenzierungstheorien zu einer Theorie wirtschaftlicher Felder, in Berliner Journal für Soziologie 22/2 (2012), S. 247–266, vor allem S. 251ff. Vgl. Konstanze Senge: Das Neue am Neo-Institutionalismus. Der Neo-Institutionalismus im Kontext der Organisationswissenschaft, Wiesbaden 2011, S. 18.

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Die Spielregeln samt ihrer ordnungsgebenden Aufgaben sind, wie Douglass C. North es formuliert hat, formgebundene wie formlose Beschränkungen.7 Sie werden stets neu verhandelt und sie sind damit pfadabhängig – folgen also vergangenen Veränderungsprozessen oder Stabilitäten. Aus diesem Grund unterliegen auch die ökonomischen Verhaltensweisen von Unternehmen Pfadabhängigkeiten, die in jedem räumlichen und zeitlichen Kontext neu ausgehandelt werden müssen.8 Der Neoinstitutionalismus als situative Handlungstheorie fragt nach der Wirkungsmacht dieser multidimensionalen Spielregeln auf Organisationen.9 Organisationale oder eben ökonomische Akteure wie Unternehmen reflektieren nach neoinstitutionalistischen Vorstellungen die sie umgebenden Spielregeln sehr genau: Sie halten sie ein oder müssen – wenn sie dies unterlassen – dafür einen entsprechenden Preis zahlen. Den räumlichen und vor allem episodischen Kontext zu analysieren, in dem die gesellschaftlichen Erwartungen und Spielregeln erzeugt werden, ist das Kerngeschäft von (Unternehmens-) Historikern. Mithilfe eines neoinstitutionellen Ansatzes ist es ihnen möglich, die Wechselbeziehungen zwischen dem kulturrationalen Handeln „der Wirtschaft“ und ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu analysieren. Wirtschaft und Gesellschaft werden damit zu zwei miteinander verwobenen, nicht voneinander getrennt zu deutenden Kategorien. In Wettbewerbsgesellschaften funktioniert das eine nur dann, wenn es die Erwartungen des jeweils anderen achtet. Das liebste Kind des bis heute herrschenden Mainstreams der unternehmensund wirtschaftshistorischen Zunft – nämlich die Kernaussage möglichst „ökonomisch“ im Sinne rationalen Handelns zu formulieren – muss demnach nicht einmal aufgegeben werden, denn: Neoinstitutionalistischen Überlegungen ist ja gerade die Annahme inhärent, dass ein gesellschaftliches Umfeld eine ökonomische Kerngröße darstellt, das in seinem Sinne rationales Handeln einfordert. Gesellschaften formulieren Erwartungen an die ökonomischen Akteure, die diese unter Berücksichtigung der Kosten abwägen. Jedoch ändern sich die Argumente, die bei der Abwägung eine Rolle spielen, und die potenziellen Folgen einer Handlung

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Zum Erwartungsbegriff und zum strategischen Umgang mit Spielregeln aus Sicht der Organisation vgl. Walgenbach, Meyer (2008), S. 123f. Zur Institutionentheorie vgl. Douglass C. North: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992, S. 43ff; neuerdings ders., John Wallis, Barry Weingast: Gewalt und Gesellschaftsordnung. Eine Neudeutung der Staats- und Gesellschaftsordnung, Tübingen 2011, S. 277ff. Vgl. Gili S. Drori, Markus A. Höllerer, Peter Walgenbach: The Globalisation of Organisation and Management: Issues, Dimension and Themes, in: dies. (Hg.): Global Themes and Local Variation in Organisation and Management: Perspectives on Globalization, London u.a. 2014, S. 3–25, hier S. 6–13. Zur Gegenüberstellung von Neuer Institutionenökonomik und Neoinstitutionalismus vgl. Thomas Beschorner: Institutionen – Kultur – Wandel. (Unternehmens-)Theoretische Perspektiven, in: Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) (Hg.): Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung, Marburg 2004, S. 121–154.

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durch Unternehmen zusammen mit dem historisch-kulturellen Kontext.10 Oder etwas ökonomischer formuliert: Jede Entscheidung eines gewinnorientierten Unternehmens bleibt ein nutzenmaximierendes Verhalten. Einzig die zur Entscheidung führenden und abzuwägenden Alternativen – samt den zugrunde liegenden Präferenzen – werden nicht mehr nur innerhalb des Unternehmens selbst produziert und verhandelt. Die Maximierung des Nutzens durch eine Unternehmensentscheidung hängt nicht mehr alleine von Marktgesetzen ab, sondern von der Übereinstimmung der Entscheidung mit gesellschaftlichen Erwartungen. Die Annahmen darüber, was eine nutzenmaximierende Entscheidung herbeiführt und was genau eine nutzenmaximierende Entscheidung ist, sind historische Konstrukte, die sich in einem zusammenhängenden Handlungsraum von Unternehmen und Gesellschaft bilden.11 Ihre Kriterien sind folglich nicht mehr an den effizienz-orientierten Vorgaben einer Handlungstheorie vom Rational-Choice-Typ orientiert. Stattdessen sind die Entscheidungen, die nach neoinstitutionalistischem Denken von einem Unternehmen getroffen werden, abhängig von ihrem institutionellen Kontext und der kulturell-historischen Vielfalt gesellschaftlicher Normen, Werte und Bedürfnisse. Institutionen und institutionelle Dimensionen im Neoinstitutionalismus Der Neoinstitutionalismus ermöglicht eine makroperspektivische Institutionenund Kulturanalyse in Bezug auf gesellschaftliche Erwartungen außerhalb von Unternehmen. Er bietet ein Instrumentarium, mit dessen Hilfe die Wirkung von Institutionen und Kultur auf unternehmerisches Handeln interpretiert werden kann. Startpunkt der empirischen Forschung ist die Analyse der institutionellen wie kulturellen Umwelt von Unternehmen und ihres historischen Wandlungspotenzials. Institutionen werden als „institutionalisierte Regeln, Erwartungen oder Vorstellungssysteme bzw. Interpretationsschemata“ operationalisiert und können in „diesem Sinne [...] als verfestigte soziale Erwartungsstrukturen verstanden werden“.12 Das Verständnis dessen, was als Institution gilt und wie Institutionen sich zeigen, wurde von William Scott präzisiert. Das Ziel seines Schemas ist es, die sozialen Erwartungsstrukturen besser analysierbar zu machen und ihre Auswirkungen auf Organisationen abschätzen zu können. Scott trennt dafür zwischen

10 Zur Operationalisierung in einer unternehmensgeschichtlichen Fallstudie vgl. Thilo Jungkind: Risikokultur und Störfallverhalten der chemischen Industrie. Gesellschaftliche Einflüsse auf das unternehmerische Handeln von Bayer und Henkel seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2013. 11 Zur unterschiedlichen Auslegung und sozialen Konstruktion von Präferenzen vgl. Viktor Vanberg, Nils Goldschmidt (Hg.): Wettbewerb und Regelordnung, Tübingen 2008, hier S. 215ff. 12 Vgl. Walgenbach, Meyer (2008), S. 55.

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regulativen, normativen und kulturell-kognitiven Dimensionen von Institutionen, die außerhalb von Unternehmen existieren.13 Erstens sind Institutionen laut Scott regulierend oder treten in regulativen Formen auf, etwa in Gesetzen. Diese liegen den normativen und kulturellen Dimensionen zugrunde bzw. müssen in wechselseitiger Abhängigkeit dazu gesehen werden. Die gesetzten Regelsysteme hinsichtlich des Verhaltens von Organisationen sind dabei vom gesellschaftlichen Umfeld der Organisation beobacht-, kontrollier- und sanktionierbar. Sowohl das Unternehmen als auch seine gesellschaftliche Umwelt können problemlos Kenntnisse über bestehende Vorschriften und Gesetze erlangen. Da ein (Fehl-)Verhalten möglicherweise sanktioniert wird, haben die Akteure ein Interesse daran, sich gegenüber den vorgegebenen formalen Institutionen konform zu verhalten. Die Erklärung eines Verhaltens folgt einem einfachen Kosten-Nutzen-Kalkül:14 Es spart einem Unternehmen bares Geld, wenn sein Handeln durch die von einer Gesellschaft erschaffenen formalen Regelsysteme legitimiert wird. Zweitens sind Institutionen, die der normativen Dimension zugerechnet werden, vorschreibend, bewertend und verpflichtend: Gesellschaftliche und sozioökonomische Werte und Normen bilden eine beobachtbare Einheit, die gegenüber Unternehmen ausdrückt, was wünschenswert ist. Institutionelle Verpflichtungen werden von den Entscheidern auch außerhalb starrer und formaler Regelsysteme eingefordert, die eine valide Bewertung unternehmerischen Verhaltens möglich machen: Äußere Normative definieren demnach Ziele unternehmerischen Handelns. Normen und Werte tragen zu einer Stabilisierung der Organisation sowie der Stabilisierung von Beziehungen zwischen Organisation und gesellschaftlichem Umfeld bei, da Verhaltenserwartungen maßgeblich das organisationale Handeln beschränken.15 Organisationen und deren Mitglieder befolgen dabei Normen und entwickeln Werte - und zwar nicht, weil dies aufgrund eines KostenNutzen-Kalküls unmittelbar in ihrem Interesse oder aufgrund von Verträgen und Gesetzen durchsetzbar wäre, sondern weil es von außen erwartet bzw. als angemessen betrachtet wird.16 So entsteht ein normativer Zwang, die „Logik der Angemessenheit“ zu befolgen.17 Unternehmen entsprechen den gesellschaftlich akzeptierten Werten und Normen oder erwecken den Anschein, dies zu tun. Diese 13 Vgl. William Scott: Institutions and Organizations. Ideas and Interests, 2. Aufl., Thousand Oaks 2008, S. 52. 14 Vgl. Paul DiMaggio, Walter Powell: The Iron Cage Revisited. Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organisational Fields, in: American Sociological Review 48 (1983), S. 147–160. 15 Vertiefend vgl. Konstanze Senge: Zum Begriff des Neo-Institutionalismus, in: dies., Kai Uwe Hellmann (Hg.): Einführung in den Neoinstitutionalismus, Wiesbaden 2006, S. 35–48. Vgl. ebenso Thomas Beschorner, Alexandra Lindenthal, Torsten Behrens: Unternehmenskultur II. Zur kulturellen Einbettung von Unternehmen, in: Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) (Hg.):, Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung, Marburg 2004, S. 273–309. 16 Vgl. Walgenbach, Meyer (2008), S. 59. 17 Vgl. James March, Johan Olsen: Rediscovering Institutions. The Organizational Basis of Politics, New York 1989, S. 146.

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scheinbare Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen wird als Entkopplung bezeichnet. In jedem Fall erhalten die Unternehmen Zuspruch für ihr Handeln, solange die Entkopplung nicht aufgedeckt wird (was Kritik und Skandale nach sich ziehen würde). Es zeigt sich – so die These der Neoinstitutionalisten –, dass Organisationen symbolisch und/oder intrinsisch motiviert die normativen Vorgaben von außen adaptieren und ihr Handeln danach ausrichten.18 Drittens werden die handlungsbeschränkenden Eigenschaften kulturellkognitiver Dimensionen von Institutionen als besonders wirkungsmächtig angesehen.19 Gemeint sind diejenigen Elemente der die Organisation umgebenden Institutionen, welche die Wahrnehmung der Wirklichkeit in einer Gesellschaft bestimmen oder durch die eine gesellschaftliche Wirklichkeit sinnhaft erschlossen wird.20 Institutionen sind demnach nicht deterministisch, reproduzieren nicht lediglich Handlungen. Vielmehr eröffnen sie einen Möglichkeitsraum von typischen Handlungsmustern. Sie funktionieren einerseits, weil sie durch Handeln zum Leben erwachen, andererseits, weil sie handlungsbeschränkend sind. Sie besitzen die Kraft, eine Wirklichkeit zu erzeugen, die mit Vorstellungen darüber einhergeht, wie die Welt zu funktionieren hat.21 Die kognitiven Prozesse eines organisatorischen Akteurs und seiner einzelnen Mitglieder werden durch diese kulturellen Vorstellungen von Wirklichkeiten außerhalb der Organisation bestimmt. Die umrahmenden Wirklichkeiten eines Unternehmens beeinflussen seine Wahrnehmungen und fordern Interpretationen der Akteure ein, die dann in deren Handeln integriert werden. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, werden im Folgenden die Manifestation und Hervorbringung von Erwartungsstrukturen erörtert. Hierzu muss das Konzept des organisationalen Feldes näher beleuchtet werden. Organisationale Felder Ein organisationales Feld bezeichnet die gesellschaftliche Umwelt von Unternehmen, die multidimensionale Institutionen erschafft: „Umwelt ist ein Sammelbegriff für alles, was außerhalb der Organisation angesiedelt ist und von dem […] angenommen wird, dass es auf Organisation einwirken kann – entweder weil die Umwelt bestimmte Organisationsformen erzwingt […] oder weil sie bestimmte Organisationsentscheidungen nahe legt […]. In dieser Hinsicht besteht die Besonderheit des NI [Neoinstitutionalismus, T.J.] darin, dass er die Prägung von Organisationen durch sog. harte Faktoren – wie technologische Bedingungen, Abhängigkeit von finanziellen und anderen Ressourcen, Marktstrukturen […] etc. – eher gering veranschlagt. Stattdessen werden sog. weiche Faktoren als entscheidende Einflussfaktoren erachtet. Hierzu zählen Werte, Normen

18 Vgl. DiMaggio, Powell (1983), S. 158. Vgl. Heiner Minssen: Unternehmen, in: Andrea Maurer (Hg.): Handbuch der Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden 2008, S. 247–265. 19 Vgl. Scott (2008), S. 55–59. 20 Vgl. Walgenbach, Meyer (2008), S. 59. 21 Vgl. Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 22. Aufl., Frankfurt a.M. 2009, S. 49ff.

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und Ideale guter Praktiken des Organisierens. Nach neo-institutionalistischer Auffassung bil“22 den sie den kulturellen Rahmen, der Organisationen grundlegend beeinflusst.

Organisationale Felder verändern sich stets. Sie sind im Fluss und erzeugen aus der Perspektive einer Organisation einen Bezugsrahmen, der sich auf das Organisationsverhalten auswirkt.23 Die empirische unternehmensgeschichtliche Forschung kann mithilfe der Idee der organisationalen Felder operationalisieren, welche Institutionen für ein zu betrachtendes Unternehmen in seinem historischen Kontext wahrnehmungsrelevant waren und wie sich die Durchsetzungsverhältnisse innerhalb des Feldes gestalteten:24 Waren die historisch gebundenen Erwartungsstrukturen einer Gesellschaft wirkungsmächtig auf unternehmerisches Handeln oder lässt sich der umgekehrte Fall zeigen? Welcher Konsens oder Dissens mit seinem gesellschaftlichen Umfeld hat das Unternehmen zu welcher Zeit bewegt? Welche Anforderungen wurden an das Unternehmen aus welchen Gründen gestellt? Wurden diese Anforderungen im Unternehmen thematisiert, und wenn ja, welche Entscheidungen wurden deshalb getroffen? Diesen Fragen lässt sich in vielen Unternehmensarchiven auf den Grund gehen. Lange Zeit ging die Forschung davon aus, dass organisationale Felder ausschließlich aus Organisationen bestünden, die in direkten Interessensbeziehungen zueinander stehen, und dass diese Beziehungen das organisationale Handeln beeinflussten. Dieser organisationale Zusammenhang konstituiere „in the aggregate, [..] a recognized area of institutional life: key suppliers, ressource and product consumers, regulatory agencies and other organizations that produce similar services or products“25.

Auf die teilweise harsche Kritik, dieses Feldkonzept sei organisationszentriert, unflexibel und teilweise deterministisch, reagieren jüngste Ansätze, indem sie die gesamte relevante Umwelt von Organisationen einbeziehen. Nun werden alle individuellen und kollektiven Akteure, die auf die Struktur, das Verhalten und das Überleben einer betrachteten Organisation Einfluss nehmen könnten, als Teil des Feldes in die Analyse einbezogen: Behörden, Ämter, Presse oder soziale Bewegungen und NGOs gelten als Träger und Erzeuger sozialer Erwartungsstrukturen, die sie transportieren und gegenüber Unternehmen zum Ausdruck bringen können.26 Laut Andrew Hoffmann wird das so erweiterte Feld dann zur unternehmerischen Umwelt „in which competing interests negotiate over issue interpretation“.27 22 Raimund Hasse: Der Neo-Institutionalismus als makrosoziologische Kulturtheorie, in: Konstanze Senge, Kai-Uwe Hellmann (Hg.): Einführung in den Neoinstitutionalismus, Wiesbaden 2006, S. 150–160, hier S. 154. 23 Vgl. Raimund Hasse, Georg Krücken: Neo-Institutionalismus, Bielefeld 1999, S. 16. 24 Vgl. Walgenbach, Meyer (2008), S. 72f. 25 DiMaggio, Powell (1983), S. 148. 26 Vgl. Walgenbach, Meyer (2008), S. 34. 27 Andrew Hoffmann: Institutional Evolution and Change. Environmentalism and the U.S. Chemical Industry, in: Academy of Management Journal 42/4 (1999), S. 351–371, hier S. 360.

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Dieser Feldbegriff macht ein organisationales Feld zu einem Konglomerat, das stetig neue Logiken, Erwartungen und Diskurse hervorbringt, verhandelt und verändert. Aus dieser Perspektive betrachtet, operieren Unternehmen in organisationalen Feldern, die einem gemeinsamen Sinnsystem unterliegen und aus Themen („Issues“) bestehen. Diese Themen werden von allen beteiligten Akteuren verhandelt, sie können von Unternehmen jedoch nur schwer gesteuert werden.28 Unternehmen kooptieren ihre Umwelt demnach nicht einfach; sie interagieren mit ihr und reflektieren sie. Unternehmen werden von ‚ihren‘ Feldern durchdrungen, was den Akteuren aufgrund der angenommenen Offenheit ihres Systems durchaus bewusst ist. Dies führt dazu, dass von außen erwünschtes wirtschaftliches Handeln reflektiert übernommen bzw. innerhalb des Unternehmens implementiert wird oder dass es entsprechende Konsequenzen hat, wenn dies nicht geschieht.29 Damit eröffnet der Neoinstitutionalismus eine Makroperspektive, die davon ausgeht, dass Organisationen in „larger systems of relations“ eingebettet sind.30 Die Ausrichtungen an den Vorgaben des Feldes können von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich ausfallen, was u.a. mit der Größe des Unternehmens, internen Dynamiken, der Unternehmenskultur und der Art von Beziehungen zu Anspruchsgruppen zusammenhängen kann.31 Die Rolle eines Unternehmens als Mitglied des organisationalen Feldes ist somit aufgrund der inhärenten Felddynamik in ständiger Bewegung. Dies ist gleichbedeutend mit der historisch gebundenen, sich aber stets wandelnden Rolle eines Unternehmens im gesellschaftlichen und sozioökonomischen Geflecht seines organisationalen Feldes. Doch warum lassen Unternehmen diese Rollenveränderung zu, warum reagieren sie adäquat darauf, oder warum erwecken sie zumindest den Eindruck, dies zu tun? Welche Gründe nennt der Neoinstitutionalismus dafür, dass Unternehmen sich so anders verhalten, als ökonomische Handlungstheorien es ihnen vorschlagen und unterstellen würden? Unternehmen und Entscheider sind „keine Trottel“, lautet auch der neoinstitutionalistische Tenor.32 Die Antwort auf diese Frage liegt

28 Vgl. Beschorner, Lindenthal, Behrens (2004), S. 291. 29 Ebd., S. 290–292; hierzu auch Walgenbach, Meyer (2008), S. 75. 30 Vgl. William Scott, John Meyer: The Organization of Societal Sectors: Propositions and Early Evidence, in: Walter Powell, Paul DiMaggio (Hg.): The New Institutionalism in Organizational Analysis, Chicago u.a. 1991, S. 108–140. Zur Einbettungshypothese der Theorie mit wirtschaftshistorischem Hintergrund ebenso Neil Fligstein: The Structural Transformation of American Industry. An Institutional Account of the Causes of Diversification in the Largest Firms, 1919–1979, in: Walter Powell, Paul DiMaggio (Hg.): The New Institutionalism in Organizational Analysis, Chicago u.a. 1991, S. 311–336. 31 Vgl. Walgenbach, Meyer (2008), S. 77–80. Zur Entkräftung von Kritik vgl. Jutta BeckerRitterspach, Florian Becker-Ritterspach: Organisationales Feld und gesellschaftlicher Sektor im Neo-Instititutionalismus, in: Konstanze Senge, Kai-Uwe Hellmann (Hg.): Einführung in den Neoinstitutionalismus, Wiesbaden 2006, S. 118–136, hier S. 132–135. 32 Vgl. Rao Hayagreeva, Henrich Greve, Gerald Davis: Fool’s Gold. Social Proof in the Initiation and Abandonment of Coverage by Wall Street Analysts, in: Administrative Science Quarterly 46 (2001), S. 502–526.

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stattdessen im Konzept der Legitimität und im Akteursverständnis des institutionalistischen Ansatzes. Legitimität und Entkopplung Beim Auftreten von Widersprüchen und Konflikten zwischen unternehmerischem Handeln und Erwartungen der gesellschaftlichen Umwelt kommt es den Neoinstitutionalisten zufolge zu einer Anpassung der formalen Strukturen, Managementund Organisationspraktiken des Unternehmens.33 Ob eine oberflächliche Herbeiführung von Übereinstimmung – eine wie oben beschriebene „Entkopplung“ tatsächlicher Praktiken – funktioniert, wurde von den Theoretikern von Beginn an kritisch beurteilt. Weder das Management sei bereit, etwas zu implementieren, das nicht von Nutzen ist, noch ließen sich gesellschaftliche Umwelten lange „an der Nase herumführen“.34 Sowohl entkoppelte Verhaltensweisen eines Unternehmens als auch solche, die aus voller Überzeugung wahrhaftig und tatsächlich stattfinden, werden im Neoinstitutionalismus mit dem Konzept der Organisationslegitimität begründet. Organisationen benötigen demzufolge mehr als nur materielle Ressourcen und aufgabenbezogene Informationen; es bedarf einer grundlegenden Akzeptanz und Glaubwürdigkeit des sichtbaren Handelns der Organisation.35 Für die unternehmens- und wirtschaftshistorische Forschung „rücken die institutionelle Konstruktion von Rationalität und Effizienz sowie das Legitimitätspotenzial von Praktiken und Strukturen, die als ‚natürlich‘, ‚normal‘ und ‚angemessen‘ oder mit Sachzwängen begründet in organisationalen Feldern etabliert sind oder in dieses eingeführt werden, ins Blickfeld“36.

Legitimität wird dabei jedoch nicht als spezielle Ressource verstanden, die ebenso wie andere Ressourcen in (ökonomischen) Transaktionsbeziehungen eingesetzt werden kann. Sie stellt vielmehr eine notwendige Bedingung dar, in der sich die Übereinstimmung der Organisation mit gesellschaftlich geteilten Werten, normativen Erwartungen sowie mit allgemeinen Regeln und Gesetzen widerspiegelt. Die Legitimität seiner Handlungen ist für das Überleben und Funktionieren des Unternehmens von entscheidender Bedeutung.37 „Legitimacy is a generalized percep33 Vgl. John Meyer, Brian Rowan: Institutionalized Organizations. Formal Structure as Myth and Ceremony, in: American Journal of Sociology 83 (1977), S. 340–363. 34 Frederick Hilmer, Lex Donaldson: Management Redeement, New York 1997, S. 67. 35 Vgl. John Meyer, William Scott: Centralization and the Legitimacy Problems of Local Government, in: Organizational Environment. Ritual and Rationality, 2. Aufl., Beverly Hills 1983, S. 199–215. Kritisch zum Legitimitätskonzept im Neoinstitutionalismus vgl. Robin Stryker: Legitimacy Processes as Institutional Politics. Implications for Theory and Research in the Sociology of Organizations, in: Research in the Sociology of Organizations 17 (2000), S. 179–223. 36 Walgenbach, Meyer (2008), S. 70. Ebenfalls Kai-Uwe Hellmann: Organisationslegitimität im Neo-Institutionalismus, in: Konstanze Senge, ders.(Hg.): Einführung in den Neoinstitutionalismus, Wiesbaden 2006, S. 75–89. 37 Vgl. Walgenbach, Meyer (2008), S. 12–13.

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tion or assumption that the actions of an entity are desirable, proper, or appropriate within some socially constructed systems of norms, values, beliefs, and definitions.“38 Folglich werden eine Organisation und ihre Handlungsweisen als legitim betrachtet, wenn ihre Aktivitäten innerhalb gesellschaftlicher Werte, Normen und Vorstellungen wünschenswert und richtig erscheinen. In diesem Fall wird Legitimität zugesprochen; sie wird vom gesellschaftlichen Umfeld des Unternehmens gemäß dessen Überzeugungen verliehen und ist für ein Unternehmen keine Selbstverständlichkeit. Eine solche Sichtweise auf die möglichen Folgen einer Unternehmenshandlung hat Auswirkungen darauf, wie sich die Neoinstitutionalisten die Entscheider für oder gegen eine Handlung vorstellen. Auf das Akteursverständnis soll im Folgenden eingegangen werden; damit verbunden sind theoretische Erörterungen von Macht und strategischem Handeln. Akteure, strategisches Handeln und Macht Die Vorstellung eines neoinstitutionalistischen Akteurs ähnelt jener der Organisation selbst: „Der Akteur ist […] ein agenthafter Akteur, der auf der Basis institutionalisierter oder kultureller Regelungen autorisiert ist, für sich selbst, für andere (Akteure oder Nicht-Akteure) oder für den kulturellen Rahmen zu handeln.“39

Auf den ersten Blick scheint es, als fügten organisationale Akteure sich bereitwillig und passiv in ihre institutionellen Umwelten; scheinbar haben sie keine (Eigen-)Interessen und Machtpotenziale, die ein strategisches Handeln ihrerseits unterstützten.40 Dabei muss jedoch die oben erwähnte Tatsache bedacht werden, dass Unternehmen offene Systeme sind und ihre Entscheider durchaus reflektiert im Einklang mit der gesellschaftlichen Umwelt nutzenmaximierende Handlungen vollziehen. Insbesondere durch das neuartige Verständnis der Wirkungsmächtigkeiten multidimensionaler Institutionen im Gefolge des Scott’schen Modells veränderte sich die Sichtweise auf Akteure, strategisches Handeln und Macht. Akteure – etwa in der Gestalt unternehmerischer Entscheider – werden innerhalb dieses theoretisch-konzeptionellen Gebäudes nicht als unreflektiert dargestellt, und sie fügen sich nicht einfach allen institutionalisierten Erwartungen. Vielmehr handeln sie durchaus in ihrem eigenen Interesse beziehungsweise in jenem der Organisation. Allerdings werden diese Interessen durch eine spezifische historische Situation bestimmt: Die vorherrschenden Themen außerhalb der Organisation sind einzig der Verortung der Organisation in genau diesem historischen 38 Mark C. Suchman: Managing Legitimacy: Strategic and Institutional Approaches, in: Academy of Management Review 17 (1995), S. 571–610, hier S. 604. 39 Walgenbach, Meyer (2008), S. 126. 40 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1972, S. 28f., 122f., 541f. Ebenfalls aus rein neoinstitutionalistischer Sicht im Kontext der Diskussion um strategisches Handeln vgl. Christine Oliver: Strategic Responses to Institutional Processes, in: Academy of Management Review 16 (1991), S. 145–179.

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Setting geschuldet. Daher sind die Handlungsstrategien der so gedachten Akteure am sozioökonomischen, kulturellen und gesellschaftlichen Alltag ausgerichtet. Obwohl das Eigeninteresse weiterhin handlungsleitend ist, ist die Handlung selbst nicht die eines Rational-Choice-Modells.41 Strategisches oder rationales Handeln wird als ein mögliches – und nicht wie in universalistischen Theorien der Ökonomik als allgemeingültiges – Handlungsprinzip betrachtet. Damit darf strategisches Handeln auch als Ziel interpretierenden Handelns angesehen werden.42 Aus dieser Perspektive „wird darauf hingewiesen, dass die ökonomische Rationalität der Nutzenmaximierung wiederum selbst nur eine mögliche, sozial konstruierte und daher historisch und kulturell gebundene Rationalität ist […]“43.

Der Neoinstitutionalismus zeichnet also ein Bild von Interessen, Machtinteressen, Akteuren und Handlungen, das anderen Organisationstheorien vollkommen widerspricht. Rationale Akteure und autonome Entscheidungen verlieren ihren Glanz zugunsten sozialer Akteure, deren Interessen institutionell definiert sind. Interessen und strategisches Verhalten werden als vom kulturellen Rahmen abgeleitete Kategorien behandelt, oder anders ausgedrückt: Unternehmerische Entscheider nehmen die Selbstverständlichkeiten ihres wie auch des gesellschaftlichen Alltages in bestimmten historischen Situationen unterschiedlich wahr. Sie messen bestimmten Themen unterschiedliche Relevanz bei. Auf Basis ihres vergangenheitsorientierten Wissens erarbeiten sie Strategien, die für die entsprechende konstitutiven Ordnungsverhältnisse zwischen Unternehmen und gesellschaftlicher Umwelt zielführend im Sinne des Unternehmens sind. Dabei sind ihre Präferenzen nicht stabil, sondern verändern sich vor allem in Krisenzeiten rapide, wenn der institutionelle Kontext und die kulturelle Rahmung dies für wünschenswert halten, und folgerichtig ändern sich dann auch die Machtverhältnisse zwischen Unternehmen und gesellschaftlichem Umfeld. Fazit Der neueste Versuch, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften durch kulturwissenschaftliche Überlegungen miteinander zu verbinden, steht unter dem Signum Wirtschaft – Kultur – Geschichte.44 Gefragt wird dort wieder einmal nach 41 Vgl. John Meyer, Ronald Jepperson: The ‚Actors‘ of Modern Society: The Cultural Construction of Social Agency, in: Sociological Theory 18 (2000), S. 100–120, hier S. 116. 42 In Bezug auf Organisation und Umwelt vgl. Georg Schreyögg: Organisation. Grundlagen moderner Organisationsgestaltung, 5. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 278. Ebenso Charles E. Weick: Macking Sense of the Organisation, Oxford 2001, S. 46. 43 Walgenbach, Meyer (2008), S. 119–120. Vgl. ebenfalls Rainer Lepsius: Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung von Rationalitätskriterien, in: Gerhard Göhler (Hg.): Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden 1995, S. 58–69. 44 Vgl. Susanne Hilger, Achim Landwehr: Zur Einführung. Wirtschaft – Kultur – Geschichte: Stationen einer Annäherung, in: dies. (Hg.): Wirtschaft – Kultur – Geschichte, Stuttgart 2011, S. 7–27.

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Grundelemente institutionalistischer Theorie

den Gründen für ökonomisches Handeln in unterschiedlichen historischen Situationen, wofür aber nicht ökonomische, sondern kulturelle oder soziale Anreize verantwortlich gewesen seien. Mit anderen Worten sollen Zusammenhänge und vor allem Wirkungsmächtigkeiten zwischen Wirtschaft und Gesellschaft hergestellt werden. Die Idee ist, wirtschaftliches Handeln historisch zu kontextualisieren und damit realitätsnaher darzustellen, als die meisten ökonomischen (Handlungs) Theorien dazu imstande sind. Sollte eine solche Verbindung konzeptionelltheoretisch begründet und empirisch überprüft werden können, dann wäre die unternehmensgeschichtliche Kernfrage nach der historisierbaren Funktionsfähigkeit, dem Fortbestehen und den Handlungsweisen von Unternehmen neu perspektiviert. Es scheint, als ob diese Herausforderung neue Faszination erlangt. Hierfür muss der Blick über den Tellerrand des wirtschafts- und unternehmenshistorischen Mainstreams hinausreichen. Eine nicht universalistisch argumentierende und interdisziplinär anschlussfähige Perspektive sollte zum StandardRepertoire der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden, damit heutiges Handlungswissen von Unternehmen und Volkswirtschaften in einen historischkulturellen Kontext gesetzt werden können. Diesen Schritt zu wagen, scheuen viele Unternehmenshistorikerinnen und Unternehmenshistoriker aber immer noch, obwohl eine theoretisch-konzeptionelle Lösung des Problems im Neoinstitutionalismus mit all seinen Anschlussmöglichkeiten parat liegt. Unternehmen sind Teile der Gesellschaft. Ihre Aktivitäten können und dürfen nicht getrennt von ihrer Gebundenheit an Zeit und Raum betrachtet werden – der Neoinstitutionalismus ist mit dem Ziel angetreten, genau dies zu berücksichtigen, d.h. die Funktionsfähigkeit und das Überleben eines Unternehmens durch seine Zugehörigkeit zu seinem sozioökonomischen, kulturellen und gesellschaftlichen Umfeld in all ihren Wechselspielen zu deuten. (Unternehmens- und Wirtschafts-)Historiker sind in der Lage, über methodologische und konzeptionelle Fähigkeiten zu verfügen, die es ihnen erlauben, Unternehmen und Gesellschaften in ihren diversen Ausprägungen zu analysieren. Der Neoinstitutionalismus eignet sich hervorragend dafür, in unternehmenshistorischen Fallstudien eingesetzt zu werden, damit eine realitätsnahe Betrachtung der historischen Wirklichkeit des unternehmerischen Alltages gelingt. Dieser Alltag ist immer auch ein gesellschaftlicher Alltag: Die Menschen vor den Werkstoren sind erstens seit dem letzten Drittel des letzten Jahrtausends zusehend kritischer gegenüber Unternehmen geworden und zweitens daran interessiert, dass ihre Erwartungen gegenüber Unternehmen Beachtung finden. Wirtschafts- und Unternehmenshistoriker, die sich dieser Sichtweise versperren oder sie bestenfalls als Beiwerk in ihren Analysen und Erkenntnisinteressen beachten, werden immer nur eine funktionalistisch verkürzte Darstellung von Unternehmen in liberalen Wettbewerbsordnungen liefern können. Das Zusammenleben von Wirtschaft und Gesellschaft unterliegt stets einem gemeinsamen historischen Sinnsystem, und wie sich dieses Zusammenleben und Zusammen-Funktionieren verhält, wird von beiden Parteien beeinflusst. Historisch definierte Fehlverhalten werden sanktioniert, historisch definierte wünschenswerte Handlungen honoriert, und zwar auf beiden Seiten. Jede Verhaltensweise hat ihren Preis, ob nun monetär zu beziffern oder in

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sozialen Kosten aufzurechnen. Um die Verhaltensweisen eines Unternehmens aus der Retrospektive ganzheitlich zu verstehen, müssen die Wirkungsmächtigkeiten zwischen Wirtschaft und Gesellschaft anerkannt werden. Neuere Entwicklungen im Rahmen des Neoinstitutionalismus bieten einen konsistenten Ansatz, der das Potenzial hat, einen Paradigmenwechsel im Fach Unternehmensgeschichte auszulösen. Literatur Hasse, Raimund/Krücken, Georg: Neo-Institutionalismus, 2. Aufl., Bielefeld 2005. Jungkind, Thilo: Risikokultur und Störfallverhalten der chemischen Industrie. Gesellschaftliche Einflüsse auf das unternehmerische Handeln von Bayer und Henkel seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2013. Scott, William: Institutions and Organizations. Ideas and Interests, 2. Aufl., Thousand Oaks 2008. Senge, Konstanze: Das Neue am Neo-Institutionalismus. Der Neo-Institutionalismus im Kontext der Organisationswissenschaft, Wiesbaden 2011. Walgenbach, Peter/Meyer, Renate E.: Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, Stuttgart 2008.

3. THEORETISCHE ANSCHLUSSMÖGLICHKEITEN Thilo Jungkind Sowohl die Neue Institutionenökonomik wie auch der Neoinstitutionalismus bieten neben ihrer überzeugenden Darstellung der Gründe für wirtschaftliches Handeln aus einer analytischen Sicht vor allem eines: Anschlussmöglichkeiten für Theorien, die bei der Gestaltung wirtschafts- und unternehmensgeschichtlicher Realität auf handelnde Akteure setzen. Aus einer eher makroperspektivischen Sicht werden solche Anschlussmöglichkeiten durch die Beiträge von Martin Lutz und Clemens Wischermann dargelegt. Rabea Limbach und Katja Patzel-Mattern zeigen mit ihren Beiträgen, wie sich soziale und persönliche Beziehungen sowie Distinguiertheiten und Konstitutionen auf wirtschaftliches Handeln auswirken. Ein noch deutlicher kulturwissenschaftlich perspektivierter Ansatz zur Ergänzung institutionalistischer Theorien wird von Sandra Schürmann eingeführt. Akteure und Erfolgsgaranten ökonomischen Handelns müssen aus der Sicht der Akteur-Netzwerk-Theorie keine Menschen, sondern können ebenso Dinge sein. Schürmann stellt die theoretischen Anschlussmöglichkeiten für die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte vor.

3.1 AKTEURSZENTRIERTER INSTITUTIONALISMUS Martin Lutz Entstehungskontext Schärfer lässt sich wissenschaftliche Kritik kaum formulieren: Als „ill-defined concept“ bezeichnet der Politologe Fritz Scharpf in seinem spieltheoretischen Grundlagenwerk „Games Real Actors Play“ den analytischen Fokus, das epistemologische Selbstverständnis und damit das theoretische Herzstück der Neuen Institutionenökonomik. Seine Kritik bezieht sich auf den Begriff Institution. Sie zielt insbesondere auf die Annahme ab, dass institutionelle Rahmenbedingungen die Handlungsrationalität von Akteuren „begrenzen“ und damit ihre Erwartungen von Kosten und Nutzen einer Handlung entscheidend beeinflussen. Diese handlungstheoretische Grundannahme einer „begrenzten Rationalität“ (bounded rationality) steht in der Tradition von Rational-Choice-Ansätzen. Sie geht davon aus, dass Menschen strategisch versuchen, durch „rationale“ Entscheidungen ihren persönlichen Nutzen zu maximieren. Besonders Douglass North hat es in der Wirtschaftsgeschichte und auch darüber hinaus zu Prominenz und Einfluss gebracht. Scharpf hingegen argumentiert, wirklichkeitsnahe Akteure könnten nicht nach den Prämissen einer eng definierten Rationalitätsannahme modelliert werden. Menschen folgten demnach nicht unbedingt den Regelvorgaben ihrer institutionellen Umwelt, auch wenn diese mit Sanktionsmechanismen behaftet sind. Vielmehr reagieren sie unterschiedlich auf Einflüsse der Umwelt, weil sie sich in ihren Wahrnehmungsmustern und intrinsischen Motivationen unterscheiden. Scharpf und Renate Mayntz sehen in institutionellen Faktoren lediglich einen „stimulierenden, ermöglichenden oder auch restringierenden“1 Handlungskontext, schreiben ihnen jedoch keine determinierende Wirkung zu. Vielmehr, und darin besteht der Kern ihres akteurszentrierten Institutionalismus, können Institutionen einerseits als unabhängige Variable verstanden werden (in dem Sinne, dass sie menschliche Entscheidungen beeinflussen), andererseits auch als abhängige Variable (Präferenzen von Akteuren beeinflussen die Genese von Institutionen). Der Begriff Präferenz, der die Handlungsmotivation eines Akteurs beschreibt, nimmt in diesem theoretischen Ansatz aus dem politikwissenschaftlichen NeoInstitutionalismus eine tragende Rolle ein.

1

Renate Mayntz, Fritz Scharpf: Der Ansatz des akteurszentrierten Institutionalismus, in: dies. (Hg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, Frankfurt a.M. 1995, S. 39– 72, hier S. 43.

Akteurszentrierter Institutionalismus

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Zentrale Beiträge und Autoren Eine ähnliche Zielrichtung wie Scharpf/Mayntz hat der Historische Institutionalismus. Politikwissenschaftler wie Kathleen Thelen und Sven Steinmo stellen ebenfalls den Präferenzbegriff ins Zentrum ihrer theoretischen Überlegungen. Im Gegensatz zu Douglass North lehnen sie wie auch Peter Hall und Theda Skocpol starre Rationalitätsmodelle ab, in denen Akteure Entscheidungen im Hinblick auf einen erwarteten Nutzen treffen. Stattdessen argumentieren sie, Rationalität sei etwas Subjektives und Akteure könnten unterschiedliche Ziele entwickeln und versuchen, diese im Rahmen des institutionellen Kontextes umzusetzen. Während Rational-Choice-Theorien von stabilen Präferenzen ausgehen, nimmt der Historische Institutionalismus die Formierung subjektiver Präferenzen von Akteuren in den Blickpunkt: „We need a historically based analysis to tell us what [actors] are trying to maximize and why they emphasize certain goals over others.“2 Der Kernunterschied zwischen Rational-Choice-Ansatz und Historischem Institutionalismus besteht darin, dass Ersterer Präferenzen als exogene und damit objektivierbare Variablen betrachtet (das heißt, alle Akteure folgen den gleichen nutzenmaximierenden Handlungsprämissen), während Letzterer die endogene und damit subjektive Entwicklung von Präferenzen berücksichtigt. Die Kognitionspsychologie stützt diese Kritik an herkömmlichen institutionalistischen Ansätzen. So kommt etwa der Psychologe Daniel Kahneman auf Basis jahrzehntelanger empirischer Forschungen zu dem radikalen Schluss, das Theoriegebäude von Rational-Choice sei als falsifiziert anzusehen.3 Für die Neue Institutionenökonomik birgt dies ein Problem, das ihren Kern berührt: Wenn Akteure im Rahmen eines institutionellen Kontextes nicht „rational“ handeln, also diese zentrale Prämisse wegbricht, stellt sich die Frage, ob damit nicht das ganze Theoriegebäude einstürzt. Einen gangbaren Ausweg aus diesem theoretischen Problem zeigen seit Mitte der 1990er-Jahre die neuen akteurszentrierten Ansätze auf, die in der Wirtschaftsgeschichte bislang kaum rezipiert worden sind. Ihre Vertreterinnen und Vertreter plädieren für einen integrierten theoretischen Rahmen, der zum einen Institutionen als exogene Einflussvariablen auf menschliches Handeln, zum anderen subjektive, internalisierte Präferenzen berücksichtigt. In den Worten von Mayntz und Scharpf bleibt die „Analyse von Strukturen ohne Bezug auf Akteure […] genauso defizitär wie die Analyse von Akteurshandeln ohne Bezug auf Strukturen“4. 2

3

4

Kathleen Thelen, Sven Steinmo: Historical Institutionalism in Comparative Politics, in: dies., Frank Longstreth (Hg.): Structuring Politics. Historical Institutionalism in Comparative Analysis, Cambridge 1992, S. 1–32, hier S. 9. Daniel Kahneman: Thinking, Fast and Slow. New York 2011, S. 374; vgl. auch Daniel Kahneman: A Psychological Perspective on Economics, in: The American Economic Review 93/2 (2003), S. 162–168. Mayntz, Scharpf (1995), S. 45; vgl. auch Mark Aspinwall, Gerald Schneider: Institutional Research on the European Union: Mapping the Field, in: dies. (Hg.): The Rules of Integration. Institutionalist Approaches to the Study of Europe, Manchester 2001, S. 1–18, hier S. 10.

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Theoretische Anschlussmöglichkeiten

Zentrale Fragestellungen und Modelle Scharpf/Mayntz plädieren für ein enges Institutionenverständnis, das sich auf deren Regelungsaspekt konzentriert.5 So begegnen sie der Gefahr einer allzu starken Ausweitung des Institutionenbegriffes, die ihn unscharf machen würde. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn darunter eine Vielzahl von Handlungseinflüssen, etwa die vom Akteur nicht mehr bewusst hinterfragten Praktiken des Alltagslebens, gefasst würden. Dem entgegen stellen Mayntz und Scharpf ein Verständnis von Institutionen, die zwar Handeln ermöglichen oder einschränken, nicht aber determinieren können. Damit soll der Akteur als Subjekt ernst genommen werden: Institutionen strukturieren seinen Handlungskontext in formal-rechtlicher wie in informell-kultureller Hinsicht; Entscheidungen aber trifft der Akteur. Wie lassen sich nun Akteure im Rahmen eines akteurszentrierten Institutionalismus analytisch fassen? Zunächst einmal verändert sich die Bedeutung des Rationalitätsbegriffes für die Handlungstheorie vollkommen: Der „rationale“ Homo Oeconomicus, dessen Handlungsrationalität nur durch die institutionellen Rahmenbedingungen seiner Umwelt eingegrenzt ist, wird begraben. An seine Stelle tritt ein Akteur, der zwar ebenfalls seinen Nutzen maximieren möchte, aber dessen Definition von Nutzen sich an individuellen Präferenzen, Fähigkeiten, Wahrnehmungen und Mentalitäten orientiert. Douglass North hat dies zwar bereits erkannt und mit den Begriffen „mental models“ und „belief systems“ erste Impulse geliefert, diese Einflussfaktoren auf menschliches Handeln zu berücksichtigen. Letztlich hat er aber den Boden der Rational-Choice-Theorie nie verlassen.6 Rationalität beschreibt nach Viktor Vanberg nun lediglich den Zusammenhang zwischen den Handlungsintentionen eines Akteurs und seinen tatsächlichen Handlungen, trifft jedoch kein Urteil über deren inhaltliche Qualität: „Wie exzentrisch auch immer die Präferenzen und Theorien eines Handelnden sein mögen, solange sein Handeln mit ihnen logisch konsistent ist, ist es im Sinne des Rationalitätsprinzips als rational anzusehen.“7

Jakob Tanner spricht in diesem Zusammenhang von „truly bounded rationality“ im Gegensatz zur ökonomischen „costly bounded rationality“. Sie träfe im Übrigen auch nicht nur auf individuelle, sondern ebenso auf kollektive Akteure zu.8 Internalisierte Präferenzen, welche die intrinsischen Motivationen und die Hand5 6

7

8

Mayntz, Scharpf (1995), S. 45. Douglass C. North: Understanding the Process of Economic Change, Oxford u.a. 2005, S. 2; Arthur T. Denzau, Douglass C. North: Shared Mental Models: Ideologies, and Institutions, in: Kyklos 47 (1994), S. 3–31, hier S. 4. Viktor Vanberg: Rationalitätsprinzip und Rationalitätshypothesen. Zum methodologischen Status der Theorie rationalen Handelns, in: Hansjörg Siegenthaler (Hg.): Rationalität im Prozess kultureller Evolution. Rationalitätsunterstellungen als eine Bedingung der Möglichkeit substantieller Rationalität des Handelns, Tübingen 2005, S. 33–63, hier S. 36. Jakob Tanner: Die ökonomische Handlungstheorie vor der „kulturalistischen Wende“? Perspektiven und Probleme einer interdisziplinären Diskussion, in: Hartmut Berghoff, Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a.M. 2004, S. 69–98.

Akteurszentrierter Institutionalismus

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lungsziele von Akteuren bestimmen, bilden neben institutionellen Strukturen den zweiten Baustein des akteurszentrierten Institutionalismus. „Causality flows both ways – while agents choose institutions, institutions then constrain agents.“9

Leistungen, heutiger Stand Der akteurszentrierte Institutionalismus bietet hervorragende Anschlussmöglichkeiten an theoretische Strömungen in Politikwissenschaft, Soziologie, Anthropologie und in der Kognitionspsychologie.10 Er füllt auch die große Lücke der menschenleeren institutionellen Strukturgeschichte à la Douglass North, in der wichtige Fragen wie nach Brüchen in Pfadabhängigkeiten und nach institutionellem Wandel nicht beantwortet wurden.11 Darüber hinaus – und für die Wirtschaftsgeschichte besonders wichtig – ermöglicht der akteurszentrierte Institutionalismus die Anbindung an einen breiten historiografischen Diskurs um das Verhältnis zwischen Individuum und Struktur, der in den letzten Jahren wieder an Bedeutung gewonnen hat.12 Literatur Mayntz, Renate/Scharpf, Fritz: Der Ansatz des akteurszentrierten Institutionalismus, in: dies. (Hg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung. Frankfurt a.M. 1995, S. 39–72. Scharpf, Fritz: Games Real Actors Play. Actor-Centered Institutionalism in Policy Research. Boulder 1997. Schmid, Michael/Maurer, Andrea: Institution und Handeln, in: dies. (Hg.): Ökonomischer und soziologischer Institutionalismus. Interdisziplinäre Beiträge und Perspektiven der Institutionentheorie und -analyse. 2. Aufl., Marburg 2006, S. 9–46.

9 Aspinwall, Schneider (2001), S. 10. 10 Vgl. dazu Andrea Maurer, Michael Schmid: Die ökonomische Herausforderung der Soziologie?, in: dies. (Hg.): Neuer Institutionalismus. Zur soziologischen Erklärung von Organisation, Moral und Vertrauen, Frankfurt a.M. u.a. 2002, S. 9–38, hier S. 10f.; Michael Schmid, Andrea Maurer: Institution und Handeln, in: dies. (Hg.): Ökonomischer und soziologischer Institutionalismus. Interdisziplinäre Beiträge und Perspektiven der Institutionentheorie und analyse, 2. Aufl., Marburg 2006, S. 9–46; Steffen Huck: Institutions and Preferences: An Evolutionary Perspective, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics 153/4 (1997), S. 771–779; Siegwart Lindenberg: The Cognitive Turn in Institutional Analysis: Beyond NIE and NIS?, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics 154/4 (1998), S. 716–727. 11 Bei aller berechtigter Kritik an Douglass C. North ist allerdings zu betonen, dass er bereits 2005 auf zentrale Aspekte hingewiesen hat, die im akteurszentrierten Institutionalismus betont werden. Vgl. North (2005), S. 48f. 12 Vgl. Simone Lässig: Introduction. Biography in Modern History – Modern Historiography in Biography, in: dies., Volker R. Berghahn (Hg.): Biography between Structure and Agency. Central European Lives in International Historiography, New York 2008, S. 1–26, hier S. 30.

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Theoretische Anschlussmöglichkeiten

Thelen, Kathleen/Steinmo, Sven: Historical Institutionalism in Comparative Politics, in: dies./Frank Longstreth (Hg.): Structuring Politics. Historical Institutionalism in Comparative Analysis, Cambridge 1992, S. 1–32. Vanberg, Viktor: Rationalitätsprinzip und Rationalitätshypothesen. Zum methodologischen Status der Theorie rationalen Handelns, in: Hansjörg Siegenthaler (Hg.): Rationalität im Prozess kultureller Evolution. Rationalitätsunterstellungen als eine Bedingung der Möglichkeit substantieller Rationalität des Handelns, Tübingen 2005, S. 33–63.

3.2 VARIETIES OF CAPITALISM-ANSATZ Clemens Wischermann Entstehungskontext In die Wirtschaftsgeschichte sind in den letzten Jahren mit zunehmender Intensität globale Perspektiven eingezogen, die über die klassische Superfrage nach den Ursachen von Wachstum und Wohlstand hinausgehen. Es geht dabei nicht nur um eine räumliche Erweiterung einer europäisch-nordamerikanisch verengten Sicht auf dem Weg in eine industrielle und postindustrielle Wettbewerbswirtschaft, sondern auch um eine theoretisch-methodische Neuorientierung. Sie soll eine bessere Einsicht in Entwicklungsmuster von kapitalistischen Marktwirtschaften bieten. Einmal mehr geht es um Märkte und ihre Autonomie versus ihre Einbettung in Kulturen. Osterhammel und Petersson konstatieren: „Wenn es ein allgemeines Einverständnis unter den Autoren der unterschiedlichsten Richtungen gibt, dann liegt es in der Annahme, Globalisierung stelle die Bedeutung des Nationalstaates in Frage und verschiebe das Machtverhältnis zwischen Staaten und Märkten zugunsten letzterer.“1

Wo die Nationalstaaten zurückträten, da verstärke sich allerdings das Gewicht der lokalen Kultur: „Ein zweites Merkmal von Globalisierung, über das Einigkeit herrscht, ist ihr Einfluss auf all das, was man unter – ‚Kultur‘ – zusammenfasst.“2 Viele Beobachter haben daraufhin gemutmaßt, es werde bald nur noch eine westliche Massenkultur und ebenso nur noch eine globale liberale Marktwirtschaft geben.3 Beides ist in dieser Form nicht eingetreten. In wirtschaftlicher Hinsicht registriert man stattdessen erstaunt die Vielfalt des Kapitalismus und fragt nach deren Ursachen und Leistungen. Zentrale Beiträge und Autoren Die von den Vertretern des Varieties of Capitalism-Ansatzes (VoC) oder Compared Capitalism-Ansatzes (CC) entwickelte Hauptthese besagt, es gebe in globalem Maßstab viele Spielarten des Kapitalismus. Das ist im Grunde eine alte Debatte der Wirtschaftsgeschichte, die wir in der Frage von Wirtschaftsstilen oder Industrialisierungstypen schon immer geführt haben. Neu aufgelegt wurde sie mit der Aufregung über die erstaunliche Leistungsfähigkeit der japanischen Wirt1 2 3

Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung, München 2003, S. 11. Ebd., S. 11f. Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, München 1992.

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Theoretische Anschlussmöglichkeiten

schaft in den 1980er-Jahren, verglichen mit den „alten“ Industrieländern. In der internationalen Diskussion wurde die Unternehmenskultur oder allgemein die „Einbettung“ einer jeden Marktwirtschaft in ihre soziale Umwelt als wichtiger Faktor der Wirtschaftsleistung entdeckt. Verstärkt wurden diese Überlegungen durch die Folgen des Zusammenbruches der Sowjetunion und der übrigen Staaten einer sozialistischen Planwirtschaft. Es schien seit dem Ende des Kalten Krieges weltweit nur mehr eine wirtschaftliche Option verblieben, die des siegreichen Kapitalismus. Nachdem der durch den Kalten Krieg auf den Gegensatz von sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften versus liberalen Marktwirtschaften festgehaltene Blick seit 1989 sich öffnen konnte, kamen aber verstärkt die Unterschiede zwischen den existierenden Marktwirtschaften in den Fokus? Dies war die Ausgangslage für die Frage, ob der moderne Kapitalismus nun zu einem einzigen Grundmodell konvergieren würde oder ob eine kapitalistische Wirtschaft viele Stile, nationale Muster und kulturelle Muster annehmen konnte. Die Compared Capitalism-Forschung vertrat vehement die These von der Existenz einer Variety of Capitalism in Abhängigkeit von der Struktur des institutionellen Arrangements der Wirtschaft.4 Zentrale Fragestellungen und Modelle Ausgangspunkt aller Konzepte war, dass die Konvergenzannahme hin auf einen einzigen Weg sich nicht bestätigte, was sie nach neoklassischen Grundannahmen eigentlich hätte tun müssen. In der Neoklassik spielt das institutionelle Arrangement abseits reiner Marktfähigkeit bekanntlich keine Rolle: „In the neoclassical view, the price mechanism in competitive markets leads to the most efficient outcome (with some minor exceptions). The state plays only a small role in correcting market failures. Moreover, if markets are unfettered, no important institutional differences between national economies should exist, and they should converge in market organization and performance.“5

Wenn statt Konvergenz der Marktwirtschaften nun Spielarten des Kapitalismus zu beobachten waren, dann führte das für Jackson und Deeg zu drei theoretischen Optionen: „Erstens: Nationale Ökonomien werden durch institutionelle Konfigurationen geprägt, die auf jeweils eigene ‚systemische Logiken‘ wirtschaftlichen Handelns hinwirken. Zweitens: Die Comparative-Capitalism-Literatur beinhaltet eine Theorie der komparativen institutionellen 4

5

Vgl. Peter A. Hall, David Soskice: Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001; Colin Crouch: Capitalist Diversity and Change. Recombinant Governance and Institutional Entrepreneurs, Oxford 2005; Peter A. Hall: Stabilität und Wandel in den Spielarten des Kapitalismus, in: Jens Beckert, Bernhard Ebbinghaus, Anke Hassel, Philip Manow (Hg.): Transformationen des Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2006, S. 181–204. Gregory Jackson, Richard Deeg: How Many Varieties of Capitalism? Comparing the Comparative Institutional Analyses of Capitalist Diversity, MPIfG Diskussion 2/06, Köln 2006, S. 7.

Varieties of Capitalism-Ansatz

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Vorteile, der zufolge institutionellen Konfigurationen spezifische Wettbewerbsvorteile zugeordnet werden können. Zudem, drittens, beinhaltet die Comparative-Capitalism-Literatur auch eine implizite Theorie der Pfadabhängigkeit.“6

Die Operationalisierungen des Varieties of Capitalism-Ansatzes konzentrierten sich bald auf Ähnlichkeiten und Unterschiede im institutionellen Arrangement und gingen davon aus, dass seine Elemente untereinander eng vernetzt waren: „In sum, the CC literature looks at economic activity as being socially embedded within institutional contexts and compares theses contexts across different scales, such as sectors, regions and especially nations. Institutions are seen as creating a particular contextual ‚logic‘ or rationality of economic action […].“7

Die meisten Analysen bildeten auf der Grundlage von statistischen Daten sog. building blocks, darunter financial systems, corporative governance, inter-firm relations, industrial relations, skill creation, work organization (production models), welfare state, innovation systems, mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und Kreativität. Diese building blocks setzte man dann mit unterschiedlichen Methoden in Beziehung, um letztlich Typen zu entwickeln. Nachdem Albert bereits 1993 die populäre Unterscheidung eines rheinischen und eines angelsächsischen Kapitalismus vorgelegt hatte, gab der Varieties of Capitalism-Ansatz nun die Gelegenheit zu einer Flut von Kapitalismus-Modellen und -typologien, die mal nach europäischen Himmelsrichtungen, mal nach Erdteilen, elaborierter dann in einer Kombination von Muster und geografischer Lage (Allianz Capitalism: Deutschland und Japan; Dirigiste Capitalism: Frankreich und Südkorea; Family Capitalism: Italien und Taiwan) orientiert waren. Soskice und Hall hatten noch an marktwirtschaftliche „Produktionsregime“ im Vergleich von Volkswirtschaften gedacht: liberal market economies und coordinated market economies. ‚Governance approaches‘ waren in der Folge bestrebt, diesen Ansatz über die Alternative von Markt oder Hierarchie hinaus auf weitere politische und soziale Koordinationsmechanismen auszuweiten. Leistungen und heutiger Stand Die Comparative-Capitalism-Diskussion suchte die Ursachen primär in Ähnlichkeiten und Unterschieden des institutionellen Arrangements von nationalen Ökonomien, denen sie komparative Wettbewerbsvorteile zuschrieb. Der Forschungsstand war sehr geprägt von der Präsentation immer weiterer Typen und Typologien von Kapitalismen, die ganz überwiegend auf nationalstaatlicher Basis modelliert wurden. Der Grund lag schlicht im methodischen Vorgehen: Es wurden statistische Querschnittssammlungen von Daten auf nationalem Level über eine Reihe von Indikatoren benutzt. Das machte den Zugriff leicht und versperrte zugleich oft den Zugang zur sozialen und kulturellen Einbettung und zu Sinnentwür6 7

Jackson, Deeg (2006), S. 3. Ebd., S. 12.

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Theoretische Anschlussmöglichkeiten

fen von Spielarten des Kapitalismus. Zwar wurde neben institutional interdependence die social embeddedness als wichtigste Erklärungsebene für die Stabilität nationaler Ökonomien hervorgehoben, doch dafür fehlten in den Domains weitgehend die Indikatoren. Frühere Hauptvertreter des Varieties of Capitalism-Ansatzes wie Wolfgang Streeck sehen ihre Ambitionen und Hoffnungen mittlerweile als nicht erfüllbar an.8 In einem harten Schwenk der leitenden Hypothesen betont Streeck, statt Varieties gehe es heute vielmehr um „commonalities of capitalism“: „I suggest that gradual change in a given institution – or in part of a social order – can be identified and assessed only in the context of other institutions, or in systemic context.“9

Wenn Streeck sich nun auf die Suche nach commonalities statt nach varieties begibt, zeigt das auch, in welcher gesamtgesellschaftlichen Einbettung die Konzepte selbst sich bewegen. Dennoch ist die Neuauflage der Kapitalismus-Debatte hilfreich für Gegenwartsanalysen wie auch historische Analysen. Denn sie lenkt den Blick darauf, dass es nicht nur ein universales Modell eines effizienten institutionellen Arrangements gibt.10 Auf diese eine effiziente Spielart unter gezieltem Einsatz der informellen kulturellen Regeln hatten noch die New Institutional Economics im Sinne von Douglass C. North gesetzt. Die Varieties of CapitalismDebatte arbeitet hingegen heraus, dass es auch für eine Markt- und Wettbewerbswirtschaft keine letztgültige Spielart als Gleichgewicht ihrer Elemente gibt. Literatur Crouch, Colin: Capitalist Diversity and Change. Recombinant Governance and Institutional Entrepreneurs, Oxford 2005. Hall, Peter A./Soskice, David: Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001 Jackson, Gregory/Deeg, Richard: How Many Varieties of Capitalism? Comparing the Comparative Institutional Analyses of Capitalist Diversity, MPIfG Diskussion 02/06, Köln 2006. Osterhammel, Jürgen/Petersson, Niels P.: Geschichte der Globalisierung, München 2003. Streeck, Wolfgang: Re-Forming Capitalism. Institutional Change in the German Political Economy, Oxford 2009.

8

Vgl. Wolfgang Streeck: Re-Forming Capitalism. Institutional Change in the German Political Economy, Oxford 2009. 9 Ebd., S. 2. 10 Vgl. Werner Abelshauser, David A. Gilgen, Andreas Leutsch (Hg.): Kulturen der Weltwirtschaft, Göttingen 2012.

3.3 SOZIALE NETZWERKE Rabea Limbach Entstehungskontext Unter dem Begriff des „sozialen Netzwerkes“ subsumieren sich theoretische Konzepte und Modellannahmen, die einen spezifischen Blickwinkel auf historische Vergesellschaftungsformen ermöglichen. Innerhalb der Soziologie, der Politikwissenschaft oder der Wirtschaftswissenschaft werden Netzwerkkonzepte auf vielfältige Weise für die Analyse moderner Gesellschaften genutzt.1 Innerhalb der Geschichtswissenschaft haben entsprechende Analysekonzepte in den vergangenen zwei Jahrzehnten Zuspruch gefunden.2 Das Netzwerk ist, soziologisch gedacht, zwischen Individuum (Mikroebene) und Gesellschaft (Makroebene) angesiedelt, da es als Beziehungsgeflecht einzelne Personen mit ihrer sozialen Umwelt verbindet. Mithilfe von Netzwerkkonzepten werden Interaktions- bzw. Kommunikationsprozesse von Akteuren im Wechselspiel mit ihrer sozialen Umwelt analysiert. Netzwerke bilden eine grundlegende Sozialstruktur, aus der gesellschaftliche Entwicklungsprozesse hervorgehen. Eine Verknüpfung mit Institutionentheorien bietet sich in der Wirtschaftsgeschichte an, um der Entwicklung und der Wirkung von Institutionen auf die Spur zu kommen, oder mit den Worten des Wirtschaftshistorikers Mark Casson: „Networks are a powerful way of understanding the historical evolution of economic and social institutions.“3 Zentrale Beiträge und Autoren Netzwerke organisieren bzw. koordinieren Aktivitäten – so ein Kerngedanke der historischen Netzwerkforschung. In der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung bilden „unternehmerische Netzwerke“ einen wichtigen Forschungsgegenstand. Sie werden betrachtet als „moderne und zugleich auch historische Organisations1

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Vgl. Dorothea Jansen: Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele, 3. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 11; Michael von Bommes, Veronika Tacke, (Hg.): Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, Wiesbaden 2011; Guido Caldarelli, Michele Catanzaro: Networks. A Very Short Introduction, Oxford 2012. Vgl. Peter Hertner: Das Netzwerkkonzept in der historischen Forschung, in: Michael von Bommes, Veronika Tacke (Hg.): Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, Wiesbaden 2011, S. 67–88, hier S. 67. Mark Casson: Networks in Networks in Economic and Business History: A Theoretical Perspective, in: Andreas Gestrich, Margrit Schulte Beerbühl (Hg.): Cosmopolitan Networks in Commerce and Society, London 2011, S. 17–49, hier S. 17.

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Theoretische Anschlussmöglichkeiten

form ökonomischer Aktivitäten“4. Die innerhalb der Wirtschaftsgeschichte bestehende Vielfältigkeit des Begriffes, die dahinterstehenden Konzepte und ihre Nutzung hat Mark Casson in seinem Aufsatz „Networks in Economic and Business History“5 systematisch erfasst und kritisch zur Diskussion gestellt. Je nach Forschungsprojekt und Fragestellung gilt es demnach an die diversen Theorieangebote anzuknüpfen. Beispielhaft präsentiert der Sammelband „Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft?“ von Hartmut Berghoff und Jörg Sydow eine Vielzahl unternehmerischer Netzwerke und ihre Erforschung. Zentrale Fragestellungen und Modelle Mit netzwerktheoretischem Fokus wird in der Wirtschaftsgeschichte vielfältigen Fragestellungen nachgegangen. Neben der Struktur von Netzwerken lassen sich auch deren Entstehungsprozess und ihre Entwicklung nachvollziehen. Es wird nach der Bedeutung von Netzwerken für die Weitergabe und Durchsetzung von Innovationen sowie für die Finanzierung und die Interaktion von Unternehmen (wie Kapital- und Personalverflechtungen) gefragt. Netzwerke werden innerhalb von einzelnen Unternehmen untersucht, aber auch unternehmensübergreifend. Und schließlich sind sogenannte „dunkle Netzwerke“, wie Netzwerke des Schmuggels, zu Forschungsgegenstanden avanciert. Netzwerke sind Sozialstrukturen, die nicht nur auf Grundlage ökonomischer Motivlagen und Handlungsmuster geknüpft werden. Vielmehr spielen auch „ethnische, religiöse, freundschaftliche und verwandtschaftliche Netzwerke“6 eine Rolle, die Einfluss auf das Wirtschaften einzelner Akteure oder Gruppen nehmen. Zentral ist bei alledem die Frage, welche Funktion oder welche Auswirkungen die jeweiligen Netzwerke für die Wirtschaftsentwicklung beziehungsweise die wirtschaftenden Akteure hatten. In diesem Kontext sind einige theoretische Konzepte und ihre Operationalisierung diskutiert worden. Hartmut Berghoff und Jörg Sydow plädieren für eine „Netzwerktheorie, die historisch sensitiv ist und Entwicklungsprozesse mit ihren Pfadabhängigkeiten abzubilden vermag“7. Einen ähnlichen Schwerpunkt legt

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Vgl. Hartmut Berghoff, Jörg Sydow: Unternehmerische Netzwerke. Theoretische Konzepte und historische Erfahrungen, in: dies. (Hg.): Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft?, Stuttgart 2007, S. 9–44. Vgl. Casson (2011). Vgl. Berghoff, Sydow (2007), hier S. 9; sowie Adelheid von Saldern: Unternehmerfamilien und ihre Verwandten. Die Schoeller-Häuser im frühen 19. Jahrhundert, in: Susanne Hilger, Ulrich S. Soénius (Hg.): Netzwerke – Nachfolge – soziales Kapital. Familienunternehmen im Rheinland im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2009a, S. 25–44; Ulrich S. Soénius: Ehe- oder Geschäftspartner? Familien-Netzwerke bei den Textilindustriellen Scheidt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Hilger, Soénius (2009a), S. 45–54. Berghoff, Sydow (2007), hier S. 12.

Soziale Netzwerke

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Adelheid von Saldern, wenn sie sich für einen weiten Netzwerkbegriff8 ausspricht. Diese drei Wissenschaftler sprechen sich gegen eine Stilisierung von Netzwerken als effiziente und zukunftsweisende Organisationsform des Wirtschaftens aus. Netzwerke bilden Sozialstrukturen, in denen ambivalente Entwicklungen auftreten können. Die Bedeutung des Netzwerkes ist abhängig von „zahlreichen, meist historisch gewachsenen, technologischen, soziokulturellen, politischen und ökonomischen Umständen“9. Ihre Genese, die Ausgestaltung und die Wirkungen in verschiedenen historischen Kontexten bilden Forschungsfragen, die empirisch untersucht werden müssen. Leistungen und heutiger Stand Um den Begriff des sozialen Netzwerkes für eine Analyse historischer Untersuchungsgegenstände nutzbar zu machen, kann auf soziologische Definitionen zurückgegriffen werden, da hier bereits vielfältige theoretische Vorüberlegungen und Studien existieren. Ebenso wie in der Soziologie gibt es auch in der Wirtschaftsgeschichte eine Vielfalt von Netzwerkdefinitionen.10 Das soziale Netzwerk bildet grundsätzlich eine Strukturbezeichnung. Es wird innerhalb der Gesellschaft von der Vernetzung eines Akteurs mit zahlreichen weiteren Akteuren ausgegangen, was zu vielfältigen, zeitlich parallel und versetzt stattfindenden Formen von Kommunikation und Austausch führt. Netzwerke werden aktiv unterhalten. Sie werden durch die vorherrschenden Institutionen, ökonomische oder soziale Interessenlagen sowie Hierarchien der Akteure untereinander beeinflusst. Netzwerke werden aufgrund ihrer informellen Grundlegung und der relativen Eigenständigkeit der Akteure als hochdynamische und wandelbare Phänomene angesehen. Die sich in ihnen manifestierenden Normen, Regeln und Gewohnheiten können aber ebenso zu einer gewissen Statik bis hin zu Rigidität führen, die Akteure in ihrem Handeln zur Anpassung geradezu zwingen können.11 Ein Problem ist die Abgrenzung des Netzwerkes von anderen Sozialstrukturen. Dies liegt darin begründet, dass die Qualität der Beziehungen, die ein Netzwerk begründen, in der Theorie selten präzisiert wird. Dies ermöglicht es, Netzwerke überall dort zu finden, wo Menschen interagieren. Die gefürchtete „Banalisierung“ von Netzwerken bildet daher eine Herausforderung beim Umgang mit diesen Ansätzen.12 Integriert das soziale Netzwerk institutionentheoretische Ansätze, so kann das Netzwerk selbst als eine komplexe, vorrangig über informelle Sozialbeziehungen konstruierte Institution angesehen werden, die Akteure in ihrem Handlungsspiel8

Vgl. Adelheid von Saldern: Netzwerkökonomie im frühen 19. Jahrhundert. Das Beispiel der Schoeller-Häuser, Stuttgart 2009b. 9 Berghoff, Sydow (2007), hier S. 12. 10 Vgl. Casson (2011), S. 18. 11 Berghoff, Sydow (2007), hier S. 18. 12 Vgl. Hertner (2011), hier S. 67.

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Theoretische Anschlussmöglichkeiten

raum begrenzt bzw. ihr Handeln beeinflusst.13 Die Untersuchung der Beziehungen von Akteuren als Netzwerk hilft darüber hinaus, ihre Interaktion und Kommunikation auf die Entwicklung und das Wirken von in der Gesellschaft bestehenden Institutionen hin zu befragen.14 Der hier entworfene Ansatz ermöglicht, das Handeln Einzelner im Wechselverhältnis zu ihrer sozialen Umwelt nachzuvollziehen und dadurch der Komplexität ökonomischer Entwicklungsprozesse im Kleinen auf die Spur zu kommen. Netzwerktheoretische Konzepte werden aber auch zu quantitativen Analysen und den aus Netzwerkstrukturen resultierenden ökonomischen Entwicklungsprozesse genutzt, indem quantitativ die Verbindungen von Akteuren durch ihr ökonomisches und soziales Interagieren erhoben werden. Literatur Berghoff, Hartmut/Sydow, Jörg (Hg.): Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft?, Stuttgart 2007. Casson, Mark: Networks in Economic and Business History: A Theoretical Perspective, in: Andreas Gestrich/ Margrit Schulte Beerbühl (Hg.): Cosmopolitan Networks in Commerce and Society, London 2011, S. 17–49. Hertner, Peter: Das Netzwerkkonzept in der historischen Forschung, in: Michael von Bommes/ Veronika Tacke (Hg.): Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, Wiesbaden 2011, S. 67–86. Jansen, Dorothea: Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele, 3. Aufl., Wiesbaden 2006. Marx, Christian: Wirtschaftliche Netzwerke, in: Europäische Geschichte Online (EGO); http://www.ieg-ego.eu/de/threads/ europaeische-netzwerke/wirtschaftliche-netzwerke/ christian-marx-wirtschaftliche-netzwerke (Zugriff 21.11.2013).

13 Vgl. Susanne Hilger, Joachim Landwehr: Zur Einführung. Wirtschaft – Kultur – Geschichte: Stationen einer Annäherung, in: dies. (Hg.): Wirtschaft – Kultur – Geschichte: Positionen und Perspektiven, Stuttgart 2011, S. 7–26, hier S. 15. 14 Vgl. von Saldern (2009b), S. 15f.

3.4 INTERSEKTIONALITÄT Katja Patzel-Mattern Entstehungskontext Der Begriff Intersektionalität erfasst Ansätze, die Wechselwirkungen von Differenzkategorien untersuchen. Differenzkategorien sind Konzepte und Praktiken, anhand derer Menschen sich selbst oder andere innerhalb eines sozialen Gefüges verorten. Auf diese Weise werden Ein- bzw. Ausschlüsse vorgenommen. Konkret geschieht dies ganz wesentlich über die Kategorien Geschlecht, Ethnie und Klasse.1 Entstanden ist das wissenschaftliche Konzept der Intersektionalität Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre. In der historischen Umbruchsituation am Ende des Kalten Krieges war eine neue Sicht auf Unterdrückungsverhältnisse möglich. Eindimensionale Erklärungsansätze wie der der kapitalistischen Produktionsverhältnisse oder des Patriachats schienen nicht mehr allein geeignet, vielfältige gesellschaftliche Hierarchisierungen zu erklären. Die Position von Frauen in der Gesellschaft ließ sich nicht länger ausschließlich durch ihre ökonomische und eigentumsrechtliche Benachteiligung oder eine männliche Dominanz bestimmen. Dabei war über Grenzen der genannten älteren Ansätze bereits früher diskutiert worden. Die Anfänge finden sich im angloamerikanischen Black Feminism.2 Betroffene und Wissenschaftlerinnen in Europa und den USA wiesen seit den 1970er-Jahren darauf hin, dass die damaligen feministischen Debatten die Erfahrungswelten schwarzer Frauen nicht wiedergäben.3 Angesichts ethnischer Ausgrenzungen und sozialer Differenzen greife die Konzentration auf die Kategorie Geschlecht zu kurz. Auch könne vor diesem Hintergrund nicht allgemein von weiblicher Solidarität oder einem Wir-Gefühl innerhalb der Geschlechtergruppe ausgegangen werden. Vielmehr sei es, um Herrschaftsverhältnisse zu erfassen, notwendig, Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Unterdrückungsdimensionen in den Blick zu nehmen. So sei die Wahrnehmung einer afroamerikanischen Frau in den USA eben nicht nur durch ihr Geschlecht, sondern auch durch ihre Hautfarbe und ihre soziale Stellung geprägt.

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Eine kurze Zusammenfassung der unterschiedlichen Positionen bietet das Werk von Gabriele Winker, Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheit, Bielefeld 2009, S. 15–16. Vgl. A Black Feminist Statement (1977), in: Gloria Anzaldúa, Cherrie Cherrie Moraga (Hg.): This Bridge Called my Back: Writings by Radical Women of Color, New York 1981, S. 210– 218. Exemplarisch Hazel V. Carby: White Woman Listen! Black Feminism and the Bounderies of Sisterhood, in: dies. (Hg.): The Empire Strikes Back: Race and Racism in 70s Britain, London 1982, S. 212–235.

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Theoretische Anschlussmöglichkeiten

Auch in Deutschland waren es vielfach Frauen mit spezifischer Diskriminierungserfahrung, die seit den 1980er-Jahren bisher leitende Vorstellungen der Frauenbewegung und -forschung infrage stellten. Frauen mit Behinderung verwiesen darauf, dass Aspekte patriarchaler Unterdrückung ihnen gegenüber different artikuliert würden.4 Migrantinnen machten darauf aufmerksam, dass die Bedingungen von Wanderung und Leben im Aufnahmeland bisher kaum Beachtung gefunden hätten.5 Außerdem seien gebräuchliche Dichotomien vereinfachend. Dies betreffe insbesondere die Gegenüberstellung von traditionell-patriarchalen und modern-westlichen Gesellschaften, letztlich zwischen Islam und Christentum, wie sie die Frauenbewegung betone.6 Auf diese Weise könne gesellschaftliche Realität nicht erfasst werden. Zentrale Beiträge und Autoren Ausgehend von erfahrungsweltlicher Kritik und vor dem Hintergrund des weltpolitischen Umbruches orientierte sich die Geschlechterforschung wissenschaftlich neu. Konzeptionell sowie für die Namensgebung zentral ist die Untersuchung „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex“ der Juristin Kimberlé Crenshaw.7 Die Studie über die Rechtsprechung in den USA und ihre Diskriminierungswirkung wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt der heterogenen, vielstimmigen Kritik. Sie trug dazu bei, Überlegungen zu bündeln. Ansätze, die eindimensionale Betrachtungen überwinden wollten, ohne bisher ein Konzept zu teilen, wurden nun zusammengeführt. Es entwickelten sich, so die Soziologin Kathy Davis, unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in den USA und Europa. In den USA waren identitätspolitische Überlegungen prägend. Sie beförderten die Artikulation von Ansprüchen und Interessen sozialer Gruppen sowie deren inneren Zusammenhalt. Demgegenüber wurde in Europa über die Ausgestaltung wie die Zusammenstellung der zentralen Kategorien diskutiert. Wissenschaftlerinnen auf dem Kontinent bemühten 4

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Exemplarisch Gerlinde Barwig u.a.: „Ungleiche Schwestern?“ Frauensolidarität -Frauenkonkurrenz zwischen behinderten und nichtbehinderten Frauen, in: Gerlinde Barwig, Christiane Busch (Hg): „Unbeschreiblich weiblich!?“ Frauen unterwegs zu einem selbstbewußten Leben mit Behinderung, München 1993, S. 99–110. Exemplarisch Chong-Sook Kang: Von Selbstbestimmung keine Rede. Frauen im Ausländer Innen- und Asylrecht, in: Ika Hügel, Chris Lange, May Ayim (Hg.): Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung, Berlin 1993, S. 238–254; Sedef Gümen: Die sozialpolitische Konstruktion kultureller Differenz in der bundesdeutschen Frauen- und Migrationsforschung, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 19/42 (1996), S. 77– 98. Stellvertretend für die Debatte Olga Uremović, Gundula Oerter: Frauen zwischen Grenzen. Rassismus und Nationalismus in der feministischen Diskussion, Frankfurt a.M. u.a. 1994. Kimberlé Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. Feminist Theory and Antiracist Politics, in: The University of Chicago Legal Forum Volume: Feminism in the Law: Theory, Practice and Criticism (1989), S. 139–167.

Intersektionalität

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sich um eine Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht.8 Auch ersetzten sie die Kategorie race durch Ethnizität, was zu Perspektivverschiebungen führt.9 Die Bedeutsamkeit der Trias von class – race – gender, die in den USA weitgehend akzeptiert ist, wird in Europa infrage gestellt. So plädieren, wie Gabriele Winker und Nina Degele ausführen, einige Wissenschaftlerinnen für eine Erweiterung der Trias um die Sexualität, andere fordern die Berücksichtigung auch von Aspekten wie Alter oder Religion oder möchten darüber hinaus noch zusätzliche Kategorien in den Blick nehmen. Bei aller Unterschiedlichkeit ist es intersektionalen Analysen aber gemein, dass sie Reduktionismus vermeiden möchten. Sie streben danach, Einzelelemente nicht isoliert, sondern in ihren wechselseitigen Verflechtungen zu betrachten. In diesem Bewusstsein können die Kategorien einer Analyse nur in Abhängigkeit vom jeweiligen Erkenntnisinteresse zusammengestellt werden.10 Es sind gerade die konzeptionelle Offenheit und die daraus resultierende Vielgestaltigkeit, die eine Stärke intersektionaler Ansätze darstellen. Sie ermöglichen, wie Kathy Davis schreibt, „endless opportunities for interrogating one’s own blind spots and transforming them into analytic resources for further critical analysis. In short, intersectionality […] iniciates a process of discovery which […] promises new and more comprehensive and reflexively critical insights. What more can one desire from feminist inquiry?“11

Zentrale Fragestellungen und Modelle Bindeglied der unterschiedlichen Zugänge zu Phänomenen der Intersektionalität ist ein gemeinsames Ziel: Es geht darum, Wechselwirkungen zwischen Differenzkategorien zu analysieren und damit soziale Machtverhältnisse aufzuzeigen. Die Soziologin Barbara Risman schreibt: „We cannot study gender in isolation from other inequalities, nor can we only study inequalities’ intersection and ignore the historical and contextual specificity that distinguishes the mechanisms that produce inequality by different categorical divisions.“12

Dies erfordert es, die historischen und kulturell-gesellschaftlichen Bedingungen von Machtwirkungen zu berücksichtigen und vor allem die Form ihrer Verschrän8

Vgl. Kathy Davis: Intersectionality in Transatlantic Perspective, in: Cornelia Klinger, Gudrun-Axeli Knapp (Hg.): Über Kreuzungen, Fremdheit, Ungleichheit, Differenz, Münster 2008, S. 19–35. 9 Vgl. überblicksartig Winker, Degele (2009), S. 14. Zu Unterschieden zwischen USamerikanischen und europäischen Kontexten vgl. Gabriele Dietze: Race Class Gender. Differenzen und Interdependenzen am Amerikanischen Beispiel, in: Die Philosophin 23 (2001), S. 30–50. 10 Vgl. Winker, Degele (2009), hier S. 18. 11 Kathy Davis: Intersectionality as Buzzword: A Sociology of Science Perspective on What Makes a Feminist Theory Successful, in: Feminist Theory 9 (2008), S. 67–86, hier S. 77. 12 Barbara J. Risman: Gender as a Social Structure. Theory Wrestling with Activism, in: Gender & Society 18 (2004), S. 429–450, hier S. 443.

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kungen konzeptionell zu bestimmen. Einen intensiv diskutierten und bis heute tragfähigen Vorschlag dazu hat die bereits zitierte Juristin Kimberlé Crenshaw unterbreitet. Sie benutzt das Bild der Verkehrskreuzung, um einerseits Wechselwirkungen zu verdeutlichen und andererseits auf bestimmte „Gefährdungslagen“ von Personen, die multiplen Diskriminierungen ausgesetzt sind, hinzuweisen: „Discrimination, like traffic through an intersection, may flow in one direction, and it may flow in another. If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars travelling from a number of directions and, sometimes, from all of them. Similarly, if a Black woman is harmed because she is in the intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination.“13

Folgt man dem entworfenen Bild, so wird deutlich, dass Machtwirkungen sich kreuzen, überschneiden und überlagern. Die Ursachen von Diskriminierung lassen sich nicht trennen. Vielmehr bilden sie einen ‚Wirkverbund‘. Das meint keine simple Addition unterschiedlicher Diskriminierungsfaktoren. Sie verschmelzen zu spezifischen Konstellationen von sozialer Ungleichheit.14 Es gilt folglich nicht länger nach dem einen Verursacher von Diskriminierung zu fragen. Vielmehr wird das Zusammentreffen unterschiedlicher Erfahrungen an einem spezifischen (historischen) Ort oder zu einem bestimmten Zeitpunkt analysiert. Leistungen und heutiger Stand Eine so verstandene intersektionale Analyse ermöglicht Erkenntnisgewinn auf drei Ebenen. Sie macht zunächst die ausgeführte Verschmelzung von Faktoren der Ungleichheit sichtbar. Damit verortet sie Diskriminierungserfahrungen zeitlich / historisch ebenso wie räumlich. Sie entfalten ihre Wirkung am analytisch bestimmbaren Ort der „Kreuzung“. Durch diese Bestimmung ist es zweitens möglich, individuelle wie kollektive Akteure des Diskriminierungsgeschehens zu benennen. Diese treten sowohl in ihrer Funktion als Träger von Diskriminierungen wie auch als Betroffene derselben oder als deren Zeugen in den Fokus der Analyse. Die Erfassung der Betroffenen erlaubt es schließlich drittens, deren Erfahrungen Gehör zu verschaffen. Sie können so zur Grundlage von Identitätskonzepten werden.15 Die skizzierten Ebenen des Erkenntnisgewinns ebenso wie die konzeptionelle Offenheit intersektionaler Ansätze erlauben vielfältige Anschlüsse – auch für in13 Crenshaw (1989), S. 149. 14 Vgl. hierzu Katharina Walgenbach: Intersektionalität als Analyseperspektive heterogener Stadträume, in: Elli Scambor, Frank Zimmer (Hg.): Die intersektionelle Stadt. Geschlechterforschung und Medien an den Achsen der Ungleichheit, Bielefeld 2012, S. 81–92. 15 Vgl. hierzu in Kritik an der deutschen Rezeption des Ansatzes die Ausführungen von Lucy Chebout: Wo ist Intersectionality in bundesdeutschen Intersektionalitätsdiskursen? – Exzerpte aus dem Reisetagebuch einer Traveling Theory, in: Sandra Smykalla, Dagmar Vinz (Hg.): Intersektionalität zwischen Gender und Diversity. Theorien, Methoden und Politiken der Chancengleichheit, Münster 2011, S. 43–57, hier S. 48–52; zum Verhältnis von Gleichheit und Differenz.

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stitutionentheoretische Überlegungen. Anknüpfungspunkte lassen sich sowohl auf der Ebene der formgebundenen als auch der formlosen Institutionen finden. So bestimmt beispielsweise eine Rechtsprechung, wie sie Kimberlé Crenshaw in ihrer Pionierstudie untersucht, den legitimen Handlungsrahmen von Wirtschaftssubjekten, wie Unternehmen sie darstellen. Dies ermöglicht oder erschwert im Zusammenwirken mit anderen Faktoren die Ausprägung spezifischer Diskriminierungskonstellationen. Sie prägen das alltägliche Denken, Handeln und Erleben vor Ort, im wirtschaftsgeschichtlichen Kontext, z.B. im Betrieb oder am Markt. Mit dem Gesagten ist zugleich implizit auf eine weitere Möglichkeit der Verknüpfung intersektionaler wie institutionalistischer Überlegungen hingewiesen: Unternehmen und Betriebe sowie Beschäftigte aller Hierarchiestufen und deren Handlungspraktiken können zentrale Gegenstände von Untersuchungen beider konzeptioneller Grundlegungen sein. Durch die Verknüpfung der Ansätze gewinnen wirtschafts- und unternehmenshistorische Analysen kritisches Potenzial. Sie schärft ihren Blick auf kulturelle und gesellschaftliche Grundlagen institutionellen Wandels und Rahmenbedingungen des unternehmerischen Scheiterns. Auch kann sie dazu beitragen, neue Antworten auf die Frage nach den Gründen für systemischen wie unternehmerischen Erfolg zu generieren. Literatur Crenshaw, Kimberlé: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: The University of Chicago Legal Forum Volume: Feminism in the Law: Theory, Practice and Criticism (1989), S. 139–167. Davis, Kathy: Intersectionality as Buzzword: A Sociology of Science Perspective on What Makes a Feminist Theory Successful, in: Feminist Theory 9 (2008), S. 67–86. Risman, Barbara J.: Gender as a Social Structure. Theory Wrestling with Activism, in: Gender & Society 18 (2004), S. 429–450. Walgenbach, Katharina: Intersektionalität als Analyseperspektive heterogener Stadträume, in: Elli Scambor, Frank Zimmer (Hg.): Die intersektionelle Stadt. Geschlechterforschung und Medien an den Achsen der Ungleichheit, Bielefeld 2012, S. 81–92. Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheit, Bielefeld 2009.

3.5 AKTEUR-NETZWERK-THEORIE Sandra Schürmann Entstehungskontext Auf die Frage, wer oder was ein Geschehen vorantreibt, hat die Wirtschaftsgeschichte unterschiedliche Antworten gegeben: Traditionell wurde etwa die Industrialisierung in Deutschland im 19. Jahrhundert vor allem mit Hinweis auf die im 19. Jahrhundert stattfindenden technischen Neuerungen erklärt. Kulturhistorisch beeinflusste Ansätze lehnen solche Erklärungen als technikdeterministisch ab, die institutionalistische Wirtschaftsgeschichte rückt stattdessen Institutionalisierungsprozesse in den Mittelpunkt.1 Das jedoch wirft die Frage auf, wie wir mit den materiellen Forschungsgegenständen – mit Dingen, Objekten, Stoffen – umgehen können. Bislang, so die Ausgangsthese, fehlt uns dafür das angemessene Instrumentarium. Um mögliche Erweiterungen auszuloten, werden hier einige Positionen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) vorgestellt. In gängigen kulturhistorischen oder -soziologischen Untersuchungen sind Maschinen oder neue Technologien als Kulturleistungen relevant: Sie werden nur dann beachtet, wenn eine Abhängigkeit von Menschen oder Gesellschaften erkennbar ist, wenn sie demnach angeeignet, gedeutet oder kommentiert werden. Hier setzt die Kritik der ANT an – Bruno Latour, ihr prominentester Vertreter, formuliert es so: „Nicht unähnlich dem Sex während des Viktorianischen Zeitalters sind Objekte überall. Selbstverständlich gibt es sie, doch man verschwendet keinen Gedanken an sie, keinen sozialen Gedanken. Wie niedere Bedienstete leben sie an den Rändern des Sozialen, erledigen die meiste Arbeit, und doch wird ihnen nie erlaubt, als solche dargestellt zu werden.“2

Kurz: Die materiellen Dinge und ihre Beteiligung am Geschehen werden seiner Ansicht nach nicht angemessen berücksichtigt. Auf die Wirtschaftsgeschichte bezogen bedeutet das: Wenn ein Bergwerksstollen gegraben wird oder ein Chemietank explodiert, reicht es nicht aus, darin vor allem Anlässe für Deutungsprozesse zu sehen und nur diese zu analysieren. Die Position der ANT besagt: Der Mensch ist nicht der allein entscheidende Akteur; auch ohne ihn, im Inneren der Bergwerksstollen oder des Chemietankes, wird gehandelt. Wir brauchen daher 1

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Vgl. Clemens Wischermann, Anne Nieberding: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004; zur Abgrenzung vom Konzept der „industriellen Revolution“ insbesondere S. 14–29. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2010, S. 127; vgl. Andréa Belliger, David J. Krieger: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, in: dies. (Hg): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 13–50, hier S. 20–22.

Akteur-Netzwerk-Theorie

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eine theoretische Erweiterung und eine Methodik, die Dingen und Objekten, dem Materiellen, eine aktive Beteiligung – und das heißt: nicht nur eine passive Anwesenheit – bei der Durchsetzung von Spielregeln, der Erlangung von Legitimität, der Herausbildung von Handlungsspielräumen und -grenzen zugesteht. Zentrale Beiträge und Autoren Die Akteur-Netzwerk-Theorie wurde in der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung seit Mitte der 1980er Jahre entwickelt und insbesondere von Bruno Latour, Michel Callon, John Law und Madeleine Akrich vorangetrieben. Latours „Laborstudien“, etwa zu Louis Pasteurs Forschungen am Milchsäureferment, nahmen die Praktiken der Wissensproduktion in den Blick; einflussreich waren auch Michel Callons Überlegungen zur Netzwerkbildung am Beispiel der Fischer in der St.-Brieuc-Bucht und der dort heimischen Kammmuscheln.3 Zentrale Fragestellungen und Modelle Die grundlegendste – und umstrittenste – theoretische Neuerung der ANT liegt in ihrem Akteurverständnis; darauf wird im Folgenden ein Schwerpunkt liegen. Wichtig für die mögliche Anknüpfung an die institutionalistische Wirtschaftsgeschichte ist aber auch das Konzept des Netzwerkbildens, d.h. der Beziehungen zwischen menschlichen Akteuren und materiellen Aktanten. Es wird daher im ersten Schritt um die Frage gehen, wer oder was im Sinne der ANT ein Akteur ist oder sein kann, und im zweiten um das daraus abgeleitete Verständnis der Entstehung von Innovation und Wissen. Neben den menschlichen Akteuren ist für Latour „jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht“, ein Handlungsträger, ein Aktant.4 Damit ist ausdrücklich nicht „die Behauptung irgendeiner absurden ‚Symmetrie zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen‘“ gemeint, aber doch die Forderung, „nicht a priori irgendeine falsche Asymmetrie zwischen menschlichem intentionalen Handeln und einer materiellen Welt kausaler Beziehungen anzunehmen“5. Anders formuliert: Dinge handeln, wenn auch nicht intentional wie Menschen. Die Handlungen und Sinndeutungen der beteiligten Menschen erklären nicht unbedingt das Schicksal der anderen Beteiligten, und keinesfalls erklären sie das ganze Geschehen. 3

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Eine deutschsprachige Zusammenstellung dieser und zahlreicher anderer Texte findet sich in Belliger, Krieger (2006). Zur Bedeutung für die historische Forschung vgl. Dominique Rudin: Sozialität und Konflikt mit der Akteur-Netzwerk-Theorie denken. Skizze einer Heuristik aus historischer Perspektive, in: Thomas Conradi, Heike Derwanz, Florian Muhle (Hg.): Strukturentstehung durch Verflechtung. Akteur-Netzwerk-Theorie(n) und Automatismen, Paderborn 2011, S. 279–296. Latour (2010), S. 123; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 131; Hervorhebung im Original. Vgl. auch Belliger, Krieger (2006), S. 30f.

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Ähnlich wie die institutionalistische Wirtschaftsgeschichte fragt die ANT danach, wie Akteure und Aktanten Beziehungen aufbauen, wie sich diese stabilisieren oder verändern, wie es gelingt, „eine Welt voller anderer Entitäten mit eigener Geschichte, Identität und Wechselbeziehungen zu definieren und aufzubauen“6. Zwar ist nicht von Institutionen die Rede, doch haben Netzwerke, die aus Beziehungen menschlicher Akteure und nicht menschlicher Aktanten entstehen, ähnliche Funktionen: Bauarbeiter, Steine und physikalische Schwerkraft bilden z.B. ein Netzwerk, solange eine Gruppe von Arbeitern eine Wand baut.7 Auch Unternehmen oder Techniken können als Resultate gemeinsamer Aktivität von menschlichen und nicht menschlichen Aktanten verstanden werden. Der Erfolg und die Stabilität solcher Netzwerke hängen davon ab, wie gut alle Beteiligten sich darauf verständigen können, sich zumindest zeitweilig aufeinander abgestimmt zu verhalten. Gelingt dies, werden Identitäten, Handlungen und Beziehungsmuster der Aktanten selbstverständlich, zu black boxes;8 sie gilt es zu öffnen und ihre Entstehungs- und Erfolgsbedingungen zu rekonstruieren – ebenso könnte man von einer gelungenen Institutionalisierung und ihrer Analyse sprechen. Auch andere Prämissen der ANT lassen sich auf wirtschaftshistorische Forschungsgegenstände übertragen: Unternehmen oder Technologien sind demnach erfolgreich, wenn menschliche Akteure und nicht menschliche Aktanten stabile Netzwerke bilden; sie scheitern, wenn dies misslingt. Leistungen und heutiger Stand Trotz des unterschiedlichen Vokabulars lassen sich zentrale Konzepte der ANT insgesamt durchaus in eine institutionalistische Wirtschaftsgeschichte integrieren. Eine Herausforderung bleibt das neue Akteurverständnis, das die Vorstellung des Menschen als alleinigem oder entscheidendem Akteur ablehnt. Ob und wieweit Forscherinnen und Forscher dem folgen wollen und können, lässt sich letztlich nur anhand eines konkreten Gegenstandes entscheiden. In der Wissenschafts- und Technikforschung hat die ANT ein breites Echo gefunden – allerdings häufig ein negatives.9 Aus ihr lässt sich keine klare Methodik ableiten, sondern vor allem regt sie eine neue Haltung gegenüber Quellen und den in ihnen beschriebenen Phänomenen an. Sie in historischen Untersuchungen anzuwenden, ist ein lohnendes und recht anspruchsvolles Experiment.

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Michel Callon: Techno-ökonomische Netzwerke und Irreversibilität, in: Belliger, Krieger (2006), S. 309–342, hier S. 318. Latour (2010), S. 129; Hervorhebung im Original. Vgl. Belliger, Krieger (2006), S. 43–44. Vgl. zusammenfassend Martina Hessler: Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt a.M. u.a. 2012; Zusatzkapitel „Ansätze und Methoden der Technikgeschichtsschreibung“, S. 18–21; online unter http://www.campus.de/buecher-campus-verlag/ wissenschaft/geschichte/ kulturgeschichte_der_technik-4250.html (Zugriff 10.06.2014).

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Literatur Belliger, Andréa/Krieger David J.: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, in: dies. (Hg.): Anthology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 13–50. Hessler, Martina: Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt a.M. u.a. 2012; Zusatzkapitel „Ansätze und Methoden der Technikgeschichtsschreibung“, S. 18–24; online unter http://www. campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/ geschichte/kulturgeschichte _ der_technik4250.html (Zugriff 10.06.2014). Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2010. Rudin, Dominique: Sozialität und Konflikt mit der Akteur-Netzwerk-Theorie denken. Skizze einer Heuristik aus historischer Perspektive, in: Thomas Conradi, Heike Derwanz, Florian Muhle (Hg.): Strukturentstehung durch Verflechtung. Akteur-Netzwerk-Theorie(n) und Automatismen, Paderborn 2011, S. 279–296.

4. EMPIRISCHE ANWENDUNGEN Sandra Schürmann Die Beiträge in diesem Kapitel demonstrieren jeweils anhand einer ausgewählten Quelle, welchen Gewinn ein theoretisch fundiertes Vorgehen für die Wirtschaftsgeschichte bringen kann. Unsere leitenden Fragen lauten: Wie kann das unter 1. umschriebene, theoriegeleitete Vorgehen die Arbeit als Historikerin und Historiker strukturieren helfen? Welchen Beitrag leisten die unter 2. und 3. erörterten Elemente der institutionalistischen Theorie und ihre möglichen Erweiterungen für die wirtschaftshistorische Analyse eines konkreten Themas? Wie lassen sich die vorgestellten Konzepte und Anregungen in der historischen Forschungspraxis – z.B. im Rahmen von Abschlussarbeiten oder in Forschungsarbeiten – ein- und umsetzen? Das Kapitel ist in drei Abschnitte gegliedert, die sich mit der Entstehung von Institutionen, mit ihrer Leistungsfähigkeit und mit ihrem Wandel beschäftigen. Die einzelnen Texte folgen jeweils einem wiederkehrenden Muster: Auf ein kurzes, zusammenfassendes Abstract folgen die genauere Spezifizierung des theoretischen Konzeptes, die Operationalisierung der Fragestellungen – d.h. die Benennung der Arbeitsschritte und die Formulierung der konkreten Fragen an die Quellen – und nach der eigentlichen Analyse des Fallbeispiels ein kurzes Fazit zum gewählten Ansatz und seinem Ertrag.

4.1 WIE ENTSTEHEN INSTITUTIONEN? Die Beiträge untersuchen die Entstehung von Institutionen anhand der Frage, welche Rolle neue Akteure, neue Umwelteinflüsse oder andere neue Impulse dabei spielen. Ausgangspunkt ist die Integration des Akteurs als Subjekt in die Institutionentheorie. Akteure mit subjektiven Präferenzen werden institutionellen Wandel initiieren, um ihre individuellen Ziele zu erreichen. Die Entstehung neuer Institutionen erhält dabei wesentliche Impulse durch die sozialen Wechselwirkungen, in denen die Akteure stehen. Das Potenzial einer Verschränkung intersektionaler und neo-institutionalistischer Perspektiven wird daraufhin erkennbar. Akteure in Unternehmen müssen, um ihrem Handeln Legitimität zu verleihen, bestimmten Umweltanforderungen gerecht werden. Diese Umweltanforderungen sind jedoch nicht einfach objektiv in der institutionellen Umwelt vorhanden. Erst innerhalb eines Deutungsprozesses wird der legitime Umgang mit einer Anforderung festgelegt und auf diese Weise Institution geschaffen. Noch kaum erforscht ist die Frage, welche Rolle die Materialität für die Entstehung und den Wandel von Institutionen im Unternehmen spielt, wie nicht menschliche Aktanten und Menschen im Unternehmen in Beziehung treten und daraus Institutionen entstehen.

4.1.1 PRÄFERENZEN: DREI SIEMENS-BRÜDER UND DIE „GRÜNDUNG EINES WELTGESCHÄFTES À LA FUGGER“ Martin Lutz Das folgende Fallbeispiel schließt an den akteurszentrierten Institutionalismus an, dessen Ziel es ist, den Akteur als Subjekt in die Institutionentheorie zu integrieren. Akteure agieren auf Basis ihrer subjektiven Zielpräferenzen. Sie verfolgen diese Präferenzen im Rahmen der gegebenen institutionellen Umwelt und sie versuchen in Abhängigkeit ihrer Präferenzen gegebenenfalls, institutionellen Wandel zu initiieren. Dieser Ansatz ist für die Institutionentheorie einerseits eine große Bereicherung, da sie den Akteur in einem ansonsten weitgehend menschenleeren strukturalistischen Theorierahmen berücksichtigt. Andererseits stellt die Untersuchung ökonomischer und historischer Fragestellungen im Rahmen des akteurszentrierten Institutionalismus eine erhebliche Herausforderung dar. Ein solches Forschungsprogramm kann sich nicht auf die abstrakten Handlungsprämissen der RationalChoice-Theorie berufen, sondern muss die intrinsischen Motivationen von Akteuren berücksichtigen. Ein einfaches Beispiel: Bei Familienunternehmen ist zu vermuten, dass in vielen Fällen nicht die ökonomische Gewinnmaximierung die zentrale Zielpräferenz der Eigentümer darstellt, sondern die Übergabe des Unternehmens an die nachfolgende Generation. Exemplarisch wird dies im Folgenden an der Genese und an der Bedeutung des Familienzusammenhaltes im Unternehmen Siemens & Halske aufgezeigt, Vorläufer der heutigen Siemens AG. Der Familienbezug war insbesondere in der Gründergeneration so stark, dass er in manchen strategischen Entscheidungssituationen den wirtschaftlichen Interessen des Unternehmens schadete und damit aus Sicht einer ökonomisch verstandenen Rational-Choice-Theorie als „irrational“ zu bezeichnen wäre. In Anlehnung an den akteurszentrierten Institutionalismus wird die Hypothese vertreten, dass der Familienbezug für die Brüder Werner, Wilhelm und Carl Siemens die zentrale Präferenz darstellte, die die Entwicklung des Unternehmens Siemens & Halske stark beeinflusste. Konzeptspezifikation Siemens & Halske war Mitte der 1880er-Jahre das mit Abstand größte elektrotechnische Unternehmen im Deutschen Reich und eines der größten in Europa. Johann Georg Halske, der die Telegrafen-Bauanstalt von Siemens & Halske – so der ursprüngliche Firmenname – 1847 mit Werner Siemens in Berlin gegründet hatte, war 1867 ausgeschieden. Seitdem wurde die Firma als Familienunternehmen im Besitz der Brüder Werner, Wilhelm und Carl Siemens fortgeführt und nur im Firmennamen zeigte sich noch die Mitwirkung Halskes in der Gründungspha-

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se. Der familiäre Zusammenhalt der Siemens-Brüder ermöglichte in dieser Zeit die Koordination und den Zusammenhalt des weit verzweigten Geschäftes zwischen Werner in Berlin, Wilhelm in London und Carl in St. Petersburg.1 Doch seit den 1870er-Jahren begann sich das wirtschaftliche Umfeld erheblich zu verändern. Nach einer Reform des Aktienrechtes stieg die Zahl deutscher Aktiengesellschaften sprunghaft an und bereits 1887 befanden sich unter den 100 größten Industrieunternehmen 79 Aktiengesellschaften.2 Im Bereich Elektrotechnik stand Siemens & Halske in großer Konkurrenz mit der AEG, die als börsennotiertes Unternehmen ein rapides Wachstum erzielte und um die Wende zum 20. Jahrhundert bereits an die Spitze der deutschen Elektroindustrie aufrückte.3 Werner Siemens, der Familienälteste, weigerte sich aber, dem Beispiel der AEG zu folgen und durch einen Börsengang die notwendige Voraussetzung für ein vergleichbares Wachstum zu schaffen. Die folgende empirische Fallanalyse geht der Frage nach, welches Ziel Werner Siemens verfolgte und warum er sich gegen eine auf den ersten Blick „rationale“ unternehmensstrategische Entscheidung aussprach. Dazu wird das Entscheidungsproblem für oder gegen einen Börsengang von Siemens & Halske in den breiteren Kontext der Entwicklung eines Familienunternehmens auf Basis der Präferenzen der relevanten Akteure eingebettet. Zunächst zur analytischen Präzisierung des Präferenzbegriffes. „Belief systems“4, „mental models“5, „fundamentale Institutionen“6, „subjektive Präferenzen“7, „internalisierte Zwänge und Ziele“8: Im institutionenökonomischen Diskurs gibt es bereits eine Vielzahl an Termini, die im Kern eine gemeinsame Aussage vereint und die den theoretischen Anschluss an den akteurszentrierten Institutionalismus ermöglichen: Akteure treffen ihre Entscheidungen innerhalb einer gegebenen institutionellen Umwelt auf Basis begrenzter Informationen und auf Basis 1

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Zur Unternehmensgeschichte während der Gründergeneration vgl. exemplarisch Martin Lutz: Carl von Siemens. Ein Leben zwischen Familie und Weltfirma, München 2013; David W. Sabean: German International Families in the Nineteenth Century. The Siemens Family as a Thought Experiment, in: ders., Christopher H. Johnson, Simon Teuscher, Francesca Trivellato (Hg.): Transregional and Transnational Families in Europe and Beyond. Experiences since the Middle Ages, New York 2011, S. 229–252; Wilfried Feldenkirchen: Werner von Siemens. Erfinder und internationaler Unternehmer, 2. Aufl., München 1996. Vgl. Clemens Wischermann, Anne Nieberding: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004, S. 267. Vgl. Jürgen Kocka: Siemens und der aufhaltsame Aufstieg der AEG, in: Tradition 17 3/4 (1972), S. 125–142, hier S. 125. Douglass C. North: Understanding the Process of Economic Change, Princeton u.a. 2005, S. 2. Arthur T. Denzau, Douglass C. North: Shared Mental Models: Ideologies, and Institutions, in: Kyklos 47 (1994), S. 3–31, hier S. 4. Helmut Dietl: Institutionen und Zeit, Tübingen 1993, S. 71f. Tanja Ripperger: Ökonomik des Vertrauens. Analyse eines Organisationsprinzips, Tübingen 1998, S. 211. Hansjörg Siegenthaler: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens, Tübingen 1993, S. 46.

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ihrer subjektiven Vorlieben, Motivationen und Ziele. Diese werden im Folgenden mit dem Begriff Präferenzen bezeichnet. Präferenzen sind durch die biologische Ausstattung von Menschen bestimmt – was North als „genetic archicture of humans“9 bezeichnet – und werden in der primären Sozialisierung durch die Aufnahme von Impulsen aus der Umwelt internalisiert. Sie sind relativ stabil, können sich aber durch Lernprozesse auch in späteren Lebensphasen verändern.10 In alltäglichen Lebensroutinen reflektieren Akteure Präferenzen nicht bewusst. Vielmehr zeigen die kognitionspsychologischen Forschungen Daniel Kahnemans, dass Menschen zumeist unreflektiert und unmittelbar auf Impulse der Umwelt reagieren, ohne dabei bewusst Entscheidungen zu treffen. „System 1“ nennt Kahneman diesen Bereich der Gedankenabläufe im Gehirn, der einen großen Teil menschlichen Verhaltens wie beispielsweise emotionale Reaktionen steuert.11 Erst wenn in der Umwelt Unregelmäßigkeiten oder komplexe und unerwartete Probleme auftauchen, wird „System 2“ aktiviert. „System 2“ beinhaltet die „beliefs, attitudes, and intentions“12 eines Akteurs und betrifft Aufgaben des Gehirns, die Konzentration und bewusste Verarbeitungsleistungen erfordern. Nur in bewussten strategischen Entscheidungssituationen, und um diese wird es im Folgenden gehen, wählen Akteure unter dem kognitiven Rückgriff auf „System 2“ diejenige Handlungsoption aus, deren erwartete Kosten-Nutzen-Relation am ehesten mit ihren Zielpräferenzen übereinstimmt. Dies trifft auch auf ökonomische Entscheidungen im engeren Sinn zu. Die These lautet, dass in identischen Entscheidungssituationen innerhalb identischer institutioneller Rahmenbedingungen verschiedene Akteure aufgrund unterschiedlicher Präferenzen unterschiedliche Optionen wählen können. Es werden daher in Anlehnung an Jakob Tanner „Akteure nicht mehr als eine Art digitaler Entscheidungsmaschinen konzipiert, die ihr Wahlverhalten über Kostenkalkulationsalgorithmen steuern, sondern es werden weit komplexere […] Verhaltensweisen in Betracht gezogen.“13

Operationalisierung Ziel des Fallbeispieles ist erstens das theoretische Anliegen, die dringende Notwendigkeit einer zeitgemäßen handlungstheoretischen Grundlage der Neuen Institutionenökonomik aufzuzeigen. Zweitens soll die empirische Anwendbarkeit aufgezeigt werden. Das Beispiel der Siemens-Brüder verdeutlicht die Genese von 9 North (2005), S. VIII. 10 Vgl. Siegenthaler (1993), S. 59; vgl. auch Hansjörg Siegenthaler: Learning and its Rationality in a Context of Fundamental Uncertainty, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics 153 (1997), S. 748–761. 11 Daniel Kahneman: Thinking, Fast and Slow, New York 2011, S. 70. 12 Ebd., S. 105. 13 Jakob Tanner: „Kultur“ in den Wirtschaftswissenschaften und kulturwissenschaftliche Interpretationen ökonomischen Handelns, in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3. Themen und Tendenzen, Stuttgart u.a. 2004, S. 195–224, hier S. 213.

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Präferenzen, die der Formierung eines Familienunternehmens zugrunde lagen. Es zeigt ebenfalls die langfristige Pfadabhängigkeit unternehmensstrategischer Entscheidungen über mehrere Generationen hinweg. Warum ist Siemens & Halske als Fallbeispiel für wirtschaftshistorische Untersuchungen relevant? Zunächst einmal ist das Unternehmen für die deutsche Wirtschaftsgeschichte von erheblicher Bedeutung. Siemens & Halske wurde 1847 gegründet und war damit ein Vorreiter unter den Unternehmensgründungen der sogenannten zweiten industriellen Revolution, die von der Elektroindustrie und der chemischen Industrie getragen wurde. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dominierte Siemens & Halske die deutsche Elektroindustrie. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelte es sich zum größten elektrotechnischen Unternehmen Europas. Über die Unternehmensgeschichte hinaus ist Siemens & Halske in unterschiedlichen Forschungskontexten relevant, von der allgemeinen industriellen Entwicklung Deutschlands über die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital bis hin zur Entwicklung urbaner Räume wie der „Elektropolis“14 Berlin. Weiterhin ist Siemens & Halske als Telegrafieunternehmen ein wichtiger Bestandteil der Globalisierungsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Globalisierung ist ohne globale Kommunikation nicht denkbar und die telegrafische „Verkabelung der Welt“15 legte die Grundlage für Vernetzungsprozesse, die bis in die Gegenwart andauern. In diesem Zusammenhang ist Siemens & Halske für die Forschung zu multinationalen Unternehmen im 19. Jahrhundert von großem Interesse.16 Bereits kurz nach der Unternehmensgründung 1847 entwickelte sich Siemens & Halske zu einem multinationalen Unternehmen, als Carl in St. Petersburg und Wilhelm in London Schwerpunkte des Geschäftes aufbauten, die den Stammsitz in Berlin noch bis in die 1870er-Jahre an Bedeutung übertrafen. Die Unternehmensentwicklung während der Gründergeneration ist daher nur in einem europäischen Kontext zu betrachten. Eine international vergleichende Perspektive, beispielsweise die Unternehmensentwicklung in Preußen/Deutschland, Großbritannien und Russland, ist dabei ebenso gewinnbringend wie eine transnationale Perspektive, die die grenzüberschreitenden Transfers innerhalb des Unternehmens ins Blickfeld nimmt. Am Beispiel Siemens & Halske können unterschiedliche Forschungsfragen nach den Entstehungsprozessen multinationaler Unternehmen, nach ihren Koordinationsmechanismen wie der Überwindung des PrinzipalAgent-Problems oder nach der Allokation von Ressourcen durch grenzüberschreitende Transfers analysiert werden. In der folgenden Analyse wird es um die Genese und die Wirkungsmächtigkeit von Siemens & Halske als Familienunternehmen gehen. Konkret stehen drei Fragestellungen im Vordergrund: 14 Sigfrid von Weiher: Berlins Weg zur Elektropolis. Technik- und Industriegeschichte an der Spree, Berlin 1974. 15 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1023. 16 Vgl. dazu exemplarisch Geoffrey Jones: Multinationals and Global Capitalism. From the Nineteenth to the Twenty-First Century, Oxford 2005.

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1. Wie vollzieht sich die Präferenzbildung von Akteuren? Wie rezipieren Akteure in Lernprozessen Impulse aus der Umwelt und entwickeln daraus ein internalisiertes „Weltbild“, das ihren Entscheidungen zugrunde liegt? 2. Wie beeinflussen Präferenzen das Handeln von Akteuren innerhalb ihrer institutionellen Umwelt und wie werden Opportunitäten, zum Beispiel geschäftliche Entwicklungsmöglichkeiten, wahrgenommen? 3. Sind Präferenzen regelkonform oder stehen sie im Widerspruch zu den Regelvorgaben der Umwelt? Setzen Akteure eine institutionelle Dynamik in Gang, indem sie den bestehenden Handlungskontext verändern und damit neue Pfadabhängigkeiten schaffen? Die Umsetzung eines solchen Forschungskonzeptes im Rahmen des akteurszentrierten Institutionalismus hat im Vergleich mit der Neuen Institutionenökonomik eine ganz erhebliche empirische Herausforderung zu bewältigen: Wie lassen sich überhaupt Präferenzen in Quellen nachweisen und wie kann das Wechselverhältnis zwischen Individuum und institutioneller Struktur analysiert werden? Im Unterschied zu sozialwissenschaftlichen oder kognitionspsychologischen Studien ist es in historischen Arbeiten nicht möglich, Fragebögen zu verteilen oder spieltheoretische Experimente durchzuführen. Allerdings können EgoDokumente wie Memoiren, Tagebücher oder Briefe persönliche Werte, Weltbilder und Glaubensvorstellungen vermitteln. Die sorgfältige und kritische Prüfung solcher Quellen vorausgesetzt, lassen sich daraus Rückschlüsse auf die Präferenzen historischer Akteure ziehen. Damit bieten sich auch Anschlussmöglichkeiten an die biografische Forschung – sofern es die Quellenlage zulässt.17 Im Fall der Siemens-Brüder bietet ein umfangreicher Briefbestand Einblick in deren subjektive Präferenzen und die Aushandlungsprozesse, die zur Institutionalisierung ihres Familienunternehmens führten. Insgesamt handelt es sich um über 7 000 Briefe aus der Korrespondenz zwischen Werner, Wilhelm und Carl in den Jahren 1841 bis 1892.18 Diese Briefe behandeln familiäre, unternehmensstrategische, volkswirtschaftliche, technische, wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Themen. In Bezug auf die subjektiven Präferenzen ist ihr Gehalt als sehr hoch einzuschätzen, da die Brüder einen vertrauensvollen Umgang miteinander pflegten. Besonders in Konfliktsituationen vertraten sie ihre individuellen Positionen offen und mit Nachdruck. Die Briefe erlauben daher die Rekonstruktion von Präferenzen der Siemens-Brüder im Hinblick auf strategische Richtungsentscheidungen im Unternehmen. Ergänzend können die Lebenserinnerungen von Werner Siemens herangezogen werden, die allerdings kritischer zu bewerten sind. Werner Siemens verfasste seine Memoiren in seinen letzten Lebensjahren. Es fin17 Vgl. Simone Lässig: Introduction. Biography in Modern History - Modern Historiography in Biography, in: dies., Volker R. Berghahn (Hg.): Biography between Structure and Agency. Central European Lives in International Historiography, New York 2008, S. 1–26, hier S. 11; vgl. dazu beispielsweise die Verbindung zwischen Historiografie und Psychoanalyse im Rahmen einer „psychohistory“. 18 Es handelt sich um einen Briefbestand im Siemens-Archiv, der als Brüder-Briefe bezeichnet wird. Sie werden im Folgenden mit den Angaben zitiert: Absender, Empfänger, Datum, Ort.

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den sich darin sowohl inhaltliche Ungenauigkeiten und Fehler als auch Beschönigungen der Familien- und Unternehmensgeschichte. Im ersten Schritt werden nun die Präferenzbildung der Siemens-Brüder und die Konstruktion einer kollektiven „Sinndeutungsgemeinschaft“ skizziert, die die Basis des Familienunternehmens darstellte. Gemeinsam geteilte Präferenzen von Akteuren lassen sich in Anlehnung an den Sozialkonstruktivismus von Peter Berger und Thomas Luckmann mit dem Begriff „Sinndeutungsgemeinschaft“ bezeichnen. Das bedeutet, dass sich Akteure über „gemeinsame Ziele und Regeln, über die ihnen zugrunde liegende Werte und Normen“19 verständigen. Trifft dies zu, so kann Kooperation innerhalb von Unternehmen oder auch in anderen Organisationen auf Vertrauensbasis beruhen. Denn Akteure, die sich über ihre grundsätzlichen Ziele einig sind, verzichten auf opportunistisches, das heißt eigennütziges Verhalten. Kontrollmechanismen durch formale und informelle Institutionen sowie deren Sanktionsinstrumente wären damit überflüssig. Die Allokation von Ressourcen im Unternehmen würde vielmehr einvernehmlich und kostengünstig von den Akteuren ausgehandelt werden. Anschließend wird auf das Entscheidungsproblem eingegangen, warum sich die Brüder trotz eindeutiger Opportunitäten in den 1880er-Jahren gegen einen Börsengang aussprachen. Zum Abschluss folgt eine Diskussion der institutionellen Dynamik am Beispiel der schließlich 1897 vollzogenen Umwandlung von Siemens & Halske in eine Aktiengesellschaft. Dabei wird gezeigt, dass die Akteure auf Basis ihrer handlungsleitenden Präferenzen aktienrechtliche Normen umgingen und so die Fortführung des familiengeführten Unternehmens institutionell absichern konnten. Sie schufen damit eine beinahe 100 Jahre andauernde, generationenübergreifende Pfadabhängigkeit. Fallbeispiel „Lieber Karl! Deine inhaltsschweren Briefe vom 19. u. 21. wollte ich eigentlich bis nach dem Fest liegen lassen doch sie beschäftigen meine Gedanken zu sehr und vielleicht ist die friedliche Weihnachtsstimmung auch besonders geeignet zu dem Versuche die unter uns obwaltenden Differenzen auszugleichen. […] Unsere Verschiedenheit besteht wesentlich darin dass wir, bei sonstiger ziemlich gleicher moralischer und Herzens Veranlagung, bei gleicher brüderlicher Zuneigung und Zartfüh-

19 Clemens Wischermann: Unternehmensgeschichte als Geschichte der Unternehmenskommunikation: Von der Koordination zur Kooperation, in: ders., Peter Borscheid, Karl-Peter Ellerbrock (Hg.): Unternehmenskommunikation im 19. und 20. Jahrhundert. Neue Wege der Unternehmensgeschichte, Dortmund 2003, S. 31–40, hier S. 39. Vgl. auch Clemens Wischermann: Kooperation, Vertrauen und Kommunikation: Ein Rahmenmodell des Unternehmens auf institutionenökonomischer Grundlage, oder: was macht ein Unternehmen handlungsfähig?, in: ders. (Hg.): Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen. Theorie und Praxis in historischer Perspektive, Dortmund 2003, S. 76–92, hier S. 84ff.

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Empirische Anwendungen ligkeit, doch eine verschiedene Grund-Anschauung von den Lebenszielen und dem Werthe der Lebensgüter gehabt haben und noch haben. Ich will gar nicht sagen dass Du dabei im Unrecht bist. Im Gegentheil. Factisch ist, dass Du stets ein grösseres Gewicht auf die realen Lebensgüter gelegt hast wie ich der ich viel zu viel Phantomen und Ideen nach gejagt habe. Gewiss habe ich auch nach Gewinn und Reichthum gestrebt, doch wesentlich nicht um sie zu geniessen als um die Mittel zur Ausführung anderer Pläne und Unternehmungen zu gewinnen und um durch den Erfolg die Anerkennung für die Richtigkeit meiner Handlungen und die Nützlichkeit meiner Arbeiten zu erhalten. So habe ich für die Gründung eines Weltgeschäftes à la Fugger von Jugend an geschwärmt welches nicht nur mir sondern auch meinen Nachkommen Macht und Ansehen in der Welt gäbe und die Mittel auch meine Geschwister und nähere Angehörige in höhere Lebensregionen zu erheben. Es stammt diese Gefühlsrichtung schon von den Erzählungen unseres Hauslehrers Sponholz, der uns faulen Jungens durch solche Lebensmärchen, die uns dann regelmässig in Stand setzten die Lebenssorgen unserer Eltern mit einem Schlage zu beseitigen, zu energischem Fleiss anspornte. Das ist bei mir sitzen geblieben und ist durch den Schicksalsgang der mir die Sorge für m[eine] jüngeren Geschwister auferlegte, noch befestigt worden. […] Ich sehe im Geschäft erst in zweiter Linie ein Geldeswerth Object, es ist für mich mehr ein Reich welches ich gegründet habe und welches ich meinen Nachkommen ungeschmälert überlassen möchte um in ihm weiter zu schaffen. […] Dein W[erner] S[iemens]“ Quelle: Siemens-Archiv, Bestand Brüder-Briefe: Brief Werner an Carl, 25.12.1887, verfasst in Charlottenburg.

Charlottenburg bei Berlin, Weihnachtstag 1887. Seit einigen Wochen stehen Werner in Berlin und Carl in St. Petersburg in einem intensiven brieflichen Austausch über Grundsatzfragen, die den Zusammenhalt und die Zukunft ihrer zum Großunternehmen gewachsenen Firma betreffen. In ihrem fortgeschrittenen Alter – Carl ist Ende 50, Werner geht auf die 72 zu – wollen die Brüder die Übergabe der Firmenleitung an ihre Söhne sichern. Werner strebt eine stärkere Zentralisierung von Kompetenzen in der Berliner Zentrale an und verweist immer wieder auf den deutschen Ursprung des Unternehmens. Carl erinnert an die große Bedeutung der Tochtergesellschaften in England und Russland und mahnt, dass Werners nationale Engstirnigkeit für die Erschließung des Weltmarktes geschäftsschädigend sei. Die beiden Brüder beharken sich, der Tonfall wird rauer, die Emotionen kochen hoch, bis Werner schließlich am 25. Dezember der Geduldsfaden reißt. In einem langen, zehnseitigen Brief an Carl führt er seine Lebenseinstellung und seine Verbundenheit mit dem Unternehmen aus. Er habe, so lautet die Kernaussage in dem oben zitierten Brief, „für die Gründung eines Weltgeschäftes à la Fugger von Jugend an geschwärmt welches nicht nur mir sondern auch meinen Nachkommen Macht und Ansehen in der Welt gäbe“. Das Ziel eines „Weltgeschäftes à la Fugger“ bildete die Präferenz von Werner Siemens, die seine jahrzehntelange Aufbauarbeit im Unternehmen motivierte. Wie andere Quellen bestätigen, stand dahinter die Vorstellung eines global operierenden Unternehmens, das generationenübergreifend in Familienbesitz bleiben sol-

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le.20 Im Zitat erwähnt Werner auch, dass er von diesem Ziel schon „von Jugend an geschwärmt“ habe, was auf wichtige Erfahrungen und prägende Einflüsse während seiner primären Sozialisation hindeutet. In der Tat betont Werner in seinen Lebenserinnerungen die Wichtigkeit der jugendlichen Bildung. Die SiemensGeschwister, insgesamt waren es 14, von denen drei im Kindesalter gestorben sind, wuchsen zwar unter begrenzten finanziellen Möglichkeiten auf. Die Eltern waren Pächter eines Landgutes in der Nähe von Lübeck und hatten bis zu ihrem frühen Tod mit ständigen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Dennoch gelang es den Eltern, einen Hauslehrer zu engagieren, der, so Werner in seinen Memoiren, aus den „verwilderten, arbeitsscheuen Jungen die eifrigsten und fleißigsten Schüler [machte], die er nicht zur Arbeit anzutreiben brauchte, sondern vom Übermaß derselben zurückhalten musste“21. Sponholz hieß dieser Hauslehrer. Er lebte um 1829 nur ein Jahr mit der Familie, muss aber auf den damals dreizehnjährigen Werner einen großen Eindruck hinterlassen haben. In seinen Memoiren heißt es weiter: „Wenn uns am späten Abend die Augen bei der Arbeit zufielen, so winkte er [Sponholz] uns zu sich auf das alte Ledersofa, auf dem er neben unserem Arbeitstische zu sitzen pflegte, und während wir uns an ihn schmiegten, malte er uns Bilder unseres eigenen künftigen Lebens aus, welche uns entweder auf Höhepunkten des bürgerlichen Lebens darstellten, die wir durch Fleiß und moralische Tüchtigkeit erklommen hatten und die uns in die Lage brachten, auch die Sorgen der Eltern […] zu beseitigen, oder welche uns wieder in traurige Lebenslagen zurückgefallen zeigten, wenn wir in unserem Streben erlahmten und der Versuchung zum Bösen nicht zu widerstehen vermochten.“22

Die jüngeren Brüder Wilhelm und Carl, mit denen Werner in späteren Jahren das Unternehmen Siemens & Halske aufbaute, waren zu diesem Zeitpunkt noch zu jung, um den Sponholz‘schen Unterricht bewusst mit zu verfolgen. Die darin formulierten Ideen, die der jugendliche Werner internalisierte, beeinflussten aber auch Wilhelm und Carl. Sie bildeten die Basis der Sinndeutungsgemeinschaft der Brüder. Wie lässt sich das Modell „Sinndeutungsgemeinschaft“ nun auf Siemens & Halske als ein generationenübergreifendes Familienunternehmen übertragen? Werner bildete den Ausgangspunkt und die treibende Kraft hinter dem Unternehmen. Seine Kindheits- und Jugenderfahrungen, wie der Unterricht des Lehrers Sponholz, prägten ihn stark und er übte auch einen erheblichen Einfluss auf die jüngeren Brüder aus. Der sechs Jahre jüngere Wilhelm war zwar im Alter von 20 Jahren nach England ausgewandert, hatte dort als Wissenschaftler und Unternehmer großen Erfolg und legte großen Wert auf seine zumindest partielle Unabhängigkeit vom großen Bruder in Berlin. Der Aufbau einer familiengeführten und global tätigen Firma bildete dennoch eine zentrale Motivation in der unternehmerischen Tätigkeit Wilhelms.23 Carl teilte die unternehmerische Motivation des 13 20 21 22 23

Siehe z.B. Brief Werner an Carl, 4.11.1863, ohne Ortsangabe. Werner von Siemens: Lebenserinnerungen. München 2008 [Berlin 1893], S. 45. Ebd., S. 45f. Vgl. zu Wilhelm: William Pole: The Life of Sir William Siemens, London 1888.

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Jahre älteren Werner weitgehend, mit dem ihn seit seiner Kindheit eine sehr enge Vertrauensbeziehung verband. Werner hatte nach dem frühen Tod der Eltern Carls Erziehung übernommen und blieb zeit seines Lebens die zentrale emotionale Bezugsperson des jüngeren Bruders. Dem Aufbau einer „dauernden Firma“ ordnete sich Carl unter und er nahm dafür große persönliche Entbehrungen in Kauf. In St. Petersburg gründete er die über lange Zeit wichtigste Niederlassung des Unternehmens, zeitweise arbeitete er im Kaukasus, und in London trieb er in den 1870er-Jahren die Entwicklung des globalen Geschäftes voran. Die mehrfachen Umzüge sowie Krankheiten und Todesfälle in seiner Familie bedeuteten eine immense emotionale Belastung. Das Verhältnis Carls zu Werner blieb dadurch allerdings unberührt und wurde sogar noch gestärkt. „Ich gehe mit Dir durch Tod Himmel und Hölle, wozu allerdings noch keine Gelegenheit war, aber wenn sie mal kommen sollte, dann wirst Du ja sehen“24, schrieb Carl beispielsweise im April 1866 anlässlich des geplanten Ausstieges von Johann Georg Halske aus dem Unternehmen. Mit der bald danach vollzogenen Umwandlung der Firma in ein reines Familienunternehmen war Carl gänzlich einverstanden. In der Sinndeutungsgemeinschaft des brüderlichen „Weltgeschäftes“ nahm er eine tragende Rolle ein. Nach Werners Tod am 6. Dezember 1892 schrieb Carl an seinen Neffen: „Wie ich ihn [Werner, M. L.] jetzt vermisse und noch lange, lange vermissen werde, das kann ich Dir gar nicht beschreiben. Bedenke, dass wir seit über 40 Jahren regelmäßig uns alles mitzuteilen pflegten, was unsere Herzen bewegte. Weniger als einen Brief wöchentlich, habe ich wohl selten von ihm erhalten u. so umgekehrt. Wir haben also eigentlich immer miteinander gelebt, wenngleich wir auch körperlich so viel voneinander getrennt waren.“25

Das Vertrauensverhältnis zwischen Werner, Wilhelm und Carl hielt die Sinndeutungsgemeinschaft Familienunternehmen zusammen. Es bildete einen effektiven Mechanismus, der die gemeinsam geteilte Präferenz des „Weltgeschäftes“ sicherte und opportunistisches Verhalten begrenzte – so stellten es die Brüder zumindest in ihren Briefen dar. „Eigennutz habe ich nie gekannt wo es sich um Eure Interessen gehandelt hat“,26 schrieb beispielsweise Carl im März 1855 an seinen Bruder Werner. Das Vertrauensverhältnis der Brüder und ihre grundsätzliche Einigkeit über gemeinsam geteilte Ziele führten allerdings nicht notwendigerweise zu einer effizienten Allokation von Ressourcen in einem idealtypischen Verständnis. Werner, Wilhelm und Carl verrannten sich im Lauf ihrer unternehmerischen Karriere immer wieder in erfolglosen Projekten, die hohe Verluste brachten. Externe Kontrollmechanismen, die bei unternehmensstrategischen Entscheidungen einen Einfluss gehabt hätten, gab es nicht. Darüber hinaus verlief die Konstruktion der Sinndeutungsgemeinschaft alles andere als konfliktfrei. Vielmehr führten die Diskussionen zwischen den Siemens-Brüdern über den Inhalt der Sinndeutungsgemeinschaft immer wieder zu schweren Konflikten, die manchmal sogar den Be24 Brief Carl an Werner, 10.4.1866, verfasst in St. Petersburg. 25 Brief Carl an seinen Neffen Wilhelm, 21.12.1892, verfasst in St. Petersburg, in: SAA 3/Li 600. 26 Brief Carl an Werner, 19.3.1855, verfasst in St. Petersburg.

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stand und damit die Zukunft des Unternehmens bedrohten. Im Kern ging es in diesen Konflikten immer um die Frage, was genau Werner unter seiner Präferenz „Weltgeschäft à la Fugger“ eigentlich verstand und wie seine beiden jüngeren Brüder in diese kollektive Sinndeutungsgemeinschaft eingebunden werden wollten. In den ersten 30 Jahren nach Gründung des Unternehmens hatte dies keine schwerwiegenden Konsequenzen, da es kaum Konkurrenz gab. Die Situation begann sich allerdings in den 1870er-Jahren zu ändern, als zunehmend weitere Anbieter auf den elektrotechnischen Markt drängten. Daraus erwuchs in den 1880erJahren eine existenzbedrohende Situation, die den Bestand des Unternehmens grundsätzlich infrage stellte. November 1883: Ein halbes Jahr zuvor hatte Emil Rathenau in Berlin die „Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität“ gegründet, um das Glühlampenpatent des Amerikaners Thomas Edison in Deutschland zu vermarkten. Werner Siemens hatte eine Beteiligung von Siemens & Halske abgelehnt. Erstens hielt er in technischer Hinsicht nicht viel von der Edisonʼschen Glühlampe. Zweitens scheute er die Investitionen, die der flächendeckende Ausbau einer elektrischen Infrastruktur mit Kraftwerken und Stromleitungen zum Privatkonsumenten erfordern würde.27 Dies erwies sich als gravierende Fehlentscheidung. Rathenaus Firma ging auf Expansionskurs und dominierte bald das lukrative Geschäft mit der elektrischen Beleuchtung. In dieser angespannten geschäftlichen Lage kam es für die Siemens-Brüder noch schlimmer. Am 19. November 1883 erhielt Carl während eines Besuches in Berlin die Nachricht aus London, dass Wilhelm dort überraschend gestorben sei.28 Mit dem Tod Wilhelms fehlte den verbliebenen zwei Siemens-Brüdern eine tragende Säule in ihrem Unternehmen, während sich die Deutsche EdisonGesellschaft zum gefährlichsten Konkurrenten von Siemens & Halske entwickelte. Im Mai 1887 wagte Emil Rathenau mit der in Allgemeine ElektrizitätsGesellschaft (AEG) umbenannten Firma den Gang an die Börse. Das brachte viel Geld in die Kasse und beschleunigte den Wachstumsprozess weiter. Bereits elf Jahre später übertraf die AEG den Umsatz von Siemens & Halske.29 Wilhelms Tod, die Gründung der AEG sowie die anstehende Nachfolgeregelung im Unternehmen brachten Unruhe in das bislang ausgezeichnete Verhältnis zwischen Werner und Carl. Anfang Dezember 1887 begann es zunächst mit kleinen Sticheleien, die sich in einem dichten Briefwechsel dann zu einem Grundsatzkonflikt hochschaukelten. Sie mündeten im hoch emotionalen Brief Werners vom 25. Dezember, in dem er seine Vision eines generationenübergreifenden Unternehmens in Familienbesitz bekräftigte und gleichzeitig in Zweifel stellte, ob er sich bei den anstehenden Richtungsentscheidungen noch auf den jüngeren Carl verlassen konnte. Zwar rauften sich die beiden Brüder in den folgenden Wochen wieder zusammen und gingen zu ihrem normalen, vertrauensvollen Umgang über.

27 Brief Werner an Carl, 28.12.1878, verfasst in Berlin. 28 Telegramm Mary Gordon an Carl, 19.11.1883, aufgegeben in London. SAA, Brüder-Briefe. 29 Vgl. Feldenkirchen (1996), S. 307.

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Doch die wichtige Grundsatzfrage, ob Siemens & Halske dem Vorbild der AEG folgen und an die Börse gehen sollte, hatten sie nicht abschließend klären können. Schon seit mehreren Jahren hatte Werner Siemens auf die entsprechenden Vorschläge Carls immer wieder nachdrücklich geantwortet, ein Börsengang käme nicht infrage.30 Das Unternehmen solle in Familienbesitz und familiengeführt bleiben. Externe Gesellschafter und Börsengeschäfte lehnte Werner Siemens kategorisch ab, selbst als das rapide Wachstum der AEG die großen Vorteile eines Börsenganges deutlich unter Beweis stellte. Schließlich sah er, so heißt es im Brief vom 25. Dezember 1887, „im Geschäft erst in zweiter Linie ein Geldeswerth-Object, es ist für mich mehr ein Reich welches ich gegründet habe und welches ich meinen Nachkommen ungeschmälert überlassen möchte um in ihm weiter zu schaffen“31.

Die Präferenz Werners war der Aufbau eines generationenübergreifenden Familienunternehmens. Er hatte sie zunächst in Kindheitserfahrungen während der primären Sozialisation internalisiert und in späteren Jahren verfestigt. In der Situation der 1880er-Jahre, als es um eine Entscheidung für beschleunigtes Wachstum oder für eine Bewahrung des Familienunternehmens ging, gab diese Motivation Werners den Ausschlag gegen einen Börsengang. Eine im rein ökonomischen Sinn nutzenmaximierende Entscheidung wäre es gewesen, dem Vorbild der AEG zu folgen. So sah es auch Carl.32 Doch die Bindungskraft der Sinndeutungsgemeinschaft „Familienunternehmen“ mit Werner als hierarchisch übergeordneter Führungspersönlichkeit war so stark, dass sich Carl dem unterordnete. Erst nach Werners Tod im Dezember 1892 war der Weg frei für eine grundlegende Neustrukturierung des Unternehmens. Carl forcierte als neues Familienoberhaupt, als sogenannter „Chef des Hauses“33, mit seinen Neffen Arnold und Wilhelm diesen Prozess. Schließlich ging das Unternehmen 1897 mit einem Gründungskapital in Höhe von 35 Millionen Reichsmark an die Börse. Damit hatte die Siemens & Halske AG die gleiche Marktkapitalisierung wie die 40 Jahre jüngere AEG, ein Anzeichen dafür, wie schnell Emil Rathenau den Vorsprung der Siemens-Brüder aufgeholt hatte.34 Hatten Carl und seine Neffen mit dem Börsengang das Leitbild eines familiengeführten Unternehmens aufgegeben und damit die Sinndeutungsgemeinschaft aufgekündigt, wie sie der verstorbene Werner bis zu seinem Tod verteidigte? Was auf den ersten Blick wie eine Abkehr von der Vision des Unternehmensgründers aussieht, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine erstaunliche Kontinuität. Erstens blieben zunächst alle Anteile der Siemens & Halske AG in Familienbesitz. Zweitens und langfristig bedeutsamer wurde ein weitergehender Familieneinfluss institutionell festgeschrieben. In den Satzungen der neuen Aktiengesellschaft 30 Brief Carl an Werner, 11.1.1883, verfasst in St. Petersburg. Vgl. auch Brief Carl an Werner, 26.12.1888, verfasst in St. Petersburg. 31 Brief Werner an Carl, 25.12.1887, verfasst in Charlottenburg. 32 Brief Carl an Werner, 30.4.1888, verfasst in St. Petersburg. 33 Brief Carl an Werner, 30.4.1888, verfasst in St. Petersburg. 34 Vgl. Kocka (1972), S. 125.

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erhielt der bislang informelle „Chef des Hauses“ in Form des Aufsichtsratsvorsitzenden, den anfangs der zwischenzeitlich geadelte Carl von Siemens übernahm, einen erheblichen und unmittelbaren Einfluss auf die Geschäftsführung zugesprochen.35 Wie sein Neffe Wilhelm von Siemens später ausführte, wurde damit die langfristig angelegte Strategie verfolgt, die Siemens & Halske AG als familiengeführtes Unternehmen zu bewahren: „Wir hatten [beim Börsengang, M. L.] nicht die Absicht gehabt, unsere leitende Stellung in der Firma aufzugeben, haben vielmehr die Weiterführung derselben nach wie vor als unsre eigentliche Lebensarbeit angesehen. Es schwebte uns vor, unser Erbe und die mit demselben verbundene Verantwortlichkeit aufrecht zu erhalten, wenn angänglich über unsere Generation hinaus.“36

Langfristig garantierte die in den Statuten der Aktiengesellschaft formalisierte institutionelle Pfadabhängigkeit des „Chef[s] des Hauses“ den andauernden Familieneinfluss. Kurzfristig hatte sie allerdings negative ökonomische Konsequenzen. Während die AEG problemlos ihr weiteres Wachstum durch neue Aktienemissionen finanzieren konnte, zeigten die Banken massive Bedenken gegenüber der Stellung des Aufsichtsratsvorsitzenden in der Siemens & Halske AG. Selbst Georg von Siemens aus dem erweiterten Familienkreis bezog als Direktor der Deutschen Bank eine eindeutige Position: „Ich habe noch niemals eine solche Bremse gesehen wie diese Instruktion. Die Theorie des Gesetzes ist die, der Aufsichtsrat soll überwachen bzw. alles wissen, die Theorie des Geschäftsordnungsentwurfs von [Siemens & Halske] ist, der Aufsichtsrat soll alles genehmigen, ohne ihn darf nichts geschehen, damit wird jede Jurisdiktion der Direktion vernichtet. Als Deutsche Bank würde ich abraten, sich mit einem so geführten Institut auf lange Abmachungen einzulassen.“37

Was Georg von Siemens als „Bremse“ bezeichnete, bedeutete nichts anderes als die institutionelle Formalisierung des bestehenden Familieneinflusses auf das Unternehmen. Eine ökonomische Nutzenmaximierung stand dabei nicht im Vordergrund. Vielmehr manifestierte sich in den Satzungen der Siemens & Halske AG die ursprüngliche Präferenz von Werner Siemens eines „Weltgeschäftes à la Fugger […] welches nicht nur mir sondern auch meinen Nachkommen Macht und Ansehen in der Welt gäbe“. Familiären Erwägungen, zu diesem Urteil kommt Jürgen Kocka, wurde bei Siemens & Halske „auch dann der Primat eingeräumt, wenn sie der Entwicklung, dem Erfolg, der Expansion und dem Profit des Unternehmens nicht günstig waren, bzw. wenn nicht-familien-orientierte, wirtschaftlichere Alternativen bereitstanden“38.

Dieses Kernelement der Sinndeutungsgemeinschaft Siemens & Halske blieb erstaunlich lange stabil. Bis zum Jahr 1982 lag der Aufsichtsratsvorsitz ununterbrochen in Familienhänden. 35 36 37 38

Vgl. Feldenkirchen (1996), S. 232ff. Zit. in ebd., S. 271. Zit. in ebd., 270. Kocka (1972), S. 132.

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Bewertung Welchen Mehrwert bringt der akteurszentrierte Institutionalismus? Schließlich ist die Erkenntnis, dass familiäre Erwägungen unternehmerisches Handeln beeinflussen können, nicht neu. Jürgen Kockas oben aufgeführtes Zitat stammt aus dem Jahr 1972 und auch die neuere Forschung hat vielfache Erkenntnisse zur Nachfolgeregelung in Familienunternehmen oder zu Kapitalakkumulation und Netzwerkstrukturen in Familienverbänden hervorgebracht.39 Erstens ermöglicht der akteurszentrierte Institutionalismus eine Anbindung an unterschiedliche sozial- und naturwissenschaftliche Disziplinen, die sich mit dem Entscheidungsverhalten von Menschen auseinandersetzen. Beispielsweise diskutiert die Wirtschaftssoziologie seit einigen Jahren die Frage, wie individuelles oder kollektives Handeln stärker auf den gesellschaftlichen Handlungsrahmen bezogen werden kann.40 Auch die neue wirtschaftswissenschaftliche Strömung der Verhaltensökonomik (behavioral economics) setzt sich das Ziel, auf kognitionswissenschaftlicher Basis realitätsnahe Erklärungsmodelle menschlichen Entscheidungsverhaltens zu entwickeln.41 An diese Diskussion knüpft der Ansatz an und bietet mit dem Präferenzbegriff ein Instrument für die interdisziplinäre Anbindung geschichtswissenschaftlicher Forschung. Zweitens erlaubt der akteurszentrierte Institutionalismus die Integration biografischer Elemente und strukturgeschichtlicher Entwicklungen in einem theoretisch fundierten Forschungsprogramm. Wirtschaftliche Dynamik lässt sich nicht allein durch entpersonalisierte strukturgeschichtliche Analysen erklären, wie dies beispielsweise die Neue Institutionenökonomik in der Tradition Douglass Norths verfolgt hat. Vielmehr werden strukturelle Entwicklungen von Menschen getragen, seien es individuelle Akteure oder kollektive Akteure. Für einen solchen Erklärungsansatz wirtschaftlicher Dynamik spielt insbesondere der Unternehmerbegriff eine zentrale Rolle, der sich hervorragend in den akteurszentrierten Institutionalismus einbinden lässt. Drittens ermöglicht der akteurszentrierte Institutionalismus die theoriegeleitete Analyse historischer Forschungsprojekte in unterschiedlichen zeitlichen und kulturellen Kontexten. Beispielsweise hat der Soziologe Keming Yang vor einigen Jahren eine institutionentheoretisch fundierte Studie zum Unternehmertum in China seit den Reformen Deng Xiaopings vorgelegt.42 Er verweist darin auf den Ansatz des österreichisch-amerikanischen Wirtschaftstheoretikers Joseph Schumpeter, der im innovativen Unternehmer die zentrale Triebkraft ökonomischen 39 Exemplarisch Johnson, Sabean, Teuscher, Trivellato (2011); Christina Lubinski: Familienunternehmen in Westdeutschland, München u.a. 2010; Daniel Hütter: Nachfolge im Familienunternehmen, Konstanz u.a. 2009. 40 Vgl. Michael Schmid, Andrea Maurer: Institution und Handeln, in: dies. (Hg.): Ökonomischer und soziologischer Institutionalismus. Interdisziplinäre Beiträge und Perspektiven der Institutionentheorie und –analyse, 2. Aufl., Marburg 2006, S. 9–46. 41 Vgl. dazu den Überblick; online unter http://www.econlib.org/library/Enc/Behavioral Economics.html (Zugriff 31.7.2014). 42 Vgl. Keming Yang: Entrepreneurship in China, Aldershot 2007.

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Wandels sieht. Für Yang stellt sich die Frage, wie Unternehmer innerhalb gegebener institutioneller Strukturen agieren, in seinem Fall innerhalb der staats- und parteizentrierten Wirtschaftsstruktur Chinas. In historischer Perspektive kann der von Yang verwendete Ansatz dazu beitragen, die wirtschaftliche Entwicklung Chinas seit den 1970er-Jahren zu erklären. Voraussetzung für die historische Nutzung des akteurszentrierten Institutionalismus ist allerdings die ausreichende Quellenbasis. So könnte etwa die historische Elitenforschung von der theoretischen Erweiterung profitieren, da die Quellenlage beispielsweise zu Unternehmern eine gute Anwendung des Ansatzes erlauben dürfte. An seine Grenzen stößt der Ansatz, wenn keine Präferenzen von Akteuren empirisch rekonstruiert werden können, wenn es nur Dokumente zu den Folgen von Handlungen gibt, nicht aber zu den Motivationen, die hinter einer Handlung standen. Kognitionspsychologische Erkenntnisse mögen den Sozialwissenschaften dabei helfen, Fragebögen zu strukturieren oder verhaltenswissenschaftliche Experimente durchzuführen. Auf die Geschichtswissenschaft, die auf die Analyse überlieferter Quellen angewiesen ist, sind solche Methoden nicht übertragbar. Eine Wiederkehr der „Psychohistorie“43, die in den späten 1970erJahren eine kurze Blüte erlebte, ist daher im Rahmen des akteurszentrierten Institutionalismus nicht zu erwarten. Literatur Kocka, Jürgen: Siemens und der aufhaltsame Aufstieg der AEG, in: Tradition 17 3/4 (1972), S. 125–142. North, Douglass C.: Understanding the Process of Economic Change, Princeton u.a. 2005. Sabean, David Warren: German International Families in the Nineteenth Century. The Siemens Family as a Thought Experiment, in: Christopher H. Johnson, David Warren Sabean, Simon Teuscher, Francesca Trivellato (Hg.): Transregional and Transnational Families in Europe and Beyond. Experiences since the Middle Ages, New York 2011, S. 229–252. Siemens, Werner von: Lebenserinnerungen. München 2008 [Berlin 1893]. Yang, Keming: Entrepreneurship in China, Aldershot 2007.

43 Lässig (2008), S. 11; Hans Ulrich Wehler (Hg.): Geschichte und Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1974.

4.1.2 FELDER: DIE ARBEITSZEITSENKUNG IM SPÄTEN 19. JAHRHUNDERT Albrecht Franz Anders als in der Neuen Institutionenökonomik stehen im soziologischen NeoInstitutionalismus (NI) nicht die Kosten bzw. der Nutzen von Institutionen im Vordergrund, sondern deren Legitimität (vgl. Kap. 2.2). Das Handeln und die Struktur von Organisationen orientieren sich demzufolge nicht ausschließlich an ökonomischer Effizienz, sondern an den Legitimitätserwartungen der Organisationsumwelt. Unternehmen müssen demnach, um ihrem Handeln Legitimität zu verleihen, bestimmten Umweltanforderungen gerecht werden. Dabei geht der NI von bereits institutionalisierten Umweltanforderungen aus. Diese Annahme vernachlässigt jedoch den Umstand, dass diese Anforderungen nicht einfach objektiv vorhanden sind. Erst innerhalb eines Deutungsprozesses, so die im Folgenden leitende These, wird der legitime Umgang mit einer Anforderung festgelegt – und auf diese Weise Institution geschaffen. Eine solche Anforderung, der sich die Unternehmen des späten 19. Jahrhunderts zu stellen hatten, war die Verkürzung der Arbeitszeiten. Dieser historische Fall macht schnell deutlich, dass es sich dabei keineswegs um eine institutionalisierte Anforderung handelte. Die Möglichkeiten des legitimen Umganges damit standen nicht fest. Vielmehr tauschten sich die Mitglieder von Firmenleitungen verschiedener Unternehmen zunächst über den Umgang mit der Anforderung aus. Erst im Rahmen dieses Interpretationsprozesses wurde ein Raum des legitimen Umganges mit der Anforderung definiert und diese somit institutionalisiert.1 Prägend für diesen Deutungsprozess war die zeitgenössische Wahrnehmung der Akteure. Denn in Unternehmen agieren Eigentümer oder Manager, die bestimmte kulturelle Vorstellungen darüber teilen, wie ein Unternehmen geordnet sein sollte, welche Regeln darin zu gelten haben und welche Rollen darin der Firmenleitung, aber auch Beschäftigten zukommen sollten. Alle diese Umstände besitzen einen erheblichen Einfluss auf die Art der Institutionalisierung der Anforderung. Konzeptspezifikation Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Frage, welche Folgen idealtypische Vorstellungen über die „Ordnung“ eines Unternehmens für die Institutionalisierung der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ hatten: Inwiefern boten sie den 1

Die folgenden Ausführungen basieren auf den Ergebnissen meiner Dissertation: „Kooperation statt Klassenkampf? Zur Bedeutung kooperativer wirtschaftlicher Leitbilder für die Arbeitszeitsenkung in Kaiserreich und Bundesrepublik“, Stuttgart 2014.

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Mitgliedern einer Firmenleitung Orientierung für die Bewertung der Anforderung? Welche Folgen hatten sie für die jeweils als legitim wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten und damit für die Institutionalisierung der Anforderung? Eine solche Perspektive leistet einen Beitrag dazu, das Unternehmen als einen sozialen Ort zu verstehen. Um das Handeln von Unternehmen zu erklären, reicht der Verweis auf das Paradigma des Kampfes zwischen „Arbeit“ und „Kapital“ oder die schlichte Unterstellung rein ökonomischer Strategien nicht aus.2 Die Senkung von Arbeitszeiten im späten 19., frühen 20. Jahrhundert war ein langwieriger und sehr konfliktintensiver Prozess, für den nur sehr langsam Regeln gefunden wurden. Der Blick auf die Wahrnehmung der zeitgenössischen Akteure kann helfen, diese Entwicklung zu erklären. Denn der Umgang mit der „Arbeitszeitfrage“ ist nicht zuletzt das Ergebnis einer Deutung dieser Anforderung innerhalb der Unternehmerschaft, die erst mit Blick auf die zeitgenössischen Ordnungsvorstellungen verständlich wird. Dieser Prozess der Deutung kann mithilfe des NI durch das Konzept des Issue-Feldes beschrieben und analysiert werden. Dabei handelt es sich um einen spezifischen Zuschnitt des Konzeptes des organisationalen Feldes. Es soll dazu dienen, die Zusammenhänge zwischen einer Organisation und der Umwelt zu analysieren, in die sie eingebettet ist. Das Konzept des Issue-Feldes hat für die hier gewählte Fragestellung den Vorteil, die Aushandlung eines bestimmten Themas in einer Gruppe von Akteuren abzubilden. Das „Issue“ ist in diesem Fall die Arbeitszeitsenkung. Diesem Thema hatten sich die Unternehmer des Kaiserreiches zu stellen. Sie traten daher in Kontakt und tauschten sich über seine Bewertung aus.3 Entscheidend ist, dass dieser Aushandlungsprozess im Issue-Feld nicht vorurteilsfrei erfolgte. Denn Kennzeichen eines Feldes ist, dem NI zufolge, auch ein von den Akteuren geteiltes „Sinnsystem”. Anders ausgedrückt handelt es sich dabei um ihre spezifische „Weltsicht“.4 Als solche können die bereits angesprochenen Vorstellungen betrieblicher Ordnung verstanden werden. Sie lassen sich für das Kaiserreich auf das Konzept des Patriarchalismus verdichten. Dabei handelte es sich um ein gesellschaftliches Leitbild, das im Kaiserreich von höchster Legitimität war und auch der Organisation von Unternehmen als Vorbild diente. Diese Ordnungsvorstellung wies dem Unternehmen selbst, seiner Leitung und seinen Beschäftigten bestimmte Funktionen und Bedeutungen zu.5 Leitend war 2

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Vgl. Werner Plumpe: Die Unwahrscheinlichkeit des Jubiläums – oder: warum Unternehmen nur historisch erklärt werden können, in: JbWG 1(2003), S. 143–156, hier S. 153. Plumpe weist darauf hin, dass es sich bei der Entscheidungsfindung in Unternehmen um eine Kommunikationssituation handelt, keineswegs einfach um die rationale Handhabung einer objektiv klaren Situation. Vgl. zum Konzept des Issue-Feldes den grundlegenden Beitrag von Andrew Hoffman: Institutional Evolution and Change: Environmentalism and the U.S. Chemical Industry, in: Academy of Management Journal 42 (1999), S. 351–371, hier S. 352. Peter Walgenbach, Renate Meyer: Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, Stuttgart 2008, S. 74. Vgl. zum funktionalen und sinnstiftenden Charakter des Patriarchalismus z.B.: Hartmut Berghoff: Unternehmenskultur und Herrschaftstechnik. Industrieller Paternalismus: Hohner

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dabei die Vorstellung des Unternehmens als einer Gemeinschaft. Der Patriarch, das heißt der Unternehmensleiter, trug Verantwortung für sie. Solche von den Akteuren geteilten Vorstellungen gelten als wichtiges Merkmal eines Feldes, unter anderem weil sie die im Feld herrschenden Grundannahmen und Handlungslogiken bedingen.6 Die Anforderung, Arbeitszeiten zu senken, wurde im Issue-Feld vor dem Hintergrund der patriarchalischen Ordnungsvorstellung definiert; von ihren idealtypischen Annahmen über die Ordnung des Unternehmens ausgehend wurde ein Raum legitimer Handlungsmöglichkeiten festgelegt. Erst mit der Festlegung dieses Möglichkeitsraumes,7 das bedeutet der im Issue-Feld ausgehandelten Unterscheidung von legitimem und illegitimem Verhalten im Umgang mit der Anforderung, kann die Anforderung als institutionalisiert gelten. Operationalisierung Da kaum die gesamte Debatte um die Arbeitszeitsenkung im Kaiserreich abgebildet werden kann, wird ein Ausschnitt aus dem Issue-Feld ausgehend von einer bestimmten Akteursgruppe rekonstruiert, die an der Interpretation des Themas im öffentlichen Diskurs beteiligt war. Es handelt sich in diesem Fall um Vertreter der Unternehmerschaft. Sichtbar wird das Issue-Feld anhand aufeinander bezogener Handlungen der Akteure und derselben Regulationsmechanismen, aber auch durch das von ihnen geteilte „Sinnsystem“. Die Akteure sind sich außerdem durchaus bewusst, in ein Feld eingebunden zu sein, nicht zuletzt weil im Rahmen der diskutierten „Issue“ Informationslasten vorliegen, die es gemeinsam zu bewältigen gilt.8 Auf der Basis des skizzierten Feldkonzeptes sind all jene Mitglieder von Firmenleitungen Teil des Issue-Feldes, die sich an der Debatte um die Interpretation der „Arbeitszeitfrage“ beteiligten und die durch die Mitgliedschaft in Verbänden, der Zugehörigkeit zur selben Branche, den lokalen Kontext oder die Betroffenheit von Konflikten direkt oder indirekt in einem Austauschverhältnis zueinander standen. Grundlage dieses Austauschverhältnisses war die Zuordnung der Akteure zu einer gemeinsamen sozialen Gruppe, derjenigen der Unternehmer.

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von 1857 bis 1918, in: GG 23 (1997), S. 167–204, hier S. 188; sowie Toni Pierenkemper: Unternehmensgeschichte. Eine Einführung in ihre Methoden und Ergebnisse, Stuttgart 2000, S. 164. Vgl. Jutta Becker-Ritterspach, Florian Becker-Ritterspach: Organisationales Feld und Gesellschaftlicher Sektor im Neo-Institutionalismus, in: Konstanze Senge, Kai-Uwe Hellmann (Hg.): Einführung in den Neo-Institutionalismus, Wiesbaden 2006, S. 118–136, hier S. 129f. Die Metapher des Möglichkeitsraumes stammt von Pierre Bourdieu, an dessen Feldkonzept sich auch das des Neo-Institituonalismus orientiert. Bourdieu bezeichnet damit „das Universum der Probleme, Bezüge, geistigen Fixpunkte […] kurz das ganze Koordinatensystem“, an dem sich die Feldakteure orientieren. Vgl. Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M. 1998, S. 55. Vgl. Thomas Beschorner, Alexandra Lindenthal, Torsten Behrens: Unternehmenskultur II: Zur kulturellen Einbettung von Unternehmen, in: Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) (Hg.): Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung, Marburg 2004, S. 273–307, hier S. 291f.

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Diese Gruppe definierte sich unter anderem über die von ihnen geteilte patriarchalische Ordnungsvorstellung. Selbst in der Einschränkung auf eine Gruppe, die hier vereinfachend als „Unternehmerschaft“ zusammengefasst wird, kann das Beziehungsgefüge des sich um die Arbeitszeitfrage konstituierenden Issue-Feldes nicht in seiner Gesamtheit rekonstruiert werden. Die Bewertung der Anforderung im Issue-Feld wird daher im Folgenden an einem Fallbeispiel, dem Unternehmen Siemens, rekonstruiert. Diese Einschränkung ist insofern gerechtfertigt, als dieses Unternehmen im Issue-Feld eine wichtige Position einnahm. Der Feld-Theorie zufolge sind große Organisationen intensiverer Beobachtung im Issue-Feld ausgesetzt, als es bei kleinen der Fall ist; sie nehmen daher eine bedeutende Rolle für die Verbreitung institutioneller Muster ein.9 Maschinenbau und Elektroindustrie gehörten seit der Hochindustrialisierung zu den Leitsektoren der Wirtschaft, von diesen Branchen gingen gesamtwirtschaftliche Wachstumsimpulse aus. Dazu kommt, dass das Unternehmen Siemens bereits vergleichsweise früh mit sinkenden Arbeitszeiten experimentierte und im Zuge dessen mit anderen Unternehmen im Austausch über die Möglichkeiten der Handhabung dieser Anforderung stand. Verkürzte Siemens die Arbeitszeiten, hatte das potenziell Folgen für die Handlungsmöglichkeiten anderer Unternehmer, weshalb das Agieren des Unternehmens unter kritischer Beobachtung stand. Die aus dieser Situation erwachsenden Kommunikationsbeziehungen über die Handhabung der „Arbeitszeitfrage“ stellen einen Ausschnitt des Aushandlungsprozesses im Issue-Feld dar. Ein Beispiel hierfür ist ein Brief aus dem Jahre 1890, in dem Arnold von Siemens, Sohn des Firmengründers Werner von Siemens und Mitglied der Firmenleitung, gegenüber dem Unternehmen Basse & Selve seine Einschätzung der Arbeitszeitsenkung darlegte. Dieses Schreiben wird im Folgenden stellvertretend für die Aushandlung im Issue-Feld auf die Relevanz der patriarchalischen Ordnungsvorstellung für die Bewertung und Institutionalisierung der Anforderung untersucht. Eine Wirkung auf die Bewertung der Anforderung konnte die Ordnungsvorstellung entfalten, weil die in ihr enthaltenen Vorstellungen über die idealtypische Ordnung des Unternehmens geeignet waren, die Bewertung legitimen Verhaltens zu beeinflussen. Die Zuweisung von Legitimität ist dem NI zufolge abhängig von den Handlungserwartungen bestimmter Referenzgruppen.10 Im Rahmen der patriarchalischen Ordnungsvorstellung war eine zentrale Referenz für die Bewertung unternehmerischen Handelns die bereits erwähnte betriebliche Gemeinschaft. Diesem Ideal zufolge stand der Unternehmer als Patriarch und „Herr im Hause“ einer Gemeinschaft vor. In dieser Funktion wurde ihm aber auch Verantwortung gegenüber „seinen“ Beschäftigten zugeschrieben, woraus wiederum eine besondere 9 Vgl. Walgenbach, Meyer (2008), S. 78; Beschorner, Lindenthal, Behrens (2004), S. 295. 10 Vgl. zur Rolle und zum Umgang mit diesen Referenzgruppen: Walgenbach, Meyer (2008), S. 66; Renate Meyer, Gerhard Hammerschmid: Die Mikroperspektive des NeoInstitutionalismus. Konzeption und Rolle des Akteurs, in: Konstanze Senge, Kai-Uwe Hellmann (Hg.): Einführung in den Neo-Institutionalismus, Wiesbaden 2006, S. 160–171, hier S. 163.

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Loyalitätserwartung an die Beschäftigten abgeleitet wurde. Diese idealtypische Grundannahme über die Ordnung des Unternehmens wies die betriebliche Gemeinschaft als die zentrale Referenz unternehmerischen Handelns in Sachen Arbeitszeitgestaltung aus. Sie war damit geeignet, die Zuweisung von Legitimität zu beeinflussen. Die Relevanz der patriarchalischen Ordnungsvorstellung kann auf der sprachlichen Ebene bestimmt werden. Das patriarchalische Ordnungsdenken schlug sich in bestimmten Topoi nieder, auf die in der Kommunikation im Issue-Feld immer wieder Bezug genommen wurde. Auf der Grundlage sprachlicher Bezüge zum Patriarchalismus kann daher nachvollzogen werden, ob und in welchem Ausmaß die Ordnungsvorstellung Grundlage der Verständigung über die Arbeitszeitsenkung im Issue-Feld war. Davon ausgehend muss geklärt werden, welche Folgen das für die Bewertung und Institutionalisierung der Anforderung hatte. Vor dem Hintergrund des hier untersuchten Issue-Feldes kann „Institutionalisierung“ keine Festsetzung einer formalen Regel bedeuten. Der Umgang mit der Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ wurde im Issue-Feld jedoch insofern „institutionalisiert“, als die legitimen Handlungsmöglichkeiten ausgehandelt wurden. Diese kommen in den Annahmen über „richtiges“ und „falsches“ Verhalten zum Ausdruck, wie sie in der Kommunikation im Issue-Feld geäußert wurden. Aus der Kommunikation innerhalb der Unternehmerschaft kann daher auf einer semantischen Ebene ein Raum des Möglichen herausgearbeitet werden: Es können die Regeln des Sagbaren in Bezug auf die Frage des Umganges mit der Arbeitszeitsenkung im IssueFeld bestimmt werden. Über die Umweltanforderung an sich bestanden im Unternehmen Siemens keine Zweifel. Im späten 19. Jahrhundert entwickelte sich die Senkung der Arbeitszeiten zu einer zentralen sozialpolitischen Forderung. Das ist nicht zuletzt auf einen Wahrnehmungswandel zurückzuführen. Lange Arbeitszeiten, Überstunden oder Sonntagsarbeit waren lange Zeit auch von den Beschäftigten nicht als ein zentrales Problem wahrgenommen worden. Für Konflikte sorgten vor allem Fragen der Entlohnung. Erst seit den 1890er-Jahren entbrannten zunehmend auch um die Frage der Arbeitszeiten Auseinandersetzungen. Der „Maximal“- bzw. „Normalarbeitstag“ wurde in dieser Zeit fester Bestandteil sozialpolitischer Diskussionen. Mitte der 1890er-Jahre waren damit die zentralen Begriffe und Konfliktlinien der Debatte bereits geprägt. Im Unternehmen Siemens war angesichts dieser Debatte bereits früh klar, dass die Anforderung lautete: Arbeitszeiten senken. Das geht aus dem Brief Arnold von Siemens’ hervor, den er 1890 an die Firma „Basse & Selve“ richtete. Darin macht er deutlich, dass der „Achtstunden-Arbeitstag“ seiner Ansicht nach „über kurz oder lang“ ohnehin eingeführt werde. Er habe keine Zweifel, „dass die Industrie sich mit dem Gedanken vertraut machen muss“, daher sei es besser, „freiwillig das zu tun, was man später gezwungen nachgeben müsste“. Siemens’ Ziel war es demnach, sich nicht von den Diskussionen um die Arbeitszeitsenkung treiben zu lassen, sondern selbst diese Entwicklung mitzugestalten. Zumal ihm die Senkung, wie aus dem Brief ebenfalls hervorgeht, wirtschaftlich durchaus möglich erschien.

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Fallbeispiel Siemens & Halske an: Herren Basse &Selve Altena in Westfalen Berlin, den 29. April 1890 J.-No. 13919 In höflicher Erwiderung Ihres geehrten Schreibens vom 25. d. M. teilen wir Ihnen ergebenst mit, dass die Zeitungsnachricht, wonach wir es unseren Arbeitern freigegeben hätten, am 1. Mai zu feiern oder nicht, auf Erfindung beruht. Unsere Arbeiter sind gar nicht mit dem Ersuchen an uns heran getreten, am 1. Mai feiern zu dürfen, und würden wir dasselbe auch abschlägig beschieden haben. Wir sind aber der Ansicht, dass es das richtigste ist, diese wie auch andere Arbeiterfragen so zu behandeln, dass möglichst wenig Staub aufgewirbelt wird, da es den Agitatoren vorzugsweise auf diesen ankommt. Wir haben deshalb unsere Meister, welche nach unserer Werkstattordnung das Recht haben, den ihnen unterstellten Arbeitern einen Tag Urlaub zu erteilen, angewiesen, nachsichtig zu sein, wenn für den 1. Mai auch etwas mehr Arbeiter (falls es sonst ordentliche Leute sind) um Urlaub einkommen sollten, und wenn für den Fortgang des Betriebes dadurch keine Störung zu erwarten ist. Ohne Urlaub einen ganzen Tag fehlende Arbeiter gelten nach unserer Werk-stattordnung als ausgeschieden und gehen dadurch ihrer durch Dienstalter erworbenen Ansprüche auf unsere Pensions-, Wittwen- und Waisenkasse verlustig. Wir hätten Ihr geehrtes Schreiben umgehend beantwortet, wenn wir nicht das Ergebnis einer durch fremde Agitatoren veranlassten Versammlung unserer Arbeiter erst hätten abwarten wollen. In dieser Versammlung sind alle agitatorischen Anträge mit grosser Mehrheit abgelehnt worden und ist nur der Antrag angenommen: den 1. Mai durch Arbeit zu feiern und eine Petition an die Firma zu richten, die durchgehende achtstündige Arbeitszeit einführen zu wollen. Bei diesem Wunsche legten sie das Hauptgewicht auf die durchgehende Arbeitszeit und motivierten denselben durch die immer größere Entfernung von ihren Wohnungen. Die achtstündige Arbeitszeit betrachten sie nur als eine Consequenz davon und sehen auch wir als eine solche an. Da wir bereits auf Anregung aus der Mechaniker-Abteilung unseres Charlottenburger Werkes, in derselben über Einfürung der durchgehenden Arbeitszeit hatten abstimmen lassen, so soll dieselbe jetzt für diese Abteilung versuchsweise in Kraft treten und werden wir es von dem Ergebnis dieses Versuchs abhängig sein lassen, ob wir diese Arbeitseinteilung in allseitigem Interesse auch für die anderen Abteilungen in Aussicht nehmen können. Was nun den Achtstunden-Arbeitstag betrifft, so sind wir der Ansicht, dass derselbe über kurz oder lang allgemein zur Einführung gelangen wird und dass die Industrie bei einer allgemeinen Durchführung desselben auch wird bestehen können. Wir selbst haben schon seit langen Jahren neunstündige Arbeitszeit oder eigentlich 8 ¾ stündige, da eine viertelstündige Frühstückspause eingerechnet ist, und haben bisher sehr gut damit bestehen können, und glauben deshalb, mit der achtstündigen Arbeitszeit auch auskommen zu können, selbst wenn die übrige Industrie sich nur langsam diesem Ziele nähert. Aber dass die Industrie sich mit dem Gedanken vertraut machen muss, diesem sogenannten Normal-Arbeitstage allmählich immer näher zu kommen und im Laufe der Jahrzehnte,

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Empirische Anwendungen wenn die Arbeitsmethoden weiter fortgeschritten sein werden, noch darüber hinauszugehen, unterliegt bei uns keinem Zweifel, und in dieser Einsicht halten wir es zur Aufrechterhaltung der Autorität für nützlicher, freiwillig das zu tun, was man später gezwungen nachgeben müsste. Hochachtungsvoll Siemens & Halske Arnold v. Siemens (Autorschaft nachträglich handschriftlich ergänzt durch das Siemens-Archiv) Quelle: Siemens Aktenarchiv (SAA) 14 Lr 516.

Bereits wenige Tage nach diesem Schreiben begann Siemens mit der Erprobung des Achtstundentages in der Mechanikerabteilung des Werkes Charlottenburg. Dieser Schritt ging mit einer Verkürzung der Mittagspause einher, der sogenannten „durchgehenden“, oder „englischen“ Arbeitszeit. In einer Verfügung hatte Firmengründer Werner von Siemens bereits zuvor mitteilen lassen, man sei nun der Einführung der durchgehenden Arbeitszeit „wie vor Jahren schon einmal“ nähergekommen. Probeweise werde die durchgehende (achtstündige) Arbeitszeit in der Mechaniker-Abteilung des Charlottenburger Werkes eingeführt.11 1891 wurde eine 8,5-stündige Arbeitszeit in dieser Abteilung in die Arbeitsordnungen aufgenommen.12 Die Senkung der Arbeitszeiten an sich wurde somit im Unternehmen nicht als Problem wahrgenommen. Die eingeleiteten Senkungen sollten nicht zuletzt dazu dienen, die Bereitschaft zu Überstunden zu erhöhen und ein Arbeitskräftereservoir aufzubauen, um in Zeiten guter Konjunktur Auftragsspitzen abfangen zu können.13 Das Schreiben, in dem Arnold von Siemens die Haltung der Firmenleitung gegenüber der Arbeitszeitsenkung formulierte, liegt im Archiv als maschinenschriftliche Abschrift des Originals vor. Diese Form der direkten und persönlichen Korrespondenz zwischen Mitgliedern von Firmenleitungen war für das späte 19., frühe 20. Jahrhundert eine typische Form der Verständigung über die Anforderung im Issue-Feld. Anlass dieser Kommunikationsbeziehung zwischen Siemens und Basse & Selve war die Beobachtung des Unternehmens Siemens durch die Presse. Im April 1890 hatte sich die Firmenleitung des Unternehmens Basse & Selve nach der Richtigkeit einer Zeitungsmeldung erkundigt, der zufolge Siemens den Arbeitern am ersten Mai freigegeben habe. Die Frage des Umganges mit ersten Maifeiern 1890 war in der Unternehmerschaft heftig diskutiert worden, sie barg einiges Konfliktpotenzial. Der im März 1890 gegründete „Gesamtverband Deutscher Metallindustrieller“ 11 Abschrift des Entwurfes der Verfügung von Werner Siemens vom 28.4.1890, in: SAA 14 Lr 516. 12 Vgl. Karl Burhenne: Werner Siemens als Sozialpolitiker, München 1932, S. 39f. Dass diese Grenze in der Arbeitsordnung vermerkt war, bedeutete keineswegs, dass sie verbindlich war; die Arbeitszeiten schwankten häufig und in großem Umfang, was insbesondere nach der Jahrhundertwende zu zahlreichen Konflikten führte, zumal für andere Werke wiederum andere Arbeitszeitregelungen galten. Vgl. Deutschmann (1985), S. 251. 13 Vgl. Burhenne (1932), S. 42.

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beschloss daher noch in seiner ersten Vorstandssitzung, von den Bezirksverbänden Berichte über den Ablauf der Feiern anzufordern.14 Derart aufgefordert, zum Agieren seines Unternehmens Stellung zu nehmen, reagierte Siemens mit diesem Schreiben. Interessanterweise informierte er die Firmenleitung von Basse & Selve auch über ein Gesuch der Arbeiter um die Einführung der achtstündigen Arbeitszeit. Danach war er offenbar gar nicht gefragt worden, denn das erwähnte Gesuch wurde erst nach der Anfrage von Basse & Selve an Siemens gerichtet. Arnold von Siemens begründete seine positive Einschätzung des Achtstundentages in einem immerhin fast zwei maschinenschriftliche Seiten umfassenden Schreiben, stand doch die probeweise Einführung des Achtstundentages in der Charlottenburger Mechanikerabteilung kurz bevor.15 Diese Korrespondenz zeigt daher, dass sich Siemens vollkommen bewusst war, in ein Feld eingebunden zu sein, innerhalb dessen gerade ein solch symbolischer Schritt wie die Einführung des Achtstundentages der Legitimation bedurfte. Das wird noch dadurch unterstrichen, dass die Legitimation vorauseilend erfolgte. Das heißt in dem Wissen, dass dieser Schritt auf jeden Fall zu Nachfragen führen würde. Siemens erprobte zwar zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt verkürzte Arbeitszeiten, aber es blieb in den 1890er-Jahren bei Experimenten. Denn Regeln, die einen systematischen Übergang zu langfristig sinkenden Arbeitszeiten eingeleitet hätten, wurden lange Zeit nicht geschaffen beziehungsweise erreichten keine nennenswerte Verbindlichkeit. Erst 1902 bemühte sich die Central-Abteilung um eine Systematisierung der Arbeitszeitgestaltung, indem sie die Arbeitszeitregelungen der einzelnen Werke überhaupt erst erfragte.16 Deren Antworten lassen erkennen, dass im Vordergrund der Arbeitszeitgestaltung größtmögliche Flexibilität stand, keineswegs der Versuch einer Standardisierung. Das Glühlampenwerk erklärte schlicht, „dass unsere Arbeitszeit im Laufe des Jahres eine ziemlich verschiedene ist, da dieselbe von den jeweiligen Saisonverhältnissen abhängt“.17 Selbst wenn Regeln bestanden, gab es kein großes Interesse daran, ihnen auch Verbindlichkeit zu verleihen. 1905 beschwerte sich der Arbeiterausschuss, die Arbeitszeiten würden durch Überstunden dauerhaft über das in der Arbeitsordnung vereinbarte Maß hinaus verlängert. Darauf gab Direktor Dihlmann, Vorstandsmitglied der Siemens-Schuckert-Werke (SSW), laut Protokoll zurück: „im übrigen werde ebenso lange gearbeitet, als die vorliegenden Bestellungen etc. dies erforderlich machen, entweder solange, wie es in der Arbeitsordnung angegeben sei oder länger oder kürzer, je nach Bedarf, wie es auch bisher stets gehalten worden sei“18.

14 Vgl. Achim Knips: Deutsche Arbeitgeberverbände der Eisen- und Metallindustrie, 1888– 1914, Stuttgart 1996, S. 92. 15 Vgl. Abschrift des Entwurfes von Werner von Siemens für die entsprechende Verfügung, datiert auf den 28.4.1890, in: SAA 14 Lr 516. 16 Rundschreiben der Central-Abteilung vom 5.5.1902, in: SAA 5329. 17 Schreiben des Glühlampenwerkes Charlottenburg an die Central-Abteilung vom 22.2.1902, in: SAA 5329. 18 Protokoll der Besprechung von Vertretern der Firmenleitung von S.&H. und SSW mit den Obmännern der Arbeiterausschüsse vom 27.1.1905, S. 10, in: SAA 4 Lk 12–13.

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Empirische Anwendungen

Von einer klaren Strategie im Umgang mit der Anforderung, Arbeitszeiten zu senken, kann folglich kaum die Rede sein. Vielmehr handelte es sich für das Unternehmen Siemens um eine ungewisse Situation, in der verschiedene Regelungen zunächst erprobt wurden. Systematische Änderungen wurden häufig erst infolge von Konflikten umgesetzt. Um die Jahrhundertwende gewann die Debatte um die Arbeitszeiten an Schärfe. Auch bei Siemens mehrten sich in den Jahren 1905 und 1906 die Konflikte um die Arbeitszeiten, die sich vor allem an der Frage der Verbindlichkeit der in den Arbeitsordnungen angegebenen „normalen“ Arbeitszeiten entzündeten.19 Die Senkung der Arbeitszeiten befand sich 1890 am Beginn einer langwierigen Phase, in der es neue Regeln für die Arbeitszeitgestaltung erst zu finden und zu erproben galt. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt war die Debatte stark politisch aufgeladen. Das Entgegenkommen der Firma Siemens kann in diesem Kontext auch als Versuch interpretiert werden, sich angesichts der heftiger werdenden Diskussionen möglichst große Handlungsspielräume zu erhalten. Wie groß der öffentliche Druck werden konnte, der von der Debatte um die Arbeitszeitsenkung ausging, zeigt der Umgang mit einem Streik der Arbeiter des Nürnberger Siemens-Werkes. Hier forderten die Beschäftigten im Jahr 1905 eine Senkung der Arbeitszeiten auf zunächst wöchentlich 54, im Laufe der Verhandlungen schließlich auf 56 Stunden. Der Betriebsausschuss von SSW und Siemens und Halske kam in einer gemeinsamen Sitzung laut Protokoll zu dem Schluss: „es sei wichtig, die öffentliche Meinung für uns zu haben und ihr gegenüber könnte es kleinlich aussehen, wenn man sich weigert, von 57 auf 56 Stunden herabzugehen“20. Der Ausgang dieser Situation war unklar und es standen offensichtlich auch keine klaren Handlungsstrategien bereit. Es zeichnete sich auch innerhalb der Unternehmerschaft insgesamt kein einheitliches Vorgehen ab, das Orientierung geboten hätte. Unklarheit herrschte zum einen hinsichtlich der ökonomischen Konsequenzen einer Senkung. Bei Siemens schien eine Senkung im Falle des Werkes Nürnberg wirtschaftlich zwar möglich zu sein. Insgesamt waren die ökonomischen Folgen der Arbeitszeitsenkung aber höchst umstritten, vor allem kleinere und mittlere Unternehmen scheuten sich daher aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit vor Arbeitszeitsenkungen.21 Zum anderen war nicht abzusehen, wie eine 19 Im April 1905 streikten die Arbeiter von SSW in Nürnberg. Vgl. Schreiben an Wilhelm von Siemens vom 26.4.1905, in dem er über den Streik in Kenntnis gesetzt wird, in: SAA 4 Lk 12–13. Ebenfalls im April 1905 streikten auch die Modelltischler im Werk Charlottenburg für einen neunstündigen Arbeitstag. Vgl. Protokoll der 9. Sitzung des Betriebsausschusses des Werkes Charlottenburg am 5.4.1905, in: SAA 5593. Im Frühjahr 1906 verweigerten Arbeiter im Charlottenburger Werk sowie im Wernerwerk Berlin die Leistung von Überstunden. Vgl. Protokoll der 22. Sitzung des Betriebsausschusses des Werkes Charlottenburg am 27.1.1906, in: SAA 5593. 20 Schreiben an Wilhelm von Siemens vom 25.4.1905, mit dem dieser über die Ergebnisse einer Sitzung des Betriebsausschusses von SSW und S.&H. anlässlich des Streikes in Nürnberg unterrichtet wurde, in: SAA 4 LK 12–13. 21 Vgl. Wilhelm Heinz Schröder: Die Entwicklung der Arbeitszeit im sekundären Sektor in Deutschland 1871 bis 1913, in: Technikgeschichte 47 (1980), S. 252–302, hier S. 275.

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Verkürzung der Arbeitszeiten organisiert werden sollte. Während ein Teil der Unternehmerschaft darauf beharrte, Arbeitszeitsenkungen dürften nur auf der Grundlage einzelbetrieblicher Vereinbarungen zustande kommen, wurden bereits immer mehr Tarifverträge abgeschlossen.22 Aufgrund dessen kann keine Rede von einer „institutionalisierten“ Anforderung sein. Anfang des 20. Jahrhunderts war höchst unklar, auf der Basis welcher Regelungen die Arbeitszeitsenkung vonstattengehen würde. Die Firmenleitungen mussten die Situation erst bewerten, um davon ausgehend Entscheidungen über den Umgang mit der Anforderung treffen zu können. Die patriarchalische Ordnungsvorstellung hatte in dieser Situation Orientierungsfunktion. Vor die Notwendigkeit gestellt, die Anforderung „Arbeitszeitsenkung“ erst zu definieren, das heißt legitime Formen des Umganges mit ihr festzulegen, bot die Ordnungsvorstellung wichtige Anhaltspunkte. Der Blick auf die Korrespondenzen zwischen Unternehmern beziehungsweise Mitgliedern von Firmenleitungen im Issue-Feld macht schnell deutlich, dass der Patriarchalismus ein zentraler Bezugspunkt der Feld-Diskussion war. Sichtbar wird dieser Umstand, da sich die Feldakteure sprachlich ihrer Zugehörigkeit zu demselben Sinnhorizont versicherten. Sie griffen auf ein ähnliches begriffliches Inventar zurück, das zentralen patriarchalischen Inhalten zugeordnet werden kann. Ein wichtiges Beispiel dafür ist das Ideal des Unternehmens als einer Gemeinschaft, die auf dem Wohlwollen des Patriarchen und der Treue der Beschäftigten beruhte. Davon ausgehend wurde strikt zwischen der „eigenen“ Belegschaft und einer betriebsfremden getrennt, die der Gewerkschaftsbewegung nahestand. Auf diesen Topos griff auch Arnold von Siemens in seinem Schreiben an das Unternehmen Basse & Selve zurück. Gefragt nach der Handhabung der geplanten Feiern zum ersten Mai erklärte er, „unsere Arbeiter“ hätten kein solches Ersuchen an die Firmenleitung gerichtet. Überhaupt gelte es in derartigen „Arbeiterfragen“ möglichst wenig Staub aufzuwirbeln, „da es den Agitatoren vorzugsweise auf diesen ankommt“. Siemens entschuldigte sich außerdem, das Schreiben nicht umgehend beantwortet zu haben, da man zuerst „das Ergebnis einer durch fremde Agitatoren veranlassten Versammlung unserer Arbeiter“ abwarten wollte. Auf dieser Versammlung seien aber „alle agitatorischen Anträge mit grosser Mehrheit abgelehnt worden [...]“23.

Diese Trennung der Gewerkschaftsbewegung – auf sie bezieht sich der Passus von den „fremden Agitatoren“ – von den „eigenen“ Arbeitnehmern ist charakteristisch für die Thematisierung von Arbeitsbeziehungen im Issue-Feld. Arnold von Siemens griff hier zur Beschreibung des Sachverhaltes auf das patriarchali22 Daten über die Entwicklung der tarifvertraglichen Regulierung der Arbeitszeiten liegen erstmals für die Jahre 1903 und 1905 vor. Sie belegen die deutliche Ausweitung dieser Form der Festlegung von Arbeitszeiten, die zwischen 1906 und 1914 weiter anstieg. Vgl. Günter Scharf: Geschichte der Arbeitszeitverkürzung. Der Kampf der deutschen Gewerkschaften um die Verkürzung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit, Köln 1987, S. 206f.; sowie Aufstellung der Entwicklung von Tarifverträgen des Kaiserlichen statistischen Amtes zwischen 1906 und 1914, in: Ebd., S. 208f. 23 Schreiben Arnold von Siemens an „Basse & Selve“ vom 29.4.1890, in: SAA 14 Lr 516.

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sche Gemeinschaftsideal zurück und unterstrich mit dem Verweis auf die Ablehnung der „agitatorischen Anträge“ noch dessen Gültigkeit für das eigene Unternehmen, indem er die Loyalität der bei Siemens Beschäftigten hervorhob. Die Kommunizierenden bezogen sich damit auf die patriarchalische Vorstellung des Unternehmens als einem geschlossenen sozialen Raum, gekennzeichnet durch eine besondere Form der Gemeinschaft. Sowohl für Gegner wie auch für Befürworter der Arbeitszeitsenkung bot der Patriarchalismus im Issue-Feld den gemeinsamen Bezugspunkt in der Kommunikation über den Umgang mit der Anforderung. Indem die Akteure des Feldes in ihrer Kommunikation immer wieder derartige patriarchalische Topoi aufgriffen, versicherten sie sich gegenseitig des gemeinsamen patriarchalischen Sinnhorizontes. Diese Semantik zu verwenden wirkte im Issue-Feld integrativ: Durch den Bezug auf dieses gemeinsame Selbstverständnis konnten sie sicher sein, in ihren Bewertungen im Issue-Feld anschlussfähig zu sein. Insofern kann der Bezug auf die patriarchalische Ordnungsvorstellung auch als eine Vermittlungsstrategie verstanden werden. Sie bildete die gemeinsame Grundlage der Verständigung innerhalb des Issue-Feldes, das sich um die Interpretation der Arbeitszeitfrage etablierte. Gleichzeitig wurde so die Bewertung der Issue geprägt. Die zentrale Referenzgruppe für die Bewertung legitimen Verhaltens in Sachen Arbeitszeitverkürzung war vor dem Hintergrund der patriarchalischen Ordnungsvorstellung die betriebliche Gemeinschaft. Allein in dieser Gemeinschaft waren demzufolge die Bedingungen der Arbeitszeitgestaltung auszuhandeln. Diese Bewertung der Anforderung stand einer Verkürzung der Arbeitszeiten nicht per se im Wege. Zwar war es notwendig, einen potenziell symbolträchtigen Schritt wie die Einführung des Achtstundentages, und sei es probeweise, zu legitimieren. Aber es erschien grundsätzlich als begründbare unternehmerische Entscheidung. Arnold von Siemens beschrieb den Achtstundentag 1890 gegenüber dem Unternehmen Basse & Selve sogar als ein allgemeines, langfristiges Ziel. Er zweifle nicht daran, dass die Wirtschaft „sich mit dem Gedanken vertraut machen muss, diesem sogenannten Normal-Arbeitstage allmählich immer näher zu kommen“.24 Das Unternehmen Siemens könne in dieser Entwicklung vorangehen, „selbst wenn die übrige Industrie sich nur langsam diesem Ziele nähert“25. Mit dieser letzten Aussage wird aber deutlich, dass diese Entwicklung vor dem Hintergrund der patriarchalischen Ordnungsvorstellung ausschließlich auf der Grundlage einzelbetrieblicher Entscheidungen Legitimität beanspruchen konnte. Die Senkung von Arbeitszeiten war zwar durchaus legitim, allerdings nur, wenn sie auf der Grundlage einer Entscheidung des „Patriarchen“ bzw. der Firmenleitung herbeigeführt wurde – keinesfalls auf Druck der organisierten Arbeiterschaft. Daher versuchte Siemens in seinem Schreiben auch, der Entscheidung um die Erprobung des Achtstundentages jeden politischen Gehalt abzusprechen. Bei ihrer Forderung ginge es den Arbeitern von Siemens hauptsächlich um „die immer grösser werdenden Entfernungen von ihren Wohnungen. Die achtstündige Ar24 Ebd. 25 Ebd.

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beitszeit betrachten sie nur als eine Consequenz davon und sehen auch wir als eine solche an.“26 Arnold von Siemens entschärfte folglich die politische Dimension der Arbeitszeitsenkung, indem er organisatorische Gründe als Ursache anführt und damit dem Verdacht vorbeugt, Siemens gebe womöglich gewerkschaftlichem Druck nach. Stattdessen betonte Arnold von Siemens, dass die Entscheidung zur probeweisen Senkung von Arbeitszeiten auf der Grundlage eines Aushandlungsprozesses zwischen Firmenleitung und Belegschaft gefallen war. Und das, ganz dem Ideal einer betrieblichen Gemeinschaft entsprechend, im Rahmen direkter Verhandlungen zwischen Firmenleitung und Beschäftigten. Denn über die Einführung einer durchgehenden Arbeitszeit habe man „auf Anregung aus der Mechaniker-Abteilung unseres Charlottenburger Werkes“ die dort beschäftigten Arbeiter abstimmen lassen. Deren Wunsch entsprechend, werde man diese Regelung nun erproben: „von dem Ergebnis dieses Versuchs [werden wir es] abhängig sein lassen, ob wir diese Arbeitseinteilung in allseitigem Interesse auch für die anderen Abteilungen in Aussicht nehmen können“27.

Die probeweise Einführung des Achtstundentages ging demnach auf eine Initiative der Mechaniker-Abteilung zurück. Indem Arnold von Siemens von einer „Anregung“ spricht, macht er seinem Gegenüber deutlich, dass man es hier keinesfalls mit einer durch Streik angedrohten oder von Gewerkschaften formulierten Forderung zu tun habe. Auf dieser Grundlage zeigte sich die Firmenleitung bereit, dem Wunsch nachzukommen. Durch seine Wortwahl bestätigte Arnold von Siemens das patriarchalische Ideal und markierte die legitime Form der Arbeitszeitsenkung, die auf der Aushandlung mit der „eigenen“ Belegschaft beruhen sollte. Damit ist der im Issue-Feld vor dem Hintergrund der patriarchalischen Ordnungsvorstellung abgesteckte legitime Möglichkeitsraum des Umganges mit der Anforderung bereits skizziert. Die patriarchalische Ordnungsvorstellung stand der Senkung nicht entgegen, band jedoch den Umgang mit der Anforderung an ganz bestimmte Kriterien, sollte er legitim sein. Das patriarchalische Unternehmensverständnis, von dem ausgehend die Situation bewertet wurde, bezog sich allein auf die betriebliche Gemeinschaft. Sie bildete die Referenz für die Bewertung legitimen Handelns. Solange die Frage der Arbeitszeitgestaltung im Bereich einer alleinigen Entscheidung der Unternehmensleitung lag beziehungsweise auf kooperativen Verhandlungen innerhalb der betrieblichen Gemeinschaft beruhte, war sie legitim. Wenn Arnold von Siemens in seinem Schreiben von der „übrigen Industrie“ sprach, die sich diesem Ziel nur langsam nähere, verwies er indirekt auf diese legitime Form der Arbeitszeitsenkung: eine Senkung auf der Basis einzelbetrieblicher unternehmerischer Entscheidungen. Vor dem Hintergrund dieser Ordnungsvorstellung erschienen in Gewerkschaften organisierte Arbeitnehmer als illegitime Akteure für die Aushandlung von Arbeitszeiten. Kompromisse mit ihnen zu schließen, bedeutete „agitatori26 Ebd. 27 Ebd.

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schen“ Forderungen „nachzugeben“, eine, vom patriarchalischen Standpunkt aus betrachtet, illegitime Form der Arbeitszeitsenkung. Jede von Seiten der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer formulierte Forderung, oder gar eine tarifvertragliche Normierung des Arbeitstages, war ein Angriff auf die im Issue-Feld geteilte Ordnungsvorstellung. Gleiches galt für die Diskussionen, die in den 1890er-Jahren im Zuge des „Neuen Kurses“ der Sozialpolitik über eine mögliche gesetzliche Regulierung der Arbeitszeiten geführt wurden.28 Die Arbeitszeiten auf einer überbetrieblichen Ebene zu regeln bedeutete vor dem Hintergrund der patriarchalischen Ordnungsvorstellung, die Frage der Arbeitszeitsenkung aus dem Raum einer unternehmerischen Entscheidung herauszunehmen. Das stellte jedoch den patriarchalischen „Herr-im-Hause-Standpunkt“ infrage und somit einen fundamentalen Bestandteil des unternehmerischen Selbstverständnisses. Auch Unternehmen wie Siemens, die einer Senkung nicht grundsätzlich kritisch gegenüberstanden, lehnten daher bestimmte Handlungsoptionen ab. Die gegenwärtige patriarchalische Ordnung der Arbeitsbeziehungen sollte nicht infrage gestellt werden. Das Spektrum des möglichen Umganges mit der Anforderung wurde ausgehend von der patriarchalischen Ordnungsvorstellung auf einen bestimmten für legitim erachteten Raum eingegrenzt, der im Issue-Feld aufgegriffen, bestätigt und damit institutionalisiert wurde. Die „Regeln“ des Umganges mit der Anforderung entstanden folglich erst im Rahmen eines Austauschprozesses im Issue-Feld. Die hier beispielhaft herausgearbeitete Deutung war zwar keineswegs die einzig mögliche, wohl aber eine im Issue-Feld sehr präsente. Zu ihr musste sich positionieren, wer in die Debatte um den Umgang mit der Anforderung, Arbeitszeiten zu senken, involviert war. Damit wurden freilich keine expliziten Institutionen geschaffen, deren Einhaltung durch einen Katalog von Sanktionen garantiert worden wäre. Die Zuweisungen von Legitimitäten an das mögliche Verhalten im Umgang mit der Anforderung kommen jedoch einer Institutionalisierung gleich. Durch sie wurde eine den Feldteilnehmern bekannte Abgrenzung zwischen „richtigem“ und „falschem“ Verhalten etabliert. Abweichungen davon waren möglich, das zeigen schon die seit den 1890er-Jahren zunehmenden Abschlüsse von Tarifverträgen.29 Allerdings legte die patriarchalische Ordnungsvorstellung diese Handlungsoption nicht von vorneherein nahe, sondern ließ sie als einen letzten Ausweg, als ein notwendig gewordenes Übel erscheinen. Wer vom legitimen Pfad des Umganges mit der Anforderung abwich, hatte mit Kritik zu rechnen. Derjenige war sich darüber bewusst, gegen eine „Regel“ zu verstoßen. Bewertung Die beispielhafte Anwendung des neo-institutionalistischen Feldkonzeptes auf eine Quelle macht deutlich, um welch wirksames Mittel es sich bei ihr für die his28 Vgl. dazu allgemein Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1 Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1998, S. 359f. 29 Vgl. Scharf (1987), S. 190f.

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torisch-kritische Interpretation handelt. Zwei aus dem Neo-Institutionalismus abgeleitete Grundannahmen bildeten den Ausgangspunkt der Interpretation: Demzufolge ist unternehmerisches Handeln erstens bedingt durch Anforderungen, die aus der gesellschaftlichen Umwelt an das Unternehmen herangetragen werden; und zweitens muss der Umgang mit diesen Anforderungen legitim sein. Damit rückte gegenüber politischen Rahmenbedingungen oder der konjunkturellen Situation ein Aspekt der Senkung von Arbeitszeiten in den Vordergrund, der bislang in der historischen Forschung vernachlässigt wurde: die Wahrnehmung der zeitgenössischen Akteure. Auf der Grundlage des Neo-Institutionalismus konnte die Arbeitszeitsenkung als Anforderung beschrieben werden, deren Handhabung legitim sein musste, die folglich im Unternehmen zu deuten war. In dieser Perspektive rückt die Bedeutung der patriarchalischen Wahrnehmung in den Fokus. Von ihr hing ab, wie die Anforderung bewertet und welche Formen des Umganges mit ihr für legitim erachtet wurden. Damit schuf der Neo-Institutionalismus zunächst einen neuen Zugang zu den Quellen, ermöglichte demnach neue Fragen an sie. In einem weiteren Schritt galt es, den Ansatz in Bezug auf die Frage nach der Relevanz der Ordnungsvorstellungen zu operationalisieren. Um deren Wirkung untersuchen zu können, wurde ein spezielles Konzept des neo-institutionalistischen Theorie-Universums herausgegriffen, das des Issue-Feldes. Auf seiner Grundlage konnte das Schreiben Arnold von Siemens’ als Teil eines Kommunikationsprozesses verstanden werden, in dem sich die Unternehmerschaft über den Umgang mit der Anforderung verständigte. Schließlich zeigt die Unsicherheit über den Umgang mit der Arbeitszeitsenkung, dass nicht von per se „institutionalisierten“ Anforderungen ausgegangen werden kann. Weder ist eine Anforderung wie die „Arbeitszeitsenkung“ einfach objektiv vorhanden, noch kann der Umgang mit ihr aus dem abgeleitet werden, was im ökonomischen Sinne rational erscheint. Das Finden von Regeln für die Gestaltung von Arbeitszeiten ist folglich ein erklärungsbedürftiger Prozess. Das Konzept des Issue-Feldes trägt hier dazu bei, den Blick auf die Genese von Institutionen zu richten. Es lenkt den Blick auf die diskursiven Kontexte, innerhalb derer Institution ausgehandelt werden. Benannt werden sollen allerdings auch die Grenzen der Theorie-Anwendung. Von ihr ausgehend können nicht einfach einzelne Quellen interpretiert werden, wie es in diesem Aufsatz die beispielhafte Anwendung des neoinstitutionalistischen Feld-Konzeptes auf ein einzelnes Quellenbeispiel vielleicht suggeriert. Das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Existenz eines Feldes erst anhand einer Vielzahl weiterer Quellen belegt und analysiert werden kann. Gerade in der Verknüpfung mehrerer Quellen liegt die eigentlich Stärke des FeldKonzeptes im Speziellen und der theoriegeleiteten Arbeitsweise im Allgemeinen. Denn dadurch verliert die Quelle ihre Singularität. Sie gibt eben nicht nur Auskunft über die Haltung von Arnold von Siemens, sondern kann in Beziehung zu einer viel weitergehenden Diskussion gesetzt werden, die weit über dieses Unternehmen hinausgeht. Somit bietet dieser Ansatz auch einen Rahmen, um Quellen ganz unterschiedlicher Unternehmen in Beziehung zu setzen, indem sie als Teile eines Issue-Feldes sichtbar werden. Die Theorie schafft demnach einen Interpretationszusammenhang, der über das hinausgeht, was eine einzelne Quelle für sich

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betrachtet zu verraten vermag. Der NI ermöglicht es, das empirische Material auf eine Weise zu ordnen und zu bewerten, die sich nicht aus den Quellen selbst ergibt. So können neue Zugänge und Lesarten zu den Quellen geschaffen werden, es werden neue Fragestellungen – und ergo: Ergebnisse – möglich, die nicht aus den Quellen selbst zu gewinnen sind. Literatur Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) (Hg.): Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung, Marburg 2004. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1 Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1998. Senge, Konstanze/Hellmann, Kai-Uwe (Hg.): Einführung in den Neo-Institutionalismus, Wiesbaden 2006. Walgenbach, Peter/Meyer, Renate: Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, Stuttgart 2008.

4.1.3 DIFFERENZKATEGORIEN: DER KAMPF UM LOHNGLEICHHEIT UND INSTITUTIONELLEN WANDEL Katja Patzel-Mattern Intersektionale Betrachtungen, die soziale Kategorien und ihre Wechselwirkungen in den Blick nehmen,1 können auf vier Ebenen an eine (neo-)institutionalistische Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte anknüpfen. Evident ist zunächst der thematische Anknüpfungspunkt: Unternehmen sind neben ihrer formalen Leistungsorientierung Orte vielfältiger sozialer Hierarchisierung. Dies verdeutlicht ein Blick in die intersektionale Pionierstudie von Kimberlé Crenshaw.2 Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in Diskriminierungserfahrungen, die US-amerikanische, schwarze Frauen bei General Motors, Hughes Helicopter und Travenol machten. Zusätzlich zum gemeinsamen Untersuchungsfeld bieten formgebundene wie formlose Institutionen im Sinne der Neuen Institutionenökonomik weitere Anknüpfungspunkte. Auch hier kann die Studie Crenshaws als Beispiel dienen. Sie analysiert die Grenzen der Rechtsprechung, die aus der Fixierung auf isolierte Diskriminierungsphänomene3 resultieren. Damit betrachtet sie eine formgebundene Institution, die für die Gestaltung ökonomischer Austauschbeziehungen von hoher Relevanz ist. Im betrieblichen Alltag fundiert diese formgebundene Institution der Rechtsprechung die Handlungspraxis von Akteuren. Dies kann beispielsweise in der nichtkodifizierten Ausgestaltung von Karrierewegen resp. Aufstiegschancen geschehen. Beide genannten Institutionen – Rechtsprechung und nicht kodifizierte innerbetriebliche Ordnung – sind auch im Rahmen der vorliegenden Argumentation relevant. Allerdings werden sie nicht – wie bei Crenshaw – als gegeben angenommen. Vielmehr sind es Veränderungsprozesse im Sinne institutionellen Wandels, die im Rahmen der Fallstudie von Bedeutung sind. Dies führt zum vierten Anknüpfungspunkt an eine (neo-)institutionalistische Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte: den Feldkonzepten.4 In dieser Perspektive ist es möglich, sowohl mehrdimensionale Diskriminierungserfahrungen im betrieblichen Kontext als auch ihre mögliche Überwindung infolge eines sich wandelnden Issue-Feldes – hier Arbeit und Geschlecht – zu analysieren. 1

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Vgl. Katharina Walgenbach: Intersektionalität als Analyseperspektive heterogener Stadträume, in: Elli Scambor, Fränk Zimmer (Hg.): Die intersektionelle Stadt. Geschlechterforschung und Medien an den Achsen der Ungleichheit, Bielefeld 2012, S. 81–92, hier S. 81. Vgl. Kimberlé Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. Feminist Theory and Antiracist Politics, in: The University of Chicago Legal Forum Volume: Feminism in the Law: Theory, Practice and Criticism (1989), S. 139–167. Ausführlicher zum Ansatz der Intersektionalität vgl. Kap. 3.4 im vorliegenden Band. Vgl. Crenshaw (1989), hier vor allem DeGraffenreid vs. General Motors, S. 141–143. Vgl. hierzu den Artikel von Albrecht Franz (4.1.2).

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Empirische Anwendungen

Das Potenzial einer Verschränkung intersektionaler und neoinstitutionalistischer Perspektiven in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte wird im Folgenden am Beispiel der sogenannten Heinze-Frauen erprobt.5 Angestellte des Fotolabors Heinze in Gelsenkirchen erfuhren Ende der 1970er-Jahre eher zufällig davon, dass sie für vergleichbare Arbeit weniger Lohn erhielten als ihre männlichen Kollegen. 29 Frauen klagten gegen die Ungleichbehandlung. Ihre geschlechtliche und, wie zu zeigen sein wird, auch soziale Diskriminierungserfahrung konnte sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur artikulieren, sondern auch Niederschlag in der Rechtsprechung finden. Dieser Fall ist ein Beispiel dafür, dass etablierte Verfahren der Lohnfestsetzung im Unternehmen angesichts gewandelter öffentlicher Wahrnehmung und einer sich verändernden Rechtsprechung verändert werden müssen. Zugleich zeigt er aber die Grenzen von Veränderungswirkungen auf. Konzeptspezifikation Anhand dieses konkreten Falles fragt der Artikel nach der Relevanz von Differenzkategorien in der Arbeitswelt und ihrer gesellschaftlichen Einbettung innerhalb eines Issue-Feldes. Er folgt dabei einer Einschätzung Cornelia Klingers. Ihr zufolge bilden Geschlecht, Klasse und Ethnie „nicht bloß Linien von Differenzen zwischen individuellen oder kollektiven Subjekten, sondern […] das Grundmuster von gesellschaftlich-politisch relevanter Ungleichheit, weil Arbeit und zwar namentlich körperliche Arbeit ihren Existenzgrund und Angelpunkt ausmacht“6.

Es geht mithin erstens darum, die Wirksamkeit sozialer Hierarchisierung für die Betriebsorganisation in den Blick zu nehmen. Da Ethnie im Fall der HeinzeFrauen kein relevantes Differenzmerkmal darstellte, wird sich die Analyse in diesem Fall ausschließlich auf die Kategorien Geschlecht und Klasse konzentrieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Konstellation von formlosen wie formgebunden Institutionen ebenso wie ihre Positionierung und Verhandlung innerhalb eines Issue-Feldes für die soziale Hierarchisierung in Unternehmen besonders relevant sind. Ziel ist es somit zweitens, jene Akteure, die an der Aushandlung des Themas beteiligt sind, in den Blick zu nehmen. Das ermöglicht es, jene Faktoren zu betrachten, die dazu beitragen, Diskriminierungen in der Arbeitswelt zu stabilisieren oder zu destabilisieren. Obwohl institutioneller Wandel stattfindet, wird zu 5 6

Vgl. Marianne Kaiser (Hg.): Wir wollen gleiche Löhne! Dokumentation zum Kampf der 29 Heinze-Frauen, Hamburg 1980. Cornelia Klinger: Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht, in: Gudrun-Axeli Knapp, Angelika Wetterer (Hg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II, Münster 2003, S. 14–48, hier S. 26. Zum Zusammenhang von Differenzkategorien und Arbeit resp. ökonomischem System vgl. auch Nina Degele, Gabriele Winker: Intersektionalität als Mehrebenenanalyse, 2007, S. 1–16, hier S. 3–5; online unter http://www.tuhh.de/agentec/winker/ pdf/Intersektionalitaet_Mehrebenen.pdf (Zugriff 30.1. 2014), S. 3–5.

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zeigen sein, dass dieser weder umfassend ist noch gradlinig verläuft.7 Der Artikel macht damit die Relevanz gesellschaftlicher Normsetzungen für ökonomisches Handeln deutlich: Nur wenn sich Unternehmen mit ihrer Betriebsorganisation innerhalb der Spielregeln bewegen, die im Issue-Feld akzeptiert werden, erlangen sie jene Legitimität, die für ihren ökonomischen Erfolg grundlegend ist. Wie die vorhergehenden Ausführungen verdeutlichen, können die Ausformung und Beständigkeit, aber auch die Infragestellung von Diskriminierungen in der betrieblichen Praxis anhand ihrer Positionierung und Verhandlung im IssueFeld verstanden werden. Das Issue-Feld bezeichnet ein spezifisches organisationales Feld,8 innerhalb dessen ein Themenkomplex – hier Arbeit und Geschlecht – verhandelt wird. Es umfasst jene Akteure, die sich an der Prägung und Definition dieses Themenfeldes beteiligen.9 Dazu können andere Unternehmen, Behörden und Konsumenten,10 aber, wie das Fallbeispiel zeigt, in Situationen des Konfliktes auch weitere gesellschaftliche Organisationen wie Parteien, Medien, Bildungseinrichtungen, Gewerkschaften und andere mehr gehören. Sie alle sind innerhalb des Issue-Feldes an der Herausbildung und Veränderung jener Erwartungsstrukturen beteiligt, die prägend auf die Ausgestaltung von Unternehmen einwirken. Diese Ausgestaltung geschieht sowohl mithilfe fixierter Regeln und Verträge als auch auf der Basis geteilter Überzeugungen. Zu Ersteren zählen beispielsweise Arbeitsverträge, die an geltendes Recht gebunden sind, und Fragen der Entlohnung, des Urlaubsanspruches und der Arbeitszeiten regeln. In den hier vorgenommenen Festschreibungen manifestieren sich, im Sinne intersektionaler Überlegungen, soziale Ordnungen. Diese können, wie im Fallbeispiel ein Schutzgesetz, hier das Nachtarbeitsverbot für Frauen, als Legitimation für Diskriminierungen instrumentalisiert werden. Es wird zu zeigen sein, dass sowohl die Entlohnungspraxis basierend auf tarif- und einzelvertraglichen Vereinbarungen als auch deren Rechtfertigung durch das Unternehmen im betrachteten Zeitraum an Legitimität verliert. Grund dafür ist ein Wandel der im Issue-Feld verhandelten Überzeugungen. Institutioneller Wandel findet statt, der Einfluss auf das Unternehmen als vielfach gebundenem Akteur, aber auch auf die anderen Mitspieler im Issue-Feld hat.

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Zur Persistenz eines geschlechtersegregierten Arbeitsmarktes vgl. Maria Funder: Soziologie der Wirtschaft. Eine Einführung, München 2011, hier vor allem S. 172–174. 8 „Das Konzept des organisationalen Feldes steht […] für eine Gruppe von Organisationen, die in ein gemeinsames Sinnsystem eingebunden ist und durch aufeinander bezogene Handlungen und gemeinsame Regulationsmechanismen erkennbar wird.“ Peter Walgenbach, Renate Meyer: Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, Stuttgart 2008, S. 33. Vgl. hierzu den Beitrag von Thilo Jungkind, Kap. 2.2 in diesem Band. 9 Vgl. hierzu Renate Meyer: Globale Managementkonzepte und lokaler Kontext. Organisationale Wertorientierung im österreichischen öffentlichen Diskurs, Wien 2004. 10 Vgl. Paul J. DiMaggio, Walter W. Powell: The Iron Cage Revisited. Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields, in: American Sociological Review 48 (1983), S. 147–160, hier S. 148.

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Operationalisierung Um diesen institutionellen Wandel hinsichtlich der Wahrnehmung multipler Diskriminierungen im Issue-Feld „Arbeit und Geschlecht“ zu analysieren, wird das Issue-Feld ausgehend von den zentralen Akteuren rekonstruiert: dem Unternehmen Heinze Fotolabor-Betriebe und den Heinze-Frauen. Beide Akteursgruppen können im Sinne des vorgestellten Ansatzes als organisationale Akteure verstanden werden.11 Hinsichtlich des Unternehmens leuchtet dies unmittelbar ein, braucht jedoch bei den Heinze-Frauen eine zusätzliche Erklärung. Schließlich war ihr Zusammenschluss nicht formal institutionalisiert. Dennoch verstanden sich die personalen Akteure, sprich die 29 klagenden Frauen, für die Zeit ihres Rechtsstreites um gleichen Lohn durchaus als Gruppe. Deren innerer Zusammenhalt war für die Frauen eine wichtige Grundlage. Er beförderte eine Auseinandersetzung mit dem Unternehmen und machte deren möglichen Erfolg erst denkbar. Die Wahrnehmung als Gruppe findet ihren Ausdruck in der Selbstbenennung „FotoHeinze-Frauen“ und der konsequenten Verwendung des ‚Wir‘ beispielsweise in der 1980 erschienenen Dokumentation „Wir wollen gleiche Löhne“.12 Die beiden organisationalen Akteure, Heinze Fotolabor-Betriebe und HeinzeFrauen, sind nicht nur wegen ihrer Schlüsselrollen im Konflikt von besonderem Interesse. Sie zeichnen sich vielmehr auch durch eine sehr unterschiedliche Positionierung im Issue-Feld aus. Zwar haben sowohl das Unternehmen wie auch die Heinze-Frauen eine Vorstellung davon, dass sie Teil des Issue-Feldes „Arbeit und Geschlecht“ sind, und beziehen sich in ihren Handlungen aufeinander, doch bieten sie ganz unterschiedliche Deutungen des Themas an. Sie repräsentieren gewissermaßen Pole innerhalb der „Gültigkeitsräume institutioneller Orientierung“13. Insofern sind sie Akteure eines Issue-Feldes, das Andrew J. Hoffman, Professor für nachhaltige Unternehmensentwicklung, als „center of debates“ versteht. Es bildet sich entlang aktueller, gesellschaftlich relevanter Themen; hier wird um die Gültigkeit von Institutionen gerungen. „The notion that an organizational field forms around a central issue […] introduces the idea that fields become centers of debates in which competing interests negotiate over issue interpretation. As a result, competing institutions may lie within individual populations (or classes of constituencies) that inhabit a field, becoming situated institutions. Field formation is not a static process; new forms of debate emerge in the wake of triggering events that cause a reconfiguration of field membership and/or interaction patterns.“14

11 Zum Verhältnis von Geschlecht und Organisation vgl. Funder (2011), S. 175–179. 12 Kaiser (1980); aber auch Gisela Kessler: Keiner schiebt uns weg! – Der Kampf der HeinzeFrauen, in: Dorothea Müller, Holger Menze, Jörg Wollenberg: Das Wunder von Hörste – 50 Jahre Arbeitnehmerbildung. Ein Lese-Bilder-Buch, Hamburg 2004, S. 206–209. 13 Meyer (2004), S. 185. 14 Andrew J. Hoffman: Institutional Evolution and Change: Environmentalism and the U.S. Chemical Industry, in: The Academy of Management Journal 42/4 (1999), S. 351–371, hier S. 351.

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Grete Prill mit dem Song der Heinze-Frauen; Foto aus der Dokumentation der IG Druck und Papier „Wir wollen gleiche Löhne – Keiner schiebt uns weg“, o.J., S. 17.

Die Analyse wird zeigen, dass beide organisationalen Akteure innerhalb gegebener formgebundener Institution – hier sowohl das Grundgesetz als auch das Arbeitsrecht – Deutungen möglicher Spielräume und legitimer Spieler anbieten. Deren Legitimität wird jedoch innerhalb eines sich verändernden Feldes neu gewichtet. Dies führt zu einem Legitimitätsverlust der unternehmerischen Position, die Veränderungen im Issue-Feld nicht oder zu spät wahrnimmt. Im Gegensatz dazu besetzen die Heinze-Frauen mit gewerkschaftlicher Unterstützung eine Position innerhalb des Feldes, die sich als thematisch offen für Anschlüsse erwies. Sie ge-

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Empirische Anwendungen

wann im Laufe der Auseinandersetzung an Legitimität. Diese wird schließlich durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes 1981 gewissermaßen institutionalisiert (auch wenn die Umsetzung in eine Praxis am Arbeitsmarkt keinesfalls problemlos erfolgte)15. Die beiden ausgewählten Quellen bieten Momentaufnahmen eines frühen Zeitpunktes dieser Entwicklung. Sie entstanden beide im Jahr 1979 und stellten Reaktionen auf das Agieren des jeweils anderen innerhalb des Issue-Feldes dar. Die erste Quelle stammt vom Januar 1979, als die Heinze Fotolabor-Betriebe mit einem offenen Brief an die lokale Buersche Zeitung auf einen Bericht über die Pressekonferenz der Heinze-Frauen reagierten. Auf dieser Pressekonferenz war die Klage der Frauen gegen die herrschende Entlohnungspraxis beim Arbeitsgericht Gelsenkirchen angekündigt worden. In dem offenen Brief formulierte das Unternehmen medienöffentlich seinen Standpunkt. Im Zuge des Prozesses knappe vier Monate später entstand im Mai 1979 die zweite Quelle: ein Lied der HeinzeFrauen, indem diese den eigenen Bewusstwerdungsprozess sowie ihre Wahrnehmung der gesellschaftlichen Einbettung des Protestes präsentierten. Das Lied sollte zu einem wichtigen Element der öffentlichen Mobilisierung werden. Beide Texte konnten aufgrund ihrer medialen Verbreitung eine Wirkung innerhalb des Issue-Feldes entfalten. Sie machten die divergierenden Standpunkte und ihre jeweiligen Legitimationen einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Insofern markierten sie die Grenzen des Thematisierbaren innerhalb des Feldes. Dabei beziehen sie sich auf jeweils unterschiedliche Ordnungsvorstellungen. Die HeinzeFotolabor-Betriebe rekurrieren auf ein Selbstbestimmungsrecht der Unternehmen im Bereich der übertariflichen Zulagen (Vertragsfreiheit) und argumentieren durchaus im Sinne bisheriger Rechtsprechung.16 Sie knüpfen damit aber zugleich argumentativ an ein patriarchalisches Unternehmensverständnis an, das das Unternehmen als primären Ort der Austragung von Konflikten zwischen Unternehmensleitung und innerbetrieblichen Interessenvertretern resp. einzelnen Mitarbeiterinnen sieht. Dieses wird gegenüber älteren Vorstellungen zwar um eine Schiedsrichterfunktion in Form des Arbeitsgerichtes erweitert, eine wie auch immer verstandene Öffentlichkeit wird jedoch weiterhin als legitimer Akteur zurückgewiesen. Die Heinze-Frauen hingegen distanzieren sich gerade von dem vertretenen Konzept einer betrieblichen Gemeinschaft. Sie stellen ihm eine Vorstellung grundsätzlicher Interessendifferenzen von lohnabhängig Beschäftigten und Unternehmern entgegen und mobilisieren damit klassenkämpferische Vorstellungen. Auch dies geschieht durchaus in Abgrenzung zu überkommenen Formen: So fordern die Frauen keine Umwälzung der Verhältnisse, sondern ihre Veränderung durch Rechtsprechung. Es wird deutlich, dass beide Akteure in der Anerken15 Auch 2012 bestanden erhebliche Verdienstunterschiede zwischen Männern und Frauen fort. So verdienten laut Statistischem Bundesamt Frauen pro Stunde im Durchschnitt 22 Prozent weniger als Männer. Siehe hierzu https://www.destatis.de/DE/Publikationen/STAT magazin/Verdienste Arbeitskosten/2013_03/Verdienste2013_03.html (Zugriff 30.1.2014). 16 Vgl. hierzu das Urteil der III. Kammer des Arbeitsgerichtes Gelsenkirchen vom 10. Mai 1979, Entscheidungsgründe, S. 12, in: Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Münster, Arbeitsgericht Gelsenkirchen, Nr. 636.

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nung der Justiz als weiterem organisationalen Akteur und der Rechtsprechung als formgebundener Institution übereinstimmen. Die Rechtsprechung wird dann auch eine zentrale Rolle für den zu beobachtenden institutionellen Wandlungsprozess innerhalb des Issue-Feldes spielen. In einer Medienöffentlichkeit, die spätestens mit dem Urteil des Arbeitsgerichtes Gelsenkirchen im Mai 1979 auch überregional zu einem wichtigen Akteur des Issue-Feldes wurde, konnten beide Ordnungsvorstellungen zu Orientierungspunkten innerhalb des „center of debates“ werden. Hier ergriffen neben dem Unternehmen und den betroffenen Frauen sowie den erwähnten Medien vor allem der Betriebsrat des Unternehmens in Person des damaligen Vorsitzenden Bodo Murach, aber auch die Betriebsrätinnen Grete Prill und später Angela Czybulski das Wort. Sie wurden unterstützt durch die Gewerkschaft IG Druck und Papier, hier allen voran durch Gisela Kessler, damalige „Frauensekretärin“ im Hauptvorstand der Gewerkschaft. Weitere wichtige Stimmen im „center of debates“ waren die Justiz, namentlich das Arbeitsgericht Gelsenkirchen, das Landesarbeitsgericht Hamm und das Bundesarbeitsgericht Kassel, eine regionale Öffentlichkeit, wie sie sich beispielhaft in der Volkshochschule Gelsenkirchen repräsentiert durch Marianne Kaiser manifestierte, sowie die Politik. Exemplarisch seien hier die prominenten Mitglieder der SPD Willy Brandt und Annemarie Renger genannt. Letztere war zum damaligen Zeitpunkt Bundestagspräsidentin und engagierte sich für Lohngleichheit von Frauen und Männern.17 Hinzu traten weitere Unternehmen und Frauen, die zur gleichen Zeit dasselbe Thema verhandelten. Hingewiesen sei hier nur auf die Schickedanz-Frauen, die 1982 vor dem Bundesarbeitsgericht klagten. Innerhalb des so verfassten Feldes stellten die Ordnungsvorstellungen divergierende Bewertungsmaßstäbe legitimen Verhaltens bereit. Dieses Zusammenspiel von Feld, Ordnungsvorstellungen und Bewertungsmaßstäben legitimen Verhaltens soll in einem ersten Schritt anhand zentraler Sprachbilder und Formulierungen in den Quellentexten vergleichend untersucht werden. Dabei ist es in einem zweiten Schritt notwendig, die herausgearbeiteten Elemente innerhalb des Diskurses zu verorten. Auf diese Weise kann institutioneller Wandel innerhalb des Feldes, der zum Legitimitätsverlust der unternehmerischen Position führte, verdeutlicht werden. Einleitend wird jedoch zunächst der historische Kontext der betrachteten Ereignisse vorgestellt.

17 Exemplarisch zwei veröffentlichte Beiträge der erwähnten politischen Akteure zum IssueFeld: Annemarie Renger: Gleiche Chancen für Frauen? Berichte und Erfahrungen an die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Heidelberg u.a. 1977; Willy Brandt (Hg.): Frauen heute, Jahrhundertthema Gleichberechtigung, Köln u.a. 1978; sowie die Dokumentation der Auseinandersetzung der IG Druck und Papier: IG Druck und Papier (Hg.): „Wir wollen gleiche Löhne – keiner schiebt uns weg!“, in: Allgemeine Schriftenreihe der IG Druck und Papier, Heft 34, Stuttgart o.J.

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Fallbeispiel „Am Anfang stand die Entdeckung, daß die Firma Heinze uns für gleiche Arbeit weniger zahlte als den Männern.“18 Mit diesen Worten beginnt die Dokumentation des Kampfes der 29 Heinze-Frauen und ihrer gewerkschaftlichen Vertreter um Lohngleichheit. Diese Entdeckung, die sich auf die konkrete Entlohnungspraxis im übertariflichen Bereich bezog, war Folge einer betriebsbedingten Umstrukturierung im Unternehmen. Bis 1977 waren im Stammsitz der Heinze FotolaborBetriebe in Gelsenkirchen ausschließlich Frauen in der Filmentwicklung beschäftigt. Als mit Beginn des Jahres 1978 auf einen Drei-Schichten-Betrieb umgestellt wurde, war infolge des Nachtarbeitsverbotes für Frauen die Einstellung von Männern unabdingbar. Sie wurden mit wenigen begründeten Ausnahmen in der gleichen Lohngruppe wie die Frauen, also als Arbeiter, geführt. Allerdings – und darauf bezieht sich die im Zitat angesprochene Entdeckung – erhielten die Männer höhere außertarifliche Zulagen. Während bei den Frauen mehr als die Hälfte der später 29 Klagenden gar keine und die anderen Zulagen zwischen 12 Pfennig und 1,04 DM bekamen, lag die Höhe der Zulagen bei den Männern der gleichen Lohngruppe zwischen 70 Pfennig und 2 DM pro Stunde. Männer, die in der Lohngruppe 3 eingruppiert waren, erhielten Zulagen zwischen 1,50 und 1,75 DM.19 Diese außertariflichen Zulagen wurden bei jenen Männern, die in der Nachschicht beschäftigt waren, zusätzlich zur gesetzlichen Zulage gezahlt. Nachdem sich die betroffenen Frauen in einem zunächst schwierigen internen Verständigungsprozess ihrer systematischen Schlechterstellung bewusst geworden waren – „In einer Dunkelkammer/da reifte der Entschluß,/daß bei gleicher Arbeit/auch gleich bezahlt sein muß.“20 –, forderten sie mithilfe des Betriebsrates die Unternehmensleitung auf, ihre Zulagenpraxis zu revidieren. Diese verweigerte sich dem Anliegen, worauf die Frauen, nun mit gewerkschaftlicher Unterstützung, ihre Forderungen öffentlich machten und schließlich ein arbeitsgerichtliches Verfahren anstrengten. Auf diesen Schritt in die Öffentlichkeit reagierte das Unternehmen mit einem offenen Brief in der lokalen Buerschen Zeitung: Briefe an die Redaktion „Wir zahlen grundsätzlich gleiche Entgelte für gleiche Arbeitsplätze“ […] Die subjektive Ansicht einzelner oder einer kleinen Gruppe ist teilweise so dargestellt worden, als ob es hier um die Grundsatzeinstellung ginge. Es ist uns unverständlich, daß hier die subjektive Meinung einzelner oder einer kleinen Gruppe als Tatsache dargestellt wird, ohne die Gegenseite zu hören, die diese Einzelfälle anders sieht. Im Einzelnen stellt sich der Tatbestand wie folgt dar: […] 1.

Die Lohn- und Gehalts- sowie die Manteltarifverträge sehen keine Differenz für weibliche

18 Kaiser (1980), S. 12. 19 Angaben entnommen aus: Bundesarbeitsgericht Kassel, 5 AZR 1182/79, Urteil vom 09.09.1981, Tatbestand, S. 4–5. 20 IG Druck und Papier (o.J.), S. 17.

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oder männliche Mitarbeiter vor. Wir zahlen grundsätzlich gleiche Entgelte für gleiche Arbeitsplätze. Auch im übertariflichen Bereich zahlt die Firma in einwandfrei vergleichbaren Fällen an Männer und Frauen die gleichen übertariflichen Zulagen. Was in vielen Fällen nachweisbar ist. […] Das Arbeitsrecht mit seinen vielen verschiedenen Bestimmungen ist inzwischen so komplex geworden, daß unterschiedliche Rechtsauffassungen nicht ungewöhnlich sind. Wenn Arbeitnehmer und ihre Vertreter anderer Meinung sind als der Arbeitgeber, gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, sachlich oder arbeitsgerichtlich abzuklären, welche Ansicht den gesetzlichen Bestimmungen entspricht.

1. 2. 3. 4. 5.

Weder die Geschäftsleitung noch die Personalabteilung wurde bisher von den einzelnen Mitarbeitern direkt oder über den Betriebsrat angesprochen. Lediglich in Betriebsversammlungen wurde ausschließlich allgemein über den Grundsatz der Gleichbehandlung gesprochen. Anfang Dezember hat die Rechtsstelle des DGB global für die genannten Frauen Lohnerhöhungen oder eine Stellungnahme gefordert. In unserer Stellungnahme legten wir die sachlichen Gründe für die differenzierte Entlohnung dar und boten gleichzeitig Gespräche über jeden Einzelfall an. […] Wir möchten nochmal ausdrücklich betonen, es handelt sich hier nicht um eine Grundsatzfrage. Wir zahlen grundsätzlich für echte vergleichbare Arbeitsplätze keine unterschiedlichen Löhne für Männer und Frauen, weder im tariflichen noch im übertariflichen Bereich. […] Soweit in einzelnen Fällen, und um solche handelt es sich ja (die diskutierte Sachlage betrifft nicht mal 10 Prozent der Mitarbeiter), unterschiedliche Rechtsauffassungen bestehen, sollten diese, wie bereits gesagt, in sachlicher Form, unter Umständen auch vor dem Arbeitsgericht, abgeklärt werden. […] Wieso der DGB von diesem Verfahren abgewichen ist und den Weg in die Öffentlichkeit beschritt, anstatt die angebotenen Gespräche mit der Unternehmensleitung zu führen, ist uns unerklärlich. Geschäftsleitung Heinze Fotolabor-Betriebe Manfred Baberg Quelle: Buersche Zeitung, 17. Januar 1979, Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen.

Der Brief erweist seinen besonderen Wert für eine integrierte, intersektionale wie institutionentheoretische Überlegungen berücksichtigende Analyse in dreierlei Hinsicht: erstens für die Rekonstruktion des Issue-Feldes in seiner kontextspezifischen Form, zweitens für die Bestimmung relevanter Institutionen innerhalb des Feldes sowie drittens für die Untersuchung von Legitimationen unternehmerischen Handelns in Bezug auf etablierte Ordnungsvorstellungen. Mit der Wahl des offenen Briefes als Medium der Kommunikation unternehmerischer Positionen dokumentieren die Heinze Fotolabor-Betriebe im Januar 1979, dass sie sich der Existenz ebenso wie der spezifischen Verfasstheit des Issue-Feldes „Arbeit und Geschlecht“ in der betrachteten Zeit bewusst sind. Es ist aus Sicht des Unternehmens durch seine – im Brief kritisierte – Öffentlichkeit gekennzeichnet. Innerhalb dieser kam den Medien eine besondere Relevanz zu,

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die die zentralen Akteure als Ressource verstanden: Die betroffenen Frauen kommunizieren ihre Klageabsicht mit gewerkschaftlicher Unterstützung auf einer Pressekonferenz, das Unternehmen nutze die lokale Presse für die Darstellung seiner Sicht der Dinge. Der übereinstimmenden Einschätzung einer medial geprägten Öffentlichkeit des Issue-Feldes steht jedoch eine unterschiedliche Bestimmung der legitimen Spieler im Feld einerseits durch das Unternehmen, andererseits durch die betroffenen Frauen unterstützt von Betriebsrat und Gewerkschaft gegenüber. Letztere argumentieren mit Blick auf eine umfassende Öffentlichkeit als Proprium demokratischer Meinungsbildung: „[E]s ging […] darum, unsere Rechtsauffassung in der Öffentlichkeit darzulegen. Dafür leben wir in einer Demokratie, und wenn wir gebeten werden, unsere Rechtsauffassung darzulegen, dann tun wir es auch. Dann tun wir es an jedem Ort und zu jeder Zeit und jedermann.“21

In dieser Perspektive ist der Zugang zum Issue-Feld allein durch das Interesse an dem verhandelten Thema bestimmt. Dem entspricht die Strategie der betroffenen Frauen und ihrer gewerkschaftlichen Unterstützer, ein diskursives öffentliches Wir herzustellen. Dieses umfasst nicht nur alle weiblichen, sondern auch die männlichen Beschäftigten des Unternehmens sowie alle, die bereit sind, das Anliegen wohlwollend zu begleiten: „Die Foto-Heinze-Frauen/die stehen nicht allein/ihr Kampf, der nützt uns allen/drum reihen wir uns ein!“22 Dieses ‚Wir‘ dient nicht nur der Erzeugung öffentlichen Druckes. Es trägt auch dazu bei, dem verhandelten Thema der Lohngleichheit einen politischen Gehalt zuzumessen. Das Thema wird generalisiert und damit zu einem Gegenstand allgemeiner Bedeutsamkeit erhoben. Dies bringt auch Gisela Kessler, Frauensekretärin der IG Druck und Papier, 1980 zum Ausdruck: „Lohn ist ja nicht eine Sache des guten Willens, sondern eine politische Frage: Wer dem einen was geben will, muß dem anderen was nehmen […]. Um von diesem politischen Sachverhalt abzulenken, gibt es ein Mittel, das oft verwendet wird auf Unternehmerseite, es wird personifiziert, indem man einzelne herausgreift […].“23

Genau dies tut die Unternehmensleitung in ihrem offenen Brief. Sie benennt die aus ihrer Sicht legitimen Spieler konkret. Dabei fokussiert sie allein organisationale Akteure und hierarchisch oder rechtlich kodifizierte Kommunikationswege. „Wenn Arbeitnehmer und ihre Vertreter anderer Meinung sind als der Arbeitgeber, gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, sachlich oder arbeitsgerichtlich abzuklären, welche Ansicht den gesetzlichen Bestimmungen entspricht. […] Wieso der DGB von diesem Verfahren abgewichen ist und den Weg in die Öffentlichkeit beschritt, anstatt die angebotenen Gespräche mit der Unternehmensleitung zu führen, ist uns unerklärlich.“24

21 22 23 24

Bodo Murach, in: Kaiser (1980), S. 43 und 45. Song der Heinze-Frauen in: IG Druck und Papier (o.J.), S. 17. Gisela Kessler, in: Kaiser (1980), S. 45. „Wir zahlen grundsätzlich gleiche Entgelte für gleiche Arbeitsplätze“, in: Briefe an die Redaktion, Buersche Zeitung (1979).

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Durch die Fokussierung auf organisationale Akteure werden die klagenden Frauen marginalisiert: „Die subjektive Ansicht einzelner oder einer kleinen Gruppe ist teilweise so dargestellt worden, als ob es hier um die Grundsatzeinstellung ginge.“25 Aus Sicht des Unternehmens sind folglich die Leitung, die Mitarbeiter (hier verstanden als Kollektiv) und ihre Vertreter (hier zunächst der Betriebsrat) die wesentlichen und legitimierten Spieler im Feld. Die klagenden Frauen hingegen werden diskursiv aus der Gruppe der Mitarbeiter und damit der legitimen Spieler im Issue-Feld ausgegrenzt. Sie erscheinen als Querulanten. Auf diese Weise wird die Vorstellung einer Betriebsgemeinschaft mobilisiert, die dem patriarchalischen Modell der Unternehmensführung entlehnt ist.26 Diese ist konzeptionell durch ein Vertrauensverhältnis zwischen Unternehmensführung und Mitarbeitern geprägt, das auf der Fürsorge des Patriarchen einerseits und der Loyalitätsverpflichtung seiner Arbeiter und Angestellten andererseits beruht. Konflikte, so die in diesem Kontext bedeutsame Annahme, sind durch direkte Kommunikation zwischen den Betroffenen zu klären. Damit wären idealtypisch bilaterale Gespräche zwischen Patriarch und in diesem Fall den Mitarbeiterinnen zu verstehen. Die Geschäftsleitung weist dementsprechend in ihrem Brief ausdrücklich auf das Angebot hin, „Gespräche über jeden Einzelfall“27 zu führen, und die betroffenen Frauen sind sich ebenfalls dieser Erwartungshaltung bewusst: „Sie haben doch auch gesagt, daß wir gar nicht richtig mit ihnen gesprochen haben. Wir hätten also jede einzelne praktisch raufkommen sollen.“28 Indem die Frauen die bilaterale Form der Konfliktlösung zurückweisen und ihr Anliegen öffentlich machen, kündigen sie im Verständnis der patriarchalischen Ordnungsvorstellung das Treue- bzw. Loyalitätsverhältnis auf. Damit unterminieren sie in der Logik des Patriarchalismus die Betriebsgemeinschaft und verlieren infolge dessen ihre Legitimation im IssueFeld. Die vorgestellten Argumentationsmuster der Unternehmensleitung dokumentieren zwar die Persistenz überkommener Ordnungsvorstellungen. Sie machen aber zugleich auch auf deren Veränderung infolge institutioneller Wandlungsprozesse hier im formgebundenen Sektor aufmerksam. Gebunden durch das Betriebsverfassungsgesetz, das sieben Jahre vor der diskutierten Auseinandersetzung novelliert worden war, wird der Betriebsrat als legitimer Spieler und Partner der direkten Kommunikation akzeptiert. In diesem Sinne werden die Arbeitnehmervertreter in dem oben angeführten, längeren Zitat aus dem offenen Brief gleichberechtigt mit den Mitarbeitern genannt. Vergleichbares gilt, allerdings mit Abstrichen, auch für die Gewerkschaften. Auch sie werden in Form ihrer Dachorganisation in dem Schreiben der Unter25 Ebd. 26 Zur Grundlegung der Klassifizierung vgl. die Überlegungen des Sozialpsychologen Kurt Lewin aus den 1930er-Jahren, wiedergegeben in: Helmut E. Lück: Die Feldtheorie und Kurt Lewin. Eine Einführung, Weinheim 1996, S. 98; sowie Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 130–140. 27 Buersche Zeitung (1979). 28 Gerda (Nachname von Autorin nicht genannt), in: Kaiser (1980), S. 45.

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nehmensleitung als Gesprächspartner angesprochen: „Wieso der DGB […] den Weg in die Öffentlichkeit beschritt, anstatt die angebotenen Gespräche mit der Unternehmensleitung zu führen, ist uns unerklärlich.“29 Die durch Art. 9 des Grundgesetzes geschützte Position der Gewerkschaften im Issue-Feld wird durch die Unternehmensleitung nicht infrage gestellt. Schaut man allerdings auf die Verortung der Gewerkschaft im Text, so wird deutlich, dass sie, in der Wahrnehmung des Unternehmens, nur zum erweiterten Kreis legitimer Spieler im Feld gezählt wird. In den Punkten 1 bis 4 wird der DGB erst unter 3 nach Geschäftsund Personalleitung sowie den einzelnen Mitarbeitern, dem Betriebsrat und der Betriebsversammlung genannt. Gewerkschaften erscheinen somit als zwar legitimer, aber an sich externer Akteur in der Verhandlung der hier zur Disposition stehenden Zulagenpraxis. Ein letzter, von der Unternehmensleitung benannter und aus ihrer Sicht legitimierter Akteur im Issue-Feld ist das Arbeitsgericht. Diesem wird allerdings eine noch einmal abgestufte Position zugewiesen. Es wird als sachliche Instanz der Prüfung von Verfahrensweisen entworfen. Dies wird bereits daran deutlich, dass es im zitierten Text an anderer Stelle als die bisher besprochenen Akteure, nämlich im Fließtext, erwähnt wird. „Soweit in einzelnen Fällen […] unterschiedliche Rechtsauffassungen bestehen, sollten diese […], unter Umständen auch vor dem Arbeitsgericht, abgeklärt werden.“30 Das Arbeitsgericht erscheint hier als Ultima Ratio bei der Klärung unterschiedlicher Einschätzungen betrieblicher Praktiken. Zugleich wird ihm hinsichtlich der formgebundenen Institution des Arbeitsrechtes eine Sonderstellung innerhalb des Issue-Feldes zugeschrieben: „Das Arbeitsrecht mit seinen vielen verschiedenen Bestimmungen ist inzwischen so komplex geworden, daß unterschiedliche Rechtsauffassungen nicht ungewöhnlich sind.“31 Damit wird zugleich die hier diskutierte Auseinandersetzung zwischen den betroffenen Frauen und der Unternehmensleitung gewissermaßen als Folgewirkung institutioneller Komplexität ebenso relativiert wie die Verantwortlichkeit des Unternehmens für die geübte Praxis. Zeugt die unternehmerische Konstruktion der legitimen Spieler im Issue-Feld neben der Persistenz überkommender Ordnungsvorstellungen eben auch von der Relevanz des Wandels formgebundener Institutionen, so gilt dies ebenfalls für die Bestimmung der zentralen Verhandlungsgegenstände Arbeit und Geschlecht. „Wir zahlen grundsätzlich gleiche Entgelte für gleiche Arbeitsplätze. […] Auch im übertariflichen Bereich zahlt die Firma in einwandfrei vergleichbaren Fällen an Männer und Frauen die gleichen übertariflichen Zulagen.“32

Mit dieser Stellungnahme verortet sich die Unternehmensleitung innerhalb eines zeitgenössischen Diskurses über die Bewertung von Arbeit. Dieser verhandelt nicht nur die Reichweite des Entgeltbegriffes, sondern auch die Differenzierung

29 30 31 32

Buersche Zeitung (1979). Ebd. Ebd. Ebd.

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von gleich, gleichartig und gleichwertig.33 Dabei zeigt sich die Beständigkeit einer physiologischen Argumentation, die Frauen aufgrund ihrer Konstitution eine geringere Leistungsfähigkeit zuspricht. Sie findet in den späten 1970er-Jahren in den noch existierenden sogenannten „Leichtlohngruppen“ ihren Ausdruck. Die so eingruppierten Beschäftigten, zumeist Frauen, verrichteten vermeintlich „die leichtere oder überwiegend die leichtere Arbeit“34 und hatten deshalb nur einen Lohnanspruch in Höhe des untersten Tarifsatzes.35 In dieser Praxis ebenso wie im Nachtarbeitsverbot für Frauen manifestiert sich die ordnungsbildende Wirkung arbeitsrechtlicher Bestimmungen, die Geschlechter(un)gleichheiten im Bereich der Erwerbsarbeit festschreiben. Sie wirken sich auf die Bemessung von Arbeitsleistungen und Entlohnung aus: „Nach […] Berechnungen des Statistischen Bundesamtes [im Jahr 1979, kpm] lag der durchschnittliche Brutto-Stundenverdienst in der Industrie für einen männlichen Arbeiter bei 13,15 Mark. Arbeiterinnen dagegen kamen nur auf 9,56 Mark.“36

Im Sinne grundlegender Geschlechterdifferenzen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit wie der Einsatzmöglichkeiten argumentieren auch die Heinze FotolaborBetriebe. Wie das Arbeitsgericht Gelsenkirchen in seiner Bestandsaufnahme festhält, gibt die Geschäftsleitung an, „die Klägerinnen seien hinsichtlich ihrer ausgeübten Tätigkeiten bereits mit den in Lohngruppe 1 eingestuften männlichen Arbeitern nicht vergleichbar. Im Gegensatz zu den Klägerinnen, die nur bestimmte Arbeitsplätze einnehmen könnten, seien die männlichen Arbeitnehmer bereit und in der Lage, alle vorkommenden Arbeiten in der Abteilung Filmentwicklung einschließlich Reparatur und Wartung zu verrichten. […] Bei den [einzelvertraglichen, kpm] Vereinbarungen könne der Arbeitgeber sein eigenes arbeitsmarktbedingtes Interesse zum Ausdruck bringen, wobei auch einfließen könne, daß Frauen dem Nacharbeitsverbot unterlägen“37.

Die weibliche Arbeitsleistung, so der Tenor der Stellungnahme der Geschäftsleitung, sei zwar nicht verzichtbar, aber innerhalb des Produktionsprozesses doch deutlich weniger wert als die männliche. Diese Einschätzung wird durch den Verweis auf die Rekrutierbarkeit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt gestützt. Sie beruht letztlich auf einem Geschlechterbild, das von einer Gleichwer33 Exemplarisch Heide M. Pfarr, Klaus Bertelsmann: Lohngleichheit. Zur Rechtsprechung bei geschlechtsspezifischer Entgeltdiskriminierung, Stuttgart 1981, S. 49–57; sowie Petra Drohsel: Die Lohndiskriminierung der Frauen. Eine Studie über Lohn und Lohndiskriminierung von erwerbstätigen Frauen in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1984, Marburg 1986, hier vor allem S. 22–28. 34 U. Witting: Lohngleichheit für Mann und Frau, in: Bundesarbeitsblatt 1955, S. 789–796, hier S. 790. 35 Zur Entstehung der Leichtlohngruppen vgl. Klaus-Jürgen Rühl: Verordnete Unterordnung. Berufstätige Frauen zwischen Wirtschaftswachstum und konservativer Ideologie in der Nachkriegszeit (1945–1963), Oldenburg 1994, S. 275–279. 36 Zeitraffer, in: Die Zeit, Nr. 32 (1979), S. 24; online unter http://www.zeit.de /1979/32/ zeitraffer (Zugriff 30.1.2014). 37 Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Münster, Urteil des Arbeitsgerichtes Gelsenkirchen vom 10. Mai 1979, Nr. 636, S. 7.

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tigkeit, aber nicht Gleichartigkeit von Männern und Frauen ausgeht.38 Durch die bürgerliche und die konfessionellen Frauenbewegungen des späten Kaiserreiches popularisiert, fand es 1919 Eingang in die Verfassung der Weimarer Republik. Dort heißt es in Artikel 109: „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“39 Damit sind Differenzierungen in der Praxis rechtlich legitimiert, wie sie beispielsweise im sogenannten Beamtinnenzölibat – der Entlassung von Frauen aus dem Staatsdienst im Falle von Eheschließung und unehelicher Mutterschaft – ihren Ausdruck fanden. Dieses Potenzial des „grundsätzlich“ bemüht auch die Geschäftsleitung der Heinze Fotolabor-Betriebe, wenn sie, wie oben zitiert, von ‚grundsätzlich gleiche[n] Entgelte[n] für gleiche Arbeitsplätze‘ spricht und sich zugleich darum bemüht, Differenzen der tatsächlich geleisteten Arbeit herauszuarbeiten. Dass dies 1979 möglich ist, verweist auf die Beharrungskraft einer überkommenen formlosen Institution, wie sie das skizzierte Geschlechterbild darstellt. Es eröffnet innerhalb der Gesellschaft auch dann Artikulationsräume, wenn formgebundene Institutionen sich bereits veränderten; das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland spricht seit 1949 uneingeschränkt davon, dass Männer und Frauen gleich sind, und das Ehe- und Familienrecht wurde 1977 dementsprechend grundlegend reformiert. Nun ist zu konstatieren, dass die Geschäftsleitung der Heinze FotolaborBetriebe mit ihrer Verortung innerhalb des Geschlechterdiskurses Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre eine Minderheitenposition im Issue-Feldes besetzt. Es hatte sich seit den späten 1960er-Jahren verändert. Dies gilt für die öffentlich artikulierte und die veröffentlichte Meinung in Bezug auf die HeinzeFrauen und letztlich auch für die Rechtsprechung in Deutschland.40 Außerdem forderten Frauen europaweit Lohngleichheit. Sie beriefen sich dabei auf Art. 119 der Römischen Verträge, indem bereits 1957 der Grundsatz des gleichen Entgeltes für Männer und Frauen festgeschrieben worden war. Den Anfang machten 1966 Arbeiterinnen im belgischen Herstal. Zwei Jahre später folgte der Ford sewing machinists strike in Großbritannien. Im gleichen Jahr klagte eine Stewardess der belgischen Sabena und schuf damit einen Präzedenzfall, der schließlich 1976 unter Beteiligung des Europäischen Gerichtshofs entschieden wurde. 1977 zog eine Schweizer Lehrerin gegen Lohndiskriminierung vor Gericht, ein Jahr später folgte eine deutsche Bäckereigehilfin. In diesen exemplarisch versammelten Auseinandersetzungen standen sich, wie der Richter des Arbeitsgerichtes Gelsenkirchen mit Blick auf den Fall der Heinze-Frauen konstatiert „‚zwei Prinzipien gegenüber: Das der Vertragsfreiheit

38 Die Vorstellung einer Gleichwertigkeit kommt in Punkt 1 zum Ausdruck: „Die Lohn- und Gehalts- sowie die Manteltarifverträge sehen keine Differenz für weibliche oder männliche Mitarbeiter vor.“ IG Druck und Papier (1979). 39 Art. 109, Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919; online unter http:// www. documentarchiv.de/ wr/wrv.html (Zugriff 30.1.2014). 40 Vgl. hierzu die Einschätzungen von Gisela Kessler und Marianne Kaiser in Bezug auf eine Klage von Frauen der IG Metall 1976 in Viersen, in: Marianne Kaiser (Hg.): Wir wollen gleiche Löhne! Dokumentation zum Kampf der 29 Heinze-Frauen, Hamburg 1980, S. 51.

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und das der Gleichbehandlung.‘“41 Mit dem Urteil des Arbeitsgerichtes Gelsenkirchen, das später das Bundesarbeitsgericht bestätigte, wurde in Deutschland erstmalig der Grundsatz der Gleichbehandlung über den der Vertragsfreiheit gestellt. Damit war ein institutioneller Wandel im Bereich der formgebundenen Institutionen vollzogen; der Anspruch auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit war nun auch rechtlich durchgesetzt. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, „daß den männlichen Arbeitnehmern Zulagen oder höhere Zulagen deshalb gewährt wurden, weil sie nicht bereit waren, zum Tariflohn zu arbeiten. […] Die Klägerinnen, die für die gleiche Arbeit mit dem Tariflohn oder geringeren Zulagen bezahlt wurden, sind daher allein deshalb ungünstiger behandelt worden, weil ihre Arbeitskraft nicht ebenso bewertet wurde, wie die der Männer. Darin liegt gerade die Diskriminierung, die Art. 3 Abs. 2 GG verbietet“42.

Das Unternehmen wurde verpflichtet, die Zulagen der klagenden Frauen anzupassen und entsprechende Nachzahlungen zu leisten – was jedoch nicht umgesetzt wurde, da das Unternehmen in Konkurs ging. Die Argumentation der Geschäftsleitung der Heinze Fotolabor-Betriebe auf der einen und der Heinze-Frauen, ihrer Unterstützer und des Gerichtes auf der anderen Seite markieren jedoch nicht nur konträre Positionen innerhalb eines sich wandelnden Issue-Feldes. Sie lassen auch blinde Flecken in der Wahrnehmung von Ungleichheiten deutlich werden. So werden im oben zitierten Urteil ebenso wie in der Stellungnahme des Unternehmens und auch in gewerkschaftlichen Einschätzungen zwar unterschiedliche Wertigkeiten von männlicher und weiblicher Arbeit auf dem Arbeitsmarkt artikuliert. Soziale Differenzierungen, wie sie aufgrund geringerer Mobilität in der strukturellen Benachteiligung von Müttern auf dem Arbeitsmarkt bestehen, nehmen hingegen nur eine Randstellung im Diskurs ein. Sie werden lediglich von den unmittelbar Betroffenen in das Issue-Feld eingebracht. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine der klagenden Frauen ausführt: „Ich könnte in meinen Beruf jederzeit zurück. […] Für mich ist es aber günstiger abends, weil ich dann morgens für die Kinder da bin. Und in meinem Beruf müßte ich früh aus dem Haus. Da wird meistens schon um sechs oder sieben Uhr angefangen.“43

Das Zitat verdeutlicht die Gebundenheit von Frauen mit Kindern. Sie sind auf jene Arbeitsplätze angewiesen, die ihnen eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Das verweist in einem zweiten Punkt auf die Doppelbelastung, die von Frauen getragen wird. Hier zeigt sich eine zweifache Benachteiligung dieser Beschäftigtengruppen. Sie bleibt in der betrachteten Zeit weitgehend unbeachtet oder wird im Hinblick auf Frauenarbeit und Arbeitslosigkeit in Gelsenkirchen generalisiert. Wie das Zitat zeigt, geschieht dies nicht nur durch Dritte im Issue-Feld. Auch die hier sprechende Frau misst angesichts der von ihr wahrge-

41 Christine Becker: Ein Erfolg für alle Frauen, in: Zentralorgan der IG Druck und Papier 11 (1979), zitiert nach Kaiser (1980), S. 67–70, hier S. 70. 42 Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 9. September 1981, Aktenzeichen: 5AZR1182/79, S. 17. 43 Doris (Nachname von Autorin nicht genannt), in: Kaiser (1980), S. 22f.

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nommener Möglichkeit, jederzeit in ihren Beruf zurückkehren zu können, der Binnendifferenzierung keine artikulierte Bedeutung zu. Eng mit der strukturellen Benachteiligung von Müttern auf dem Arbeitsmarkt verbunden ist die Schlechterstellung von Teilzeitbeschäftigten. Sie wird im Kontext der untersuchten Quellen kaum thematisiert, obwohl Differenzen auffallen. So erhalten jene der klagenden Frauen, die in Teilzeit beschäftigt sind, gegenüber jenen, die in Vollzeit arbeiten, durchweg niedrigere Zulagen. Bei den Teilzeitkräften liegt die maximale Höhe der Zulagen bei 24 Pfennig, während die höchsten an Frauen ausgezahlten Zulagen 1,04 DM betragen. Auch wenn der Zusammenhang auf Grundlage der vorliegenden Daten nicht direkt nachweisbar ist, ist es vor dem Hintergrund allgemeiner Angaben durchaus denkbar, dass sich hinter diesen Zahlen eine weitere Benachteiligung von Frauen mit Kindern verbirgt. Die Ausführungen über die Bestimmung der zentralen Verhandlungsgegenstände Arbeit und Geschlecht zeigen ein zweigespaltenes Bild. Sie machen einerseits die prägende Kraft der formgebundenen Institution des Arbeitsrechtes für die Gestaltung des Diskurses über die Wertigkeit von Frauen- resp. Männerarbeit deutlich. Zugleich wird ersichtlich, dass das Issue-Feld aufgrund seiner zeittypischen Verfasstheit Mehrfachdiskriminierungen von Frauen nur in Ansätzen verhandeln kann. Letzteres führt dazu, dass sich mit dem beschriebenen institutionellen Wandel infolge des Urteiles des Bundesarbeitsgerichtes ebenso wie infolge der öffentlichen Mobilisierung zwar neue formgebundene wie formlose Spielregeln für die Gestaltung und Legitimation von Entlohnungspraktiken herausbilden. Auch wenn sich die Spieler im Feld diesen nicht entziehen können, führen sie dennoch nicht zu einer Durchsetzung der Lohngleichheit: Seit 1979 haben sich die Differenzen im Durchschnittsverdienst von Männern und Frauen nur um rund 5 Prozent verringert. Gewöhnlich werden Jobmerkmale und Karriereverläufe als Gründe für diese Differenzen angegeben. Sie enthalten ebenso wie der Begriff der Lohndiskriminierung, „unverkennbar konservative, herrschaftsstabilisierende Elemente […] und [sind, kpm] im Grunde auf eine Beibehaltung der gesellschaftlichen Stellung der Geschlechter und deren relative Lohnpositionen gerichtet“44.

Es wird deutlich, dass im historischen Beispiel, aber auch in der Gegenwart Vorstellungen von Geschlechterdifferenzen innerhalb eines institutionellen Arrangements weiterwirken. Sie stellen, so schreibt die Soziologin Ursula Müller, „ein latent verfügbares Angebot für die Konstruktion von Hierarchien, von Asymmetrien in Aufgabenteilung und Bewertung sowie von ungleichen Chancen“ dar.45 Institutioneller Wandel im Issue-Feld Arbeit und Geschlecht bleibt somit zumindest kurz- und mittelfristig partiell.

44 Anni Weiler: Frauenlöhne – Männerlöhne. Gewerkschaftliche Politik zur geschlechtsspezifischen Lohnstrukturierung, Frankfurt a.M. 1992, S. 12. 45 Ursula Müller: Geschlecht, Arbeit, Organisationswandel - eine Re-Thematisierung, in: Ingrid Kurz-Scherf, Lena Correll, Stefanie Janczyk, (Hg.): Arbeit: Zukunft. Die Zukunft der Arbeit und der Arbeitsforschung liegt in ihrem Wandel, Münster 2005, S. 224–240, hier S. 232.

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Bewertung Eine Verknüpfung von intersektionaler und institutionentheoretischer Analyse erweitert die Perspektive wirtschafts- und unternehmenshistorischen Forschens. Sie ermöglicht es, im Sinne der kritischen Theorie, „die Wechselbeziehungen von sozialen Machtverhältnissen nicht allein deskriptiv zu identifizieren, sondern diese auch zu kritisieren und zu transformieren“46. In historischer Perspektive bedeutet dies, ausgehend von einer Analyse der „Genese und Reproduktion […] vergeschlechtlichter und vergeschlechtlichender Erwartungsstrukturen“47 sowie der sie tragenden und durch hervorgebrachten Machtverhältnisse die Aufmerksamkeit auf institutionellen Wandel und seine Motive zu lenken. Diese wären, folgt man den obigen Ausführungen, in Verschiebungen öffentlicher Artikulations- und kodifizierter Legitimationsräume begründet, da ökonomisches Handeln gesellschaftlicher und kultureller Akzeptanz bedarf, um erfolgreich zu sein. Zugleich sensibilisiert die Analyse aber auch für die Beharrungskraft von Geschlechterklassifikationen – auch und gerade in ökonomischen Kontexten. Hier fällt ihnen beispielsweise innerhalb der Organisation Unternehmen die Aufgabe zu, in Prozessen der Entscheidungsfindung Ungewissheit zu reduzieren und somit rationales Handeln in einem ökonomischen Sinn zu befördern. Dies gilt ebenfalls für aktuelle Formen des Gender Mainstreaming, das Geschlechterdifferenzen in der betrieblichen Praxis gerade betont. Auf diese Weise soll durch Bewusstmachung möglicher ökonomischer Konsequenzen Wettbewerbsnachteilen vorgebeugt und eine bestmögliche Nutzung der human resources erreicht werden.48 Vor diesem Hintergrund spricht die Soziologin Angelika Wetterer von einer Bestätigung der Geschlechterdifferenz als einer Kategorie sozialer Ordnung bis in die Gegenwart.49 Mit ihrem beschriebenen kritischen Potenzial bereichert eine um intersektionale Aspekte erweiterte, institutionentheoretische Analyse die möglichen Antworten auf eine zentrale Frage der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte – jener nach den Gründen des Erfolges der Wettbewerbsordnung und der Organisationsform Unternehmen. Sie lägen in einem feldorientierten Austarieren der Spannungen zwischen Anforderungen institutionellen Wandels auf der einen und der Bewahrung von Kategorisierungen, die Ungewissheiten reduzieren und Entscheidungen motivieren, auf der anderen Seite. Die Fragilität der unternehmerischen Verortung innerhalb dieses Prozesses verdeutlicht das Fallbeispiel der HeinzeFrauen. Es sensibilisiert damit zugleich auch für die kulturellen Faktoren, die ein 46 Katharina Walgenbach: Intersektionalität – eine Einführung (2012), online unter http:// www.portal-intersektionalität.de (Zugriff 30.1.2014). 47 Funder (2011), S. 181. 48 Vgl. Angelika Wetterer: Gleichstellungspolitik und Geschlechterwissen – Facetten schwieriger Vermittlungen. Manuskript des Vortrages im Gender KompetenzZentrum an der Humboldt Universität Berlin am 14.02.2005, online unter http://www.genderkompetenz.info/ veranstaltungs_publikations_und_news_archiv/genderlectures/050214glhu (Zugriff 30.1.2013). 49 Vgl. Angelika Wetterer: Ordentlich in Unordnung? Widersprüche im sozialen Wandel der Geschlechterverhältnisse, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 32 (2006), S. 5–22.

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Scheitern im Einzelfall befördern können. Dieses Scheitern meint nicht nur die Positionierung des Unternehmens am Markt mit möglichen finanziellen Belastungen und Verlusten bis hin zum Konkurs. Es umfasst vielmehr auch die schwierige Umsetzung nachhaltiger institutioneller Wandlungsprozesse im Sinne einer Überwindung der hierarchisierenden Wirkungen von Geschlecht in ökonomischen Kontexten. Literatur Crenshaw, Kimberlé: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. Feminist Theory and Antiracist Politics, in: The University of Chicago Legal Forum Volume: Feminism in the Law: Theory, Practice and Criticism (1989), S. 139–167. Funder, Maria: Soziologie der Wirtschaft. Eine Einführung, München 2011. Kaiser, Marianne (Hg.): Wir wollen gleiche Löhne! Dokumentation zum Kampf der 29 HeinzeFrauen, Hamburg 1980. Müller, Ursula: Geschlecht, Arbeit, Organisationswandel – eine Re-Thematisierung, in: Ingrid Kurz-Scherf, Lena Correll, Stefanie Janczyk, (Hg.): Arbeit: Zukunft. Die Zukunft der Arbeit und der Arbeitsforschung liegt in ihrem Wandel, Münster 2005, S. 224–240. Walgenbach, Peter/Meyer, Renate: Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, Stuttgart 2008.

4.1.4 MATERIALITÄT: DIE ZIGARETTENMASCHINE BEI DEN REEMTSMA CIGARETTENFABRIKEN Sandra Schürmann Materialität ist auch in der Wirtschaftsgeschichte überall zu finden; die unterschiedlichsten Dinge oder Substanzen bevölkern unsere Quellen und Fallbeispiele. Dieser Beitrag setzt bei dem Befund an, dass die Wirtschaftsgeschichte sich bislang damit schwertut, sie auch konsequent in ihre Analysen einzubeziehen. Wie unter 3.5 kurz vorgestellt, regt die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) ein grundlegend neues, symmetrisches Akteurverständnis in soziologischen oder historischen Analysen an, das auch dem Materiellen eine Handlungsmacht zugesteht. Im Folgenden soll daher versucht werden, an einem Fallbeispiel und mit einer ausgewählten Quelle nachzuzeichnen, wie eine entsprechend zugeschnittene wirtschaftshistorische Analyse aussehen könnte. Dabei wird der Beitrag den Spuren eines besonderen materiellen Aktanten bei den Reemtsma Cigarettenmaschinen – einer in den 1920er-Jahren dort installierten Zigarettenmaschine – folgen. Dass die ANT in der Wissenschaft umstritten und nicht leicht anzuwenden ist, wurde bereits unter 3.5 angesprochen. Dieser Beitrag ist daher notwendigerweise ein Experiment: Es soll darum gehen, auf Basis der Anregungen der ANT eine neue, ungewohnte Haltung zum gewählten Forschungsgegenstand und zur ausgewählten Quelle einzunehmen und so das innovative Potenzial auszuloten, das darin für die Wirtschaftsgeschichte liegen könnte. Weder die ANT noch dieser Beitrag erheben einen universellen Anspruch. Niemand fordert, dass „nun alles von den Maschinen her erzählt wird“, zumal konsequente Symmetrie bedeuten würde, dass alle, auch die menschlichen Akteure, angemessen berücksichtigt werden. Die hier unternommene, notwendigerweise beschränkte Analyse hingegen wird versuchen, einem einzelnen materiellen Aktanten zu folgen. Dabei werden an einigen Stellen die Grenzen des Ansatzes sowie der Aussagekraft der ausgewählten Quelle deutlich werden. Auch wird sich zeigen, dass eine „Geschichte aus Perspektive der Maschine“ viele für die Kultur- und Wirtschaftsgeschichte wichtige Aspekte ausklammert. Solche Leerstellen und Lücken – die in jeder historischen Analyse entstehen – werden an dieser Stelle ausdrücklich in Kauf genommen, denn das Ziel ist keine in sich abgeschlossene Analyse des Fallbeispieles oder der Quelle. Es geht vielmehr darum, probeweise eine neue, mögliche, bislang noch vernachlässigte Perspektive einzunehmen und ihr Potenzial auszuloten. Im Folgenden werden zunächst – ergänzend zu 3.5 – das zugrunde liegende theoretische Konzept erörtert und die daraus abgeleiteten Fragestellungen operationalisiert, danach die Quelle vorgestellt und analysiert. Abschließend wird der mögliche Erkenntnisgewinn dieses Ansatzes und eines darauf aufbauenden Vorgehens für die Wirtschaftsgeschichte umrissen. Die übergeordneten Fragen sind demnach: Wie verändern sich die Wahrnehmung der Quelle und der darin überlie-

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ferten Vorgänge sowie die Schlussfolgerungen, wenn der Fokus bei den nicht menschlichen Aktanten liegt? Und schließlich: Wie kann dies dazu beitragen, die Ausgangsfrage dieses Unterkapitels, jene nach Entstehung und Wandel von Institutionen in Unternehmen, zu beantworten? Konzeptspezifikation Die wichtigste Forderung der ANT lautet, dass materiellen Aktanten – im hier ausgewählten Beispiel: eine Maschine – zumindest potenziell eine ebenso große historische Relevanz und Handlungsmacht zugeschrieben werden müssen wie den menschlichen Akteuren. Im Kontext dieses Bandes schließt sich daran die Frage an, welche Rolle materielle Aktanten bei der Entstehung von Institutionen spielten: Wie unter 3.5 erörtert, ließe sich eine Institution im Vokabular der ANT als erfolgreiches, langfristig stabiles Netzwerk beschreiben, als (z.B. durch dauernde Wiederholung oder Bestätigung) stabilisierte gemeinsame Aktivität menschlicher und nicht menschlicher Aktanten. Ein solches Netzwerk gilt idealerweise als selbstverständlich, bietet Handlungssicherheit und bestimmt die Handlungsspielräume aller Beteiligten. Einerseits ist demnach das Interesse der ANT ein sehr ähnliches wie in der institutionellen Wirtschaftsgeschichte, andererseits ist der Schwerpunkt anders, denn im Mittelpunkt stehen die Beziehungen und Abstimmungsprozesse zwischen Menschen und Nicht-Menschen. Da die ANT Deutungsansätze ablehnt, die unsymmetrisch, weil allein vom Menschen hergeleitet sind, kann diese Untersuchung außerdem nicht von Hypothesen der institutionalistischen Wirtschaftsgeschichte (zu Unternehmenskultur, Aushandlungsprozessen zwischen Unternehmen und externer Umwelt o.a.) ausgehen. Am Anfang stehen daher erstens die Prämisse, dass nicht menschliche Aktanten im untersuchten Unternehmen zur untersuchten Zeit relevant und handlungsmächtig waren, und zweitens, dass Institutionenbildung untersucht werden kann, indem rekonstruiert wird, ob die Integration der Maschine ins Unternehmen gelungen ist, ob und wie erfolgreich ein Netzwerk gebildet wurde, wie folglich Aktivität zwischen Menschen und Maschinen verteilt wurde. Die ausgewählte Quelle ist ein Auszug aus einer Broschüre, in der in Text und Bild über die Arbeit einer Maschine in der Zigarettenfertigung des Unternehmens Reemtsma in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre berichtet wird. Dieses Thema und diese Quelle wurden ausgewählt, weil vieles dafür spricht, dass sich hier ein Institutionalisierungsprozess spiegelt, in dem materielle Komponenten eine wichtige – um nicht zu sagen entscheidende – Rolle spielten: Als die Handarbeit in der Zigarettenfabrik (teilweise) durch Maschinenarbeit ersetzt wurde, als eine neue Maschine in den Produktionsräumen aufgestellt wurde und ihre Arbeit aufnahm, trat ein neuer, materieller Aktant ins Unternehmen Reemtsma ein. Es war, so eine grundlegende Annahme, wichtig für den Unternehmenserfolg, dass diese Umstellung – theoretisch ausgedrückt: die Institutionalisierung oder (wie die ANT es nennen würde) das Netzwerkbilden – gelang.

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Operationalisierung Am Anfang einer Analyse müssen laut ANT die relevanten Aktanten und möglichen Blackboxes identifiziert werden. Bei einer gängigen wirtschaftshistorischen Untersuchung würden Maschinen, Rohstoffe oder Räume nur dann in die Analyse einbezogen, wenn Menschen sich erkennbar auf sie beziehen, sich demnach etwa über sie äußern. Ein durchaus nachvollziehbarer Grund dafür ist, dass die meisten Historikerinnen und Historiker davon ausgehen, es seien nur menschliche Äußerungen überliefert – schließlich haben Räume oder Maschinen nicht gesprochen oder geschrieben. Bruno Latour hat jedoch betont, wenn materielle Objekte vernachlässigt würden, mangele es nicht an Daten, sondern am Willen; der entscheidende Punkt sei, sie als potenzielle Handlungsträger zu akzeptieren und mit ihnen zu rechnen.1 Der oder die Forschende müsse fragen: „Macht es [das Objekt, SaSch.] einen Unterschied im Verlauf der Handlung irgendeines anderen Handlungsträgers oder nicht?“2, und meistens sei Ersteres der Fall. Wichtig – und oft falsch verstanden – ist in diesem Fall, dass „Handlung“ oder „Handlungsmacht“ von Akteuren nicht zwingend etwas mit Intention oder auch nur mit erkennbarer Aktivität zu tun hat; allein schon, wenn ein Ding durch seine Anwesenheit das Handeln von anderen Dingen oder Menschen beeinflusst, gilt es als handelnd, als Aktant. Sollten, so Latour weiter, jedoch tatsächlich Objekte auftauchen, die keinen sichtbaren Effekt (mehr) auf andere Anwesende haben, müssten sie dazu gebracht werden, „Beschreibungen ihrer selbst anzubieten, Skripte von dem zu produzieren, wozu sie andere – Menschen oder Nicht-Menschen – bringen“;3 und dabei könne es helfen, „den Krisenzustand herzustellen, in dem Maschinen, Apparate und Geräte zur Welt gekommen sind“, und „die soliden Objekte von heute wieder in ihre fluiden Zustände [zu] versetzen, in denen ihre Verknüpfungen mit Menschen vielleicht wieder Sinn machen“ – anders formuliert: sie nicht als selbstverständlich anzunehmen, sondern davon auszugehen, dass sie einmal neu und irritierend waren, und dann eben diese Situation zu rekonstruieren. Generell sind Innovationen oder Pannen besonders gute Ausgangspunkte für Analysen: „[S]elbst Objekte, die eine Minute zuvor vollautomatisch, autonom und unabhängig von irgendwelchen menschlichen Handlungsträgern erschienen, sind plötzlich umzingelt von sich hektisch bewegenden Menschen mit schwerem Gerät.“4

Das für diesen Beitrag gewählte Fallbeispiel macht es insofern einfach, als die soziale Relevanz des ausgewählten materiellen Aktanten offensichtlich ist: Es besteht kein Zweifel, dass die Anwesenheit der Maschine das Geschehen im Unternehmen erheblich beeinflusste, dass sie im Sinne der ANT ein Handlungsträger war.

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Vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2010, S. 141. Ebd., S. 123; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 136. Ebd., S. 139–141.

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Um eine Symmetrie in der Analyse zu erreichen, fordert die ANT die konsequente sprachliche und analytische Gleichbehandlung – im konkreten Fall bedeutet das: Mechaniker oder andere Menschen haben nicht mehr über die Maschine zu sagen als diese selbst. Außerdem sollen Forschende laut ANT eine agnostische Haltung einnehmen, d.h. keine „sozialen Faktoren, Normen oder besondere institutionelle oder organisatorische Konfigurationen“ heranziehen, um ein Geschehen zu erklären, sowie gegenüber allen Äußerungen der Beteiligten unparteilich sein, egal ob es sich um wissenschaftliche oder technische Argumente, Selbstbeschreibungen oder Darstellungen ihrer Umwelt handelt. Die Maschine darf demnach nicht von vornherein als Vertreterin, Illustration oder Beleg eines schon von anderen beschriebenen Prozesses – etwa der „Automatisierung“ – im Raum stehen, sondern möglichst so, wie sie sich selbst einbringt. Dieser Grundsatz ist in diesem Fall allerdings bereits verletzt: Dieser Beitrag steht in einem Buch zur theoriegeleiteten Wirtschaftsgeschichte, im Abschnitt zur Entstehung von Institutionen, er beruht demnach auf bestimmten Annahmen. Immerhin kann aber versucht werden, bei der Einordnung der beobachteten Phänomene in einen „größeren Zusammenhang“ möglichst vorsichtig vorzugehen, nicht allzu schnell einen abstrakten, nicht aus der Quelle herzuleitenden Prozess im Hintergrund anzunehmen. Mittels freier Assoziation schließlich sollen die Forschenden laut ANT allen möglichen Verbindungen folgen, ohne Aktanten in feste Rollen einzubinden, dabei nichts als gegeben annehmen und auch keine Akteure hinzuziehen, „die sich selbst nicht ausdrücklich ins Feld einführen“5 – betrachtet werden sollen die Maschine und jene, die in der ausgewählten Quelle in ihrer Nähe erscheinen und das Wort ergreifen. Wie sich zeigt, sind die Grundsätze der ANT in der Praxis der historischen Forschung kaum konsequent einzuhalten. Es muss daher noch einmal betont werden, dass es sich weniger um eine Methode als um eine Analysehaltung handelt, dass die Grundsätze als Mahnungen und Anregungen zu verstehen sind, den eigenen Forschungsgegenstand von einer radikal anderen Seite zu betrachten. Wie bei historischen Untersuchungen üblich, sind die materiellen Aktanten und die menschlichen Akteure des hier untersuchten Fallbeispieles nicht mehr direkt greifbar: Die Maschinen sind verschrottet, die Fabrik steht nicht mehr, die Zigaretten sind geraucht, menschliche Zeitzeugen verstorben. Um sie wieder „zu versammeln“, wie es in der ANT heißt, müssten bei einer umfassenden Analyse so viele Quellen wie möglich herangezogen werden, um möglichst viele Spuren zu finden – etwa Fotos im Unternehmensarchiv, Jahresberichte und andere Veröffentlichungen des Unternehmens, Fabrikordnungen (in denen der Umgang der Menschen mit der Maschine schriftlich geregelt wird), möglicherweise auch Briefwechsel, Erinnerungen, um nur einige zu nennen. Die Grundidee – und da-

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Vgl. Michel Callon: Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht, in: Andréa Bellinger, David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 135–174, hier S. 167f.

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rum geht es hier – lässt sich jedoch ebenso gut an einer einzigen Quelle demonstrieren. Bei der Quelle handelt es sich um das 1928 erschienene Buch „Das Werk Altona-Bahrenfeld der Reemtsma Cigarettenfabriken“ aus der Reihe „Musterbetriebe deutscher Wirtschaft“6. Darin werden die Einrichtungen und Abläufe in der Fabrik in Wort und Bild in vier Abschnitten beschrieben: „I. Tabak und Einkauf“, „II. Der Herstellungsbetrieb der Reemtsma Cigarettenfabriken“, „III. Statistik und Betriebskontrolle“ und „IV. Werksgemeinschaft“, illustriert mit Schwarz-WeißFotos und einigen Schaubildern. Der Autor arbeitete eng mit der Unternehmensleitung zusammen – anders als der Titel suggeriert, handelt es sich nicht um eine Außen-, sondern eine Selbstdarstellung.7 Um die Spuren der Zigarettenmaschine zu rekonstruieren, wird nun gefragt: Wie war die Maschine am Funktionieren des Unternehmens beteiligt? Welche Forderungen stellte sie, wo und wie verlangte sie von anderen Akteuren und Aktanten, dass diese sich veränderten, anpassten, neu organisierten? Welche neuen Beziehungen entstanden und bestanden zwischen ihr, anderen materiellen Aktanten und menschlichen Akteuren in der Fabrik? Wie wurde ihre Zusammenarbeit stabilisiert? Fallbeispiel Da die Zigarettenmaschine im Mittelpunkt der Analyse stehen soll, dient als Einstieg jener Abschnitt im Buch, in dem sie konkret beschrieben wird: knappe drei Seiten genau in der Mitte des Kapitels über den Herstellungsbetrieb.8 Auf das ganze Buch bezogen bildet die Maschine so gewissermaßen das Zentrum der Herstellung, wenn auch eins, zu dem zumindest der Autor verhältnismäßig wenig zu sagen hat. Er beschreibt sie als „unendlich kompliziertes Aggregat von Wellen, Rädern, Hebeln, Rollen und hunderterlei anderen Teilen“, vergleichbar mit einem „feinkonstruierten Uhrwerk“. Kurz zusammengefasst stellte ihr oberer Teil demnach einen Tabakstrang her, der untere umschloss diesen mit Papier. So entstand ein Strang aus mit Papier umwickeltem Tabak, und diesen schnitt sie zum Schluss in einzelne Zigaretten. Das alles geschah, so der Autor, „in weitestem Umfang selbsttätig“, solange die Voraussetzungen erfüllt waren: Es müsse lediglich der Tabak in einen Behälter gefüllt und das Papier in einer Rolle aufgestellt werden, 6

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Martin Voigt: Das Werk Altona-Bahrenfeld der Reemtsma Cigarettenfabriken. Die Cigarettenindustrie, 2. Aufl., Berlin 1929. Das Buch wurde mehrmals wieder aufgelegt, und für diesen Beitrag lag die zweite Ausgabe vor. Die erste Ausgabe aus dem Jahr 1928 trägt den Titel „Die Cigarettenwerke der Reemtsma A.G. Altona-Bahrenfeld, Hannover, Hamburg“, ist aber ansonsten identisch mit der zweiten Ausgabe. Vgl. zur Geschichte Reemtsma und auch zu dieser Quelle Tino Jacobs: Rauch und Macht. Das Unternehmen Reemtsma 1920 bis 1961, Hamburg 2008; zur Expansion des Unternehmens zwischen 1920 und 1929 insbesondere S. 40–110. Das gesamte Kapitel umfasst die Seiten 29–70, die Beschreibung der Fertigung die Seiten 52–55.

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dann laufe das Gerät an und „Cigarette um Cigarette geht aus ihr in geradezu bewundernswerter Geschwindigkeit hervor“9. Was die Maschine dieser freundlich-bewundernden Beschreibung erwiderte, ist nicht überliefert. Es ist jedoch nicht allzu schwierig, die hier geschilderten Abläufe aus ihrer Perspektive zu beschreiben: Sie nahm Tabak und Papier und formte daraus Zigaretten. Dies tat sie autonom und recht schnell. Woraus genau sie bestand und wie genau sie arbeitete, offenbarte sie nicht ohne weiteres – d.h. nicht dem Laien, nicht dem Autor. Vermutlich wussten die eingeweihten Techniker ihre Hebel und Rädchen, Bewegungen, Geräusche und ihre anderen Signale zu deuten. Was der Autor hingegen nur im Nebensatz erwähnt, dürfte für die Maschine sehr wichtig gewesen sein: Sie brauchte Tabak und Papier, um arbeiten zu können. Sehr wahrscheinlich verweigerte sie die Arbeit, wenn sie keinen Tabak oder kein Papier bekam. Ob und wie oft dies geschah, berichtet diese Quelle nicht, denn in ihr werden das Funktionieren und die korrekte Versorgung der Maschine als selbstverständlich vorausgesetzt – ein Hinweis darauf, dass dieser Text keine neutrale, sondern eine asymmetrische Beschreibung ist. Um die hier angedeutete Blackbox zu öffnen, d.h. die störungsfreie Arbeit der Maschine nicht als selbstverständlich anzunehmen, könnten zusätzliche Dokumente aus dem Arbeitsalltag hinzugezogen werden. Einige Hinweise enthält aber auch das Buch selbst: Die restlichen einundvierzig Seiten dieses Kapitels dokumentieren, dass die Versorgung der Zigarettenmaschine eine umfassende Vorbereitung des Rohstoffes Tabak erforderte. Die in Ballen gepressten Blätter, die in der Fabrik angeliefert wurden, wurden in der Löserei von Hand voneinander getrennt und in einem genau berechneten Verhältnis miteinander gemischt, dann in Hubwagen geschichtet und zwischengelagert, anschließend zu den Schneidemaschinen gefahren, dort gewalzt und geschnitten, entstaubt und wieder gelagert. Erst danach wurden sie zur Maschine gebracht.10 Hier könnte die Analyse nun ausgehend von der Zigarettenmaschine möglichst viele ihrer Beziehungen in der Zigarettenfabrik rekonstruieren. Im Folgenden wird einer dieser möglichen Wege weiterverfolgt, und zwar anhand einer weiteren Textpassage und der Fotografien im zweiten Kapitel, jenem über den Herstellungsbetrieb. Bevor weitere Aktanten und Akteure, die mit der Zigarettenmaschine in Beziehungen standen, identifiziert werden, sei noch einmal an die spezifische Perspektive dieser Quelle erinnert: Nicht nur der Text, auch die Fotos zeigen die Zigarettenfabrik, wie die menschlichen Akteure sie sahen. Der Fotograf, der im Auftrag und unter Kontrolle der Unternehmensleitung arbeitete, hat z.B. oft entlang einer Fluchtlinie fotografiert und so eine bestimmte Ordnung in das Abgebildete gebracht. Dazu kommt, dass das Buch selbst nicht nur die Zigarettenfabrik beschreibt, sondern auch Spuren einer weiteren Geschichte enthält, in der materielle Aktanten eine wichtige Rolle spielten: Beim Durchsehen fällt auf, dass die Fotos keine Bewegungsunschärfen aufweisen. Auf einem Bild sind Tabakblätter zu sehen, die auf ein Förderband fallen, aber sie sind offensichtlich nachträglich einge9 Ebd., S. 55–56. 10 Ebd., S. 32–45.

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zeichnet worden, und das Band stand bei der Aufnahme still.11 Auch andere Szenen sind bei näherem Hinsehen sehr wahrscheinlich Standbilder. Kurz: Die im Buch abgedruckten Fotos sind Produkte einer Kooperation von Maschinen, Chemikalien, Materialien und Menschen. Erst als Menschen und Maschinen angehalten und arrangiert waren, konnte der Fotograf während einer Belichtungszeit von etwa einer dreißigstel Sekunde, mithilfe seiner Plattenkamera und diverser chemischer Prozesse, die im Fotoarchiv des Unternehmens überlieferten Glasnegative von 9x13 cm herstellen.12 Ähnlich könnten auch die weiteren Vorbereitungs- und Herstellungsschritte betrachtet werden, von der Druckvorlagenherstellung bis zur Bindung. Das würde allerdings vom hier gewählten Thema, von der Zigarettenmaschine und den mit ihr verbundenen Aktanten und Akteuren in der Zigarettenfabrik, wegführen. Der Text des zweiten Kapitels folgt grob dem Weg des Rohstoffes Tabak über die verschiedenen Verarbeitungsschritte bis zur fertigen Zigarette. Da manches parallel passiert, geht der Autor dabei nicht immer streng linear vor, doch zeichnet er insgesamt einen durchgehenden roten Faden durch die Fabrik. Die eingestreuten Fotografien zeigen Maschinen in einer Halle, in der Ecke eines Raumes oder als Nahaufnahme, weiterhin große Hallen mit hohen Decken und Fenstern, die offensichtlich zum Teil miteinander verbunden waren oder ineinander übergingen.13 Kaum zu erkennen, meist nur als dunkle Substanz zu ahnen oder durch eingezeichnete Blätter verdeutlicht, ist der Rohstoff Tabak, mit dem Maschinen und Menschen in der Fabrik hantieren. Sein Anbau und seine Ernte, sein Geruch und Geschmack werden jedoch im Text ausführlich erörtert.14 Das Endprodukt Zigarette wiederum ist weder in den Fotos noch im Text besonders prominent. Menschen schließlich sind auf vielen Fotos zu sehen, grob auf drei unterschiedliche Arten: überwiegend als Masse weiß gekleideter Frauen, seltener als Kleingruppe von etwa fünf oder – in den wenigsten Fällen – als einzelne Männer oder Frauen.15 Neben diesen Räumen, Maschinen, neben Tabak und arbeitenden Menschen würde bei längerer Recherche noch eine ganze Reihe weiterer, nicht menschlicher Aktanten und menschlicher Akteure in der Zigarettenfabrik auftreten. Um den Rahmen dieses Beitrages nicht zu sprengen, folgt die Analyse nun denjenigen, die direkt damit befasst waren, die Forderungen der Maschine zu erfüllen und diese mit Tabak zu versorgen. Wie wichtig jene Schritte waren, die vor der Ankunft des Tabaks bei der Zigarettenmaschine stattfanden, spiegelt sich schon darin, dass sie im Buch sehr viel länger, anschaulicher und detailreicher beschrieben werden als die eigentliche Produktion. Auf den Fotos fällt außerdem auf, dass Arbeiten, die im Jahr 1928 noch keine Maschine übernommen hatte – d.h. vor allem das Lösen der Tabak11 Vgl. Voigt (1929), Abb. 5, S. 34. 12 Für die technischen Hinweise danke ich Stefan Rahner, zuständig u.a. für das Fotoarchiv Reemtsma im Museum der Arbeit, Hamburg. 13 Ebd., Abbildungen (ohne Seitenzählung) bei S. 44, 49, 53 und 57. 14 Vgl. ebd., S. 21. 15 Vgl. ebd.; die Abbildungen bei S. 35, 36 und S. 76.

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blätter und das Verpacken der fertigen Zigaretten – in Sälen mit Hunderten von Arbeiterinnen stattfanden. Ein Schaubild im hinteren Teil des Buches erörtert, dass die Zahl der Beschäftigten bei Reemtsma in den 1920er-Jahren parallel zum Anstieg der Produktion stieg, wenn auch aufgrund der gesteigerten Produktivität etwas langsamer als diese.16 Daraus lässt sich schließen: Um die Zigarettenmaschine zu versorgen, um mit ihrem Bedarf an vorbereitetem Tabak und ihrem Tempo Schritt halten, um die fertigen Zigaretten verpacken und ausliefern zu können, wurden fortwährend zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt. Den Takt der Vorbereitungsschritte – die zum Teil erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts automatisiert wurden – gab die Zigarettenmaschine mit der ihr eigenen Geschwindigkeit und Kapazität vor. Auch Bereiche, in denen andere Maschinen bereits einen Teil der Arbeit übernahmen, waren an die Geschwindigkeit der Zigarettenmaschine angepasst. Anders formuliert: Als Bedingung für ihre schnelle, massenhafte und standardisierte Produktion von Zigaretten verlangte sie eine neue Organisation aller vorher und nachher angeordneten Arbeiten. Aus diesen vielen, von der Zigarettenmaschine geprägten Beziehungen wird nun im Folgenden ein Vorbereitungsschritt genauer betrachtet: das Lösen und Mischen des Tabaks. Der Herstellung der richtigen Tabakmischung für die Zigaretten wird im Buch viel Aufmerksamkeit zuteil. Text und Bilder stellen als erste Station der TabakVorbereitung einen als Löserei bezeichneten Raum vor: eine große Halle, in der in Reihen angeordnet eine sehr große Zahl an Arbeiterinnen saß, gekleidet mit weißen Kitteln und Hauben, jeweils zu zweit an einer Kiste mit Tabakblättern und einem Förderband in der Mitte. Eine Bildunterschrift beschreibt den Saal als „neue mechanische Mischanlage“. Der Text erläutert, dass die Sitzordnung der Löserinnen auf einer Reihe von Berechnungen beruhte, bei denen die herzustellende Mischung und die Fähigkeiten der Arbeiterinnen miteinander in Beziehung gesetzt wurden.17 Über ein größeres Förderband waren die Arbeitstische und kleinen Förderbänder mit einer sogenannten Mischtrommel verbunden. Wie auf einem Foto zu erkennen ist, stand jeweils eine einzige davon am Ende eines Saales der Löserei. Ihre Aufgabe war es, die von den Arbeiterinnen hergestellte Mischung noch einmal durchzuschütteln und damit zu perfektionieren, bevor diese nach einer weiteren Kontrolle in ein Zwischenlager kam. Hier beschreibt das Buch, wie die Zigarettenfabrik nach den Prinzipien von Rationalisierung und wissenschaftlicher Betriebsführung organisiert war. Im Vokabular der ANT ließe sich dieses Arrangement aus Mischtrommel, Förderband, Tabak und Frauen auch als Netzwerk bezeichnen, das gemeinsam die gewünschte Tabakmischung herstellte. Auch hier könnte eine weitere Analyse ansetzen, die Handlungen, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Forderungen der verschiedenen Aktanten und Akteure symmetrisch zu beschreiben: Es ist z.B. anzunehmen, dass die Mischungen bzw. die 16 Vgl. ebd., S. 70; im Jahr 1920 produzierten 175 Arbeiterinnen rund 181 Millionen Zigaretten, im Jahr 1928 bereits 4 600 Arbeiterinnen rund 3 293 Millionen Zigaretten. Demnach steigerte sich die Produktion in diesem Zeitraum auf das 26-Fache, die Beschäftigtenzahl auf das 18Fache. 17 Ebd., S. 34.

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definierten Gewichtsanteile der Tabaksorten bisweilen dem Ziel eines schnellen Lösens entgegenstanden, weil sie besondere Anforderungen an die Fingerfertigkeit und Sorgfalt der Frauen stellten. Möglicherweise kam die Mischtrommel nicht mit allen Tabaksorten und -mischungen gleich gut zurecht. Die Frauen, die den Tabak aus den Ballen lösten und die einzelnen Blätter auf das Förderband legten, brachten ebenfalls ihre Fähigkeiten und individuellen Tagesleistungen ein. Insgesamt war die „mechanische Mischanlage“ in der Löserei ein soziomaterielles Netzwerk aus Tabak, Maschinen und Menschen, das eine gemeinsame Aufgabe erfüllte, und sie hat Ähnlichkeiten mit dem, was die institutionelle Wirtschaftsgeschichte als Institution bezeichnet. Zudem dürfte sie ein Beispiel für die – von der ANT zumindest als Möglichkeit gedachte – Symmetrie von Menschen und nicht menschlichen Aktanten (oder gar eine größere Handlungsmacht der Maschinen) sein: Die Rolle der Arbeiterinnen ähnelt jener der anderen Beteiligten; sie werden in Text und Bild als Teile der mechanischen Fertigung beschrieben. Bleibt das dahinterstehende Menschenbild des Unternehmens für den Moment außen vor, lässt sich hier vor allem zeigen, wie die theoretische Perspektive der ANT und die Einbeziehung der materiellen Aktanten das Verständnis des untersuchten Phänomens verändern. Wird diese Geschichte ausgehend von der Maschine und mit Blick auf ihre Beziehungen in der Fabrik erzählt, klingt sie so: Um die richtige Tabakmischung herzustellen, brauchte es im Unternehmen ein möglichst stabiles und erfolgreiches Netzwerk aus Maschinen und Menschen (oder, im Vokabular der institutionalistischen Wirtschaftsgeschichte: einen Institutionalisierungsprozess). Auch die nicht menschlichen Aktanten (die Zigarettenmaschine, Förderbänder, Mischtrommel) hatten einen entscheidenden Anteil an der Gestaltung dieser Beziehungen. Die Unternehmensziele waren nur zu erreichen, wenn die Arbeiterinnen die Tabakblätter lösten, die Förderbänder die Mischtrommel versorgten, die Maschine den Tabak annahm, akzeptierte und in Zigaretten verwandelte. Würde die Analyse weiter den Arbeiterinnen folgen, kämen im Übrigen auch deren Aneignungen, Widerstände oder die Kommunikation zwischen ihnen und der Unternehmensleitung in den Blick. Im hier gewählten Ausschnitt, aus Perspektive der Maschine auf der Ebene der Zigarettenfabrik und ihres Arrangements aus Maschinen und Menschen, spielen diese Aspekte jedoch eine untergeordnete Rolle. Um weitere, hinter der gemeinsamen Aktivität von Maschinen und Menschen stehende Blackboxes wieder zu öffnen (d.h. die Institutionalisierungsprozesse zu rekonstruieren) könnte untersucht werden, wie die im Buch als reibungslos oder selbstverständlich beschriebenen Abläufe in der Zigarettenfabrik zustande kamen und welche Schwierigkeiten damit verbunden waren. Da die ausgewählte Quelle das Ziel hat, ein gelungenes Unternehmen vorzustellen, sind von ihr in dieser Hinsicht kaum Antworten zu erwarten. Mögliche Anhaltspunkte deuten sich aber an: Da die Zigarettenmaschine offenbar so großen Einfluss auf die Organisation des restlichen Unternehmens hatte, ließe sich etwa fragen, ob und wie oft sie nicht ausgelastet war, z.B. aufgrund von Stockungen bei den Vorbereitungsschritten, unerwarteten Eigenschaften des gelieferten Tabaks, Lieferengpässen bei Tabak, Papier oder anderen Materialien, menschlichen Rechenfehlern bei Mischungen

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und „Systemen“ der Löserinnen, hohen Krankenständen unter Arbeiterinnen oder Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, Verschleiß oder Schäden an Maschinen. Abgesehen von den nicht menschlichen Aktanten würden dabei sicher – wie an vielen Stellen in diesem Beitrag angedeutet – auch die „klassischen“ Themen der institutionalistischen Wirtschaftsgeschichte, etwa Unternehmenskultur und -kommunikation, relevant werden. Wie wichtig die Integration der Maschine ins Unternehmen für dessen Erfolg war, zeigt sich auch, wenn die Analyse sich einen Schritt von der Perspektive der Maschine löst und genauer betrachtet, wie der (von der Unternehmensleitung autorisierte) Text des Buches die Aufgaben der Maschine und des sie umgebenden sozio-materiellen Netzwerkes beschreibt. An mehreren Stellen umreißt der Autor die in der Zigarettenfabrik erfüllte gemeinsame Aufgabe von Menschen und Maschinen, den Sinn des Netzwerkes: Als Einstieg in das Kapitel zum Herstellungsbetrieb führt er aus, die automatisierte Zigarettenproduktion sei auf den ersten Blick eine sehr einfache Aufgabe – „Etwas Tabak und darum eine dünne Hülle aus Papier. Fertig!“ –, zumal in den Augen vieler Raucher, die selbst drehten: „Was dieser mit seinen Fingern kann, muß doch die Maschine, allerdings in großem Maßstabe, erst recht können.“ Das jedoch sei vor allem deshalb ein Irrtum, weil eine Zigarettenfabrik eine ständig konstante Qualität liefern müsse und sich keinen Fehler erlauben dürfe.18 Zu Beginn des Abschnittes über die Arbeit der Maschine betont der Autor dann, bei der Fabrikation handele es sich um „keinen rein mechanischen Vorgang“, sondern darum, „die im Tabak steckenden Werte weiterhin unvermindert zu erhalten“19. Die Füllung der Zigaretten müsse daher „exakt und tadellos“ erfolgen, unter Tausenden von Zigaretten müsse „eine der anderen vollkommen gleichen“. Eben deshalb habe schließlich der Mensch die Überlegenheit der Technik anerkannt: „Die Menschenhand versagt hier. Die Maschine tritt an ihre Stelle.“20 Insgesamt wird hier die Arbeit der Maschine sehr engagiert gegen (angenommene) Banalisierungen verteidigt, der Schritt von der manuellen Herstellung zur Fabrikation mit dem Verweis auf die verwöhnten Konsumenten und ihre Ansprüche legitimiert und ein anspruchsvoller Auftrag an die Maschine formuliert. So wird diese mit Nachdruck als Mitglied einer unternehmerischen Deutungsgemeinschaft vorgestellt – kurz gefasst lautet die Botschaft: Menschen und Maschinen arbeiten zusammen daran, die anspruchsvollen Raucher zufriedenzustellen. Hier könnte eine Analyse zur Unternehmenskultur (und der Rolle von „Qualität“ darin), zu Vorstellungen vom Konsumenten und deren Übersetzung in Institutionen innerhalb des Unternehmens anschließen. Als das Unternehmen Reemtsma in den 1920er-Jahren einen Teil seiner Produktion automatisierte und eine neue Maschine ins Unternehmen integrierte, war dies ein komplexer Veränderungsprozess, an dem verschiedene sozio-materielle Netzwerke beteiligt waren. Zumindest ansatzweise lässt sich anhand der ausgewählten Quelle zeigen, dass sich die Beziehungen innerhalb des Unternehmens 18 Voigt (1929), S. 29. 19 Ebd., S. 53. 20 Ebd., S. 55.

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veränderten, als die Arbeit der anderen menschlichen und nicht menschlichen Aktanten in den Dienst der Zigarettenmaschine und ihrer Forderungen gestellt wurde: Rund um die neue Zigarettenmaschine entstanden neue oder modifizierte, zwischen Maschinen und Menschen verteilte Aktivitäten, die sich auf Dauer verstetigten, selbstverständlich wurden und damit auch die Handlungsspielräume der Beteiligten definierten – kurz: Institutionen. Anlass war der von der Unternehmensleitung formulierte Anspruch, massenhaft standardisierte Zigaretten in guter Qualität herzustellen. Eine auf die Beteiligung der materiellen Aktanten fokussierte Analyse kann zeigen, wie die Aufträge der Unternehmensleitung von den menschlichen Akteuren und nicht menschlichen Aktanten in der Zigarettenfabrik in gemeinsame Aktivität übersetzt wurden: Dies geschah nicht, auch wenn Text und Bild dies suggerieren, indem ausschließlich Menschen ihre Wünsche und Aufträge formulierten. Vielmehr waren weitgehende Zugeständnisse an die Maschine notwendig, eine zeitliche, räumliche und qualitative Neuorganisation der Arbeit in der Fabrik und ein neues Netzwerk aus Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen. Die Handlungen aller Beteiligten, jene der menschlichen Akteure wie jene der materiellen Aktanten, wurden dabei von den jeweils anderen verändert, angepasst und beeinflusst. Während die Unternehmensleitung und die Ingenieure Pläne aufstellten und Berechnungen anstellten oder die Arbeiterinnen den Tabak lösten, hüllte die Maschine den Tabak in Papier und produzierte Zigaretten. Während die Leitung Aufträge erteilte oder Sanktionen aussprach, die Arbeiterinnen kooperieren oder die Kooperation in gewissem Umfang verweigern konnten, reagierte die Maschine auf die Qualität und Geschwindigkeit des Nachschubes. Diese Beteiligung der Maschine kann und soll nicht mit menschlicher Intentionalität gleichgesetzt werden, eine solche Symmetrie wird in der ANT auch ausdrücklich abgelehnt. Je nach Maßstab und Einzelfall stellt sich allerdings durchaus die Frage, welchen Stellenwert menschliche Intentionalität für den Ablauf eines untersuchten Phänomens hatte – anders gefragt, ob es tatsächlich immer und in erster Linie ihre Aneignungen waren, die das Geschehen vorantrieben. Bewertung Insgesamt lässt das Experiment, die Geschichte der Zigarettenproduktion bei den Reemtsma Cigarettenfabriken in den 1920er-Jahren unter Anwendung der methodischen Anregungen aus der Akteur-Netzwerk-Theorie und aus Perspektive der Zigarettenmaschine zu erzählen, das Bild eines Netzwerkes entstehen, das anlässlich der Einführung der Maschine entstand und in dem zahlreiche andere Beteiligte – menschliche Akteure ebenso wie materielle Aktanten – sich schließlich abgestimmt verhielten und auf ein gemeinsames Ziel hin arbeiteten. Insofern konnte die Entstehung einer speziellen – weil von Menschen und Maschinen getragenen – Institution beschrieben und so die institutionalistische Lesart dieser Geschichte um einen bislang vernachlässigten Aspekt erweitert werden.

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Die Erkenntnis, dass die Automatisierung einer Produktion weder über die Maschine noch über die menschlichen Aneignungen allein beschrieben werden kann, ist wenig überraschend. Der hier versuchte Perspektivwechsel schärft jedoch den Blick für die Bedeutung der so oft als „passiv“ dargestellten materiellen Aktanten. Damit verbunden ist die Einsicht, dass eine Veränderung eines einzelnen Beteiligten – des Tabaks, der Maschine, der Förderbänder, der Menschen, der Konsumenten – zumindest potenziell das ganze Unternehmen destabilisieren bzw. neue Institutionalisierungsprozesse notwendig machen könnte. Auch legt die kurze Fallstudie nahe, dass einige Besonderheiten der Entwicklung des Unternehmens Reemtsmas in den 1920er-Jahren nicht schlüssig erklärt werden können, wenn die Zigarettenmaschine und ihre ‚Interessen‘ außen vor bleiben. Die sich dabei aufdrängende Frage nach dem Menschenbild der ANT bzw. nach ihrem Verständnis von Handlungsmacht der Akteure hingegen lässt sich anhand dieser Untersuchung zumindest teilweise entschärfen: Je nach Fragestellung und Maßstab – d.h. nicht von vornherein, aber potenziell an vielen Stellen der Analyse – können durchaus wieder die Sinndeutungen und Aneignungen der Menschen, d.h. die klassischen Themen der Kulturgeschichte, relevant oder für den weiteren Ausgang entscheidend werden. Wie sich gezeigt hat, bleiben einige Grundsätze der ANT in der Praxis einer historischen Forschung kaum umsetzbar. So würden etwa die geforderte Offenheit der Bestandsaufnahme und die symmetrische Behandlung aller Aktanten bei konsequenter Einhaltung nicht nur diesen Beitrag, sondern auch jede andere Forschungsarbeit sprengen. Es ist sicher kein Zufall, dass es sich bei den meisten bisher veröffentlichten ANT-beeinflussten Studien um Laborstudien mit extrem begrenztem Zuschnitt und einer überschaubaren Anzahl an Akteuren handelt. Dass bei historischen Forschungen oft auch bei intensiver Suche nicht alle Aktanten versammelt werden können, weil Überlieferungen fehlen, kann insofern durchaus eine Erleichterung sein, widerspricht aber im Grunde den Prinzipien der ANT. Im Hinblick auf die Quellen und den Umgang mit ihnen entsteht ein weiteres Problem dadurch, dass materielle Aktanten oft vollständig verschwunden sind und sich ihre Spuren nur in überlieferten Äußerungen menschlicher Aktanten finden lassen. Texte und Bilder selbst sind von menschlichen Akteuren mithilfe anderer nicht menschlicher Aktanten (Kamera, Film, Tonband, Zeichenstift etc.) produziert worden und gehorchen eigenen Regeln. Diese unterschiedlich verteilte sprachliche Ausdrucksfähigkeit schafft eine Asymmetrie, die auch mit konsequentem „Gegenden-Strich-Lesen“ kaum überwunden werden kann. Sollte andererseits tatsächlich eine originale Maschine erhalten sein, fehlt mit großer Wahrscheinlichkeit der Kontext, sodass die für die ANT so wichtigen Beziehungen im Grunde noch schwieriger zu rekonstruieren sind als anhand von Bildern oder Texten. Es ist folglich durchaus nachvollziehbar, dass die Geschichtswissenschaft im Umgang mit der Materialität von Geschichte und in der Anwendung der Akteur-NetzwerkTheorie noch zögerlich ist. Um das Potenzial einer für das Materielle sensibilisierten Unternehmensgeschichte zu nutzen, braucht es sicher eine gesunde Mischung aus Reflexion, sorgfältiger Quellenkritik und Pragmatismus.

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Literatur Akrich, Madeleine: Die De-Skription technischer Objekte, in: Andréa Bellinger, David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 407–426. Callon, Michel: Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht, in: Andréa Bellinger, David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 135–174. Hessler, Martina: Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt a.M. u.a. 2012; Zusatzkapitel „Ansätze und Methoden der Technikgeschichtsschreibung“, online unter http://www.campus.de / buecher-campus-verlag/wissenschaft/geschichte/kulturgeschichte_der_technik-4250.html (Zugriff 10.06.2014). Jacobs, Tino: Rauch und Macht. Das Unternehmen Reemtsma 1920 bis 1961, Hamburg 2008. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2010.

4.2 WAS LEISTEN INSTITUTIONEN? In diesem Kapitel stehen Fragen von institutioneller Legitimität und Stabilität in Unternehmen im Vordergrund. Unternehmen sind nicht nur ökonomische Organisationen, sondern zugleich soziale Sinndeutungsgemeinschaften. In ihnen gelten im Umgang zwischen den Menschen bestimmte Werte und nicht immer schriftlich festgelegte Regeln. Über Kunden-, Mitarbeiter- und Öffentlichkeitsbeziehungen sind Werte und Regeln immer in das umgebende gesellschaftliche Gefüge eingebettet. In diesem Sinne bezeichnet der Begriff Unternehmenskultur die alltägliche, immer erneut zu legitimierende und zu stabilisierende Handlungswelt eines Unternehmens, die je nach Zeit und Ort sehr unterschiedlich ausfallen kann. Erfolgreiches unternehmerisches Handeln ist folglich auf gesellschaftliche Legitimität angewiesen und öffentlicher Rückhalt kann somit als wichtige Ressource begriffen werden. Kommunikation mit der Umwelt erhält für die Durchsetzung von Unternehmenszielen einen entscheidenden Stellenwert. Eine große Schwierigkeit liegt für Unternehmen darin, sich auf die innerhalb des sozialen Umfeldes auffindbaren informellen Institutionen einzustellen. Um deren Wirkung zu erforschen, wird versucht, Institutionentheorie durch ein netzwerktheoretisches Konzept zu ergänzen. Mit verwandten Zielen, aber einem anderen methodischen Vorgehen unternimmt es der Varieties of Capitalism-Ansatz, Kontextfaktoren und ihre Bedeutung für Unternehmen sichtbar zu machen und in diesem Fall insbesondere international zu vergleichen. Zunehmend legitimieren sich Unternehmen (auch) mittels ihres visuellen Auftrittes gegenüber ihrer Umwelt, d.h. den Verbrauchern, den Konkurrenten, dem Markt oder dem weiteren gesellschaftlichen Umfeld. Auch eine institutionalistische Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte kann durch die Entdeckung von Bildern als Quelle und von Visualität als Forschungsfeld profitieren. Die Entwicklung eines eigenen visuellen Stiles in einem Unternehmen kann so als Legitimations- und Stabilisierungsprozess verstanden werden.

4.2.1 KOMMUNIKATION: DIE TARIFGESTALTUNG FÜR ELEKTRISCHE ENERGIE IN DER WEIMARER REPUBLIK Daniel Wilhelm Wirtschaftsorganisationen sind eng in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet. Dies hat zur Konsequenz, dass erfolgreiches unternehmerisches Handeln auf gesellschaftliche Legitimität angewiesen ist und öffentlicher Rückhalt somit als wichtige Ressource begriffen werden kann. Der vorliegende Beitrag erklärt, warum Kommunikation für die Durchsetzung von Unternehmenszielen notwendig ist. Durch Kommunikation werden Handlungsspielräume so ausgestaltet, dass Widersprüche und Proteste gegen Entscheidungen von Unternehmen vermieden und eine stabile Beziehung zu den jeweiligen individuellen und kollektiven Anspruchsgruppen aufgebaut werden kann. Als Orientierungspunkte für die angemessene Art und Weise der Zielrealisierung dienen dabei die übergeordneten institutionellen Strukturen. Sie sind damit zugleich der Ausgangspunkt jeder Kommunikation. Dargestellt wird dies am Beispiel der Einführung des Grundgebührentarifs für elektrische Energie in den Jahren 1924 bis 1927 durch den württembergischen Versorger Oberschwäbische Elektrizitätswerke (OEW). Die Durchsetzung dieser neuen Berechnungsgrundlage verlangte vom Unternehmen Erklärungen und Rechtfertigungen, da schon ihre Ankündigung im Jahre 1924 auf Proteste der Betroffenen stieß. Normative Erwartungen und Handlungsanforderungen machten die Interessendurchsetzung dabei zu einem Prozess kommunikativer Aushandlung. Am Beispiel der Neugestaltung des Tarifwesens durch die OEW Mitte der 1920er-Jahre wird schließlich die Erklärungsreichweite einer solchen Verbindung für die Beschreibung und Analyse von Unternehmenshandeln im zeitlichen und räumlichen Kontext überprüft. Dabei wird davon ausgegangen, dass Institutionen Kommunikation bedingen und sie zugleich als komplexitätsreduzierendes Moment zu verstehen sind. Konzeptspezifikation Welche Rolle spielt der Faktor Kommunikation im Kontext der Durchsetzung von Unternehmensinteressen vor dem Hintergrund institutioneller Handlungsanforderung? Die Antwort auf diese Frage kann zu einem besseren Verständnis von Unternehmenshandeln in seinem zeitlichen und räumlichen Kontext beitragen. Grundlage hierfür sind drei Bausteine des Institutionalismus: erstens die Annahme, wonach Wirtschaftsorganisationen eng in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet sind und dadurch zweitens gesellschaftliche Legitimität zu einem

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wichtigen Handlungsmaßstab wird. Dies bedeutet schließlich drittens, dass gesellschaftliche Institutionen Relevanz für Unternehmenshandeln besitzen. Um für die folgenden Überlegungen eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, soll in einem ersten Schritt der Kommunikationsbegriff im hier verwendeten Sinne erläutert werden. Dem schließt sich in einem zweiten Schritt eine funktionale Verortung des Faktors Kommunikation im Rahmen institutionalistischer Theorie an. Im dritten Schritt wird auf das Fallbeispiel Bezug genommen. Dort wird die Erklärungsreichweite der Verbindung von Institutionentheorie und Kommunikation für eine unternehmensgeschichtliche Fragestellung gezeigt. Unter Kommunikation wird ein Prozess verstanden, der aus der Übermittlung sowohl verbaler wie auch nonverbaler – gegebenenfalls über ein technisches Medium übertragener – Mitteilungen besteht. Die Mitteilungen werden von einem Rezipienten interpretiert und kategorisiert.1 Kommunikation ist in der Regel sinnund zweckhaft und steht in Beziehung zu den übergeordneten Institutionen. Demnach bilden und verändern Institutionen Orientierungspunkte für Kommunikation. Die Übertragung von sprachlichen und handlungspraktischen Mitteilungen ist gleichsam für die Koordination gültiger institutioneller Sinnsysteme verantwortlich. Sie dient überdies der Erarbeitung gemeinsamer Verständigungsgrundlagen bzw. legitimierter Handlungsspielräume. Seine konkrete Funktion nimmt der Aspekt Kommunikation im hier vorgestellten Verständnis über seine spezifische Rolle im Konzept ein, mithilfe dessen der Zugang zur historischen Quellenüberlieferung vorgenommen wird. Sind es auf der inhaltlichen Ebene die vorherrschenden Sinnkonstruktionen und geteilten Deutungsstrukturen, die als Schnittstelle zwischen Unternehmen und unternehmensexterner Umwelt fungieren, so kommt durch eine Verknüpfung von Institutionenökonomik und Kommunikation auf der praktischen Ebene Letzterer diese Rolle zu. Das heißt, in kommunikativen Akten transformieren sich die abstrakten Sinnkonstruktionen in konkrete verbale und nonverbale Handlungen. Oder anders ausgedrückt: In Kommunikations- und Interaktionsprozessen werden die institutionellen Bedingungen, die durch den jeweiligen Akteur subjektiv interpretiert werden, in sprachliche und handlungspraktische Formeln übersetzt.2 Kommunikation ist damit ein evidenter Teil institutionalistischer Theorie.3 Für das Verhältnis von Institutionen und Kommunikation gilt: Gültige und von den jeweiligen Akteuren als relevant erachtete Institutionen stellen Orientierungspunkte und komplexitätsreduzierende Momente dar, da sie Auskunft über 1

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Definition in enger Anlehnung an Heinz Pürer: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Handbuch, Konstanz 2003, S. 58f.; Claudia Mast: Unternehmenskommunikation. Ein Leitfaden, 5. Aufl., Stuttgart 2013, S. 3; sowie Wil Martens: Handlung und Kommunikation als Grundbegriffe der Soziologie, in: Gert Albrecht, Rainer Greshoff, Rainer Schützeichel (Hg.): Dimensionen und Konzeptionen von Sozialität, Wiesbaden 2010, S. 173–206. Vgl. John C. Lammers: How Institutions Communicate: Institutional Messages, Institutional Logics, and Organizational Communication, in: Management Communication Quarterly 25/1 (2011), S. 154–182, hier S. 156. Vgl. Roy Suddaby: How Communication Institutionalizes: A Response to Lammers, in: Management Communication Quarterly 25/1 (2011), S. 183–190, hier S. 188.

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die Angemessenheit sowie Sinnhaftigkeit der Wahl der Argumente und Begründungen geben. Da diese institutionellen Bedingungen jedoch subjektiv interpretierbar, niemals eindeutig und als gleichwertig verbindlich betrachtet werden können, kann Kommunikation zugleich ein Beitrag zur Gestaltung gesellschaftlich legitimierter Handlungsspielräume leisten. Zu diesem Zweck finden Aushandlungsprozesse zwischen Unternehmen und ihrem gesellschaftlichen Umfeld statt. In ihnen soll Verständigung über spezifische Handlungsanforderungen erzielt werden. Anzumerken ist, dass in den kommunikativen Akten die institutionelle Struktur nicht nur gespiegelt wird, sondern genauso der praktische Umgang mit diesen Institutionen bzw. deren strategische Integration in die Argumentationsführung sichtbar wird. Institutionen bedingen Kommunikation also nicht nur. Sie formen sich in einer Art Wechselwirkung in Kommunikationsprozessen aus. Daraus ergibt sich gleichermaßen die Möglichkeit, aus der Kommunikation herauszulesen, welche Institutionen von welchen Akteuren als relevant erachtet wurden bzw. wie diese jeweils interpretiert wurden. Im Sinne institutionenorientierten Denkens agiert jedes Unternehmen innerhalb einer beeinflussenden Struktur, die Handlungsoptionen gleichzeitig beschränkt wie ermöglicht. Der Blick auf die Gestaltung der Strompreise durch die Oberschwäbischen Elektrizitätswerke in den 1920er-Jahren zeigt dies anschaulich. Am Beispiel der Durchsetzung des Grundgebührentarifs durch die OEW in den Jahren 1924 bis 1927 kann gezeigt werden, dass hier die institutionelle Bedingungssphäre einer raschen und konfliktfreien Interessendurchsetzung entgegenstand. Ein kommunikativer Aushandlungsprozess wurde notwendig. Der handlungsbeeinflussende Rahmen richtete Anforderungen an das Unternehmen. Das heißt konkret, dass mithilfe von Kommunikation versucht wurde, Deutungshoheit über die Interpretation bestehender institutioneller Anforderungsmuster zu gewinnen. Dahinterstehende Absicht war, eigene Interessen möglichst kostengünstig zu realisieren. Operationalisierung Die flächendeckende Elektrifizierung weiter Teile Deutschlands wurde im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreicht. Aufbauend auf den technischen Grundlagen und Erkenntnissen des ausgehenden 19. Jahrhunderts stand in diesem Zeitraum die praktische Umsetzung und sinnvolle Organisation der Erzeugung, des Transportes und der Verteilung des Stromes im Zentrum. Gerade die Gestaltung der Strompreise ließ dabei immer wieder ein kommunikatives Aushandeln zwischen Versorgern und Abnehmern notwendig werden. Dies zeigt sehr anschaulich die Tarifgestaltung der OEW im württembergischen Oberschwaben in den 1920er-Jahren. Die OEW wurden als kommunales Überlandwerk im Jahre 1909 durch die Zusammenarbeit verschiedener Amtskörperschaften gegründet. Das Unternehmen sollte unabhängig von Gewinnerwartungen auch solchen Gebietsteilen einen Stromanschluss bereitstellen, die für einen privaten Versorger aufgrund der hohen

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Kosten für den Ausbau der Netze nicht attraktiv waren. Außerdem bot die kommunale Eigentümerschaft, die das Unternehmen auf das Prinzip der Gemeinnützigkeit verpflichtete, die Möglichkeit, den Abnehmern den Strom möglichst günstig anzubieten. Relevanz besaß dieser Umstand gerade deshalb, da es vor allem die finanziellen Aufwendungen und Belastungen beim Bezug elektrischer Energie waren, die immer wieder zu einer Erwartungsartikulation seitens der Abnehmer führten. Für das Unternehmen hatte daher die Begründung und Erläuterung von Entscheidungen, die diesen bestehenden normativen Erwartungen vermeintlich entgegenliefen, eine hohe Relevanz. Denn es war ein von den leitenden Protagonisten dezidiert formuliertes Ziel, ganz Oberschwaben mit preiswertem Strom zu versorgen. Beobachten lässt sich, dass hierbei die Unternehmenskommunikation ein essenzieller Faktor war, der die mit der Ausgestaltung des Strompreises zusammenhängenden technischen und betriebswirtschaftlichen Maßnahmen flankierte. Das Fallbeispiel eignet sich damit besonders gut, um aufzuzeigen, wie ein Unternehmen kommunikativ innerhalb eines beeinflussenden institutionellen Rahmens Anforderungen bewältigte und eigene Interessen durchsetzte. Darüber hinaus erscheint der Untersuchungsgegenstand auch durch seine historische Bedeutung für die Elektrizitätswirtschaft beachtenswert: Die Anwendung des Grundpreistarifs stellte bis dahin in Deutschland eine kaum praktizierte Strompreisberechnungsform dar und wirkte im Nachgang vorbildhaft für viele weitere Unternehmen. Die Übertragung des Konzeptes auf das Thema beziehungsweise dessen Operationalisierung am konkreten Fallbeispiel soll nun kurz erläutert werden: Der Zugang zur Quellenüberlieferung ist von dem leitenden Gedanken bestimmt, dass die relevanten institutionellen Bedingungen in den verbalen und nonverbalen Akten ihren Niederschlag finden. Sie bedingen damit Kommunikation. Die Quellen geben Auskunft über die Einführung des Grundpreistarifs und sie offenbaren somit nicht nur die Relevanz und Wirkung dieser Bedingungen, sondern eröffnen ebenso einen Blick auf die argumentative Bewältigung und den Umgang mit den sich daraus ergebenden Anforderungen. Hilfreich und gleichzeitig unabdingbare Voraussetzung für die folgende Quellenanalyse ist eine ertragreiche Quellenüberlieferung, auf deren Basis sich die Kommunikationsakte rund um die Veränderung der Berechnungsgrundlage für elektrische Energie nachvollziehen lassen. Demnach wurde der Tarif vom Unternehmen nicht einfach beschlossen, sondern mit Vertretern von Industrie und Gewerbe sowie landwirtschaftlichen Abnehmern ausgehandelt. Ferner wurde dessen Einführung von einer intensiven, erklärenden und werbenden Kommunikation begleitet, um so die bestehenden Vorbehalte zu überwinden. Notwendig wurden diese Maßnahmen, da von den Stromabnehmern mit der Veränderung der Berechnungsgrundlage ein Anstieg der Preise befürchtet wurde und infolgedessen hartnäckiger Widerstand drohte. Ausgangspunkt der Darstellung ist eine vom Direktor der OEW, Gustav Mann, im Jahre 1933 rückblickend vorgenommene unternehmensinterne Bewer-

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tung der Kommunikation, die die Einführung des Grundpreistarifs in den 1920erJahren begleitete. Entsprechend der in diesem Beitrag gesetzten Annahme finden die gültigen institutionellen Arrangements ihre Entsprechung in sprachlichen und handlungspraktischen Akten beziehungsweise werden dort miteinander harmonisiert. Konkreter: Durch einen Blick auf die Kommunikation wird zugleich der institutionelle Rahmen dechiffriert, der Unternehmenshandeln bei der Ausgestaltung des Tarifs beeinflusste und der als Orientierungsmaßstab für die angemessene Art und Weise seiner Durchsetzung diente. Das Anforderungsmuster, das hier vom Direktor der OEW retroperspektivisch skizziert wird, zeigt, welche Institutionen Ausgangspunkt von Kommunikation waren. Um hierbei zu einer klareren und belastbareren Darstellung zu kommen, werden ergänzende Quellen herangezogen, in denen diese Bedingungen ihre verbale und handlungspraktische Übersetzung finden. Das heißt, die von Gustav Mann herausgestellten Problemkonstellationen und die von ihm als relevant erachteten Anforderungen werden mit weiteren Quellenbelegen abgeglichen, um so deren allgemeine Gültigkeit bei der Durchsetzung des Grundpreistarifs zu überprüfen. Als Quelle hierfür kann jede Form der externen Unternehmenskommunikation gezählt werden, wie sie sich in Presseartikeln, öffentlichen Statements, schriftlichen Korrespondenzen oder vom Unternehmen selbst herausgegebenen Publikationen findet. Im besonderen Fokus stehen jedoch jene Überlieferungen, die die kommunikative Vermittlung des Grundpreistarifs nachvollziehbar machen. Dies sind Protokolle über die Verhandlungen mit den relevanten Abnehmergruppen sowie Mitteilungen an die Stromkunden über die ab 1925 erschienene Kundenzeitschrift. Im Sinne der bisherigen Überlegungen zeichnen die angeführten Quellen in ihrem Zusammenspiel nicht nur den handlungsbeeinflussenden Rahmen, sondern geben genauso Auskunft, wie innerhalb dieser Struktur Entscheidungen vermittelt und durchgesetzt beziehungsweise Anforderungen bewältigt wurden. Anders formuliert: Die Betrachtung von Kommunikationsakten zeigt, welche Institutionen für die jeweilige Partei in bestimmten Konstellationen Gültigkeit besaßen. Weiterhin erhalten wir so Aufschluss darüber, wie die Institutionen durch die handelnden Akteure interpretiert und gedeutet wurden beziehungsweise wie sie zur eigenen Zielrealisierung instrumentalisiert wurden. In den konzeptionellen Überlegungen ist ein Analyseinstrument vorgestellt, das den Zugang zu den historischen Quellen vorgibt. Unternehmensinterne, verschriftlichte Überlegungen zum Grundpreistarif und dokumentierte Kommunikationsprozesse stellen hierbei die Basis dar, auf der die Frage nach der Rolle des Faktors Kommunikation bei der Durchsetzung von Unternehmensinteressen vor dem Hintergrund institutioneller Handlungsanforderung beantwortet wird. Die Analyse orientiert sich dabei an folgendem Schema: Ausgehend vom Quelleninhalt werden in einem ersten Schritt die formalen und nicht formalen Institutionen rekonstruiert, die Wirkung auf die Unternehmenskommunikation hatten. Dazu wird die Ausgangsquelle auf die Identifizierung institutioneller Bedingungen hin gelesen. In einem zweiten Schritt wird der kommunikative Umgang mit dieser handlungsbeeinflussenden Bedingungssphäre dargestellt und auf-

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gezeigt, wie von Unternehmensseite über das Instrument Kommunikation versucht wurde, Handlungsspielräume zu ermöglichen. Fallbeispiel „Mit der Einführung des Grundpreistarifs fing die Stromrechnung an kompliziert zu werden. […]. So hat man in Verwaltungsrat und Verbandsversammlung immer möglichst, ehe Anfragen und Beschwerden vorgebracht wurden, ein Loblied auf den Tarif vorgetragen und insbesondere auf die Härteklausel mit der Aufforderung, sich an die Geschäftsleitung zu wenden, wenn man glaube, zuviel [sic] bezahlen zu müssen, hingewiesen. Dass wir dauernd eine sehr grosse [sic] Korrespondenz zu führen haben, ist sicher zu einem wesentlichen Teil darauf zurückzuführen, dass der Tarif in seiner ersten Anwendung ohne die Richtlinien zu viele Härten gebracht hat und ferner darauf, dass die Geschäftsleitung immer gesucht hat, die unter den Abnehmern vorhandene, starke Abneigung gegen den Grundpreistarif durch die Hinlenkung auf die Möglichkeit der Reklamation und die Anwendung der Richtlinien zu überwinden. Die öffentlichen Beschwerden und diejenigen in den Verbandsorganen wurden so allmählich überwunden und es konnte scheinen, als ob der Tarif nun wirklich richtig ist, tatsächlich war aber diese öffentliche Ruhe nur dadurch herbeigeführt, dass die Richtlinien in immer steigendem Umfang angewandt wurden und angewandt werden mussten.“ Quelle: Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg (WABW), B 2010, Bü 376. G. Mann, Exposé „Vergleich der Stromrechnungen in Freudenstadt und Künzelsau mit denjenigen in Biberach“ vom 11.11.1933.

Dieser Quellenauszug entstammt einem Exposé des Direktors der OEW, Gustav Mann, aus dem Jahre 1933, das sich mit der Strompreisgestaltung im Versorgungsgebiet des Unternehmens befasst. Angefertigt wurde es vor dem Hintergrund der Diskussionen über angemessene Strompreise bzw. der öffentlichen Erwartung nach deren Senkung im Kontext der schlechten wirtschaftlichen Lage zu Beginn der 1930er-Jahre. In der Quelle nimmt Mann Bezug auf die Einführung des Grundpreistarifs und schildert die aus seiner Sicht notwendigen Maßnahmen, um den Tarif erfolgreich durchzusetzen. Zum besseren Verständnis sei erklärt, dass die Änderung der Berechnungsgrundlage als ein zentrales Ziel der OEW in der Zeitspanne der Weimarer Republik definiert werden kann. Bis nach dem Ersten Weltkrieg forderte das Unternehmen von den Stromabnehmern in vielen Bereichen einen von der Größe des Verbrauches unabhängigen Pauschalpreis. Daneben gab es Zählertarife, die jede abgenommene Kilowattstunde nach einem festen Arbeitspreis berechneten.4 Eine grundlegende Neugestaltung des Tarifwesens wurde schließlich in den 1920erJahren angestrengt. Wesentlicher Grund hierfür waren ökonomische und finanzielle Überlegungen: Die OEW hatten mit dem kostspieligen Ausbau der Wasser4

Vgl. zu diesen Tarifen Leonhard Müller: Handbuch der Elektrizitätswirtschaft. Technische, wirtschaftliche, rechtliche Grundlagen, 2. Aufl., Berlin 2001, S. 371.

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kraft an der Iller nicht speicherbare Kraftkapazitäten gewonnen, die möglichst effektiv und rationell verwertet werden sollten. Um dies zu erreichen, musste der Stromkonsum gesteigert werden, was vornehmlich über eine Änderung des Preissystems möglich erschien. Außerdem wurde vom Werk schon lange darüber geklagt, dass die alte Berechnungsmethode zu „Stromvergeudung“ und „Stromdiebstahl“ geführt habe.5 Mit der Änderung des Tarifs verband das Unternehmen konkrete Vorteile: Durch die Grundgebühr sollte dem Werk eine sichere Einnahme garantiert werden, um „[…] sodann die Ausnützung der Wasserkräfte möglichst günstig zu gestalten und dem Abnehmer bei möglichst einfacher Gestaltung des Tarifes durch einen niedrigen Arbeitspreis einen Anreiz zum Stromverbrauch zu geben“6.

Versucht man vor diesem Hintergrund den institutionellen Rahmen aufzuzeichnen, so ergibt sich folgendes Bild: Wie aus der Quelle hervorgeht, stieß die Einführung des Tarifs auf Widerstand der Abnehmer und hatte immer wieder Beschwerden zur Folge. Von den Stromkunden wurde insbesondere der feste Betrag abgelehnt, der unabhängig vom Verbrauch an das Werk bezahlt werden musste. Die Verbraucher befürchteten, der neue Tarif würde zu einer Erhöhung der Preise und damit zu einer finanziellen Mehrbelastung für sie führen. Vom Unternehmen wurde als Reaktion darauf, wie Direktor Gustav Mann ausführt, deshalb immer wieder in den zentralen Gremien, in denen auch Vertreter der Stromabnehmer saßen, ein „Loblied“ auf den neuen Tarif vorgetragen. Kommunikativ versuchten die OEW demnach, die Bewertungsmaßstäbe zu beeinflussen: Auch mit dem neuen Tarif seien die günstigen Preise weiterhin gewahrt. Zumindest auf verbaler Ebene wurde so den Handlungsanforderungen entsprochen, die die bestehende institutionelle Struktur definierte. Um diese Struktur inhaltlich konkreter zu füllen und klarer zu machen, muss an dieser Stelle ergänzend auf weitere Quellen zurückgegriffen werden, die das Selbstverständnis günstiger Preise erklärbar machen. Als kommunaler Versorger mit gemeinnützigem Anspruch bekräftigte das Unternehmen seit seiner Gründung die Garantie billiger Strompreise immer wieder kommunikativ.7 Schon rund zwei Jahre bevor zum ersten Mal Strom geliefert werden konnte, betonte der stellvertretende Verbandsvorsitzende der OEW, dies war zu jener Zeit Franz Schenk von Stauffenberg, im Hinblick auf die Preise: „Wir haben diejenigen Preise zu Grunde gelegt, hinsichtlich derer die Abnehmer erklärt haben, dass sie sie zahlen wollen.“8 An anderer Stelle erläuterte der Ver5

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Vgl. WABW, B 2010, Bü 905. OEW–Kundenzeitschrift Nr. 1 Januar/Februar 1925, S. 2. Vgl. weiter WABW, B 2010, Bü 139. F. von Stauffenberg, in: Protokoll der 15. Sitzung der Verbandsversammlung vom 20.12.1924. WABW, B 2010, Bü 371. Entwurf eines Grundgebührentarifs von A. Pirrung vom 11.9.1924. Vgl. weiter WABW, B 2010, Bü 125. Protokoll der 2. Sitzung der Verbandsversammlung vom 12.8.1912. Vgl. weiter WABW, B 2010, Bü 194. F. von Stauffenberg, in: Protokoll über die 71. Sitzung der Verwaltungskommission vom 13.4.1931. WABW, B 2010, Bü 125. F. von Stauffenberg, in: Protokoll der 2. Sitzung der Verbandsversammlung vom 12.8.1912.

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bandsvorsitzende des Unternehmens gegenüber einem potenziellen Stromabnehmer: „Die Aussichten für das Gelingen des großen gemeinnützigen Werkes, das allen [Hervorhebung im Original] Berufsgruppen billigen und nach und nach immer billiger werdenden elektrischen Strom liefern soll, sind nach meiner gewissenhaften Überzeugung durchaus günstige.“9

Mit dieser kommunikativ vertretenen Meinung seitens des Unternehmens wurde die Garantie billiger Preise zu einer informellen Institution. Das führte zu dem selbstverständlichen Anspruch der Abnehmer, diese Leistungen vom Werk erwarten zu dürfen. Entsprechend löste, auch darauf wird von Direktor Mann in der Quelle bereits hingewiesen, ein vermeintliches Abweichen von dieser normativen Handlungslogik nicht nur Proteste und Widersprüche aus, sondern musste vom Unternehmen auch kommunikativ gerechtfertigt werden. Das heißt, die bestehende Institution war Ausgangspunkt eines Kommunikationsprozesses. Erschwerend wirkte hier der Umstand, wie der Verbandsvorsitzende der OEW feststellte, dass es insbesondere die Preise für elektrische Energie waren, die dazu führten, dass gerade bei diesem Thema bei den Abnehmern „immer ein gewisses Gefühl der Unzufriedenheit“10 vorherrsche. Und dies umso mehr, als die Kosten der Stromerzeugung, des Transportes und der Verteilung sowie die sich daraus notwendig ergebende Preiszusammensetzung für den Laien in ihrem Zusammenspiel kaum verständlich waren. Sehr anschaulich stellt Gustav Mann im Jahre 1934 dazu fest: „Die Strompreise werden immer beanstandet werden, ganz besonders aber ist dies bei uns der Fall infolge der Teilung in Grundpreis und Arbeitspreis, denn der Arbeitspreis ist für den Bauer eben der Strompreis und der Grundpreis ist etwas, was er nicht versteht und was man ihm auch nicht verständlich machen kann, etwas, zu dem er wie bei der Steuer nach bestimmten Merkmalen verlangt wird und das deshalb nach seiner Ansicht nach weg muss.“11

Die Ausgangsquelle macht somit deutlich, dass die Einführung des Grundpreistarifs gerade auch deshalb auf Widerstände stieß, da Manns Ausführungen zufolge von den Abnehmern nicht nur befürchtet wurde, dass sie zu viel bezahlen müssten, sondern die Tarifgestaltung tatsächlich zu einer Erhöhung der Strompreise geführt habe. So wurden die theoretisch angenommenen Verbrauchszahlen, die überhaupt erst eine Preissenkung ermöglicht hätten, trotz Werbemaßnahmen nicht erreicht.12 Man spricht in diesem Zusammenhang von „zu vielen Härten“, die der Tarif mit sich gebracht habe. Dies führte gleichsam dazu, „dass bei der Geschäfts-

9 WABW, B 2010, Bü 13. Schreiben O. Bockshammer an G. Güntter vom 26.4.1912. 10 WABW, B 2010, Bü 191. F. von Stauffenberg, in: Protokoll der 52. Sitzung der Verwaltungskommission vom 11.4.1927. 11 WABW, B 2010, Bü 377. G. Mann, Exposé „Tarifänderung. Bemerkungen zu den Ausführungen von Dr. Werner vom 25.1.1934“ vom 8.2.1934. 12 Vgl. WABW, B 2010, Bü 376. G. Mann, Exposé, „Vergleich der Stromrechnungen in Freudenstadt und Künzelsau mit denjenigen in Biberach“ vom 11.11.1933.

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leitung eine starke Nervosität auftrat, wenn nur die Möglichkeit gegeben war, dass der Tarif zur Sprache kommen könnte“13. Der eingangs zitierte Quellenauszug zeigt weiter, dass die Unternehmensleitung auf Beschwerden der Abnehmer mit einem Nachgeben und einer Berücksichtigung von deren Wünschen reagierte. Dieses Entgegenkommen kann nicht zuletzt auf die öffentliche Organisationsform des Unternehmens zurückgeführt werden. Die Erwartungshaltungen gegenüber den OEW rührten folglich aus zweierlei Umständen her: erstens aus der permanent kommunikativ vorgetragenen Selbstbindung der leitenden Akteure der OEW, um günstige Strompreise besorgt sein zu wollen, und zweitens durch die vonseiten der Öffentlichkeit dem Unternehmen zugeschriebene Rolle. Daraus lässt sich als weitere zentrale Institution, die in diesem Zusammenhang als Erklärungsvariable für Unternehmenshandeln beachtet werden muss, der kommunale Charakter der OEW anführen. Auch an dieser Stelle soll wieder über ergänzende Quellenbelege der Kern dieser Institution konkretisiert werden. Als kommunales Unternehmen wurde den OEW eine spezifische Rolle zugeschrieben, die sie von einem Privatunternehmen unterschied. Im Gewerbeblatt von Württemberg wurde dazu schon im Jahre 1911 festgestellt, dass im Gegensatz zu einem kommunalen Versorger ein Privatunternehmer die Gründung eines Elektrizitätswerkes als Geschäft betreibe.14 Dies wurde für Stromabnehmer und Gemeinden vor allem mit negativen Konsequenzen gleichgesetzt.15 Auch in der zeitgenössischen Presse wurde dieser Standpunkt vertreten: So hieß es im Reutlinger Generalanzeiger von 1912, dass private Versorger in der Regel an einer Dividende interessiert seien.16 Dies sei bei den OEW aufgrund ihres kommunalen Charakters ausgeschlossen.17 Konsequenz dieser vorherrschenden Deutungsstruktur war, dass einem kommunalen Unternehmen – jenseits ökonomischer Rationalität – die Möglichkeit der Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Abnehmer zugesprochen und bestimmte Handlungslogiken als erwartbar definiert wurden. Der Quelle zufolge entsprach die Revidierung des Tarifs in seiner ursprünglichen Form und die Ausarbeitung von „Härtefallregelungen“ diesem Prinzip. Der kommunale Charakter bedingte somit eine Erwartungshaltung und zugleich einen Messpunkt von Unternehmenshandeln bei der Ausgestaltung der Preise. Als dritte handlungsleitende Institution für das Unternehmen kann die besonders widerständige Mentalität genannt werden, die die OEW der Bevölkerung des Versorgungsgebietes zuschrieben. Wie eingangs deutlich gemacht, wurde der Grundgebührentarif nicht in einem bestimmenden Akt, sondern in einem kommunikativen Aushandlungsprozess durchgesetzt. Das hierbei geübte Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Abnehmer in Form von „Härteklauseln“ war 13 14 15 16

Ebd. Vgl. „Ueberlandzentralen“, in: Gewerbeblatt Württemberg 63/34 (1911), S. 275. Vgl. ebd., S. 276. Vgl. WABW, B 2000, Vorsig. EVS Archivsig. 4001. Generalanzeiger Reutlingen Nr. 3 (Auszug) vom 4.12.1912. 17 Vgl. ebd.

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dabei zu einem Teil dem kommunalen Charakter des Unternehmens geschuldet. Zu einem anderen Teil kann dies aber auch auf die Tatsache zurückgeführt werden, dass der Bevölkerung des versorgten Gebietes charakterliche Eigenheiten zugesprochen wurden, die ein kommunikatives Ausbalancieren unterschiedlicher Erwartungen zwingend notwendig machten. Das heißt, aus Unternehmenssicht versprach nur ein Nachgeben die erfolgreiche Durchsetzung des neuen Strompreistarifs. Noch 1934 wurde von Unternehmensseite im Kontext der Umgestaltung der Tarife für Kleinabnehmer festgestellt: „Es mag sein, dass im Schwarzwald die Verhältnisse einfacher liegen, es scheint mir aber doch auch, dass die Durchführung des Tarifs […] [dort, D.W.] aus psychologischen Gründen leichter möglich war als bei uns, denn ich habe bei dem Vergleich der Freudenstädter Stromrechnungspraxis mit der unsrigen den Eindruck bekommen, dass der Oberländer, wenn es ums Zahlen geht, weniger leicht bereit ist, sich mit der Forderung, die an ihn gestellt wird, abzufinden als dies offenbar beim Schwarzwälder der Fall ist.“18

Einen weiteren Rückschluss auf diese vermeintlich charakterlichen Eigenschaften der versorgten Bevölkerung lässt die Feststellung der OEW zu, die in Bezug auf die Möglichkeit geäußert wurde, Stromabnehmern, die ihre Rechnungen nicht bezahlen konnten, kurzerhand den Strom abzustellen. Der Direktor des Versorgers prophezeite in diesem Zusammenhang: „Ein solch schroffes Verfahren wäre hier an sich nicht durchführbar. Die hiesige, wirtschaftlich im Allgemeinen besser situierte, selbstbewusste und eigenwillige Bevölkerung ließe sich ein solches Vorgehen nie gefallen.“19

Das bedeutet, die OEW schrieben den Abnehmern charakterliche Eigenschaften zu, die befürchten ließen, dass bei Entscheidungen, die ausdrücklich auf Ablehnung stießen, Widerstände und Proteste zu befürchten waren. Bestätigt wurde diese Annahme dadurch, wie die Quellenüberlieferung zeigt, dass es im Rahmen der Einführung des Tarifs tatsächlich zu solchen kam.20 Ein potenzielles Nachgeben in Form der „Härtefallregelungen“ kann deshalb auch auf das vorhandene Wissen um die damit drohenden Folgen zurückgeführt werden. Vor diesem Hintergrund kann nun die kommunikative Bewältigung institutioneller Handlungsanforderungen anschaulich dargelegt werden. Die Ausgangsquelle zeigt, dass der Faktor Kommunikation in diesem Kontext elementares Instrumentarium war, um innerhalb dieses Rahmens den Grundpreistarif ohne Gegenreaktion durchzusetzen. Die herausgearbeiteten Institutionen fanden dabei ihren Niederschlag in der an die Abnehmer gerichteten Kommunikation. Um einem Legitimitätsentzug vorzubeugen, musste die Unternehmenskommunikation bei der Vermittlung des Grundpreises sprachlich auf die sich aus der institutionellen Struktur ergebenden Anforderungen eingehen. Gustav Mann spricht in der Quelle 18 WABW, B 2010, Bü 377. Schreiben G. Mann an F. Frauer vom 26.6.1934. 19 WABW, B 2010, Bü 376. G. Mann Exposé, „Vergleich der Stromrechnungen in Freudenstadt und Künzelsau mit denjenigen in Biberach“ vom 11.11.1933. 20 Vgl. WABW, B 2010, Bü 371. Protokoll der Besprechung mit den Vertretern der Landwirtschaft in Tariffragen vom 24.7.1924. Vgl. weiter WABW, B 2010, Bü 143. Protokoll der 19. Sitzung der Verbandsversammlung vom 20.6.1927.

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von einem „Loblied auf den Tarif“, das immer wieder vorgetragen wurde. Weitere Quellen bestätigen diesen Eindruck. Die permanente Versicherung den Betroffenen gegenüber, dass trotz der Änderung der Berechnungsgrundlage der neue Tarif „[…] für den Abnehmer eine Verbilligung bringt“21, ist ein immer wiederkehrender Inhalt der Unternehmenskommunikation. In der Kundenzeitschrift hieß es: „Um den Alarmnachrichten, die in verschiedenen Zeitungen zum Ausdruck kamen, zu begegnen, sei nochmals erklärt, dass der neue Tarif in seiner Gesamtentwicklung, und zwar für alle Bevölkerungsschichten, eine Verbilligung mit sich bringt.“22

Weiter hieß es an die Betroffenen: „[…] wir hoffen, dass auch dieselbe [die Kundenzeitschrift, D. W.], in welcher der Tarif in seinem genauen Wortlaut sowie einige Beruhigungsbeispiele, die zum besseren Verständnis des Tarifs beitragen sollen, enthalten sind, ebenfalls zur Beruhigung der Stromabnehmer beitragen wird“23.

Die bestehenden Institutionen bedingten demnach nicht nur Kommunikation. An dieser Stelle zeigt sich gleichfalls deutlich der strategische Umgang der OEW mit den Institutionen selbst. Da sich der Anspruch nach günstigen Preisen im Laufe der Zeit immer mehr zu einer Selbstverständlichkeit entwickelt hatte und vom Unternehmen selbst permanent kommunikativ bestätigt wurde, war ein Abweichen davon nicht legitimiert und mit hohen Kosten verbunden. Um den Erwartungsrahmen zu erfüllen, versuchte die OEW deshalb, den Betroffenen gegenüber eine Bewertungs– und Deutungsgrundlage vorzugeben. Im Wissensbestand des Unternehmens war fest verankert, dass nur günstige Preise eine erfolgreiche Durchsetzung des Grundgebührentarifs ermöglichen. Auf sprachlicher Ebene wurde deshalb die Bindung an diese gültigen Handlungsanforderungen vermittelt. Anhand der Quellenüberlieferung ist der Unternehmenshistoriker in der Lage, das Argument der günstigen Preise als festen Topos der Kommunikation zu entschlüsseln. So kann das Ziel der OEW eindeutig kontextualisiert werden: die Generierung gesellschaftlicher Zustimmung zum neuen Tarif. Daneben dienten die von Gustav Mann angesprochenen „Härteklauseln“ als sprachliche Anreize, um „Folgebereitschaft“ zu induzieren. Öffentlich wurde vom Vorsitzenden des Unternehmens deshalb betont: „Nochmalige Versicherung, dass, soweit sich Härten ergeben Milderungen zugestanden werden.“24 Ein Jahr später unterstrich der Verbandsvorsitzende der OEW:

21 WABW, B 2010, Bü 371. A. Pirrung, in: Protokoll der Besprechung mit den Vertretern der Landwirtschaft in Tariffragen vom 24.7.1924. 22 WABW, B 2010, Bü 905. OEW–Kundenzeitschrift, Nr. 1 Januar/Februar 1925, S. 6. 23 Kreisarchiv Zollernalbkreis, Hech 2, Bd. 2, Nr. 1837. Schreiben A. Mayer an Amtsausschuss Hechingen vom 23.2.1925. 24 WABW, B 2010, Bü 139. F. von Stauffenberg, in: Protokoll der 15. Sitzung der Verbandsversammlung vom 20.12.1924.

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„Er gibt die Zusicherung, dass solche Fälle [in denen durch den neuen Tarif Härten entstehen, D. W.] wenn sie zur Kenntnis der Geschäftsleitung gebracht werden, eingehend geprüft werden und dass nach Möglichkeit Abhilfe geschaffen werde.“25

Diese damit kommunizierte Selbstverpflichtung signalisierte eine Bindung an bestehende Wertestrukturen. Konkret verbalisiert wurde dies von Unternehmensseite in der Kundenzeitschrift. Dort wurde mit Bezug auf die Unternehmensform versichert, dass „der gemeinnützige Charakter […] durch sinngemäße Anwendung des Tarifs […] in aller Form zum Ausdruck kommen“26 solle. Das Zugeständnis der Härtefallregelungen kann aber nicht nur auf den kommunalen und gemeinnützigen Charakter des Unternehmens zurückgeführt werden, sondern war gleichzeitig dem Wissen auf Unternehmensseite geschuldet, dass eine Tarifgestaltung gegen die selbstbewusste Bevölkerung des Versorgungsgebietes nicht verwirklicht werden konnte. Gustav Mann spricht in diesem Zusammenhang davon, „dass die Richtlinien in immer steigendem Umfang angewandt wurden und angewandt werden mussten“27. Somit hätten die Unternehmensinteressen ohne dieses Entgegenkommen nicht realisiert werden können. Mithilfe von kommunikativen Akten konnten die OEW in Aushandlungsprozessen mit den Betroffenen schließlich den legitimierten Handlungsspielraum insoweit abstecken, dass der Grundpreistarif mit einigen Korrekturen 1927 eingeführt werden konnte. Konstatiert werden muss dabei, dass sich bei der Durchsetzung des Tarifs das Unternehmen an den institutionellen Bedingungen orientierte, die über die Angemessenheit der Mittel bzw. der Argumente bei der Interessenrealisierung Orientierungspunkte boten. Fassbar in der Quellenüberlieferung wurde dies beim Blick auf die Kommunikation. Durch die Einbettung der OEW als kommunales Unternehmen in gesellschaftliche Zusammenhänge waren die Erklärung und Rechtfertigung von Entscheidungen und Vorhaben für die erfolgreiche Veränderung der bis dahin praktizierten Strompreisberechnung evident. Diesem Zweck dienten verschiedene Kommunikationsmaßnahmen, mit denen gemeinsame Verständnisgrundlagen erarbeitet wurden, um so Widersprüche aufzulösen und Vorbehalte zu zerstreuen. Durch die Integration normativer Anforderungen – konkretisiert im bestehenden Erwartungskanon, der eine rollenentsprechende Bewertung der Ansprüche nach günstigen Preisen und eine Berücksichtigung von sozialen Härten verlangte – in eigenes Handeln wurde ein Konsens erreicht. Oder anders formuliert: Die vorgegebenen institutionellen Logiken wurden vom Unternehmen in die eigene Argumentationsführung integriert und strategisch genutzt. Offensichtlich ist dies in der permanenten Kommunikation darüber, dass auch mit dem neuen Tarif günstige Preise garantiert seien. Ebenso wurde die mit der kommunalen Rolle verbundene Erwartung mit dem Hinweis auf „Härtefallregelungen“ und Ansprechbarkeit befriedigt. Der massive zeitliche und finanzielle Aufwand, 25 WABW, B 2010, Bü 140. F. von Stauffenberg, in: Protokoll der 16. Sitzung der Verbandsversammlung vom 28.9.1925. 26 WABW, B 2010, Bü 905. OEW–Kundenzeitschrift, Nr. 1 Januar/Februar 1925, S. 2. 27 WABW, B 2010, Bü 376. G. Mann, Exposé „Vergleich der Stromrechnungen in Freudenstadt und Künzelsau mit denjenigen in Biberach“ vom 11.11.1933.

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der mit der kommunikativen Flankierung der Tarifumgestaltung verbunden war, fußte nicht zuletzt auf dem Wissen, dass gegen die massive Kritik und Proteste eine erfolgreiche Entscheidungsdurchsetzung wohl nicht möglich sei. Im vorliegenden Fallbeispiel wird sehr deutlich, dass hier letztendlich nur ein erwartungskonformes Verhalten die erfolgreiche Realisierung von Unternehmenszielen versprach. Mit anderen Worten: Die Bindung der Kommunikation an die institutionellen Anforderungen der gesellschaftlichen Umwelt des Unternehmens bedeutete zugleich die Umsetzung einer Strategie, die den effizienten Umgang mit den identifizierten Institutionen verlangt. Bewertung Deutlich wurde, dass Unternehmenshandeln bzw. Unternehmenskommunikation bei der Einführung des Grundpreistarifs von einer institutionellen Struktur beeinflusst war. Der Blick auf die verbalen und handlungspraktischen Akte dechiffriert dabei das kommunikative Ziel. Anschaulich wurde dabei, wie das Unternehmen mit den sich aus der institutionellen Struktur ergebenden Handlungsanforderungen umging. Es zeigte sich, dass der Faktor Kommunikation als zentrales Instrument diente, um Handlungsspielräume zu gestalten und zu einer Verständigung zu kommen. Folglich erweiterten die OEW über kommunikative Akte den legitimierten Handlungsrahmen so, dass eine erfolgreiche Durchsetzung des Grundpreistarifs möglich wurde. Grundlage der Analyse war ein konzeptioneller Zugang zum Thema, der Institutionen und Kommunikation verband. Dazu wurden aus der Institutionentheorie drei Bausteine entnommen, die das in der Ausgangsquelle beschriebene Handeln der OEW in seinem zeitlichen und räumlichen Kontext erklär- und nachvollziehbar machten. Unabhängig vom Untersuchungsgegenstand eröffnet ein solches Herangehen an historische Quellen drei Erkenntnisperspektiven: Erstens können so bestehende gesellschaftliche Erwartungsstrukturen, die an ein Unternehmen gerichtet wurden, aufgedeckt und vor allem deren Einfluss und Relevanz auf bzw. für Unternehmenshandeln überprüft werden. Dies gelingt umso besser, je expliziter diese verbalisiert oder als Bezugspunkte definiert wurden. Das heißt, die Betrachtung der Kommunikation und ihre Analyse ermöglichen gleichsam eine Aufhellung der Bedingungen, unter denen diese stattfindet, bzw. der Faktoren, die sie beeinflusst. Am Fallbeispiel konnte gezeigt werden, dass das Selbstverständnis der Bereitstellung günstiger Preise, der kommunale Charakter des Unternehmens und die vermeintlich spezifische widerständige Mentalität der oberschwäbischen Bevölkerung Rückwirkung auf die Unternehmenskommunikation hatten. Zweitens lässt sich nachvollziehen, wie unternehmerische Entscheidungsprozesse vom institutionellen Rahmen beeinflusst werden. Der kommunikative Umgang mit diesen Regeln kann somit einer Analyse zugänglich gemacht werden. Das Fallbeispiel zeigt, dass die sich aus der institutionellen Struktur ergebenden Anforderungen feste Elemente der Argumentationsstruktur der OEW waren. Be-

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legen ließ sich damit zugleich, dass Institutionen auch strategisch genutzt werden können und nicht nur beeinflussend wirken. Ersichtlich wurde dies insbesondere durch die Aufnahme der institutionellen Struktur in die Argumentation des Unternehmens, um sie im Sinne der eigenen Interessenlage zu deuten bzw. zu interpretieren. Dies führt zum Dritten dazu, dass Strategien und Handlungsmaßstäbe bei der Durchsetzung von Interessen nachvollziehbar werden. Unternehmenshandeln wird so in seinem zeitlichen und räumlichen Kontext begreiflich und erklärbar. Mit Bezug auf das Untersuchungsbeispiel wird verständlich, warum die Durchsetzung des Grundpreistarifs nicht in einem bestimmenden Akt, sondern nur durch ein Entgegenkommen und kommunikatives Aushandeln erreicht werden konnte. Institutionenkonformes Verhalten erschien demnach als praktikabelste Möglichkeit, um den Tarif im unternehmerischen Sinne umzugestalten. Mit der Betrachtung der Kommunikation im Rahmen institutionalistischer Theorie wurde deutlich, dass die Leistung von Institutionen in ihrer Funktion als Orientierungspunkt und komplexitätsreduzierendes Moment besteht. Zugleich bilden Institutionen grundsätzlich den Ausgangspunkt von Kommunikation überhaupt. Sie können jedoch genauso über Kommunikation umgedeutet, bestätigt oder generell so interpretiert werden, dass sie als Argumente genutzt werden können, um eigene Ziele zu realisieren.28 Im Fallbeispiel wurde vom Unternehmen eine Argumentation entwickelt, die einer möglichst reibungslosen Durchsetzung des Grundgebührentarifs den Weg ebnen sollte. Eine Verbindung von Institutionenökonomik und Kommunikation kann damit zu einer besseren Erklärbarkeit und zu einem klareren Verständnis von Unternehmenshandeln in seinem zeitlichen und räumlichen Kontext beitragen. Zwingend erforderlich war es dabei, die Aussagen der eingangs angeführten Quelle mit weiteren Quellenbelegen zu kontextualisieren. Damit ist eine zentrale Voraussetzung für ein solches Vorgehen benannt: Nur das Vorhandensein einer ausreichenden Quellenbasis ermöglicht es, bei der Analyse der kommunikativen Akte inhaltliche Bezugspunkte herzustellen, um so Rückschlüsse auf beeinflussende Institutionen und den strategischen Umgang mit diesen zu untersuchen. Literatur Lammers, John C.: How Institutions Communicate: Institutional Messages, Institutional Logics, and Organizational Communication, in: Management Communication Quarterly 25/1 (2011), S. 154–182. Lawrence, Thomas/Suddaby, Roy/Leca, Bernhard: Institutional Work: Refocusing Institutional Studies of Organization, in: Journal of Management Inquiry 20/1 (2011), S. 52–58.

28 Vgl. Thomas Lawrence, Roy Suddaby, Bernard Leca: Institutional Work: Refocusing Institutional Studies of Organization, in: Journal of Management Inquiry 20/1 (2011), S. 52–58, hier S. 52.

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Martens, Wil: Handlung und Kommunikation als Grundbegriffe der Soziologie, in: Gert Albrecht, Rainer Greshoff, Rainer Schützeichel (Hg.): Dimensionen und Konzeptionen von Sozialität, Wiesbaden 2010, S. 173–206. Stier, Bernhard: Württembergs energiepolitischer Sonderweg. Kommunale Stromselbsthilfe und staatliche Elektrizitätspolitik 1900–1950, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 54 (1995), S. 227–279. Suddaby, Roy: How Communication Institutionalizes: A Response to Lammers, in: Management Communication Quarterly 25/1 (2011), S. 183–190.

4.2.2 NETZWERKE: ÜBERREGIONAL AGIERENDE UNTERNEHMER IN FRÜHINDUSTRIELLER ZEIT Rabea Limbach Ein Kerngedanke jeder Institutionentheorie ist, dass Institutionen den Handlungsspielraum ökonomischer Akteure beeinflussen. Im Folgenden soll daran anschließend der Frage nachgegangen werden: Was leisten Institutionen für den einzelnen Akteur? Oder anders formuliert: Wie beeinflussen sie sein Handeln und seinen ökonomischen Erfolg oder Misserfolg? Der Beitrag konzentriert sich dabei vorrangig auf die innerhalb des sozialen Umfeldes des Akteurs auffindbaren informellen Institutionen. Um deren Wirkung zu erforschen, ist es hilfreich, Institutionentheorie durch ein netzwerktheoretisches Konzept zu ergänzen. Das Konzept des Netzwerkes hilft, den sozialen Kontext des Akteurs abzubilden, in dem sich Institutionen entwickeln, manifestieren und in dem sie wirken. Um den Nutzen der theoretischen Erweiterung für die historische Forschung zu erproben, wird kaufmännisches Schriftgut aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts analysiert. Als Quelle dient ein Schreiben des Kaufmannes und Manufakturbesitzers Philipp Markus Lichtenberger (1783–1842) aus Speyer an einen Geschäftspartner in Amsterdam. Ausgehend von diesem Schreiben werden die institutionelle, soziale Einbettung des Akteurs und ihr Einfluss auf sein Handeln bzw. seine Kommunikation untersucht. Der Erkenntnisgewinn dieses Ansatzes liegt darin, dass gerade informelle Institutionen in den Blick genommen werden können. Sie gelten innerhalb der Geschichtswissenschaft als schwer fassbar, da sie sich nicht explizit in schriftlichen Fixierungen niederschlugen. Der Mehrwert eines Denkens in Netzwerken liegt vor allem darin, dass kein ökonomischer Austauschs- und Kommunikationsprozess isoliert gedacht wird. Der Akteur steht in Wechselwirkung mit dem informellen Institutionengefüge eines sich aus einer Vielzahl von Sozialbeziehungen konstituierenden Netzwerkes.1 Konzeptspezifikation Die moderne Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte strebt bei der Beschäftigung mit einzelnen ökonomischen Akteuren nach einem differenzierten Bild des historischen Akteurs. Hierzu genügt es nicht, den Akteur isoliert, bezogen auf 1

Zum Verhältnis von Akteur und Netzwerk vgl. Betina Hollstein: Strukturen, Akteure, Wechselwirkungen. Georg Simmels Beiträge zur Netzwerkforschung, in: Christian Stegbauer (Hg.): Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften, 2. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 91–103.

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seinen Lebenslauf und sein ökonomisches Engagement, zu betrachten und darzustellen. Vielmehr stehen Unternehmer und Unternehmerinnen in Wechselwirkung mit ihrer sozialen Umwelt. Ihr Handeln und ihre Kommunikation kann nur in diesem Kontext angemessen analysiert werden. Dieser Gedanke findet auch in modernen Akteurskonzepten, wie dem akteurszentrierten Institutionalismus seinen Niederschlag: Der Akteur wird nicht als unabhängiges, nur egoistisch nach ökonomischem Nutzen strebendes Individuum definiert. Vielmehr steht er in einem gesellschaftlichen Kontext, der seine Präferenzen und sein Handeln beeinflusst, seine Handlungen aber nicht determiniert. Auf theoretischer Ebene lässt sich dieser soziale Kontext als ein informelles Institutionengefüge beschreiben. Der folgende Beitrag bildet einen Versuch, diesen Institutionen auf die Spur zu kommen. Sie bilden Spielregeln, die durch das soziale Umfeld oder auch durch die umgebende Kultur des Akteurs tradiert wurden. Sie konnten jedoch ebenso wirksam sein wie beispielsweise von staatlicher Seite erlassene, wirtschaftspolitische Reglementierungen. Das Erlernen dieser informellen Regelwerke kann als ein Teil des Sozialisationsprozesses eines Individuums gedacht werden. Dass informelle Regeln nicht unmittelbar aufgeschrieben wurden, so eine grundlegende Annahme der folgenden Quellenanalyse, bedeutet nicht, dass sie für den Historiker nicht fassbar sind. Vielmehr werden informelle Institutionen in der Kommunikation und im Handeln von Akteuren sichtbar. Jedoch werden sie selten explizit in den Quellen erläutert. Erklärt und zur Diskussion gestellt werden sie oft lediglich dann, wenn es zu einem Bruch der Regeln durch einen Akteur und möglicherweise zu einer sozialen Sanktionierung kommt. Inwiefern beeinflusste demnach die soziale Umwelt der Kaufleute, so die zentrale Fragestellung dieses Beitrages, ihr alltägliches, wirtschaftliches Handeln? Beziehungsweise: Was lässt sich an beeinflussenden Faktoren in ihrer überlieferten Korrespondenz finden? Dieser Frage wird im Folgenden mithilfe eines spezifischen, institutionentheoretisch und netzwerktheoretisch geprägten Ansatzes nachgegangen. Das soziale Netzwerk hilft, die soziale Umwelt der Akteure zu rekonstruieren und den darin wirkenden, informellen Institutionengefügen auf die Spur zu kommen. Operationalisierung Im Folgenden wird ausgehend von einem Geschäftsbrief des Kaufmannes Philipp Markus Lichtenberger, der aus dem umfangreichen überlieferten Schriftgut des Handelshauses Lichtenberger & Co. aus Speyer stammt, das unternehmerische Netzwerk des Handelshauses herausgearbeitet. Dabei werden jene Prozesse innerhalb des Netzwerkes analysiert, die die Handlungsspielräume und Handlungsformen ebenso wie die Kommunikationsformen des Unternehmers nachhaltig beeinflussten. Das Netzwerk bildete dabei für die Akteure ein immanent wichtiges Institutionengefüge ökonomischen Agierens.

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Bei der Suche nach einem geeigneten Forschungsgegenstand für eine Netzwerkanalyse ist es zunächst wichtig, dass eine umfangreiche schriftliche Überlieferung zu einem Akteur oder einer Akteursgruppe vorhanden ist. Im Falle des Unternehmens Lichtenberger & Co. besteht diese vorrangig aus Korrespondenzen des Unternehmens, auf deren Basis sich das Agieren einzelner ökonomischer Akteure (v.a. der Inhaber und Leiter des Unternehmens) in Hinblick auf ihre geografisch weit gespannten und vielfältigen ökonomischen und sozialen Beziehungen herausarbeiten lässt. Der Verfasser des hier als Quelle gewählten Schreibens, der Kaufmann und Manufakturinhaber Philipp Markus Lichtenberger (1783–1842), entstammte einer pfälzischen bürgerlichen Familie. Lichtenberger wuchs als Kind eines Beamten in der kurpfälzischen Residenzstadt Mannheim auf und siedelte später nach Speyer über. Er und seine zwei Brüder gingen einer Unternehmertätigkeit im Handel und der Weiterverarbeitung von landwirtschaftlichen Rohstoffen nach. Zum Entstehungszeitpunkt des hier untersuchten Schreibens war Lichtenberger alleiniger Inhaber und Leiter des Handelshauses Lichtenberger & Co. in Speyer. Das Handelshaus war zu jener Zeit ein hierarchisch strukturiertes Unternehmen, in dem Lichtenberger alle zentralen Entscheidungsbefugnisse innehatte, was sich vor allem darin äußert, dass bei Korrespondenzen nach außen stets in seinem Namen gezeichnet wurde. Zu seinem Unternehmen gehörte um 1815 eine Tabakmanufaktur, die ein großes Sortiment von Rauch- und Schnupftabaken aus pfälzischen, holländischen und amerikanischen Tabaken produzierte und die um 1820 als „königlich bayerische privilegierte Tabakfabrik“2 firmieren durfte. Die Produktion der Tabake war noch reine, arbeitsteilig organisierte Handarbeit. Die Tabakmanufaktur war mit rund 40 Arbeitern in jener Zeit wahrscheinlich die größte der Pfalz. Das Handelshaus Lichtenbergers handelte vorrangig mit Tabaken und pfälzischen Weinen, aber auch mit anderen regionalen Erzeugnissen. Darüber hinaus betätigte es sich als Speditionsunternehmen. Philipp Markus Lichtenberger gilt zudem als Mitbegründer des Handelsplatzes „Rheinschanze“ auf dem linken Rheinufer gegenüber der Stadt Mannheim. Es handelte sich dabei um eine Handelsfiliale mit einer Hafenanlage, die hauptsächlich von den Speyrer Handelshäusern Lichtenberger und Scharpff aufgebaut wurde und aus der sich später die heutige Stadt Ludwigshafen am Rhein entwickelte.3 Der Kaufmann und Manufakturbesitzer Lichtenberger bildet für die Geschichtswissenschaft ein interessantes Forschungsobjekt, da er für die Übergangszeit von vorindustrieller zu industrieller Wirtschaft in der Region der Pfalz geradezu ein typischer Unternehmer war. Er handelte vorrangig mit spezifischen regi2

3

Vgl. Heiner Haan: Die Anfänge der Industrialisierung in der Pfalz, in: Dieter Albrecht, Andreas Kraus, Kurt Reindel (Hg.): Festschrift für Max Spindler zum 75. Geburtstag, München 1969, S. 633–656, S. 648. Vgl. zu Philipp Markus Lichtenberger den Beitrag von Stefan Mörz, Klaus-Jürgen Becker (Hg.): Geschichte der Stadt Ludwighafen am Rhein, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Ludwigshafen a.R. 2003, S. 252; sowie Rabea Limbach: Die frühindustriellen Unternehmer Scharpff und Lichtenberger in der Rheinschanze, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 109 (2001), S. 87–105.

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onalen landwirtschaftlichen Rohstoffen (v.a. Wein, Tabak, Zuckerrüben), verarbeitete diese aber auch weiter und war ebenso im Speditionswesen über den Rhein engagiert. Mit dem Aufkommen industrieller Innovationen wie Dampfmaschinen, Dampfschifffahrt und Eisenbahn versuchte er diese in seine ökonomischen Aktivitäten zu integrieren. Unter anderem war er aktiv beim Aufbau von Aktiengesellschaften zum Bau und Betrieb der ersten pfälzischen Eisenbahnen beteiligt. Er bemühte sich im Untersuchungszeitraum stetig um eine Anpassung und Weiterentwicklung seines Unternehmens im Kontext der sich wandelnden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Zeitverlauf. Es handelte sich bei dem Handelshaus Lichtenberger & Co. um ein Unternehmen mittlerer Größe, das seinem Inhaber zwar zu einem gewissen Wohlstand verhalf, das aber auf Dauer keine besonders herausragende Stellung innerhalb der regionalen und überregionalen Wirtschaft einnehmen konnte. Das Unternehmen bildet auch aus diesem Grund ein lohnenswertes Forschungsprojekt, da in der Industrialisierungsforschung bisher vor allem große, auf lange Sicht erfolgreiche Unternehmen (z.B. Krupp oder die BASF) erforscht wurden. Kleinere, nicht mehr existente Unternehmen des 19. Jahrhunderts stehen weniger im Fokus – teilweise aus Gründen der schlechten Überlieferung. Die Erforschung kleinerer Unternehmer und Unternehmerinnen hilft jedoch, die Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhundert nicht allein als Fortschritts- und Erfolgsgeschichte zu schreiben, sondern die vielfältigen Formen des Wirtschaftens und den Erfolg ebenso wie den Misserfolg der verschiedenen Akteure und Unternehmungen in den Blick zu nehmen. Wendet man sich nun den in der folgenden Analyse als Quelle genutzten Korrespondenzbüchern des Unternehmens Lichtenberger zu, so gilt es zunächst, dem sozialen Netzwerk des Unternehmens auf die Spur zu kommen. Innerhalb des schriftlichen Kommunikationsraumes, der sich in den Briefkopierbüchern widerspiegelt, zeichnen sich – so eine theoretische Vorannahme – die in das Netzwerk integrierten Akteure durch eine langfristigere und intensivere soziale Bindung und Interaktion aus. Daher lässt sich anhand der Bücher zunächst quantitativ herausarbeiten, mit welchen Akteuren intensiv korrespondiert wurde. Bei der daran anknüpfenden Quellensichtung wird dann besonderes Augenmerk darauf gelegt, was innerhalb des Netzwerkes kommuniziert wurde und welche Informationen und ökonomischen Leistungen übermittelt bzw. erbracht wurden. Dies ermöglicht es, die Intensität und die Bedeutung der Netzwerkkontakte für Lichtenberger auch qualitativ zu bewerten. Auf diese Weise wurde auch der folgende Brief aus der umfangreichen Korrespondenz ausgewählt. Seine Analyse liefert erste Einblicke in den Aufbau und die Kommunikation innerhalb des Netzwerkes. Dabei wird besonderes Augenmerk darauf gelegt, in welcher Form Dienstleistungen und ökonomischer Austausch zwischen den Akteuren im Kontext des Netzwerkes erbracht bzw. vollzogen wurden. Der Schriftwechsel bietet zudem die Möglichkeit zu analysieren, inwiefern und in welcher Weise über die jeweiligen Handlungsformen und die ökonomische Beziehung zwischen den Akteuren kommuniziert wurde. Darauf aufbauend wird das Fallbeispiel in den Kontext des umfangreichen Geschäftsschriftgutes und des darin inhärenten Netzwerkes eingeordnet. So steht der Brief

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mit seinen Kommunikations- und kommunizierten Aktionsformen nicht für sich allein, sondern ist im Kontext eines ständig stattfindenden Kommunikationsprozesses innerhalb des Netzwerkes zu sehen, in dem eine Vielzahl von Personen in unterschiedlichem Maße in Kontakt standen und in dem sich Handlungsmuster, -gewohnheiten und soziale Bindungen entwickelten. Bei der Quellenanalyse wird somit von einem ökonomischen Akteur und seinen Unternehmungen ausgegangen, um das soziale Netzwerk von einem Punkt aus zu rekonstruieren. Die Hinzuziehung vielfältiger Korrespondenzen ermöglicht es, weitere Akteure in den Blick zu nehmen und ihre Beziehungen zu Philipp Markus Lichtenberger ebenso wie ihre Beziehungen und ihre Kommunikation untereinander – sofern dies die Quellen zulassen – zu analysieren. Diese akteurszentrierte Analyse des Netzwerkes steht im Vordergrund, da die Zielsetzung der Untersuchung auf ein besseres Verständnis des Agierens und Kommunizierens von Lichtenberger abzielt. Die Konzentration auf einen Akteur kann zudem als Ankerpunkt dienen, um sich nicht in den Weiten des Netzwerkes zu verlaufen. Fallbeispiel 11. July 1822 Amsterdam H[einri]ch Petif & Comp. (Particulare) Die Umstände des unter der Firma H[etzel] & Sohn dahier handlichen Freundes Hetzel, sind uns von einer so wenig bedenklichen Seite bekannt, daß uns Ihre Anfrage nicht wenig befremden muß. Der selbe besitzt dahier 70 bis 80 Morgen und ein Hauß von fl. 2900,Werth, als eigenthümliches Vermögen; er hat eine nicht unbeträchtlichen Vorrath an Pfälzer Tabak und Wein und betreibt sein Detailgeschäft in Spezerey Waaren mit aller Solidität. So viel wir wenigstens aus den Geschäften die wir mit ihm machen, da er außer fabrizirten Taback uns auch öfters Wechsel abkauft, beurtheilen können. Diese vortheilhafte Meinung hat sich auch dadurch bey uns bestätigt, daß der Herr Lichtenberger welcher ein guter Freund von d[em] H[err] H[etzel] ist, von dem Zustand der Sache Einsicht genommen und sich überzeugt hat, daß es nichts anderes als eine bösliche Verläumdung seyn kann was man ihm übles nachsagen kann. Soweit uns weiter bekannt ist, macht d[er] H[err] H[etzel] mit sonst niemand in Holland Geschäfte als mit Ihnen und wir werden durch die mindeste Aeußerung von Mißtrauen und durch die ihm hierdurch zuzufügende Kränkung haben befürchten müßen, uns sowohl wie auch Ihnen einen sehr rechtlichen und guten Kundsmann zu entziehen. Wir haben daher durchaus nichts von Ihnen gegen d[en] H[errn] H[etzel] erwähnt und wir senden Ihnen daher einliegend Ihren Rechnungs-Auszug sammt Vollmacht mit so viel weniger Bedenken zurük, als wir überzeugt sind, daß d[er] H[err] H[etzel] bey Einsendung des Ct. Ct. [Conto-Corrent, L.R.] durch Sie selbst, Ihnen eine für ihn so wenig bedeutenden Saldo directe remittiren wird, was vielleicht schon eher geschehen seyn dürfte, wenn der holländische Cours uns gegenwärtig nicht so nachtheilig wäre. Wir bitten Sie übrigens sich diese Auskunft ohne Obligo für uns zu bemerken. Ihr Schuldner J. V[ollmar] von G[ermersheim] ist uns gleichfalls als ein stark begütherter Mann, aber als ein säumseliger Zahler bekannt. Quelle: Ludwigshafen a.R., Stadtarchiv: WS1, Nr. 8, Fol. 148f.

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Dieses Schreiben sandte Lichtenberger & Co. im Sommer 1822 an ihren Geschäftspartner Heinrich Petif in Amsterdam. Dieser war für Lichtenberger vorrangig als Einkäufer von amerikanischen oder holländischen Tabaken und als Spediteur von Waren aus Holland, Frankreich oder Amerika rheinabwärts in Richtung Pfalz tätig. Heinrich Petif war im Vorfeld des überlieferten Schriftverkehrs (ab 1815) aus der Pfalz abgewandert4, um in Amsterdam, einem bedeutenden Tabakbzw. Kolonialwarenmarkt, sein eigenes Handelsunternehmen zu betreiben. Sein Bruder Carl hatte sich als Kaufmann in Mainz angesiedelt, was auf eine Herkunft der Brüder aus einer bürgerlichen, kaufmännisch geprägten Familie hindeutet.5 Doch die Kommunikation und die darauf basierende Interaktion der zwei Handelshäuser Lichtenberger und Petif erschöpfte sich nicht nur im Austausch von Waren oder Dienstleistungen gegen Geld, wie dieses Schreiben eindrücklich illustriert. Das hier abgedruckte Schreiben entstammt den heute im Stadtarchiv Ludwigshafen am Rhein überlieferten 21 „Briefcopierbüchern“6, in denen das Handelshaus Lichtenberger & Co. seine Korrespondenzen zwischen 1815 und 1840 in Form von nahezu vollständigen Briefabschriften dokumentierte. Bei diesen handschriftlichen Korrespondenzen handelt es sich um den alltäglichen Briefverkehr des Unternehmens, der vor allem der Verwaltung und Abwicklung von Geschäften jeglicher Art diente. Die Bücher sind größtenteils über alphabetische Namensregister mit zusätzlicher Angabe der Wohnorte der Adressaten erschließbar, was eine systematische Auswertung des umfangreichen Schriftgutes erleichtert – beispielsweise in Hinblick auf einzelne Geschäftsbeziehungen über mehrere Jahre hinweg oder den ökonomischen Austausch mit einzelnen Ortschaften. Das hier abgedruckte Schreiben entstammt dem Briefkopierbuch Nummer acht7, in dem das Handelshaus seine Alltagskorrespondenz zwischen dem 18.05.1822 und dem 14.04.1823 dokumentierte. Das Buch umfasst 955 Seiten Korrespondenz, in denen 2 068 Briefe an 615 unterschiedliche Adressaten überliefert sind. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass an 73 Prozent der Adressaten in jenem Zeitraum nur ein bis drei Briefe gesandt wurden. Eine quantitative Auswertung des Registers liefert daher erste Hinweise, welche Kontakte das Unternehmen Lichtenberger & Co. vorrangig pflegte. Die Register geben aufgrund der Ortsangaben und den teilweise vorhandenen Berufsbezeichnungen auch noch weitere Hinweise auf die komplexe Vernetzung des Unternehmens Lichtenberger & Co. Das Handelshaus unterhielt im Umfeld seiner ökonomischen Tätigkeiten eine Vielzahl von schriftlichen Kontakten in verschiedenen Gesellschaftsschichten (u.a. zu Winzern und Tabakmaklern, zu Fuhrleuten und Schiffern, Großkaufleuten, Detailhändlern und Manufakturinhabern bis hin zu hohen Beamten oder 4 5 6 7

Dies deutet sich im Briefverkehr an, da Lichtenberger Petif hilft, seine pfälzischen Immobilien zu verkaufen, vgl. Ludwigshafen a.R., Stadtarchiv: WS1, Nr. 1, Fol. 307 und 368. Mit Carl Petif hatte Lichtenberger ebenfalls rudimentären Briefkontakt, vgl. Ludwigshafen a.R., Stadtarchiv: WS1, Nr. 1, Fol. 516. Ludwigshafen a.R., Stadtarchiv: WS1, Nr. 1–21. Ludwigshafen a.R., Stadtarchiv: WS1, Nr. 8.

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Adligen) mit unterschiedlicher regionaler Ausdehnung und Intensität. So erstreckte sich das ökonomische Netzwerk über zahlreiche Kontakte in der Pfalz in viele Staaten des Deutschen Bundes und bis in die Niederlande, die Schweiz und nach Frankreich. Zu Heinrich Petif in Amsterdam sind in dem hier untersuchten Korrespondenzbuch sieben Briefe überliefert. Dies stellt statistisch gesehen keinen besonders intensiven Kontakt dar. Er wurde jedoch vor dem Hintergrund ausgewählt, dass sich Heinrich Petif in den ersten zehn Korrespondenzbüchern des Unternehmens (1815–1827) konstant als Adressat vielfältiger Briefe auffinden lässt. Dies deutet auf eine erfolgreiche Vernetzung hin. Misst man das Netzwerk Lichtenbergers geografisch aus, so fällt zudem auf, dass Heinrich Petif einer der Adressaten war, die am weitesten von der Pfalz entfernt lagen. Dies lässt sich im spezifischen Fall damit erklären, dass Amsterdam, der Unternehmensstandort Petifs, einen für das Unternehmen Lichtenberger wichtigen Umschlagplatz für den Einkauf von Rohstoffen (v.a. amerikanischer Tabak) bildete. Eine Beziehung zu den Kaufleuten vor Ort konnte somit eine wichtige Funktion für sein Unternehmen erfüllen. Eine weitergehende Analyse der Lichtenberger’schen Geschäftskorrespondenzen konnte zudem aufzeigen, dass die Qualität des schriftlichen Austausches prozentual mit dem Grade der Vertrautheit der Geschäftspartner und ihrer geografischen Entfernung zunahm. Dies mag daran liegen, dass über weite Entfernungen mehr spezifische Informationen über die jeweilige Region der Korrespondierenden ausgetauscht werden mussten. Dies war der Fall, da die Geschäftspartner aufgrund der geografischen Entfernung weniger Kenntnisse über die Lage vor Ort hatten. Ebenso fiel bei weiter Entfernung die Möglichkeit zu (regelmäßigem) mündlichen Austausch weg, sodass der Briefverkehr zum vorrangigen Kommunikationsmedium wurde. Die Schreiben innerhalb der Briefkopierbücher sind unterschiedlich umfangreich. Es handelt sich meist um kurzen Schriftverkehr in Form von Abrechnungen von Warenver- oder -einkäufen. Darüber hinaus werden auch umfangreiche Informationen über Marktbedingungen weitergegeben, und zwischen einzelnen Akteuren werden vielfältige Dienstleistungen erbracht. Der Historiker oder die Historikerin muss sich jedoch darüber bewusst sein, dass unternehmerisches Schriftgut nur einen begrenzten Einblick in die Aktivitäten und die Kommunikation einzelner Unternehmer oder Unternehmerinnen geben kann. So gab es neben der Möglichkeit des mehr oder weniger offiziellen Schriftverkehrs die Option des mündlichen Austausches oder den privaten Schriftverkehr bei vertraulichen Angelegenheiten. Im Falle des Unternehmers Lichtenberger ist privates Schriftgut nur in sehr geringem Maße überliefert, sodass zur Erforschung des Netzwerkes fast nur das Geschäftsschriftgut herangezogen werden kann. Dieses sollte jedoch, was seinen Ertrag angeht, nicht unterschätzt werden, da auch diese Form der Kommunikation dazu genutzt wurde, sich über vielfältige Themen auszutauschen, und

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somit einen differenzierten Einblick in die Prozesse innerhalb des Netzwerkes gewährt.8 Analysiert man den oben abgedruckten Geschäftsbrief in Hinblick auf das Netzwerk des Handelshauses Lichtenberger & Co. sowie auf die hierin existierenden informellen Institutionen, so leistet der Brief Erkenntnisgewinn in verschiedenen Bereichen: Zunächst werden in dem Schreiben einzelne Kontakte persönlich genannt, zu denen Lichtenberger Geschäftsbeziehungen unterhielt und mit denen er somit in unterschiedlichen Graden vernetzt war. Darüber hinaus werden herrschende Geschäftspraktiken im Netzwerk geschildert, wie das Führen von gegenseitigen Konten und die regionale Geldeintreibung als Dienstleistungen oder die Übermittlung von Informationen über Dritte. Schließlich verrät der Brief uns aber auch etwas über die im Netzwerk vorherrschenden Erwartungen an das Handeln und die Kommunikation der einzelnen Akteure und somit über die innerhalb des Netzwerkes wirkenden informellen Institutionen. Die im Schreiben genannten Akteure sind zunächst die über Jahre hinweg ökonomisch interagierenden und bereits beschriebenen Handelshäuser Lichtenberger & Co. in Speyer und Heinrich Petif & Co. in Amsterdam. Hinzu kommen zwei Unternehmen, die in diesem Brief (und ebenso in der folgenden Quellenanalyse) nur eine untergeordnete Rolle spielen, da sie lediglich als Schuldner Petifs genannt werden: Als Erstes wird das Unternehmen Hetzel & Sohn9 genannt, ein Handelshaus unter der Leitung des amtierenden Bürgermeisters der Stadt Speyer, das sich vor allem im Handel von „Spezerey Waren“ betätigte. Ihren Anzeigen im Speyerer Anzeigenblatt zufolge boten sie Liköre, Weine und elegantes Porzellan (nach „Pariser Art“) zum Verkauf an.10 Die Familie Hetzel gehörte ebenso wie Lichtenberger dem Speyrer Bürgertum an, sodass es kaum verwundert, dass die Familien sich kannten. Innerhalb der Korrespondenzbücher Lichtenbergers sind jedoch nur wenige Schreiben an das Handelshaus Hetzels zu finden, was sich damit erklären lässt, dass innerhalb der Stadt vieles zwischen den Kaufleuten persönlich verhandelt wurde. Dies wird auch durch den oben abgedruckten Brief bestätigt, der von einem „freundschaftlichen“ Verhältnis spricht. Aus den wenigen Schreiben Lichtenbergers an Hetzel im hier untersuchten Briefkopierbuch geht hervor, dass die Handelshäuser gegenseitige Konten führten und Gelder füreinander eintrieben. Darüber hinaus war Hetzel in kleinerem Maße Abnehmer von Lichtenberger’schen Tabaken oder nutzte dessen Manufaktur zur Weiterverarbeitung von Rohtabaken.11 Der Kontakt Hetzels zu Petif hingegen dürfte vor allem 8

Zu Kaufmannsarchiven und ihrer Nutzbarkeit für historische Studien vgl. Jochen Hoock, Wilfried Reininghaus (Hg.): Kaufleute in Europa. Handelshäuser in vor- und frühindustrieller Zeit, Dortmund 1997. 9 Zum Handelshaus Hetzel vgl. Hans Fenske: Speyer im 19. Jahrhundert (1814–1918), in: Wolfgang Eger (Hg.): Geschichte der Stadt Speyer, Bd. 2, Stuttgart 1982, S. 115–290, hier S. 132 und 146; Jürgen Müller: Von der alten Stadt zur neuen Munizipalität. Die Auswirkungen der Französischen Revolution in den linksrheinischen Städten Speyer und Koblenz, Koblenz 1990, S. 267f., 320 und 334. 10 Vgl. Speierer Wöchentliches Anzeige-Blatt Nr. 17, vom 24.04.1823, S. 2f. 11 Vgl. Ludwigshafen a.R., Stadtarchiv: WS1, Nr. 134, Fol. 2.

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durch Wareneinkäufe Petifs auf dem Amsterdamer Markt auf Anweisung Hetzels bestanden haben, wie es im Brief anklingt. Hinzu kommt am Schluss des Briefes als Akteur ein J. Vollmar aus Germersheim, über den bis heute kaum etwas bekannt ist außer der Tatsache, dass er über einige Jahre Kunde von Lichtenberger & Co. war und von ihm regelmäßig kleinere Mengen Tabak bezog.12 Analysiert man das Beispielschreiben auf die ökonomische Interaktion zwischen Lichtenberger und Petif, so fällt zunächst auf, dass neben dem Warenankauf und -verkauf auch finanzielle Dienstleistungen erbracht wurden. Aus dem Schreiben geht hervor, dass Heinrich Petif & Co. einen Auszug der Rechnungsbücher, der noch ausstehende Zahlungen des Handelshauses Hetzel & Sohn betraf, an Lichtenberger mit der Bitte übersandte, diese Gelder einzuziehen. Seiner Antwort lässt sich entnehmen, dass Heinrich Petif ungünstige Auskünfte über das Unternehmen Hetzel & Sohn erhalten hatte. Aus diesem Grunde zweifelte er daran, dass das Handelshaus Hetzel diese Schulden bei ihm zeitnah begleichen würde. Heinrich Petif bat daher seinen langjährigen Geschäftspartner Lichtenberger, seine Ansprüche an Hetzel & Sohn vor Ort geltend zu machen. Ebenso bat Petif darum, bei dem säumigen Zahler J. Vollmer aus Germersheim Gelder einzutreiben. Das geschilderte Vorgehen Petifs wird erst im Kontext der in jener Zeit vorherrschenden Abrechnungssysteme verständlich. Um Geldtransaktionen zu ermöglichen, hatte sich unter den Kaufleuten des frühen 19. Jahrhunderts ein komplexes Verrechnungs- und Buchführungssystem etabliert. Dabei führten viele jener Geschäftsleute, die enge und andauernde Geschäftsbeziehungen miteinander pflegten, gegenseitige Geldkonten, auf denen sie Geld- und Wareneingänge miteinander verrechneten. Besonders Bargeld konnte aufgrund des hohen Risikos nur in kleineren Mengen und über kurze Strecken versandt werden. Wechsel, die in jener Zeit gängigen Wertpapiere, mussten an zuverlässige Handelskontakte übersandt werden, um zu gewährleisten, dass die damit übermittelten Gelder eingefordert und zugunsten des Kaufmannes gutgeschrieben wurden, um bei Gelegenheit – bei der Anwesenheit eines Reisenden des Kaufmannes oder durch Verrechnung beim ökonomischen Warenaustausch – zu diesem zurückzufließen. Geschäftspartner an einem entfernten Ort halfen so stetig, noch ausstehende Gelder in ihrer Region einzutreiben, welche dann auf dem Konto zugunsten des Kaufmannes verbucht wurden, und ermöglichten so erst die Interessensdurchsetzung über weite Distanzen.13 Das Führen von Konten, so ergab auch die Analyse der Korrespondenzen Lichtenbergers, war ein Indikator für eine hohe Intensität eines Handelskontaktes und für das entgegengebrachte Vertrauen. Für die Kaufleute des frühen 19. Jahrhunderts bildeten ihre sozialen Netzwerke auch Informationsnetzwerke, auf die sie wegen der im Vergleich zu heute sehr 12 Vgl. Ludwigshafen a.R., Stadtarchiv: WS1, Nr. 8, Fol. 663. 13 Vgl. zu den Praktiken des Zahlungsverkehrs im 19. Jahrhundert Stefan Gorißen: Vom Handelshaus zum Unternehmen. Sozialgeschichte der Firma Harkort im Zeitalter der Protoindustrialisierung (1720–1820), Göttingen 2002, S. 240–250; sowie Markus A. Denzel: Das System des bargeldlosen Zahlungsverkehrs europäischer Prägung vom Mittelalter bis 1914, Stuttgart 2008, S. 47–74.

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eingeschränkten Kommunikationssysteme essenziell angewiesen waren. Neben einem Austausch von Waren war auch die Weitergabe von Informationen über Klima und Ernten, politische Rahmenbedingungen (formale Institutionen) des Wirtschaftens, Qualität und Quantität von Waren und die Zuverlässigkeit und Finanzkraft von potenziellen Geschäftspartnern in verschiedenen Regionen immanent wichtig für den Erfolg von Geschäften. Die oft zuvorkommende Weitergabe wichtiger Informationen im Netzwerk, parallel zur Abwicklung der alltäglichen Geschäfte, konnte so zu einer Senkung der Informationskosten führen. Im oben abgedruckten Schreiben wurde die ausführliche Auskunft über das Handelshaus Hetzel & Sohn mehr oder weniger durch das „befremdende“ Geschäftsgebaren Heinrich Petifs provoziert. Abseits davon lässt sich diese Auskunft in der umfangreichen Geschäftskorrespondenz Lichtenbergers jedoch auch in den Kontext einer Vielzahl von Briefen stellen, in denen die Netzwerkakteure einander über die „Solidität“ einzelner Unternehmer oder Unternehmerinnen berichteten. Diese intensive Kommunikation machte es möglich, das Risiko eines ökonomischen Austausches mit weniger bekannten Akteuren abzuschätzen. Der Brief an Heinrich Petif & Co. illustriert dabei die herrschenden informellen Institutionen, das heißt die Maßstäbe und Erwartungen der Netzwerkakteure, bei der Bewertung eines Geschäftspartners. Zunächst einmal musste ein Unternehmer oder eine Unternehmerin über ein gewisses Kapital verfügen, um für Warenlieferungen und Dienstleistungen auch bezahlen und ein zuverlässiger Geschäftspartner sein zu können. Entsprechend schreibt Lichtenberger über Hetzel senior: „Der selbe besitzt dahier 70 bis 80 Morgen und ein Hauß von fl. 2900,- Werth als eigenthümliches Vermögen; er hat eine nicht unbeträchtlichen Vorrath an Pfälzer Tabak und Wein […].“14

Diese detaillierte Auskunft bildete keine Seltenheit unter den Kaufleuten – weitergegeben wurden des Öfteren Details über die Finanzen und das Ansehen der Eltern eines (jungen) Kaufmannes, die finanziellen oder sozialen Verhältnisse seiner Frau ebenso wie Informationen über seine eigenen Besitztümer in Form von Immobilien, Warenlagern oder Geldvermögen.15 Hinzu kam als Kriterium für die „Solidität“ eines Unternehmers oder einer Unternehmerin, dass er sich im ökonomischen Verkehr bewährt haben musste. Lichtenberger & Co. schreiben hierzu über Hetzel: „… [Er] betreibt sein Detailgeschäft in Spezerey Waaren mit aller Solidität. So viel wir wenigstens aus den Geschäften die wir mit ihm machen, da er außer fabrizirten Taback uns auch öfters Wechsel abkauft, beurtheilen können.“16

Bei dieser Form der Informationsübermittlung über das geschäftliche Netzwerk war es für den einzelnen Akteur wichtig, dass er nach Empfang der Auskünfte in der Lage sein musste, den Nutzen und die Zuverlässigkeit einer Information ein14 Ludwigshafen a.R., Stadtarchiv: WS1, Nr. 8, Fol. 148f. 15 Weitere Beispiele für die Weitergabe von Informationen über Dritte vgl. Ludwigshafen a.R, Stadtarchiv: WS1, Nr. 1, Fol. 619, Nr. 7, Fol. 276 oder Nr. 21, Fol. 170. 16 Ludwigshafen a.R., Stadtarchiv: WS1, Nr. 8, Fol. 148f.

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zuschätzen. Dies war in besonderem Maße der Fall, da die Kaufleute häufig von verschiedenen Akteuren Auskünfte über die gleichen Personen anforderten. Um seiner Auskunft eine besonderes Gewicht zu geben, bezog sich der Schreiber des Handelshauses Lichtenberger daher im oben abgedruckten Brief auf die persönliche Beziehung der Unternehmer Lichtenberger und Hetzel: „Diese vortheilhafte Meinung hat sich auch dadurch bey uns bestätigt, daß der Herr Lichtenberger welcher ein guter Freund von d[em] H[err] H[etzel] ist, von dem Zustand der Sache Einsicht genommen und sich überzeugt hat, daß es nichts anderes als eine bösliche Verläumdung seyn kann was man ihm übles nachsagen kann.“17

Die persönliche Inaugenscheinnahme des Unternehmens Hetzel durch Lichtenberger (stellvertretend für seinen Geschäftspartner Petif) galt als die sicherste Methode, sich von den spezifischen Umständen vor Ort zu überzeugen. War innerhalb des Netzwerkes ein gewisses Maß von Vertrauen notwendig, um über weite Strecken interagieren zu können, so unterlagen die einzelnen Akteure aber auch einer stetigen sozialen Kontrolle durch das Netzwerk. Da Hetzel & Sohn in späteren Briefen nicht mehr weiter thematisiert wurden, kann angenommen werden, dass Petif die Dienste Lichtenbergers nicht weiter in Anspruch nahm. Eventuell, weil der Amsterdamer Kaufmann das Geld von Hetzel – wie vorhergesagt – selbst beziehen konnte. Anhand des Briefes wird eine über die finanzielle „Solidität“ eines Geschäftspartners hinausreichende Erwartungshaltung an das Handeln der Geschäftspartner innerhalb des Netzwerkes kommuniziert. Zentral für diese Erwartungshaltung war die „Redlichkeit“ einer Person, das heißt die Ehrlichkeit, Fairness und Transparenz gegenüber anderen Netzwerkakteuren.18 Innerhalb des Netzwerkes werden neben einzelnen ökonomischen Austauschakten längerfristige Verbindlichkeiten eingegangen, die den Handlungsspielraum eines Akteurs begrenzen. So erwartete Heinrich Petif von Hetzel & Sohn (und ebenso von Lichtenberger & Co), dass er der bevorzugte oder sogar alleinige Wareneinkäufer der Handelshäuser für den Amsterdamer Kolonialwarenmarkt war. Die dahinter verborgene Argumentationslinie lässt sich durch eine öfter von Lichtenberger in seinen Korrespondenzen getätigte Aussage erläutern. Hier wurde der Anspruch erhoben, dass alle Netzwerkakteure im ökonomischen Austauschprozess ihr Auskommen haben sollten. Es geht somit um ein zuverlässiges, gemeinsames Wirtschaften im Netzwerk, von dem alle integrierten Akteure zur Absicherung ihrer Existenz profitieren.19 Dass ein einmal etabliertes Netzwerk eine gewisse moralische Verpflichtung nach sich zog, mag wohl auch daran gelegen haben, dass der zeit- und kostenintensive Aufbau von Netzwerken ein Langzeitprojekt der Kaufleute bildete. Aus ihm resultier17 Ludwigshafen a.R., Stadtarchiv: WS1, Nr. 8, Fol. 148f. 18 Diese Ansprüche sind anknüpfungsfähig an das Konzept des „ehrbaren Kaufmannes“, vgl. Alexander Engel: Homo Oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann. Theoretische Dimensionen und historische Spezifität kaufmännischen Handelns, in: Mark Häberlein, Christoph Jeggle (Hg.): Praktiken des Handelns. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit, Konstanz 2010, S. 145–172. 19 Vgl. Ludwigshafen a.R., Stadtarchiv: WS1, Nr. 16 , Fol. 375f.; sowie Nr. 15, Fol. 460.

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te idealerweise auch ein langfristiger ökonomischer Nutzen seiner Mitglieder. Das Institutionengefüge im Netzwerk eröffnete somit theoretisch gedacht nicht nur Handlungsspielräume, sondern konnte auch beschränken, da man an spezifische Sozialkontakte und Handlungsnormen bis zu einem gewissen Maße gebunden war. Die Vorstellung Lichtenbergers von einer gegenseitigen Verpflichtung der Netzwerkakteure lässt sich zum besseren Verständnis in die Erkenntnisse der Forschungen zum frühen Wirtschaftsbürgertum der Pfalz einordnen. So deuten die kritische Einstellung des Speyrer Bürgertums zur Gewerbefreiheit und eine gewisse Sympathie zur alten Zunftsverfassung ebenso auf ein Sicherheitsbedürfnis im ökonomischen Austauschprozess hin wie das Streben nach zuverlässigen und profitablen Geschäftsbeziehungen. Die durch die französische Fremdherrschaft nach den napoleonischen Kriegen abgeschaffte Zunftsverfassung hatte nur jenen die Ausübung eines Gewerbes erlaubt, die Mitglied einer Zunft waren. Dabei wurde der Zugang zu den Zünften jedoch stark beschränkt. Diese Reglementierung der Gewerbe in der Pfalz war von den Kaufleuten nicht nur als Einschränkung, sondern auch als Sicherheit vor Konkurrenz und den Mechanismen eines freien Marktes wahrgenommen worden. Nach der Einführung der Gewerbefreiheit in der Pfalz durch die Franzosen fürchteten die Kaufleute um ihren Status quo.20 Dem Netzwerk, das die Kaufleute bedingt durch ihr überregionales Agieren traditionell unterhielten, kam nun eine größere Bedeutung bei der Wahrung ihrer ökonomischen und politischen Interessen zu, da dies in einer Zeit, in der Handelskammern noch verboten waren, die einzige Struktur war, die den Kaufleuten zur Interessensdurchsetzung dienen konnte. Zur informellen Institution der Ehrlichkeit bzw. Offenheit gegenüber den Geschäftspartnern gehörte auch, dass über einzelne Personen im Netzwerk nicht (unbegründet und vorschnell) schlecht gesprochen werden durfte. Um Beziehungen nicht zu gefährden, erhoben die Kaufleute den Anspruch, dass Informationen vertraulich behandelt und überprüft wurden. Im hier analysierten Brief wird entsprechend erläutert, dass Lichtenberger gegenüber Hetzel das Misstrauen Petifs nicht erwähnt hat, da „wir […] durch die mindeste Aeüßerung von Mißtrauen und durch die ihm hierdurch zuzufügende Kränkung haben befürchten müßen, uns sowohl wie auch Ihnen einen sehr rechtlichen und guten Kundsmann zu entziehen. Wir haben daher durchaus nichts von Ihnen gegen d[en] H[errn] H[etzel] erwähnt […]“21.

Lichtenberger & Co. forderte einen vertrauensvollen Umgang mit den von ihnen herausgegebenen Informationen ein und gaben diese nur unverbindlich („ohne Obligo“), um sich abzusichern und aus Konflikten herauszuhalten. An dieser Stelle des Schreibens wird so auch der informelle Charakter des Netzwerkes deutlich. Der Wert und die Bedeutung, den die Akteure dem sozialen Netzwerk in diesem spezifischen Fall zuschrieben, verdeutlichen sich darin, dass Philipp Markus 20 Vgl. Fenske (1982), S. 135. 21 Ludwigshafen a.R., Stadtarchiv: WS1, Nr. 8, Fol. 148f.

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Lichtenberger Heinrich Petif dessen Abrechnungsunterlagen und die für Lichtenberger ausgestellte Vollmacht zur Einziehung der Gelder per Post nach Amsterdam zurücksandte. Dieser musste sich im Nachgang erneut mit einem Schreiben an Hetzel in Speyer wenden. Dies erscheint unter lediglich auf materiellen Kosten-Nutzen-Abwägungen basierenden Entscheidungskriterien nicht ganz nachvollziehbar, verursachte doch der Postversand im frühen 19. Jahrhunderts noch erhebliche Kosten. Doch der zusätzliche Kostenaufwand war für Lichtenberger ein legitimer Weg und seinem Geschäftspartner Petif zumutbar: Er erhöhte lieber die Portokosten, um das soziale Kapital, das sich in der wohlwollenden Interaktion der Netzwerkakteure manifestiert, nicht zu gefährden. Es ist somit das Vertrauen der Geschäftspartner, das als wichtiger veranschlagt wird, als die definitiven Kosten bei der Einziehung des Geldes für Heinrich Petif. Die Analyse der Lichtenberger’schen Geschäftskorrespondenz am Beispiel eines Briefes an Heinrich Petif in Amsterdam zeigt auf, wie sich das Agieren ökonomischer Akteure untereinander in einem Netzwerk spezifisch in der Geschichte ausprägten. Das Netzwerk ermöglichte und beschränkte Lichtenbergers Handeln durch soziale Bindungen und ihnen inhärente informelle Institutionen. Der Kontakt zwischen den Kaufleuten und die über Jahre hinweg entwickelte soziale Bindung ermöglichten vielfältigen Warenhandel und verschaffte ihnen wichtige Informationen. Das Netzwerk schuf somit Handlungsoptionen, auf die die Kaufleute angewiesen waren. Darüber hinaus brachten die Beziehungen im Netzwerk aber auch Verpflichtungen mit sich. So fühlte sich Lichtenberger beispielsweise verpflichtet, die finanziellen Interessen von Petif und die Reputation von Hetzel zu wahren und er war in diesem Sinne um eine Lösung des Konfliktes bemüht. Auf einer weiteren Analyseebene zeigt der Briefwechsel, welche Handlungsformen innerhalb des Netzwerkes existierten. So bildete das kaufmännische Abrechnungswesen eine für jene Zeit spezifische, auf dem Netzwerk basierende Form des Umganges mit Kapital. Die Erwartungen an das Handeln der Akteure lassen hingegen Rückschlüsse zu, auf Spielregeln (informelle Institutionen), die im Netzwerk vorherrschten. Zu denken ist im untersuchten Fall beispielsweise an die Erwartung Petifs an Lichtenberger, dass er seine finanziellen Interessen in Speyer vertreten und ihm entsprechende Informationen verschaffen würde, oder an die Erwartung Lichtenbergers an Petif, dass dieser vertrauensvoll und bedachtsam mit den ihm gegebenen Informationen umgehen würde. Als informelle Institution ist in diesem Kontext unter anderem die Handlungsregel, dass die Akteure im Netzwerk gegenseitig ihre Interessen gegenüber Dritten vertreten und Informationen über diese liefern, um (finanziellen) Schaden abzuwenden, anzusehen. Es lässt sich abschließend festhalten, dass die hier geleistete Quellenanalyse unter Hinzuziehung weiterer Quellen einen Einblick in die soziale Einbettung ökonomischer Interaktionen gibt. Das Netzwerk und die in ihm herrschenden Institutionen sind historisch geprägt. In einem nächsten Schritt wäre es möglich, weitere Geschäftskorrespondenz nach dem vorgestellten Modell zu erforschen, um nicht der Gefahr zu erliegen, aus einzelnen Geschäftsbeziehung künstlich ein Netzwerk zu konstruieren. Eine Netzwerkanalyse kann nicht bei einzelnen Kor-

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respondenzen stehen bleiben, sondern muss stets eine Vielzahl von Quellen heranziehen, um die Prozesse in diesem Sozialgefüge zu analysieren. Bewertung Der Ansatz der sozialen Netzwerke bietet die Möglichkeit, das Agieren ökonomischer Akteure in einen sozialen Kontext zu stellen und so den in der Gesellschaft wirkenden informellen Institutionen auf die Spur zu kommen. Die theoretische Reflexion über soziale Netzwerke schärft somit den Blick für soziale und individuelle Phänomene innerhalb eines Wirtschaftsraumes. Dies ermöglicht es, in empirischen Studien einen Akteur in Wechselwirkungen zu seiner sozialen Umwelt zumindest ausschnittsweise zu denken und zu analysieren. Mit dem Denkkonzept des Netzwerkes lassen sich die überlieferten Handlungs- und Kommunikationsformen von Akteuren in ihrer Bedingtheit durch die im Netzwerk rezipierten und wirkenden informellen Institutionen analysieren. Die Existenz und die institutionelle Ausgestaltung eines Netzwerkes können und konnten für das Agieren von Unternehmern und Unternehmerinnen für die spezifische Ausgestaltung und den Erfolg ihres ökonomischen Engagements wichtig sein.22 Das Netzwerk als Sozialstruktur und die darin wirkenden Institutionen konnten Handlungsoptionen eröffnen, aber auch beschränkend wirken. Und in diesem Gedanken liegt auch – in Kurzform – die Antwort auf die in der Einleitung dieses Artikels formulierte Kernfrage dieses Beitrages: Was leisten Institutionen für den Akteur? Beziehungsweise: Wie beeinflussen sie sein Handel und seinen ökonomischen Erfolg oder Misserfolg? Das soziale Netzwerk als Sozialstruktur, in dem spezifische informelle Institutionen das Handeln der Akteure beeinflussen, verschaffte dem Kaufmann und Manufakturinhaber Philipp Markus Lichtenberger neben dem Warenaustausch auch Informationen über das überregionale Marktgefüge. Zudem sicherte das Netzwerk seine Existenz, da die etablierten, auf Vertrauen basierten Beziehungen Sicherheit und Zuverlässigkeit beim Austausch von Gütern, bei der Informationsbeschaffung und bei der Abwicklung von Dienstleistungen boten. Das Institutionensetting verpflichtete jedoch auch zu konformem Handeln – so banden sich Akteure in ihrem Wirtschaften an eine begrenzte Anzahl von Geschäftspartnern, mit denen sie zuverlässig, das heißt im besten Falle auch regelmäßig Geschäfte tätigten. Grundsätzlich konnte ein Netzwerk auch Akteure ausschließen und im Einzelfall lukrative Handlungsoptionen für einzelne Mitglieder im Interesse des gesamten Netzwerkes sanktionieren. Die im Netzwerk wirkenden informellen Spielregeln hatten somit eine wichtige Funktion für die ökonomischen Akteure. Institutionalisierte Verhaltens- und Kommunikationsnormen lassen das Netzwerk

22 Vgl. Hartmut Berghoff, Jörg Sydow: Unternehmerische Netzwerke. Theoretische Konzepte und historische Erfahrungen, in: dies. (Hg.): Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft?, Stuttgart 2007, S. 9–38.

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zu einem berechenbaren, sozialen Raum werden, in dem die Akteure Risiken besser abschätzen konnten. Während in der hier getätigten Quellenanalyse lediglich einzelne Beziehungen im Netzwerk betrachtet wurden, könnte eine gleichförmige Analyse „im großen Stil“ stärker die historische Ausgestaltung und Dynamik eines Netzwerkes im Ganzen in den Blick nehmen. Dabei stellt der Ansatz des sozialen Netzwerkes den forschenden Historiker oder die Historikerin vor eine große Herausforderung. Diese liegt vor allem darin begründet, dass die Erforschung eines Netzwerkes in seiner Komplexität in Bezug auf die Quellenmenge, die zur Rekonstruktion und Untersuchung herangezogen werden kann und eventuell auch muss, sowie durch die Vielzahl der Akteure, die häufig eine Rolle spielen, schwierig operationalisierbar ist. Dies ist vor allem der Fall, wenn eine Analyse qualitativ in Hinblick auf das Agieren und die Kommunikation einzelner Akteure erfolgt und nicht nur eine statistische Auswertung, in der die Anzahl von Briefkontakten, Heiratsmustern oder ökonomischen Austauschprozessen herausgearbeitet werden, darstellt. Doch gerade die Prozesse zwischen den Akteuren dürfen bei einem Denken in Netzwerken nicht aus dem Blick geraten, da nur eine Analyse des konkreten Handelns und Kommunizierens der Akteure und der dabei wirkenden Institutionenarrangements Aussagen ermöglichen über die Bedeutung der sozialen Umwelt für das Agieren von Unternehmern und Unternehmerinnen in historischer Perspektive. Literatur Engel, Alexander: Homo Oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann. Theoretische Dimensionen und historische Spezifität kaufmännischen Handelns, in: Mark Häberlein, Christoph Jeggle (Hg.): Praktiken des Handelns. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit, Konstanz 2010, S. 145–172. Furtwängler, Martin: Unter Trikolore und weißblauer Fahne. Der Raum Ludwigshafen in den Jahren 1798–1843, in: Stefan Mörz, Klaus Jürgen Becker (Hg.): Die Geschichte der Stadt Ludwigshafen am Rhein, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, Ludwigshafen a.R. 2003, S. 201–225. Hoock, Jochen/Reininghaus, Wilfried: Kaufleute in Europa. Handelshäuser und ihre Überlieferung in vor- und frühindustrieller Zeit, Dortmund 1997. Limbach, Rabea: Die frühindustriellen Unternehmer Scharpff und Lichtenberger in der Rheinschanze, in: Mittheilungen des historischen Vereins der Pfalz 109 (2011), S. 87–105. Saldern, Adelheid von: Netzwerkökonomie im frühen 19. Jahrhundert. Das Beispiel der SchoellerHäuser, Stuttgart 2009.

4.2.3 KULTUR: UNTERNEHMENSKULTUR DES MEDIENKONZERNS BERTELSMANN IN DEN 1970/80ER-JAHREN Clemens Wischermann Jedes Unternehmen hat eine eigene Kultur, sei es als unhinterfragte Alltagswelt, sei es als erklärte „Unternehmensphilosophie“. Damit ist gemeint, dass Unternehmen nicht nur ökonomische Organisationen, sondern zugleich soziale Sinndeutungsgemeinschaften sind. In ihnen gelten im Umgang zwischen den Menschen bestimmte Werte und bestimmte, nicht immer schriftlich festgelegte Regeln. Über Kunden-, Mitarbeiter- und Öffentlichkeitsbeziehungen sind Werte und Regeln immer in das umgebende gesellschaftliche Gefüge eingebettet. In diesem Sinne bezeichnet der Begriff Unternehmenskultur die alltägliche Handlungswelt eines Unternehmens, die je nach Zeit und Ort sehr unterschiedlich ausfallen kann.1 In der betrieblichen Praxis wird Unternehmenskultur allerdings zumeist als Führungsmodell bzw. als Steuerungsinstrument verstanden. Dies bedeutet, dass Unternehmen eine Corporate Identity anstreben, die das Unternehmen in die Formel einer Persönlichkeit fasst. Identität wird zum Zentralbegriff für die angestrebte unternehmenskulturelle Leistung, nämlich die Hervorbringung einer mit der Zeit wachsenden gemeinschaftlichen Identität. Zumeist verstehen Unternehmen Corporate Identity als einen stabilen, quasi erwachsenen Zustand des Selbstverständnisses. Wie im individuellen Leben werden aber Identitäten unentwegt aus der Gegenwart heraus neu entworfen. Unternehmensidentität ist dann kein fester einheitlicher Entwurf für Gegenwart und Zukunft mehr, sondern sie wird permanent neu geschaffen und wandelt sich mit allen Beteiligten. Eben dies lässt sich beim Medienkonzern Bertelsmann in den 1970er- und 1980er-Jahren in seltener Weise verfolgen und dokumentieren. Kontextspezifikation Will man eine innere Mitte der geläufigen Unternehmenskultur-Konzepte auf den Begriff bringen, so bietet sich am ehesten die Chiffre von der „CorporateIdentity“ an, die das Unternehmen in die synthetisierende Formel seiner „Persönlichkeit“ oder eben „Identität“ fasst. Das Konzept betont die Wichtigkeit einer nur in der Zeit erwachsenden gemeinschaftsstabilisierenden Identität nicht nur für 1

Vgl. Clemens Wischermann, Peter Borscheid, Karl-Peter Ellerbrock (Hg.): Unternehmenskommunikation im 19. und 20. Jahrhundert. Dortmund 2000; Clemens Wischermann (Hg.): Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen, Dortmund 2003.

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Individuen oder soziale Gruppen, sondern auch für Unternehmen. Doch eine offiziell formulierte Unternehmensidentität ist immer ein Kunstprodukt, das in aller Regel von Harmonie- und Homogenitätsidealen regiert wird. Übertragen auf das Unternehmen hieße das, dass Unternehmen eine klar ausgebildete Identität entwickeln müssen, um die Mitarbeiter an sich zu binden, damit diese dann auf der Grundlage einer verbindlichen ‚Unternehmensbiografie‘ verlässlich nach innen und außen handeln können: „Vertrauen setzen nämlich kann man nur in jemanden mit gesicherter Identität; denn nur er bleibt sich selbst gleich, nur er steht zu seiner Tradition, nur er kann sich auf zuverlässige Werte und Normen stützen.“2

Dass momentane Identitätsgleichgewichte vom individuellen wie gesellschaftlichen Wandel überholt werden können, steht nicht im Mittelpunkt des Interesses der Vertreter einer Corporate-Identity. In eben diesem Punkt muss eine kritische Überprüfung ansetzen. Denn Identitäten basieren nicht auf einem festen, einmal erworbenen, lebensgeschichtlichen Bestand, sondern sie werden unentwegt von der Gegenwart aus neu entworfen und konstruiert. Identität als Ziel wäre folglich der Erwerb der Fähigkeit zur permanenten Rekonstruktion eines handlungsfähigen Selbstbildes. Unternehmensidentität ist dann kein fester einheitlicher Entwurf für Gegenwart und Zukunft mehr, sondern sie wird permanent aus der Gegenwart heraus neu entworfen und wandelt sich mit allen Beteiligten. „In den Augen des Wirtschaftswissenschaftlers ist Unternehmenskultur nicht eine Spielerei, sondern eine Existenzfrage; es geht buchstäblich um Sein oder Nichtsein des Unternehmens. Unternehmenskultur ist also nicht wie eine schöne Zimmerpflanze, die man haben kann – das wäre schön und lobenswert – oder auch nicht; vielmehr handelt es sich um die Überlebensfähigkeit des Unternehmens.“3

Unternehmen haben also immer eine Kultur, ob sie wollen oder nicht, ob es eine explizit oder nur implizit zu erschließende ist. Unternehmenskultur ist somit weit mehr als ein Managementmodell. Ihren Einfluss auf unternehmerischen Erfolg herauszuarbeiten ist die Aufgabe einer Geschichte der Unternehmenskultur. Von einem systematischen Forschungsstand einer Geschichte der Unternehmenskulturen ist die Unternehmensgeschichte noch entfernt. Die jüngere Entwicklung begann in den 1980er-Jahren mit Reflexionen über die Ursachen der Herausforderung der US-Wirtschaft durch Japan. Viele Beobachter suchten die Erklärung in der spezifischen japanischen Unternehmenskultur, die auf gemeinschaftsbildende Rituale, Symbole und Werte setzte: Dies habe letztlich die ökonomische Effizienz der Unternehmen im Sinne einer Verbesserung des Transaktionskosteninputs (institutionenökonomisch gesprochen) gefördert. Das bedeutet, dass in einer japanischen Unternehmenskultur Kosten gemeinschaftlicher Aktivität beispielsweise zu Produktivitätssteigerungen führten, sich als ökonomisch rentabel erwiesen. Damit 2 3

Holger Bonus: Identität und Unternehmenskultur, in: Volkswirtschaftliche Diskussionsbeiträge 145, Münster 1992, S. 7. Bonus (1992), S. 1.

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kamen Faktoren ins Spiel, die bis dahin in der ökonomischen Betrachtung des Unternehmens keine konzeptionelle Rolle gespielt hatten: geschichtlich gewachsene Traditionen und darüber die nun auch sogenannte Unternehmenskultur.4 Unternehmenskultur beanspruchte mehr, als Pioniergeschichten oder Gründungsmythen zum Nacheifern anzubieten.5 Das neue Paradigma verlangt von den Unternehmen stärker als je zuvor ein Eingehen auf die Lebensorientierung der Beschäftigten und die Zunahme gesellschaftlicher Individualisierungsphänomene. Die entscheidende Schwierigkeit der Umsetzung blieb dabei, dass Theoretiker wie Praktiker Unternehmenskultur weiterhin als einseitig von „oben“ nach „unten“, vom Management auf die Beschäftigten gedachtes Steuerungsinstrument begriffen. In diesem Sinne waren die meisten Unternehmenskulturkonzepte Sinnkonstruktionen der Unternehmensleitungen, die sich letztlich weiterhin am traditionellen Ziel einer über Anreize unterschiedlichster Art zu steuernden hierarchischen Kontrolle der Unternehmensorganisation orientieren. Neuste Forschungen zur Unternehmensgeschichte weisen aber darauf hin, dass mit zunehmender Nähe zur Gegenwart auch die Unternehmen vom Individualisierungsprozess und der Ablösung sozio-ökonomischer gesellschaftlicher Ausrichtungen durch Lebensstilkonzepte in modernen Marktwirtschaften erfasst werden. Dies scheint zumindest auf den unternehmerischen Leitungsebenen längst zu gelten. Sandra Markus hat bei ihren Untersuchungen zur „unternehmerischen Sinnstiftung“ in Unternehmerautobiografien im 20. Jahrhundert eine gewisse zeitliche Abfolge gefunden, die im Verlaufe des vergangenen Jahrhunderts sich von der ausschließlichen Berufsorientierung über die Einfügung in die familiäre Unternehmenstradition hin zur Individualisierung auch der unternehmerischen Sinngebung bewegte.6 Im Sinne einer wirtschaftskulturellen Theorie der Unternehmung funktionieren Unternehmen zuvorderst deshalb, weil die übergroße Mehrzahl der Beschäftigten im Sinne der Unternehmensziele mitdenkt und handelt. Erst dadurch werden Unternehmen überhaupt leistungsfähig. Das erfordert vonseiten der Beschäftigten Vertrauen in das Handeln der Unternehmensführung und führt im besten Fall zum Verzicht auf Opportunismus, auch wenn ein Regelverstoß nicht mit Sanktionen belegt wird oder werden kann. Die Arbeitskontrollkosten sinken. Das Modell der Sinndeutungsgemeinschaft steht nicht für eine naive Renaissance vertrauensvoller Abhängigkeit, noch ist es kostenfrei zu haben. Auch die Schaffung von Vertrauen ist nicht kostenfrei, sondern erfordert wie die Einrichtung von Kon4

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Auch in Deutschland gibt es Ratgeber zur Bewältigung von Fusionen, vgl. Brigitte Winkler, Stefan Dörr: Fusionen überleben. Strategien für Manager, München u.a. 2001; darin u.a. eine Anleitung zur Durchführung einer „kulturellen Due Dilligence“. Vgl. Thomas Welskopp: Unternehmenskulturen im internationalen Vergleich – oder integrale Unternehmensgeschichte in typisierender Absicht?, in: Hartmut Berghoff, Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M. 2004, S. 265–294. Vgl. Sandra Markus: Unternehmerische Sinnstiftung als kommunikatives Handeln im 20. Jahrhundert. Erinnerungen von Unternehmern in lebensweltlicher und geschichtstheoretischer Perspektive, Stuttgart 2002.

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trollstrukturen den Einsatz von Ressourcen. Je besser diese Vertrauensbildung gelingt, desto niedriger sind die im Kooperationsprozess aufzubringenden Transaktionskosten. Vertrauen kann aber kostengünstiger als Kontrolle sein – vorausgesetzt die Nutzenfunktionen der Beteiligten weisen einen hohen Grad an Übereinstimmung auf. Dies ist in Kürze die Grundannahme einer ökonomischen Effizienz der Kategorie Unternehmenskultur.7 Operationalisierung Moderne Unternehmensidentität überzeugt durch die Beherrschung konstituierender Regeln des Identitätserwerbes. In Unternehmen können Identitäten zu gemeinsamen Interaktionen zusammengeführt werden. Wieweit das Gelingen oder Scheitern dabei von einem gesamtgesellschaftlichen Deutungszusammenhang abhängt, ist eine wichtige Frage moderner Unternehmensgeschichte. Zur Aufgabe für die Unternehmensgeschichte wird damit die Untersuchung von identitätsfördernden unternehmensbezogenen Sinndeutungsmustern im zeitlichen Wandel. Unternehmen treten also bereits mit einem von den Akteuren mitgebrachten Fundus an Normen und Werten ins Leben und verändern deren Regeln in der Zeit der Unternehmensexistenz. Der Umgang mit diesen Regeln, ihre Einhaltung oder Nichtbefolgung ist von zentraler Bedeutung für die Unternehmenseffizienz. Auf die Frage, welche Alternativen den Beteiligten im Unternehmen offenstehen, ist die Forschung zu unterschiedlichen Antworten resp. Alternativen gekommen: a) Die wohl am seltensten in der Forschung thematisierte Option ist die Zustimmung, d.h. die Übereinstimmung der Ziele und Regelerwartungen der Akteure mit denjenigen der Unternehmensleitung. Die Vernachlässigung dieses Phänomens dürfte seinen Grund nicht zuletzt in der lange Zeit kaum bezweifelten Annahme eines Grundwiderspruches zwischen „Kapital und Arbeit“, zwischen „oben und unten“ im Unternehmen finden. Obwohl hier die Debatte etwa um die gesellschaftlichen Grundlagen der Akzeptanz der betrieblichen „patriarchalischen“ Sozialpolitik in großen Phasen der Unternehmensgeschichte neue Akzente gesetzt hat, ist eine empirische Einschätzung dieses Phänomens weiterhin kaum möglich. b) Das als Regelfall erwartete Verhalten ist Anpassung gegenüber einer existierenden institutionellen Hierarchie; dazu gehört auch die Option des „Schweigens“, d.h. „angesichts einer ineffizienten Regel gar nicht zu reagieren und weiterhin der bestehenden Regel entsprechend zu handeln“8, 7

8

Vgl. auch Hartmut Berghoff: Die Zähmung des entfesselten Prometheus? Die Generierung von Vertrauenskapital und die Konstruktion des Marktes im Industrialisierungs- und Globalisierungsprozess, in: Berghoff, Vogel (2004), S. 143–168. Albrecht Söllner: Die Schmutzigen Hände. Individuelles Verhalten in Fällen von institutionellen Misfits, Tübingen 2000, S. 9.

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c)

d)

e)

f)

auch wenn keine Übereinstimmung besteht. Anpassung ist die im Allgemeinen wie selbstverständlich angestrebte Handlungsoption in unternehmensbezogenen Handlungsspielräumen, die deshalb von der einschlägigen Forschung kaum näher thematisiert wird. Abwanderung („Exit“) ist in der Diktion von Albert O. Hirschman die wichtigste Alternative, wenn Akteure die Anpassung nicht hinnehmen wollen: „Some customers stop buying the firm’s products or some members leave the organization: this is the exit option.“9 In unternehmensgeschichtlicher Sicht sind hohe Fluktuationsraten der Beschäftigten der offensichtlichste Indikator dieser Option. Offener Widerspruch („Voice“ in Hirschmans Worten) beschreibt eine explizite Gegenstrategie: „The firm’s customers or the organization’s members express their dissatisfaction directly to management or to some other authority to which management is subordinate or through general protest addressed to anyone who cares to listen: this is the voice option.“10 Opportunismus oder opportunistischer Regelbruch ist die von der Transaktionskostentheorie immer erwartete, den Zielen der Unternehmensleitung zuwiderlaufende Handlungsoption. Opportunismus wird so zu einem der zentralen Themen der New Institutional Economics. Opportunistisches Verhalten von Agenten kann im Denkgebäude der New Institutional Economics nur durch ein möglichst effektives Kontrollsystem wenn auch nicht völlig unterbunden, so doch verringert werden. Söllner erweitert diese Varianten um eine zusätzliche Form von Regelverletzung: „Dabei handelt es sich um eine Form des Regelbruchs, die hier als Phänomen der Schmutzigen Hände bezeichnet wird. Ein Verhalten Schmutziger Hände beinhaltet den Bruch einer als ineffizient wahrgenommenen Institution durch einen Menschen in der Absicht, die Organisationsziele besser zu erreichen.“11

Alle genannten Handlungsalternativen sind natürlich nur theoretisch separiert. Sie kommen in der Wirklichkeit des Unternehmens oft gleichzeitig vor und sind auch im Verhalten des einzelnen Akteurs in unterschiedlichen Situationen oder auch im zeitlichen Wandel des Verhaltens zu beobachten. An diesem Punkt setzt die neuere Analyse von Kommunikation als Basis individueller Entscheidungen und ökonomischer Kooperationsfähigkeit an. Sie fokussiert sich auf eine Kritik des wirklichkeitsfernen isolierten Akteurs der ökonomischen Theorie: „Das theoretische Ideal des schweigsamen, isolierten und anonymen Individuums steht im Widerspruch zu den real existierenden Märkten, in denen Informationen nicht nur über Preise ausgetauscht werden, Absprachen aller Art bestehen und die eingebunden sind in institutio9

Albert O. Hirschman: Exit, Voice and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge/Mass. 1970, S. 3f. 10 Hirschman (1970), S. 4. 11 Söllner (2000), S. 7.

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nelle Bestimmungen. Die institutionelle Ökonomik hat deutlich gemacht, daß Institutionen, verstanden als Regeln und Normen, immer durch Sprache definierte Restriktionen darstellen.“12

Eine „sprachlose Ökonomie“ reduziert Kommunikation (gemeint ist hier immer sprachliche) auf Informationsfunktionen, darunter auch die Vorbereitung von bindenden Verträgen. Was nicht schriftlich fixiert und unter Sanktionsvorbehalt gestellt werden kann, gelte als „cheap talk“13. Informationsasymmetrien – wie im Prinzipal-Agent-Ansatz – begegne man daher weniger mit einer Verstärkung von Kommunikation, sondern mit einer Ausdifferenzierung von Mechanismen gegen Vertragsbrüche.14 Dem setzt Bohnet ihre an diskurs- und spieltheoretischen Konzepten orientierte Vorstellung der Leistung von Kommunikation entgegen: „Die Nachfrage nach Kommunikation hängt von den Kosten dieser Interaktionsart im Vergleich zu anderen verfügbaren Alternativen ab. ‚Voice‘ als Versuch, das Verhalten der anderen vorherzusehen oder durch Normaktivierung zu beeinflussen, ist nur solange attraktiv, als keine günstigeren ‚Exit‘-Möglichkeiten bestehen. ‚Loyal‘ – im Sinne eines Akzeptierens des Ergebnisses – verhalten sich Individuen vor allem dann, wenn sie den Entscheidungsprozess als fair erachten. Auch hier ist Kommunikation von zentraler Bedeutung, da sie Mitsprachemöglichkeiten bietet.“15

Welche Handlungsalternativen in der Unternehmenswirklichkeit historisch sichtbar gemacht werden können, soll im Folgenden an einem Fallbeispiel aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland untersucht werden. Unternehmenskulturelles Denken prägte die Leitung des Verlages Bertelsmann in Gütersloh durch Reinhard Mohn seit seiner Übernahme der Unternehmensführung 1946 über die folgenden Jahrzehnte des Aufstieges zu einem international tätigen Medienkonzern. Im Jahre 1960 wurden bei Bertelsmann die erste „Grundsatzordnung“ ebenso wie erste „Leitsätze für die Führung“ in Geltung gesetzt und seitdem als „Code of Conduct“ fortentwickelt. Mit derartigen unternehmenskulturellen Modellen stand Bertelsmann in der bundesrepublikanischen Wirtschaft keineswegs allein, aber Reinhard Mohn hat als international bekannter Exponent seinem Modell von Unternehmenskultur weltweite Beachtung verschafft.

12 Iris Bohnet: Kooperation und Kommunikation. Eine ökonomische Analyse individueller Entscheidungen, Tübingen 1997, S. 1. 13 Vgl. Bohnet (1970), S. 14. 14 Vgl. ebd., S. 14. 15 Ebd., S. 162.

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Fallbeispiel Reinhard Mohn: Demokratie im Unternehmen (Auszüge) Im Ringen um die Gunst des Wählers erschwert die zu weitgehende Gefälligkeitspolitik richtige Entscheidungen. Welche Forderungen muss die Gesellschaft an die Organisation und das Funktionieren der Wirtschaft stellen? Der Bürger muss frei über die von ihm gewünschten Produkte und Dienstleistungen entscheiden können – Marktwirtschaft. Der Staat muss den Wettbewerb sichern. – Der Wettbewerb gewährleistet Evolution. Er steuert das Angebot von Waren und Dienstleistungen nach Qualität und Preis besser als jede Planwirtschaft. Die Welt der Arbeit muss human sein. Gesetzliche und tarifliche Regelungen müssen die Ausrichtung der Wirtschaftstätigkeit auf den Menschen sichern. Andere Prämissen für die Demokratie in der Wirtschaft Die Methodik der Sozialen Marktwirtschaft gewährleistet nach außen eine ausreichende Berücksichtigung der Interessen der Gesellschaft. Die Prämissen einer Entscheidungsfindung durch Mehrheitsentscheid sind in Bezug auf die Unternehmenspolitik nicht gegeben. Die Entscheidung des alleinverantwortlichen Geschäftsführers ist schneller und besser als die Entscheidung aufgrund des Beschlusses eines Gremiums. In der Wirtschaft ist die moderne Führungstechnik wesentlich effektiver als in der Exekutive der Demokratie. Nur noch wenige große Unternehmen führen so bürokratisch wie die staatliche Exekutive oder Staatsbetriebe. Die fortschrittliche Führungstechnik in der Wirtschaft ist nach den für den Begriff der Demokratie geltenden Kriterien sehr viel demokratischer als der Staat im Exekutivbereich. – Die größere Demokratisierung in der Wirtschaft hat zur Folge: - Höhere Produktivität und Effizienz - Schnellere Reaktionsfähigkeit und Evolution - Mehr Mitbestimmung, Selbstverwirklichung und Zufriedenheit Formen der Mitbestimmung: - Die Information - Betriebsverfassungsgesetz - Die Mitarbeiterbesprechung - Freiwillige Mitwirkung im Aufsichtsrat - Delegation: Breite Führungspyramide Von Gesellschaft erteilter Unternehmensauftrag rechtfertigt nur begrenzte Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Voraussichtliche Folgen des derzeitigen Mitbestimmungsmodells: -

Schlechtere / falsche Führungsentscheidungen Übergebührliche Berücksichtigung des Faktors Arbeit

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Beeinträchtigung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens

Mögliche Entwicklungen / Vorteile: -

Harmonisierungseffekt – zu Lasten Gewerkschaft Schnellere Einführung fortschrittlicher Führungstechnik

Wünschenswerte Ergänzung aus Bertelsmann-Sicht: -

Partizipation am Vermögen Dadurch Korrektur falscher Wahrnehmung von Mitarbeiterinteressen

Quelle: Referat vor den Bertelsmann Führungskräften am 30.10.1980 in München, in: Unternehmensarchiv der Bertelsmann AG, Signatur: 0007/692.

Die 1970er-Jahre waren eine Zeit vielfältiger Umbrüche in der Geschichte der Bundesrepublik. Man dachte über Modelle einer Neubestimmung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit nach und führte öffentliche Debatten unter dem Schlagwort der Humanisierung der Arbeitswelt. Im Unternehmen Bertelsmann als einem sozialen Handlungsfeld lassen sich die Umbruchjahre besonders gut an der Frage der Mitwirkung am Arbeitsplatz aufzeigen. Das Thema der Mitwirkung der Beschäftigten am Arbeitsplatz reflektierte passgenau das gesellschaftliche Klima der 1970er-Jahre und entsprach zugleich Mohns zentraler Forderung nach einer Verbesserung der Selbstverwirklichungschancen der Mitarbeiter. Für das Unternehmen begann eine schwierige Positionsbestimmung, für die das begriffliche Schwanken zwischen „Mitbestimmung“ (so heißt es auch bei Bertelsmann zunächst) und „Mitwirkung“ (so später) typisch war.16 Experimentierfeld bei Bertelsmann war der zentrale Unternehmensteil Mohndruck, dessen Chef Mark Wössner mit einem Entwurf im Mai 1974 das Projekt offiziell anstieß. Darin hieß es: „Für die interessanten Fragen des Arbeitsumfeldes der Mitarbeiter soll ein Mitbestimmungsmodell aufgebaut werden, das einerseits das Bertelsmann-typische Alleinverantwortungsprinzip enthält und andererseits eine demokratische Entscheidungsvorbereitung fördert, die eine möglichst große Vielfalt an Sachkenntnis und Auffassung einschließt.“

Diesen schwierigen Spagat beschränkte man von vornherein auf Fragen des Arbeitsumfeldes, institutionalisierte dazu zweimonatliche Mitarbeiterbesprechungen und sprach von „demokratischer Entscheidungsvorbereitung“: „Wird der Abteilungsleiter in einer Sache überstimmt, findet eine Anhörung beim Betriebsleiter statt. Die Meinungsgegner kommen dort zu Wort. Der Betriebsleiter entscheidet nach den besseren Argumenten (und nicht ‚vom grünen Tisch‘). Eine Automatik ist in Gang gesetzt. Unmut und Kritik an der Basis können sich artikulieren, werden ‚nach oben‘ befördert.“17

16 Mitwirkung am Arbeitsplatz. Eine Dokumentation über Idee, Entwicklung und Praxis des Mohndruck-Modells für mehr Information und Mitsprache, Gütersloh 1977. 17 UA BAG, Sign. 2/11 – 1973–74 (1): „Auf dem Weg zur Verwirklichung der Unternehmensverfassung. Wir bei Bertelsmann. Eine Sozialreportage“.

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Als seit Mai 1975 eine neue schriftliche Fassung zur Mitwirkung am Arbeitsplatz vorlag und im Dezember 1976 eine neue Ordnung der „Mitwirkung am Arbeitsplatz“ in Kraft gesetzt wurde, wurde dies zwar im Unternehmen kontrovers diskutiert, denn einigen Mitarbeitern gingen die Mitwirkungsmöglichkeiten nicht weit genug. Doch mittlerweile hatte sich an der Unternehmensspitze die Auffassung gewandelt. Von Mitbestimmung sprach man betont nicht mehr. Ganz im Sinne der in den folgenden Jahren im Vorfeld einer neuen Revision der Unternehmensverfassung von Reinhard Mohn immer wieder vorgetragenen gesellschaftspolitischen Leitlinie: „Nicht Demokratisierung, sondern Mitsprache am Arbeitsplatz“. Nachdem die 1970er-Jahre für ein gewisses Abtasten danach gestanden hatten, welche Regeln und Spielräume man nun im Spannungsfeld von Unternehmen und Gesellschaft anwenden wollte, war bei Bertelsmann mit der Unternehmensverfassung von 1980 und den damit zusammenhängenden Beratungen die Entscheidung für längere Zeit gefallen. Die neue Unternehmensverfassung wurde zwischen April 1979 und April 1980 diskutiert und erarbeitet. Sie wurde sowohl durch individuelle Entscheidungen Reinhard Mohns mitgeformt, der seinen Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat mit seinem 60. Geburtstag vorbereitete, als auch von dem Versuch, eine unternehmensbezogene Antwort auf das gesellschaftliche Umfeld Ende der 1970er-Jahre zu finden. Der gesellschaftspolitische Ausschuss des Vorstandes, der die Federführung bei der Neufassung der Unternehmensverfassung hatte, sah die Unternehmen in der Bundesrepublik erstmals vor der Notwendigkeit, ihren gesellschaftspolitischen Standort in der Öffentlichkeit explizit zu bestimmen: „Bis weit in die 60er Jahre hinein war dies auch entbehrlich, weil die Position des Unternehmers in der Gesellschaft unangefochten war. Diese allgemeine Akzeptanz des Unternehmerbildes ergab sich allerdings vorwiegend aus der Einsicht ihrer volkswirtschaftlichen Nützlichkeit. Dies hat sich in der Zwischenzeit grundlegend geändert. Es ist heute unerläßlich, die Existenz des freien und sozialverpflichteten Unternehmertums zu legitimieren.“18

Als Protagonist dieser Botschaft trat im Umfeld der Neufassung Reinhard Mohn auf und hielt eine dichte Folge von programmatischen Reden, insbesondere vor den Führungskräften des Unternehmens im September und Oktober 1980 in Gütersloh und München19, aus deren Kreis Kritik an der Neufassung aufgetaucht war. Der Kern der gesellschaftspolitischen Botschaft Mohns bestand in einer expliziten Ablehnung aller Forderungen nach mehr „Demokratie im Unternehmen“. Die Anwendung demokratischer Wahl- und Abstimmungsverfahren als Mittel der Entscheidungsfindung für Unternehmen wies er zurück. Allerdings gab es bei Mohn immer zwei Demokratiebegriffe, die scharf voneinander zu trennen sind: zum einen die übliche Vorstellung politisch-demokratischer Entscheidungsprozes18 UA BAG, Sign. 0007 / 88 (1); dazu im Einzelnen Novellierung der Unternehmensverfassung von 1973, Referat von Dr. Türnau, gehalten am 13.5.1980 vor dem Informationskreis Gütersloh, Referatsvorlage vom 2.5.1980, S. 4. 19 UA BAG, Sign. 0007/692: R. Mohn: „Referat vor den Bertelsmann Führungskräften am 30.10.1980 in München: Demokratie im Unternehmen“.

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se und zum anderen eine besondere Mohn’sche Form wirtschaftlicher Demokratie: Auch in einer Wettbewerbswirtschaft, deren Effizienz auf dem Prinzip der Alleinverantwortlichkeit beruhe, bestehe die Notwendigkeit demokratischer Prozesse. Mohn meinte damit konkret die Dezentralisierung von Entscheidungsvorgängen und die Delegation von Verantwortlichkeiten. Das nannte er Demokratisierung der Führungskonzeption. In der Wirtschaft sei die moderne Führungstechnik wesentlich effektiver verwirklicht als in der Exekutive der Demokratie. Unter eine „fortschrittliche Führungstechnik“ rechnete Mohn auch verschiedene Formen der „Mitbestimmung“, wie die Information der Beschäftigten, das Betriebsverfassungsgesetz, die Mitarbeiterbesprechung, freiwillige Mitwirkung im Aufsichtsrat und das Delegationsverfahren. Strikt davon trennte er die gesetzliche Mitbestimmung im Aufsichtsrat, die er ablehnte: Die Gleichheit von Kapital und Arbeit sei ein Irrweg; allein der Unternehmensauftrag begründe eine Berechtigung zur Einflussnahme auf die Geschäftspolitik; das derzeitige Mitbestimmungsmodell führe über nicht ausreichend qualifizierte Mitarbeiter im Aufsichtsrat zu falschen Führungsentscheidungen. Gemeint waren damit die Gewerkschaften, die er als unternehmensfremde „Funktionäre“ nicht gern bei sich im Haus hatte. Es fehle ihnen das Wichtigste, die fachliche Qualifikation.20 Lieber kooperierte er mit den aus dem eigenen Unternehmen stammenden Betriebsräten, die die unternehmensinterne Sozialisation durchlaufen und internalisiert hatten. Zu den langjährigen Vorsitzenden des Gesamtbetriebsrates wie Martin Wolf oder Jochen Werner pflegte Reinhard Mohn ein besonderes, teils sogar persönliches Vertrauensverhältnis. Seinen Ausdruck fand dieses herausgehobene Verhältnis darin, dass Mohn ohne gesetzliche Verpflichtung seit Gründung der Aktiengesellschaft den Vorsitzenden und den stellvertretenden Vorsitzenden des Konzernbetriebsrates in den Aufsichtsrat aufnahm.21 Auch die Versuche in den 1970erJahren, auf der Ebene von Spitzengesprächen die Kommunikation mit den Gewerkschaften zu verbessern, gestalteten sich offenbar sehr schwierig. Nach dem Besuch des Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes Heinz Oskar Vetter bei Bertelsmann am 7. Februar 1974 konstatierte Reinhard Mohn: „Ich bin der Auffassung, daß der Spielraum für einen Leistungsbeitrag der Gewerkschaften in unserem Betrieb angesichts der konkurrierenden Haltung von Gewerkschaft einerseits und 22 unserer Auffassung andererseits klein ist.“

Vetter habe herausgestellt, die Gewerkschaft wirke „fremdkörperhaft“ im Unternehmen Bertelsmann.23

20 Ebd. 21 Vgl. Kurt H. Biedenkopf: „Im Dienst der Gemeinschaft. Das soziale Modell Bertelsmann“, in: 150 Jahre Bertelsmann 1835–1985. Die Geschichte des Verlagsunternehmens in Texten, Bildern und Dokumenten, Gütersloh 1985, S. 379–400, hier S. 384. 22 UA BAG, Sign. 0058/44(4): Zitate nach der internen Berichterstattung über das Treffen durch Harnischfeger, 10.4.1974. 23 Ebd.

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Doch nicht nur von Gewerkschaftsseite, sondern auch aus den Reihen der eigenen Führungskräfte stieß die neue Unternehmensverfassung auf Vorbehalte. Eine Arbeitsgruppe der Bertelsmann-Führungskräfte vertrat Ende 1979 „die Auffassung, daß der Vorstandsvorschlag in seinen essentiellen Teilen restriktiver gehalten ist als die alte Fassung. Beispiele hierfür sind: Aktive Gegnerschaft zu den Zielen des Unternehmens wird nicht geduldet. – Die Beteiligung der Mitarbeiter am Gewinn und Kapital wird nur noch für wichtig, aber nicht mehr für erforderlich gehalten“24.

Die Führungskräfte forderten mehr Diskussionen und eine „kritische Betrachtung“ der Leitsätze der Führung: „Wir meinen deshalb, daß wir nicht ‚Hals über Kopf‘ eine novellierte Unternehmensverfassung auf den Tisch bekommen sollten.“25 Hier äußert sich ein neues Selbstbewusstsein einer Führungselite, die sich angesichts des angekündigten Rückzuges Reinhard Mohns von der Position des Vorstandsvorsitzenden für ihre eigenen Handlungsspielräume vielleicht mehr erwartet hatte. Als Kompromiss erhielten die Führungskräfte „aufgrund der zum Teil kontroversen Diskussionen“ schließlich eine sogenannte Öffnungsklausel, wonach die konkrete Umsetzung der Unternehmens- und Führungskultur dem „jeweiligen Umfeld“ (das konnte ein Konzernteil oder auch ein ausländischer Standort sein) Rechnung tragen sollte. Es ist in Geschichte und Gegenwart von Unternehmen schwierig, Unternehmenskultur nicht nur an ihren Ansprüchen und dem Wortlaut ihrer Leitsätze zu messen, sondern auch herauszufinden, wie Unternehmenskultur in der Realität praktiziert und wahrgenommen wurde. Zum einen will ein Unternehmen natürlich wissen, ob die eingesetzten Mittel und Kosten zum Erfolg des Unternehmens beitragen. Zum anderen gilt das Unternehmensinteresse der Verfeinerung möglicher Steuerungseffekte durch unternehmenskulturelle Mittel. Schließlich müssen auch die sozialen und gesellschaftlichen Zielvorgaben eines Unternehmens realisiert und kommuniziert werden können. Beides lässt sich im Falle Bertelsmann an einem markanten Beispielen verdeutlichen: dem Instrument der Mitarbeiterbefragung. Im Unternehmen Bertelsmann kam um die Mitte der 1970er-Jahre ein zunehmendes Interesse an den Wirkungen und Wahrnehmungen von Unternehmensund Führungskultur auf. Ziel der Mitarbeiterbefragungen, die das Unternehmen selbst 1977 durchführte und 1982 wiederholte, war es, Anspruch und Wirklichkeit der Unternehmenskultur bei Bertelsmann zu überprüfen. Reinhard Mohn kündigte im Frühjahr 1977 bei der Bilanzpressekonferenz des Unternehmens erstmals eine Befragung aller Mitarbeiter an. Sie sollte Auskunft darüber geben, wie die Mitarbeiter selbst die sozialen Leistungen und den Identitätsanspruch des Unternehmens einschätzten: ,,Schließlich hat das alles ja nur Sinn, wenn unsere eigenen Leute überzeugt davon sind, daß was hier auf sozialem Gebiet geschieht, ihre ur-

24 UA BAG, Sign. 0059/22(2): Stellungnahme und Neuformulierung der BertelsmannFührungskräfte zur Unternehmensverfassung vom 17.8.1979, gerichtet an den Vorstandsvorsitzenden Mark Wössner, gez. von Adomeit, Imhoff, Preiß, hier S. 2. 25 Ebd.

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eigenste Angelegenheit ist.“26 Alle 8 000 Mitarbeiter der inländischen Bertelsmann-Unternehmen sollten in einer groß angelegten Fragebogenaktion ihre Meinung zum „Sozialen Modell Bertelsmann“ äußern. Zu diesem Zweck hatte der Vorstand eine eigene Kommission eingesetzt, die einen etwa 50 Fragen umfassenden Katalog entwickeln sollte, an der auch der Konzernbetriebsrat beteiligt war. Zwar sind die veröffentlichten Ergebnisse der Mitarbeiterbefragungen nicht gleichzusetzen mit wissenschaftlichen empirischen Befunden. Aber dennoch sind diese anonymen und vertraulichen Befragungen eine seltene und wertvolle Quelle, um mehr über die Innenansicht einer gelebten Unternehmenskultur zu erfahren. Im Jahre 1977 lag die Beteiligung an der Befragung bei rund 75 Prozent, 1982 bei der nur wenig veränderten zweiten Befragung bei 73 Prozent, was in absoluten Zahlen rund 6 000 Mitarbeitern entsprach.27 Die große Mehrheit der Befragten gab an, sie würde wieder bei Bertelsmann arbeiten. Die wichtigste Ursache hierfür war die hohe Zustimmung zu fast allen Belangen der betrieblichen Sozialleistungen, die in konkreten Aspekten, wie eine Verbesserung des Kündigungsschutzes älterer Mitarbeiter oder längere Zahlungen im Krankheitsfall, als Ergebnis der ersten Befragung bis 1982 weiter verbessert wurden. Hier konnte das Unternehmen also auf Konsequenzen aus der ersten Befragung verweisen und wurde dafür mit hohen Zustimmungsraten belohnt. Doch es gab auch Überraschungen. Die Unternehmensführung hatte den ausdrücklichen Wunsch zu erfahren, „ob die Ziele, die sich das Unternehmen für humane Arbeitsbedingungen, Verständnis zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, gemeinsames Interesse am Unternehmenserfolg usw. gesetzt hat, nur auf dem Papier stehen oder ob sie in Wirklichkeit umgesetzt worden sind“28.

Im Ergebnis vergaben die Befragten unerwartet schlechte Noten für Kriterien wie Anerkennung durch Vorgesetzte und Erfolgserlebnisse bei der Arbeit, das heißt zentrale Eckpunkte der Bertelsmann’schen Unternehmens- und Führungskultur. Das Ergebnis dürfte ein Schock für die Unternehmensleitung gewesen sein und löste ein ausgedehntes Krisenmanagement aus. Eine spezielle Analysegruppe des Vorstandes sparte nach sechs Sitzungen zwischen Januar und April 1983 im publizierten Bericht nicht mit Selbstkritik: „Die erlebte Führungspraxis steht aus Sicht der Mitarbeiter insgesamt, aber auch teilweise nach Einschätzung der Führungskräfte, nicht immer im Einklang mit den geäußerten Prinzipien.“29

26 Technik Intern, 10/1977, Punkt 117. 27 Vgl. Bertelsmann report, 100, September 1977, S. 4–6; Bertelsmann report, 103, Dezember 1977, S. 4–12; Bertelsmann report, 145, November 1982, S. 2–12. 28 Interview mit Franz Netta, dem Beauftragten der Kommission „Mitarbeiterbefragung“, in: Bertelsmann report, 100, September 1977, S. 4. 29 „Informationen für die Führungskräfte des Hauses Bertelsmann“, in: Bertelsmann Berichte, Nr. 16, November 1983, S. 2f.

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Anforderungen an Vorgesetzte wie Glaubwürdigkeit, umfassende Information, kooperative Problemlösungen, Gerechtigkeit in der Beurteilung der Mitarbeiter, Anerkennung des Leistungsbeitrages und Stärkung des Selbstwertgefühls für den einzelnen Mitarbeiter seien nicht immer im erhofften Maße erfüllt worden. Als Ergebnis der Mitarbeiterbefragung sah die Unternehmensführung allerdings keinen neuen Bedarf an konkreten Maßnahmen, dazu war die Beurteilung konkreter Elemente viel zu positiv ausgefallen. Vielmehr war offensichtlich der gelebte praktizierte Führungsstil die kritische Nahtstelle. Die Unternehmensleitung betonte in ihren Stellungnahmen denn auch die Notwendigkeit einer qualitativen Offensive, einer „kontinuierlichen Verbesserung des praktizierten Führungsverhaltens aller Ebenen“, um Vertrauen wiederzugewinnen, Identifikation mit den Unternehmenszielen zu erreichen, Gefühle der Unsicherheit und Ungerechtigkeit abzubauen und die Motivation und Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter zu steigern. In seltener Klarheit zeigte sich am Beispiel der Mitarbeiterbefragungen das ganze Dilemma jeder Unternehmenskultur: Denn sie wird niemals alle Beteiligten rundum zufriedenstellen; sie kann die ungleiche Informiertheit von Beauftragendem und Beauftragtem nicht auflösen; sie ebnet weder alle Hierarchien ein noch hebt sie alle individuellen Schwächen auf. Aber sie kann auf die Deutungen des Sinnes der Arbeit und der Arbeitsgerechtigkeit im Unternehmen reagieren. Wenn sie sich nicht abschottet, kann sie auf einen Wandel des in das Unternehmen hineinreichenden Zeitgeistes reagieren, der um 1980 deutliche Signale einer zunehmenden Empfindlichkeit gegenüber hergebrachten Führungsstilen und -ritualen aussandte. Bewertung Die Debatte um die Kategorie „Kultur“ in den Geschichtswissenschaften ist lange Zeit fast ausschließlich von Exponenten einer kultur- und sozialgeschichtlichen Provenienz geführt worden, die die Wirtschaft erst gar nicht mitbehandelten, so fern lag sie ihnen. Nicht besser sah es bei den meisten Wirtschaftshistorikern aus: Wer sich primär mit der Wirtschaft beschäftigte, beschäftigte sich kaum mit ihrer Kultur. Die Anwendung der Kategorie Kultur auf die Unternehmensgeschichte kann beispielhaft zeigen, dass jede Art von ökonomischen Interaktionen in jedem denkbaren Organisationstyp (Markt, Unternehmung, hybride Organisationen) und auf allen Hierarchieebenen wirtschaftlichen Handelns auf kulturellen Normen, Symbolen, Mustern und Strategien aufbaut. Es fehlen allerdings noch viele Antworten auf die Frage, wie hoch der Anteil kultureller Prägungen an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von Unternehmen oder ganzen Volkswirtschaften einzuschätzen ist. Als gesichert darf gelten, dass in modernen Industriegesellschaften die Unternehmenskultur und ihre wirtschaftlichen Sinndeutungsmuster als zentrales Mittel der Unternehmenssteuerung und des Unternehmenserfolges zu begreifen sind. Das Konzept Unternehmenskultur ist als Analysekategorie im Rahmen

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eines institutionentheoretischen Forschungsansatzes für solche Untersuchungen tragfähig. Literatur Bohnet, Iris: Kooperation und Kommunikation. Eine ökonomische Analyse individueller Entscheidungen, Tübingen 1997. Hirschman, Albert O.: Exit, Voice and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations and States, Cambridge/Mass. 1970. 175 Jahre. Eine Bertelsmann Zukunftsgeschichte, Gütersloh 2010; englische Ausgabe u.d.T.: 175 Years of Bertelsmann. The Legacy for our Future, Gütersloh 2010. Söllner, Albrecht: Die Schmutzigen Hände. Individuelles Verhalten in Fällen von institutionellen Misfits, Tübingen 2000. Wischermann, Clemens/ Nieberding, Anne/Stücker, Britta (Hg.): Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen. Theorie und Praxis in historischer Perspektive, Dortmund 2003.

4.2.4 KAPITALISMUSFORMEN: FAMILIENUNTERNEHMEN IN DEUTSCHLAND UND IN DEN USA Christina Lubinski Der Varieties of Capitalism-Ansatz dient zur Erklärung von Unterschieden in der Organisationsstruktur und der Wirtschaftlichkeit von Unternehmen, die sich aus den jeweiligen nationalen Rahmenbedingungen ergeben. Dabei werden Unternehmen als System von Praktiken konzeptionalisiert, deren Befolgung von den beteiligten Akteuren erwartet wird und in einigen Fällen auch durch formale Sanktionen eingefordert werden kann. Während der Ansatz von Politik- und Wirtschaftswissenschaftlern entwickelt und vielfach verwendet worden ist, ist sein Einsatz in der Unternehmensgeschichte bisher nur sporadisch erfolgt. Die Stärke des Varieties of Capitalism-Ansatzes für die Unternehmensgeschichte liegt darin, Kontextfaktoren und ihre Bedeutung für Unternehmen sichtbar zu machen und international zu vergleichen. Dabei können die Beziehungen von Unternehmen zu Wirtschaftssystemen verschiedene Formen annehmen. Vielfach diskutiert wurden bisher jedoch zwei Idealformen: die liberale Marktwirtschaft („liberal market economy“) und die koordinierte Marktwirtschaft („coordinated market economy“), die sich besonders deutlich voneinander unterscheiden. Schwächen des Varieties of Capitalism-Ansatzes sind insbesondere die starre Struktur dieser Idealformen, die sich in der Realität selten in dieser Deutlichkeit finden und die insbesondere nicht geeignet sind, historischen Wandel abzubilden. Zudem steht die Bedeutung des Nationalstaates und der mit ihm verbundenen institutionellen Rahmenbedingungen infrage, wenn Unternehmen sich zunehmend global ausrichten und zwischen- und überstaatliche Regulierungen Eingang in das politische System finden. Dieser Beitrag erprobt den Varieties of Capitalism-Ansatz am Beispiel von Familienunternehmen in Deutschland und den USA und beschäftigt sich dafür mit der Frage der Rechtsformwahl in Familienunternehmen. Konzeptspezifikation Der Varieties of Capitalism-Ansatz dient zur Erklärung nationaler Unterschiede in Organisationen und der Wirtschaftlichkeit von Unternehmen.1 Er stellt eine Zusammenführung von Institutionenökonomik und Makroökonomie mit besonderem

1

Vgl. Peter A. Hall, David Soskice: An Introduction to Varieties of Capitalism, in: Peter A. Hall, David Soskice (Hg.): Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001, S. 1–68.

Kapitalismusformen

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Fokus auf Unternehmen dar.2 Dabei werden Unternehmen als System regularisierter Praktiken konzeptionalisiert, deren Befolgung von den beteiligten Akteuren erwartet wird und in einigen (nicht jedoch allen) Fällen auch durch formale Sanktionen eingefordert werden kann (Beispiel Arbeitsschutzgesetze). Der VOC-Ansatz geht davon aus, dass das Handeln von Unternehmen durch formale und informelle Regeln beschränkt ist. Gleichzeitig versteht er diese Regeln aber auch als Ressource, die kollektives Handeln erst ermöglicht. Unternehmen besitzen demnach Kompetenzen, die von der Qualität der Beziehungen mit anderen Akteuren (Produzenten, Mitarbeiter, andere Firmen) abhängig sind. Diese Beziehungen werden wiederum von politischen und sozialen Institutionen beeinflusst, die größtenteils nationalstaatlich organisiert sind. Unternehmerische Strategien sind in der Regel nicht nur von einer Institution oder Verhaltenserwartung geprägt, sondern von einer Kombination vieler bestehender Spielregeln. Zu sagen, dass Spielregeln und Institutionen bestimmte Verhaltensweisen als „angemessen“ im Rahmen eines kulturellen Raumes erscheinen lassen, bedeutet nicht, dass alle Akteure sich ihnen sklavisch unterordnen. Einzelne Akteure können sich zu bestimmten Zeitpunkten durchaus gegen Regeln stellen, sie kritisieren oder sogar ersetzen. Während der VOC-Ansatz grundsätzlich davon ausgeht, dass die Beziehungen von Unternehmen zu Wirtschaftssystemen unzählige unterschiedliche Formen annehmen können, unterscheidet er insbesondere zwischen zwei Idealformen: der liberalen Marktwirtschaft („liberal market economy“) und der koordinierten Marktwirtschaft („coordinated market economy“). Die liberale Marktwirtschaft zeichnet sich idealtypisch durch wettbewerbsfokussierte Marktstrukturen aus, die vor allem durch Angebot und Nachfrage geregelt werden. Die Literatur charakterisiert sie als Wirtschaftssystem, in dem Beziehungen zwischen Unternehmen eher kompetitiv als kooperativ sind, Arbeitsbeziehungen eher kurzlebig sind und Lohnverhandlungen auf der Ebene von Unternehmen stattfinden. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ist verhältnismäßig gering, die Einkommensverteilung eher ungleich und das politische System unterstützt Deregulierungen, Anti-TrustGesetze und Steuervorteile für Unternehmen. Im Gegensatz dazu basieren koordinierte Marktwirtschaften idealtypisch mehr auf der strategischen Interaktion zwischen Firmen und anderen Marktakteuren. Die Beziehungen zwischen Unternehmen sind eher kooperativ, Arbeitsverhältnisse sind im Vergleich stabiler und auf Langfristigkeit ausgerichtet, Lohnverhandlungen finden auf Branchenebene statt, die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ist hoch, die Einkommensverteilung ist ausgeglichener und das politische System unterstützt Informationsflüsse zwischen Unternehmen und ihre Zusammenarbeit. Oft zitierte Beispiele in der Literatur für liberale Marktwirtschaften sind die USA und Großbritannien; Beispiele für koordinierte Marktwirtschaften sind Deutschland und die Länder Skandinaviens, wobei innerhalb dieser Blöcke weite2

Vgl. Robert Boyer: The Regulation School: A Critical Introduction, New York 1990; Paul R. Milgrom, John Roberts: Economics, Organization, and Management, Englewood Cliffs/N.J. 1992.

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re Differenzierungen vorgenommen werden können und wurden. Durch den systematischen Vergleich beider Systeme hat die VOC-Forschung die deutlichen Unterschiede zwischen Unternehmen in verschiedenen nationalen und kulturellen Kontexten herausgearbeitet, die das Handeln von Wirtschaftsakteuren und Organisationen beeinflussen. Diese betreffen eine breite Spannweite von Themen von nationalen Ausbildungssystemen über die Rolle von Banken oder Gewerkschaften bis zum organisierten Kapitalmarkt.3 Nicht für alle Themenbereiche ist die Differenz zwischen koordinierten und liberalen Marktwirtschaften relevant und sichtbar, und in vielen Fällen haben sich die Idealtypen als Ausnahme erwiesen.4 Der VOC-Ansatz hilft jedoch dabei, nationale Unterschiede zu erkennen und insbesondere den systematischen Vergleich in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. Operationalisierung Dieser Beitrag illustriert die Potenziale und Risiken einer unternehmensgeschichtlichen Analyse im Sinne des VOC-Ansatzes am Beispiel von Familienunternehmen, d.h. Unternehmen, die maßgeblich von einer Familie beeinflusst werden. Die Schnittmenge von VOC-Ansatz und Familienunternehmen ist bisher kaum untersucht worden. Offensichtlich haben aber nationale Kontextfaktoren auch Auswirkungen auf die Potenziale und Risiken von Familienunternehmen.5 Sie gelten für alle Unternehmen, haben aber spezifische Konsequenzen für diese Form der Unternehmensorganisation. Die Literatur zu Familienunternehmen hat lange um eine Definition ihres Objektes gerungen und verschiedene Spezifika diskutiert, die Familienunternehmen von anderen Organisationsformen unterscheiden. In diesem Beitrag werden Familienunternehmen als Unternehmen definiert, die maßgeblich – durch Kontrolle über Eigentum – von einer Familie beeinflusst werden. Kontrolle lässt sich jedoch auf unterschiedlichen Wegen erreichen und muss deshalb nicht zwangsläufig Mehrheitseigentum bedeuten. Vorzugsaktien oder verschachtelte Unternehmensstrukturen ermöglichen es Eigentümern mitunter, ihre Kontrolle zu wahren, während sie Mehrheitseigentum abgeben. Die Literatur hat auch andere Definitions3

4 5

Vgl. Bob Hancké, Martin Rhodes, Mark Thatcher (Hg.): Beyond Varieties of Capitalism: Conflict, Contradiction, and Complementarities in the European Economy, Oxford u.a. 2007; Matthew M. C. Allen: The Varieties of Capitalism Paradigm: Explaining Germany’s Comparative Advantage?, Basingstoke u.a. 2006; Uwe Becker: The Changing Political Economies of Small West European Countries, Amsterdam 2011; David Rueda, Jonas Pontusson, Cornell University. Institute for European Studies (Hg.): Wage Inequality and Varieties of Capitalism, Ithaca/NY 1997; Geoffrey Edward Wood, Philip James: Institutions, Production, and Working Life, Oxford u.a. 2006. Vgl. die verschiedenen Beispiele in Susanna Fellman u.a. (Hg.): Creating Nordic Capitalism: The Business History of a Competitive Periphery, Basingstoke u.a. 2008. Vgl. Andrea Colli, Paloma Fernández Pérez, Mary B. Rose: National Determinants of Family Firm Development? Family Firms in Britain, Spain, and Italy in the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Enterprise & Society 4 (2003), S. 28–64.

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merkmale diskutiert, beispielsweise das Selbstverständnis als Familienunternehmen oder die Einflussnahme über Managementpositionen, mitunter sogar in der Form von Managerdynastien, in denen leitenden Positionen in Familien „vererbt“ werden.6 Die Einflussnahme über Eigentum zeichnet sich anderen Definitionsmerkmalen gegenüber dadurch aus, dass sie besser empirisch messbar ist, was ein Grund dafür sein mag, dass dieser Aspekt häufig Forschungsarbeiten zugrunde liegt.7 Ein weiterer wichtiger Aspekt wurde u.a. von Mark Casson diskutiert. Er fokussiert auf das Zeitverständnis von Familienunternehmern und sieht den entscheidenden Unterschied zu anderen Organisationsformen darin, dass Familienunternehmen einen generationsübergreifenden Anspruch haben.8 Dieses „dynastische Motiv“ beeinflusst strategische Entscheidungen in Unternehmen, weil dem langfristigen Überleben ein höherer Stellenwert zugemessen wird als kurzfristigen Gewinnen. Ein dynastisches Selbstverständnis ist jedoch kein festes Konstrukt, sondern Ergebnis sozio-kultureller Verhandlungen zwischen Individuen. Familienunternehmen und die in ihnen aktiven Individuen verändern sich und ihre Überzeugungen im Zeitverlauf und in Reaktion auf äußere Einwirkungen.9 Die Familienunternehmensforschung hat zuletzt große Fortschritte gemacht, und Familienunternehmen sind zu einem wichtigen Thema der deutschen und internationalen Unternehmensgeschichtsschreibung geworden.10 Trotz dieser Welle von Aufmerksamkeit sind empirische Arbeiten oft einer starren Polarität verhaftet geblieben. Das sogenannte „klassische“ Familienunternehmen wird dabei schematisch gegen das vermeintlich modernere Managerunternehmen abgesetzt. Der Typus des modernen Managerunternehmens geht auf die Arbeiten des Unternehmenshistorikers Alfred D. Chandler zurück, der die interne Entwicklung nord6

Vgl. beispielsweise den Tagungsbeitrag von Christian Marx, Benjamin Obermüller: How to Become an Entrepreneur? Paul und Hermann Reusch als erfolgreiche Managerdynastie im 20. Jahrhundert. Tagungsbericht Unternehmensgeschichte trifft Entrepreneurship. 09.11.2012–10.11.2012 Berlin, in: H-Soz-u-Kult, online unter http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/ tagungsberichte/id=4568 (Zugriff 08.01.2013). 7 Für einen Überblick über die Definitionsdebatte vgl. Carole Howorth, Mary B. Rose, Eleanor Hamilton: Definitions, Diversity and Development: Key Debates in Family Business Research, in: Mark Casson u.a. (Hg.): The Oxford Handbook of Entrepreneurship, Oxford 2008, S. 225–247. 8 Vgl. Mark Casson: The Family Firm. An Analysis of the Dynastic Motive, in: Mark Casson (Hg.): Enterprise and Leadership. Studies on Firms, Markets and Networks, Cheltenham u.a. 2000, S. 197–235. 9 Vgl. als ein Beispiel für derartige Verhandlungen Christina Lubinski: Siemens’ Early Business in India: A Family Multinational’s Quest for Unity, 1847–1914, in: Christina Lubinski, Jeffrey Fear, Paloma Fernández Perez (Hg.): Family Multinationals: Entrepreneurship, Governance, and Pathways to Internationalization, New York 2013, S. 38–54. 10 Aus der Fülle von Literatur vgl. exemplarisch Christina Lubinski: Familienunternehmen in Westdeutschland. Corporate Governance und Gesellschafterkultur seit den 1960er Jahren, München 2010; Andrea Colli: The History of Family Business 1850–2000, Cambridge 2003; Hartmut Berghoff: The End of Family Business? The Mittelstand and German Capitalism in Transition, 1949–2000, in: Business History Review 80/2 (2006), S. 263–295; Andrea Colli, Carole Howorth, Mary Rose: Long-Term Perspectives on Family Business, in: Business History 55 (2013), S. 841–854.

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amerikanischer Großkonzerne mit den Erfahrungen in Deutschland und Großbritannien vergleicht.11 Für ihn geht der Erfolg nordamerikanischer Unternehmen, insbesondere im Vergleich mit anderen weniger erfolgreichen Nationen, wie etwa Großbritannien, auf die Trennung von Eigentum und Kontrolle und die Professionalisierung des Managements zurück. Indem er diese Trends für den Erfolg dieser Unternehmen verantwortlich macht, stigmatisiert er zugleich das Familienunternehmen als altmodisches Relikt vergangener Epochen. Chandlers Analyse hat die Forschung zu Familienunternehmen langfristig geprägt und nach wie vor arbeiten sich Unternehmenshistoriker an seinen prägnanten Thesen ab. Während Chandlers Analyse der Organisationsveränderungen in Großunternehmen in vielerlei Hinsicht bahnbrechend war, so ist sie auch teleologisch und nimmt die Entwicklungen in den USA zum Modell, an dem andere Wirtschaftssysteme sich vermeintlich messen lassen müssten.12 In vieler Hinsicht fehlt Chandlers Analyse eine stärkere Sensibilität für die Varieties of Capitalism und die Unterschiede nationaler Wirtschaftssysteme. Chandlers Kritiker haben die Vor- und Nachteile beider Organisationsformen – Familien- und Managerunternehmen – diskutiert und auf die Existenz von hybriden Formen hingewiesen.13 Dabei betonen sie insbesondere, dass beide Organisationsformen in ihrem nationalen und historischen Umfeld verortet werden müssen, um sie evaluieren und vergleichen zu können. Diese Diskussion hat zu einem Neuverständnis von Familienunternehmen geführt und verlangt explizit nach internationalen Vergleichen,14 für welche der VOC-Ansatz in besonderer Weise gewinnbringend ist. Fallbeispiel Anhand einer Analyse von deutschen Familienunternehmen will dieser Beitrag den VOC-Ansatz exemplifizieren. Er untersucht dafür den rechtlichen und ökonomischen Kontext in Deutschland im Vergleich zu den USA und fragt, wie dieser die Spielregeln und Erwartungen für Familienunternehmen beeinflusst. Diese Frage ließe sich anhand verschiedener Themen diskutieren. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Wahl der Rechtsform im Rahmen des nationalen Gesell11 Vgl. Alfred D. Chandler: The Visible Hand. The Managerial Revolution in American Business, Cambridge/Mass. 1977; Alfred D. Chandler: Scale and Scope: The Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge/Mass. 1990. 12 Vgl. Leslie Hannah: ‚The Divorce‘ of Ownership from Control from 1900 Onwards: Recalibrating Imagined Global Trends, in: Business History 49 (2007), S. 404–438. 13 Vgl. Jeffrey Fear: Organizing Control: August Thyssen and the Construction of German Corporate Management, Cambridge/Mass. 2005; Hartmut Berghoff: Blending Personal and Managerial Capitalism: Bertelsmann’s Rise from Medium-sized Publisher to Global Media Corporation and Service Provider, 1950–2010, in: Business History 55 (2013), S. 855–874. 14 Vgl. Colli (2003); Harold James: Familienunternehmen in Europa. Haniel, Wendel und Falck, München 2005; Andrea Colli, Mary B. Rose: Family Firms in Comparative Perspective, in: Franco Amatori, Geoffrey Jones (Hg.): Business History Around the World at the Turn of the Century, Cambridge 2003, S. 339–352; Colli, Fernández Pérez, Rose (2003).

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schaftsrechtes und damit eng verbunden den Zugang zum Kapitalmarkt. Dabei gehe ich davon aus, dass dynastische Familienunternehmen zwei, mitunter widerstreitende Ziele verfolgen: Auf der einen Seite streben sie nach ökonomischem Erfolg und Wachstum; auf der anderen Seite versuchen sie, den Einfluss der Familie auf das Unternehmen langfristig zu sichern und vor äußeren Einflüssen zu schützen. Die Wahl ihrer Organisationsstruktur reflektiert diese komplexe Zielfunktion. Sie ist der Versuch, eine gelungene Balance zu finden zwischen der Unabhängigkeit des Unternehmens auf der einen Seite und dem Versuch, die Möglichkeiten des Marktes optimal auszuschöpfen, auf der anderen Seite. Liegt der Fokus einseitig auf der Autonomie des Unternehmens, so mag dies zu Schwierigkeiten führen, weil externes Kapital und Wissen nicht optimal in das Unternehmen integriert werden können. Ist ein Unternehmen zu offen für Ressourcen und Einflüsse von außerhalb der Familie, so kann dies wiederum die Unabhängigkeit als Familienunternehmen gefährden. Erfolgreichen Familienunternehmen gelingt es in der Regel, eine optimale Balance zwischen Autonomie und Offenheit zu finden.15 Weil diese wiederum abhängig ist von der institutionellen Umgebung und dem sozio-politischen Kontext des Unternehmens, ist der VOC-Ansatz eine sinnvolle theoretische Rahmung für Untersuchungen zu Familienunternehmen. Das Beispiel des Maschinenbauunternehmens Deckel soll dies verdeutlichen. Deckel wurde 1903 als Privatunternehmen gegründet. Wie es die Regel war, übernahm Familie Deckel während der Frühphase wichtige Funktionen im Unternehmen.16 Sie stellte finanzielles und personelles Kapital zur Verfügung, sorgte dafür, dass Kenntnisse und Fähigkeiten von einer Generation an die nächste transferiert wurden und schaffte im günstigsten Fall (Gegenbeispiele sind bekannt) ein Netzwerk des Vertrauens. Unternehmerische Aktivitäten bauten fast zwangsläufig auf Gemeinschaften, wie der Familie, aber auch religiösen Gemeinschaften, regionalen Netzwerken und anderen Sozialverbänden auf, weil weder der Markt noch der Staat diese Funktionen zu erfüllen vermochten. Die Entwicklung des Aktienmarktes im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts offerierte Unternehmen theoretisch Alternativen zu dieser Form der Unternehmensorganisation. Für Großunternehmen wurde die Kombination aus Aktiengesellschaft und organisiertem Kapitalmarkt eine wichtige Kapitalquelle, sodass die Aktivitäten am Aktienmarkt zunahmen.17 Mehr und mehr gaben Unternehmen Aktien aus, statt sich allein über Bankkredite zu finanzieren. Insbesonde15 Vgl. dazu Christina Lubinski: Path Dependency and Governance in German Family Firms, in: Business History Review 85 (2011), S. 699–724. 16 Vgl. Jürgen Kocka: Familie, Unternehmer und Kapitalismus. An Beispielen aus der frühen deutschen Industrialisierung, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 24 (1979), S. 99– 135. 17 Eine ähnliche Entwicklung ist auch in Großbritannien zu beobachten. Vgl. Caroline Fohlin: The History of Corporate Ownership and Control in Germany, in: Randall K. Morck (Hg.): A History of Corporate Governance Around the World. Family Business Groups to Professional Managers, Chicago 2005, S. 223–277; Caroline Fohlin: Relationship Banking, Liquidity and Investment in the German Industrialization, in: Journal of Finance 53 (1998), S. 1737–1758; Hannah (2007).

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re während der Jahre 1871 bis 1873, die als Gründerboom bekannt wurden, wagten vielen Unternehmen den Schritt an die Börse, und die Zahl der Aktiengesellschaften stieg von 200 vor 1870 auf über 1 000 kurz danach. Diesem Boom folgte jedoch ein Gründerkrach und damit einhergehend eine zunehmende Insolvenzquote bei Unternehmen. Als Konsequenz daraus wurden Änderungen des Gesellschaftsrechtes etabliert, die sowohl die Haftung des Unternehmers erhöhten als auch dazu zwangen, der Öffentlichkeit mehr und mehr interne Informationen preiszugeben.18 Seither ist der Zugang zum organisierten Kapitalmarkt in Deutschland im Vergleich zu den USA relativ kostenträchtig. Nichtsdestotrotz stieg die Zahl der Ak-tiengesellschaften bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges weiter an. In den meisten Fällen hielten jedoch Großaktionäre eine Mehrheit der Anteile und kontrollierten die Unternehmen. Im Vergleich mit den USA blieb die Zahl der AGs relativ gering. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges gab es in Deutschland ca. 5 100 Aktiengesellschaften (weniger als 0,1 pro 1 000 Menschen) gegenüber 250 000 in den USA (2,5 pro 1 000 Menschen).19 Deutsche Familienunternehmen setzten ihren Schwerpunkt mehrheitlich auf Unabhängigkeit − auf Kosten des Zuganges zu externen Ressourcen. Im Vergleich zu amerikanischen Familienunternehmen hatten deutsche Firmen auch deshalb die Möglichkeit, sich gegen die Aktiengesellschaft zu entscheiden, weil ihnen das nationale Gesellschaftsrecht Alternativen eröffnete. Die Kommanditgesellschaft beispielsweise besaß eine große Anziehungskraft für deutsche Familienunternehmen, weil in ihr nur der Komplementär eine persönliche unbeschränkte Haftung einging, während die Haftung der Kommanditisten auf ihre Einlage beschränkt war. Die Rechtsform der GmbH, die 1892 in das deutsche Gesellschaftsrecht eingeführt wurde, stellte ebenfalls eine kostengünstigere und weniger regulierte Alternative zur Aktiengesellschaft dar.20 Im Familienunternehmen Deckel bestimmte der Gesellschaftsvertrag von 1940, dass das Unternehmen als Zwei-Familienunternehmen (im Unternehmen auch zwei-„Stamm“-Organisation genannt) zu führen sei. Noch zu Lebzeiten des Gründers Friedrich Deckel wurden seine beiden Söhne Hans und Fritz, aber auch die Ehefrau des Gründers, Kreszenz Deckel, zu Mitgesellschaftern bestimmt. Der Vertrag etablierte gleichzeitig die Organisationsform der Unterbeteiligung, die im Prinzip eine ähnliche Struktur wie in der Kommanditgesellschaft schuf. Diese sah vor, dass jeder Familienzweig einen Familienunternehmer stellte und die nicht geschäftsführenden Gesellschafter an dem Anteil des „Stamm“-Vertreters unter18 Vgl. Julian Franks, Colin Mayer, Hannes F. Wagner: The Origins of the German Corporation. Finance, Ownership and Control, in: Review of Finance 10 (2006), S. 537–585; Carsten Burhop: The Underpricing of Initial Public Offerings in Imperial Germany, 1870–1896, in: MPI Collective Goods Preprint No. 2008/46, online unter http://ssrn.com/ abstract=1311265 (Zugriff 13.04.2015). 19 Vgl. Timothy Guinnane u.a.: Putting the Corporation in its Place, in: Enterprise & Society 8 (2007), S. 687–729, hier S. 694. 20 Vgl. Naomi R. Lamoreaux: Scylla or Charybdis? Historical Reflections on Two Basic Problems of Corporate Governance, in: Business History Review 83 (2009), S. 9–34; Guinnane u.a. (2007).

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beteiligt würden. Die Unterbeteiligung gewährte eine Teilnahme an Gewinn und Verlust der Firma. Sie sollte für fünf Jahre unkündbar und anschließend mit einer Kündigungsfrist von einem Jahr verkäuflich sein. Da ihr Wert sich nach der Vermögenssteuerbilanz, ohne Hinzuziehung stiller Reserven, ideeller Geschäftswerte oder laufender Geschäfte bemaß, war der Verkauf der Anteile finanziell wenig attraktiv. Der Vertrag bestimmte weiter, dass die Unterbeteiligung nicht übertragbar sei, aber schon zu Lebzeiten an männliche, eheliche Abkömmlinge vererbt werden könnte. Der Gesellschaftsvertrag war folglich von einer zusätzlichen Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Familiengesellschaftern geprägt, wobei Männer eine privilegierte Position innehatten. Diese Bevorzugung diente u.a. der Vorbereitung einer möglichen Führungsnachfolge, von der Frauen in der Regel ausgeschlossen waren. Nach dem Tod des Gründers Friedrich 1948 wurden Fritz und Hans Deckel gemeinsam Familienunternehmer. Ihre Mutter war Gesellschafterin, die laut Gesellschaftsvertrag im Prinzip alle Rechte einer Kommanditistin haben sollte. 1967 verstarb Fritz Deckel und vererbte seine Anteile innerhalb seines Familienzweiges seiner Ehefrau Margarete sowie seinen Kindern Michael und Rosaly. Michael Deckel übernahm zudem die Rolle des persönlich haftenden Gesellschafters (vorerst ohne Vertretungsberechtigung) neben seinem Onkel Hans. Gemäß dem Gesellschaftsvertrag von 1940 waren Margarete und Rosaly Deckel an dem Anteil ihres Sohnes bzw. Bruders Michael unterbeteiligt.21 Im Zweig Hans Deckel beteiligte Hans seine vier Kinder (Friedrich, Ingeborg, Evelyn und Rosemarie) 1970 zu je 20 Prozent an seinem Gesellschaftsanteil. Er behielt sich jedoch bis zu seinem Tod ein fünfzigprozentiges Nießbrauchrecht an diesen Anteilen vor.22 Sowohl innerhalb des Familienzweiges Hans Deckel als auch innerhalb des Zweiges Fritz Deckel schlossen die Gesellschafter Sondervereinbarungen ab und fixierten die Rechte und Pflichten der Anteilseigner schriftlich. Wie Deckel präferierten deutsche Familienunternehmen nach Ende des Zweiten Weltkrieges mehrheitlich die autonomere Organisationsstruktur, die ihre Unabhängigkeit garantierte, gegenüber einer offeneren Struktur, die die Integration externer Ressourcen erleichtert hätte und die in den USA häufiger gewählt wurde.23 Der organisierte Kapitalmarkt blieb relativ marginal. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg war die Zahl der Aktiengesellschaft so niedrig wie nie zuvor seit der Jahrhundertwende. Nicht vor Mitte der 1990er-Jahre resultierten Änderungen des Gesellschaftsrechtes in einem Anstieg der Zahl der Aktiengesellschaften von 2 500 (1961) auf 3 000 (1993) bis zu über 14 000 (2008).24 Einer der größten Unterschiede zu den USA war, dass deutsche Unternehmen erst nach einer relativ langen Entwicklungs- und Wachstumsphase den Schritt an die Börse wagten. 21 Im Dezember 1971 schenkte Margarete Deckel die Stimmrechte aus ihren Anteilen ihren Kindern. 22 Vgl. Bayerisches Wirtschaftsarchiv München (im Folgenden: BWA), N06-242 Unterbeteiligung 1970. 23 Vgl. Lubinski (2010), S. 37–74. 24 Deutsches Aktieninstitut e.V.: DAI-Factbook 2009. Statistiken, Analysen und Graphiken zu Aktionären, Aktiengesellschaften und Börsen, Frankfurt a.M. 2009.

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1995 waren deutsche Unternehmen im Durchschnitt 55 Jahre alt, wenn sie erstmals an die Börse gingen, wohingegen amerikanische Unternehmen am New York Stock Exchange im Durchschnitt seit 14 Jahren vertreten waren.25 Wenn sich deutsche Familienunternehmen für den Gang an die Börse entschieden, was insbesondere in kapitalintensiven Branchen wie dem Maschinenbau geschah, so versuchten sie häufig, einen Kompromiss zwischen Unabhängigkeit und Offenheit herzustellen und die anonyme Gesellschaftsform mit dem Prinzip des Familienunternehmens in Einklang zu bringen. Bei Deckel begann die Diskussion um die Gründung einer Aktiengesellschaft Ende der 1960er-Jahre und verfolgte zwei Ziele: einen besseren Zugang zum Kapitalmarkt und die Auflösung bestehender Gesellschafterkonflikte in dem Familienunternehmen der dritten Generation. So erklärte der geschäftsführende Gesellschafter Hans Deckel, dass „bei der Umgründung endlich einmal klarer Tisch geschaffen“ werden solle.26 Das Unternehmen wurde 1972 in eine AG umgewandelt, die gegenüber Außenstehenden „in ihrer Organisation von allen familienbezogenen Elementen befreit werden und in ihrem Aufbau einer anonymen Kapitalgesellschaft entsprechen“ solle.27 Um den Einfluss der Familie jedoch aufrechtzuerhalten, schlossen die Familienaktionäre Sondervereinbarungen miteinander und regelten die Entscheidungsfindungsprozesse innerhalb der Familie sowie ein Vorkaufsrecht, demzufolge Aktien zunächst der Familie zum Kauf angeboten werden mussten. Die Aktien sollten für zwei Jahre komplett unverkäuflich sein und für weitere fünf Jahre nur so verkauft werden, dass die Familie gemeinsam mindestens 51 Prozent der Anteile in ihrem Besitz hielt. Das Grundkapital in Höhe von 45 Mio. DM blieb so zunächst vollständig im Besitz der Familie Deckel. Zwei Familienmitglieder wurden Vorstandsvorsitzender und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender, um so den Einfluss der Familie auch im Management zu erhalten. Die Familie Deckel sicherte sich zudem langfristig ein Entsendungsrecht für die Aktionärsvertreter im Aufsichtsrat. Erst 1981 nutzte Deckel die neu geschaffene Möglichkeit der Kapitalaufnahme über den Aktienmarkt und ging mit 33 Prozent des Firmenkapitals an die Börse – ein Schritt, den eine Reihe von Familienunternehmen Anfang der 1980er-Jahre vollzogen, oft unterstützt durch deutsche Großbanken.28 So wurden erstmals familienfremde Aktionäre in die Eigentümerstruktur integriert. Mehrfach kam es deshalb zu Konflikten innerhalb der Familie, weil übliche Praktiken verändert werden mussten, um die Gleichbehandlung von Familien- und Nichtfamilienaktionären zu gewährleisten. Institutionenökonomisch gesprochen kam es zu einer Verdünnung von Verfügungsrechten, die aus der Sicht der Familienmitglieder den Wert an der Ressource verringerten.29 1986 erhöhten die Ge25 26 27 28

Vgl. OECD (Hg.): OECD Economic Surveys 1994–1995: Germany, Paris 1995, S. 117. BWA, N06-213 Korrespondenz, H. an R. Deckel vom 14.08.1969. BWA, N06-213 Korrespondenz, Aktennotiz vom 20.05.1970. Vgl. auch das Beispiel Dachser in Paul Erker: Das Logistikunternehmen Dachser. Die treibende Kraft der Familie als Erfolgsfaktor im globalen Wettbewerb, Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 131. 29 Theoretisch dazu Elisabeth Göbel: Neue Institutionenökonomik. Konzeption und betriebswirtschaftliche Anwendungen, Stuttgart 2002, S. 70.

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sellschafter das Grundkapital noch einmal um 10,3 Mio. DM und gaben dafür stimmrechtslose Vorzugsaktien aus, von denen ein Teil der Deckel-Belegschaft zum Kauf angeboten wurde.30 Diese Aktien begründeten kein Stimmrecht in der Hauptversammlung, sicherten den Aktionären jedoch das Recht auf eine Vorzugsdividende von fünf Prozent. Die Ausgabe stimmrechtsloser Aktien ist ein Kompromiss zwischen Öffnung des Familienunternehmens und Wahrung des langfristigen Einflusses, den neben Deckel auch deutsche Großunternehmen wie Dräger, Wella, Porsche, Nixdorf und Henkel in den späten 1970er- und in den 1980er-Jahren wählten. Zwischen 1977 und 1995 gingen insgesamt 173 deutsche Familienunternehmen an die Börse, von denen 67 (39 Prozent) stimmrechtslose Vorzugsaktien ausgaben.31 Während diese Methode teilweise sehr erfolgreich war, legte sie gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten auch die Grundlage für öffentliches Misstrauen und Kritik. Die Familie Deckel habe „ihre nicht mehr gerechtfertigte Herrschaft“ sichern wollen, kritisierten die Nichtfamilienaktionäre bei Deckel 1990, auf dem Höhepunkt einer Krise des Maschinenbauunternehmens, und verlangten die Ausgabe von Aktien mit Stimmrecht.32 Derartige vertraglich geregelte Teilöffnungen sind häufig in deutschen Familien-Aktiengesellschaften. Letztere schützten über Vorkaufsrechte, Entsendungen und Vorzugsaktien ihren Einfluss trotz Börsengang. Im Großen und Ganzen waren im 20. Jahrhundert jedoch andere Rechtsformen und Finanzierungsformen populärer. Insbesondere die GmbH und die GmbH & Co. KG garantierten vertragliche Flexibilität und schützten das Familienvermögen vor externen Einflüssen. Sie gestatteten zudem bis 1977 Steuervorteile, weil Aktionäre sowohl Einkommensteuer als auch Körperschaftsteuer zahlten, während Letztere für Anteilseigner an privaten Unternehmen nicht anfiel. Während kleinere Unternehmen sich in Deutschland und den USA gleichermaßen hauptsächlich durch Bankkredite finanzierten, zeigen sich Unterschiede vor allem zwischen Großunternehmen in den beiden Staaten. Große Unternehmen (mit mehr als 250 Mitarbeitern gemäß der aktuellen Definition der EUKommission), insbesondere wenn sie nicht der Gruppe der 100 größten Unternehmen des Landes angehörten, verfügten in Deutschland über deutlich weniger Equity als in den USA, wo der Gang an die Börse die Regel war und weniger alternative Rechtsformen zur Verfügung standen bzw. sich durchsetzten.33 Diese und weitere nationalstaatliche Rahmenbedingungen hatten massive Auswirkungen auf die Unternehmensstruktur von Familienunternehmen. Gerade die Entscheidung für eine Rechtsform schafft langfristige Pfadabhängigkeiten und 30 BWA, N06-25 Ordentliche Hauptversammlung 1986. 31 Vgl. Walter Schürmann, Kurt Körfgen: Familienunternehmen auf dem Weg zur Börse. Ein Leitfaden für potentielle Börsenkandidaten mit Beispielen aus der Praxis, München 1997, S. 28. 32 „Deckel-Aktionäre fordern Konsequenzen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.07.1990. 33 Vgl. Eric Owen Smith: The German Economy, London u.a. 1994, S. 354; Paul Thomes: Industriekredit und Kapitalmarktfinanzierung in den Westzonen der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis 1990, in: Bankhistorisches Archiv (Hg.): Bankkredit oder Kapitalmarkt. Alternativen der Industriefinanzierung in Deutschland, Stuttgart 2002, S. 39–54.

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damit „Spielregeln“ und Normen, deren Änderung zu aufwendig und (transaktions-)kostenintensiv ist, als dass sie leichtfertig erfolgen würde. Bis heute ist die Aktiengesellschaft auch für große Familienunternehmen in Deutschland relativ unüblich. Die KG und GmbH hingegen sind oft gewählte Formen der Unternehmensorganisation. Bewertung Der VOC-Ansatz zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er Einblicke in die Unterschiede nationaler Wirtschaftssysteme offeriert. Damit hilft er, systematische Vergleiche vorzunehmen und Wettbewerbsvorteile/-nachteile zu identifizieren sowie (historische und aktuelle) Strategien von Unternehmen zu erklären. Dies wurde hier am Beispiel von Rechtsformalternativen in Deutschland und den USA und ihren Auswirkungen für Familienunternehmen gezeigt. Strategische Entscheidungen können keineswegs vollständig durch nationale Rahmenbedingungen erklärt werden. Letztere beeinflussen jedoch Unternehmensentscheidungen und Denkmuster von Unternehmern, sodass ihr Einfluss und ihre Andersartigkeit in unterschiedlichen Staaten der Aufmerksamkeit bedürfen. Kritiker haben dem VOC-Ansatz vorgeworfen, dass die vorgenommene Unterscheidung von liberaler und koordinierter Marktwirtschaft „veraltet“ sei, weil sie im Zuge der weltweiten Integration von Märkten unscharf geworden sei.34 Insbesondere ist der VOC-Ansatz dafür kritisiert worden, einen statischen IstZustand abzubilden. Wie Wandel zu beschreiben wäre, ist eine der meistdiskutierten Fragen in diesem Forschungsfeld.35 Bestehende Spielregeln geraten in unregelmäßigen Abständen immer wieder unter Druck. Institutioneller Wandel ist deshalb ein stetiges Element sowohl in liberalen als auch in koordinierten Marktwirtschaften. Die kontinuierliche Revision von Spielregeln ist notwendig, um ihre dauerhafte Existenz zu gewährleisten.36 Nicht nur große legislative Reformen, sondern auch subtile Änderungen formaler Institutionen, Uminterpretationen von Regeln und die häufig graduelle Akzeptanz einer Neuinterpretation verändern Unternehmen; manchmal schlagartig, meist jedoch in evolutionärer Art. Zudem vernachlässige der Ansatz systematisch soziale und politische Dimensionen des institutionellen Wandels. 34 Vgl. David Coates (Hg.): Varieties of Capitalism, Varieties of Approaches, New York 2005; Dan Coffey, Carole Thornley: Globalization and Varieties of Capitalism: New Labour, Economic Policy and the Abject State, Houndmills u.a. 2009; C. Howell: Varieties of Capitalism: And Then There Was One?, in: Comparative Politics 36 (2003), S. 102–124; R. Goodin: Choose Your Capitalism?, in: Comparative European Politics 1 (2003), S. 203–213. 35 Vgl. Colin Crouch: Capitalist Diversity and Change: Recombinant Governance and Institutional Entrepreneurs, Oxford u.a. 2005; Wolfgang Streeck, Kathleen Ann Thelen (Hg.): Beyond Continuity: Institutional Change in Advanced Political Economies Oxford u.a. 2005. 36 Am Beispiel des deutschen Ausbildungssystems vgl. Kathleen Ann Thelen: How Institutions Evolve: The Political Economy of Skills in Germany, Britain, the United States, and Japan, Cambridge 2004.

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Um diesen Nachteilen entgegenzuwirken, ist es notwendig, die institutionellen Spielregeln, die der VOC-Ansatz hervorhebt, als dynamisch und wandelbar zu verstehen und für die Interpretation ihre historische Wandelbarkeit nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Unterschiede nationaler Wirtschaftssysteme pressen weder Akteure noch Institutionen in ein unumstößliches Korsett, sondern können aus unterschiedlichen Motiven heraus diskutiert, kritisiert und verändert werden. Gerade für diesen Aspekt kann eine unternehmenshistorische Analyse wichtige Impulse geben, weil sie es erlaubt, nationale Strukturen und Akteure in Unternehmen in einen gemeinsamen Zusammenhang zu setzen und gleichzeitig in den Blick zu nehmen. Nationale „Spielregeln“ grenzen den Handlungsraum ab, in dem sich unternehmerische Akteure bewegen; sie geben jedoch individuelle Entscheidungen nicht vor, sondern stecken nur einen Rahmen ab. Zugleich unterliegen auch diese Spielregeln historischem Wandel, weshalb eine VOC-Analyse ohne historische Tiefe nur sehr ungenügende Ergebnisse liefern kann. Literatur Berghoff, Hartmut: The End of Family Business? The Mittelstand and German Capitalism in Transition, 1949–2000, in: Business History Review 80/2 (2006), S. 263–295. Colli, Andrea: The History of Family Business 1850–2000, Cambridge 2003. Fohlin, Caroline: The History of Corporate Ownership and Control in Germany, in: Randall K. Morck (Hg.): A History of Corporate Governance Around the World. Family Business Groups to Professional Managers, Chicago 2005, S. 223–277. Hall, Peter A./Soskice, David: An Introduction to Varieties of Capitalism, in: Peter A. Hall, David Soskice (Hg.): Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001, S. 1–68. Lamoreaux, Naomi R.: Scylla or Charybdis? Historical Reflections on Two Basic Problems of Corporate Governance, in: Business History Review 83 (2009), S. 9–34.

4.2.5 VISUALITÄT: DAS LOGO DER REEMTSMA CIGARETTENFABRIKEN Sandra Schürmann Bilder und andere visuelle Quellen spielen in der Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte bislang vor allem dann eine Rolle, wenn sie selbst explizit Thema sind, z.B. wenn die Geschichte der Werbung oder der Industriefotografie untersucht wird. Für Fragen nach Unternehmenskulturen, Kommunikations- oder Institutionalisierungsprozessen hingegen werden sie kaum herangezogen. Dabei liegt ihre Relevanz auch dafür auf der Hand: Die Produktion von Bildern, die ästhetische Gestaltung des Auftrittes nach innen und außen, die Gesamtheit aller visuellen Strategien gehören elementar zu einer Unternehmenskultur. Im Laufe ihrer Geschichte entwickeln die meisten Unternehmen auf diese Weise? eine spezifische, wiedererkennbare Visualität, d.h. einen eigenen Kanon an Bildern, Farben, Formen, Typografie und dergleichen mehr. Dieser spiegelt sich in verschiedenen Medien der Selbstdarstellung, vor allem – aber keinesfalls ausschließlich – in der Werbung und Produktgestaltung. Nicht zuletzt legitimieren sich Unternehmen auch mittels ihrer visuellen Strategien gegenüber ihrer Umwelt, d.h. den Verbrauchern, den Konkurrenten, dem Markt oder dem weiteren gesellschaftlichen Umfeld. Dieser Beitrag will zeigen, wie die institutionalistische Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte durch die Entdeckung von Bildern als Quelle und von Visualität als Forschungsfeld profitieren kann. Dazu werden zunächst das zugrunde liegende theoretische Verständnis von Visualität erörtert und die daraus abgeleiteten Fragestellungen operationalisiert. Anschließend wird anhand eines Fallbeispieles, der Entstehungsgeschichte des Logos der Reemtsma Cigarettenfabriken in den 1920er-Jahren, versucht, den zusätzlichen Erkenntnisgewinn dieses Ansatzes zu demonstrieren. Die zentrale Annahme dieses Beitrages ist, dass die Entwicklung eines eigenen visuellen Stiles in einem Unternehmen als Institutionalisierungsprozess verstanden und untersucht werden kann. Vieles spricht dafür: Einmal eingeführt und etabliert, sind solche Bilder und Zeichen oft ausgesprochen langlebig. Sie werden nur ungern verändert, definieren also eindeutig Handlungsspielräume von Akteuren, und zwar nicht nur von jenen in der Öffentlichkeitsarbeits- oder Marketingabteilung eines Unternehmens. Auch hier zeigt sich, dass sich das Handeln von Unternehmen nicht ausschließlich an ökonomischer Effizienz orientieren kann: Wenn ein Unternehmen eine eigene Bildsprache etablieren will, müssen die dafür Verantwortlichen die Anforderungen einer externen Umwelt deuten und den Umgang mit diesen institutionalisieren.

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Konzeptspezifikation Ausgehend von der These, dass die Visualität eines Unternehmens idealerweise die Unternehmenskultur stabilisiert sowie Legitimität nach innen und außen erzeugt, soll anhand einer ausgewählten Quelle den folgenden Fragen nachgegangen werden: Wie trug das Visuelle zur Kommunikation über Selbstverständnisse und zur Stabilisierung einer Unternehmenskultur bei? Wie veränderte es Handlungsspielräume von Akteuren? Wie schuf es selbst eine eigene Realität im Unternehmen? Zur Kultur eines Unternehmens gehören immer auch fotografische Überlieferungen, die Gestaltung von Produkten und Werbung, die Architektur des Firmensitzes, Möblierung der Arbeitsräume, Kleidung der Angestellten und vieles mehr – und zwar unabhängig davon, ob diese aus modernen Corporate Identity-Ideen, Sachzwängen oder allmählich aus Routinen entstanden sind. Umrahmt werden sie von impliziten oder expliziten Regeln, die festlegen, „wie das Unternehmen aussieht“. Im Kontakt mit der Außenwelt sind Unternehmen außerdem mit Erwartungen und Ansprüchen an ihren visuellen Auftritt konfrontiert und werben ihrerseits mit Bildern um Legitimität. Teile der Wirtschaftsgeschichte haben daher fotografische Selbstdarstellungen und Werbung von Unternehmen untersucht; Karl Ellerbrock ist am Beispiel Hoesch der Frage nachgegangen, „wie die Leitbilder der Unternehmenskultur visuell kommuniziert worden sind, bzw. umgekehrt, welche Leitbilder sich aus der fotografischen Überlieferung herleiten lassen“,1 und kam zu dem Ergebnis, dass die Bilder der Kultur des Unternehmens eine Kontur gaben und diese versteh- und vermittelbar machten. Daher seien sie „als kulturelles Subsystem an exponierter Stelle“ funktional in die Unternehmenskultur eingebunden.2 Im Umgang mit Bildern als Quellen ist es jedoch wichtig, sie nicht allein als Illustration anderer, sprachlicher – und daher oft leichter zugänglichen – Aussagen zu behandeln, das heißt: ihre Eigenständigkeit zu erkennen und zu berücksichtigen.3 Die Analyse von Bildquellen kann vor allem dann eine Bereicherung für die Unternehmensgeschichte sein, wenn sie Visualität als eigenen Institutionalisierungsprozess erkennt. Eine besondere Qualität der hier gemeinten Bilder liegt darin, dass sie potenziell – und besonders im Fall eines Logos – den Anspruch haben, das ganze Unternehmen zu repräsentieren. Solche Bilder wirken als Stellvertreter des Unternehmens und seiner Kultur. Sie reduzieren somit einerseits die Komplexität der unternehmerischen Realität, sind aber andererseits vieldeutig und schwerer zu entschlüsseln als sprachliche Aussagen – kurz: Bilder sind offensichtlich und offen, und dieses Paradox macht sie in mancher Hinsicht zu idealen Institutionen, zu idealen 1

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Karl Peter Ellerbrock: Signatur der Zeit. Visuelle Unternehmenskultur bei Hoesch in den „langen 1950er Jahren“, in: ders., Peter Borscheid, Clemens Wischermann (Hg.): Unternehmenskommunikation im 19. und 20. Jahrhundert. Neue Wege der Unternehmensgeschichte, Dortmund 2000, S. 131–166, hier S. 142. Ellerbrock (2000), S. 166. Vgl. hierzu Gerhard Paul: Visual History, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.10.2012, online unter http://docupedia.de/zg/ (Zugriff 20.03.2014).

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Anhaltspunkten für tatsächliche oder behauptete Unternehmenskulturen und Legitimität. Für die Analyse des Fallbeispieles folgen daraus drei leitende Fragestellungen: Wie konstituierte die ausgewählte Bildquelle eine eigene, visuelle Kultur des Unternehmens? Wie wirkte sie als Projektionsfläche und Anhaltspunkt für anderweitig formulierte Kulturen des Unternehmens? Und schließlich: Wie wurde ausgehend von dieser Visualität die Legitimität des unternehmerischen Handelns verhandelt? Operationalisierung Visualität in der Unternehmensgeschichte ließe sich an vielen verschiedenen Quellen untersuchen, z.B. an Fotos in Festschriften, Selbstdarstellungen und Mitarbeiterzeitschriften, der Produktwerbung – soweit das Unternehmen dort thematisiert wird – oder auch in der Architektur von Unternehmenssitzen und Produktionsstätten. Um die Relevanz und Aussagekraft eines visuellen Elements für die hier gewählte Fragestellung – Institutionalisierungsprozesse, Unternehmenskultur und Legitimität – zu beurteilen, können die folgenden Fragen als Orientierung dienen: Hatte das Bild oder das visuelle Element eine feststellbare Wirkung auf die Kommunikation innerhalb des Unternehmens sowie zwischen Unternehmen und Außenwelt? War es tatsächlich institutionalisiert, das heißt zumindest für einen gewissen Zeitraum fest in der Unternehmenskultur verankert? Kann es als charakteristisch für den visuellen Stil des zu untersuchenden Unternehmens in der untersuchten Zeit gelten, war es folglich nicht etwa das Ergebnis eines kurzlebigen gestalterischen Experimentes? In einer detail- und umfangreichen Analyse könnte die gesamte unternehmenseigene Bildüberlieferung eines ausgewählten Zeitraumes untersucht werden, um Leitmotive zu identifizieren und eventuelle Veränderungen zu rekonstruieren. In diesem Beitrag wird stattdessen eine einzige Quelle, für die relativ schnell festzustellen ist, dass sie die genannten Kriterien erfüllt, als Ausgangspunkt genommen: Das Logo der Reemtsma Cigarettenfabriken wurde 1919 entwickelt und war, wie schon eine oberflächliche Durchsicht der Überlieferung zeigt, bis 2007 in der externen und internen Kommunikation des Unternehmens allgegenwärtig. Es findet sich auf Zigarettenpackungen, Werbeschildern, Anzeigen, Plakaten, Briefköpfen, Firmenschriften, als Schild am Firmensitz. Offensichtlich war es somit ein fester Bestandteil der Unternehmenskultur und diente – entsprechend der Grundidee eines Logos – als deren Erkennungszeichen und visueller Stellvertreter. Zusätzlich zu den erwähnten Bildmedien, auf denen das Logo abgebildet ist, sind einige ergänzende Quellen überliefert, an denen sich die Hintergründe seiner Entstehung und Verwendung beleuchten lassen. Als Raster für die Analyse von Bildquellen hat Gerhard Paul einige Schritte skizziert4, die um Fragestellungen der institutionalistischen Unternehmensgeschichte ergänzt werden und so den Leitfaden für die folgende Analyse bilden: Zuerst gilt es, den Entstehungskontext und die Funktion des Bildes, d.h. seine 4

Paul (2012), S. 4.

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Produktionsbedingungen und die an seiner Entstehung Beteiligten sowie seine Verbreitung möglichst detailliert zu rekonstruieren. Wer gab den Anstoß für die Entwicklung des Reemtsma-Logos, wer entschied über seine Gestaltung, wer war an dieser Entscheidung beteiligt? Was wurde unternommen, um das Zeichen in der Unternehmenskultur zu verankern? Wie wurde das fertige Zeichen der Öffentlichkeit präsentiert, und was wurde unternommen, um ihm die gewünschte Wirkung und Anerkennung zu sichern? Wie änderten sich institutionelle Arrangements innerhalb des Unternehmens im Zuge dieser Entwicklung? In einem weiteren Schritt werden die visuellen Eigenschaften der Quelle beschrieben und analysiert, d.h. der Gesamteindruck sowie stilistische oder andere ästhetische Besonderheiten des ausgewählten Zeichens. Die Leitfragen sind: Welche gestalterischen Mittel haben die Produzenten eingesetzt, um die intendierte Bildwirkung zu erzielen? Welche Rolle oder Position haben sie den Rezipienten zugeschrieben, wie richtet das Bild sich an sein Publikum? Bei Fotografien wäre z.B. auf die Wirkung von Perspektive, Ausschnitt, Lichtführung und Farbe einzugehen. Ein Logo scheint auf den ersten Blick weniger aufschlussreich, doch soll gezeigt werden, dass grundsätzlich jedes Bild, das von einem Unternehmen als Kommunikationsmittel eingesetzt wird, als Ergebnis visueller Strategien zu verstehen ist. Daran anschließend folgt die Untersuchung im Hinblick auf Beziehungen zu anderen zeitgenössischen Bildern. Dahinter steht die Einsicht, dass visuelle Kommunikation immer – schon um verständlich zu sein – einen Bezug auf andere Inhalte, Bildmotive oder gestalterische Mittel anbieten muss. Im Fall von Unternehmen sind es eben diese Beziehungen, die bei der Interaktion mit der externen Umwelt die erwünschte Legitimität herstellen. Anders formuliert: Wenn ein Bild dem Publikum gefällt, weil es zu dessen Vorstellung von „schönen“ oder legitimen Bildern passt, gewinnt der Produzent an Legitimität – wie also ordnete das Bild sich in das gestalterische und gesellschaftliche Umfeld seiner Entstehungszeit ein? In einem letzten Schritt schließlich wird versucht, Rezeptions- und Nutzungsprozesse zu rekonstruieren. Hier wird erneut nach den Reaktionen des Publikums sowie nach dem Umgang des Unternehmens mit diesen Reaktionen gefragt: Wie wurde das Bild aufgenommen? War es aus Sicht des Unternehmens erfolgreich, wurde die visuelle Strategie beibehalten oder Anlass für Nachbesserungen gesehen?

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Fallbeispiel

Quelle: abgedruckt in Stefan Rahner, Museum der Arbeit (Hg.): Werbewelten made in Hamburg. 100 Jahre Reemtsma, Hamburg 2010, S. 58.

Zwei der frühesten überlieferten Abbildungen des Reemtsma-Logos finden sich auf einer quadratischen Leinwand (oben links), datiert auf Juni 1920, sowie auf einem Holzschild im gleichen Format (oben rechts), das auf Juli/August 1920 datiert ist. Die Leinwand enthält keinen Text, das Schild die Aufschrift „Reemtsma Cigarette“.5 Leinwand und Schild stammen aus einer Kampagne, mit der das neue Logo der Reemtsma Cigarettenfabriken im Sommer 1920 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Rund ein Jahr zuvor hatte der zu diesem Zeitpunkt 26-jährige Philipp F. Reemtsma, der seit 1917 in der kleinen Zigarettenfirma des Vaters in Erfurt arbeitete, einen Wettbewerb ausgelobt: Unterstützt von Wilhelm Seidel, Herausgeber der Werbe-Fachzeitschrift „Seidels Reklame“, hatte er ausgewählte Gebrauchsgrafiker gebeten, Vorschläge für neue Warenzeichen des Unternehmens einzusenden. Die Wahl war schließlich auf einen Entwurf Wilhelm Deffkes gefallen.6 In der Einführungskampagne für das neue Logo wurde eine Strategie ange5 6

Zu beiden Objekten vgl. Stefan Rahner, Museum der Arbeit (Hg.): Werbewelten made in Hamburg. 100 Jahre Reemtsma. Begleitband zur Ausstellung, Hamburg 2010, S. 58. Vgl. Philipp F. Reemtsma: Vom Aufbau der Reemtsma-Marken, des Reemtsma-Stils und von Hans Domizlaff, in: Von Marken- und Marktpolitik. Als Sonderdruck aus den Beiträgen zu einer Firmengeschichte für den Hausgebrauch hergestellt (S. 211–274), unveröff. Druck Hamburg 1953, S. 211–218. Zur Biografie und Familiengeschichte Philipp Fürchtegott Reemtsmas (1906–1959) vgl. Erik Lindner: Die Reemtsmas. Geschichte einer deutschen Unternehmerfamilie, Hamburg 2007; sowie die Kurzbiografien in Tino Jacobs: Rauch und Macht. Das Unternehmen Reemtsma 1920 bis 1961, Hamburg 2008, S. 295. Zum Werk Wilhelm Deffkes (1887–1950) vgl. Bröhan Design Foundation (Hg.): Wilhelm Deffke. Pionier des modernen Logos, Zürich 2014; zum Reemtsma-Logo darin: Roland Jaeger, Gustav N. Dorén: Anonymer Urheber eines bekannten Warenzeichens. Deffkes Signet für den Zigarettenhersteller Reemtsma, S. 201–235.

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wandt, die heute als „Teaser“ bezeichnet wird: Zunächst erschienen rund sechstausend der unbeschrifteten Leinwände entlang wichtiger deutscher Bahnstrecken. Erst einige Wochen später wurden sie durch die beschriftete Variante ersetzt, während zeitgleich die ebenfalls von Deffke entworfenen, neuen Zigarettenpackungen und Werbeschilder in den Handel kamen.7 Einige Details der Entstehungsgeschichte dieses Logos sind in einem achtseitigen Bericht in „Seidels Reklame“ überliefert.8 Ergänzt wird dieser durch einen längeren Abschnitt in einer internen Unternehmensgeschichte aus dem Jahr 1953, verfasst von Philipp F. Reemtsma.9 Ebenfalls recht ausführlich ging außerdem Hans Domizlaff, zwischen 1920 und 1950 Werbeberater für Reemtsma, im 1939/41 erschienenen Band zwei seines „Handbuchs der Markentechnik“ darauf ein.10 Abgesehen von visuellen Quellen existiert also auch eine schriftliche Überlieferung, die – in einem zweiten Schritt – dazu herangezogen wird, die historischen Hintergründe zu rekonstruieren. Als eigentlicher Ausgangspunkt der Analyse soll jedoch das Logo selbst dienen. Bei näherer Betrachtung von Leinwand und Schild fällt auf, dass das Reemtsma-Logo ohne den Text, der in der erwähnten Einführungskampagne erst als „Auflösung“ nachgereicht wurde, kaum Anhaltspunkte für eine intendierte Deutung bietet. Das Zeichen enthält auf den ersten Blick keine vertrauten Bildelemente wie Kronen, menschliche Figuren oder Ornamente, wie sie bei Markenzeichen dieser Zeit üblich waren. Die Form ist kompakt, grafisch reduziert, schwarz und leicht geschwungen, deutet vage einen Kopf an. Ihre Anmutung ist eher streng, vor allem aber rätselhaft. In der rückblickenden Beschreibung Domizlaffs ging es offenbar dem Publikum des Jahres 1920 nicht anders: „Kein Mensch wußte anfangs, was das schwarze Zeichen auf weißem Grund mit dem roten Punkt bedeuten sollte. Die meisten Leute rieten auf eine Art Schraubenschlüssel oder Büchsenöffner. Das Zeichen besaß keinerlei Sinnfälligkeit (…).“11

Dass Reemtsma sich für eine Teaser-Einführungskampagne entschied, könnte ein Hinweis darauf sein, dass zwar nicht die Werkzeug-Assoziation, aber doch der Rätsel-Effekt beabsichtigt war. Andererseits erweckt der zeitgenössische Bericht in „Seidels Reklame“ den Anschein, als seien die Verantwortlichen selbstverständlich davon ausgegangen, dass die meisten Betrachter erkennen würden, worum es sich handelte: um eine stilisierte Version des als Drachenkopf gestalteten

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Vgl. Jacobs (2008), S. 40f. Lützow, Dr.: Das Preisausschreiben der Firma B. Reemtsma & Söhne in Erfurt, in: Seidels Reklame IV. Jahrgang, Nr. 11/12, November 1919, S. 255–262. 9 Reemtsma (1953), S. 211–218. 10 Zu Hans Domizlaff (1892–1971) vgl. Jacobs (2008), S. 286; sowie ders. (Hg.): Zwischen Intuition und Experiment. Hans Domizlaff und der Aufstieg Reemtsmas, 1921 bis 1932, in: Hartmut Berghoff (Hg): Marketing-Geschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 148–176. Zum Reemtsma-Logo vgl. insbesondere Hans Domizlaff: Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens. Ein Lehrbuch der Markentechnik, 2. Bd., Hamburg 1976 [vollst. Reprint der Ausgabe von 1941], S. 13–14. 11 Domizlaff (1976), S. 13–14.

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Bugstevens – das heißt um das Vorderteil und Erkennungszeichen – eines Wikinger-Kriegsschiffes. Philipp F. Reemtsma zeigte sich rückblickend zufrieden mit dem Ergebnis der Einführungskampagne: Trotz der eher geringen Zahl von 6 000 verteilten Schildern sei die optische Wirkung „so überragend“ gewesen, „daß sich noch heute die Mehrzahl der Menschen im Alter von 50 Jahren und darunter“ an diese Werbung erinnere.12 Auch Hans Domizlaff berichtete, es habe ein allgemeines Rätselraten gegeben, das „energische Vorgehen“ habe „eine starke Sensation“ erzeugt, und die Kampagne gelte unter Laien noch immer als „propagandistische Meisterleistung“13. Zumindest ein Teil der Öffentlichkeit jedoch reagierte irritiert: Philipp Reemtsma berichtet, das Logo sei „stark umstritten“ gewesen. Landräte „und selbst die Kunstsachverständigen der Gemeinden“ hätten häufig die Entfernung der Streckenreklame verlangt, sodass er selbst schließlich den Reichskunstwart kontaktiert habe, der „für die moderne Form des Warenzeichens uneingeschränkt eintrat“. Es sei „heute, nachdem die Periode der wilhelminischen Zeit und des Jugendstils überwunden ist, sehr schwer begreiflich, daß noch vor 30 Jahren der Stil dieses Zeichens als revolutionär empfunden wurde und selbst von Grafikern und Kunstsachverständigen als unerträglich bezeichnet wurde“14.

In der Rückschau des Jahres 1953 deutete Reemtsma demnach die damalige Irritation der Öffentlichkeit als Erfolg. Für ihn bürgte sie letztlich für die erst später allgemein anerkannte Qualität des Zeichens und der unternehmerischen Entscheidung. Zumindest im Nachhinein bestätigte und legitimierte das Logo sein Selbstverständnis als Innovator und Vorreiter einer ganzen Branche. In diesem Sinne werden die negativen öffentlichen Reaktionen auf die Einführung des Logos auch in späteren unternehmensinternen Berichten immer wieder erwähnt. Nichtsdestotrotz dürfte das Resultat der Einführungskampagne im Jahr 1919 zumindest ambivalent gewesen sein: Zwar war die visuelle Provokation sicher intendiert, doch gefährdeten die Forderungen nach einem Verbot ebenso sicher das eigentliche Ziel der Kampagne. Reemtsma wollte die Öffentlichkeit auf einen noch unbekannten, neuen Akteur in der Zigarettenbranche hinweisen und eine positive Erwartungshaltung aufbauen. Mit den ästhetischen und strategischen Mitteln seiner Wahl bewegte sich das Unternehmen dabei jedoch am Rand der gesellschaftlichen Legitimität. Da nicht nur die Einführungsstrategie, sondern auch die Ästhetik des Zeichens zeitgenössisch umstritten war, stellt sich die Frage, warum Philipp F. Reemtsma sich für Wilhelm Deffkes Entwurf entschieden hatte. Anders formuliert: Was überzeugte ihn davon, darin eine angemessene visuelle Repräsentation seines Unternehmens zu sehen? Der Bericht in „Seides Reklame“ nennt Kriterien wie grafische Reduktion, „interessante Linienführung“, die „Betonung des Gedankens“

12 Reemtsma (1953), S. 211f. 13 Domizlaff (1976), S. 13–14. 14 Reemtsma (1953), S. 211; vgl. auch Jacobs (2008), S. 41.

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und „mondäne Eleganz“.15 Den Konkurrenten hingegen habe bisweilen die „Eigenart“ gefehlt oder sie seien „nichts Besonderes“ gewesen; an Deffkes Arbeit habe keiner herangereicht.16 Auch Philipp F. Reemtsma bezeichnet Deffkes Entwurf in der Unternehmensgeschichte als „überragend“ und „beeindruckend in seiner grafischen Geschlossenheit“. Beide Gutachter loben allerdings auch einen abgelehnten Entwurf des Grafikers Ivo Puhonny; Reemtsma erwähnt dessen „leicht verspielte Art“, und der Autor der Fachzeitschrift lobt die Farben sowie die „sehr niedliche, peinlich ausgeführte Zeichnung“. Wie die beiden in der Fachzeitschrift abgedruckten Beispiele zeigen, waren Puhonnys Entwürfe dekorativ, aber konventionell, und die vorgeschlagenen Markennamen wie „Reemtsmadame“ oder „Reemtsmaus“ aus heutiger Perspektive eher unfreiwillig komisch.17 Es bleibt jedoch bemerkenswert, dass trotz grundsätzlicher Sympathien auch für solche Ideen der im Vergleich sehr radikale Vorschlag Deffkes umgesetzt wurde. Abgesehen von designfachlichen Kriterien liegt eine mögliche Erklärung dafür in den Konnotationen des Wikingermotivs: „Seidels Reklame“ und spätere Selbstdarstellungen des Unternehmens erörtern, Deffke habe sich von der friesischen Herkunft der Familie Reemtsma inspirieren lassen. Dass der Zusammenhang von friesischen Familiennamen, Erfurter Firmensitz und skandinavischen Seefahrern sich bei einem Hersteller von Zigaretten aus orientalischen Tabaken nicht unbedingt aufdrängte, störte nicht.18 Generell waren Wikingerschiffe in der zeitgenössischen Druckgrafik beliebte Motive, u.a. in einer 1908 erschienenen Ausgabe der Nibelungen-Saga, und auch die damit verbundenen nationalistischen Konnotationen dürften durchaus willkommen gewesen sein.19 Im Zusammenhang mit der weiteren Geschichte Reemtsmas spricht jedoch vieles dafür, dass das WikingerMotiv vor allem deshalb ausgewählt wurde, weil es die Ambitionen der jungen Unternehmer sinnbildlich zusammenfasste. Eine Anzeige aus dem Jahr 1921 formuliert diese so: „Wie ein Wikingerschiff, dessen Bug die bekannte Fabrikmarke zeigt, unternimmt Reemtsma immer neue Eroberungszüge (…).“20 In den frühen 1920er-Jahren wurden auf Packungsentwürfen, Packungen, Werbeanzeigen und -schildern neben dem Logo auch immer wieder Wikingerschiffe verwendet.21 Das neue Zeichen kommunizierte das strategische Leitbild eines expansiv ausgerichteten Unternehmens, und Reemtsma sah in diesem forschen Auftreten offensichtlich eine Erfolg versprechende Werbeidee. 15 Lützow (1919), S. 258. 16 Lützow (1919), S. 260. 17 Alle Zitate in diesem Absatz nach Reemtsma (1953), S. 211; für die Entwürfe bei Lützow (1919), S. 256; sowie Jaeger, Dorén (2014), S. 204. 18 Vgl. Lützow (1919), S. 258; vgl. auch Domizlaff (1976), S. 13. Zur Bewertung des Wikingermotivs vgl. auch Jaeger, Dorén (2014), S. 204f. 19 Vgl. hierzu ausführlicher und mit Bildbeispielen Jaeger, Dorén (2014), S. 206. 20 Anzeige in der Thüringer Allgemeinen Zeitung, 11. Dezember 1921, abgebildet in: Philipp F. Reemtsma: Die Firmenentwicklung 1910 bis 1952. Als Sonderdruck aus den Beiträgen zu einer Firmengeschichte für den Hausgebrauch hergestellt (S. 1–54), unveröff. Druck Hamburg 1953b, S. 7. 21 Vgl. Rahner (2010), S. 54.

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Wichtig für die historische Einordnung dieses Ausschnittes aus der visuellen Geschichte Reemtsmas ist, dass der stürmische Stil der ersten Jahre nicht lange beibehalten wurde: Das Deffke-Logo wurde mit großer Geste eingeführt, wenig später jedoch deutlich entschärft. Das Wikingerschiff als Motiv verschwand vollkommen aus der Werbung – paradoxerweise gerade während der folgenden Expansionsphase, die es visuell eingeleitet hatte und an deren Ende Reemtsma zwei Drittel der deutschen Zigarettenindustrie dominierte. Auch hier deutet sich an, wie eng der visuelle Stil mit dem Selbstverständnis des Unternehmens verbunden war: Konkreter Anlass war, dass die von Deffke entworfenen Marken zwar große Aufmerksamkeit erregten, wirtschaftlich aber nicht erfolgreich waren. Bereits 1920, also noch während der laufenden Einführungskampagne, begann Reemtsma daher eine Zusammenarbeit mit Hans Domizlaff und beendete die in der unternehmenseigenen Überlieferung als „Deffke-Ära“ bezeichnete Phase der visuellen Kommunikation. Der neue Werbeberater lehnte die unter seinem Vorgänger eingeschlagene visuelle Strategie kategorisch ab: Eine auf sensationelle Effekte bauende Kommunikation hielt er für ungeeignet, ein dauerhaftes Renommee, das Vertrauen der Konsumenten – oder im Sinne der institutionalistischen Unternehmensgeschichte formuliert: echte gesellschaftliche Legitimität – zu erreichen. Zur Einführungskampagne stellte er fest, damit sei das Ziel, schnell große Aufmerksamkeit zu erlangen, erreicht worden, doch stehe sie für einen „verhängnisvollen Jahrmarkstil“.22 Im Gegensatz dazu sei der von ihm propagierte Stil geeignet, beim Verbraucher ein langfristiges und tiefes Vertrauen in die Marke aufzubauen.23 Damit traf er bei Philipp F. Reemtsma offenbar einen Nerv. Trotz dieser Neuausrichtung blieb das von Wilhelm Deffke entwickelte Logo in Gebrauch. Selbst der mit Kritik an Fachkollegen nicht zimperliche Domizlaff fühlte sich verpflichtet, die Arbeit seines Vorgängers zumindest zuerst zu loben und danach zu verwerfen: Das Logo sei „ohne Zweifel eines der eigenwilligsten und stärksten graphischen Wirkungsmittel (…), das die heutige Zeit kennt“; seine Entwicklung sei „für die damals gestellte Forderung sensationeller Wirkungen eine kaum jemals wieder erreichte Meisterleistung“. Es sei jedoch notwendig gewesen, „alle anfänglichen Varianten des Künstlers auszuschalten und alles das abzustreifen, was im Zeitstil befangen war“. Als erste und wichtigste Neuerung zu Beginn seiner Arbeit betrachtete Domizlaff daher „die Abschwächung des Firmenzeichens, das so viel schändliches Aufsehen und dadurch Fehlassoziationen erregt hatte“. Dazu fasste er die „bizarre Zeichnung“ in einen Kreis, strich den farbigen Punkt und verfügte, dass das Zeichen nur noch in wesentlich verkleinerter Form verwendet werden durfte. Auch die noch verbliebenen Streckenplakate aus der Einführungskampagne wurden wieder entfernt.24 Das von Deffke und Reemtsma in den ersten beiden Jahren gestaltete, betont selbstbewusste Auftreten und die Ankündigung eines Eroberungszuges wurden nun als „schändliches Auf22 Domizlaff (1976), S. 13–14. 23 Zur historischen Einordnung und Bewertung von Domizlaffs Markentechnik vgl. insbesondere Jacobs (2007). 24 Vgl. Domizlaff (1976), S. 17.

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sehen“ und „Fehlassoziationen“ abgelehnt. Domizlaff betonte in seinen späteren Schriften, er habe Reemtsma von einem „völlig neuen Start mit neuen Marken ohne sensationelle Reklamemittel, dafür aber mit einer ungewöhnlichen Tabakqualität“25 überzeugen können. Zwar sind der tatsächliche Einfluss und Erfolg seiner Markentechnik vorsichtig zu bewerten, doch setzte er für die unternehmenseigenen Produkte – und nur eingeschränkt für die Marken übernommener Konkurrenten – tatsächlich eine neue visuelle Strategie durch. Unter seiner Ägide entstanden Marken und Kampagnen, deren Auftritt weder erzählerisch noch auftrumpfend war. Stattdessen kommunizierten die Reemtsma-Produkte dieser Zeit mit reduzierter Ornamentik, „tabakfachlichen“ Informationen und Fotografien aus der Zigarettenproduktion das Bild eines sachlich-informierenden Unternehmens und eines rational-informierten Konsumenten. Was als Erbe Deffkes und der stürmischen Anfangsjahre blieb, waren der Anspruch auf visuelle Distinktion und moderne Gestaltung als zentrale Aspekte der Identitätsbildung und -sicherung Reemtsmas. Auch jenseits seiner Einführungskampagne und Ästhetik kann das ReemtsmaLogo als Anhaltspunkt für die Frage nach institutionellem Wandel innerhalb des Unternehmens dienen. Im Folgenden wird daher Visualität als Bestandteil unternehmerischen Handels im weiteren Sinne betrachtet. Wie bereits in der Interpretation der Bildelemente anklang, begleitete und visualisierte das neue Logo mit seiner Einführungskampagne einen generellen Umbruch in den Jahren um 1919. Konkret professionalisierte sich zum einen die Marken- und Werbegestaltung, zum anderen vollzog sich ein Generationswechsel in der Leitung. In der internen Unternehmensgeschichte berichtet Philipp F. Reemtsma, die Gestaltung der Zigarettenmarken und Werbemittel sei vor 1919 „aus den Vorschlägen unserer Lieferanten herausgesucht“ worden. Um welche Lieferanten es sich im Einzelnen handelte, ist unklar, doch kommen vor allem die Hersteller von Verpackungen und Schildern sowie Tabakimporteure infrage. Gebrauchsgrafiker oder Werbeberater, so Reemtsma, hätten wegen der beschränkten Größe des Unternehmens noch nicht eingesetzt werden können. Ab Mitte 1919 habe das Unternehmen schließlich den Markenstil vorbereitet, mit dem es „nach Überwindung der Mangellage in Cigaretten in den Wettbewerb eintreten wollte“.26 Die Zusammenarbeit mit Seidel und Deffke markierte demnach einen Schritt zur Professionalisierung des öffentlichen Auftrittes, dies wurde zumindest innerhalb der Werbebranche auch so wahrgenommen: Der Bericht in „Seidels Reklame“ beginnt mit einer langen Erörterung der Vorteile einer solchen Zusammenarbeit zwischen Unternehmer und Werbefachmann.27 Anders als Reemtsmas eigene Darstellung suggeriert, geschah dies allerdings zu einer Zeit, als die Größe des Unternehmens unverändert beschränkt war, d.h. die ökonomische Entwicklung allein noch keine Notwendigkeit erkennen ließ, die Gestaltung von Marken und Werbung neu zu organisieren. Vielmehr spricht die Tatsache, dass Philipp F. Reemtsma vor Be25 Domizlaff (1976), S. 16. 26 Reemtsma (1953), S. 211. 27 Vgl. Lützow (1919), S. 255–257.

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ginn seiner expansiven Unternehmensstrategie professionelle Unterstützung für die Entwicklung des Logos suchte, dafür, dass er im Althergebrachten – und zwar auch in visueller Hinsicht – kein Wachstumspotenzial sah. Die neue Visualität war nicht nur Ausdruck, sondern auch Mittel und zentraler Bestandteil der Unternehmensexpansion. Deshalb gab Philipp F. Reemtsma die bisherige Arbeitsteilung auf und tat einen Schritt in Richtung dessen, was heute als Corporate Identity bezeichnet wird: Der gewählte Entwurf bot, wie der Bericht in „Seidels Reklame“ betont, ein Gesamtpacket aus Logo, Entwürfen für Packungen und Marken sowie Drucksachen. Unternehmer, Berater und Grafiker bildeten eine neue Konstellation, in der ein visueller Stil entwickelt wurde; Reemtsma hatte das letzte Wort und verstand sich selbst offensichtlich als Marken- und Gestaltungsfachmann. Was die Auswahl seiner Zuarbeiter angeht, machte er deutlich, wie großen Wert er auf deren Renommee legte: Über einen der Bewerber für die Logo-Entwicklung berichtet er, dieser habe „viel für Batschari [einen erfolgreichen Konkurrenten, S. S.] gearbeitet“. Wilhelm Deffke sei seinerzeit „der bedeutendste Gestalter von Warenzeichen und Handelsmarken“ gewesen, und der Berater Wilhelm Seidel wird als „Herausgeber einer damals bekannten Werbezeitschrift“ eingeführt.28 Die negativen öffentlichen Reaktionen auf das neue Logo und seine Einführungskampagne schließlich stützten sein Selbstverständnis als Modernisierer und Führungsfigur der deutschen Zigarettenbranche. Insgesamt entspricht die Organisation des Arbeitsfeldes Visualität dem streng patriarchalischem Verständnis von Unternehmensleitung und gehobenen Qualitätsansprüchen, die auch in anderen Bereichen der Unternehmenskultur zutage treten. Die Interpretation, dass das neue Logo und seine Einführungskampagne durch ihren aggressiven Charakter den Konkurrenten in der Zigarettenbranche und den Rauchern zeigen sollten, was sie in Zukunft von den Reemtsmas aus Erfurt zu erwarten hätten, wird auch in anderer Hinsicht von der Darstellung Philipp F. Reemtsmas in der internen Firmengeschichte bestätigt. Etwa zeitgleich mit den Vorbereitungen für einen neuen Markenstil und Auftritt wurde das bis dahin unter dem Namen „Dixi“ firmierende Unternehmen aufgegeben und in „Bernhard Reemtsma & Söhne“ umbenannt.29 Da der neue Name sich auch auf den frühesten, von Deffke entworfenen Packungen findet, ist davon auszugehen, dass Umbenennung und visuelle Umgestaltung Hand in Hand gingen. Es folgten in rascher Abfolge weitere Schritte, um eine Expansion vorzubereiten: 1920 engagierten die Reemtsmas mit David Schnur einen erfahrenen Tabakeinkäufer und mit Hans Domizlaff einen neuen Werbeberater. Im Herbst 1921 erfolgte die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft, ein Jahr später der Kauf eines neuen, großen Geländes im damals noch preußischen Altona-Bahrenfeld, 1923 schließlich der Umzug aus Erfurt und die Eröffnung des neuen Werkes, kurz später der Erwerb der Mehrheit am Berliner Konkurrenten Manoli und eine Erhöhung des Kapitals.30 Innerhalb von fünf Jahren war damit aus dem Kleinunternehmen ein moderner Großbetrieb 28 Reemtsma (1953), S. 211. 29 Reemtsma (1953b), S. 7–8. 30 Vgl. Reemtsma (1953b), S. 8–9; vgl. auch Jacobs (2008), S. 40–44.

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geworden. Dass dieser Übergang nicht ohne interne Reibungen vonstattenging, deutet Philipp F. Reemtsma in der Firmengeschichte lediglich an: Der Vater habe im Jahr 1924 das Geschäft verlassen und seinen Aktienbesitz verkauft, weil er „die stürmische Entwicklung des Unternehmens mit großem Mißbehagen beobachtete, da sie seinem Gefühl für ein solides Geschäftsgebaren kaum entsprach“.31 Er starb wenig später. Bis Ende der 1920er-Jahre kauften die Söhne systematisch weitere Konkurrenzfirmen und bauten einen Konzern auf, der bald die deutsche Zigarettenindustrie dominierte. Vor diesem Hintergrund erscheint die Arbeit am visuellen Stil, deren erstes Ergebnis das neue Logo und die DeffkeMarken waren, als Bestandteil dieses Generationswechsels und als Auftakt für die anschließende Expansionspolitik. Die beiden Nachfolger erneuerten das Unternehmen von Grund auf: Sie machten den Familiennamen zum Unternehmensnamen, änderten die Rechtsform, holten neue Experten hinzu, verlagerten den Firmensitz und entwickelten – was in symbolischer Hinsicht sicher ebenso wichtig war wie die anderen Schritte – einen neuen und provozierenden visuellen Auftritt. Es ist wenig verwunderlich, dass der Vater sein Unternehmen „nicht mehr wiedererkannte“. Ob die jungen Unternehmer ihre Ambitionen bei der Erarbeitung des Logoentwurfes im Jahr 1919 explizit äußerten – etwa im Anschreiben oder in Gesprächen mit den Gestaltern –, ist nicht zu rekonstruieren. Auch war Philipp F. Reemtsma beim Verfassen der Unternehmensgeschichte im Jahr 1952 bestrebt, die Entwicklung des Unternehmens unter seiner Leitung als stringente Erfolgsgeschichte zu erzählen, die mit der Entscheidung für das Deffke-Logo ihren Anfang nahm. Insgesamt spricht aber vieles dafür, dass die Ausschreibung, die Entscheidung für das Wikinger-Motiv, die Teaser-Kampagne und die internen Umbrüchen eng zusammengehörten. Das Wikinger-Motiv wurde gewählt, weil es die Aufbruchsstimmung und die Pläne der beiden Reemtsma-Brüder visualisierte. Bewertung Die Analyse der Entwicklung, Verwendung und des weiteren Kontextes des Reemtsma-Logos zeigt, wie sehr ein visuelles Zeichen im Mittelpunkt unterschiedlicher Prozesse im Unternehmen stehen kann: Seine Geschichte verweist auf einen umfassenden Umgestaltungsprozess innerhalb des Unternehmens um 1919 – in Bezug auf das Auftreten am Markt und gegenüber den Konkurrenten, gegenüber den Konsumenten, die auf eher ungewohnte Art und Weise angesprochen wurden, sowie nicht zuletzt angesichts des Generationswechsels in der Führung und einer strategischen Neuorientierung. In dieser Dichte lassen sich solche Vorgänge nur an wenigen anderen Stellen in der Überlieferung rekonstruieren. Es lohnt sich also, bei der Suche nach Zugängen zur Geschichte eines Unternehmens auch visuelle Quellen als Einstieg in Erwägung zu ziehen. Inhaltlich verweist die Analyse des Reemtsma-Logos auf elementare Abstimmungs- und Institutionalisierungsprozesse im Unternehmen: Trotz oder gera31 Vgl. Reemtsma (1953), S. 13.

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de angesichts seiner späteren Abschwächung kann die Entscheidung für ein reduziertes, grafisches Logo letztlich als Auftakt eines visuellen „Reemtsma-Stils“ gedeutet werden, der gleichwohl erst in den kommenden Jahrzehnten ausformuliert, verfeinert und – teilweise rückwirkend – intern legitimiert wurde. Die Adressaten des bildlichen Ausdruckes, das heißt das kulturelle oder gesellschaftliche Umfeld, in denen sich das Unternehmen mittels des neuen Zeichens und verschiedener Strategien der Bild-Distribution als legitimer Akteur positionieren wollte, waren vielfältig: der deutsche Zigarettenmarkt mit seinen über 200 konkurrierenden Herstellern und deren Hunderten von Marken und Sorten, die steigende Zahl der Konsumentinnen und Konsumenten, die zunehmend sinkende Zahl an Konkurrenten, potenzielle Geldgeber und Unterstützer in Wirtschaft und Politik, schließlich die Gesellschaft und die kulturelle Ausgangslage der 1920er-Jahre. Literatur Jacobs, Tino: Rauch und Macht. Das Unternehmen Reemtsma 1920 bis 1961, Hamburg 2008. Jacobs, Tino: Zwischen Intuition und Experiment. Hans Domizlaff und der Aufstieg Reemtsmas, 1921 bis 1932, in: Hartmut Berghoff (Hg), Marketing-Geschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 148–176. Jaeger, Roland/Dorén, Gustav N.: Anonymer Urheber eines bekannten Warenzeichens. Deffkes Signet für den Zigarettenhersteller Reemtsma, in: Bröhan Design Foundation (Hg.): Wilhelm Deffke. Pionier des modernen Logos, Zürich 2014, S. 201–235. Paul, Gerhard: Visual History, Version 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.10.2012, online unter http://docupedia.de/ zg/ (Zugriff 20.03.2014). Paul, Gerhard: Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in: ders. (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 7–36.

4.3 WIE WANDELN SICH INSTITUTIONEN? In den folgenden Beiträgen liegt der Schwerpunkt auf den Anforderungen infolge veränderter Umweltbedingungen. Es geht also um Fragen von institutioneller Anpassung, um Lernen und um Problembewältigung. Das Konzept der Pfadabhängigkeit dient dabei als Ausgangspunkt. Unternehmen in Wettbewerbsgesellschaften funktionieren effizient, wenn ihr Handeln mit den zeit- und raumabhängigen gesellschaftlichen Erwartungen an sie übereinstimmt. Fallen Erwartungen und Handeln auseinander, kommt es zu gesellschaftlichen Krisen und Skandalen. Diese werden ausgelöst durch Wissensdefizite, durch veränderte Zugänge zum Wissen über das Handeln von Unternehmen oder durch eine Neudefinition gesellschaftlicher Erwartungen und darauf aufbauender gesellschaftlicher Wissensformen. Hierdurch entstehen wiederum volkswirtschaftliche (Transaktions-)Kosten, die vor allem in den notwendigen Investitionen im Sinne von Reintegrationskosten sichtbar werden. In der Wirtschaftsgeschichte gehören Phasen des schnellen Wandels schon immer zu bevorzugten Untersuchungsgegenständen, an denen die Anschlussfähigkeit institutionentheoretischer Konzepte gezeigt werden kann.

4.3.1 PFADABHÄNGIGKEITEN UND BRÜCHE: DER WEG DER DEUTSCHEN CHEMISCHEN INDUSTRIE VOM UMWELTZERSTÖRER ZUM „GREEN CAPITALIST“ Thilo Jungkind Wie erreichen und erhalten industrielle Gesellschaften nachhaltige Stabilität? Das sozialwissenschaftliche Konzept der Pfadabhängigkeit kann dem Wirtschaftshistoriker die Beantwortung dieser Frage erleichtern. In diesem Beitrag wird das Analysekonzept der Pfadabhängigkeit gemeinsam mit neo-institutionalistischen Überlegungen zu Unternehmen angewendet. Unternehmen in Wettbewerbsgesellschaften funktionieren reibungslos und effizient, wenn ihr Handeln mit den zeitund raumabhängigen gesellschaftlichen Erwartungen an sie übereinstimmt. Stimmen diese überein, kann eine moderne Wettbewerbsgesellschaft auf ihrem Wachstumspfad vorankommen. Fallen Erwartungen und Handeln auseinander, kommt es zu gesellschaftlichen Krisen und Skandalen. Diese werden ausgelöst durch Wissensdefizite, durch veränderte Zugänge zum Wissen über das Handeln von Unternehmen oder durch eine Neudefinition gesellschaftlicher Erwartungen und darauf aufbauender gesellschaftlicher Wissensformen, kurz: durch veränderte Ordnungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft.1 Hierdurch entstehen wiederum volkswirtschaftliche (Transaktions-)Kosten, die vor allem in den notwendigen Investitionen im Sinne von Reintegrationskosten sichtbar werden. Diese These wird anhand des Beispiels aufkommender Umweltproteste gegen die chemische Industrie in den 1970er-Jahren nachgegangen. Es zeigt sich dort, wie ein teurer Aushandlungsprozess zwischen Wirtschaft und Gesellschaft in Gang gesetzt werden musste. Dieser Prozess wurde nötig, da sich Unternehmenshandeln und gesellschaftliche Erwartungen auseinanderentwickelt hatten. Die chemische Industrie war deshalb nicht mehr in der Lage, ihr operatives Geschäft wie bisher aufrechtzuerhalten. Es musste ein neuer Wachstumspfad zusammen mit dem gesellschaftlichen Umfeld der Branche gefunden werden. Der Beitrag zeigt die Anfänge dieses Pfades, der spätestens seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts in einen „green capitalism“ mündete – das heißt in die Entstehung eines „grünen Wirtschaftswunders“ bzw. den gesellschaftlichen Ausgleich von Ökologie und Ökonomie –, der sowohl von Unternehmen (mit Risikotechnologie) wie auch ihrer gesellschaftlichen Umwelt getragen wird.

1

Anregend hierzu Birger P. Priddat, Alihan Kabalak: Ungewissheit als Herausforderung für die ökonomische Theorie: Nichtwissen, Ambivalenz und Entscheidung, Marburg 2013.

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Konzeptspezifikation „Pfadabhängigkeit bezeichnet einen vergangenheitsdeterminierten Prozess relativ kontinuierlicher bzw. inkrementeller Entwicklungen. Die jeweils erreichten Zustände können kollektiv ineffizient oder suboptimal sein, ohne dass der Prozess deshalb notwendigerweise zum Erliegen kommt.“2

Was bedeutet das für das Verständnis „historischer Pfade“? Es bedeutet, dass sowohl der heutige Wohlstand wie auch die heutige Stabilität industrieller Gesellschaften in diesem Modell in Abhängigkeit von historischen Wandlungsund/oder Stabilitätsprozessen stehen. Diese Prozesse haben sich schrittweise oder eben „inkrementell“ durchgesetzt, auch wenn sie – etwa aus ökonomischer Perspektive – nicht zu einem optimalen Wohlstandsniveau führten. Erklärt wird, aus welchem Grund und zu welcher Zeit in der Vergangenheit die Abzweigung auf dem Wachstumspfad in Richtung Reichtum einer Gesellschaft genommen wurde. Auf diesem Weg hatte es also stets auch Alternativen und Abzweigungen gegeben. Dem Wirtschaftshistoriker fällt nun die Aufgabe zu, diese Alternativen aufzuzeigen und den dahinterstehenden Entscheidungsprozess zu analysieren bzw. zu erklären. Mit anderen Worten: Warum moderne Wachstumsgesellschaften (objektiv oder subjektiv betrachtet) heute reich und stabil sind, warum ihre wirtschaftlichen Akteure handeln, wie sie handeln, hängt mit Entscheidungen in der Vergangenheit zusammen. Diese Sichtweise verweist auf die Notwendigkeit, (ökonomisch) stabile Gesellschaften historisch erklären zu müssen. Besonders der offenbar deterministische Charakter des Pfadabhängigkeitskonzeptes hat in der jüngeren Vergangenheit immer wieder zu Kritik an ihm geführt. Diese Kritik kann entkräftet werden. Die Potenziale der Entkräftung werden deutlich, wenn man sich zunächst den wirtschaftshistorischen Zugang einer institutionenökonomischen Sichtweise in Anlehnung an Douglass North vor Augen führt. Zur Erklärung von Wachstum, Stabilität und Wohlstand geht North von existierenden Entwicklungspfaden einer Gesellschaft aus, die nach seinem Dafürhalten zentralen Einfluss auf die Prosperität besitzen. Formgebundene und formlose Institutionen bildeten sich nach Norths Vorstellungen in einem gesellschaftlichen Kontext gemeinsam aus, und sie besitzen großen Einfluss auf Wirtschaftsprozesse und Unternehmen.3

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3

Raimund Werle: Pfadabhängigkeiten, in: Arthur Benz u.a. (Hg.): Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder, Wiesbaden 2007, S. 119–131, hier S. 119. Eine gute Darstellung bisheriger Anwendungsfelder und ihrer möglichen Erweiterung bei Stefan Kirchner: Pfadabhängigkeiten als Mehrebenephänomen. Grundlagen und Erweiterungen des Pfadansatzes, in: Hamburg Review of Social Sciences 3 (2008), S. 317– 343. Ausführlich mit dem Fokus auf die Verbindung einer Mikro-Makro-Ebene Jürgen Beyer: Über institutionelle Kontinuität, anfällige Stabilität und fundamentalen Wandel, Frankfurt a.M. u.a. 2006, S. 117f. Vgl. Douglass C. North: Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988. Vgl. ders.: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992.

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Ökonomische und nicht ökonomische Systeme einer Volkswirtschaft leben also nicht nebeneinander her. Tatsächlich zeigte sich an vielen Stellen mit der Durchsetzung liberaler Wettbewerbsordnungen seit der Industrialisierung, dass ökonomisches und gesellschaftliches Handeln nicht voneinander getrennt betrachtet werden dürfen.4 Zentrale Akteure einer entwickelten und auf demokratischen Strukturen basierenden Volkswirtschaft bei der Erzeugung von Wohlstand sind Unternehmen. Es gilt folglich durch die Verbindung des Pfadabhängigkeitsansatzes, wie ihn auch Douglass North im Sinn hat, mit dem Neoinstitutionalismus zu zeigen, wie sozioökonomisches Miteinander gelingen kann. Anders gewendet wird gefragt, wie Brüche zustandekommen und wieder repariert werden können. Es sind dann vor allem neoinstitutionalistische Konzepte, die das Zusammenwirken von unternehmerischem Handeln und gesellschaftlichen Erwartungen als verantwortlich für das stabile Beschreiten von Wachstumspfade ansehen. Operationalisierung Wie muss man sich nun konkret einen solchen Zugang einer wirtschafts- respektive unternehmenshistorischen Arbeit vorstellen, die ökonomisches Handeln und gesellschaftliche Erwartungen zusammenführt, in ihren Interdependenzen analysiert und in gesellschaftlichen Erwartungen Anreize für wirtschaftliches Handeln erblickt? Der Startpunkt ergibt sich aus folgender Grundüberlegung: Unternehmen sind in Gesellschaften eingebettet, worauf unter anderem ihre Funktionsweise beruht.5 Aus der Verbindung von Pfadabhängigkeit mit dem Neoinstitutionalismus resultiert die Leitthese, dass sich gesellschaftliche Erwartungen in formal-kodifizierten, formlos-normativen und kulturellen Dimensionen von Institutionen niederschlagen. Sie formen gesellschaftliche Erwartungsräume, innerhalb deren sich ökonomisches Handeln vollzieht. Und noch wichtiger: Sie werden gesellschaftlich verhandelt und beeinflussen in erheblichem Maße die Entscheidungen des zentralen volkswirtschaftlichen Akteurs Unternehmen. Gesellschaftliche und ökonomische Institutionen stehen dabei in dauerhafter Abhängigkeit zueinander. Ihr Verhältnis bleibt so lange stabil und damit wachstumsperpetuierend wie die gesellschaftlichen Erwartungen an eine funktionierende Volkswirtschaft und konkrete Handlungen von Unternehmen übereinstimmen.6 Wie lassen sich nun diese Grundlagen in der empirischen Forschung umsetzen? Der erste konkrete Schritt bei der empirischen Forschung besteht aus einer außer-unternehmerischen Institutionenanalyse, die nach dem Modell von William 4

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Vgl. Susanne Hilger, Achim Landwehr: Zur Einführung. Wirtschaft – Kultur – Geschichte: Stationen einer Annäherung, in: dies. (Hg.): Wirtschaft – Kultur – Geschichte, Stuttgart 2011, S. 7–27. Vgl. Mark Granovetter: Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, in: American Journal of Sociology 91/3 (1985), S. 481–510. Ähnlich bereits Hansjörg Siegenthaler: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen, Tübingen 1993.

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Scott erfolgen kann.7 Welche gesellschaftlichen Erwartungen finden sich demnach in einem spezifischen historischen Kontext wieder? Wie stellen sie sich etwa in Gesetzen und Verordnungen oder ganz allgemein in der zeitgenössischen Öffentlichkeit und ihren Themen dar? Was wird aus Richtung des gesellschaftlichen Umfeldes als wünschenswert und ethisch vertretbar an Unternehmen herangetragen? Nehmen die Unternehmen diese Erwartungen wahr? Diese Fragen lassen sich durch empirische Quellenarbeit beantworten. Sind beide Fragenkomplexe geklärt, dann sind auch die Schnittstellen zwischen unternehmerischem Handeln und gesellschaftlichen Erwartungen identifiziert. Das Quellenstudium hilft gleichsam beim zweiten Schritt der empirischen Forschung, nämlich der Abschätzung externer Einflüsse auf das Unternehmen selbst. Diese Auswirkungen zeigen sich etwa in Managementpraktiken, der Organisation, der Innovationspraxis, den personellen Entscheidungen oder der Unternehmenskultur. Sind Innen- und Außenverhältnisse institutionell geklärt und ihre wechselseitigen Wirkungsketten ausfindig gemacht, kann abschließend interpretiert werden, ob und zu welchem Preis eine Übereinstimmung von unternehmerischen Handlungslogiken und gesellschaftlichen Erwartungen hergestellt wurde. Wir besitzen nach diesen ersten Schritten eine dezidierte Sicht auf unternehmens-äußere und unternehmens-innere institutionellen Arrangements. Sowohl neoinstitutionalistische wie auch institutionenökonomische Ansätze im Gefolge von North definieren beide als pfadabhängig. Mithilfe der hier vorgeschlagenen Verbindung ist es nun aber möglich, diese Pfadabhängigkeiten in Beziehung zueinander zu setzen. Es wird möglich, historische Brüche zwischen Wirtschaft und Gesellschaft einerseits sowie langfristige Entwicklungen auf dem Wachstumspfad andererseits besser zu verstehen und zu analysieren. Die Erklärung von Alternativen, auf welche Art und Weise ein Wachstumspfad beschritten oder ein neuer eingeschlagen wurde, kann nicht als rationale Wahlentscheidung beschrieben werden, sondern muss die Akteure als „kulturrational“ reflektieren. Unter einem „kulturrationalen Akteur“ versteht man ökonomische Entscheider, die nutzenmaximierend zugunsten der Erzeugung von Legitimität handeln.8 Die Vorstellungen von legitimem ökonomischem Handeln sind in den jeweiligen gesellschaftlichen Erwartungen verankert. Brüche sind in diesem Kontext die Veränderungen von Erwartungen, wie eine Volkswirtschaft zu organisieren ist, um Wachstum und Wohlstand zu generieren. Fallbeispiel Die nachfolgende Quelle entstand in einem traditionsreichen und damit stark pfadabhängigen Unternehmen: der Firma Henkel aus Düsseldorf, deren bekann-

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Vgl. William R. Scott: Institutions and Organizations. Ideas and Interests, 3. Aufl., Los Angeles u.a. 2008, S. 45–56. Vgl. hierzu auch Kapitel 2.2 in diesem Band.

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testes Produkt bis heute das Waschmittel „Persil“ ist.9 Der Entstehungskontext der Quelle Anfang der 1970er-Jahre ist der Moment des Bruches von Wirtschaft und Gesellschaft, der aus einer Veränderung von pfadabhängigen, außerunternehmerischen Institutionen und sozioökonomischer Sinndeutung resultierte. Umweltverschmutzung und die Gefährdung der Lebenswelt durch ein industrielles Unternehmen wurden zuvor weder vom Unternehmen selbst noch von seinem gesellschaftlichen Umfeld infrage gestellt.10 Um nach dem Bruch zwischen Unternehmen und Gesellschaft erneut Stabilität zu erzeugen, musste ein neues institutionelles Arrangement bei Henkel geschaffen werden. Der sichere Umgang mit chemisch-technischen Risiken musste in die strategische wie operative Unternehmenspolitik Einzug halten und vor allen glaubhaft kommuniziert werden. Der Zweck dieser Strategie war die Wiederherstellung der Legitimität des Unternehmens. Es musste eine neue stabile Ordnung zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und Henkel geschaffen werden, um die weiteren aufsehenerregenden Protestwellen und einen unbezifferbaren Imageschaden abzuwenden. Rede Friedrich Bohmerts am 4. Juni 1972 (Auszüge) „Noch vor einigen Wochen hätte ich leichter die Feststellung treffen können, daß Umweltschutz als Thema der Öffentlichkeit doch sehr in den Hintergrund geraten ist und von den wirtschaftlichen Ereignissen unsere Tage überlagert wird. […] Was den Umweltschutz unseres Werkes […] angeht, so scheint das öffentliche Interesse daran […] im Augenblick doch wieder größer zu sein. Es ist überraschend, wie die Umweltproblematik […] einen Angst-Faktor für weite Kreise der Bevölkerung darstellt. Die Öffentlichkeitsarbeit […] sollte einen Beitrag leisten, die eigene Firmenpolitik so weit wie möglich in ein gesellschaftspolitisches Konzept einzubauen. […] In der Politik eines Unternehmens besteht die Neigung […], die Welt jenseits der ohnehin in Kauf zu nehmenden Marktveränderungen und der dauernden Einstellungen auf neue Schwierigkeiten möglichst unverändert zu lassen und sich von den Einflüssen, die von Politik, Wirtschafts-Politik, Gesellschafts-Politik ausgehen, abzuschirmen. Das war jedenfalls die Haltung vieler Unternehmer in der Vergangenheit und die Spielregeln, nach denen sie vorzugehen sich gewöhnt hatten. Das wachsende ‚Umweltbewußtsein‘ der Öffentlichkeit wird aber zunehmend sichtbar in Umweltschutzaktionen der Bevölkerung […]. Die für die Industrie direkt spürbaren Ausflüsse sind die Gründung von örtlichen Umweltschutzverbänden und Protesten vor den Fabriktoren. Umweltschutzaktionen der Bürgerschaft sind ein bestimmter Faktor in der allgemeinen Umweltdiskussion geworden, weil sie – unterstützt durch Presse, Funk und Fernsehen – die politischen Kräfte mobilisieren. […] In zunehmendem Maße geraten die großen umweltschädigenden Industrieunternehmen be-

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Vgl. Wilfried Feldenkirchen, Susanne Hilger, Wolfgang Zengerling: Menschen und Marken. 125 Jahre Henkel 1876–2001, Düsseldorf 2001. 10 Vgl. Thilo Jungkind: Risikokultur und Störfallverhalten der chemischen Industrie. Gesellschaftliche Einflüsse auf das unternehmerische Handeln von Bayer und Henkel seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2013, S. 54ff.

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sonders im Süden Düsseldorfs ins Schussfeld umweltengagierter Bürger. Das Unternehmen Henkel war bereits sichtbares Angriffsziel, als die ‚Aktion‘ […] vor den Toren des Werkes Holthausen zum Protest aufmarschierte […]. Besser organisierte Protestaktionen sind in der Zukunft zu erwarten. […] Angesichts dieser Erscheinung dürfte außer Frage stehen, daß eine langfristige Ignorierung der örtlichen ‚Umweltschützer‘ durch das stadtgrößte Unternehmen Henkel den Standpunkt der Kritiker verhärtet, ihre Resonanz in der Presse steigert und damit das Image Henkels verschlechtern würde. Aus diesem Grund hat die ST-PR (Stabstelle Public Relations, T.J.) Überlegungen angestellt, wie der kaum zu umgehende Umwelt-Dialog mit der Bevölkerung bzw. den umweltengagierten Gruppen richtig zu beginnen ist. Der OffensivStrategie der örtlichen ‚Umweltschützer‘ Antwort gebend könnte eine ebenfalls offensiv angelegte PR-Aktion ‚Gespräch mit den Nachbarn‘ dieses Ziel erreichen. Als vorläufige Aktionsmaßnahmen werden vorgeschlagen: Pressegespräch, Tag der Offenen Tür, Vereinskontakte, Umweltschutzbeilage […]. Das Risiko: […] Informationen über Henkels bisherige Umweltschutzmaßnahmen liefern den Kritikern den ‚Beweis‘ für unzureichende Investitionen. Trotz des zweifellos vorhandenen Risikos muß dieses ‚Gespräch mit den Nachbarn‘ nach Ansicht der ST-PR gesucht werden, weil ein Nichthandeln langfristig das Risiko schwerer Schäden für das Ansehen des Hauses vergrößert – insbesondere durch den Zugzwang, in dem die Verwaltung und die politischen Gremien der Stadt Düsseldorf gegenüber Henkel durch öffentliche Bürgerinitiativen geraten könnten. Das Argument, aktive Informationspolitik auf vielen Gebieten würde erst die ‚berühmten schlafenden Hunde‘ wecken, trifft im allgemeinen so wenig zu wie die Furcht, die Diagnose des Arztes ließe erst die Krankheit entstehen. Freilich setzt das voraus, daß man ständig und immer informiert und die Politik der Geheimhaltung und des Totschweigens von Problemen, die durch den eigenen Industriezweig und das eigene Unternehmen verursacht werden, endgültig aufgibt.“ Quelle: Düsseldorf, Konzernarchiv Henkel: Referat von Dr. Friedrich Bohmert am 4. Juni 1972 „Problematik des Umweltschutzes in der Öffentlichkeitsarbeit“, in: J 108 Imissionen/Umweltschutz 1950–1970.

Diese flammende Rede wurde im Sommer 1972 von Friedrich Bohmert, dem Chef der Stabsstelle Public Relations gehalten. Aufgrund seiner Position darf Bohmert als ein führender Manager des Unternehmens gelten. Seinen Appell richtete Bohmert an das gesamte Management von der mittleren Stufe aufwärts im Kontext einer Betriebskonferenz. Er verdeutlichte seinen Kollegen damit die für ihn notwendig gewordene Suche nach Alternativen des unternehmerischen Handelns, um weiterhin als Unternehmen effizient arbeiten zu können und den eigenen Wachstumspfad zu verfolgen. Der Grund des Auftrittes des obersten Kommunikators und Imagepflegers des traditionsreichen Konsumgüter- und Waschmittelherstellers waren die seit einiger Zeit anhaltenden Proteste vor den eigenen Werkstoren, die sich gegen die Umweltpolitik der Firma richteten. Mit dieser mahnenden Ansprache an das mittlere und gehobene Management bezog Bohmert zur zukünftigen Unternehmenspolitik im Umweltschutzbereich Stellung, womit er nichts Geringeres als die strategische Marschroute für die kommenden Jahre vorgab. Er verdeutlichte seinen Kollegen, wie dieser Bereich des unternehmerischen

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Handelns in der Zukunft organisiert werden muss, um weiterhin ein gesellschaftlich legitimer Akteur zu bleiben und weiterhin betriebswirtschaftlich arbeiten zu können. Die chemische Industrie hatte bis zu diesem Zeitpunkt als ökonomischer „Heilsbringer“ gegolten, der anteilig mit durchschnittlich über zehn Prozent am Bruttosozialprodukt am deutschen „Wirtschaftswunder“ beteiligt war.11 Der Preis für das Beschreiten dieses Wachstumspfades war die Zerstörung der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt der Menschen, Tiere und Pflanzen in den Einzugsgebieten der Chemiewerke.12 Es bestanden sowohl pfadabhängige Handlungslogiken aufseiten der chemischen Industrie als auch innerhalb der gesellschaftlichen Erwartungen. Auf der einen Seite sah sich die Branche als Wachstumsgenerator, wofür Umweltverschmutzung und Störfälle sozusagen als Kollateralschäden verursacht werden durften. Auf der anderen Seite standen gesellschaftliche Spielregeln, die einzig darauf ausgerichtet waren, der Mangelwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zu entfliehen. Verschmutzte Flüsse, verendete Tiere, verpestete Luft und regelmäßige Störfälle wurden von den Menschen als Teil dieser Win-winSituation akzeptiert. Am Ende der 1960er-Jahre fand ein gesellschaftlicher Transformationsprozess statt, der das Verhältnis von Ökologie und Ökonomie neu definierte. Aus der Retrospektive gesehen handelte es sich dabei um eine „Große Transformation“ gesellschaftlich-kultureller Institutionen und sozioökonomischer Wirklichkeiten.13 Die bis dorthin beschrittenen Wachstumspfade wurden angezweifelt, ja mehr noch: Sie wurden verteufelt. Bezogen auf die pfadabhängige Art und Weise des Produzierens der deutschen chemischen Industrie, wurden Alternativen gefordert. Die Unternehmen mussten sich diesen neuen gesellschaftlichen Erwartungen stellen und nach Alternativen ihres Verhaltens suchen. Sie mussten sich bewusst werden, dass sie Verantwortung für ihre Zerstörungskraft zu übernehmen hatten und ein Verharren auf dem bisherigen Wachstumspfad nicht mehr ohne ökonomische Folgen legitim war.14 Beinahe beschwörend forderte Bohmert – diese geschilderte Problematik vor Augen – die anwesenden Manager auf, sie müssten sich auf diese neue Situation einstellen. Eine moderne Unternehmenspolitik müsse sich äußeren Erwartungshaltungen stellen. Hierzu war es unerlässlich, das innere institutionelle Arrangement und die Unternehmenskultur den gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen, um ökonomischen Schaden abzuwenden. Bohmerts Worte sind für die beginnenden 1970er-Jahre visionär und revolutionär zugleich.15 11 Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1945 bis zur Gegenwart, 2. Aufl., München 2011, S. 383. 12 Vgl. dezidiert Jungkind (2013), S. 54ff. 13 Zur Charakteristik großer Transformationen Jürgen Osterhammel: Große Transformationen, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken, 746 (2011), S. 625–631. 14 Vgl. Ludger Heidbrink: Die Rolle des Verantwortungsbegriffs in der Wirtschaftsethik, in: Working Papers des CRR, Nr. 9 (2010). 15 Zur Sonderstellung des Jahrzehnts vgl. Morten Reitmayer, Ruth Rosenberger: Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshisto-

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Bohmerts Ideen wurden umgesetzt. Vonseiten der Henkel-Konzernleitung wurde für einen Planungszeitraum von 1971/72 bis 1975 ein Budget von insgesamt 600 000 DM zur Verfügung gestellt; das Projekt alleine verschlang damit knapp 15 Prozent der Gesamtausgaben für den Bereich Umweltschutz in dieser Planungsperiode.16 Solche Ausgaben wären wenige Jahre zuvor noch als unsinnig und überflüssig abgelehnt worden. Um die Freigabe dieser finanziellen Mittel in der Folge der flammenden Rede von Friedrich Bohmert aus Sicht des hier verfolgten konzeptionellen Ansatzes einzuordnen, muss zunächst eine Institutionen-Analyse des Wachstumspfades erfolgen, der lange Zeit stabile Ordnungsverhältnisse zwischen dem Unternehmen und seinem gesellschaftlichen Umfeld garantiert hatte. Weshalb wäre ein solches Unternehmenshandeln in früheren historischen Kontexten unsinnig und unnötig gewesen? Oder anders gewendet: Aus wirtschafts- und unternehmensgeschichtlicher Perspektive müssen die Alternativen interpretiert werden, die das Verlassen des bestehenden Wachstumspfades mit sich brachten. Nur dann wird deutlich, warum Bohmert auf seiner Strategie beharrte. Welchen Beitrag leistete Henkel nach Bohmerts Rede zur Beibehaltung von Prosperität und welches unternehmerische Handeln war zuvor aus Sicht der gesellschaftlichen Erwartungen legitim, weshalb es zu einer stabilen Ordnung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft und damit zu gesamtwirtschaftlicher Wohlfahrt auf dem Wachstumspfad führte? Die Umschreibung eines konsistenten gesellschaftlichen Zusammenhanges als technokratische Hochmoderne (1880–1970)17 ist sehr gut geeignet, um das Ordnungsverhältnis zwischen Mensch, Umwelt und chemischer Industrie und die daraus resultierenden pfadabhängigen Spielregeln abzubilden. In den Worten Bohmerts hatten die Unternehmen der Branche sich bis dahin nach ihnen gerichtet. Besser ausgedrückt hatte die Branche diese Spielregeln aufgestellt. Die Unternehmen hatten sich ungefähr seit den 1950er-Jahren wieder an eine Machthoheit innerhalb des gesellschaftlichen Umfeldes gewöhnt, was lange Zeit zu Stabilität führte, nicht zuletzt durch die Abschottung der Unternehmen, wie es Bohmert beschrieb. Durch eine institutionelle und kulturalistische Umweltanalyse im Sinne des Neoinstitutionalismus ist zunächst für das Ende der technokratischen Hochmoderne festzustellen, dass sowohl die Immissionsschutz- wie auch die Gewässerrischer Perspektive, in: dies. (Hg.): Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 9–31. 16 Vgl. Düsseldorf, Konzernarchiv Henkel: Protokoll der ersten Sitzung der zentralen UVSKommission vom 5. Mai 1975, in: unverzeichnete Akte UVS-Kommission 1975–1981. 17 Vgl. Thomas Hänseroth: Technischer Fortschritt als Heilsversprechen und seine selbstlosen Bürgen. Zur Konstituierung einer Pathosformel der technokratischen Hochmoderne, in: Hans Vorländer (Hg.): Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin 2013, S. 267– 288; ders., Uwe Fraunholz: Hochmoderne Visionen und Utopien. Zur Transzendenz technisierter Fortschrittserwartungen, in: Uwe Fraunholz, Anke Woschech (Hg.): Technology Fiction. Technische Visionen und Utopien in der Hochmoderne, Bielefeld 2012, S. 11–24, vor allem S. 12–15.

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schutzgesetzgebungen zu größten Teilen aus der Zeit des deutschen Kaiserreiches oder dem Norddeutschen Bund entstammten.18 Diese regulativen Institutionen wurden weder in der Weimarer Republik noch im Nationalsozialismus grundlegend verändert; sie folgten ihrer Pfadabhängigkeit und leisteten damit der Zerstörung und Verschmutzung der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt Vorschub. Neben der fehlenden „agency“ der Natur – also einer Wirkungsmacht der Natur und ihrer Bedeutung für den Menschen auf unternehmerisches Handeln19 – herrschte in der technokratischen Hochmoderne ein industrielles und gesellschaftliches Fortschrittsparadigma vor. Das bedeutet, gesellschaftliche Wohlfahrt wurde durch Fortschritt und den Glauben an ihn definiert, woraus sich nur das Ziel ökonomischen Wachstums ergeben konnte. Auf diesem Pfad war aber kein Platz für ökologischen Schutz. Folgerichtig beobachten wir deshalb eine stark ausgeprägte Expertenkultur innerhalb der Unternehmen, die für diesen Wachstumspfad notwendig wurde. Ingenieure, Chemiker und teilweise auch Betriebsökonomen waren die Verwalter des Wissens um ökonomisch Sinnvolles und ökologisch Vernachlässigbarem. Man könnte geneigt sein zu sagen, diese Experten verkörperten die Devise: Wachstum durch Fortschritt, um jeden Preis. Es entwickelte sich hierdurch eine integrative Wirkung und eine Expertenhörigkeit, die nach Bohmerts Meinung unter anderem zu einem Totschweigen von Problemen führte. Freilich korrespondieren diese Feststellungen mit einem patriarchalen Ehrfurchtsverhältnis zwischen Mensch und Industrie, wie es zwischen Großunternehmen und ihrem gesellschaftlichen Umfeld bis in die 1970er-Jahre hinein existierte und das den zeitgenössischen Selbstverwaltungsanspruch der chemischen Industrie weiter zementierte.20 Deshalb konnte Bohmert auch auf die Abschottung des Unternehmens verweisen, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg für alle beteiligten Akteure legitim war. Innerhalb dieses „vorökologischen Zeitalters“ war es auch existierenden Netzwerken außerhalb des politischen Spektrums – die sich etwa aus dem Heimatschutz älteren Typs gebildet hatten – nicht im Entferntesten möglich, genügend Druck auf die chemische Industrie auszuüben. Die Änderung des unternehmerischen Handelns bezüglich der Risikoproduktion der chemischen Industrie war kein Bestandteil gesellschaftlicher Erwartungen. Die Branche hatte eine starke Lobby, die mit ihrem enormen Beitrag zum volkswirtschaftlichen Erfolg stetig wuchs.21 18 Vgl. Franz-Josef Brüggemeier, Michael Toyka-Seid: Industrie-Natur. Lesebuch zur Geschichte der Umwelt im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 1995, Kapitel 1–9; ebenfalls Jürgen Büschenfeld: Das Abwasserproblem im Widerstreit der Interessen. Akteure, Konflikte und Lösungsmuster in der Phase der Hochindustrialisierung, in: Wiebke Bebermeier, Sarah Henning, Mathias Mutz (Hg.): Vom Wasser. Umweltgeschichtliche Perspektiven auf Konflikte, Risiken und Nutzungsformen, Siegburg 2008, S. 17–49, hier S. 23–30. 19 Vgl. Verena Winiwarter, Martin Knoll: Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln u.a. 2007, S. 131–142. 20 Vgl. Abelshauser (2011), S. 59. 21 Vgl. Jens Ivo Engels: Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn 2006, S. 167–172; ders.: Von der Heimat-Connection zur Fraktion der Ökopolemiker. Personale Netzwerke und

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Ökologischer Schutz war neoinstitutionalistischen Vorstellungen zufolge weder für die Unternehmen noch für ihr gesellschaftliches Umfeld wichtig. Wesentlich für die Akteure des organisationalen Feldes war der ökonomische Wohlstand. Ein weiteres Zitat, das aus dem Unternehmensarchiv der Firma Bayer in Leverkusen stammt, verdeutlicht diese Einschätzung und zeigt gleichzeitig, dass institutionelle Veränderungen im Kalkül des Unternehmens trotz erheblicher Belastungen für die Umwelt nicht vorgesehen waren: „Wie alle großen Chemie-Werke in Deutschland […] hat man es in der Vergangenheit mit Rücksicht auf möglichst billige Einstandspreise unterlassen […] die Reinigung der verunreinigten Abwässer vorzunehmen. Dies hätte natürlich eine Verteuerung des Produktes zur Folge gehabt […].“22

Es bestand für die Unternehmen schlicht kein Anreiz aus Richtung gesellschaftlicher Erwartungen, ihr tradiertes institutionelles Arrangement zu überdenken. Deshalb bestand natürlich auch kein Anreiz, ihr Handeln kostspielig zu modifizieren oder die negativen externen Effekte einzupreisen. Ein Wandlungsprozess musste nicht in Gang gesetzt werden. Der bis dorthin beschrittene Wachstumspfad musste nicht verlassen werden. Warum ließen die Menschen um die großen Chemiewerke herum aber zu, dass ihre Gesundheit beeinträchtigt und ihre Lebenswelt so massiv beeinflusst wurde? Warum setzten sie keine Anreize zur Verbesserung der Umweltsituation? Und in neoinstitutionalistischen Termini gesprochen: Weshalb erschuf das organisationale Feld weder normative noch kulturelle Dimensionen von Institutionen, die stark genug waren, um die chemische Industrie unter Druck zu setzen? Weshalb war Bohmert – in seiner Funktion sicherlich als Kenner der gesellschaftlichen Erwartungen ausgewiesen – über die Proteste vor seinem Unternehmen zu Beginn der 1970er-Jahre so erstaunt? Das ohne Zweifel verfügbare gesellschaftliche Wissen um die chemisch-technischen Gefahren für die eigene Lebenswelt23 schlug aus gutem Grund nicht in eine industrie- und technikfeindliche Umwelt um; der Preis für den eigenen Wohlstand der Menschen bestand im Aushalten der ungesunden und lebensfeindlichen Umstände.24 Eine Besprechung zwischen Henkel-Chemikern und besorgten Anwohnern im Jahr 1957 zeigt dies deutlich. Der Wortführer der Anwohner, Herr Haulbeil, äußerte gegenüber den Verantwortlichen von Henkel das im Folgenden Protokollierte: „Manchmal sei die Luft so verpestet, daß die Atmung erheblich beschwert werde. Dies wirke sich wiederum auf die Herztätigkeit aus, was auf längere Sicht zu organischen Schäden füh-

politische Verhaltensstile westdeutschen Naturschutz, in: Arne Karsten (Hg.): Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften, Göttingen 2006, S. 18–45, hier S. 33. 22 Leverkusen, Bayer Archiv: Chefingenieur Rieß an den Vorstand der Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom 14. Juli 1959, in: 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960, S. 2. 23 Eine eindrückliche Schilderung der Umstände bei Frank Uekötter: Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970, Essen 2003. 24 Vgl. Jungkind (2013), S. 135–144.

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Empirische Anwendungen ren müsse. […] Herr Haulbeil brachte zum Ausdruck, daß die übelste Quelle der Gerüche eine schlickartige Masse sei, die von uns abgelagert werde. Wir haben Herrn Haulbeil und Herrn Hoffmann erklärt, daß von uns aus alles getan wird, um nicht nur die Gefahr gesundheitlicher Störungen sondern auch die Geruchsbelästigungen zu beseitigen bzw. soweit wie möglich einzudämmen. Allerdings sei es der Firma Henkel nicht möglich, dies von heute auf morgen oder in einem Zeitraum von wenigen Tagen, Wochen oder Monaten durchzuführen. […] Herr Haulbeil zeigte großes Verständnis für die Problematiken unseres Werks und war mit dieser Zusicherung sehr zufrieden. […] Er bedankte sich, daß die Firma Henkel ihm überhaupt die Möglichkeit gegeben habe, sein Anliegen in dieser Weise vorzubringen.“25

Die Anwohner wussten um die prosperierende Wirkung des Unternehmens, woraus sich eine für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gültige gesellschaftliche Sinnorientierung ableitet, die sich mit den ökonomischen Überlegungen der chemischen Industrie deckte. Die chemische Industrie durfte die Natur und ihre Umwelt zur Erreichung ökonomischer Prosperität legitim unterwerfen.26 Eine Beschreibung des Sozialen, die Sinnwelten der Menschen um die großen Chemiewerke herum, lassen sich durch eine neoinstitutionalistsiche Analyse einordnen: Die Flucht aus der neuerlichen Mangelgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die tradierten Ordnungszusammenhänge zwischen Mensch und Industrie führten in eine ökonomische Abhängigkeit von den zumeist größten Brötchengebern am Ort. Schwerwiegende Anfeindungen gegen die chemische Industrie waren aus Richtung der tendenziell protest- und partizipationsmüden Sinnentwürfe der bundesdeutschen Chemie-Anrainer deshalb nicht zu erwarten.27 Eine Aufkündigung dieses Nichtangriffspaktes hätte aufgrund der Mächtigkeit der Unternehmen ohnehin keinen Erfolg gehabt und hätte zweitens die bundesdeutsche „Wiederaufbaumentalität“ gestört.28 So musste auch außerhalb der Werkstore ein Fortschrittsoptimismus vorherrschen, der zusammen mit einer „unreflektierten Technisierung“ des Alltages einherging, um so das bestehende Ordnungsverhältnis stabil zu halten.29 Die Alternative wäre das Verlassen des bestehenden Wachstumspfades gewesen. Ein Bruch zwischen Gesellschaft und Wirtschaft, mit den pfadabhängigen Ordnungsverhältnissen, mit der pfadabhängigen Art des wirtschaftlichen Handelns sowie tradierten, kulturellen Sinnwelten zum Verhältnis von Mensch und 25 Düsseldorf, Konzernarchiv Henkel: Juristische Abteilung an Dir. Schilbock, Dr. Brand, Dr. Heinz, Dr. Wulff betreffend Geruchsbelästigungen durch unsere Kippstelle an der Nosthoffenstraße vom 25. September 1957, S. 4, in: Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. 26 Vgl. Kurt Egger: Humanökologie in Praxis und Theorie, in: GAIA Bd. 6/2 (1997), S. 146– 152, hier S. 150. 27 Siehe hierzu die „höfliche“ Beschwerdepraxis der Anwohner gegenüber den Unternehmen im Falle eines Schadens am Eigentum durch die chemischen Produktionen bei Jungkind (2013), S. 118–144. 28 Ebd., S. 135–144. Zum Sinnentwurf einer „Wiederaufbaumentalität“ vgl. Axel Schildt, Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2009, S. 98. 29 Vgl. Christian Kleinschmidt: Technik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007, S. 54.

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Industrie oder zum Verhältnis von Mensch und Natur, wäre eben keine Alternative gewesen, denn: Die Unnötigkeit, eine Alternative auf dem Wachstumspfad suchen zu müssen, sorgte für Stabilität und Wohlstand. Gerade in der direkten Nachkriegszeit wäre das Verlassen dieses Pfades zugunsten des Umweltschutzes eine ganz und gar irrationale und ineffiziente Strategie gewesen, weshalb sie auch von den Menschen außerhalb der Unternehmen nicht gefordert wurde. Ein Wandel des wirtschaftlichen Handelns war unnötig. In Bezug auf den Umweltschutz und die eben nicht vorhandenen gesellschaftlichen Erwartungen in diesem Kontext bestand im Stillstand die kulturrationale Strategie. Diese außerunternehmerischen Institutionen änderten sich jedoch Ende der 1960er-Jahre rapide und unumkehrbar, weshalb Bohmert von Angst und Protest sprach, der sogar schädliche Auswirkungen auf das Unternehmen nehmen konnte. Was veränderte sich aber an dieser Bruchstelle und wie veränderte sich daraufhin der angepeilte Wachstumspfad? Trotz der in den letzten Jahren laut gewordenen Kritik gegen die Charakterisierung von Ulrich Beck scheint seine Einschätzung über einen gesellschaftlichen Dekonstruktionsprozess zuzutreffen, der einen Übergang von einer Industrie- in eine Risikogesellschaft markierte.30 Mit diesem Übergang gingen ebenso die Bindungskräfte und Wirkungsmächtigkeiten zwischen chemischer Industrie und ihrem gesellschaftlichen Umfeld verloren. Trotz der erstmals abflachenden Konjunktur Ende der 1960er-Jahre, und der Weltwirtschaftskrise in der Folge des ersten Ölpreisschockes, scheinen aber die Erwartungen der Menschen nach einer lebenswerten Umwelt gestiegen zu sein.31 Dies artikulierte Bohmert gegenüber seinen Kollegen ja ganz deutlich, als er von der Überflügelung der schlechten wirtschaftlichen Lage durch das wachsende Umweltbewusstsein sprach. Durch die gesellschaftlichen Brüche am Ende der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik wurde in Bezug auf die Erwartungen gegenüber der Risikoproduktion der chemischen Industrie in der Tat ein Reflexionsprozess in Gang gesetzt, in dessen Folge chemisch-technische Prozesse vom gesellschaftlichen Umfeld der Unternehmen fortan als Gefahr deklariert wurden. Die Grundlage hierfür war das Ergreifen der Möglichkeit einer institutionellen Neuformierung32, die nach der Ansicht neuster Forschungen zu einer Kultur der Teilhabe führte. Der „mündige“, partizipations- und protestbereite Bürger stieg an der Dekadenwende zwischen den 1960er- und 1970er-Jahren empor.33 Wie zeigten sich nun aber diese neuen gesellschaftlichen Semantiken im Ordnungsverhältnis von Mensch, Industrie und Umwelt und welche Folgen ergaben sich dadurch für die Suche nach neuen Unternehmenspolitiken, um den Kurs auf dem Wachstumspfad beizubehalten? 30 Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986; teilweise kritisch Paul Nolte: Riskante Moderne, München 2006, S. 20–22. 31 Vgl. Thilo Jungkind: Der sterbende Rhein im Kontext der Energiefrage der 1970er-Jahre. Eine wirtschaftskulturgeschichtliche Perspektive auf die chemische Industrie, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte 3 (2013b), S. 124–134. 32 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 11. 33 Vgl. Schildt, Siegfried (Hg.) (2009), S. 365–384.

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Empirische Anwendungen

Die Veränderungen der gesellschaftlichen Sinnzuschreibungen zur Umweltschutzthematik außerhalb der Unternehmen dürfen als beispiellos in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte gelten. Aus Sicht des Neoinstitutionalismus bewirkten sie tiefschichtige Reformen im formalen Immissions- und Gewässerschutz. Die zugehörige politische Zielsetzung der sozialliberalen Koalition, die nun staatliche Eingriffe in die Risikoproduktion der chemischen Industrie etwa durch die Etablierung des Verursacherprinzips vorsah, drückte sich im „Umweltprogramm“ der neuen Bundesregierung aus.34 Das Ordnungsverhältnis zwischen Mensch, Umwelt und Industrie veränderte sich im Sinne einer „großen Transformation“35 rapide und unumkehrbar. Die konsumgesellschaftlichen Entwicklungen hatten in den 1970er-Jahren einen Wohlstandseffekt erzeugt, der nicht nur formale Umweltschutzgesetzgebungen legitimierte; viel wichtiger war: Er legitimierte die Forderungen der Menschen, nun wieder ein Recht auf die Unversehrtheit der eigenen Lebenswelt erheben zu können. Dies verschaffte den kritischen Stimmen derjenigen Umweltschützer ein starkes Gewicht, die sich bis dahin aufgrund ihres Wissens um Erfolglosigkeit des Protestes im Verborgenen hielten. Das heißt auch, die normativen wie kulturell-kognitiven Dimensionen in Bezug auf den Umgang mit der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt drehten sich einmal im Kreise. Unterstützt von einem massenmedialen Resonanzboden wurden die schlimmen Verhältnisse um die Chemiewerke herum nun öffentlicher. Dieser Umstand leistete der aufkeimenden Wissensgesellschaft Vorschub und es entstand institutioneller Druck auf die chemische Industrie, was Bohmert gerade zu seiner Ansprache an die Kollegen veranlasste. Die chemische Industrie musste die von ihr als exklusiv deklarierten Rechte am Wissen um chemisch-technische Gefahren aufgeben. Vor allem wurde den Unternehmen der chemischen Industrie durch diese neue gesellschaftliche Konstellation nun nicht mehr ökonomisches Heil, sondern die Verursachung ökologischen Unheiles zugeschrieben. In Bohmerts Worten wurde die Verschmutzung der Umwelt durch die Branche und das eigene Unternehmen zu einem Angstfaktor. Dies erkannten auch die Unternehmensvertreter jenseits der PR-Abteilungen erstaunlich schnell: „Rauchende Schornsteine waren gestern noch ein Zeichen für die Prosperität eines Unternehmens. Heute gelten sie geradezu als die Inkarnation des Bösen.“36 Damit erkannten die Unternehmen gleichsam das Ende der Art und Weise, die sie bis dahin auf dem Wachs34 Vgl. Bundesministerium des Innern: Umweltpolitik. Das Umweltprogramm der Bundesregierung. Mit einem Vorwort von Werner Maihofer, 5. Aufl., Stuttgart 1976. 35 Vgl. Osterhammel (2011), S. 627; Joachim Radkau spricht aus einer umweltgeschichtlichen Perspektive von einer Kettenreaktion. Vgl. ders.: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011, S. 134–164. 36 Düsseldorf, Konzernarchiv Henkel: Referat von Dr. P. Behrt auf der Konferenz der HenkelUmweltschutzbeauftragten am 4. Juni 1971 „Umweltschutz - eine internationale Aufgabe“, S. 5, in: Konzernarchiv Henkel: Zug.-Nr. 451, Akten Opderbecke, Umweltschutz-Kommission/ Konferenzen. Allgemein vgl. Kai F. Hünemörder: Kassandra im modernen Gewand. Die Umweltapokalyptischen Mahnrufe der frühen 1970er Jahre, in: Frank Uekötter, Jens Hohensee (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Stuttgart 2004, S. 80– 85.

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tumspfad verharren ließ. Mit den veränderten gesellschaftlichen Erwartungen hinsichtlich der chemischen Risikoproduktion ging eine allgemeine Industriekritik einher. Die vorherigen Ordnungsverhältnisse zwischen Mensch, Industrie und Umwelt wurden abgelöst. Pointiert gesprochen: Die chemische Industrie verlor an politischer Macht und sie verlor ebenfalls an Deutungshoheit darüber, was gefährlich sei und was nicht. Trotz zeitgenössischer Verbesserungen der Umweltbedingungen37 und der Öffnung von Unternehmen hinsichtlich der Beachtung der neuen gesellschaftlichen Erwartungen entwickelte sich ein ständiges Ringen um die Verminderung des Druckes vonseiten des institutionellen Kontextes und der kulturellen Rahmung außerhalb der Unternehmen. Ganz deutlich zeigte sich dies im Sommer 1975. Durch die Folgen der ersten Ölpreiskrise drängte die (chemische) Industrie auf ein Spitzengespräch mit Bundeskanzler Helmut Schmidt. Vor allem die Umweltgesetzgebungen sollten von der Bundesregierung überdacht werden, um die ohnehin ökonomisch angespannte Situation zu entschärfen. Der alte Wachstumspfad sollte trotz des erkannten Bruches mit dem gesellschaftlichen Umfeld wieder beschritten werden. Dieser Wunsch wurde der chemischen Industrie gleichwohl verwehrt. Der Umweltschutz musste nach strategischen Gesichtspunkten geplant und effizient in die Organisationen implementiert werden38, wie ein von der Bayer AG ausgearbeitetes Positionspapier nach den Gesprächen mit dem Bundeskanzler zum weiteren Verhältnis von Ökologie und Ökonomie zeigt: „Steigende Forderungen aus der Gesetzgebung und die Haltung aktiver Bevölkerungsgruppen haben auf allen Gebieten des Umweltschutzes den Umfang der Maßnahmen und Aufwendungen stark anwachsen lassen. […] Die Summe der Aufwendungen ist von der Entwicklung des Umsatzes unabhängig. […] Es muß daher angestrebt werden, den Umweltschutz nicht um seiner selbst willen […] zu betreiben. […] Wenn bestimmte Verfahren hohe Kosten verursachen, wird nach einer Änderung des Verfahrens gesucht werden, die diese Kosten vermindert. Ist eine solche Suche erfolglos, wird man sich sicher früher oder später entschließen, das Verfahren aufzugeben. […] Der Entschluß wird umso leichter fallen, je höher damit verbundene Nebenkosten sind (Genehmigungsverfahren, PR usw.). Eine langfristige Konzeption der chemischen Industrie für alle Fragen des Umweltschutzes wird immer notwendiger.“39

Besonders durch die Folgen der ersten ernst zu nehmenden Rezession der Nachkriegszeit und durch das Dioxinunglück von Seveso40 im Sommer 1976 bildete sich zusammen mit den Veränderungstendenzen vom Ende der 1960er-Jahre eine 37 Vgl. Werner Wäßle: Das Verhältnis von Industrie und Umwelt seit 1945, in: Hans Pohl (Hg.): Industrie und Umwelt. Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 69 (1993), S. 45–69, hier S. 59–64. 38 Zum Spitzengespräch zwischen der chemischen Industrie und der Bundesregierung vgl. Jungkind (2013), S. 178–185. 39 Leverkusen, Bayer Archiv: Dr. Weber an Prof. Weise betreffend Ökologie – Ökonomie vom 9. Dezember 1975, in: 388/141 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein ab 01.07.74. 40 Vgl. Stefan Böschen: Katastrophe und institutionelle Lernfähigkeit. Seveso als ambivalenter Wendepunkt der Chemiepolitik, in: Lars Clausen, Elke M. Geenen, Elísio Macamo (Hg.): Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen, Münster 2003, S. 139– 162, hier S. 153; ebenso Jungkind (2013), S. 247ff.

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sozioökonomische Gemengelage, die Umweltschutz und Sicherheit mit einer Unternehmenskritik respektive einer Kritik an der liberalen Wettbewerbsordnung der Bundesrepublik verband. Damit wurde eine „kulturelle Lücke“ gefüllt, die sich aus der Sicht eines Großteiles der unternehmerischen Umwelt um die Tatsache eines nicht stattgefundenen Reifungsprozesses gebildet hatte, dass also der technische, wissenschaftliche und ökonomische Fortschritt nicht mehr das einzige anzustrebende gesellschaftliche Ziel sein dürfe.41 Patriarchale Ordnungsvorstellungen zwischen Unternehmen und ihrem gesellschaftlichen Umfeld fielen diesen neuen Sinnmustern genauso zum Opfer wie die oben dargestellte Expertenhörigkeit. Die Proteste vor den Werkstoren richteten sich folglich nicht nur gegen die rauchenden Schornsteine, sondern sie richteten sich gleichermaßen gegen die alten, autoritären Funktionseliten, die an der Spitze der chemischen Industrie standen und eine solche Risikopolitik betrieben. Bohmert erkannte diese Grundströmung gleichermaßen, die man als Unternehmen nicht mehr länger ignorieren dürfe. Der Umweltschutz-Gedanke vermischte sich peu à peu im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre mit handfester Kapitalismuskritik, wodurch sich ein oft unreflektiertes Gut-Böse-Verhältnis zwischen Unternehmen der chemischen Industrie und weiten Teilen ihres gesellschaftlichen Umfeldes konstituierte. Ob Bohmert diesen Zusammenhang jedoch 1972 erahnen konnte, sei dahingestellt. Gleichwohl entwickelte sich aufseiten der Unternehmen die Notwendigkeit, ständig über die Art und Weise, wie Wachstum und Wohlstand in der Zukunft zu generieren sei, verhandeln zu müssen. Die chemische Industrie galt aufgrund ihres inhärenten Gefährdungspotenzials nicht mehr als legitimer gesellschaftlicher Akteur.42 Deshalb musste der oberste Kommunikationsexperte der Firma Henkel eine Strategie ausarbeiten, die die gesellschaftlichen Erwartungen berücksichtigte. Gleichzeitig musste er die alte Unternehmenskultur versuchen in eine Richtung zu lenken, die eine solche nun notwendige Strategie überhaupt akzeptierte. Die einzige Alternative, der sich die chemische Industrie gegenübersah, bestand in der Erfüllung der neuen gesellschaftlichen Erwartungen. Das Verlassen des alten Wachstumspfades und die Suche nach Möglichkeiten, den neuen, erwünschten Wachstumspfad zu beschreiten, hatten natürlich ihren Preis. Neben die PR-Aktionen, wie sie Bohmert als notwendig darstellte, rückten gigantische Imagekampagnen der Unternehmen. Sie wurden entweder über den Verband der chemischen Industrie gesteuert oder in Eigenregie erarbeitet und verschlangen brachenweit bereits im Jahr 1972 mehrere zweistellige Millionen-DM-Beträge, denn: „Das Image der chemischen Industrie lässt sich mit dem Symbol des Januskopfs beschreiben – Fortschritt/Lebenserleichterung ist das eine, Umweltgefähr41 Vgl. Bertram Schefold: Umweltökonomie. Die Entstehung einer Fachdisziplin vor dem Hintergrund von Weltuntergangsängsten, Kapitalismuskritik und Methodenkontroversen zur neoklassischen Theorie, in: Karl Acham, Knut W. Nörr, Bertram Schefold (Hg.): Der Gestaltungsanspruch der Wissenschaft. Aufbruch und Ernüchterung in den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften auf dem Weg von den 1960er zu den 1980er Jahren, Stuttgart 2006, S. 511–539, hier S. 515. 42 Vgl. Jungkind (2013), S. 296–303.

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dung ist das andere Gesicht.“43 Ähnlich verhielt es sich mit den Investitionen in die Umweltschutztechnologie. Für das Beispiel der deutschen Standorte des Bayer-Konzernes stiegen sie zwischen 1963 und 1981 von 23 auf 130 Millionen DM pro Jahr, was anteilig an den Gesamtinvestitionen eine Wachstumsrate von bis zu vier Prozent bedeutete.44 Solche rein betriebswirtschaftlichen Kerngrößen waren einzig nötig geworden, um den Anforderungen des neuen organisationalen Feldes zu genügen. Die Aufwendungen wurden nötig, um weitere Transaktionskosten zu vermeiden, die sich bei der Beibehaltung des alten Wachstumspfades schon aus Sanktionen bei der Nichtbeachtung der neuen Umweltschutzgesetzgebung ergeben hätten. Deshalb darf hier sicherlich von (Re-)Integrationskosten der chemischen Industrie gesprochen werden. Sie dienten der neuen Legitimierung der Branche als anerkannter und erwünschter gesellschaftlicher Akteur innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft. Bewertung Brüche mit Wachstumspfaden können die Herausbildungen völlig neuer Systemparameter von revolutionärer Qualität sein.45 Diese Herausbildung vollzieht sich in historischen Situationen, in denen stets neue Spielregeln über die Generierung von Wachstum und Wohlstand zwischen Wirtschaft und Gesellschaft konsensual ausgehandelt und umgesetzt werden. Pfadabhängigkeiten sind damit ein mehrdimensionales historisches Phänomen. Friedrich Bohmert erkannte den Bruch zwischen Wirtschaft und Gesellschaft aufgrund der Umweltverschmutzungen durch die chemische Industrie und die veränderten gesellschaftlichen Erwartungen außerhalb der Unternehmen. Ein im Wettbewerb stehendes Unternehmen musste von nun an auch ein ökologischethisch handelndes Unternehmen sein, wofür die Unternehmen ihrerseits die Aufgabe von Protesten vor ihren Werkspforten forderten. Der Bruch mit dem institutionellen Arrangement der industriellen Hochmoderne und die Etablierung eines neuen Institutionengefüges einer Risikogesellschaft veränderten für die chemische Industrie und ihre Entscheidungsträger ganz grundlegend die kulturelle Rahmung, in der sie nun überleben mussten. Die Branche galt nach 1945 gemäß ihren Pfadabhängigkeiten als ökonomischer Heilsbringer und Erfolgsgarant für die Nachkriegsprosperität. Sie galt aber vom Ende der 1960er-Jahre an als ökologischer Zerstörer. Auch jenseits von Image-Kampagnen musste der Industriezweig

43 Leverkusen, Bayer Archiv: Aktennotiz der Werksverwaltung / AWALU betreffend Öffentlichkeitsarbeit und Werbung in Fragen Umweltschutz vom 14. November 1972, in: 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU II bis Ende 1972. 44 Vgl. Jungkind (2013), S. 185. 45 Vgl. Margrit Grabas: Wandel, Krise, Umbruch. Begriffsannäherungen und kritische Reflexionen aus wirtschafts-, sozial- und innovationshistorischer Perspektive, in: Fondation Bassin Minier (Hg.): Mutations, Luxemburg 2012, S. 11–23, hier S. 18.

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Legitimität zurückgewinnen. Diese wechselseitigen Erwartungen zu erfüllen, kostete enorme Summen an ökonomischem und sozialem Kapital. Mit der Idee, Wandel und Stabilität durch das Konzept der Pfadabhängigkeit zusammen mit neoinstitutionalistischen Überlegungen zu deuten, wird klarer analysierbar, wie und warum Unternehmen in unterschiedlichen historischen Kontexten funktions- und handlungsfähig bleiben. Ja mehr noch: Ein solcher Ansatz zeigt, dass Volkswirtschaften auf ein Miteinander von Mensch und Unternehmen angewiesen sind. Die in historischen Alltagen und Lebenswelten geltenden Institutionen sind dabei die Anreize für beide Seiten. Ganz ähnliche Zusammenhänge erkannte auch Douglass North, der abseits einer evolutionstheoretischen Sichtweise von der Durchsetzung ineffizienter Spielregeln in wirtschaftlichen Prozessen ausging. Er begründete diese Annahme mit der Existenz von formlosen Institutionen (Kultur) innerhalb ökonomischer Räume und Entscheidungen. Neben der gerechtfertigten Kritik am North’schen Kulturbegriff argumentiert er rein makroökonomisch, weshalb ihm ein zentraler Akteur zur Beibehaltung von Wachstumspfaden abhanden kam: Unternehmen. Im Kontext der Verbindung des Pfadabhängigkeitskonzeptes und neoinstitutionalistischen Überlegungen sind (Um-)Brüche als institutionell begründbarer Wandel respektive als Wandel von Institutionen zu verstehen. Durch den Neoinstitutionalismus werden Unternehmen glaubhaft als Akteure in historisch relevante Situationen mit weitreichenden ökonomischen Folgen eingeführt. Die Beibehaltung von Wachstumspfaden beziehungsweise die Suche nach Alternativen, um auf ihnen voranzuschreiten oder sie zu verändern, gelingt nur unter Berücksichtigung von Unternehmen. Mit anderen Worten: Wachstum und Wohlstand zu erzeugen, zu perpetuieren oder neu zu erfinden, ist eine gemeinsame Aufgabe von Wirtschaft und Gesellschaft. Um gerade keinem Umbruch anheimzufallen, ist es wichtig, die Art und Weise des Wirtschaftens ständig zu reflektieren. So hatte es auch Friedrich Bohmert im Jahr 1972 getan und das Unternehmen Henkel zu einem Vorreiter in Sachen Umweltschutz und Sicherheit gemacht, das seither in keine ernsthaften Skandale mehr verstrickt wurde und den Weg zusammen mit seinem gesellschaftlichen Umfeld in Richtung eines „green capitalist“ fand. Literatur Beyer, Jürgen: Über institutionelle Kontinuität, anfällige Stabilität und fundamentalen Wandel, Frankfurt a.M. u.a. 2006. Jungkind, Thilo: Risikokultur und Störfallverhalten der chemischen Industrie. Gesellschaftliche Einflüsse auf das unternehmerische Handeln von Bayer und Henkel seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2013. Reitmayer, Morten/Rosenberger, Ruth (Hg.): Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008. Schildt, Axel/Siegfried, Detlef: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2009. Scott, William R.: Institutions and Organizations. Ideas and Interests, 3. Aufl., Los Angeles u.a. 2008.

4.3.2 TRANSFORMATION: DER NATIONALSOZIALISTISCHE UMBAU DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFTSORDNUNG NACH 1933 Armin Müller Transformationen gehören zu den Grundthemen der Wirtschaftswissenschaften. Dies betrifft sowohl die volkswirtschaftliche als auch die betriebswirtschaftliche Forschung und damit auch die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. In mikroökonomischer Perspektive wird die Transformationsforschung zumeist unter der gemeinsamen Klammer eines „Change Management“ oder als Teilthema des Bereiches Organisationsentwicklung zusammengefasst.1 In makroökonomischer Perspektive wird unter Transformationen der zumeist abrupte und revolutionäre Wandel der wirtschaftlichen Ordnung, vor allem der geltenden institutionellen Rahmenbedingungen auf gesamtwirtschaftlicher Ebene, charakterisiert. In der empirisch und theoretisch ausgerichteten Wirtschaftsgeschichte gehörten Phasen des schnellen Wandels von Anfang an zu den bevorzugten Untersuchungsgegenständen. An ihnen können Theorien und Modelle ihre Geltungs- und Erklärungskraft beweisen. Traditionell wurden Transformationsthemen zumeist an Diskussionen um Wirtschaftsordnungen und Wirtschaftssysteme angebunden. Dabei richtet sich der Blick bei den Wirtschaftsordnungen vorrangig auf die formellen und informellen Rahmenbedingungen („institutionelle Arrangements“).2 Diese institutionelle Perspektive soll im Folgenden auf ein Fallbeispiel der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert angewendet werden. Ausgewählt wurde die wirtschaftliche Transformation infolge der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nach 1933. Ausgehend vom „Wirtschaftlichen Sofortprogramm der NSDAP“ vom Juli 1932 als Quelle, wird zunächst in die wirtschaftspolitische Programmatik der NSDAP eingeführt. Daran anschließend wird der institutionellen Neugestaltung der Wirtschaftsordnung in der ersten Phase der NS-Herrschaft bis etwa 1936 nachgegangen und diese als systematische Transformation im Sinne der von der NSDAP formulierten Ziele beschrieben.

1

2

Vgl. Gerhard Schewe, Christoph Brast: Change-Management. Facetten und Instrumente, Hamburg 2003; Kerstin Stolzenberg, Krischan Heberle: Change Management. Veränderungsprozesse erfolgreich gestalten – Mitarbeiter mobilisieren: Vision, Kommunikation, Beteiligung, Qualifizierung, 3. Aufl., Berlin u.a. 2013. Vgl. Gerold Ambrosius: Staat und Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie und Geschichte, Stuttgart 2001, S. 11f.

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Konzeptspezifikation Der zunehmende Gebrauch des Transformationsbegriffes ist ein Ergebnis der Epochenwende von 1989–1991, als die kommunistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen Mittel- und Osteuropas einen radikalen Wandel hin zu liberaldemokratischen Systemen vollzogen.3 In den letzten zwei Jahrzehnten wurde die Perspektive vor allem durch den globalisierten, transnationalen Blick auf Entwicklungs- und Schwellenländer erweitert. Unter Transformationsperspektive wurde deren politisch-gesellschaftlicher sowie ökonomischer Wandel hin zum westlichen Modell liberaldemokratischer Marktwirtschaften betrachtet. Schon die Analyse unterschiedlicher Fallbeispiele in Mittel- und Osteuropa und deren Vergleich brachte ein breites Spektrum an sehr unterschiedlichen und auch – gemessen an den selbst gesteckten Zielen – unterschiedlich erfolgreichen Transformationsprozessen zutage. Mit der Einbeziehung der wirtschaftlichen Entwicklungen in Entwicklungs- und Schwellenländern in den Vergleich öffnete sich auch die historische Vergleichsperspektive und ging über das Modell der westlichen Wachstumswirtschaft hinaus. Damit knüpfen die gegenwartsorientierten Analysen an historische Diskussionen und Erklärungsansätze um das Konzept der Industriellen und damit auch der Institutionellen Revolution an. In einer eng den neoklassischen Theorien verbundenen Institutionenlehre wird institutioneller Wandel an folgende drei Prämissen geknüpft: Erstens wird er auf individuelle Wahlentscheidungen zurückgeführt. Das heißt, die beteiligten Akteure (Politiker und Unternehmer) wägen zwischen möglichen Alternativen ab und entscheiden sich nach rationalen und ökonomisch sinnvollen Argumenten für oder gegen ein Regelsystem. Zweitens werden Institutionen als knappe Güter verstanden, deren Preis bzw. (Transaktions-) Kosten über diese Entscheidungen minimiert werden sollen. Das heißt, in jeder Situation müssen die beteiligten Akteure mit Kosten rechnen. Es geht darum, diese im Entscheidungsprozess richtig einzuschätzen und sich für dasjenige Regelsystem zu entscheiden, das die geringsten (Transaktions-) Kosten verursacht. Drittens geht man davon aus, dass ein Institutionengefüge, das die Verfügungsrechte spezifisch und exklusiv zuordnet, sich positiv auf die Leistungsbereitschaft der Akteure und damit der gesamten Wirtschaftsentwicklung auswirkt. Somit gibt es ein bevorzugtes Regelsystem, nämlich das der privatwirtschaftlichen Ordnung, das zum besten Wirtschaftsergebnis im Sinne einer leistungsorientierten Wachstumswirtschaft führt.4 Treibende Kraft des Wandels ist in diesem Modell die Suche nach „effizienten“, kostenminimierenden Institutionen. Der Wandel der Wirtschaftsordnungen lässt sich auf das allgemeine Bestreben zurückführen, die Transaktionskosten in 3

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Vgl. Wolfgang Merkel: Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2. Aufl., Wiesbaden 2010; Adam Przeworski: Democracy and the Market. Political and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin America, New York u.a. 1999; Juan J. Linz, Alfred C. Stepan: Problems of Democratic Transition and Consolidation. Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, Baltimore 1996. Vgl. Ambrosius (2001), S. 46.

Transformation

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einer Volkswirtschaft zu senken. Demnach setzen sich neue, institutionelle Arrangements durch, wenn diese günstigere Transaktionskostenstrukturen gegenüber der bisherigen Ordnung aufweisen.5 Die vergleichende Transformationsforschung lehrt uns aber, dass die dritte Prämisse nicht aufrechterhalten werden kann: Die Annahme, dass sich spezifische und exklusiv zuweisbare Verfügungsrechte für Erfolg, Wachstum und Stabilität einer modernen Wirtschaftsordnung verantwortlich zeichnen, ist eine Ableitung aus dem liberal-marktwirtschaftlichen Idealtypus und war Grundlage beispielsweise der Modernisierungstheorien in der zweiten Hälften des 20. Jahrhunderts.6 Der empirische Blick auf die europäischen und nicht europäischen Wege in eine Wachstumswirtschaft zeigt aber, dass viele dieser Volkswirtschaften keineswegs nur auf das Modell von Privateigentum und Marktwirtschaft (spezifisch-exklusive Verfügungsrechte) setzten. Sie sind stattdessen – als Gegengewicht und Ergebnis sozialer und politischer Kompromisse – auch stark von kollektiven und nicht spezifizierten Verfügungsrechten geprägt. Diese gemischten Regelsysteme verursachen in der Summe häufig geringere Transaktionskosten. Zurückzuführen ist dies darauf, dass Wirtschaftsakteure keineswegs vollständig rational entscheiden. Ihre Präferenzen werden stattdessen wesentlich von soziokulturell vorgeprägten und maximal begrenzt rationalen Sinn- und Handlungsmustern gesteuert. Insofern wird auch die Kostenstruktur bestehender Institutionenordnungen wesentlich von der Akzeptanz oder Ablehnung durch die Akteure auf Grundlage dieser Präferenzordnungen bestimmt. Für den institutionellen Wandel heißt das, dass dieser weniger durch individuelle Wahlentscheidungen als durch einen kollektiven, gesellschaftlichen Prozess ausgelöst wird, bestehende Regelsysteme (institutionelle Arrangements) als ineffektiv zu erkennen, diesen die Legitimation zu entziehen und neue institutionelle Ordnungselemente an die Stelle der alten zu setzen. Im Folgenden wird insofern ein weites Verständnis von institutioneller Transformation vertreten und verfolgt, das prinzipiell jede Form von Wandel oder Wechsel einer Wirtschaftsordnung und ihrer zentralen institutionellen Arrangements einschließt. Der Begriff der Transformation ist breit genug, um Analysen und Vergleiche über zeitliche Epochen hinweg (zeitlichdiachron) oder auch zwischen parallel existierenden Systemen (zeitlich-synchron) zu ermöglichen7 und daraus fruchtbare Ableitungen über das Phänomen des institutionellen Wandels in modernen Gesellschaften und Volkswirtschaften treffen zu können.

5 6

7

Ebd. Klassisch hierzu Walt W. Rostow: The Stages of Economic Growth: A Non-Communist Manifesto, Cambridge 1960; eine zweite Welle erlebte die Modernisierungstheorie nach dem Ende des Kommunismus, sie wurde ausgelöst durch Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man, New York u.a. 1992. Vgl. Hartmut Kaelble: Historischer Vergleich. Version: 1.0 2012, online unter http:// docupedia.de/zg/Historischer_Vergleich?oldid=84623 (Zugriff 02.04.2013).

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Empirische Anwendungen

Operationalisierung Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts stand immer wieder im Zeichen großer wirtschaftlicher Transformationsprozesse. In enger Verbindung mit dem Wechsel der politischen Systeme wurde auch das wirtschaftlich-institutionelle Regelsystem weitreichenden Änderungen unterworfen. Während die Wirtschaft der Weimarer Republik noch von großen Kontinuitäten zur institutionellen Ordnung des Kaiserreiches geprägt war8, veränderte sich die Wirtschaftsordnung nach der Weltwirtschaftskrise und mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Wie im Fallbeispiel näher ausgeführt, kann dieser Prozess als erste Transformation der deutschen Wirtschaft charakterisiert werden. Dem Ende von NSHerrschaft und Zweitem Weltkrieg folgten die deutsche Teilung und gleich zwei weitere ökonomische Transformationen. Während mit der Gründung der DDR der Aufbau einer sozialistischen Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild einherging9, verfolgte die westdeutsche Bundesrepublik den Weg einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die als Soziale Marktwirtschaft charakterisiert wird.10 Mit dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung 1990 ging eine vierte Transformation einher, in der die westdeutsche Institutionenordnung auf das Gebiet der Neuen Bundesländer übertragen wurde.11 Darüber hinaus wird in der Forschung mittlerweile eine fünfte Transformation diskutiert, deren Ursachen in den Prozessen der Europäisierung und Globalisierung liegen und die die deutsche und europäische Wirtschaft seit den 1970er-Jahren schrittweise verändert hat.12 Bei all diesen historischen Prozessen gilt es zwischen theoriegeleiteten Idealtypen und realwirtschaftlichen Systemen zu unterscheiden. Idealtypen werden nach Max Weber „durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch den Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret (…) vorhandenen Einzelerscheinungen (…) zu einem in sich einheitlichen Gedanken“ gebil-

8

Vgl. Clemens Wischermann, Anne Nieberding: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004, S. 288. 9 Vgl. André Steiner: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, Bonn 2007. 10 Vgl. Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1945 bis zur Gegenwart, 2. Aufl., München 2011. 11 Vgl. Martin Baethge, Peter Bartelheimer: Deutschland im Umbruch, in: Holger Alda, Martin Baethge (Hg.): Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland. Arbeit und Lebensweisen, Wiesbaden 2005, S. 11–37; Rolf Reißig: Von der privilegierten und blockierten zur zukunftsorientierten Transformation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2010), S. 20–25. 12 Vgl. Rolf Reissig: Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert. Ein neues Konzept sozialen Wandels, Wiesbaden 2009; Friederike Sattler, Christoph Boyer (Hg.): European Economic Elites. Between a New Spirit of Capitalism and the Erosion of State Socialism, Berlin 2009; Dietmar Süß: Idee und Praxis der Privatisierung. Eine Einführung, in: Norbert Frei, Dietmar Süß (Hg.): Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012, S. 11–33.

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det.13 Die Diskussion zu Wirtschaftsordnungen bildete hier eine bipolare Systematik mit den Idealtypen „Marktwirtschaft“ und „Zentralverwaltungswirtschaft“, die in Deutschland aus der Gegenüberstellung der Bundesrepublik und der DDR gewonnen wurden.14 Dabei verweist schon Weber auf die Grenzen solcher Idealtypen: „In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe und wie fern die Wirklichkeit jedem Idealbilde steht, (…).“15

Dies gilt auch für die beiden empirischen Wirklichkeiten, die den Idealtypen Marktwirtschaft und Zentralplanwirtschaft als Vorbilder standen: Die ökonomische Realität der Bundesrepublik sowie der DDR lassen sich somit nur bedingt in Deckung mit den Idealtypen bringen, sie war vielfältiger und auch widerspruchsreicher, als es institutionelle Merkmalskataloge bezüglich der Idealtypen vortäuschen. In regelmäßigen Abständen arbeitet sich die Wirtschaftsgeschichte an der Einordnung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems in den Kontext dieser Idealtypen ab. Gerade diese intensive Debatte mit ihrem Austausch an Argumenten und empirischen Ergebnissen macht das NS-Wirtschaftssystem zu einem guten Beispiel, um ökonomische Transformationsprozesse zu veranschaulichen. Dabei helfen die Diskussionen, um Institutionen, ihr Zustandekommen, ihre Wirkung und Grenzen einzuführen. Schon der Blick auf die ersten fünf Jahre nach 1933 zeigt einen weitreichenden Transformationsprozess der deutschen Wirtschaftsordnung unter nationalsozialistischer Herrschaft. Dieser wiederum ist nur durch einen Rückblick auf den Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 zu verstehen, die international zu wirtschaftlicher Depression und Massenarbeitslosigkeit führte. Das Deutsche Reich war eines der am stärksten von den Folgen betroffenen Länder. Die Auswirkungen der internationalen Krise wurden durch die Austeritätspolitik der Reichsregierungen unter Kanzler Heinrich Brüning verschärft. Das Vertrauen in Regierung, Parteien und damit in die Lösungskompetenz der Weimarer Demokratie sank in der Folge auf einen Tiefpunkt. Diese Situation bildete den fruchtbaren Boden, auf dem sich Hitler und die NSDAP entfalten konnten. Ausgangspunkt der Diskussion in der Forschung ist die Beobachtung, „dass der Nationalsozialismus die Weltwirtschaftskrise relativ rasch überwinden und die deutsche Wirtschaft mit einigem Erfolg zur Rüstungs- und schließlich zur Kriegs-

13 Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. in: ders.(Hg.): Schriften 1894–1922, Stuttgart 2002, S. 77–149, hier S. 126. 14 Vgl. Jochen Streb: Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem: Indirekter Sozialismus, gelenkte Marktwirtschaft oder vorgezogene Kriegswirtschaft, in: Werner Plumpe, Joachim Scholtyseck (Hg.): Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik, Stuttgart 2012, S. 61–83, hier S. 73. 15 Weber (2002), S. 126.

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produktion heranziehen konnte“16. Über das ursächliche Moment für diesen Aufschwung sind sich die Forscher nicht einig, ein wesentlicher Punkt liegt aber sicherlich in der interventionistischen Politik, einer Ausdehnung der Staatsaktivitäten, einer Regulierung der Außenwirtschaft und von Eingriffen in das Wirtschaftsgeschehen im Inneren. Spätestens mit der Kriegswirtschaft beschleunigten sich diese Tendenzen und wurden mit umfangreichen Mitteln einer Zwangswirtschaft verstärkt. Als wirtschaftlich wichtigste Zensur hin zur unmittelbaren Kriegsvorbereitung gilt der Vierjahresplan von 1936, einer geheimen Denkschrift Hitlers, in der eine baldige Kriegsfähigkeit von Wirtschaft und Militär und die wirtschaftliche Autarkie der deutschen Volkswirtschaft als zentrale politische Aufgabe formuliert wurden.17 Umstritten war lange Zeit die Frage, ob in der NS-Wirtschaft ein „Primat der Politik“ oder ein „Primat der Ökonomie“ galt.18 Mit „Primat der Politik“ wird eine Konstellation umschrieben, in der die ökonomische Sphäre den politischen Rahmenzielen des Regimes untergeordnet wurde, der nationalsozialistisch dominierte Staat als aktiver Spieler in Erscheinung trat und alle institutionellen Arrangements in diesem Sinne ausgerichtet wurden. Das Gegenmodell – Primat der Ökonomie – ist die Annahme, dass das NS-Regime und seine Politik maßgeblich von den Interessen von Industrie und Banken gelenkt und bestimmt wurden. Im Vergleich zu den Wurzeln dieser Auseinandersetzung im Kalten Krieg wird ein Primat der Ökonomie heute nur noch stark relativiert vertreten. Diskutiert wird heute in der Wissenschaft vielmehr, inwieweit eine (teil-) autonome Sphäre der Wirtschaftsunternehmen mit eigener, politisch maximal indirekt beeinflusster Handlungslogik beschrieben werden kann oder ob Staat und Politik hier auf direkterem Weg ihren Einfluss geltend machten. Insofern ist die Frage nach dem Primat in die Frage nach der ökonomischen Steuerung übergegangen. Dieser Perspektivwechsel ist im Kern die Folge intensiver Forschung auf der Mikroebene der NS-Wirtschaft. Eine ganze Reihe von unternehmensgeschichtlichen Arbeiten sowie Forschungen zum realen Verhalten und von staatlichen Akteuren im Prozess der Gesetzesimplementierung und Vollstreckung liefert uns heute ein viel besseres und genaueres Bild der Vorgänge, Konflikte und Wirkungen der Maßnahmen, als wenn man nur die Makroebene politischer Programme,

16 Werner Abelshauser, Jan-Otmar Hesse, Werner Plumpe: Wirtschaftsordnung und Unternehmen im Nationalsozialismus. Neuere Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, in: Dietmar Petzina u.a. (Hg.): Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 9–16, hier S. 10. 17 Vgl. Denkschrift Hitlers über die Aufgabe eines Vierjahresplans, in: Vierteljahrschrift für Zeitgeschichte 3 (1955), S. 204–210; zur Interpretation vgl. auch Dietmar Petzina: Autarkiepolitik im Dritten Reich: der nationalsozialistische Vierjahresplan, Stuttgart 1968. 18 Die Debatte wird nachgezeichnet bei Carola Sachse: Revisited: Primat der Politik, Primat der Ökonomie, in: Norbert Frei, Tim Schanetzky (Hg.): Unternehmen im Nationalsozialismus: Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, Göttingen 2010, S. 48–61.

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staatlicher Gesetze und Verordnungen im Blick hat.19 Grundsätzliche Fragen nach einem Primat weichen hier differenzierten und oft auch widersprüchlichen Einschätzungen realwirtschaftlicher und realpolitischer Prozesse. Ein entsprechender Perspektivwechsel ist im Grunde aber nicht ungewöhnlich, sondern könnte auch für andere Epochen und Wirtschaftssysteme beschrieben werden. Letztlich steht dahinter die Frage nach dem Charakter der NSWirtschaftsordnung. Deren Eigenständigkeit wurde bislang weitgehend im Abgleich zu den beiden Idealtypen Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft erklärt. Es ging vor allem darum, Ähnlichkeiten und Unterschiede zur planwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung der DDR zu benennen.20 Wichtiger Teilaspekt dieser Fragestellung war die Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Markt im institutionellen Gefüge. Inwieweit bestimmten dirigistische Elemente den Wirtschaftsalltag? Inwieweit blieben Grundzüge marktwirtschaftlicher Austauschprozesse intakt? Genauer formuliert geht es um die Frage nach der ökonomischen Steuerung und den dabei zum Einsatz kommenden Institutionen. Als Ausgangspunkt der folgenden Einführung in den Transformationsprozess ab 1933 wurde das „Wirtschaftspolitische Sofortprogramm“ der NSDAP von 1932 ausgewählt.21 Damit hatten Hitler und die NSDAP erstmals und sehr spät wirtschaftspolitische Leitlinien vorgelegt. Darin finden sich sehr konkrete Vorstellungen von dem als notwendig erachteten Umbau der deutschen Wirtschaftsordnung. In der darauffolgenden Analyse der Maßnahmen wird diskutiert, inwiefern die Transformation in der ersten Phase bis 1936 mit dieser Quelle passend beschrieben werden kann und welche Grenzen mit der Verwendung verbunden sind. Fallbeispiel „Wie der Einzelne ins Elend kommt, wenn er nicht mehr arbeitet, so muß auch ein ganzes Volk im Elend versinken, wenn es seine Arbeitskraft brach liegen läßt und den Fortbestand eines politisch-wirtschaftlichen Systems duldet, das die arbeitsfähigen und arbeitswilligen 19 Vgl. z.B. die Beiträge in Johannes Bähr, Ralf Banken (Hg.): Wirtschaftssteuerung und Recht im Nationalsozialismus. Studien zur Entwicklung des Wirtschaftsrechts im Interventionsstaat des ‚Dritten Reiches‘, Frankfurt a.M. 2006; Jonas Scherer: Die Logik der Industriepolitik im Dritten Reich. Die Investitionen in die Autarkie- und Rüstungsindustrie und ihre staatliche Förderung, Stuttgart 2008; Stefanie Middendorf, Kim Christian Priemel: Jenseits des Primats. Kontinuitäten der nationalsozialistischen Finanz- und Wirtschaftspolitik, in: Birthe Kundrus, Sybille Steinbacher (Hg.): Kontinuitäten und Diskontinuitäten: der Nationalsozialismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 94–120. 20 Vgl. z.B. Peter Temin: Soviet and Nazi Economic Planning in the 1930s, in: Economic History Review 44 (1991), S. 573–593; Richard J. Overy: War and Economy in the Third Reich, Oxford u.a. 1994, S. 118; Peter Hayes: Corporate Freedom of Action in Nazi Germany, in: Bulletin of the German Historical Institute 45 (2009), S. 29–42. 21 Hauptabteilung IV der Reichsorganisationsleitung der NSDAP: Wirtschaftliches Sofortprogramm der NSDAP, München 1932.

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Empirische Anwendungen Volksgenossen an der Erarbeitung ihres Lebensunterhalts verhindert. (…) Nur planmäßige Arbeitsbeschaffung kann die Umkehr bringen. Wenn die öffentlichen Mittel nicht mehr in ein Faß ohne Boden fließen, sondern zur Arbeitsbeschaffung verwendet werden, wenn unsere Arbeitskräfte nicht mehr brach liegen, sondern produktiv tätig werden, muß auf allen Gebieten die entgegengesetzte Entwicklung eintreten: Erhöhung der Produktion, Erhöhung der Kaufkraft, Verminderung der Lasten, allgemeine Belebung der Wirtschaft. (…) Quelle: Sofortprogramm der NSDAP (1932).

Es folgt eine Aufzählung von acht Punkten der „Möglichkeiten der Arbeitsbeschaffung“, die hier in gekürzter Form wiedergegeben werden: „1. Wir haben die Produktionsmittel, um mehr zu arbeiten. (…) Unsere Wirtschaft krankt nicht daran, daß die Produktionsmittel fehlen, sondern daran, daß die vorhandenen Produktionsmittel nicht ausgeschöpft werden. 2. Wir haben die Absatzmöglichkeiten für vermehrte Arbeit. (…) Die deutsche Produktion bleibt heute weit hinter dem Lebensbedarf unseres Volkes zurück. Sie kann also noch mächtig gesteigert werden. 3. Die vermehrten Absatzmöglichkeiten liegen nur auf dem Binnenmarkt. Wenn die deutsche Wirtschaft ihrer eigentlichen Aufgabe – den Lebensbedarf des deutschen Volkes zu decken – gerecht werden will, so hat sie noch ungeheure, heute ungenutzte Absatzmöglichkeiten. Die bisherige Wirtschaftspolitik suchte vor allem die deutsche Ausfuhr zu steigern und hat im Interesse unserer Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt den deutschen Binnenmarkt zerstört. (Druck auf die Löhne, ungenügender Schutz der heimischen Produktion gegen die Auslandskonkurrenz) Diese Wirtschaftspolitik ist völlig gescheitert. Trotz aller Anstrengungen ist die deutsche Ausfuhr von 1200 Millionen Mark im Monatsdurchschnitt des Jahres 1927 auf 506,9 Millionen Mark im Durchschnitt der ersten 5 Monate des Jahres 1932 gesunken. So hat das herrschende System den deutschen Binnenmarkt zerstört und zugleich den Absatz auf dem Weltmarkt verloren. (…) Wir müssen deshalb für unsere Wirtschaft dort vermehrten Absatz suchen, wo vermehrter Absatz zu finden ist: auf dem Binnenmarkt. Wir müssen also für einen verstärkten Schutz der heimischen Produktion sorgen, weil sonst die Schleuderpreise der Auslandskonkurrenz den Absatz unserer eigenen Produkte selbst auf dem Binnenmarkt unmöglich machen. 4. Die Arbeitsbeschaffung erfordert also eine Umstellung der deutschen Wirtschaft auf den Binnenmarkt. (…) 5. Die Umstellung auf den Binnenmarkt erfordert eine Steigerung der landwirtschaftlichen Erzeugung. (…) 6. Die Umstellung auf den Binnenmarkt muß die soziale Befreiung des deutschen Arbeiters bringen. (…)“ Quelle: Sofortprogramm der NSDAP (1932).

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Als konkrete Einsatzgebiete werden in Punkt 7 die Erschließung neuer landwirtschaftlicher Flächen, der Bau neuer Verkehrswege und Kanäle sowie die „allgemeine Finanzierung der Produktion zur Belebung der freien Wirtschaft“ genannt. Die Aufzählung schließt in Punkt 8 mit dem Verweis auf einen aktiven Staat: „Das durch die Arbeitslosigkeit herbeigeführte Übermaß der öffentlichen Belastung verhindert heute jeden Ertrag neuer Arbeiten und neuer Kapitalanlagen also auch jede zusätzliche Betätigung der Privatwirtschaft. Die Ertragsfähigkeit der Wirtschaft wird eben erst dadurch wieder hergestellt, daß ein großzügiges Arbeitsbeschaffungsprogramm in seiner Gesamtheit durchgeführt und damit gleichzeitig die Wirtschaft in ihrem Aufbau neu gestaltet wird. Ein so umfassendes Unternehmen kann aber nur vom Staat in Angriff genommen werden.“ Quelle: Sofortprogramm der NSDAP (1932).

Im Abschnitt über die Finanzierung des Arbeitsbeschaffungsprogramms wird auch eine „produktive Kreditschöpfung“ im Umfang von 20–30 Prozent der Kosten vorgeschlagen. Die zweite Hälfte des Sofortprogramms widmete sich „Allgemeinen Wirtschaftsmaßnahmen“ und formulierte neue außenwirtschaftliche Grundsätze: „1. Das deutsche Volk wurde durch die Tributpolitik der Nachkriegsregierungen zu einem der ärmsten Kulturvölker gemacht. (…) 2. Erstrebenswert ist, daß alles, was wir im Inland selbst erzeugen können, auch im Inland herstellen. (…) 3. Der Nationalsozialismus fordert, daß die Lebenshaltung des deutschen Arbeiters und des deutschen Bauern nicht durch russische Sowjetsklaven, chinesische Kulis und Neger weiterhin gedrückt wird. Der Nationalsozialismus setzt sich mit aller Entschlossenheit für eine Hebung des Kulturstandes des deutschen Arbeiters und des deutschen Bauern ein. Darum ist jede Einfuhrbeschränkung durchzuführen, wenn durch sie deutsche Arbeiter oder deutsche Bauern in Brot und Arbeit gesetzt werden können. Der Nationalsozialismus wendet sich gegen die liberale freie Weltwirtschaft und die marxistische Weltwirtschaft. Er fordert vielmehr Schutz jedes Volksgenossen gegenüber der ausländischen Konkurrenz. 4. Deutschland zählte vor dem Kriege zu den Weltmächten. Heute ist es eine Macht zweiter Klasse. Es ist völlig abwegig, wenn es heute seine Rohstoffbasis noch ganz überwiegend in Übersee hat, in Gebieten, mit denen die Verbindung bei irgendwelchen Verwicklungen sofort abgeschnitten wird; denn Deutschland ist nicht in der Lage, die Verbindung zu diesen Rohstoffgebieten aufrecht zu erhalten und zu schützen. Darum gehört es zu den Richtlinien der nationalsozialistischen Handelspolitik, den Bedarf des deutschen Volkes weitestgehend durch Eigenerzeugung zu decken, (…).“ Quelle: Sofortprogramm der NSDAP (1932).

Darüber hinaus setzt sich die NSDAP für eine „Devisenbewirtschaftung“, eine „Kontrolle des Devisenverkehrs“, ein verschärftes „Kapitalfluchtgesetz“, die Ab-

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kehr vom Goldstandard für die Reichsmark, für eine Verstaatlichung des Finanzsektors und staatliche Preiskontrolle ein. Für die Industrie werden eine Genehmigungspflicht für neue Produktionsanlagen und eine staatliche Verwaltung von Monopolen, die nicht aufgelöst werden, gefordert. Das Programm schließt mit dem Verweis auf die „Soziale Frage“: „Die Grundlage für die Lösung der sozialen Frage ist die Verwirklichung des Rechtes auf Arbeit, das nur durch unsere Arbeitsbeschaffungsaktion hergestellt werden kann. In einem Gesetz der Arbeit werden die Rechte des Arbeiters niedergelegt. Die Freiheit der schaffenden Arbeit soll dadurch hergestellt, die Freiheit der kapitalistischen Ausbeutung beseitigt werden.“ Quelle: Sofortprogramm der NSDAP (1932).

Hier schließen sich einige Forderungen aus dem bisherigen Parteiprogramm an, z.B. die Vergabe der vorhandenen Arbeitsplätze nur an „deutsche Volksgenossen“, die Sicherung von Sozialversicherungen und Renten, die Einführung einer Gewinnbeteiligung an der Wirtschaft und die Einrichtung eines allgemeinen Arbeitsdienstes für junge Männer. Soweit die zentralen Punkte des „Wirtschaftspolitischen Sofortprogramms der NSDAP“ von 1932. Noch bis zu Beginn der 1930er-Jahre hatte sich die Partei auf sehr allgemeine und kaum konkretisierte wirtschaftspolitische Forderungen beschränkt.22 1932 war aber eine Positionierung unvermeidlich geworden. Die NSDAP sah sich einerseits mit einer weiter verschärften Arbeitslosigkeit konfrontiert, andererseits zeigten ihre fortgesetzten Wahlerfolge, dass eine baldige Regierungsbeteiligung näher rückte. Eine entscheidende Wende für die NS-Programmatik brachte die Reichstagsrede Gregor Strassers vom 10. Mai 1932. Strasser galt zu diesem Zeitpunkt als mächtigster Mann in der Partei hinter Hitler. Was er im Parlament unter dem Titel „Arbeit und Brot“ vorstellte, erschien kurz darauf in ausführlicher Form als „Wirtschaftspolitisches Sofortprogramm der NSDAP“ und wurde so im Vorfeld der anstehenden Reichstagswahl im Juli 1932 „als verbindliche Richtschnur für die Redner der NSDAP sowie die Veröffentlichungen in der Presse“ (so Gregor Strasser im Vorwort zur Broschüre) verbreitet. Insgesamt formulierte die NSDAP erstmals zentrale Eckpunkte und umfangreiche Grundsätze einer eigenen Wirtschaftspolitik. Neben der Forderung nach einem umfangreichen Arbeitsbeschaffungsprogramm gegen die Auswirkungen der großen Wirtschaftskrise sind dort vor allem eine Abkehr von der bisherigen Weltmarkt- und Exportorientierung hin zu einer klaren Binnenmarktorientierung für die Wirtschaft, eine Sicherung der eigenständigen Lebensmittelversorgung und ein ganzes Paket an protektionistischen und staatsinterventionistischen Maß22 Vgl. zu dieser Einordnung Avraham Barḳai: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus: Ideologie, Theorie, Politik, 1933–1945, Frankfurt a.M. 1988, S. 68–102; sowie Hauke Janssen: Nationalökonomie und Nationalsozialismus. Die deutsche Volkswirtschaftslehre in den dreißiger Jahren, Marburg 1998.

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nahmen zu finden. Unternehmerische Verfügungsrechte werden nicht nur durch eine staatliche Preiskontrolle, durch die Genehmigungspflicht für neue industrielle Produktionsanlagen oder bei außenwirtschaftlichen Tätigkeiten stark eingeschränkt. Darüber hinaus formulierte die NSDAP ihre Bereitschaft zu Enteignung und Verstaatlichung im Bankensektor und im Bereich von Monopolen. Ein Blick auf die spätere Politik des NS-Regimes zeigt, dass wichtige Punkte unerwähnt blieben oder nur verklausuliert genannt werden. Erstens zählte von Anfang an wirtschaftliche Autarkie zu den zentralen Zielen der NS-Wirtschaftspolitik. Der Begriff taucht im Sofortprogramm von 1932 nicht auf, wobei die offensive Binnenmarktorientierung und die Begründungen hierzu genau in diese Richtung weisen. Zweitens fehlt ein Verweis auf Aufrüstung und Remilitarisierung des Deutschen Reiches. Das staatliche Arbeitsbeschaffungs- und Investitionsprogramm ab 1933 sollte zum größten Teil von diesem Motiv geprägt sein. Drittens finden sich nur wenige Hinweise auf den antisemitischen und rassistischen Geist der NS-Wirtschaftsordnung. Nur die Verweise auf die Beschränkung der Arbeitsplätze für „deutsche Volksgenossen“ und die Konkurrenz der „russische[n] Sowjetsklaven, chinesische[n] Kulis und Neger“ für die deutschen Arbeiter und Bauern zielen in diese Richtung. In späteren Schriften und Verlautbarungen, insbesondere aber in den politischen und wirtschaftlichen Transformationen treten diese Motive und Momente aber umso deutlicher zutage. Hitlers Machtergreifung 1933 markierte den Beginn einer umfassenden institutionellen Transformation in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. In wenigen Monaten wurde die politische Verfassungsstruktur komplett aus den Angeln gehoben, bestehende Verfassungsorgane, Parteien und Prozesse eliminiert beziehungsweise vollständig auf die totalitäre Ein-Parteien-Diktatur der NSDAP umgestellt. Für die erste Phase der Koalitionsregierung aus NSDAP und DNVP führte Medienmogul und DNVP-Vorsitzender Alfred Hugenberg das Wirtschaftsministerium. Nach seinem Rücktritt im Juni 1933 wurde sein Ministerium auf den NSDAP-Politiker Walter Darré als Reichsernährungsminister und den AllianzManager Kurt Schmitt als Reichswirtschaftsminister aufgeteilt. Unter Schmitt wurden die zentralen Gesetze zur institutionellen Neuordnung der deutschen Wirtschaft ausgearbeitet, sein Nachfolger Hjalmar Schacht zeichnete ab Juli 1934 für die weitere Umsetzung und Implementierung verantwortlich. Ausgehend von den zentralen Forderungen des Sofortprogramms, werden im Folgenden die wichtigsten Punkte der Transformation in der ersten Phase bis etwa 1936/37 skizziert. Arbeitsbeschaffungsprogramm und Aufrüstung: Ziel des NSDAP-Sofortprogramms von 1932 war die Durchführung eines staatlich finanzierten Arbeitsbeschaffungsprogramms. Die Umsetzung dieses Zieles hatte höchste Priorität. In der Forschungsliteratur wird schon lange darauf verwiesen, dass der Startschuss für ein erstes kreditfinanziertes Arbeitsbeschaffungsprogramm schon im Dezember 1932 noch unter Reichskanzler Kurt von Schleicher erfolgt war.23 Die ersten positiven Effekte waren Anfang 1933 erkennbar und gingen auf diese Maßnah23 Vgl. Dan P. Silverman: Fantasy and Reality in Nazi Work-Creation Programs, 1933–1936, in: The Journal of Modern History 65 (1993), S. 113–151.

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men zurück. Sie sollten schnell von der NSDAP vereinnahmt werden. Die HitlerRegierung ernannte im April 1933 den NSDAP-Politiker Fritz Reinhardt zum Staatssekretär im Finanzministerium, nach ihm wurden die zwei Folgeprogramme zur Arbeitsbeschaffung benannt. Das erste Gesetz hierfür wurde bereits Ende Mai 1933 verabschiedet und mit einer umfassenden Propagandakampagne begleitet. Die erhebliche Summe von einer Milliarde Reichsmark wurde für die im NSDAPSofortprogramm benannten Aufgaben (ländliche Siedlungsprojekte, Straßen- und Wohnungsbau) bereitgestellt.24 In den Regionen initiierten die Parteiführer Medienkampagnen, die die unmittelbaren Wirkungen des Programms belegen sollten. Voran ging Ostpreußen, dessen 130 000 Arbeitslose innerhalb von sechs Monaten in „Lohn und Brot“ gebracht wurden. Dieser regionale Erfolg war aber zielgerichtet durch günstige Voraussetzungen vor Ort, eine Konzentration von Sondermitteln und unter Einsatz von Zwang und Umerziehung bei den Arbeitslosen erreicht worden. Das zweite Reinhardt-Programm folgte im September 1933. Hierbei setzte man den Schwerpunkt nicht mehr auf direkte Arbeitsbeschaffung, sondern stärker auf indirekte Subventionen (Zuschüsse zu Gebäude-sanierungen und Hypthekenkrediten) und kommunale Projekte. Schon beim dritten Investitionsprogramm von 1934 endete die zivile Zielsetzung der staatlichen Investitionen. Jetzt konzentrierte der NS-Staat seine Ressourcen auf den Militärsektor und eine systematische Aufrüstung seiner Streitkräfte. Beschlossen wurden diesbezügliche Programme von der NS-Regierung bereits im Juni 1933.25 Zwischen 1933 und 1935 stiegen die Ausgaben für den Militärsektor von weniger als 1 Prozent auf nahezu 10 Prozent des Volkseinkommens an. Auf dem Arbeitsmarkt zeigte die interventionistische Politik ihren Erfolg: Die Wirtschaft erholte sich auf breiter Front und die Zahl der registrierten Arbeitslosen sank von 5,6 Millionen (1932) auf 2,7 Millionen (1934). Bereits 1937/38 konnte von faktischer Vollbeschäftigung ausgegangen werden.26 Wie in der Forschung an vielen Beispielen gezeigt, wurde dieses Ergebnis nicht auf der Basis ziviler Arbeitsbeschaffung erzielt, sondern wesentlich durch die Remilitarisierungspolitik, deren Finanzierung über Kreditwechsel erreicht wurde. Neuordnung von Arbeits-, Güter- und Kapitalmärkten: Begleitet wurde diese Politik von Anfang an mit weitreichenden Eingriffen in das Lohngefüge und der Abschaffung der Tarifautonomie zuungunsten der Arbeitnehmer. Von einer „Freiheit der schaffenden Arbeit“, die an die Stelle der „Freiheit der kapitalistischen Ausbeutung“ treten sollte, wie im Sofortprogramm von 1932 formuliert, war in diesem Zusammenhang nicht mehr die Rede. Mit der Gründung der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und dem gleichzeitigen Verbot der Gewerkschaften war die bisherige institutionelle Ordnung des Arbeitsmarktes aufgehoben worden. An die Stelle des freien Aushandlungsprozesses der Tarifparteien traten stattdes24 Vgl. Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, S. 64–72. 25 Ebd., S. 78. 26 Vgl. Rüdiger Hachtmann: Arbeitsmarkt und Arbeitszeit in der deutschen Industrie 1929 bis 1939, in: Archiv für Sozialgeschichte 27 (1987), S. 177–227.

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sen sogenannte „Treuhänder der Arbeiter“, Beamte des Reichsarbeitsministeriums, die eine Politik des faktischen Einfrierens der Löhne auf dem Niveau von 1933 verfolgten.27 Im neuen „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom Januar 1934 wurde die NS-Arbeitsordnung festgelegt, die das Führerprinzip in die Betriebe einführte. Demnach unterstanden alle Arbeitnehmer dem Unternehmer – dem Betriebsführer – und waren ihm zur Treue verpflichtet. Es wurde nicht nur steuernd in die Arbeitsmärkte, sondern auch in die Güterund Kapitalmärkte eingegriffen. Insbesondere die Geld- und Kapitalmarktpolitik war eng mit den staatlichen Interventionen verknüpft. Arbeitsbeschaffung und Aufrüstung waren wesentlich kreditfinanziert, die Autonomie der Reichsbank wurde Schritt um Schritt ausgehöhlt und schließlich 1936 auch offiziell aufgehoben.28 Für die allgemeinen Gütermärkte existierte bereits seit 1931 ein „Reichskommissar für die Preisüberwachung“, aber auch die NS-Regierung konnte über dieses Instrument zunächst nicht den stetigen Preisanstieg verhindern. Erst 1936 wurde ein totaler Preisstopp verkündet und damit die Inflation aus der offiziellen Statistik verbannt.29 Insofern wurde hiermit die Ankündigung des Sofortprogramms nach staatlicher Preiskontrolle eingelöst, auch wenn der Bankensektor insgesamt keiner Verstaatlichung unterzogen wurde. Außenwirtschaftspolitisch wurde die Güter- und Devisenwirtschaft des Deutschen Reiches mit dem von Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht konzipierten „Neuen Plan“ von 1934 einer weiterreichenden Kontrolle unterzogen.30 Zielsetzung dieses Maßnahmenbündels war eine verstärkte direkte Koordinierung der Warenwirtschaft über die deutschen Grenzen, um die knappen Devisen möglichst effizient nutzen zu können, später auch zur staatlichen Steuerung von Mengen und Preisen. Gleichgeschaltete Verbände im Nationalsozialismus: Im Februar 1934 verabschiedete das Reichswirtschaftsministerium ein Gesetz über die Neuorganisation der deutschen Wirtschaft. Wesentlicher Inhalt war die Strukturierung des produzierenden Gewerbes in „Reichsgruppen“. Im Herbst 1934 wurde die Neuordnung des Verbändewesens mit der Eingliederung des Handwerkes in die neue Struktur abgeschlossen. Über den genauen Zuschnitt und die personelle Besetzung der Verbandsspitze entschied der Wirtschaftsminister. Drei Grundsätze sicherten den Zugriff der NS-Regierung auf den Verband und die darin organisierten Industrieund Handwerksbetriebe. Erstens wurden nach dem Prinzip der Ausschließlichkeit 27 Vgl. Barḳai (1988), S. 117f. 28 Details zur Kreditfinanzierung und Währungspolitik sind nachzulesen bei: Carl-Ludwig Holtfrerich: Das Elend der Mark im ‚Dreissigjährigen Krieg‘ 1914–1945, in: Harold James, Manfred Pohl, Carl-Ludwig Holtfrerich (Hg.): Requiem auf eine Währung. Die Mark 1873–2001, Stuttgart u.a. 2001, S. 109–191; Harold James: Die Reichsbank 1876 bis 1945, in: Deutsche Bundesbank (Hg.): Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 29–89. 29 Vgl. Rüdiger Hachtmann: Lebenshaltungskosten und Reallöhne während des ‚Dritten Reiches‘, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 75 (1988), S. 32–73. 30 Vgl. Daniela Kahn: Die Steuerung der Wirtschaft durch Recht im nationalsozialistischen Deutschland. Das Beispiel der Reichsgruppe Industrie, Frankfurt a.M. 2006, S. 211–216.

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keine parallelen Verbände zugelassen und zweitens nach dem Prinzip der Zwangsmitgliedschaft für alle Gewerbe- und Handlungstreibenden eine allgemeine Geltungskraft sichergestellt. Drittens wurde auch hier das Führerprinzip, das heißt der streng hierarchische Aufbau der Verbände, verordnet. Hinzu kamen Eingriffe des Staates über eine eigene Kartellpolitik und damit verbunden eine weitgehende Einschränkung freier Marktstrukturen in Branchen, die von der Krise besonders hart betroffen waren. Ab Juli 1933 war es dem Reichswirtschaftsministerium möglich, ordnend in die deutsche Kartellstruktur einzugreifen. Bis 1936 wurden auf dieser Grundlage rund 1 600 Kartelle neu gegründet. Verträge konnten von Staatsseite zwangsweise erneuert, Außenseiter auch gegen deren Willen in Kartelle eingebunden und Investitionen gelenkt werden.31 Wie schon das Sofortprogramm zeigte, lag ein wichtiger Fokus der NSWirtschaftspolitik auf dem Agrarsektor. Die Sorge der NS-Politiker lag auf der unzureichenden Fähigkeit Deutschlands, die eigene Bevölkerung im Krisenfall mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen. Gerade vor dem Hintergrund der Kriegsplanung war dies eine zentrale Voraussetzung, um im Konfliktfall bestehen zu können. Insofern verwundert es nicht, dass auf der Agrarpolitik ein besonderes Augenmerk lag. Mit dem „Reichsnährstand“ war in diesem Fall eine eigenständige Struktur der ständischen Selbstverwaltung installiert worden, die über eigene Rechte zur unabhängigen Marktkontrolle und Preisfestlegung verfügte. Zentrales Instrument der NS-Agrarpolitik war daneben das „Reichserbhofgesetz“ vom September 1933, mit dem Höfe bis zu 125 Hektar nicht mehr verkauft oder mit Hypotheken belastet werden durften. Ziel war der Schutz der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, dafür wurden erhebliche unternehmerische Freiheiten der Bauern eingeschränkt.32 „Arisierung“ der deutschen Wirtschaft: Die weitgehende Kontinuität von Wirtschaftseliten über 1933 hinaus33 betrifft nicht deren jüdische Vertreter. Ihre systematische Diskriminierung und Ausgrenzung waren seit 1933 ein wesentliches Element der NS-Wirtschafts- und Transformationspolitik. Obwohl dieser Punkt im Sofortprogramm keine Erwähnung fand, hatten Hitler und die NSDAP nie ein Hehl aus ihrer antisemitischen Einstellung gemacht. Der Prozess der wirtschaftlichen Verdrängung und Existenzvernichtung der Juden wird im Allgemeinen als „Arisierung“ bezeichnet. Im engeren Sinne meint der Begriff den Eigentumstransfer von „jüdischen“ in „arischen“ Besitz, er umfasst aber auch umfassender den Entzug ökonomischer Verfügungsrechte und die schrittweise Konstruktion einer rechtlichen Sondergruppe.34 Die Etappen dieses Prozesses sind 31 Vgl. Oliver Volckart: Die Wirtschaftsordnung des Dritten Reiches (Diskussionsbeitrag des Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen 4/2000), Jena 2000, S. 18. 32 Vgl. Barḳai (1988), S. 131–149. 33 Vgl. Hervé Joly: Großunternehmer in Deutschland: Soziologie einer industriellen Elite; 1933–1989, Leipzig 1998, S. 118. 34 Vgl. Frank Bajohr: „Arisierung“ als gesellschaftlicher Prozeß. Verhalten, Strategien und Handlungsspielräume jüdischer Eigentümer und „arischer“ Erwerber, in: Fritz Bauer Institut (Hg.): „Arisierung“ im Nationalsozialismus: Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt a.M. u.a. 2000, S. 15–30, hier S. 15.

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allgemein bekannt und mündeten in den Kriegsjahren in den zunehmend entgrenzten Mord am europäischen Judentum: Ab 1933 verfolgte die NSDAP eine Politik der Ausgrenzung und Isolierung (Boykott-Maßnahmen, berufliche Diskriminierung). 1935 wurden die Nürnberger Gesetze verabschiedet und damit eine zweite Etappe der rassistischen Gesetzgebung begonnen. 1938 folgte die dritte Phase mit weiteren Gesetzen, die letztlich eine Phase der zunehmenden Rechtlosigkeit einläuteten: Juden mussten ihr Vermögen bei staatlichen Stellen anmelden, sie wurden aus weiteren Berufen ausgeschlossen, ihre Unternehmen endgültig enteignet.35 1933 waren schätzungsweise 100 000 Betriebe in jüdischen Händen gewesen. Schon Mitte 1938 waren davon 60–70 Prozent entweder aufgelöst oder „arisiert“ worden. Mit der Enteignung jüdischer Betriebe und Unternehmer ging die konsequente Verdrängung der gesamten jüdischen Wirtschaftselite einher. Bewertung Der institutionenökonomische Blick fragt nach den grundlegenden Veränderungen im Regelsystem der Wirtschaft, nach den Ursachen und dem Erfolg einer Transformation und damit nach Intention und Wahlentscheidung der beteiligten Akteure sowie – damit verbunden – nach der Veränderung der Transaktionskostenstruktur. Im vorliegenden Fall wurde die Veränderung im Regelsystem von den Zielen des NSDAP-Sofortprogramms vom Juli 1932 aus analysiert und damit wurden vor allem die institutionellen Veränderungen im Regelsystem der Wirtschaft ab 1933 auf der Makroebene beschrieben. Deutlich wurde, dass mit dem Programm und den daraus abgeleiteten wirtschaftspolitischen Maßnahmen der ersten Regierungsjahre eine Abkehr von der liberal-marktwirtschaftlichen Ordnung einherging. Wirtschaftliche Freiheiten wurden von politischen Zielsetzungen abgelöst. Insofern gibt es gute Argumente, die nationalsozialistische Wirtschaft als eine politisierte Ökonomie zu beschreiben. Das neue Regelsystem war von der NSDAP gewollt und wurde zielorientiert eingeführt. Handlungsleitend auf dieser Makroebene war hier erst an zweiter Stelle eine dezidiert ökonomische Logik, vielmehr dominierten politische Zielsetzungen und Ableitungen in Form von Gesetzen, Verordnungen und Umstrukturierungen im Apparat der Behörden. Die formulierten Ziele standen in enger Beziehung zur Leistungskraft des neuen Regelsystems und dessen Akzeptanz in der Bevölkerung. War die neue Wirtschaftsordnung dazu in der Lage, Transaktionskosten zu senken und – zumindest in den Augen der Zeitgenossen – „effizient“ und kostenminimierend zu wirken?36 Aufgrund der Krisenerfahrung infolge der großen Weltwirtschaftskrise von 1929 verbanden die Menschen die verbreitete Not mit liberaler Marktwirt35 Vgl. Avraham Barkai: Etappen der Ausgrenzung und Verfolgung bis 1939, in: Fritz Bauer Institut (Hg.): „Arisierung“ im Nationalsozialismus: Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt a.M. u.a. 2000, S. 193–224. 36 Vgl. Ronald Wintrobe: The Political Economy of Dictatorship, Cambridge u.a. 1998.

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schaft. Deswegen führten sinkende Arbeitslosenzahlen, wachsende Wirtschaftsleistung und die Überwindung der sozialen Not auch zu einer breiten Akzeptanz der eingeleiteten Transformationsprozesse. Diese Akzeptanz wurde zusätzlich durch den Aufbau bzw. Ausbau eines disziplinierenden Repressionsapparats sowie mit professioneller Kommunikation und vertrauensbildenden Maßnahmen gestützt. Dieses Gesamtpaket zielte auf die Präferenzordnungen und Wertehaltungen der Akteure, das heißt auf die informellen, soziokulturellen Institutionen in Wirtschaft und Gesellschaft. Die ausgewählte Quelle und die vorgenommene Kontextualisierung haben vor allem die Makroebene der deutschen Politik und Wirtschaft in den ersten Jahren nach 1933 im Fokus. Damit wurden die Zusammenhänge zwischen politischer Programmatik, Regierungshandeln und gesetzlichen Maßnahmen betont. Dadurch bleiben aber die komplexeren Bedingungen der Mikroebene außen vor. Würde eine Quelle aus unternehmensgeschichtlichen Kontexten ausgewählt, könnten die Grenzen staatlicher Regulierung, die tagtäglichen Aushandlungsprozesse und Kompromissfindung zwischen den Akteuren oder die ständigen Probleme der praktischen Implementierung und Umsetzung sicherlich besser aufgezeigt werden.37 Die Institutionenökonomik liefert ein ausdifferenziertes Instrumentarium an Modellen und Theorien, die bei der Beschreibung und Analyse solcher mikroökonomischer Konstellationen und Prozesse helfen. Sowohl die Prinzipal-AgentTheorie als auch der Property-Rights-Ansatz können hierbei sehr hilfreich sein. Viel stärker treten dabei auch die Faktoren Pfadabhängigkeiten und Kontinuitäten hervor. Neben den genannten institutionellen Änderungen gab es viele Regelsysteme, die unangetastet blieben. Dies gilt nicht nur für die Jahre des Nationalsozialismus, sondern würde auch für die deutlich weitreichenderen Veränderungen der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts oder anderen Transformationen des 20. Jahrhunderts gelten. Die vorliegende Analyse beschränkte sich weitgehend auf die Analyse formeller Institutionen und ihrer Veränderung. Trotz manchem Verweis auf damit verbundene informelle Institutionen und veränderte Präferenzen der beteiligten Akteure blieb eine systematische Analyse dieses Teiles des Regelsystems außen vor. Hier spiegeln sich erneut die Grenzen des vorgestellten Ansatzes. Die Frage nach geltenden informellen Regeln und ihrer Transformation ist deutlich schwieriger zu beantworten als eine Analyse der formellen Institutionen. Zwar hat die Wirtschafts- und Unternehmenskulturforschung mittlerweile einige erhellende, empirisch fundierte Arbeiten zu einzelnen Epochen der deutschen Wirtschaftsgeschichte vorgelegt, aber deren Ergebnisse sind noch punktuell und exemplarisch. Insbesondere zur Zeit des Nationalsozialismus fehlt eine systematisierende Einschätzung, sodass auf diese ebenfalls nicht eingegangen werden konnte. Das Fallbeispiel zeigt, dass im Vergleich zur traditionellen Gegenüberstellung von Wirtschaftsordnungen und der letztlich wenig fruchtbaren Diskussion um Markt- oder Planwirtschaft die Institutionentheorie ein deutlich ausdifferenzierteres Instrumentarium an Begriffen und Modellen zur Verfügung stellt, um Trans37 Vgl. Middendorf, Priemel (2013), S. 118f.

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formationen und wirtschaftlichen Wandel zu beschreiben. Die Suche nach idealtypischen Wirtschaftsordnungen kann den Blick auf solche Prozesse verstellen. Für die Wirtschaft im Nationalsozialismus kann der Begriff der „Ordnung“ nur bedingt zur Beschreibung vieler Phänomene und Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft taugen. Das gilt zunächst und vor allem für die empirische Ebene. Spätestens wenn die meso- und mikroökonomischen Ebenen betreten werden, trifft man auf ein Neben- und Gegeneinander rivalisierender Machtgruppen in Wirtschaft, Staat und Partei. Diese Strukturen werden in der Forschung seit Jahrzehnten erfolgreich mit dem Konzept „polykratischer Herrschaft“ beschrieben.38 Das galt für den politischen Alltag genauso wie für die Wirtschaft. Dies trifft aber ebenso für die Abwesenheit einer ökonomischen Gesamtkonzeption zu, die den Namen einer eigenen NS-Wirtschaftsordnung verdient hätte. Es war kein Zufall, dass mit dem Sofortprogramm von 1932 erst sehr spät wirtschaftspolitische Grundsätze der NSDAP formuliert wurden, die darüber hinaus auch recht allgemein gehalten waren. Viele der darin formulierten Punkte wurden ab 1933 umgesetzt, viele fehlten aber oder wurden nie oder in stark veränderter Form realisiert. Insofern waren der Transformationsprozess und die daraus resultierende Wirklichkeit auch nie deckungsgleich mit der formulierten Programmatik. Eine nationalsozialistische Wirtschaftsordnung – im Sinne eines wirtschaftlichen Idealtypus Max Webers – wurde nie formuliert. Das Wirtschaftsverständnis Hitlers und anderer NSDAP-Politiker war funktional und an einer politischen Zielsetzung ausgerichtet, wirtschaftliche Instrumente mussten sich diesen in allen Phasen unterordnen. Literatur Ambrosius, Gerold: Staat und Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie und Geschichte, Stuttgart 2001. Barḳai, Avraham: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus: Ideologie, Theorie, Politik; 1933–1945, Frankfurt a.M. 1988. Streb, Jochen: Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem: Indirekter Sozialismus, gelenkte Marktwirtschaft oder vorgezogene Kriegswirtschaft, in: Werner Plumpe, Joachim Scholtyseck (Hg.): Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik, Stuttgart 2012, S. 61–83. Tooze, Adam: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007. Volckart, Oliver: Die Wirtschaftsordnung des Dritten Reiches (Diskussionsbeitrag des MaxPlanck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen 4/2000), Jena 2000.

38 Zum Grundkonzept vgl. Peter Hüttenberger: Nationalsozialistische Polykratie, in: Geschichte und Gesellschaft 2 (1976), S. 417–442; jüngst wieder überzeugend umgesetzt bei Rüdiger Hachtmann: Das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront 1933–1945, Göttingen 2012.

4.3.3 KRISEN UND UNFÄLLE: INSTITUTIONEN ZWISCHEN BEHARRUNG UND LERNEN Katja Patzel-Mattern Krisen spielen für institutionellen Wandel eine zentrale Rolle. Der Schweizer Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler erklärt die makroökonomischen Entwicklungen der vergangenen gut 200 Jahre mit einem Wechsel von längerfristigen Phasen struktureller Stabilität durchbrochen von Krisenperioden. Diese sind durch einen Verlust von Vertrauen in überkommene Steuerungsmechanismen, also in Regeln ökonomischen Handelns im Sinne formloser wie formgebundener Institutionen gekennzeichnet. Krisen schaffen auf diese Weise Raum für Veränderung. Sie ermöglichen fundamentales Lernen.1 Der von Hansjörg Siegenthaler in gesamtwirtschaftlicher Perspektive beschriebene Vertrauensverlust in Krisenzeiten lässt sich auch auf der mikroökonomischen Ebene des Unternehmens untersuchen. Innerhalb des Unternehmens, aber auch gegenüber seiner Umwelt, den Menschen vor Ort, den Kunden, Geschäftspartnern und Konkurrenten, führen krisenhafte Ereignisse oder Entwicklungen zu Vertrauensverlust. Betroffen können sowohl formlose wie formgebundene Institutionen sein. Die Legitimität bisherigen unternehmerischen Handelns steht zur Disposition. Doch resultiert daraus auch institutionelles Lernen der Organisation und wenn ja, welche Institutionen, welche Spielregeln ändern sich? Wie kann Vertrauen aufgebaut und Legitimität wiedergewonnen werden? Diese Fragen werden anhand kommunikativer Akte von Unternehmen und ihrer Umwelt in Krisensituationen untersucht. In ihnen artikulieren sich Vorstellungen davon, wie die gegebene Situation überwunden und Zukunft gestaltet werden soll. Im Folgenden wird eine spezifische Form der Krise exemplarisch näher betrachtet:2 die Legitimationskrise im Kontext eines produktionsinduzierten Unfalles. Ein solcher Unfall ereignete sich 1921 bei der BASF in Oppau nahe Ludwigshafen: Im ortansässigen Stickstoffwerk explodierten bei einer Lockerungssprengung 4 000 Tonnen Ammonsulfatsalpeter, ein bis dahin als ungefährlich einge-

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„In den Übergangs-, Problem- oder Zwischenphasen befindet sich Struktur in Bewegung, Prozesse fundamentalen Lernens sind im Gange, soziale Organisationen wandeln sich, entstehen neu und setzen sich zueinander neu ins Verhältnis. […] Informationsprobleme verschärfen sich und gewinnen, bei schwindendem Vertrauen in die bislang für vertrauenswürdig gehaltenen kognitiven Regelsysteme, eine neue Qualität.“ Hansjörg Siegenthaler: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens, Tübingen 1993, S. 16. Mögliche weitere Krisenphänomene wären Marktkrisen, die mit den Konjunkturkrisen auf makroökonomischer Ebene zu den am besten erforschten Krisen gehören, aber auch Produktkrisen und Absatzkrisen.

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stuftes Düngemittelgemisch.3 562 Menschen starben und 1 952 wurden verletzt.4 Anhand der Rede des damaligen Vorstandsvorsitzenden Carl Bosch bei der zentralen Trauerfeier werden Wirkungen des Explosionsunglückes auf institutionelle Arrangements diskutiert: Gesellschaftlich bot das Unglück einer umfassenderen Vertrauenskrise Artikulationsraum, die die Entwicklung der Industriegesellschaft begleitete. Für das Unternehmen stellte es wesentlich eine Unterbrechung etablierter Verfahrensweisen im Kontext eines gesellschaftlich akzeptierten Fortschrittsnarrativs dar. Akut krisenhaft wirkte sich das Ereignis schließlich vor allem im städtischen Bezugsraum aus. Hier lässt sich ein zaghafter, beginnender Wandel im Umgang mit den Opfern industrieller Produktion erkennen. Ausgehend von diesen unterschiedlichen Wirkungen wird im Folgenden dargelegt, dass institutionelles Lernen ein gradueller Prozess ist. Dieser erstreckt sich auf der Ebene gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen über lange Zeiträume. Konzeptspezifikation Industrieunfälle stellen das Fortschrittsnarrativ infrage, das von gesellschaftlicher Wohlfahrt wie wirtschaftlichem Wachstum durch technische Innovation und industrielle Produktion kündet. Sie zerstören die materiellen Grundlagen eines so verstandenen Fortschrittes, ziehen vielfach physische und psychische Versehrungen nach sich. Es scheint, als unterbreche der Industrieunfall eine als gradlinig wahrgenommene, zielgerichtete Entwicklung und die sie tragenden institutionellen Arrangements. Sie sind grundlegender Natur und vereinen ein Bündel formloser wie formgebundener Institutionen: Zu denken wäre hier beispielsweise an die Rationalisierung von Wissen und die Domestizierung der Natur als Grundlagen von Fortschritt.5 Die Worte von Reichspräsident Friedrich Ebert bei der zentralen Trauerfeier für die Opfer des Explosionsunglückes von Oppau formulieren die Erschütterung solcher institutionellen Arrangements. In seiner Rede am 21. September 1921 auf dem Hauptfriedhof in Ludwigshafen konstatiert der Politiker: „In eine Stätte blühender Arbeit, in eine Musteranstalt deutschen Unternehmergeistes und deutschen Arbeitswillens sind hier uns unbekannte Kräfte der Zerstörung mit elementarer Wucht eingebrochen, das zerstörend, was Erfindungsgeist und Schaffenskraft in jahrelanger Arbeit errichtet haben.“6

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Entsprechende Sprengungen waren zuvor rund 20 000 Mal durchgeführt worden, ohne dass es zu berichteten Zwischenfällen gekommen wäre. Die Zahlen entstammen der Denkschrift über die Tätigkeit des Hilfswerks Oppau, hrsg. vom Bayerischen Staatskommissariat für das Hilfswerk Oppau, Neustadt an der Haardt 1925, S. V. Vgl. hierzu auch Christian Meyer: Globale Narrative, lokale Rhetoriken: Die Heuschreckenplage von 2004 im Senegal, in: Frank Gadinger, Sebastian Jarzebski, Taylan, Yildiz (Hg.): Politische Narrative. Konzepte – Analysen – Forschungspraxis, Wiesbaden 2014, S. 225–258, hier S. 227. Rede Friedrich Ebert bei der Trauerfeier für die Opfer des Explosionsunglückes am 21. September 1921, abgedruckt in: Werkzeitung der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik Ludwigshafen 9/10 (1921) S. 140.

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Doch Industrieunfälle zerstören und verstören nicht nur. Sie stabilisieren zugleich auch gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen, wie sie sich im erwähnten Fortschrittsnarrativ verstanden als Institutionenbündel artikulieren. „Der Unfall macht als Ereignis etwas sichtbar, was sich dem Auge des Betrachters in einem doppelten Sinn immer schon entzogen hat: die Überdeterminiertheit jeder unfall- und damit schockartigen Diskontinuität einerseits und deren kulturelle Verarbeitungspraxis der Serialisierung, Kontinuierung oder kausalen Eingliederung andererseits.“7

Das Zitat verweist darauf, dass ein Unfallereignis viele gleichzeitige auftretende, aber voneinander unabhängige Ursachen hat. Aufgrund dieser Komplexität, die der Wahrnehmung als Bruch entgegensteht, werden in kultureller Verarbeitung Kausalitäten und Kontinuitäten konstruiert. Sie ordnen das Geschehen ein, machen es damit fassbar und nehmen ihm zugleich seinen Einzelfallcharakter. Doch die Rekonstruktion gelingt nicht vollständig. Angesichts von Verlusterfahrungen wirken Erschütterungen fort. Leerstellen innerhalb etablierter Regelsysteme, dem Fortschrittsnarrativ oder dem Wohlfahrtskonzept, tun sich auf. Sie können Veränderungen motivieren und Lernen ermöglichen – auch wenn dies im Fallbeispiel auf begrenzte Bereiche der Organisation wie der Gesellschaft beschränkt bleibt. Das Gesagte macht deutlich, dass die Untersuchung nur in Teilen den Überlegungen Hansjörg Siegenthalers zum fundamentalen Lernen folgt: Der wohl wichtigste Unterschied liegt darin, dass die folgende Analyse nicht nach Konjunkturverläufen sowie Wirtschaftskrisen und deren Überwindung fragt.8 Vielmehr nimmt sie ein konkretes Unternehmen in den Blick. Dabei thematisiert sie mögliche Legitimationskrisen infolge eines produktionsinduzierten Unfalles. Außerdem diskutiert sie dessen materielle Folgewirkungen, die Einfluss auf die Produktion und damit die Struktur der Organisation haben. An dieser Stelle werden die Überlegungen Hansjörg Siegenthalers für die Untersuchung leitend. Mit dem Schweizer Wirtschaftshistoriker werden Krisen als Phasen grundlegender Verunsicherung von Akteuren verstanden. Eingeübte Verfahren der Auswahl und Interpretation von Informationen werden infrage gestellt angesichts der oben beschriebenen Komplexität eines Ereignisses oder der Unüberschaubarkeit einer Situation. Regelvertrauen geht verloren und kann nur in intensiven kommunikativen Akten wiedergewonnen werden.9 Vor diesem Hintergrund fragt der Beitrag danach, wie 7 8

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Christian Kassung: Einleitung, in: ders. (Hg.): Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls, Bielefeld 2009, S. 9–15, hier S. 9. Zu den Potenzialen der Siegenthaler’schen Krisentheorie vgl. Alexander Nützennadel: Der Krisenbegriff der modernen Ökonomie, in: Thomas Mergel (Hg.): Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt a.M. 2012, S. 47–58, hier S. 57: „Siegenthaler kann somit nicht nur erklären, warum Krisen meist Phasen beschleunigter sozialer Veränderung darstellen, sondern es gelingt ihm auch, die Konjunkturanalyse in eine allgemeine Theorie historischen Wandels einzuordnen.“ Vgl. hierzu Clemens Wischermann: Kooperation, Vertrauen und Kommunikation: Ein Rahmenmodell des Unternehmens auf institutionenökonomischer Grundlage, oder: Was macht ein Unternehmen handlungsfähig?, in: ders. (Hg.): Unternehmenskommunikation in deutschen Mittel- und Großunternehmen. Theorie und Praxis in historischer Perspektive, Dortmund 2003, S. 76–92.

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das Unternehmen auf die Infragestellung des Fortschrittsideals durch den Industrieunfall reagiert. Wie positioniert es sich zu einem Ereignis, das Wohlfahrt und Wachstum sowie seine Grundlagen, die Rationalität des Wissens und die Beherrschbarkeit der Natur zumindest im Moment des Geschehens infrage stellt? Welche institutionellen Arrangements können in der sprachlichen Interaktion aktiviert, welche müssen modifiziert werden – wo entstehen also Räume institutionellen Lernens, das die Entstehung oder Wiederherstellung von Regelvertrauen motiviert? Wie gestalten sich innerhalb dieser Räume gesellschaftliche Aushandlungsprozesse über die Legitimität zukünftiger industrieller Produktion? Operationalisierung Um diese Fragen zu beantworten, knüpft die Argumentation an neoinstitutionalistische Überlegungen an. Sie geht davon aus, dass Unternehmen Teil eines Issue-Feldes sind, das in der betrachteten Zeit um die Gestaltung von Fortschritt ringt. Fortschritt wird verstanden als Wohlfahrt und Wachstum auf der Grundlage industrieller Produktion. Dieses Issue-Feld ist in Deutschland Anfang der 1920er-Jahre vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und der deutschen Niederlage umkämpft: Unterschiedliche ideologische Angebote ringen angesichts eines verkleinerten Territoriums, politischer Auflagen und einer schwierigen wirtschaftlichen Lage um Deutungshoheit und die Möglichkeiten praktischer Realisierung.10 Die Unternehmen stellen in dieser Situation einen wichtigen Spieler innerhalb dieses Feldes dar. Sie versprechen auf der Grundlage ihrer Kapazitäten Prosperität, beanspruchen zugleich Gestaltungsmacht. Diese war in der betrachteten Zeit keineswegs unumstritten. Die revolutionären Entwicklungen am Ende des Krieges und die geschlossenen Kompromisse in der Zentralarbeitsgemeinschaft, einem 1918 gegründeten Zusammenschluss von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, verweisen darauf.11 Vor diesem Hintergrund kann das Industrieunglück die Legitimität eines industriellen Fortschrittsnarrativs mit Unternehmen als zentralen Akteuren infrage stellen. Um Vertrauen in diesen Sinnentwurf zu stabilisieren, gilt es, in kommunikativen Aushandlungsprozessen institutionelle, formlose wie formgebundene Arrangements zu mobilisieren oder zu verwerfen. Um im Folgenden Prozesse institutionellen Lernens oder auch Hemmnisse desselben analysieren zu können, müssen zunächst zentrale organisationale und personale Akteure rekonstruiert werden. Dies geschieht ausgehend vom IssueFeld, in das sie eingebunden sind: Zentrale Themen in der betrachteten Zeit der 10 Zum Aufbau und zu den Wechselwirkungen innerhalb eines solchen Feldes vgl. die Ausführungen zur Issue-Kultur von Renate Meyer: Globale Managementkonzepte und lokaler Kontext. Organisationale Wertorientierung im österreichischen öffentlichen Diskurs, Wien 2004, S. 188. 11 Zur Situation unmittelbar zu und nach Kriegsende explizit bezogen auf die BASF vgl. Jeffrey Allan Johnson: Die Macht der Synthese (1900–1925), in: Werner Abelshauser (Hg.): Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002, S. 158–219, hier S. 183–202.

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frühen 1920er-Jahre in Deutschland waren neben den politischen Folgen des Ersten Weltkrieges vor allem die Überwindung seiner ökonomischen Belastungen. Letztere wurde unter anderem unter dem Aspekt der „Wohlfahrt durch technischindustriellen Fortschritt“ diskutiert. Im Rahmen dieses Issue-Feldes standen nicht nur Formen der Produktion und ihrer Steigerung zur Debatte. Diskutiert wurde auch über die Gestaltung von Arbeitsbeziehungen und die Organisation von Unternehmungen. Bereits in seiner Rede zur Eröffnung der Nationalversammlung im Februar 1919 formuliert der damalige Volksbeauftragte Friedrich Ebert die zentrale Bedeutung der anstehenden ökonomischen Aufgaben. Außerdem benennt er die zu ihrer Bewältigung zentralen Akteure: „[W]ir haben alles getan […] um das Wirtschaftsleben wieder in Gang zu bringen. Wenn der Erfolg nicht unseren Wünschen entsprach, so müssen die Umstände, die das verhinderten, gerecht gewürdigt werden. Viele Unternehmer haben, verwöhnt durch den großen nationalen Markt der Kriegswirtschaft und die hohen sicheren Gewinne, die der alte monarchischmilitaristische Staat ihnen einräumte, verlernt, die notwendige Initiative zu entfalten. Wir richten deshalb an die Unternehmer den dringenden Appell, die Wiederbelebung der Produktion mit allen Kräften zu fördern. Auf der anderen Seite rufen wir die Arbeiterschaft auf, alle Kräfte anzuspannen zur Arbeit, die allein uns retten kann. […] Wir müssen arbeiten und Werte schaffen, sonst gehen wir zugrunde.“12

Das Issue-Feld „Wohlfahrt durch technisch-industrielle Produktion“ wird in der Rede Friedrich Eberts durch drei Spieler geprägt. Da ist zunächst die Politik zu nennen. Sie ist in dem Wir der Rede angesprochen. Friedrich Ebert reflektiert damit zunächst rückblickend auf den Rat der Volksbeauftragten und dann in dem Aufruf an die Unternehmer auf die Nationalversammlung. Aufgabe der Politik ist es, so wird in den Ausführungen zum Kaiserreich deutlich, Rahmenbedingungen des Wirtschaftslebens zu schaffen. Der Politik stellt Friedrich Ebert die Unternehmer als zweiten wichtigen Spieler an die Seite. Ihnen obliegt die ökonomische Initiative zur Gestaltung von „Wohlfahrt durch technisch-industrielle Produktion“. Die Arbeiter schließlich, als dritter Spieler innerhalb des genannten Issue-Feldes, bekommen die Aufgabe tatkräftiger Arbeit zugeschrieben. Wenn die folgenden Überlegungen insbesondere die Unternehmen als organisationale Akteure und aus deren Kreis die damals noch sogenannte Badische Anilin- & Soda-Fabrik, heute BASF, fokussieren,13 so tun sie dies mit einem ökonomischen Argument. Die BASF hatte, trotz aller Belastungen der Nachkriegszeit14, in der betrachteten Zeit eine maßgebliche wirtschaftliche Position inne.

12 Friedrich Ebert: Rede zur Eröffnung der Verfassungsgebenden Nationalversammlung am 6.2.1919, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, Nr. 1 (1919/1920), S. 3. Digitalisat der Bayrischen Staatsbibliothek München, online unter http: //www.reichstags-protokolle.de/Blatt2_wv_bsb00000010_00008.html (Zugriff 02.03.2014). 13 Im Folgenden wird das Unternehmen, auch wenn es in der betrachteten Zeit noch als Badische Anilin- & Soda-Fabrik firmierte, unter seinem heutigen Namen als BASF bezeichnet. 14 Zu den Belastungen zählen: Umbau der Kriegs- zur Friedenswirtschaft, Auseinandersetzung über die zukünftige Gestaltung der Wirtschaftsordnung, Besetzung, Technologietransfer, Reparationen, Inflation, Beschäftigungskrise u.a.m.

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„Die dominierende Stellung der BASF innerhalb der I.G. [Interessengemeinschaft der deutschen Teerfarbenfabriken, kpm] resultierte nicht zuletzt aus ihrer Düngemittelproduktion und schlug sich deutlich in den Umsatzziffern für 1919 nieder. […] Jedenfalls nahm die BASF jetzt […] mit einen Gesamtumsatz von 333,5 Mio. Mark die Führungsposition innerhalb der I.G. ein. Dabei sorgte die Ammoniakproduktion [als Grundlage der Düngemittelherstellung, kpm] allein für 59 vH des BASF-Umsatzes; 1918 waren es noch 37 vH gewesen.“15

Diese Umsatzzahlen sprechen nicht nur dafür, die BASF ins Zentrum der Betrachtungen zu stellen, sondern das konkrete Fallbeispiel aus dem Kontext der Düngemittelproduktion zu wählen. Sie stand ebenso für ökonomische Prosperität wie für die Hoffnung auf eine langfristig stabile Versorgung des durch Gebietsabtretungen verkleinerten Deutschlands. Insofern stellte sie einen Bezugspunkt der Debatten im Issue-Feld dar. Dies gilt umso mehr, als dem Versorgungsaspekt angesichts der Hungererfahrungen während des Krieges eine besondere Bedeutung für die Legitimität der industriellen Produktion und die Zumessung von wissenschaftlichtechnischer Kompetenz zukam. Dem Zusammenwirken von Industrie, Technik und Wissenschaft wurde zugetraut, Problemlagen erfolgreich zu lösen.16 Dieses Zutrauen wurde durch das Explosionsunglück, auf das sich die ausgewählte Quelle bezieht, zumindest erschüttert. Der Unfall ereignete sich 1921 im Oppauer Werk der BASF, in dem Ammoniak für die Düngemittelproduktion hergestellt wurde. Er war der schwerste Industrieunfall seiner Zeit und forderte mehr als 500 Tote sowie fast 2 000 Verletzte. Durch die Explosion entstand auf dem Werksgelände ein „Krater von 100 Meter[n] Durchmesser und 20 Meter[n] Tiefe“17. Die Fabrik wurde zu Teilen, der nahe gelegene Ort fast vollständig zerstört. Was sich hier bot, waren weder Fortschritt noch Wohlfahrt, sondern, wie es ein Journalist formulierte, „endlose Bilder der Zerstörung“18. Was eine solche Konnotation für die Legitimität industrieller Produktion bedeutet und vor allem wie sich das Unternehmen nach dem Unglück im Issue-Feld positioniert und Aushandlungsprozesse mitgestaltet, darüber gibt die ausgewählte Quelle Auskunft. Es handelt sich um die Rede Carl Boschs, Vorstandsvorsitzender der BASF, bei der zentralen Trauerfeier für die Opfer des Explosionsunglückes auf dem Friedhof in Ludwigshafen. Anhand dieses Textes wird untersucht, ob infolge des Unfalles im Unternehmen institutionelle Strukturen in Bewegung geraten sind. Zugleich wird die Quelle daraufhin befragt, wie das Unternehmen sein gesellschaftliches Umfeld wahrnimmt. Es gilt zu klären, ob sich Hinweise darauf finden lassen, dass Prozesse fundamentalen Lernens angestoßen und diese

15 Johnson (2002), S. 204. 16 An dieser Stelle sei bereits darauf verwiesen, dass Ammoniak auch für die Sprengstoffproduktion unabdingbar war und die BASF sich in diesem Bereich während des Krieges engagierte – ausführlicher hierzu im Kontext des Fallbeispieles. Es steht insofern nicht nur für Leben, wie es die Quelle beschwört, sondern auch für Tod und Zerstörung – der anderen im Krieg. 17 Johnson (2002), S. 209. 18 Pfälzische Rundschau vom 22. September 1921. Wörtlich heißt es in dem Artikel: „Endlos ließen sich die Bilder der Zerstörung ausmalen.“

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durch das Unternehmen reflektiert wurden.19 Dabei wird zu prüfen sein, inwiefern der Unfall tatsächlich zum Katalysator einer Legitimationskrise wurde und das überkommene Fortschrittsnarrativ infrage stellte. Schon an dieser Stelle soll darauf verwiesen werden, dass angesichts der historischen Rahmenbedingungen der Krisenbegriff, wie er mit Hansjörg Siegenthaler formuliert wurde und Überlegungen Rudolf Vierhaus’ aufgreift,20 modelliert werden muss. Mit den beiden genannten Autoren kann man davon ausgehen, dass sich in Krisen zuvor funktionierende, weitgehend stabile Strukturen auflösen. Doch in der betrachteten Zeit liegt eine solche Infragestellung der Strukturen im Moment des Unfallgeschehens gesamtgesellschaftlich bereits vor: Die junge Republik genoss keineswegs Vertrauen; die alten Eliten, zu denen die Unternehmer gehören, sahen ihre Position infrage gestellt, die Wirtschaft befand sich in einer Krise. Insofern muss der Unfall als möglicher Anlass einer Verdichtung von Krisendiskursen und -phänomenen, von Vertrauensverlust, konzipiert werden. Fallbeispiel „Am 21. September 1921, morgens 7.32 Uhr, unterbrach die Bahnhofsuhr Ludwigshafen ihren Kreislauf und legte auf die Sekunde den Moment fest, der ein großes Schicksal über Oppau auslöste und unendliches Leid in viele Familien brachte.“21

Mit diesen Worten lässt der Chronist Karl-Otto Braun 1953 das Kapitel seiner Heimatgeschichte über das Unglück bei der BASF beginnen. Formuliert wird in der Retrospektive ein Wendepunkt. Er bezeichnet den Moment, an dem sich das Schicksal des Ortes entscheidet.22 Damit bedient sich Karl-Otto Braun einer sprachlichen Struktur, die der Logik der medizinischen Krisendefinition folgt. Der Begriff der Krise bezeichnet in diesem Kontext den Moment der Entscheidung zwischen Leben und Tod im Krankheitsverlauf.23

19 Vgl. das Zitat von Siegenthaler in Fußnote 1. 20 Siegenthaler (1993), hier S. 16–18 und S. 178–187; Rudolf Vierhaus: Art. „Krisen“, in: Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 193–197. 21 Karl-Otto Braun: Geschichte der beiden Rheindörfer Oppau und Edigheim, Ludwigshafen 1953, S. 625. 22 Zu narrativen Strukturen der Kommunikation über das Explosionsunglück von 1921, aber auch jenes von 1948 vgl. Katja Patzel-Mattern: „Unsagbares Grauen“. Erzählmuster der Medienberichterstattung über die Explosionsunglücke bei der BASF 1921 und 1948, in: Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern, Gerrit Jasper Schenk (Hg.): Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013, S. 249– 280, hier S. 249–250 speziell zu dem zitierten Anfang von Karl-Otto Braun. 23 Vgl. hierzu Rolf Wienau: Krise (in) der Medizin. Die Entwicklung des medizinischen Krisenbegriffs und das ärztliche Selbstverständnis, in: Henning Grunwald, Manfred Pfister (Hg.): Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien, München 2007, S. 41–47, hier S. 41–44.

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„Das Handeln ist gelähmt, die Chancen und Gefahren der Zeit als klar umrissene Handlungsspielräume sind nicht erkennbar, aber stark ist das Gefühl, daß die Zeit Chancen eröffnet, Gefahren androht […].“24

In diesem Moment ist, folgt man Hansjörg Siegenthaler, Regelvertrauen verloren gegangen, Räume für institutionelles Lernen öffnen sich. Inwiefern das Explosionsunglück im Sinne der vorgestellten Überlegungen Moment einer (Legitimations-)Krise ist und Lernen motiviert, wird anhand einer Rede Carl Boschs vom 23. September 1921 untersucht. Zwei Tage nach dem „Größten anzunehmenden Unfall“25 der Chemieindustrie der damaligen Zeit richtet sich der Vorstandvorsitzende mit folgenden Worten an die Trauernden, die an der zentralen Gedächtnisfeier auf dem Ludwigshafener Hauptfriedhof teilnehmen: „Mit schwerem Herzen trete ich heute vor Sie hin im Auftrage des Vorstandes der Anilinfabrik, von der die erschütternde Katastrophe ausging, um deren Opfern heute die letzte Ehre zu erweisen. Doppelt schwer wird es mir selbst, dem Erbauer des Oppauer Werkes, weil es mein Lebenswerk betrifft, an dem ich mit allen Fasern meines Herzens hänge, dessen Werdegang ich von Anfang an miterlebt habe, vereint mit meinen Mitarbeitern, die mir all die langen Jahre der Entwicklung hindurch in Freud und Leid traulich zur Seite standen. Nach außen hin der Träger der Verantwortung für das Schicksal des Werkes, habe ich in dieser schweren Stunde die Pflicht, Ihnen Rechenschaft abzulegen für das Vorgefallene. Als wir, noch in Friedenzeiten, herantraten an die große Aufgabe, neue Wege zu bahnen, um Deutschland die für seine Ernährung dringend notwendigen Stickstoffverbindungen zu schaffen, konnten wir es wagen, weil wir uns stützen konnten auf eine wissenschaftliche und technische Organisation allerersten Ranges. Die Anilinfabrik war unter der früheren Leitung herangewachsen zu der größten ihrer Art auf dem ganzen Erdenrund und hatte im Verlaufe der großen Arbeiten, die ihr gelungen waren, einen Stab von Mitarbeitern herangebildet, mit dem wir an die großen Probleme mit Zuversicht herantreten konnten. Die neuen Aufgaben, die unser harrten, waren ungewöhnlich schwer und teilweise gefahrvoll, aber in jahrelanger zäher Arbeit wurden alle Untersuchungen und Vorarbeiten ausgeführt, die uns in den Stand setzten, die erste Anlage in Oppau zu errichten. Der Krieg mit seinen ungeheuerlichen Anforderungen an die deutsche Technik hatte uns vor immer noch weiter wachsende Aufgaben gestellt, die letzten Endes zum Auslöser der einzig in der Welt dastehenden Werke in Oppau und Merseburg führten. Von der ganzen Größe dieser Arbeit und von der Eindringlichkeit der wissenschaftlichen und technischen Untersuchungen und Arbeiten, die wir im Laufe von bald 13 Jahren haben bewältigen müssen, macht sich der Fernerstehende keine auch nur annähernd zutreffende Vorstellung, das vermögen nur die zu übersehen, die selbst tätigen Anteil daran genommen haben. Die letzten Detailfragen mußten gelöst, alle Winkel der Geheimnisse der Naturkräfte mußten durchforscht werden, bevor es gelang, restlos aller Schwierigkeiten Herr zu werden, die die Aufgabe mit sich brachte.

24 Siegenthaler (1993), S. 178. 25 Günter Braun: Eine Großstadt wird korrigiert – Ludwigshafen in der Weimarer Republik 1919–1933, in: Stefan Mörz, Klaus Jürgen Becker (Hg.): Geschichte der Stadt Ludwigshafen am Rhein. Vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Gegenwart, Bd. 2., Ludwigshafen a.R. 2003, S. 2–182, hier S. 27.

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Umso schwerer traf jetzt, wo wir glaubten, dieses Ziel erreicht zu haben, mich und alle die hunderte von Männern, die mit mir arbeiteten und ihr Bestes hergegeben hatten, der Schlag des Schicksals, der uns erschreckend enthüllte, daß unsere Arbeit und unsere Bemühungen doch nur eitles Menschenwerk waren, daß sich die Natur ihre letzten Geheimnisse nicht mit Hebeln und Schrauben hatte abzwingen lassen, daß wir zuletzt immer wieder vor dem dunklen Tor des Ungewissen stehen. Kein Kunstfehler und keine Unterlassungssünde hat die Katastrophe herbeigeführt. Neue, uns auch jetzt noch unerklärliche Eigenschaften der Natur haben all unseren Bemühungen gespottet. Gerade der Stoff, der bestimmt war, Millionen unseres Vaterlandes Nahrung zu schaffen und Leben zu bringen, den wir seit Jahren hergestellt und versandt haben, hat sich plötzlich als grimmiger Feind erwiesen aus Ursachen, die wir noch nicht kennen. Unser Werk hat er in Schutt gelegt. Aber was ist das alles im Vergleich zu den Opfern, die die Katastrophe gefordert hat! Hier stehen wir ganz machtlos und ohnmächtig, und all das Selbstverständliche, was wir tun können, um die trauernden Hinterbliebenen und die Verletzten zu trösten, ist nichts im Vergleich zu den Verlusten. Hier bleibt uns nur das Mitgefühl und der Dank für das, was uns die Toten waren, dem ich hiermit im Auftrage des Vorstandes und des Aufsichtsrates tiefgefühlten Ausdruck gebe. Von jeher hat der Kampf der Menschheit mit den Naturkräften ungezählte Opfer gefordert, meistens weniger auffällig, weil sie uns nicht recht zum Bewußtsein kamen. Aber hier angesichts einer gewaltigen Katastrophe zeigt sich dieser Kampf in seiner ganzen erschütternden Tragik. Denn der Kampf ist kein freiwilliger, er muß ausgefochten werden und selbst heute, noch vor den offenen Gräbern zwingt uns das unerbittliche Muß bereits wieder auf den Weg weiterer Pflichterfüllung. Und wenn uns etwas trösten kann in unserer bitteren Not, so ist es das Bewußtsein, daß die harten Aufgaben, die unser auch fernerhin harren, der Erhaltung unseres Vaterlandes gelten, dessen Kampf um seine Existenz heute schwerer ist als je, nachdem sich die Folgen des Kriegs erst richtig auswirken. Und einer der wichtigsten Faktoren und Bedingungen für die Möglichkeit, überhaupt weiterleben zu können, sind unsere Stickstoffwerke. Wenn wir auch heute vor Trümmern stehen, so müssen wir doch wieder unverdrossen und nicht mutlos an unsere Arbeit gehen, eine Arbeit, die nur nach außen ruhmvoll und glänzend, in Wirklichkeit dornenvoll ist und bleiben wird. Wenn ich nicht wüßte, daß uns trotz der Erschütterung durch das Unglück das Vertrauen unserer Mitarbeiter geblieben ist, so würde ich verzweifeln müssen an den neuen Aufgaben, die jetzt vor uns stehen. Den Toten aber, die nicht mehr unter uns weilen, die hinabgestiegen sind ins dunkle Reich der Schatten, habe ich in dankbarer Erinnerung an ihre treue Mitarbeit und Pflichterfüllung tiefbewegten Herzens einen Kranz am Grabe niedergelegt.“ Quelle: Rede Carl Boschs bei der Trauerfeier für die Opfer des Explosionsunglücks am 21. September 1921, abgedruckt in: Werkzeitung der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik Ludwigshafen 9/10 (1921), S. 139–140.

Carl Bosch war zum Zeitpunkt der Rede seit rund zwei Jahren Vorstandsvorsitzender der BASF. Er hatte die Unternehmensleitung reformiert, indem er einen Vorstand von sieben Direktoren geschaffen und zugleich die Position der Chemiker im erweiterten Leitungsumfeld gestärkt hatte.

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„Anfang 1914 waren es noch vier, im März 1919 erhöhte sich ihre Zahl auf sieben. Im August 1925 gab es schon 17 – wenn auch zumeist in der Funktion stellvertretender Vorstandsmitglieder oder als reine Titulardirektoren. […] In dieser Entwicklung spiegelte sich Boschs Überzeugung wider, die Zukunft des Werkes sei von wissenschaftlichen Innovationen abhängig und Wissenschaftler als Manager seien besonders gut geeignet, solche Innovationen auch durchzusetzen.“26

Mit dieser Überzeugung ging die Vorstellung einher, dass jedes Naturprodukt chemisch synthetisiert und industriell produziert werden könne.27 Sie machte Carl Bosch, ausgebildeter Chemiker wie Ingenieur, zum entscheidenden Protagonisten der Ammoniak-Synthese bei der BASF.28 1909 wird er von seinem Unternehmen beauftragt, deren industrielle Umsetzung zu befördern, 1912 zum Leiter der neuen Stickstoffabteilung in Oppau ernannt. Dies war der Beginn eines Strukturwandels des Unternehmens. Die Farbproduktion trat hinter die Düngemittelherstellung zurück. Die technischen Lösungen, die unter der Leitung von Carl Bosch entwickelt wurden, ermöglichten den Bau der Fabrik, in der sich 1921 der Unfall ereignete. Carl Bosch ruft diesen persönlichen Bezug im zweiten Satz seiner Rede in Erinnerung: „Doppelt schwer wird es [das Herz, kpm] mir selbst, dem Erbauer des Oppauer Werkes, weil es mein Lebenswerk betrifft, an dem ich mit allen Fasern meines Herzens hänge, dessen Werdegang ich von Anfang an miterlebt habe, vereint mit meinen Mitarbeitern, die mir all die langen Jahre der Entwicklung hindurch in Freud und Leid traulich zur Seite standen.“29

Neben den benannten Bezügen zwischen Werk und Vorstandsvorsitzendem müssen bei der Analyse der Rede einige weitere Aspekte berücksichtigt werden. So ging der durch Carl Bosch mitverantwortete Strukturwandel erstens mit einem deutlichen Wachstum des Unternehmens und damit auch dem Ausbau von Leitungen für die Arbeitnehmer einher.30 Zweitens war die Ammoniakproduktion aber mit erheblichen Gefahren für Mensch und Umwelt verbunden. Die für die Herstellung benötigten Temperaturen und der hohe Druck brachten die Gefahr von Explosionen mit sich. Daran änderte sich auch trotz materialtechnischer Innovationen grundlegend nichts. So berichtet die Gewerkschaftszeitung ‚Proletarier‘ anlässlich eines Explosionsunglückes, das sich 1913 in Oppau ereignete: 26 Johnson (2002), S. 193. 27 So sagt Carl Bosch in einem Interview mit „Le Journal“ im Jahr 1920: „Die Zukunft der chemischen Industrie ist grenzenlos. Es gibt kein Naturprodukt, das – wenn man es nur konsequent betreibt – nicht auch industriell gefertigt werden kann. Das muß das Ziel unserer Anstrengungen sein.“ Le Journal: Une visite à l‘usine allemande de deux cent cinquante chimistes (24.1.1920), zitiert nach: Johnson (2002), S. 194. 28 Ein kurzer Lebenslauf Carl Boschs findet sich bei Reiner F. Oelsner: Bemerkungen zum Leben und Werk von Carl Bosch. Vom Industriemechaniker zum Chef der I.G. Farbenindustrie, in: LTA-Forschung 28 (1998), S. 11. 29 Rede Carl Boschs bei der Trauerfeier für die Opfer des Explosionsunglücks am 21. September 1921, abgedruckt in: Werkzeitung der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik Ludwigshafen 9/10 (1921), S. 139–140, hier S. 139. 30 Vgl. Johnson (2002), S. 165–168.

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Empirische Anwendungen „Explosionen finden in diesem Betrieb häufig statt, […] aber mit solcher Wucht und Ausdehnung war noch keine zu verzeichnen. Leider […] stellte diese Explosion noch nicht die Grenze nach oben dar, sondern es sind bedeutend stärkere denkbar.“31

Weitere Belastungen entstanden durch Emissionen. Ausgewaschener Schwefelwasserstoff wurde bis 1921 weitgehend ungeklärt in den Rhein geleitet.32 Die Verschmutzung wurde lange Zeit toleriert, da Ammoniak für die Kriegswirtschaft wichtig war. Das führt zum dritten Aspekt, der bei einer Interpretation der Quelle berücksichtigt werden muss: Ammoniak kann nicht nur für die Düngemittelherstellung genutzt werden, sondern ist auch ein mögliches Vorprodukt der Sprengstoffproduktion. Insofern stellten die Munitionsengpässe der deutschen Armee, die bereits 1914 mit dem Beginn des Stellungskrieges offensichtlich wurden, eine günstige Voraussetzung für den Ausbau der Kapazitäten in Oppau dar.33 Die BASF stieg in das Kriegsgeschäft ein. „Allein die Hälfte des Gesamtumsatzes der Badischen fiel [1918, kpm] auf synthetisches Ammoniak und Salpeter. Dies schuf Umsätze und Gewinne, die alle aus der Vorkriegszeit bekannten Dimensionen in den Schatten stellten. Diese gewaltigen Einnahmen flossen fast ausnahmslos in der Ausbau der Stickstoffanlage in Oppau.“34

Insofern kann das Oppauer Werk in der Form, in der es 1921 zum Zeitpunkt des Unfalles existierte, als Resultat der deutschen Kriegswirtschaft bezeichnet werden. Als solches unterlag es bis 1920 aber auch unmittelbar dem französischen Besatzungsregime, musste sich darüber hinaus gelegentlichen Untersuchungen der Militärischen Interalliierten Kontrollkommission unterziehen. Sie war damit beauftragt, die Abrüstungsvereinbarungen des Versailler Vertrages zu überwachen. Vor diesem Hintergrund wurde in Oppau in der betrachteten Zeit wieder synthetischer Dünger produziert. Das Gesagte macht deutlich: Das Oppauer Werk war technisch innovativ und durch den Krieg groß geworden; es hatte eine besondere ökonomische Bedeutung sowohl für die Region als auch für das gesamte Land, das nach dem Krieg wirtschaftlich in Bedrängnis war. Zugleich war es aber auch Gegenstand regionaler wie internationaler Konflikte, die sich an den Folgen der Produktion entzündeten. Arbeiter- und Umweltschutz sowie die Unterbindung militärischer Produktion standen im Zentrum der Auseinandersetzungen. Außerdem hatte Carl Bosch eine exponierte Position inne. Er nahm diese nicht nur aufgrund seines Wirkens in der BASF ein, sondern auch politisch als Vertreter der chemischen Industrie bei den Verhandlungen mit den Siegermächten im Anschluss an den Versailler Vertrag. Insofern ist festzuhalten, dass die Explosion sich in einer Zeit des Umbruches ereignete, die für Deutschland wie für die BASF krisenbehaftet war. Genau auf diese Gegenwartsdiagnose läuft die Rede von Carl Bosch nach einer Darstellung der geleisteten Aufbauarbeit vor und während des Krieges zu. 31 Proletarier vom 22.11.1913, zitiert nach Braun (2003), S. 26. 32 Vgl. Johnson (2002), S. 162–163. 33 Die ab 1916 in Leuna errichtete zweite Ammoniakanlage wurde mit erheblicher staatlicher Beteiligung errichtet. 34 Johnson (2002), S. 173.

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„Gerade der Stoff, der bestimmt war, Millionen unseres Vaterlandes Nahrung zu schaffen und Leben zu bringen, den wir seit Jahren hergestellt und versandt haben, hat sich plötzlich als grimmiger Feind erwiesen aus Ursachen, die wir noch nicht kennen. […] Und wenn uns etwas trösten kann in unserer bitteren Not, so ist es das Bewußtsein, daß die harten Aufgaben, die unser auch fernerhin harren, der Erhaltung unseres Vaterlandes gelten, dessen Kampf um seine Existenz heute schwerer ist als je, nachdem sich die Folgen des Kriegs erst richtig auswirken. Und einer der wichtigsten Faktoren und Bedingungen für die Möglichkeit, überhaupt weiterleben zu können, sind unsere Stickstoffwerke.“35

Der Unfall scheint durch den Vorstandsvorsitzenden keinesfalls als Katalysator einer Legitimitätskrise wahrgenommen zu werden, die Raum für institutionelles Lernen schafft. Vielmehr wird durch den Bezug auf die Bedeutung des Stickstoffwerkes Kontinuität in der konstatierten Krise des „Vaterlandes“ geschaffen. Das Stickstoffwerk erscheint als Garant für eine mögliche wirtschaftliche Konsolidierung. Diese erhält eine besondere Dringlichkeit, da in diesem Werk jener „Stoff“ hergestellt wird, „der bestimmt war, Millionen unseres Vaterlandes Nahrung zu schaffen und Leben zu bringen“. Vor diesem Hintergrund wird der rasche Wiederaufbau des Werkes, eine Wiederaufnahme der Produktion rhetorisch gewissermaßen als lebensnotwendig entworfen – für jeden Einzelnen, aber auch für die Nation als Ganzes.36 Und tatsächlich wird bereits Anfang des Jahres 1922 in Oppau wieder produziert. Hier wie im Wiederaufbau des Ortes Oppau an gleicher Stelle und damit erneut in unmittelbarer Nähe zum Werk manifestiert sich organisationale Beständigkeit. Sie basiert auf einem technisch- industriellen Fortschrittsgedanken. Dieser artikuliert sich nicht nur in der eben zitierten Aussage, der synthetische Dünger schaffe Nahrung und bringe Leben. Er artikuliert sich auch in der Feststellung, dass sich „der Stoff […] plötzlich als grimmiger Feind erwiesen [hat] aus Ursachen, die wir noch nicht kennen“. In dem „noch nicht“ liegt die Überzeugung begründet, dass sich die Ursachen durch weitere Forschungen werden ergründen lassen. In der Logik der Rede von Carl Bosch erscheinen diese naturwissenschaftliche Durchdringung und die darauf aufbauende technische Beherrschung der Natur alternativlos. Er spricht vom „Kampf der Menschheit mit den Naturkräften“, der kein freiwilliger sei: „er muß ausgefochten werden und selbst heute, noch vor den offenen Gräbern zwingt uns das unerbittliche Muß bereits wieder auf den Weg weiterer Pflichterfüllung“37. Angesichts von Tod und Zerstörung durch den Unfall, aber auch im weiteren Kontext durch den Krieg, scheinen Wiederaufbau und Überleben in der kommunikativen Logik der Rede nur durch ein Festhalten an den Grundüberzeugungen des Fortschrittsideals möglich. Doch eine solche Rhetorik der Beständigkeit, die ein ungebrochenes Vertrauen in etablierte Regelsysteme ebenso wie ein vorhandenes Steuerungsvertrauen nahelegt, steht nicht allein. Es lassen sich auch Äußerungen der Verunsicherung finden, die das Bewusstsein eines möglichen Bruches spiegeln und Räume institu35 Rede Carl Boschs (1921), hier S. 139–140. 36 Zur Bedeutung der Nation als zentralem Narrativ der Kommunikation des Unglückes vgl. Patzel-Mattern (2013), S. 266–267. 37 Rede Carl Boschs (1921), hier S. 139–140.

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tionellen Lernens eröffnen können. Dies gilt zunächst im Hinblick auf die naturwissenschaftlich-technische Beherrschung der Welt. So spricht Carl Bosch mit Blick auf die Durchdringung der Naturkräfte von „eitle[m] Menschenwerk“ und „dem dunklen Tor des Ungewissen“: „Umso schwerer traf jetzt, wo wir glaubten, dieses Ziel erreicht zu haben, mich und alle die hunderte von Männern, die mit mir arbeiteten und ihr Bestes hergegeben hatten, der Schlag des Schicksals, der uns erschreckend enthüllte, daß unsere Arbeit und unsere Bemühungen doch nur eitles Menschenwerk waren, daß sich die Natur ihre letzten Geheimnisse nicht mit Hebeln und Schrauben hatte abzwingen lassen, daß wir zuletzt immer wieder vor dem dunklen Tor des Ungewissen stehen.“38

Carl Bosch benutzt mit „eitle[m] Menschenwerk“ und „dem dunklen Tor des Ungewissen“ Sprachbilder, die den Implikationen des Fortschrittsnarrativs entgegenstehen. So entlehnt der Redner mit der Formulierung des „eitlen Menschenwerkes“ ein Sprachbild, das im Kontext einer christlichen Strafrhetorik Anwendung findet. Sie lässt sich in frühneuzeitlichen Auseinandersetzungen mit Naturkatastrophen finden.39 Dieses Sprachbild verweist auf einen Diskurs, der im Sinne der betrachteten Zeit als antirational gilt. In der Wahrnehmung der Zeitgenossen ist er kaum mit dem wissenschaftlich-technisch fundierten Fortschrittsdenken vereinbar. Insofern kann die Verwendung dieses Sprachbildes als Zeichen der Verunsicherung gewertet werden. Deutlicher tritt diese Verunsicherung im zweiten Sprachbild dieses Absatzes – „dem dunklen Tor des Ungewissen“ – zutage. Es ist gewissermaßen ein Gegenbild zu dem des Fortschrittes. Dieses entwirft eine hellere, eine lichte Zukunft. Letztlich wird mit der Vorstellung, dass, unabhängig von geleisteter Arbeit und erfolgten Anstrengungen, die Natur ihre Geheimnisse hinter „dem dunklen Tor des Ungewissen“ bewahren wird, ein grundsätzlicher Zweifel an der Möglichkeit der wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung formuliert. Dieser Zweifel mag wesentlich durch die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges mit beeinflusst sein. Die kriegerischen Auseinandersetzungen haben gezeigt, dass technisch-industrielle Errungenschaften angesichts der Zerstörungskraft des modernen Krieges, vor allem aber angesichts seiner Totalität keinen wirksamen Schutz vor elementaren Erfahrungen wie Hunger bieten. Dennoch ist festzuhalten, dass die artikulierten Zweifel in erster Linie eine Verunsicherung des Denkens darstellen. Handlungspraktisch entfalten sie nur eine sehr eingeschränkte Relevanz, wie die Rede Carl Boschs verdeutlicht. Aus der letztlich undurchdringbaren Ungewissheit leitet der Redner nämlich die Notwendigkeit eines Kampfes für Verbesserungen im Detail ab. Er hält an der Möglichkeit einer Beherrschung der Natur auf der Grundlage bisheriger Wissensbestände fest. Es sollte noch gut fünf Jahrzehnte bis zum Unglück von Seveso 1976 dauern, bis die in den Worten Carl 38 Ebd., S. 139. 39 Vgl. exemplarisch die Ausführungen von Rosmarie Zeller zum Motiv der Buße in der Flugblätter-Katastrophenberichterstattung des 16. und 17. Jahrhunderts; Rosmarie Zeller: Wahrnehmung und Deutung von Naturkatastrophen in den Medien des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Christian Pfister (Hg.): Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500-2000, Stuttgart 2002, S. 27–39, hier S. 31–34.

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Boschs durchklingende zaghafte Verunsicherung sich in institutionellen Lernprozessen manifestieren sollte. Sie führten zu Veränderungen der Regelsysteme.40 Neue formgebundene Institutionen wie die Seveso-Richtlinie (erste Fassung von 1982) wurden auf europäischer Ebene etabliert. Diese Richtlinie soll dazu beitragen, Betriebsunfälle mit gefährlichen Stoffen zu verhindern und mögliche Unfallfolgen zu begrenzen. Ebenso änderten sich formlose Institutionen der Unternehmenskommunikation mit dem Ziel, angesichts von Unfallerfahrungen neues Vertrauen zu generieren – zu denken wäre hier beispielsweise an Tage der offenen Tür in Unternehmen. Sie ermöglichen Einblicke in die Produktion und streben in der öffentlichen Präsentation zugleich danach, die Beherrschung möglicher Gefahren zu kommunizieren. Auch wenn institutioneller Wandel im historischen Kontext des Unglückes von 1921 kaum zu konstatieren ist, befördert das Unglück doch begrenzte organisationale Veränderungen. So wird das Werk in Oppau zwar innerhalb weniger Monate wieder aufgebaut und nimmt seine Produktion erneut auf – wie dies Carl Bosch in seiner Rede fordert.41 In der Folgezeit wird jedoch am Ort kein Ammonsalpeter, jener Stoff, der die Explosion verursachte, mehr produziert. Neben Sicherheitsbedenken42 sind es vor allem lokale Widerstände, mit denen sich die BASF konfrontiert sieht. Die Gemeinde Oppau fordert Entschädigungszusagen für den Fall möglicher Explosionen in der Zukunft. Sie reagiert damit auf die Tatsache, dass nach dem Unglück von 1921 weder das Unternehmen, noch das Land Bayern, zu dem der Ort damals gehörte, oder die Reichsregierung formal die Verantwortung für das Geschehen übernahmen.43 Die Kompensation der Schäden erfolgte vor diesem Hintergrund als freiwillige Leistung und die ausgezahlten Mittel verloren angesichts der Inflation rasch an Kaufkraft. Mit seinem Widerspruch gegen eine Wiederaufnahme der Ammoniakproduktion verlieh der Bürgermeister den Bedenken der Oppauer Bürgerschaft Ausdruck. Durch das Explosionsunglück und den Umgang der Beteiligten mit den Folgen ist Vertrauen in etablierte Regelsysteme verloren gegangen.44 Dies gilt nicht nur für die Stadtgemeinde. Auch innerhalb der lokalen und regionalen Arbeiterschaft artikulierte sich Misstrauen gegenüber einem von Carl Bosch geforderten „Kampf um die Existenz des Vaterlandes“.45 Teile dieser Ar40 Vgl. hierzu Katja Patzel-Mattern: Paradoxon der Moderne. Katastrophen als Ordnungselemente, in: Ruperto Carola. Forschungsmagazin. Themenheft „Ordnung & Chaos“, Heidelberg 2013b, S. 64–73; umfassender bei Thilo Jungkind: Risikokultur und Störfallverhalten der chemischen Industrie, Stuttgart 2013. 41 Der Wiederaufbau des Ortes zieht sich deutlich länger hin. Er wird erst Mitte der 1920erJahre abgeschlossen. 42 Erst rund zwanzig Jahre später steigt die BASF mit einem veränderten Sicherheitskonzept wieder in die Produktion ein. 43 Die eingesetzten Untersuchungskommissionen des Landes und des Reiches kamen zu dem Schluss, dass sich die Gründe für die Explosion nicht einwandfrei aufklären lassen. Festgestellt wurde nur, dass das für eine unbedenkliche Lockerungssprengung notwendige Mischungsverhältnis am Unglückstag nicht erreicht wurde. 44 Vgl. hierzu Johnson (2002), S. 212. 45 Vgl. Rede Carl Boschs (1921), S. 140.

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beiterschaft verstanden sich als Opfer kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Der Protest richtete sich insbesondere gegen die Akkordarbeit, die für das Unglück mitverantwortlich gemacht wurde: „der Tod von weit über 500 Menschen konnte als der sinnfälligste Beweis für ihre Ausbeutung gelten, als Beleg auch für die Geringachtung ihrer physischen Existenz. Der Fluch über die ‚Anilinhölle‘ brachte die Stimmungen auf einen einprägsamen agitatorischen Nenner“46.

Das hier artikulierte Misstrauen speist sich nicht allein aus dem Unfall. Es ist Bestandteil einer zeitlich andauernden Auseinandersetzung um die Gestaltung des Gesellschaftssystems und die Verteilung von Ressourcen. Insofern ist das Explosionsunglück hier weniger Katalysator eines Vertrauensverlustes als vielmehr einer von zahlreichen Bestandteilen eines Misstrauensverhältnisses zwischen sozialen Gruppen. Es stellt das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft in der existierenden kapitalistischen Form und damit die Regeln etablierten wirtschaftlichen Handelns im Sinne formgebundener wie formloser Institutionen infrage. Dieses Misstrauensverhältnis, in das das Explosionsunglück eingebunden ist, sollte mittelfristig kanalisiert respektive relativiert werden. Dies geschah durch das Versprechen einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft oder die Beteiligung breiterer gesellschaftlicher Gruppen an den Erträgen des wirtschaftlichen Wachstums. Die grundlegendste Verunsicherung lösen jedoch Tod und Versehrung aus. Carl Bosch setzt ihnen in seiner Rede das „unerbittliche Muß der Pflichterfüllung“47 entgegen und überwindet sie damit rhetorisch. Zusätzlich perspektiviert er seine Involviertheit gleich zweimal im Hinblick auf einen Auftrag des Vorstandes: Er tut dies zu Beginn seiner Aufführungen sowie im Anschluss an die Beileidsbekundung. Doch zugleich hinterlassen die „Opfer […], die die Katastrophe gefordert hat“, den Redner „ganz machtlos und ohnmächtig, und all das Selbstverständliche, was wir tun können, um die trauernden Hinterbliebenen und die Verletzten zu trösten, ist nichts im Vergleich zu den Verlusten.“48

Die Toten personifizieren den Bruch. Er ist unüberwindbar. Dies wird in künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Katastrophe wesentlich eindeutiger formuliert als in der Rede Carl Boschs. Sie entwickeln, anders als dies der Vorstandsvorsitzende tut, keine Zukunftsperspektiven. Vielmehr benennen künstlerische Aneignungen des Themas den Verlust, geben diesem Raum. Exemplarisch wird dies an zwei Denkmalssetzungen aus den Jahren 1923 und 1932 sowie dem expressionistischen Gedicht „Oppauammoniak“ von Franz Richard Behrens deutlich.49 Während das Denkmal aus dem Jahr 1923 den Moment des Verlustes und 46 47 48 49

Braun (2003), S. 28. Vgl. Rede Carl Boschs (1921), S. 139–140. Ebd., S. 140. Zur Beschreibung der Denkmäler und ihrer Entstehungsgeschichte, versehen mit entsprechenden Abbildungen, vgl. Martin Furtwängler: Erinnerung aus Erz und Stein. Denkmäler in Ludwigshafen am Rhein bis 1945, Ludwigshafen a.R 2006, S. 112–117. Das Gedicht findet sich bei Franz Richard Behrens: Blutblüte. Die gesammelten Gedichte, in: Gerhard Rühm (Hg.): Franz Richard Behrens Werkausgabe, Bd. 1, München 1979, S. 63–66.

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des empfundenen Schmerzes anhand einer Mutter und ihres toten Kindes bannt, artikulieren das Denkmal aus dem Jahr 1932 ebenso wie das Gedicht von Franz Richard Behrens die Unterbrechung von Alltagsroutinen. Im Gedicht werden chemische Prozesse durch Namen und Opferzahlen unterbrochen; auf dem Bilderfries des Denkmales werden Arbeiter aus ihrem Alltag weggesprengt – sie hinterlassen auch physisch eine Lücke. Die Erschütterung, die der Tod hinterlässt, und der Verlust, den er bedeutet, öffnen keine Räume. Sie schaffen Leere. Institutionelles Lernen könnte sich hier nur auf den Umgang mit den Opfern und Hinterbliebenen beziehen. Doch dieses ist nach dem Oppauer Unglück nicht zu erkennen. Carl Bosch spricht in seiner Rede davon, dass „kein Kunstfehler und keine Unterlassungssünde“ die Katastrophe herbeigeführt habe. „Neue, uns auch jetzt noch unerklärliche Eigenschaften der Natur haben all unseren Bemühungen gespottet.“50 Diese Naturalisierung des Unfallgeschehens schafft für das Unternehmen die Möglichkeit, Schuld von sich zu weisen. Diese Haltung wird durch die Ergebnisse der Untersuchungen, die keinen eindeutigen Unfallhergang und damit keine direkte Verantwortlichkeit rekonstruieren können, noch bestärkt. Vor diesem Hintergrund willigt das Unternehmen lediglich ein, „freiwillig Entschädigungen an Opfer und Hinterbliebene zu zahlen“.51 Sie verloren, durch die Inflation rasch an Wert und wurden nicht aufgestockt. Bewertung Die Analyse industrieller Unfälle öffnet einerseits den Blick auf Impulse für institutionelles Lernen. Andererseits macht sie die Beharrungskraft grundlegender Narrative der Industriegesellschaft deutlich. Das einzelne Unglücksereignis vermag im frühen 20. Jahrhundert den Fortschrittsglauben nicht nachhaltig zu erschüttern. Vielmehr wird die Natur dem technisch-industriellen Fortschritt entgegengesetzt und auf diese Weise ein unhintergehbarer Antagonismus konstruiert – in den Worten Carl Boschs das „unerbittliche Muß, das auf den Weg der Pflichterfüllung zwingt“52. Damit wird der Industrieunfall trotz oder vielleicht gerade wegen seiner besonderen Schwere in der unternehmerischen Kommunikation – aber nicht nur in dieser – zum „systemischen Phänomen“, wie der Philosoph Paul Virilio sagt. Er ist nicht mehr unvorhersehbar, „sondern etwas Erwartetes und Gefürchtetes, welches dazu tendiert, sich ständig und in zunehmend schnellerem Rhythmus zu wiederholen“.53 Zugleich hat die Fokussierung auf die Frage eines möglichen Vertrauensverlustes in Krisenzeiten und seine Folgen im Anschluss an die Überlegungen Hansjörg Siegenthalers aber auch Verunsicherungen und damit zugleich Räume 50 51 52 53

Rede Carl Boschs (1921), S. 139. Johnson (2002), S. 211. Vgl. Fußnote 47. Paul Virilio: Der Integrale Unfall, in: Christian Kassung (Hg.): Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls, Bielefeld 2009, S. 7–8, hier S. 7.

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für Veränderungen sichtbar gemacht. Die Überzeugung einer technischindustriellen Beherrschbarkeit der Natur ist infrage gestellt. Lokale Widerstände gegen Formen und Gegenstände der Produktion erzwingen zumindest organisationale Modifikationen bisheriger Abläufe. Insofern kann eine, wenn auch begrenzte Legitimationskrise der BASF konstatiert werden. Das Unglück selbst ist allerdings nicht Katalysator, sondern lediglich eine Wegmarke dieser Krise. Sie begleitet die Industrialisierung, erlangt durch den Ersten Weltkrieg eine neue Dimension und findet im Oppauer Unglück einen Artikulationsraum. Es sind nicht oder nur eingeschränkt die unternehmerischen Diskurse, die Wandel erkennen lassen, sondern künstlerische Ausdrucksformen. Sie betonen die Leerstelle des Todes und damit den Bruch. Insofern deutet sich im Oppauer Unglück eine beginnende gesellschaftliche Veränderung im Umgang mit den Bedingungen industrieller Produktion an. Ihre Wirkungen erscheinen nicht länger uneingeschränkt als notwendige und hinzunehmende Begleiterscheinungen eines Versprechen möglicher Wohlfahrt, sondern werden als Belastung thematisierbar. Insofern steht das Explosionsunglück bei der BASF 1921 für den Beginn einer Diskussion über verantwortungsethische Dimensionen industriellen Fortschrittes. Institutionell sollte sich diese Diskussion erst viele Jahrzehnte und zahlreiche Industrieunfälle später mit dem Erlass der Seveso-Richtlinien manifestieren. Festzuhalten bleibt, dass institutionelles Lernen infolge von Krisen nicht spontan geschieht. Es ist Teil eines Krisenverlaufes, der sich zeitlich erstreckt. Entscheidend für die Möglichkeiten institutionellen Lernens und seiner Reichweite sind die Dimensionen der betrachteten Krise. Eine Legitimationskrise, die sich wie im Fallbeispiel auf eine Grundüberzeugung der technisch-industriellen Moderne bezieht, zeichnet sich durch graduelle Lernprozesse und damit einhergehenden begrenzten institutionellen Wandel über lange Zeiträume aus. Diese führen zu Veränderungen im Denken und Handeln organisationaler wie personaler Akteure. Sie stellen die Ordnung, die im Zentrum der Krise steht, jedoch nicht grundsätzlich infrage. Vielmehr wird sie in ihrer Gestaltung modifiziert.54 Dies geschieht durch das gewissermaßen „‚Ideologie‘-produzierende Gespräch“55 sozialer Gruppen. Eine Analyse von Krisen im Anschluss an die Überlegungen Hansjörg Siegenthalers ermöglicht es, die Bedeutung kommunikativer Akte für gesellschaftliche Ordnung genauer zu beschreiben und die Bedingungen institutionellen Wandels als Teil allgemeiner historischer Veränderungsprozesse zu erfassen. Dabei lenkt sie den Blick auf Vertrauen als relevante Größe, um die Stabilität sozialer Systeme erklären zu können.

54 Vgl. hierzu Patzel-Mattern (2013b), S. 64–73, hier S. 72–73. 55 Hansjörg Siegenthaler: Organization, Ideology and the Free Rider Problem, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics 145 (1989), S. 215–231.

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Literatur Johnson, Jeffrey Allan: Die Macht der Synthese (1900–1925), in: Werner Abelshauser (Hg.): Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002, S. 158–219. Patzel-Mattern, Katja: „Unsagbares Grauen“. Erzählmuster der Medienberichterstattung über die Explosionsunglücke bei der BASF 1921 und 1948, in: Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern, Gerrit Jasper Schenk (Hg.): Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013, S. 249–280. Patzel-Mattern Katja: Paradoxon der Moderne. Industrielle Katastrophen als Ordnungselemente, in: Ruperto Carola. Forschungsmagazin. Themenheft „Ordnung & Chaos“ 3, Heidelberg 2013b, S. 64–73. Siegenthaler, Hansjörg: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens, Tübingen 1993. Wischermann, Clemens: Kooperation, Vertrauen und Kommunikation: Ein Rahmenmodell des Unternehmens auf institutionenökonomischer Grundlage, oder: Was macht ein Unternehmen handlungsfähig?, in: ders. (Hg.): Unternehmenskommunikation in deutschen Mittel- und Großunternehmen. Theorie und Praxis in historischer Perspektive, Dortmund 2003, S. 76–92.

4.3.4 INNOVATION: WISSENSMANAGEMENT IN DEN AUFBRUCHSJAHREN DER DEUTSCHEN COMPUTERINDUSTRIE Armin Müller Wie kommt es zu Innovationsprozessen im Wirtschaftssystem, in Unternehmen? Welchen Beitrag dazu leistet das Wissen der Mitarbeiter und wie genau führt dieses Wissen zu Innovationen? Diese Fragen verweisen auf ein Kernthema sowohl in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung als auch in der betrieblichen Management-Praxis. Seit Joseph Schumpeter wurden unterschiedlichste Erklärungsmodelle und Handlungsempfehlungen für Innovations- und Lernprozesse in Unternehmen vorgelegt. Eine allgemein akzeptierte Begriffsdefinition oder gar ein geschlossener und allgemein gültiger Ansatz existiert bis heute nicht.1 Im Mittelpunkt vieler Analysen steht aber regelmäßig der Verweis auf Schlüsselakteure, auf institutionelle Rahmenbedingungen und auf informationsverarbeitende Prozesse im weiteren Sinne. Hierdurch sind die Kernaussagen des betriebswirtschaftlichen Innovationsund Wissensmanagements anschlussfähig an institutionenökonomische Modelle und Argumentationslinien der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Aufbauend auf wissenssoziologischen Grundlagenwerke der 1960er-Jahre waren es vor allem die beiden japanisch-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi, die in den 1990er-Jahren mit ihrem Modell der Wissensspirale die „Organisation des Wissens“ beschrieben, auf dem die neuere Literatur aufbaut. Die in diesem Modell beschriebenen Wissensumwandlungsprozesse werden im folgenden Kapitel näher beschrieben. Als Fallstudie hierfür werden die Anfangsjahre der deutschen Computerindustrie beleuchtet, als in den 1960er-Jahren mechanische Rechner zu elektronischen Computersystemen weiterentwickelt wurden, die man dann Mittlere Datentechnik nannte. Zentrale Triebkräfte dieser Innovationen waren häufig die Unternehmen der Büromaschinenindustrie, die die Bedeutung des Marktes für kleine und preisgünstige Computersysteme frühzeitig erkannten. Auf Basis eines Interviews mit Entwicklern des Computerherstellers Kienzle Apparate GmbH kann ein Einblick in das Wissensmanagement des Unternehmens gewonnen werden. Am Beispiel Kienzle lässt sich exemplarisch aufzeigen, dass richtige institutionelle Rahmenbedingungen für die Innovationsfähigkeit von Unternehmen zentral sind. Dies bestätigen die Vorhersagen und Ergebnisse aus den empirischen Studien von Nonaka und Takeuchi.

1

Vgl. Dieter Specht, Martin Möhrle: Innovation 2013, online unter http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/54588/innovation-v8.html, (Zugriff 28.08.2013).

Innovation

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Konzeptspezifikation Die Debatte um Innovation und Wissensmanagement zielt letztlich auf den Kern der kapitalistischen Wirtschaftsdynamik und die Frage nach den treibenden Kräften der modernen Wachstumswirtschaft. Als Klassiker hierzu gilt bis heute der Ökonom Joseph A. Schumpeter und sein über 100 Jahre alter Verweis auf den kapitalistischen Unternehmer als Ausgangspunkt für diese Wandlungsprozesse.2 Schumpeter betrachtete Innovation als die Durchsetzung einer neuen Kombination von Produktionsfaktoren. Dabei unterschied er fünf kombinatorische Fälle: (1) Produktion eines neuen Gutes oder Verbesserung eines existierenden Gutes, (2) Einführung einer neuen Produktionsmethode, (3) Erschließung eines neuen Absatzmarktes, (4) Erschließung neuer Bezugsquellen von Rohstoffen oder Bauteilen/Halbfabrikaten und (5) Neuorganisation der Marktposition.3 Treibender Faktor sind nach Schumpeters Theorie vor allem der Unternehmer und seine Fähigkeiten, existierende (Markt-)Informationen besser zu verarbeiten als andere Akteure und diese in Entscheidungen und Handlungen im Unternehmen umzusetzen.4 Damit wurde auch der Grundstein der Entrepreneurship-Forschung gelegt, die Fragen nach der Rolle des Unternehmers im Wirtschaftsprozess, nach unternehmerischem Handeln und Kompetenzen nachgeht. Schumpeters Ansatz ist Ausgangspunkt für Fragen nach Innovations- und Lernprozessen im institutionellen Paradigma. Die heutige Innovationsforschung ist in ihren Modellen und empirischen Erkenntnissen zwar weiterentwickelt. Aber die Analyse von Personen wie Unternehmen und der für Innovationsprozesse notwendigen Informationen ist weiterhin zentraler Bestandteil der Modelle. Sie werden nun allerdings um eine Analyse der institutionellen Rahmenbedingungen ergänzt.5 Das moderne, institutionenökonomische Verständnis von Innovation und Lernen ist ebenfalls anschlussfähig an Modelle des Wissensmanagements und die Diskussionen um die „lernende Organisation“. In diesem Begriff kommt die Vorstellung zum Ausdruck, dass Organisationen – verstanden als die Gesamtheit der Organisationsmitglieder – auf externe wie interne Herausforderungen reagieren und dadurch Lernprozesse angestoßen werden, die zu Veränderungen und Anpas-

2

3 4 5

Vgl. Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 9. Aufl., unveränd. Nachdr. der 1934 erschienenen 4. Aufl., Berlin 1997 [im Original 1911 erschienen], S. 110– 139. Vgl. Schumpeter (1997), S. 100f. Vgl. Mark Casson: Der Unternehmer. Versuch einer historisch-theoretischen Deutung, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 524–544, hier S. 525. Verwiesen sei an dieser Stelle nur auf die wichtige Diskussion um Nachfolge- und Weitergabeprozesse in Organisationen; vgl. Gert Kollmer-von Oheimb-Loup, Clemens Wischermann (Hg.): Unternehmernachfolge in Geschichte und Gegenwart, Ostfildern 2008; Franz Breuer: Vorgänger und Nachfolger. Weitergabe in institutionellen und persönlichen Bezügen, Göttingen 2009.

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sungen an diese Herausforderungen führen. Dieser Zweig der Wirtschaftswissenschaften macht aktuell ein breites Forschungs- und Anwendungsfeld aus.6 Konzeptionelle Grundsteine für die heutigen Diskussionen um Wissensmanagement wurden in den 1960er-Jahren gelegt, als sich Autoren erstmals explizit mit dem Thema Wissen in einer modernen, sich wandelnden Gesellschaft sowie in wirtschaftlichen Prozessen beschäftigten.7 Zentral für die spätere Diskussion waren hier auf der einen Seite der Chemiker und Wissenschaftstheoretiker Michael Polanyi und auf der anderen Seite die neue Wissenssoziologie in der Tradition von Peter L. Berger und Thomas Luckmann.8 Polanyi veröffentlichte 1966 erstmals seine Überlegungen zur Existenz impliziten bzw. „taziten“ (meint verborgenen) Wissens.9 Die beiden Begriffe implizit und tazit werden hier synonym verwendet. Als Komplementärbegriff meint „explizites Wissen“ alle Wissensformen, die in Sätzen, mathematischen Formeln oder technischen Daten formal artikulierbar sind. Explizites Wissen ist weitgehend kontextfrei erfassbar, seine Inhalte sind in Form von Fakten, Sachwissen, Regeln oder Theorien ausdrückbar und seine Weitergabe ist problemlos möglich. Implizites Wissen hingegen ist nicht ohne Weiteres sprachlich artikulierbar. Es ist kontextspezifisch und die Inhalte sind zumeist an persönliche Überzeugungen, Werte und Erfahrungen gebunden und beziehen sich auf Fertigkeiten, Regelwissen, mentale Bilder, Denkmodelle und Intuition. Dieses Modell impliziten Wissens hat große Ähnlichkeit mit dem von Douglass North in die Institutionenökonomik eingeführten Begriff der „formlosen Institutionen“ und dem daraus weiterentwickelten Kulturbegriff der neueren Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte.10 Beide Traditionen gehen davon aus, dass Wissen erst in der Interaktion zwischen den Menschen produktiv wird, es ist also mehr als reine Daten und Informationen. In der entsprechenden Forschungsliteratur zum Wissensmanagement verdeutlicht man diese Unterscheidung gerne am Modell der Wissenstreppe, das auf den Wirtschaftswissenschaftler Klaus North zurückgeht.11 Darin ordnet er sieben unterschiedliche Begriffe der Informations- und Wissenswelt entsprechend ihrer jeweiligen Komplexität. Auf den unteren drei Stufen finden sich die Begriffe Zeichen, Daten und Information, auf der vierten Stufe dann der Begriff Wissen und 6

Vgl. Helmut Krcmar: Informationsmanagement, 5. Aufl., Berlin u.a. 2010; Peter M. Senge, Maren Klostermann: Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation, 10. Aufl., Stuttgart 2006. 7 Vgl. Franz Lehner: Wissensmanagement. Grundlagen, Methoden und technische Unterstützung, 4. Aufl., München 2012, S. 30. 8 Vgl. Hubert Knoblauch: Wissenssoziologie, 2. Aufl., Konstanz 2010. 9 Vgl. Michael Polanyi, Amartya Sen: The Tacit Dimension, Chicago 2009. 10 Vgl. Douglass North: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992, S. 43–64; Clemens Wischermann: Von der „Natur“ zur „Kultur“. Die neue Institutionenökonomik in der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Erweiterung, in: Karl-Peter Ellerbrock, Clemens Wischermann (Hg.): Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung der New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 17–30; Douglass C. North: Understanding the Process of Economic Change, Princeton 2005. 11 Vgl. Klaus North: Wissensorientierte Unternehmensführung. Wertschöpfung durch Wissen, 4. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 31–39.

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auf den darüberliegenden Stufen Können, Handeln und Kompetenz. Jeder Begriff baut auf den darunterliegenden Stufen auf und ermöglicht eine komplexere Zielerreichung bzw. ein komplexeres Informations- und Wissensmanagement in der Organisation. Die drei unteren Stufen lassen sich durch technische Systeme bewältigen, auf der vierten Stufe kommen der menschliche Faktor und die Fähigkeit ins Spiel, Informationen mit anderen Informationen zu vernetzen und in einen Erfahrungskontext aus der Vergangenheit und einem daraus abgeleiteten Erwartungskontext an die Zukunft einzubetten. Die Institutionenökonomik interpretiert diesen Prozess als Sinngebung und Sinndeutung.12 Verbindet sich solches (theoretisches) Wissen mit einem (praktischen) Anwendungsbezug, mit Anreizen und Motivation, dann handelt der Akteur, er entwickelt weitere Erfahrungen und Kompetenzen und wird auf der höchsten Stufe dieser Treppe zum nicht mehr ersetzbaren Experten für spezielle Aufgaben und Anwendungen. Ab Stufe 4 können technische Systeme nur noch unterstützend tätig sein, letztlich ist es die menschliche Einbettung in soziokulturelle Systeme, die gesellschaftliche Konstruktion von Wirtschaft und Unternehmen, die Wissens- und Innovationsprozesse ausmachen. Operationalisierung Die moderne Wissenssoziologie in der Tradition von Berger und Luckmann versteht Wissen als Ergebnis sozialer Konstruktion und Interaktion. Wissen ist hier immer Ergebnis und erneuter Ausgangspunkt gesellschaftlich fundierter Prozesse der Sozialisation, der Institutionalisierung, der Objektivierung und der Internalisierung. In zeitlicher Dynamik bildet sich hieraus ein sozialkonstruktivistischer Kreislauf ohne Anfang und Ende. Dieses Konzept ist bis heute ein Grundelement der Institutionentheorie und fließt ebenfalls in die Modelle des Wissensmanagements ein. Wegweisend hierfür waren die beiden japanischen Wirtschaftswissenschaftler Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi mit ihrem 1995 veröffentlichten Buch „The Knowlege Creating Company“13. Aus einem Vergleich von Innovations- und Wissensprozessen in japanischen und europäisch-amerikanischen Unternehmen entwickeln die beiden Ökonomen ihr Modell einer Wissensspirale. Darin greifen sie auf die Unterscheidung von explizitem und implizitem Wissen zurück, die sie als zwei komplementäre Formen von Wissen verstehen. Wissen wird durch „eine Interaktion zwischen beiden Bereichen geschaffen und erweitert“14. Diese Prozesse bezeichnen sie als „Wissensumwandlung (…), die einen sozialen Prozess zwischen Menschen darstellt und nicht auf das Innenleben Einzelner beschränkt ist“15. 12 Vgl. Clemens Wischermann, Anne Nieberding: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004, S. 29. 13 Vgl. Ikujiro Nonaka, Hirotaka Takeuchi: Die Organisation des Wissens. Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2012. 14 Ebd., S. 78. 15 Ebd.

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explizit

implizit

implizit

explizit

Sozialisation

Externalisierung

− beobachten, imitieren − Meister-SchülerBeziehung − Erfahrung sammeln durch Versuch und Irrtum

− − − −

Internalisieren

Kombination − Zusammenfügen von bekanntem Wissen und Informationen

− Aufnehmen von Information − Verstehen von Information und Kommunikation − Lernen aus Unterweisung und Büchern

Artikulieren, formulieren Dialog, Gespräch, Reflexion Sprache

Die vier Hauptprozesse der Wissensumwandlung (Wissensspirale) nach Nonaka und Takeuchi (Quelle: Nonaka und Takeuchi 2012, S. 79)

In ihrer Wissensspirale beschreiben sie vier Formen der Wissensumwandlung zwischen impliziten und expliziten Wissensbeständen, die sich aus den kombinatorisch möglichen Formen der beiden Aggregatzustände ergeben: Sozialisation (von implizit zu implizit), Externalisierung (von implizit zu explizit), Kombination (von explizit zu explizit) und Internalisierung (von explizit zu implizit). Alle vier Prozesse greifen ineinander und interagieren in Form einer Wissensspirale. In ihrem Buch benennen Nonaka und Takeuchi auch die Faktoren, die für ein gelingendes Wissens- und Innovationsmanagement verantwortlich sind. Die Stichworte hierfür sind Intention, Autonomie, Fluktuation und kreatives Chaos, Redundanz und notwendige Vielfalt.16 Bei Nonaka und Takeuchi wird das beschriebene Modell der Wissensspirale an verschiedenen empirischen Beispielen entwickelt und überprüft. Vor allem drei Projekte rücken bei ihnen in den Mittelpunkt der Untersuchung. Erstens ein Beispiel aus der japanischen Autoindustrie. Um 1980 entwickelte Honda das Modell eines neuen, bis dahin nicht auf dem Markt erhältlichen Kleinwagens für den Stadtverkehr. Der „Honda City“ wurde von einer autonomen Entwicklergruppe auf den Weg gebracht, deren große Aufgabe es war, mit bisherigen Paradigmen der Autoproduktion zu brechen. Die Vision des Kleinwagens war zu dieser Zeit völlig neu und Honda schaffte Strukturen, in denen verschiedene Sichtweisen und Erfahrungen zusammengebracht wurden und generierte neue Ideen.17 16 Vgl. ebd., S. 93–107. 17 Vgl. ebd., S. 28–32.

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Zwei weitere Projekte bei Nonaka und Takeuchi sind zum einen die Entwicklung eines Minikopiergerätes bei Canon und die Erfindung des ersten automatischen Brotbackautomaten beim Unternehmen Matsushita (dem heutigen Panasonic-Konzern).18 Beim Minikopiergerät ging es vor allem darum, ein tragfähiges Konzept für einen kostengünstigen Herstellungsprozess zu finden. Beim Brotbackautomat mussten die Entwickler relativ komplexe Prozesse lösen, bei denen vor allem (implizites) Erfahrungswissen aus dem Bäckerhandwerk in eine automatisierbare Lösung, das heißt explizites Wissen von Ingenieuren und Technikern, übersetzt wurde. Berger/Lukmann19 und Nonaka/Takeuchi eint die Vorstellung von Wissensmanagement als sozialem und damit gemeinschaftlichem beziehungsweise gesellschaftlichem Prozess. Wissen ist an Personen gebunden und kann nur über diese produktiv gemacht werden. Wissensweitergabe (Lernen) oder die Generierung neuen Wissens (Innovation) findet damit nie auf einer abstrakten makroökonomischen Ebene, sondern immer auf der mikroökonomischen Ebene der Akteure in den Organisationen statt. Um diese Prozesse zu verdeutlichen, wird im Folgenden ein Beispiel aus der Computerindustrie herangezogen. Mitte der 1960er-Jahre entstanden erste Geräte zur Datenverarbeitung, die funktional und preislich nicht nur für Großrechenzentren erschwinglich waren, sondern eine attraktive Alternative für die gesamte Breite der mittelständischen Industrie darstellten. Noch Anfang der 1960er-Jahre sahen die wenigsten Experten diesen umfassenden Wandel der Datenverarbeitungsbranche voraus. Insbesondere die bis dahin technologisch führenden Konzerne wie IBM, Siemens oder AEG waren skeptisch bezüglich eines Marktes für Kleincomputer. Kienzle Apparate gehörte aber zu einer Gruppe von Unternehmen, die den unaufhaltbaren Trend weg von mechanischen, hin zu elektronischen Rechnern früh erkannten. Tatsächlich sollte es keine zehn Jahre dauern, bis einsatzfähige und bezahlbare Kleincomputer für betriebliche Anwendungen im Mittelstand zur Verfügung standen. Die Lern- und Wissensprozesse dieses Wandels gingen von einigen Unternehmen der Büromaschinenbranche aus, die durch ihre Nähe zu den potenziellen Anwendern und Kunden sowohl die Notwendigkeit des technologischen Fortschrittes als auch die Möglichkeiten neuer Anwendungen erkannten. Hinzu kamen einzelne Schlüsselpersonen und Pionierunternehmen, von denen in Deutschland sicherlich Heinz Nixdorf oder die Kienzle Apparate zu den bedeutendsten zählten.20 Bis heute gehört die Computer- und Elektronikindustrie zu den Branchen mit den kürzesten Produktlebenszyklen. Neue Technologien und Modelle lösen in schneller Folge die bestehenden ab. Ein erfolgreiches Innovations- und Wissens18 Zur Übersicht vgl. ebd., S. 84. 19 Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 22. Aufl., Frankfurt a.M. 2009. 20 Vgl. Armin Müller: Kienzle versus Nixdorf. Kooperation und Konkurrenz zweier großer deutscher Computerhersteller, in: Westfälische Zeitschrift 162 (2012), S. 305–327; grundlegend weiterhin Klaus Kemper: Heinz Nixdorf – Eine deutsche Karriere, Landsberg a.L. 2001.

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management entscheidet somit über Erfolg oder Untergang von Unternehmen. Dies gilt für den Umbruch vom feinmechanischen hin zum elektronischen Zeitalter in den 1960er-Jahren genauso wie heute. Das Fallbeispiel Kienzle Apparate erlaubt es, diese Entwicklung sehr genau nachzuzeichnen. Der ausgewählte Quelltext entstammt zwar der offiziellen Unternehmenskommunikation, er erlaubt es aber bis zu einem gewissen Grad, in die Entwicklungsabteilungen des Unternehmens zu schauen. Er thematisiert Innovations- und Wissensprozesse in dieser entscheidenden Phase der Datenverarbeitungsindustrie und dokumentiert Aufbau, Struktur und Arbeit einer Schlüsselorganisation im Hause Kienzle Apparate bei der Entwicklung der eigenen Computersysteme, den sogenannten „Entwicklungsausschuss Büromaschinen“ (EAB). Nach Vorstellung, Kritik und Kontextualisierung des Textes zum EAB werden die darin beschriebenen Entwicklungsprozesse mit Blick auf die Wissensspirale von Nonaka und Takeuchi analysiert. Mit einem Artikel aus der Kienzle-Betriebszeitung liegt sicherlich eine Textgattung vor, die vordringlich auf eine positive Innen- wie Außenwirkung des Unternehmens bedacht war. Hier ist sicherlich nicht mit einer kritischen Hinterfragung der Unternehmensentwicklung zu rechnen, potenzielle Krisen und Rückschläge würden in solchen Texten kaum thematisiert werden. Umso wichtiger ist es, die geschilderten Entwicklungen kritisch mit anderen Quellen abzugleichen und zu kontextualisieren. Der EAB wurde 1963 ins Leben gerufen. Anlass hierfür waren große Probleme mit der Produktion und dem Absatz neuer Modelle im Vorjahr 1962, bei denen erste elektronische Peripheriegeräte (Speichermodule oder Rechenaggregate) in bestehende Modelle integriert wurden. Zwar hatte man bei Kienzle Apparate schon 1954 erste Entwicklergruppen für Elektronik-Produkte gebildet, bis in die 1960er-Jahre hinein waren aber maßgebliche Führungspositionen in der Technik und im Vertrieb noch von den alten, an feinmechanischen Systemen ausgebildeten Mitarbeitern besetzt. In der Übergangszeit zeigte sich, dass technische Schwierigkeiten in der Konstruktion, Fertigung und Montage durch Koordinationsprobleme mit dem Vertrieb und dem Kundendienst verstärkt wurden. Eine zentrale Schlussfolgerung aus diesen Problemen war die Gründung des EAB als neue institutionelle Schnittstelle zwischen den beteiligen Arbeitsbereichen. Im Ausschuss EAB wurde der endgültige Übergang von der Mechanik zur Elektronik besprochen und eine mittelfristige Produkt- und Marktplanung vorgenommen. Fallbeispiel In der Ausgabe 1/1973 der Kienzle-Betriebszeitung stellte der Pressechef Herbert Ackermann (hier: A) die ersten zehn Jahre der Arbeit dieser zentralen Institution EAB vor. Der Rückblick findet in Form eines Interviews mit seinen Mitgliedern statt.21 Gesprächspartner waren die Technischen Direktoren Bernhard Hettich, 21 Herbert Ackermann: Zehn Jahre EAB – erfolgreiche Zukunftsplanung, in: Kienzle Blätter (1973), S. 2–4.

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Willy Kohmann, Günter Martens sowie Heinz Beyer und Werner Meisenheimer, beide Abteilungsleiter aus dem Vertriebsbereich Büromaschinen. Diese werden im Interview nicht namentlich unterschieden, sondern kollektiv als EAB bezeichnet. „(...) A: Vor zehn Jahren wurde der „Entwicklungsausschuß Büromaschine“ ins Leben gerufen – ein kleines Jubiläum. Was gab Veranlassung zur Schaffung dieses Kreises? EAB: Vereinfacht könnte man sagen: die „Elektronik“ war eine wesentliche Ursache. Damit ist dieser Strukturwandel gemeint, der sich Ende der Fünfziger Jahre in unserem Haus anbahnte und der sich um diese Zeit in der ganzen Büromaschinenbranche abzeichnete. Der eine Hersteller reagierte schneller, der andere langsamer. A: … und für manche ist ja damals der Zug uneinholbar abgefahren. EAB: Strukturelle Marktveränderungen frühzeitig zu erkennen, ist eine eminent wichtige unternehmerische Aufgabe. Man denke nur an die Zweiradkrise, der in den Fünfziger Jahren die Motorradindustrie ausgesetzt war, oder den folgenschweren Schritt, den die Energiewirtschaft von der Kohle zum Erdöl machte. A: Ähnlich der Übergang zur Elektronik. Aber hat man bei Kienzle nicht schon sehr frühzeitig gemerkt, wo die Reise hingehen würde? EAB: Zweifellos war die Gründung des Ingenieurbüros München im Jahre 1954 ein Schritt, mit dem Kienzle bewies, daß man die Auswirkung der Elektronik auf die Büromaschinentechnik richtig einschätzte. Bis zur Erfindung des Transistors, für die 1952 drei amerikanische Physiker mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, hatte die Mechanik den Markt beherrscht. Nun aber gab es kleine, robuste Bauelemente, mit deren Hilfe Elektronenrechner auch für den Klein- und Mittelbereich entwickelt werden konnten, die ein günstiges Verhältnis zwischen Kosten und Leistung boten. A: Der Markt der Klein- und Mittelbetriebe, das war doch seit eh und je unsere ureigenste Sphäre? EAB: Wir hatten uns aus diesem „Kuchen“ in den Jahren nach 1950 ein großes Stück herausgeschnitten, und wir mußten auf technologische Veränderungen reagieren, wenn wir unsere Domäne verteidigen wollten. Diese Reaktion konnte aber nur angemessen und wirksam sein, wenn sie alle wesentlichen Aspekte berücksichtigte. A: Mit anderen Worten: Wollte man vor zehn Jahren eine Entscheidung über die zukünftige Produktpolitik treffen, dann mußten sich doch Vertrieb und Technik gemeinsam an den Tisch setzen, miteinander sprechen, diskutieren, Schlußfolgerungen ziehen? EAB: Wenn man bedenkt, daß Kienzle bereits 1959 und 1960 elektronische Zusatzaggregate auf den Markt gebracht hat, welche unser damaliges Angebot wirksam ergänzten, dann erscheint die Gründung des EAB im Jahre 1963 in einem besonderen Licht: Rechtzeitig – wie sich später erweisen sollte – war uns deutlich geworden, daß man nur kompromißlos in die Computertechnik hineingehen mußte. (…) A: Wie kam es nun zu dieser personellen Zusammensetzung des EAB, der sich über zehn Jahre nicht geändert hat? EAB: Es begann im Frühjahr 1963. Unsere Geschäftsführung erkannte die Notwendigkeit breitgetragener Entscheidungsvorbereitung und beschloß, einen permanenten Ausschuß ins Leben zu rufen. Aus dem Vertriebsbereich wurden die Leiter der Abteilungen „Marktforschung, Produkt- und Systemplanung“ sowie „Organisations- und Verfahrensplanung“ delegiert. Das ergab zwei unterschiedliche Perspektiven aus der Marktsicht, die im EAB wirksam werden. Nicht unähnlich war es bei den drei Herren der technischen und Entwicklungsabteilung, die eine Mischung aus elektronischem und mechanischem Schwerpunkt-

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Empirische Anwendungen wissen – immer in Hinblick auf Entwicklung und Fertigung moderner Computer – verkörpern. A: Das war doch zunächst ein Experiment, über dessen Ausgang man keine sichere Prognose stellen konnte? EAB: Selbstverständlich hatten Entwicklung und Vertrieb schon immer bei Kienzle zusammengearbeitet, man steckte seine Ziele gemeinsam, zog am selben Strang. Neu war aber der Stil des Vorgehens: die Mitglieder des EAB sind innerhalb des Gremiums gleichberechtigt, ohne Ansehen der hierarchischen Stellung, die der Einzelne im Unternehmen oder innerhalb seines Betriebsbereiches einnimmt. Die gefaßten Beschlüsse – als Ergebnis von periodischen, mindestens monatlich, ganztägigen Arbeitssitzungen – sind grundsätzliche Empfehlungen an die Geschäftsführung über unsere zukünftige Produktpolitik. Solche Empfehlungen werden dann in gemeinsamen Sitzungen mit der Geschäftsführung dieser unterbreitet, dort diskutiert und zur Entscheidung gebracht. A: Der Kontakt nach „oben“ ist also gesichert. Wie kommt es zur Abstimmung mit den anderen Unternehmensebenen? EAB: Das ist eine sehr wichtige Frage, denn es darf nicht der Eindruck entstehen, als wollte der EAB etwaige Erfolge ausschließlich für sich in Anspruch nehmen. Der Entwicklungsausschuß hat die Aufgabe, grundsätzliche Erkenntnisse zu gewinnen und zu formulieren. Wenn dabei auch recht häufig ins Detail gegangen werden muß, die Hauptarbeit wird dann in den Abteilungen selbst geleistet, von den Entwicklern, von den Organisatoren, von den Systemspezialisten. A: So ist also der EAB so etwas wie eine Schaltstelle im großen Regelkreis? EAB: Man versucht, Konzepte zu schaffen, deren Formulierung vielfache Rückkopplungen nach allen Seiten auslöst: zum Markt, zu den Mitarbeitern, zur Geschäftsführung, zu den Planungsabteilungen. Der EAB ersetzt nicht die Arbeit der Abteilungen, er lebt vielmehr davon und wirkt auch wieder, wenn man so sagen darf, als „Katalysator“, als ein auslösendes Moment unter anderen. (...)“ Quelle: Herbert Ackermann: Zehn Jahre EAB – erfolgreiche Zukunftsplanung, in: Kienzle Blätter (1973).

Das Entstehen der „Mittleren Datentechnik“ hat ihre Vorgeschichte in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit den ersten, für den Markt verfügbaren elektronischen Großrechenanlagen. Zunächst im Zweiten Weltkrieg für den militärischen Bedarf entwickelt, gab es in den frühen 1950er-Jahren auch erste, vor allem wissenschaftlich genutzte elektronische Rechensysteme. Diese Anlagen bauten noch auf der sehr schwerfälligen Vakuumröhrentechnik auf, sie benötigten ein Heer an betreuenden Facharbeitern, verbrauchten Strom von ganzen Kleinkraftwerken und waren in ihrer Rechengeschwindigkeit kaum leistungsfähiger als lochkartenbasierte, mechanische Rechner dieser Zeit.22 Erst die zweite Generation der Computerelektronik, die ab 1955 mit der Einführung der Transistortechnologie entstand, war deutlich leistungsfähiger und versprach damit breitere kommerzielle Anwendungsmöglichkeiten. In dieser Phase entwickelten auch deutsche Großunternehmen wie Siemens, AEG Telefunken oder die Stuttgarter SEL erste eigene Systeme. Bis Mitte der 1960er-Jahre war der Markt für solche Großrechenanlagen aber

22 Vgl. Paul E. Ceruzzi: A History of Modern Computing, Cambridge 1998, S. 44f.

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klein. In dieser Zeit wurden in der Bundesrepublik Deutschland nur rund 100 Anlagen installiert. Für die betrieblich-kommerziellen Anwendungen war bis dato einfachere Büromaschinentechnik auf der Basis feinmechanischer Bauteile entscheidend. Technologisch waren diese Maschinen in der Nachkriegszeit sehr ausgereift und aus den meisten Verwaltungen und Unternehmen nicht mehr wegzudenken. In dieser Phase entwickelte sich die Industriegesellschaft dynamisch in Richtung Dienstleistungsgesellschaft, Büroarbeitsplätze setzen sich in der gesamten Breite der Wirtschaft durch und Arbeitsplätze in der Produktion verlieren an Bedeutung.23 Zum Einsatz kam ein breites Spektrum an Modellen, von einfachen Schreibmaschinen bis zu unterschiedlich komplexen Rechen-, Kassen- und Buchungssystemen. In der aufwendigsten Form beherrschten sie alle vier Grundrechenarten, verfügten über ein- und auslesbare Speicherelemente und wurden z.B. als Fakturierungsmaschinen im Buchhaltungs- und Rechnungswesen eingesetzt.24 Schon in der Vorkriegszeit nahm die deutsche Büromaschinenindustrie eine international bedeutende Rolle ein. Bis zum Kriegsende lagen die regionalen Schwerpunkte der deutschen Büromaschinenhersteller in Sachsen, Thüringen und Berlin und damit überwiegend auf dem Gebiet der späteren DDR. Mit der deutschen Teilung und der Neuordnung der deutschen Wirtschaft entstanden in Westdeutschland neue Anbieter, teilweise als Neugründungen ostdeutscher Firmen, zum Teil aber als neue Geschäftsfelder westdeutscher Firmen. Eines dieser neuen Unternehmen in der Branche war die Kienzle Apparate GmbH Villingen, das in der Weimarer Zeit als Spin-off der Kienzle Uhrenfabriken – das heißt als Ausgründung und Verselbstständigung aus dem bestehenden Unternehmen – entstanden war und sich auf feinmechanische Kontroll- und Überwachungsinstrumente für den Fabrikbetrieb und für Automobile spezialisiert hatte.25 Die ältesten eigenen Produkte waren Taxameter und Betriebsdatenerfassungsgeräte. Große Erfolge erzielte Kienzle Apparate seit den 1930er-Jahren aber vor allem mit der Entwicklung der ersten Fahrtschreiber (Tachografen), deren Einsatz vor allem in der NSKriegswirtschaft boomte. Nach dem Zweiten Weltkrieg sucht Kienzle Apparate – wie viele andere Unternehmen auch – nach neuen, zivilen Geschäftsfeldern. Vor allem Kontakte mit leitenden Mitarbeitern ehemaliger sächsischer Büromaschinenunternehmen führten zum Einstieg in die Büromaschinenbranche. Seit 1950 baute Kienzle Apparate eine eigene Produktionsreihe von Buchungsmaschinen auf, die sich schnell einen wichtigen Marktanteil in der Bundesrepublik eroberte. Um 1960 war Kienzle Apparate ein großes und schnell wachsendes Unternehmen 23 Vgl. Theo Pirker: Büro und Maschine. Zur Geschichte und Soziologie der Mechanisierung der Büroarbeit, der Mechanisierung des Büros und der Büroautomation, Tübingen 1962. 24 Vgl. James W. Cortada: Before the Computer. IBM, NCR, Burroughs, and Remington Rand and the Industry They Created, 1865–1956, Princeton 1993; J. Schierz: Die westdeutsche Büromaschinenindustrie. Dynamik und strukturelle Wandlung, in: Mitteilungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung 9 (1954), S. 105–126. 25 Vgl. hierzu Armin Müller: Kienzle. Ein deutsches Industrieunternehmen im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2011; insbesondere das Kapitel „Bürosysteme und Computer aus Villingen“, S. 65– 126.

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mit rund 2 000 Beschäftigten, wovon etwa die Hälfte im Bereich Büromaschinen beschäftigt war. Inhaltlich setzt der vorgestellte Artikel mit der fünfjährigen Vorgeschichte des ersten eigenen Vollcomputersystems 6 000 aus dem Hause Kienzle Apparate ein. Er beginnt mit einem kurzen Rückblick auf die allgemeine Computerentwicklung seit 1950, auf den erfolgreichen Einstieg des eigenen Unternehmens in das Geschäft mit mechanischen Büromaschinen und auf die ersten vorsichtigen Schritte in Richtung Elektronik. Nicht erwähnt wird die Krisenerfahrung 1962/63, als die herkömmliche Produktplanung bei Kienzle Apparate offenbar an seine Grenzen stieß. Unerwähnt bleibt auch eine wichtige Kooperation von Kienzle in den Jahren ab 1963, als Kienzle eine enge Zusammenarbeit mit dem Labor für Impulstechnik von Heinz Nixdorf unterhielt. Aus dieser Kooperation, in der Nixdorf die entscheidenden elektronischen Bauteile für Kienzle-Geräte lieferte, entstand das erste frei programmierbare Computersystem von Kienzle, die Klasse 800, die nach langen, von Nixdorf verursachten Verzögerungen 1966 auf den Markt kam. Ursprünglich versprach sich Kienzle mehr von dieser Kooperation, zeitweise waren sogar mehrere (Teil-)Zusammenschlüsse beider Unternehmen im Gespräch, aber Nixdorf nahm schließlich einen anderen Weg. Die Kooperation Nixdorf-Kienzle wird auf Kienzle-Seite eher negativ erinnert, weil eine Reihe ursprünglicher Hoffnungen und Versprechen von Heinz Nixdorf nicht eingelöst wurden. Für Kienzle blieben wichtige Erfahrungen mit den neuen elektronischen Systemen, die dann in die Entwicklung der eigenen Modelle einfließen konnten und der neuen Art der Produktplanung im EAB einen wichtigen Schub gaben.26 Wer waren die Mitglieder des Entwicklungsausschusses? Der Ausschuss bestand aus einer übersichtlichen Gruppe: drei technischen Direktoren, die jeweils wichtigen technischen Abteilungen (Konstruktion und Produktion) vorstanden, und zwei Vertretern des technischen Vertriebes, zum einem dem Leiter der Abteilung „Marktforschung, Produkt- und Systemplanung“ und zum anderen dem Leiter der „Organisations- und Verfahrensplanung“. Nicht vertreten war ein Mitglied aus der Geschäftsführung oder Geschäftsleitung. Es waren überwiegend neue und junge Mitarbeiter, die hier zusammengebracht wurden. Damit spiegelt die Zusammensetzung des Gremiums das Bedürfnis, unterschiedliche Erfahrungsbereiche und Mitarbeiter der jüngeren Generation in einen ständigen Austausch zu bringen. Frühere Produktplanungen scheiterten häufig an fehlender Kommunikation zwischen den Konstruktions- und Entwicklungsgruppen im Unternehmen und den Vertretern der Vertriebsorganisation.27 Diese Schnittstellenstruktur des EAB war eine Reaktion auf diese Probleme und verweist auf zwei zentrale Kriterien nach Nonaka und Takeuchi für eine funktionierende Wissensstruktur, „Fluktuation“ und „notwendige Vielfalt“. Durch neue personelle Konstellationen – so Nonaka und Takeuchi – werden Routineabläufe, Gewohnheiten und kognitive Bezugssysteme regelmäßig infrage gestellt. Durch Vielfalt in der Arbeitsgruppe wird die Fähigkeit erhöht, auftretende Probleme und gestellte Aufgaben zu bear26 Vgl. ebd. 27 Vgl. Müller (2012), S. 89.

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beiten beziehungsweise zu lösen.28 Nun entspricht die Personalkontinuität im EAB über Jahre hinweg weniger dem japanischen Verständnis von regelmäßigem Wechsel und Rotation auf den Personalstellen, sondern der deutschen Tradition von Stammbelegschaften, das heißt einer Unternehmenspolitik, die auf große Kontinuitäten in der Zusammensetzung und langjährige Zugehörigkeiten der Mitarbeiter zum Unternehmen setzt. Im Rahmen dieser deutschen Tradition wird der Grundgedanke, verschiedene Erfahrungen über Abteilungsgrenzen hinweg zum Austausch zu bringen, aber weitreichend umgesetzt. Zur Fluktuation gehört auch die Bereitschaft des Unternehmens zur Kooperation nach außen, wie dies mit Nixdorfs Labor für Impulstechnik geschehen war. Auf der konkreten Projektebene lernten die Kienzle-Leute dadurch sehr viel über die Elektroniken der neuen Systeme. Was war der Auftrag des EAB? Dieser war gleichzeitig offen, aber auch ambitioniert formuliert; sie sollten „Maschinen konzipieren, die es bis dahin überhaupt noch nicht gab“. Diese Vision entspricht einem weiteren wichtigen Kriterium bei Nonaka und Takeuchi für einen erfolgreichen Wissens- und Innovationsprozess. Mit einer klaren „Intention“, einer strategischen Aussage und Konzeption über das zu entwickelnde Wissen kann die Wissensspirale an dieser Stelle in Gang gesetzt werden.29 Wie arbeitete der Ausschuss? Aus dem Interview erfahren wir über den neuen Stil im Entwicklungsausschuss, dass alle Mitglieder gleichberechtigt waren, „ohne Ansehen der hierarchischen Stellen, die der Einzelne im Unternehmen oder innerhalb seines Betriebsbereichs einnimmt“. Außerdem fand ihre Arbeit außerhalb der normalen Organisationshierarchie und nur unter Begleitung durch die Geschäftsführung statt. Diese Charakterisierung als Aussage einer offiziellen Unternehmenspublikation ist sicherlich auf ihren Wahrheitsgehalt zu hinterfragen. Umgekehrt muss aber betont werden, dass diese positive Einschätzung flacher Hierarchien keineswegs dem Zeitgeist Anfang der 1970er-Jahre entsprach. Sie entsprach auch nicht dem damaligen Selbstverständnis eines eher zurückhaltend konservativen, deutschen Familienunternehmens. Insofern ist es durchaus plausibel, dass damit eine reale Arbeitserfahrung benannt wurde. Damit wäre ein viertes Erfolgskriterium nach Nonaka und Takeuchi identifiziert. Sie empfehlen, Mitarbeitern in solchen wissensschaffenden Strukturen möglichst autonom arbeiten zu lassen.30 Zur Anbindung an die Aufbauorganisation im Unternehmen erfahren wir, dass ständige Rückkopplungen zu den Abteilungen und in die Geschäftsführung gesucht wurden: „Der EAB ersetzt nicht die Arbeit der Abteilungen, er lebt vielmehr davon und wirkt auch wieder, wenn man so sagen darf, als ‚Katalysator‘, als ein auslösendes Moment unter anderen.“ Diese Bilder vom Katalysator und von der Rückkopplungsstruktur kann mit dem fünften Erfolgsfaktor, der „Redundanz“ in Einklang gebracht werden. Redundanz meint bei Nonaka und Takeuchi die absichtliche, zielgerichtete und abteilungsübergreifende Überschneidung von Infor28 Vgl. Nonaka, Takeuchi (2012), S. 100f., 104–107. 29 Vgl. ebd., S. 94f. 30 Vgl. ebd., S. 96–100.

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mationen über Geschäftsprozesse, Organisationseinheiten und Managementaufgaben. Das fördert insbesondere den Austausch von implizitem Wissen.31 Zusätzlich steht der EAB für die Idee eines „Middle-up-down-Management“, das bei Nonaka und Takeuchi als zentral für eine erfolgreiche Wissensbeschaffung im Unternehmen benannt wird.32 Dieses Modell vereint Vorteile eines rein hierarchischen und eines rein partizipativen Managements. Aus dem Modell des hierarchischen Managements greift es die Betonung von Führungskräften für Wissens- und Innovationsentscheidungen auf, aus dem Modell des partizipativen Managements wird die Vorstellung integriert, dass Wissen hauptsächlich in autonomen Strukturen entsteht und von vielen „einfachen“ Mitarbeitern geschaffen und kontrolliert wird. Damit kommt dem mittleren Management die entscheidende Aufgabe zu, als Schnittstelle der vertikalen und horizontalen Wissens- und Informationsströme im Unternehmen zu funktionieren. Genau ein solches institutionelles Arrangement liegt uns im Fall des beschriebenen EAB bei Kienzle Apparate vor. Mithilfe einer solchen Wissens- und Innovationsstruktur gelang es Kienzle, als weltweit eines der ersten Unternehmen erfolgreich in den Markt der Mittleren Datentechnik einzusteigen. Systeme wie die Kienzle 6 000 erwiesen sich als äußerst attraktiv für mittelständische Firmen, die damit unterschiedliche Aufgabe der Datenverarbeitung bewältigen konnten. Kienzle und andere Anbieter der Mittleren Datentechnik kamen aus der Büromaschinenindustrie und waren mit den Anforderungen und Problemen ihres traditionellen Kundenkreises vertraut. Diese Unternehmen schafften es, die Kundenwünsche mit den neuen technischen Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung zu einer komplett neuen Produktstrategie zu bündeln. Bezüglich der Schumpeter‘schen Vorstellung der Neukombination von Produktionsfaktoren wurden bei der Mittleren Datentechnik alle fünf Fälle realisiert. Es wurde ein komplett neues Produkt geschaffen und es wurden völlig neue Produktionsmethoden eingeführt. Mit den Kleincomputern der Mittleren Datentechnik konnten sich die Unternehmen neue Absatzmärkte erschließen, sodass sich die Märkte für Anwendungssysteme der (Elektronischen) Datenverarbeitung völlig neu organisierten. Nicht zuletzt griffen die Unternehmen auf neue Zulieferer zurück. Anbieter wie Kienzle verfügten beispielsweise nicht über eigene Halbleiterproduktionen, nutzten aber schon ab der Kienzle 6 000 entsprechende Bauteile in ihren Systemen. Bewertung Grundsätzlich beschäftigen sich Innovationsforschung und Wissensmanagement immer noch mit den von Schumpeter Anfang des 20. Jahrhunderts aufgeworfenen Fragen. Deren konzeptionelle Weiterentwicklung wurde aber in den 1960erJahren geleistet, das heißt ein differenzierteres Verständnis von Information und 31 Vgl. ebd., S. 102–104. 32 Vgl. ebd., S. 152–193.

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Wissen, dessen soziokulturelle Einbettung sowie dessen Personen- und Gruppengebundenheit entwickelt wurden. Was in die wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Forschung über den Weg der institutionenökonomische Theorie Eingang fand, etablierte sich in der Betriebswirtschaftslehre seit etwa 20 Jahren unter den Stichworten Wissensmanagement und lernende Organisation. Die Beschreibung der Wissensspirale durch Nonaka und Takeuchi war eine der wichtigen Erkenntnisse für diese Forschungsrichtung. Dieses Modell hilft der Betriebswirtschaftslehre heute ganz ungemein beim Verständnis von Innovations- und Wissensprozessen. Wie das Fallbeispiel zeigte, kann es sehr gut für Analysen der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte herangezogen werden. Gemeinsam ist ihnen ein sozialkonstruktivistisches Grundverständnis von Akteuren und deren Handlungen in Organisationen sowie die Betonung der Rolle von Institutionen im Wirtschaftsprozess. Das Fallbeispiel des EAB bei Kienzle Apparate belegt die Bedeutung von passenden institutionellen Arrangements für ein funktionierendes Wissens- und Informationsmanagement. Wissensweitergabe und Wissensgenerierung sind keine rein kognitiven Prozesse einzelner Genies, sondern müssen in Gruppen- und Unternehmensstrukturen sozial eingebettet werden. Es bedarf einer heterogenen Zusammensetzung von Personen, ihr Auftrag und ihre Arbeitsweise müssen offen für Neues sein. Letztlich kommt es auf das richtige Zusammenspiel von formellen und informellen Institutionen an. Am Wandlungsprozess der deutschen Büromaschinen hin zu einer Computerindustrie wurde dieser Prozess auf der mikroökonomischen Ebene einer Entwicklungsabteilung analysiert. Herangezogen wurde hierfür eine Quelle aus dem Unternehmen Kienzle Apparate, ein veröffentlichtes Interview mit den Mitgliedern des zentralen Entwicklungsausschusses über ihre Arbeit in den 1960er-Jahren. Als Dokument der offiziellen Unternehmenskommunikation muss das Interview sicherlich mit anderen Quellen auf ihren Wahrheitsgehalt abgeklärt werden, es ermöglicht aber trotzdem einen Blick hinter die Kulissen einer solchen Arbeitsstruktur. Die beschriebene Arbeitsweise konnte mit den Empfehlungen von Nonaka und Takeuchi abgeglichen werden. Im Ergebnis ließen sich hier weitgehende Übereinstimmungen zwischen der Entwicklungsarbeit bei Kienzle Apparate und dem Modell von Nonaka und Takeuchi feststellen. Es war kein Zufall, dass diese entscheidenden Innovationsprozesse hin zu Systemen der Mittleren Datentechnik in den Unternehmen der Büromaschinenindustrie stattfanden und nicht beispielsweise in den großen Entwicklungsabteilungen der bestehenden ElektronikKonzerne wie IBM oder Siemens. Nur dort traf die entsprechende Erfahrung mit Kunden und mit technischen und wirtschaftlichen Anforderungen aufeinander und konnte sich zum Modell der neuen Computergattung verdichten beziehungsweise weiterentwickeln. Wissensmanagement und Institutionentheorie arbeiten zwar mit anderen Begrifflichkeiten, beide Ansätze eint aber ein identisches, sozialkonstruktivistisches Verständnis von Akteuren und Prozessen in Organisationen. Wenn Wissensmanagement von der Umwandlung von implizitem (tazitem) in explizites Wissen spricht, dann würde die Institutionenökonomie von informellen (kulturellen) und

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Empirische Anwendungen

formellen Institutionen ausgehen. Beide Disziplinen verstehen Akteure als komplexe, sozial eingebundene und kulturell sozialisierte Wesen. Beide weisen implizitem Wissen beziehungsweise informellen Institutionen eine Schlüsselfunktion bei der Generierung von Innovation und wirtschaftlicher Leistungskraft zu. Solche Analysen haben sicherlich Grenzen in der Quellenfrage. Gerade in historischem Kontext können Wissenschaftler nachträglich keine teilnehmende Beobachtung durchführen, um hinter die Kulissen der Entwicklungsabteilung zu schauen. Wir sind auf überlieferte Dokumente oder Zeitzeugenaussagen angewiesen, aus denen wir Rückschlüsse auf reale Strukturen und Gegebenheiten ziehen. Diese Grenzen wurden auch im vorliegenden Fallbeispiel aus dem Bereich der offiziellen Unternehmenskommunikation verdeutlicht. Eine Kontextualisierung der Situation und des Dokumentes sowie eine kritische Bewertung vor dem Hintergrund der Unternehmens- und Branchenentwicklung helfen bei dieser Interpretation. Fruchtbar ist es aber ganz sicher, wenn man den Spuren vergangener Wissens- und Innovationsprozesse nachgeht. Gerade hier können sich Begriffe und Modelle der Institutionenökonomik und des Wissensmanagements gegenseitig unterstützen. Literatur Lehner, Franz: Wissensmanagement. Grundlagen, Methoden und technische Unterstützung, 4. Aufl., München 2012. Nonaka, Ikujiro/Takeuchi, Hirotaka: Die Organisation des Wissens. Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen, 2. Aufl., Frankfurt a.M. u.a. 2012. North, Klaus: Wissensorientierte Unternehmensführung. Wertschöpfung durch Wissen, 4. Aufl., Wiesbaden 2005. Polanyi, Michael/Sen, Amartya: The Tacit Dimension, Chicago 2009. Senge, Peter M./Klostermann, Maren: Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation, 10. Aufl., Stuttgart 2006.

5. KONTUREN EINER ERWEITERTEN INSTITUTIONELLEN THEORIE DER WIRTSCHAFTS- UND UNTERNEHMENSGESCHICHTE Thilo Jungkind, Martin Lutz, Katja Patzel-Mattern, Clemens Wischermann Auf der Suche nach den Institutionen – Die Historische Schule in der deutschen Nationalökonomie Ein Blick in das Grundlagenwerk der deutschen Nationalökonomie um 1900, den Grundriss der allgemeinen Volkswirtschaftslehre von Gustav Schmoller1, erstaunt: Zentrale Teile beschäftigen sich mit dem institutionellen Arrangement der Wirtschaft. Dabei werden Institutionen durchaus im modernen Verständnis als „Spielregeln“ gesellschaftlichen und eben auch ökonomischen Handelns verstanden. Fasst man das bei Schmoller ausgebreitete Denken in die aktuelle Terminologie, so ist bei ihm unentwegt von Pfadabhängigkeiten, von Kultur und Einbettungen volkswirtschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten die Rede. Dennoch führt von ihm kein direkter Weg zu den aktuellen institutionellen Theorieströmungen. Die Verwandtschaften und Analogien sind erst im Nachhinein ‚neuentdeckt‘ worden.2 Der Grund dürfte darin liegen, dass es Schmoller wie der Historischen Schule der Nationalökonomie nicht gelungen ist, das institutionelle Arrangement für die ökonomische Theorie anschlussfähig zu machen. Die Historische Schule unterlag im Verlauf des 20. Jahrhunderts der Neoklassik im Kampf um die Deutungshoheit in der ökonomischen Theorie. Ihre Ansätze fielen seitdem in theoretischer Beziehung unter das Verdikt eines Sammelns von Einzelbeobachtungen ohne die Kraft zur großen, sprich universalen Synthese. Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte traten auseinander. Ein oft ungelöstes Spannungsverhältnis entstand. Eine Vielzahl der deutschen Wirtschaftshistoriker arbeitete sich weiterhin etwa am großen Feld der Wirtschaftsordnung ab. Sie tat dies jedoch quasi ohne theoretische Legitimation, während eine Minderheit sich als strikte Anwen1 2

Vgl. Gustav Schmoller: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, Leipzig 1900; Bd. 2, Leipzig 1904. Auf die Nähe des Schmollerschen Denkens zu zentralen Elementen institutionenökonomischen Denkens ist erst kürzlich verschiedentlich aufmerksam gemacht worden. Vgl. Rudolf Richter: Bridging Old and New Institutional Economics: Gustav Schmoller, the Leader of the Younger German Historical School, Seen with Neoinstitutionalists’ Eyes, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics 152 (1996), S. 567–592; Werner Plumpe: Gustav von Schmoller und der Institutionalismus. Zur Bedeutung der Historischen Schule der Nationalökonomie für die moderne Wirtschaftsgeschichtsschreibung, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 252–275.

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der neoklassischer Lehren auf die Wirtschaftsgeschichte verstand. Neue Anstöße für eine Zusammenführung der Perspektiven und eine alternative theoretische Fundierung der Wirtschaftsgeschichte kamen, ohne auf die vielfältigen Zwischenschritte in der Rezeption der „älteren Institutionenökonomik“ eingehen zu können, aus den USA. Dies gilt auch für die Theorie der Neuen Institutionenökonomik. Erweiterungen in institutionenökonomischer Perspektive Im Rückgriff auf einen älteren Artikel von Ronald Coase wurde unter den Vorzeichen einer Weltwirtschaft, die Ende der 1960er Jahre zu kollabieren drohte, die Frage aufgeworfen, warum es eigentlich Unternehmen, also organisierte Hierarchien gebe. Dies erstaune, da der Markt laut der neoklassischen Theorie anonym, hierarchiefrei und vor allem kostenlos alle Interaktionen regeln könne.3 Coase folgerte, dass es innerhalb von Märkten Kostenelemente geben müsse, die Angebot und Nachfrage koordinieren – die Transaktionskosten. Offensichtlich müsse es auch Akteure in diesem Koordinationsprozess geben, die mit (Verfügungs- und Eigentums-) Rechten an den klassischen Produktionsfaktoren ausgestattet sind. Coaseʼ Arbeiten sind für eine institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte in zweierlei Hinsicht von zentraler Bedeutung: Erstens legte er glaubhaft die Existenz von Transaktionskosten bei der Entstehung und Benutzung von Märkten und in Unternehmen dar. Damit verbunden ist die Beobachtung, dass Märkte entgegen der neoklassischen Behauptung scheitern können. Um dies zu verhindern, müssen nach Coase offensichtlich zweitens koordinierende und verhandelnde Akteure als notwendige Bedingung in den ökonomischen Austauschprozess eingreifen. Im Anschluss an Coase rücken für eine institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, die den Anspruch hat, wirklichkeitsnah und interdisziplinär anschlussfähig zu sein, die Arbeiten von Douglass North in den Mittelpunkt. North interessieren vor allem die als notwendig dargestellten Spielregeln, ihre Herkunft, ihr Fortbestand und ihre Wirkung sowie die Möglichkeit ihrer Steuerung im Wirtschaftsleben.4 Ihm geht es um menschliches Verhalten, das offensichtlich von Institutionen beeinflusst wird. Zur Klärung seiner Fragen griff North die Arbeiten des Sozialwissenschaftlers Herbert Simon zum Konzept der Bounded Rationality auf.5 Während die Neoklassik vom vollständig informierten, immer den höchsten Nutzen aus allen Alternativen anstrebenden Akteur ausgeht, ist der Entscheider mit begrenzter Rationalität bei Simon auch einmal mit der für ihn passenden Alternative zufrieden (satisfied). Diese Erkenntnis bedeutete einen 3 4

5

Vgl. Ronald H. Coase: The Nature of the Firm, in: Economica 4 (1937), S. 386–405. Vgl. Ingo Pies: Theoretische Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik – Der Ansatz von Douglass North, in: ders. (Hg.): Diskussionspapier Nr. 2008-8 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle 2008. Vgl. Herbert Simon: Models of Man, Social and Rational. Mathematical Essays on Rational Human Behavior in a Social Setting, 5. Aufl., New York 1967.

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weiteren Schritt in Richtung Wirklichkeitsnähe. Kein Mensch ist immer und überall über die Zusammenhänge der Welt vollständig informiert. Eine institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte analysiert nach dieser Prämisse ökonomische Situationen und Entscheidungen in ihren historischen Entstehungskontexten. Für North sind Institutionen, die sich historisch entwickelt haben, für die Art und Weise der begrenzten Entscheidungsfähigkeit sowohl des einzelnen ökonomischen Akteurs als auch ganzer Volkswirtschaften verantwortlich. Damit stellte er als Wirtschaftswissenschaftler (wieder) den Zusammenhang von Geschichte, Institutionen und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit her. Er folgerte, dass ökonomische Verhaltensweisen und damit auch die Ergebnisse von Entscheidungen pfadabhängigen Entwicklungslinien folgen.6 Für eine institutionelle Wirtschaftsund Unternehmensgeschichte bedeutet dies analytisch nichts anderes, als dass Unternehmen und Volkswirtschaften jeweils eigene Verhaltensweisen im wirtschaftlichen Leben besitzen. Diese unterscheiden sich aufgrund von Pfadabhängigkeiten von den Verhaltensweisen anderer Akteure im wirtschaftlichen Austauschprozess. In der Auseinandersetzung mit Douglass North setzte in den 1990er Jahren eine zunehmende Rezeption des Kulturbegriffs in der Neuen Institutionenökonomik ein. Kultur bezeichnet North als „cumulative structure of rules and norms (and beliefs) that we inherit from the past that shape our present and influence our future”.7 Sein Kulturbegriff bleibt dabei allerdings immer unscharf. Wie er sich konkret für die Erklärung ökonomischer Entwicklungsprozesse operationalisieren lässt, lässt North weitgehend offen. Eine klare Orientierung an kulturwissenschaftlichen Forschungsperspektiven bietet er nicht. Douglass North übersah immer, dass sich Kultur nicht auf ein einfaches Speicherwissen reduzieren lässt, sondern vielmehr auf einem Wissen beruht, das sich ständig im Fluss befindet. Als Wirtschaftswissenschaftler entwarf er einen statischen Kulturbegriff. Damit ist seine Theorie zwar auf historische und dynamische Prozesse bei der Entstehung und Wirkung von Institutionen angelegt. Jedoch bleibt die North’sche Vorstellung des Ökonomischen wie die neoklassische Theorie ein Eine-Welt-Modell: Menschliche Interaktionen und die Spielregeln, nach denen sie stattfinden, werden nicht in ihrer Komplexität und als Prozess ständiger Neuverhandlungen abgebildet.8 Erweiterungen in kulturwissenschaftlicher Perspektive Relativ spät – im Vergleich mit der allgemeinen Geschichtswissenschaft – aber dann mit erheblichem Gewicht wurde um die Jahrtausendwende auch die Wirt6 7 8

Vgl. North (2005). Ebd., S. 6. Vgl. Birger P. Priddat, Alihan Kabalak (Hg.): Ungewissheit als Herausforderung für die ökonomische Theorie: Nichtwissen, Ambivalenz und Entscheidung, Marburg 2013.

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schafts- und Unternehmensgeschichte von kulturwissenschaftlichen Einflüssen ergriffen. So warf Jakob Tanner in einem 2004 von Hartmut Berghoff und Jakob Vogel herausgegebenen Sammelband die Frage auf, ob die ökonomische Handlungstheorie vor der „kulturalistischen Wende“ stünde.9 Im gleichen Jahr unterbreitete Clemens Wischermann einen konkreten Vorschlag einer „geschichts- und kulturwissenschaftlichen Erweiterung“10 der Wirtschaftsgeschichte. Er geht davon aus, dass ökonomische Akteure in spezifischen Sinnzusammenhängen handeln. Sie versuchen, ihre Umwelt zu deuten, durch individuelle Verarbeitungsleistungen Handlungsregeln zu etablieren und diese zu institutionalisieren, mithin sie überindividuell zu verfestigen: „Auch wirtschaftliches Handeln als Teil kulturellen Handelns wäre demzufolge von in Raum und Zeit zu verortenden Sinnmustern abhängig.“11 Märkte bezeichnet Wischermann daher nicht wie Williamson als naturgegebene Entitäten, sondern als „state of culture“, mithin als Ergebnis sinnhaften Handelns. Geht man noch einen Schritt weiter, so sind nicht nur Märkte, sondern auch Unternehmen oder andere Organisationsformen des Wirtschaftens kontingente Produkte handelnder Akteure. Die möglichen Anwendungen eines solchen Ansatzes sind zahlreich: So ließen sich Unternehmen als kulturelle Organisationen auffassen oder Unternehmerfamilien als Sinndeutungsgemeinschaften konzeptualisieren. Auch die Genese ökonomisch relevanten Wissens ist in dieser Perspektive als Konstruktionsprozess zu bezeichnen, welcher sich im Rahmen kultureller Deutungsmuster von Akteuren vollzieht. Institutionen und Kultur müssen daher nicht als Gegensatzpaar einer theoriegeleiteten Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte aufgefasst werden. Die Konzepte sind komplementär und sollten stärker aufeinander bezogen werden. Eine weitergehende kulturwissenschaftliche Öffnung der Institutionentheorie birgt allerdings auch Probleme in sich. Erstens bleibt der Kulturbegriff im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs weitgehend ein Fremdwort, während er in der Wirtschaftsgeschichte mittlerweile fest verankert ist. Ob eine kulturhistorisch bereicherte Institutionentheorie, die sich als interdisziplinäres, die Wirtschaftsgeschichte und die Wirtschaftswissenschaften übergreifendes Paradigma versteht, diesen Anspruch auf Dauer durchsetzen kann, ist umstritten. Zweitens muss es der institutionellen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte gelingen, die Operationalisierbarkeit des Kulturbegriffs empirisch umzusetzen. Ansonsten ließen sich alle Anreiz- und Restriktionssysteme wirtschaftlichen Handelns unter dem Schlagwort „Kultur“ subsumieren. Die Folge wäre, dass das Erklärungspotenzial der Institu-

9

Vgl. Hartmut Berghoff, Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a.M. 2004; vgl. auch: Jan-Otmar Hesse (Hg.): Kulturalismus. Neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte, Essen 2002. 10 Clemens Wischermann: Von der „Natur“ zur „Kultur“. Die neue Institutionenökonomik in der geschichts- und kulturwissenschaftliche Erweiterung, in: Karl-Peter Ellerbrock, Clemens Wischermann (Hg.): Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 17–30. 11 Ebd., S. 21.

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tionentheorie bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen würde.12 Diese Defizite muss die Institutionentheorie überwinden, um sich als dynamisches, wegweisendes und auch empirisch gewinnbringendes Paradigma für die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte anzubieten. Erweiterungen in neo-institutionalistischer Perspektive Einen möglichen Ansatz dafür bieten die Theorieansätze des NeoInstitutionalismus, auf die im vorliegenden Buch wiederholt zurückgegriffen wird. Unter dem Begriff Neo-Institutionalismus lassen sich mehrere theoretische Strömungen zusammenfassen, die in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Fachdisziplinen verankert sind. Sie gehen davon aus, dass wirtschaftliches Handeln immer in seinen soziokulturellen Kontext eingebettet ist. Dies beziehen sie nicht nur auf die Analyse vormoderner Ökonomien sondern auch moderner Märkte. Damit bildet die institutionentheoretische Wirtschaftsforschung eine Brücke zur eingangs erwähnten Historischen Schule der Nationalökonomie, die genau diese Kontextgebundenheit wirtschaftlichen Handelns postuliert hat.13 An zentraler Stelle fordert der Neo-Institutionalismus dazu auf, die Legitimitätserwartungen der Umwelt an Organisationen – wie in unserem Fall Unternehmen – stärker zu berücksichtigen. Konkret meint das: Akteure in Unternehmen richten ihr Handeln nicht nur an den Zielen der Organisation wie Gewinnmaximierung, Steigerung von Marktanteilen etc. aus, sondern auch an Erwartungen, die von außen an sie herangetragen werden. Unternehmerisches Handeln ist also auch bedingt durch Anforderungen, die die gesellschaftliche Umwelt an das Unternehmen hat. In Folge dessen rücken Wahrnehmungen zeitgenössischer Akteure sowohl aus der Gesellschaft als auch in den Unternehmen in den Fokus der unternehmenshistorischen Analyse. Das Finden von Regeln, die als legitim akzeptiert werden, wird zu einem erklärungsbedürftigen Prozess. Neben den Legitimitätserwartungen bildet der akteurszentrierte Institutionalismus ein zweites Beispiel neo-institutionalistischer Theoriebildung und -anwendung. Hier stehen die internalisierten Präferenzen von Akteuren im Vordergrund. Es geht also um Motive, Weltbilder, Handlungsziele und Deutungsmuster, die die Ausgangsbasis für menschliche Entscheidungsprozesse bilden. Perspektiven wirtschaftshistorischer Arbeiten verschieben sich: Es sind nicht allein 12 Jan-Otmar Hesse glaubt feststellen zu können, dass die Neue Institutionenökonomik ihre dominante Stellung in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte bereits eingebüßt habe, vgl. Jan-Otmar Hesse: Wirtschaftsgeschichte. Entstehung und Wandel der modernen Wirtschaft, Frankfurt a.M. u.a. 2013, S. 19. 13 Vgl. Richard Swedberg: Die Neue Wirtschaftssoziologie und das Erbe Max Webers, in: Andrea Maurer (Hg.): Handbuch der Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden 2008, S. 45–61; Michael Schmid, Andrea Maurer (Hg.): Ökonomischer und soziologischer Institutionalismus. Interdisziplinäre Beiträge und Perspektiven der Institutionentheorie und -analyse, Marburg 2006; Andrea Maurer, Michael Schmid (Hg.): Neuer Institutionalismus. Zur soziologischen Erklärung von Organisation, Moral und Vertrauen, Frankfurt a.M. u.a. 2002.

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sozioökonomische Rahmenbedingungen oder die Vorgaben umfassender Wirtschaftsordnungen, die das ökonomischen Handeln des Akteurs prägen. Vielmehr ist zu analysieren, wie sich Akteure innerhalb gegebener institutioneller Arrangements verhalten und gegebenenfalls versuchen, die etablierten Regelsysteme auf Basis ihrer Handlungsziele zu verändern. So können beispielsweise Innovationen als Produkte einer „schöpferischen Zerstörung“ im Sinne Josef Schumpeter aufgefasst werden. Institutionen verändern sich nicht von selbst, sondern erst dann, wenn Unternehmer, Erfinder oder andere Akteure bestehende Regelsysteme infrage stellen. Der akteurszentrierte Institutionalismus ist interdisziplinär anschlussfähig. Dies gilt insbesondere für neue Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften und der Verhaltensökonomik. Voraussetzung für eine wirtschafts- und unternehmenshistorische Nutzung ist allerdings die ausreichende Quellenbasis. Diese erweist sich insbesondere bei biographisch angelegten Studien beispielsweise zu Unternehmerinnen und Unternehmern als gegeben. An seine Grenzen stößt der Ansatz hingegen immer dann, wenn sich Präferenzen von Akteuren nicht empirisch rekonstruiert lassen. Experimentelle Erweiterungen Die Entwicklung des bis hierhin knapp umrissenen wirtschaftsgeschichtlichen Denkens ist nicht als schlichte Fortschrittsgeschichte zu begreifen, zeichnet sich aber durch eine innere Kohärenz aus. Die skizzierten Erweiterungen sind jeweils als Resultat von konzeptionellen Auseinandersetzungen um die theoretische Dominanz im Feld der Wirtschaft und der wirtschaftlichen Organisationen entstanden. Das gewährleistet das grundsätzlich mögliche Aufeinanderprallen von argumentativen Mustern für ähnliche oder zumindest benachbarte Fragestellungen und Operationalisierungen. Anders verhält es sich mit theoretischen Anstößen, die ursprünglich in Feldern entstanden, die kaum ökonomisch angebunden sind. Legt man neoinstitutionalistische Überlegungen zugrunde, so kann davon ausgegangen werden, dass diese Umwelten dennoch maßgeblich in alle ökonomischen Handlungsfelder hineinwirken, ohne dass dies bislang zum Thema ökonomischer und wirtschaftsgeschichtlicher Konzeptionalisierung geworden wäre. Die Anschlussfähigkeit scheinbar fern liegender Theorieangebote muss sich erst noch erweisen, kann folglich in dem vorliegenden Band nur experimentellen Charakter haben. Anhand von drei zentralen Kategorien der aktuellen Wissenschaftsdebatten, deren Bedeutsamkeit für wirtschaftliche Erklärungsversuche uns überzeugend erscheint, haben wir die Tragfähigkeit solcher Anschlüsse erprobt. Die erste Kategorie ist die der Intersektionalität. In Weiterentwicklung früherer Gender-Konzepte stellt sie die wechselseitige Verschränkung von Differenzkategoerien wie beispielsweise Geschlecht, Klasse und Ethnie ins Zentrum ihrer Überlegungen. Jeder akteurzentrierte Ansatz wird sich in Zukunft nicht nur dem Geschlecht seiner Protagonisten widmen müssen (was anhaltend zu wenig geschieht), sondern auch den Wechsel-

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wirkungen mit anderen gesellschaftlichen Kategorisierungen und deren jeweils spezifischen Einflüssen auf ökonomisches Handeln. Die zweite zu erprobende Kategorie ist die der Visualität. Zunehmend legitimieren sich Unternehmen (auch) mittels ihres visuellen Auftrittes gegenüber ihrer Umwelt, d.h. den Verbrauchern, den Konkurrenten, dem Markt oder dem weiteren gesellschaftlichen Umfeld. Eine institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte kann durch die Entdeckung von Bildern als Quelle und von Visualität als Forschungsfeld profitieren. Die Entwicklung eines eigenen visuellen Stils in einem Unternehmen kann so als Legitimations- und Stabilisierungsprozess verstanden werden. Die im Hinblick auf eine Verknüpfung mit ökonomischer Theorie wohl experimentellste Kategorie ist die der Materialität. Akteure ökonomischen Handelns können aus der Sicht der Akteur-Netzwerk-Theorie nicht nur Menschen sondern ebenso Artefakte sein. Doch noch ist kaum erforscht, welche Rolle die Materialität für die Entstehung und den Wandel von Institutionen im Unternehmen spielt, wie nicht menschliche Aktanten und Menschen im Unternehmen in Beziehung treten und daraus Institutionen entstehen. „History Matters“ und die Folgen Douglass North betont in seinen theoretischen Erklärungen, warum Unternehmen und Volkswirtschaften individuell unterschiedlich funktionieren, stets: „History Matters“. Die historisch gewachsenen Spielregeln der ökonomischen Welt beeinflussen die Wahrnehmungen und Lebensumstände der nicht-ökonomischen Welt und umgekehrt. Die institutionalistische Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte greift diese komplexen Zusammenhänge auf und stellt sie systematisch dar. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, bedarf die wissenschaftliche Forschung theoretisch-konzeptioneller Zugänge. Sie müssen verdeutlichen, dass Beziehungen zwischen sozialen und kulturellen Umwelten der Wirtschaft und dem ökonomischen System bestehen. Mikro- und makroökonomisches Handeln, Kultur, Wohlstand und Erfolg einer Gesellschaft stehen in interdependenten und pfadabhängigen Beziehungen. Die erweiterte institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, wie sie in diesem Buch entwickelt wurde, will auf dieser Grundlage zu eigenständigem theoretischem Denken und Arbeiten motivieren. Die vorgestellten Argumentationen möchten anregen, neue konzeptionelle Perspektiven für wirtschaftshistorische Fragestellungen zu erarbeiten. Deshalb stellt sich eine erweiterte institutionelle Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte gegen das theoretisch überholte Eine-Welt-Modell im ökonomischen Denken. Indem sie interdisziplinäre Methoden und Konzepte integriert, kann sie die Ergebnisoffenheit historischen Wandels aufzeigen und historische Zusammenhänge realitätsnah deuten.

GLOSSAR THEORETISCHER FACHBEGRIFFE Akteur Der oder die „Handelnde(n)“. Unterscheidung zwischen individuellen Akteuren (Personen, wie beispielsweise eine Unternehmerin) und kollektiven Akteuren (Gruppen von Individuen oder Organisationen, wie beispielsweise ein Unternehmen). Akteure verfolgen im Rahmen institutionalistischer Theorien auf Basis ihrer Präferenzen mit ihren Handlungen einen bestimmten Nutzen. Black Feminism Frauenrechtlerinnen, die seit den 1970er-Jahren darauf aufmerksam machten, dass die soziale Stellung afroamerikanischer und farbiger Frauen nicht nur durch ihr Geschlecht (siehe auch Geschlecht), sondern zugleich auch durch ihre Hautfarbe (siehe auch Ethnie) und soziale Stellung (siehe auch Klasse) sowie die sexuelle Neigung bestimmt werde. Dekonstruktion Hier in Bezug auf die Geschlechterforschung: Annahme, dass es keine Wahrheit gibt, die Deutungen eines Begriffes wie Geschlecht (siehe auch Geschlecht), Frau, Mann etc. zugrunde liegt. Die bezeichneten Phänomene wie Geschlecht, Frau, Mann etc. werden erst im Benennen und Sprechen konstruiert und mit Bedeutung versehen. Differenzkategorie Konzept respektive Praxis der Selbst- oder Fremdverortung innerhalb eines sozialen Gefüges, beispielsweise durch Geschlecht, Klasse, Ethnie, aber auch Leistung oder Fachkompetenz (siehe auch Geschlecht). Einzelvertragliche Vereinbarung Vertragliche Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und einzelnem Arbeitnehmer. Entkopplung Im Neo-Institutionalismus die Entscheidung eines Unternehmens (siehe auch Organisation), nur dem Anschein nach die gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber dem Verhalten des Unternehmens (der Organisation) zu erfüllen. Ethnizität Empfundene oder zugewiesene Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, die über gemeinsame Merkmale – häufig Sprache, Religion, Kultur – definiert wird.

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Feld Begriff, der im Neo-Institutionalismus benutzt wird, um die Beziehungen zwischen einer Organisation und der sie umgebenden gesellschaftlichen bzw. institutionellen Umwelt zu beschreiben (siehe auch organisationale Umwelt). Er kann ein Beziehungsgeflecht bezeichnen, in der Ausprägung eines „Issue-Feldes“ aber auch einen Diskussionszusammenhang. Gender Mainstreaming Prüfung aller Maßnahmen, die vom Staat und von Organisationen durchgeführt werden in Bezug auf ihre Wirkungen hinsichtlich der Gleichstellung von Frauen und Männern mit dem Ziel, diese zu befördern. Geschlecht Differenzkategorie hier im Sinne von gender: soziales Geschlecht und sex: biologisches Geschlecht: Kennzeichnung sozialer, kultureller, politischer und biologischer Zuschreibungen, die Geschlechtsidentitäten, Geschlechterrollen und -verhältnisse konstruieren. Gleichbehandlung Rechtsgrundsatz, nach dem Personen, die sich in gleicher Rechtslage befinden, gleich zu behandeln sind. Handlung Im Gegensatz zu rein reaktivem Verhalten basierend auf der Motivation von Akteuren, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Der Neo-Institutionalismus geht davon aus, dass Handlungen nicht nur durch die intrinsische Motivation von Akteuren beeinflusst werden, sondern auch durch die institutionellen Rahmenbedingungen der Umwelt. Historische Schule der Nationalökonomie Im deutschsprachigen Raum des 19. Jahrhunderts entstandene Forschungsrichtung, die von einer historischen und kulturellen Gebundenheit des Wirtschaftens ausgeht. Unterschieden wird zwischen einer älteren Schule Mitte des 19. Jahrhunderts und einer jüngeren Schule ab den 1870er-Jahren sowie einer Schülergeneration, die im frühen 20. Jahrhundert wirkt. Homo Oeconomicus Modellvorstellung eines rational handelnden, voll informierten und ökonomischen nutzenmaximierenden Akteurs, die als Grundlage klassischer wie neoklassischer Theoriebildung dient. Identitätspolitik Bewusste Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden zur Lenkung der Wahrnehmung einer kulturellen Kategorie oder Gruppe sowie zur Durchsetzung von politischen Ansprüchen und Interessen. Vorgenommene Festschreibungen werden essenzialisiert, innere Differenzen nivelliert.

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Institutionen Spielregeln menschlicher Interaktion, die formaler oder informeller Natur sein können. Sie sollen Akteure im ökonomischen Austauschprozess steuern, um so ein bestimmtes, optimales Ziel zu erreichen. Integrationskosten Kosten (siehe auch Transaktionskosten), die bei der Zusammenführung von Unternehmen oder Unternehmensteilen notwendig werden, um Strukturen und/oder Kulturen in Übereinstimmung zu bringen. Integrationskosten fallen auch an, wenn gesellschaftliche Erwartungen und wirtschaftliches Handeln nicht übereinstimmen. Intersektionalität Sammelbegriff für Ansätze, die soziale Kategorien wie Klasse (siehe auch Klasse), Ethnie (siehe auch Ethnie) oder Geschlecht (siehe auch Geschlecht) in ihren Wechselwirkungen analysieren, um soziale Ungleichheiten differenzierter zu beschreiben. Kapital Produktionsmittel, die bei der Güter- und Dienstleistungsproduktion eingesetzt werden. Kapital bildet neben Arbeit und Boden den dritten Produktionsfaktor in der klassischen Volkswirtschaftslehre. Kapitalistische Produktionsverhältnisse Marxistische Annahme einer zunehmenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung, in der immer weniger Menschen (Kapitalisten) über das Eigentum an Produktionsmitteln und Reichtum verfügen, während die Mehrzahl der Menschen als besitzlose Arbeiterklasse (Proletariat) die Grundlagen des wirtschaftlichen Reichtums produziert. Klasse In der Soziologie: Gruppe von Personen mit gemeinsamen sozialen Merkmalen. Die Einteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Klassen entsprechend der Verfügung über Produktionsmittel geht auf Karl Marx zurück. Klassenkampf Auseinandersetzung zwischen gesellschaftlichen Klassen (siehe auch Klasse) um ökonomische, politisch, ideologische Entscheidungsgewalt. Klassische Nationalökonomie Auch klassische Politische Ökonomie; Sammelbezeichnung für ökonomische Theorien, die sich gegen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts vom Merkantilismus und Physiokratismus abgrenzen. Sie gehen vom ökonomischen Eigennutz des Menschen aus und analysieren dessen Wirkungen auf das Gemeinwohl.

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Kommunikation Prozess, der aus der Übermittlung sowohl verbaler wie auch nonverbaler – gegebenenfalls über ein Medium übertragener – Mitteilungen besteht, die vom Rezipienten interpretiert und kategorisiert werden. Kommunikation ist in der Regel sinn- und zweckhaft. Kultur Weder spezifische Lebensweise noch Teilbereich der Gesellschaft, sondern ein bestimmter Zugang zur Geschichte. Dieser stellt den sozialen Konstruktionscharakter von Wirklichkeit in den Mittelpunkt, und damit die Wahrnehmung historischer Akteure. Zentral werden damit Fragen nach Sinnstiftung (siehe auch Sinnstiftung), Bedeutung und Symbolik. Legitimität Im Neo-Institutionalismus: Sich wandelnde Zuschreibung von Anerkennung, dass ein Unternehmen etwas Richtiges oder Wünschenswertes durch sein wirtschaftliches Handeln tut. Diese Zustimmung wird vom gesellschaftlichen Umfeld eines Unternehmens produziert (siehe auch Feld). Markt Ökonomisches Modell, in dem die Koordination von Angebot und Nachfrage über den Preismechanismus erfolgt. Wird in der Neoklassik als Null-Transaktionskosten-Welt (siehe auch Null-Transaktionskosten-Welt) angenommen. Metanarrativ Allgemeingültigkeit beanspruchende Erzählung (Ideologie), auf deren Grundlage Aussagen über den zukünftigen Verlauf von Entwicklungen getroffen werden. Marktwirtschaft Bezeichnung für eine Wirtschaftsordnung. Wesentliche Kennzeichen sind u.a. die Koordination über Preise und der Wettbewerb zwischen den Marktteilnehmern. Lässt sich in verschiedene Modelle unterscheiden, beispielsweise soziale Marktwirtschaft oder liberale Marktwirtschaft. Gegensatz Planwirtschaft. Materialität Umschreibt die stofflichen und körperlichen Aspekte der menschlichen Existenz und der Geschichte – alles, was materiell vorhanden ist. In der Unternehmensgeschichte wird dies besonders offensichtlich, wenn spezifische Rohstoffe, Maschinen, Anlagen oder Produkte für den Fortgang und die Erklärung eines Geschehens eine wichtige Rolle spielen. Narrativ Erzählung hier im Sinne eines „anthropologischen Grundbedürfnisses“ (Ansgar Nünning), umfasst fiktionale und nicht fiktionale Alltagserzählungen sowie Geschichtendarstellungen verschiedener Gattungen und Medien (siehe auch Kultur).

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Neoklassik Weiterentwicklung der Klassischen Nationalökonomie (siehe auch Klassische Nationalökonomie) des späten 19. Jahrhunderts, die davon ausgeht, dass die Wirtschaft ein System von Märkten ist, auf denen durch Preisbildung ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage entsteht. Die Neoklassik will sowohl in der mikro- als auch in der makroökonomischen Theorie das Zustandekommen einer optimalen Allokation von Gütern und Dienstleistungen über die optimale Festlegung subjektiver Preise erklären, die sich wiederum aus Angebot und Nachfrage auf vollkommenen Märkten ergeben. Neo-Institutionalismus Organisationswissenschaftliche Theorie, die besagt, dass die Funktionsfähigkeit und das Überleben von Unternehmen (siehe auch Organisationen) nur dann erklärt werden können, wenn die wirtschaftliche Organisation gesellschaftliche Erwartungen erfüllt. Struktur und Handlung von Unternehmen lassen sich folglich nur zusammen mit gesellschaftlichen Entwicklungen erklären. Neue Institutionenökonomik Kurz NIÖ, im Englischen New Institutional Economics (NIE): Stellt die Frage nach der Wirkungsmacht von Institutionen (= Spielregeln) für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Die NIÖ ist eine Ergänzung der Neoklassik (siehe auch Neoklassik). Sie geht nicht von einer Null-Transaktionskosten-Welt im ökonomischen Tauschprozess aus. Nutzenmaximierung Aus ökonomischer Sicht das Streben von individuellen oder kollektiven Akteuren nach dem für sie höchsten Nutzen aus einer Entscheidung. Unter der Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten und Alternativen wird diejenige Entscheidung getroffen, die am vorteilhaftesten für den Entscheider ist. Dabei werden stabile Präferenzen unterstellt. Organisationale Akteure Akteure, die sich in ihrem Handeln und Sprechen auf bestehende organisationale Praktiken, Deutungsmuster (Normen und Regeln) sowie Ressourcen beziehen und damit eine gewisse Einheitlichkeit im Handeln und Sprechen aufweisen. Organisationale Umwelt Bezeichnet die Gesellschaft bzw. deren Teilbereiche (z.B. Recht, Politik, Kultur), in die eine Organisation eingebettet ist. Um ihrem Handeln Legitimität (siehe auch Legitimität) zu verleihen, muss eine Organisation mit den institutionellen Anforderungen dieser Umwelt übereinstimmen. Patriarchat In der feministischen Theorie der 1960er- und 1970er-Jahre analytisches Konzept und Zustand, welche die männliche Herrschaft in nahezu allen gesellschaftlichen

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Bereichen bezeichnen und die systematische Benachteiligung von Frauen in Geschichte und Gegenwart erfassen. Patriarchalismus Staats-, Gesellschafts-, Wirtschaftsordnung, in der das Staatsoberhaupt, der Grundherr oder Unternehmer im Sinne eines Familienoberhauptes (pater familias) von Untertanen, Gesinde oder Arbeitnehmern verstanden wird und in dem diesem umfassende Herrschaftsrechte und Fürsorgepflichten zugeschrieben werden. Pfadabhängigkeit Bezeichnet einen vergangenheitsdeterminierten Prozess relativ kontinuierlicher Entwicklungen. Die jeweils erreichten Zustände können kollektiv ineffizient oder suboptimal sein, ohne dass der Prozess deshalb notwendigerweise zum Erliegen kommt. Pfadabhängigkeit besitzt damit eine historische Dimension zur Erklärung von Kontinuität und Wandel. Postmoderne Wissenschaftliche, künstlerische und politische Denk- und Stilrichtung, die sich kritisch von Konzepten rationaler Erschließung und Ordnung ebenso wie von umfassenden ideologischen Ansprüchen der Moderne (siehe auch Metanarrativ) abgrenzt. Präferenzen Bezeichnen die Motivationen von Akteuren, die einer Handlung zugrunde liegen, und sind für die Erklärung ökonomischer Prozesse von entscheidender Bedeutung. Prinzipal-Agent-Ansatz Vertrag, der zwischen einem Auftraggeber (Prinzipal) und einem Beauftragten (Agent) geschlossen wird, und der Entscheidungsspielräume definiert. Dazu stehen zwei grundsätzliche Alternativen zur Verfügung: eine möglichst vollständige Überwachung mit möglichst vollständigen Verträgen oder ein gefestigtes Vertrauen in den Agenten. Beides ist mit Transaktionskosten (siehe auch Transaktionskosten) verbunden. Rationalität Argumentation der Rational Choice-Theorie, die davon ausgeht, dass Akteure versuchen, durch ihre Handlungen ihren individuellen Nutzen (siehe auch Nutzen) zu maximieren: „Rational“ ist eine Handlung dann, wenn sie den Interessen des Akteurs dient. Ältere Rational Choice-Theorien beziehen das Prinzip der Nutzenmaximierung (siehe auch Nutzenmaximierung) auf einen ökonomischen Nutzen im engeren Sinne. Neuere Theorien schließen auch andere Formen der Nutzenmaximierung ein, beispielsweise einen religiösen Nutzen.

Glossar theoretischer Fachbegriffe

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Reduktionismus Hier isolierte Betrachtung von Einzelelementen ohne Berücksichtigung ihrer Verflechtungen. Allgemein Lehre, nach der ein System durch seine Elemente bestimmt ist. Relationale Verträge Auch „unvollständige“ Verträge: Komponente der Neuen Institutionenökonomik, die besagt, dass es in der Realität keine umfassenden Verträge gibt, sondern dass Verträge immer Lücken aufweisen, die nur in ihrer sozialen Einbettung ausgefüllt werden können. Sinnstiftung Vorgehen, durch das Menschen ihrer Umwelt, ihren Handlungen und der Geschichte Sinn geben. Sie tun dies, indem sie deuten, was sie wahrnehmen. Diese Sinnstiftungen werden besonders dann sozial bedeutsam, wenn sie mit anderen geteilt und ihre Inhalte ausgehandelt werden. In der Unternehmensgeschichte schaffen die Sinndeutungen der Beteiligten (idealerweise) einen Konsens über die Identität und Werte, die Geschichte und Gegenwart, die Zukunft und über Handlungsziele. Soziales Netzwerk Bildet eine Sozialstruktur, die sich durch wiederholtes Kommunizieren und Interagieren verschiedener Akteure (siehe auch Akteure) über einen gewissen Zeitraum konstituiert. Innerhalb des sozialen Netzwerkes bilden sich soziale Bindungen in verschiedenen Qualitäten heraus. Das Netzwerk kann für die einzelnen Akteure von Vorteil sein. Sozialisation Bezeichnet den Entwicklungsprozess eines Individuums in Interaktion mit seiner spezifischen sozialen Umwelt. Sozialisation wird dabei gedacht als ein Lernprozess, in welchem ein Individuum soziale Normen, gängige Denk- und Handlungsweisen sowie Gefühlsmuster verinnerlicht. Sozialisation ist somit ein wichtiger Teil der Persönlichkeitsentwicklung. Tarifvertrag Vertrag zwischen den Tarifparteien der Arbeitgeber oder ihres Verbandes sowie den Arbeitnehmervertretern (Gewerkschaften) mit Gültigkeit für eine Branche oder Beschäftigtengruppe. Transaktionskosten Kurz TAK: Entstehen entweder bei der Nutzung von Märkten oder bei der Führung von Unternehmen. Transaktionskosten entstehen bei der Einführung, der Beibehaltung, der Veränderung oder der Abschaffung von Institutionen. Bei einem weiter gefassten Institutionenbegriff (siehe auch Institutionen) entstehen TAK immer im Kontext von Institutionen ohne Einschränkung auf die Nutzung von Märkten oder die Führung von Unternehmen.

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Transnationalität Analyse grenzüberschreitender Beziehungen, die über die zwischennationalstaatliche Ebene hinausgehen. Im Gegensatz zur Disziplin Internationale Geschichte nimmt Transnationale Geschichte Akteure unterhalb der nationalstaatlichen Ebene in den Blick, wie auch beispielsweise die grenzüberschreitenden Aktivitäten von Unternehmen. Universalismus Anspruch ökonomischer Theorie, der dann vorliegt, wenn ein bestimmtes (neoklassisches oder institutionentheoretisches) Modell beansprucht, zeit- und raumlos Gültigkeit besitzen zu wollen. Unternehmung Fassung wirtschaftlicher Koordinationsleistungen eines Unternehmens unter institutionenökonomische Gesichtspunkte (hierarchische Koordination). Varieties of Capitalism-Theorie Spielarten des Kapitalismus in globalem Maßstab, die man Ende des 20. Jahrhunderts registrierte und nach deren Ursachen und Leistungen man fragte. Diese Vorstellung grenzt sich ab von der Erwartung mancher Wissenschaftler, es werde bald nur noch eine westliche Massenkultur und ebenso nur noch eine globale liberale Marktwirtschaft (siehe auch Marktwirtschaft) geben. Verfügungsrechte Beschreiben in institutionellen Theorien die mit Gütern verbundenen und mittels Verträgen übertragenen Rechte. Die Verfügungsrechte können sich sowohl auf Sachen wie auch auf Personen (etwa im Arbeitsvertrag) beziehen. Das institutionelle Arrangement dieser Verfügungsrechte wird als entscheidend für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit angesehen. Vertragsfreiheit Verfassungsrechtlich geschützter Bestandteil der allgemeinen Handlungsfreiheit, die das Recht des Einzelnen bezeichnet, Verträge zu gestalten und deren Inhalte bestimmen zu können. Visualität Umfasst alles, was das Auge wahrnimmt. In der Unternehmensgeschichte gehören dazu alle visuellen Elemente im weitesten Sinne: Sie alle beeinflussen, wie ein Unternehmen „aussieht“. Diese Visualität ist ein wichtiges Element der Unternehmenskultur. Wettbewerbs- und Wachstumswirtschaft Wirtschaft, die wesentlich auf ökonomischem Wettbewerb und Wachstum basiert. Wettbewerb wird dabei verstanden als Konkurrenz von Akteuren in der Durchsetzung ihrer ökonomischen Ziele, während Wachstum die steigende Leistungsfähigkeit von Volkswirtschaften bezeichnet.

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Wissen Schlüsselkategorie in modernen Ökonomien neben den traditionellen Produktionsfaktoren (siehe auch Kapital). Wissen ist die zentrale Ressource für Innovations- und Lernprozesse. Unterschieden wird nach expliziten und impliziten Wissensformen. Während explizites Wissen in Form von mündlichen und schriftlichen Informationen abrufbar bleibt, ist implizites Wissen kontextspezifisch, an subjektive Werte und Erfahrungen gebunden und kann nicht ohne weiteres artikuliert und verbreitet werden. Transformation Schneller und oft umfassender Wandel einer wirtschaftlichen Ordnung. Im institutionellen Paradigma richtet sich damit der Blick auf die Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen, das heißt der geltenden formalen und informellen Regeln im Wirtschaftsprozess (siehe auch Institutionen). Klassisches Beispiel der Wirtschaftsgeschichte für eine Transformation ist die industrielle Revolution. Wirtschaftsordnung Umfasst typische und ähnliche institutionelle Regelsysteme einer Volkswirtschaft. Zentrale Faktoren für diese Klassifizierungen sind vorherrschende Eigentumsformen (siehe auch Verfügungsrechte), die Rolle des Staates sowie rechtliche oder kulturelle Regelsysteme. Die Wirtschaftsgeschichte unterscheidet seit der Industrialisierung klassischerweise zwischen marktwirtschaftlichen (siehe auch Marktwirtschaft) und planwirtschaftlichen Wirtschaftsordnungen.

VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN Albrecht Franz Studium der Neueren und Neuesten Geschichte mit Schwerpunkt Wirtschaftsgeschichte an der Universität Konstanz. Anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Promotion über die Bedeutung kooperativer Leitbilder für die Gestaltung der industriellen Beziehungen am Beispiel der Arbeitszeitsenkung. Thilo Jungkind Studium der Wirtschaftspädagogik mit Neuerer und Neuester Geschichte an der Universität Konstanz. Anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter am Konstanzer Exzellencluster 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“. Die Promotion über Risikokultur und Störfallverhalten der chemischen Industrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde von einem Forschungsaufenthalt an der Harvard Business School begleitet. Er war zwischenzeitlich wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität des Saarlandes. Seit 2012 berät er Unternehmen im Archiv- und Recordsmanagement. Seine Forschungsinteressen sind die Beziehungen von Wirtschaft und Gesellschaft in allen Geschäfts- und Alltagsbereichen. Rabea Limbach 2005 bis 2011 Studium der Geschichte, Soziologie und Erziehungswissenschaften in Koblenz und Heidelberg; seit 2012: Doktorandin der Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Heidelberg; Dissertationsprojekt zu zwei vor- bzw. frühindustriellen Unternehmern aus der Pfalz im Deutschen Bund. Christina Lubinski Associate Professor an der Copenhagen Business School, Centre for Business History. Sie promovierte an der Universität Göttingen und ist Autorin des Werkes „Familienunternehmen in Westdeutschland“ (Beck 2010) und Mitherausgeberin von Family Multinationals (Routledge 2013). Martin Lutz Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Konstanz; dort Promotion mit einer Dissertation über das Sowjetgeschäft von Siemens während der Weimarer Republik (Steiner 2011) mit Forschungsaufenthalten an der Columbia University und der RGGU Moskau. Veröffentlichung einer Biographie über den Unternehmer Carl von Siemens (C.H.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Beck 2013). Aktueller Forschungsschwerpunkt im Bereich Religion und Wirtschaft. Armin Müller hat Geschichte, Politik, Kunst- und Medienwissenschaft an der Universität Konstanz studiert und dort anschließend promoviert. Heute lebt er in Ravensburg und arbeitet als Wissenschaftsmanager für die Duale Hochschule Baden-Württemberg und die Steinbeis-Hochschule Berlin. Katja Patzel-Mattern Professorin für Wirtschaft und Sozialgeschichte an der Ruprechts-KarlsUniversität Heidelberg, Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Publizistik und Politikwissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Universidad de Barcelona, Promotion an der Universität Münster (1998), Habilitation an der Universität Konstanz (2008), aktuelle Projekte zur industriellen Krisenkommunikation und zur Gestaltung von Arbeitsbeziehungen im europäischen Kontext. Publikationen u.a. zu industriellen Krisen und Katastrophen, Elitenbildung, industrieller Psychotechnik sowie zu Erinnerung und kulturwissenschaftlicher Theoriebildung. Sandra Schürmann hat in Münster Neuere und Neueste Geschichte, Psychologie und Publizistik studiert und 2005 mit einer Arbeit zum Thema „Dornröschen und König Bergbau. Soziale Repräsentationen und kulturelle Urbanisierung am Beispiel der Stadt Recklinghausen 1930–1960“ promoviert. Nach einem wissenschaftlichen Volontariat im Museum der Arbeit in Hamburg war sie freiberuflich als Historikerin, Kuratorin und Autorin tätig. Seit 2006 unterrichtet sie als Lehrbeauftragte an den Universitäten Hamburg und Lüneburg. Seit 2013 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Forschungsverbund „PolitCIGs. Die Kulturen der Zigarette und die Kulturen des Politischen“ Hamburg/Jena/Wien. Daniel Wilhelm Studium der Geschichts- und Politikwissenschaft an der Universität Konstanz. Anschließend Promotion über die Elektrifizierung in Oberschwaben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Oberschwäbischen Elektrizitätswerke. Momentan Archivreferendar beim Landesarchiv Baden-Württemberg. Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte sowie Regional- und Landesgeschichte Baden-Württembergs. Clemens Wischermann Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Konstanz. Veröffentlichungen u.a. zur Stadt- und Wohnungsgeschichte, zur Unternehmensgeschichte sowie zu Theoriefragen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Aktuelle Forschungsschwerpunkte im Bereich einer institutionenökonomisch orientierten Wirtschaftsgeschichte und der Geschichte der Mensch-Tier-Beziehungen.

Das Studienbuch zeigt die Herangehensweise und Potenziale einer theoriegeleiteten Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte: Anhand konkreter Fall- und Quellenbeispiele legen die Autorinnen und Autoren dar, was theoretische Konzepte wie die Institutionentheorie für die Entwicklung von Thesen, die Auswahl und die Interpretation der Quellen leisten können – und welche neuen, interdisziplinären Perspektiven sie auf die Wirtschaftsgeschichte zu eröffnen vermögen. Welche Ansätze werden in der Praxis bereits angewandt, welche stehen aktuell zur Diskussion? Wie lassen sich Forschungskonzepte anderer Disziplinen auf die (wirtschafts-)

historische Arbeit übertragen? Welchen Einfluss hat das auf die erzielten Ergebnisse? Dieser Band zeigt Möglichkeiten und diskutiert Grenzen. Er leistet damit einen Beitrag zur Debatte über die Nutzung und den Nutzen von Theorien in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte und bietet einen einmaligen Ausgangspunkt für alle, die sich über die praktische Anwendung theoretischer Konzepte informieren möchten. Das Studienbuch richtet sich daher ausdrücklich auch an fortgeschrittene Studierende im Bachelor- und Masterstudium sowie an Promovierende.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-11122-5

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