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German Pages IX, 426 [427] Year 2020
Tobias Kurwinkel / Philipp Schmerheim (Hg.)
Handbuch Kinder- und Jugendliteratur
Tobias Kurwinkel / Philipp Schmerheim (Hg.)
Handbuch Kinder- und Jugendliteratur Unter Mitarbeit von Stefanie Jakobi
J. B. Metzler Verlag
Die Herausgeber
Tobias Kurwinkel ist Professor für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur an der Universität Duisburg-Essen. Philipp Schmerheim arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Hamburg zu Kinder- und Jugendmedien. Zusammen haben sie das wissenschaftliche Internetportal KinderundJugendmedien.de gegründet und geben die Buchreihe Kinder- und Jugendliteratur Intermedial heraus.
ISBN 978-3-476-04720-5 ISBN 978-3-476-04721-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten.
Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Bild: Isabel Moormann, Wuppertal, unter Verwendung einer kolorierten Zeichnung von Jutta Kurwinkel, Damme, https://www.jutta-kurwinkel.de/) J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhalt
Einleitung VII
I Grundlagen 1 Begriffsdefinitionen Bettina Kümmerling-Meibauer 3 2 Crossover-Literatur Agnes Blümer 9 3 Medien- und Produktverbund Tobias Kurwinkel 14 4 Buch- und Medienmarkt. Produktion, Distribution und Rezeption Corinna Norrick-Rühl / Anke Vogel 20 5 Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur Bettina Kümmerling-Meibauer 38 6 Kinder- und Jugendliteraturforschung nach 1945 Sebastian Schmideler 43 II Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur 7 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in der BRD Julia Benner 51 8 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in der DDR Maria Becker 61 9 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in der (Deutsch-)Schweiz Ingrid Tomkowiak 68 10 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in Österreich Ernst Seibert / Heidi Lexe 75 11 Internationale Kinder- und Jugendliteratur Ines Galling 80 III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien 12 Transmediales Erzählen Daniel Pietschmann / Sabine Völkel 95 13 Realistisches Erzählen Carsten Gansel 105 14 Phantastisches Erzählen Hadassah Stichnothe 116
15 16 17 18
Märchen Alina Behrend 126 Sage Alina Behrend 133 Serielles Erzählen Ute Dettmar 137 Unzuverlässiges Erzählen Nana Wallraff 145
IV Medien A Buch
19 Epische Texte 1: Kinderroman Jana Mikota 153 20 Epische Texte 2: Jugendroman Anna Stemmann 166 21 Lyrische Texte Kurt Franz 177 22 Dramatische Texte Johanna Tydecks 183 23 Sachbuch Nikola von Merveldt 189 24 Bilderbuch Tobias Kurwinkel 201 25 Comic, Manga und Graphic Novel Felix Giesa 220 B Film, Fernsehen, Computerspiel
26 Film Tobias Kurwinkel / Philipp Schmerheim 230 27 Exkurs: Immersive Filme Sabrina Tietjen 246 28 Kinderfernsehen Maya Götz 251 29 Computerspiel Katharina Düerkop 258 C Weitere Medien
30 31 32 33
Theater Philipp Schmerheim 269 Hörbuch und Hörspiel Andreas Wicke 277 Zeitschriften Susanne Blumesberger 283 Digitales Erzählen Axel Krommer 290
V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte 34 Thematologie: Motive, Stoffe und Themen Roland Ißler / Ludger Scherer 297 35 Intertextualität, Intermedialität, Transmedialität Stefanie Jakobi 312
VI
Inhalt
36 Interkulturalität Nazli Hodaie 322 37 Komparatistik Emer O’Sullivan 334 38 Gender Studies Jan Standke / Thomas Kronschläger 343 39 Spatial Studies Caroline Roeder 353 40 Illustration Studies Mirijam Steinhauser 362 VI Didaktik A Literacy und Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur
41 Literacy Margarete Hopp 375 42 Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht des Elementar- und Primarbereichs sowie des Sekundarbereichs Ulf Abraham / Matthis Kepser / Alexandra Ritter / Michael Ritter 381 43 Geschichte der Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur Petra Josting 400
B Ausgewählte (literatur-)didaktische Konzepte und Methoden
44 45 46 47
Literarisches Lernen Kaspar H. Spinner 405 Intermediale Lektüre Iris Kruse 408 Autorenbegegnungen Ina Brendel-Perpina 412 Kinder- und jugendmediale Perspektiven ›Digitalen Geschichtenerzählens‹ Andre Kagelmann 415 48 Sprachsensibles Unterrichten mit Kinder- und Jugendliteratur in inklusiven Lerngruppen Kirsten Kumschlies 419 Anhang Autorinnen und Autoren
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Einleitung Der Literatur für Kinder und Jugendliche sind seit ihren Anfängen mediale, codale und modale Aspekte eingeschrieben; so verdankt dieser Teil des literarischen Gesamtangebots seine Entstehung im späten 18. Jahrhundert nicht zuletzt einem Medienwandel: Fortschritte in der Drucktechnik ergeben eine Ausweitung des Angebots an Büchern, Zeitschriften, Periodika und einer entsprechenden Vielfalt an Gattungen. Auch das Theater entwickelt eigene Formen des Erzählens und Inszenierens für Kinder. Folgend, mit den technischen Neuerungen im Bereich der Druckgraphik, werden aufwendige Illustrationen zu einem Merkmal der Literatur für Kinder und Jugendliche. Damit einhergehend zählen das Bilderbuch, der Bilder- wie auch der Papiertheaterbogen zu den bilddominierten Printmediengattungen des 19. Jahrhunderts, zu denen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der Comic hinzukommt. Mit der Entstehung der Massenmedien halten Hörbücher und -spiele, Fernsehsendungen, Kinofilme und Computerspiele Einzug in die Kinderzimmer (vgl. u. a. Weinkauff/von Glasenapp 2018, 18–42). Die Literatur für Kinder und Jugendliche, das wird an dieser kürzesten Mediengeschichte deutlich, ist nicht an das Buch gebunden; sie ist »eine Formmöglichkeit eines oder mehrerer Medien« (Fohrmann/ Müller 1995, 8). Dieses Diktum der Germanisten Jürgen Fohrmann und Harro Müller aus den 1990er Jahren ist Ausgangspunkt für das vorliegende Handbuch – wie auch ein von Werner Wolf und Siegfried J. Schmidt geprägter Medienbegriff, der die Grundlage bildet für das inter- und transmediale Verständnis von Kinder- und Jugendliteratur, das dem Band einge schrieben ist. Entsprechend umfassend informiert das Handbuch über die Literatur für Kinder und Jugendliche in verschiedenen Medien. Literatur- und medienwissenschaftlich fundiert, skizzieren die Beiträge Aspekte und Facetten des Mediengrenzen überschreitenden intermedialen und transmedialen Erzählens im 20. und 21. Jahrhundert.
Das Handbuch ist in sechs Sektionen gegliedert: Während die Kapitel der ersten Sektion Grundlagen wie die genannten Voraussetzungen und Begriffsdefinitionen festlegen, Einführungen in grundlegende Phänomene wie Crosswriting und Medienverbünde liefern sowie einen Überblick zum Kinder- und Jugendbuchmarkt bieten, setzen sich die Beiträge der zweiten Sektion aus literar- bzw. medienhistorischer Perspektive mit dem Gegenstand auseinander. Ergänzt wird die nationalstaatlich strukturierte Sektion mit Beiträgen zur internationalen Kinder- und Jugendliteratur (mit Fokus auf die Rezeption derselben im deutschsprachigen Raum), zu Klassikern sowie zur Geschichte der deutschsprachigen Forschung seit 1945. Die dritte Sektion geht auf Merkmale und Besonderheiten des Erzählens für Kinder und Jugendliche ein; die Kapitel sind dem realistischen wie phantastischen Erzählen mit seinen Gattungen Märchen und Sagen ebenso gewidmet wie aktuellen Erscheinungsformen des transmedialen, seriellen und unzuverlässigen Erzählens. Medien des Erzählens für Kinder und Jugendliche stehen im Mittelpunkt der vierten Sektion, die sich zuerst den kinder- und jugendliterarischen Großgattungen mit epischen (Kinderroman, Jugendroman), lyrischen und dramatischen Texten widmet, worauf ein Kapitel zu Sachtexten für Kinder und Jugendliche folgt. Weitere Beiträge fokussieren Medien, die sich über Bild-Text-Interdependenzen (Bilderbuch, Comic, Zeitschriften), auditive (Hörbuch und Hörspiel) sowie audiovisuelle (Film, Fernsehen, Computerspiel und Theater) Erzählformen konstituieren. Die Sektion schließt mit einem Kapitel zum digitalen Erzählen, in dessen Mittelpunkt u. a. Netzliteratur und Social Media stehen. Der fünfte Abschnitt behandelt methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte, die in der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteraturforschung wichtige Rollen einnehmen: Die Beiträge widmen sich mit Blick auf kinder- und jugendmediales Erzählen der Thematologie, dem Begriffsnexus Intertextualität, Intermedialität und Transmedialität sowie Themen- und Methoden-
VIII
Einleitung
bereichen wie Interkulturalität, Komparatistik, Gender Studies, Spatial Studies und Illustration Studies. Die sechste Sektion erweitert den fachwissenschaftlichen Blick um eine didaktische Dimension: Den Kern dieser Sektion bilden Beiträge zu Literacy sowie zu Geschichte und Grundlagen einer Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht des Elementar-, Primar- und Sekundarbereichs. Zudem werden ausgewählte (literatur-)didaktische Konzepte und Methoden vorgestellt wie literarisches Lernen, intermediale Lektüre, Begegnung mit Autoren, digitales Geschichtenerzählen sowie Aspekte des sprachsensiblen Unterrichts in inklusiven Lerngruppen. Innerhalb der Sektionen sind die Beiträge des Handbuchs einheitlich gegliedert, um eine Vergleichbarkeit der Beiträge zueinander und eine gute Handhabbarkeit des Bandes zu gewährleisten: Alle Beiträge beginnen jeweils mit Einleitung und Begriffsbestimmung, umreißen anschließend Entwicklungsaspekte bzw. historische Entwicklungen und stellen, abgesehen von den Sektionen II und V, typologische Ordnungen dar. Die Sektionen III und IV skizzieren zudem gängige Erzählmuster und narratoästhetische Aspekte ihrer Gegenstände, dabei legen die Beiträge, wie auch die Texte der Sektion II, besonderes Augenmerk auf inter- und transmediale Phänomene. In der Sektion V bilden die Beiträge in einem Abschnitt gesondert den Forschungsstand zu den behandelten methodischen Zugängen und kulturwissenschaftlichen Aspekten ab und liefern in exemplarischen Analysen Beispiele für die Anwendung. In der Sektion VI wird die Makrostruktur der Beiträge um einen Abschnitt zur Gestaltung im Unterricht ergänzt. Um das Verhältnis und den Bezug zu Vorhergegangenem, zu Veröffentlichtem zu benennen, eignet sich das Gleichnis von den Zwergen auf den Schultern von Giganten, wie es sich bei Bernhard von Chartres liest: Dieses Handbuch wäre nicht möglich ohne die (Vor-) Arbeiten von vielen. Zu nennen ist das Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur (EA 1974), das Klaus Doderer herausgegeben hat, ebenso wie Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon (1995–2018), begründet von Alfred Clemens Baumgartner und Heinrich Pleticha, weitergeführt von Kurt Franz, Günter Lange und Franz-Josef Payrhuber. Günter Lange ist auch und insbesondere als Herausgeber für das zweibändige Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur (EA 2000) und das Handbuch Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart (EA 2011) verantwortlich. Der vorliegende Band versteht sich als Nachfolger dieser zwei Bücher – einerseits indem der Forschungs-
stand aktualisiert, andererseits indem der bereits in den früheren Bänden angelegte Blick auf Mediengrenzen überschreitende Phänomene des Erzählens für Kinder und Jugendliche vertieft und um verschiedene methodische und mediale Perspektiven angereichert wird. Deshalb widmen wir dieses Handbuch Günter Lange und seinem Werk. Bewusst deckt dieses Handbuch historisch erst den Zeitraum ab Ende des Zweiten Weltkriegs ab, denn die von Theodor Brüggemann begründeten, mehrbändigen Handbücher zur Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur (1982–2008) informieren bereits umfassend über historische Entwicklungen der Kinder- und Jugendliteratur, ergänzt durch Einzelpublikationen wie Kinder- und Jugendliteratur 1933–1945. Ein Handbuch (Josting/Hopster/Neuhaus 2002 und 2005), Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur (Brunken/Wild 2008 [EA 1990]) oder Jugendliteratur zwischen Trümmern und Wohlstand 1945–1960: Ein Handbuch (Doderer 1988). Der Fokus auf die Nachkriegszeit ermöglicht einen detaillierteren Blick auf die Entwicklungen und Formen des Mediengrenzen überschreitenden Erzählens. Dementsprechend gibt es zwar jeweils historische Überblicksdarstellungen innerhalb der Beiträge – der Fokus ist jedoch ein systematischer. Irgendwann kommt es bei der Arbeit an einem Handbuch unvermeidbar zum Moment des Redaktionsschlusses – so auch im vorliegenden Fall. Deshalb konnten wir in einzelnen Beiträgen neuere Publikationen nicht mehr berücksichtigen. In zukünftigen Auflagen werden diese Lücken selbstverständlich geschlossen. Bedanken möchten wir uns bei allen Autorinnen und Autoren, die dieses Handbuch durch ihre Beiträge möglich gemacht haben. Viele von ihnen haben uns auch redaktionell unterstützt, indem sie Beiträge der Kolleginnen und Kollegen begutachtet haben. Als externe Gutachter fungierten u. a. Heinz Hengst, Bernhard Jahn, Claudia Pecher, Anika Ullmann und Martin Schäfer. Dank gebührt weiter dem Redaktionsteam an den Universitäten Bremen und Hamburg; darunter vor allem Stefanie Jakobi als Mitarbeiterin und Melanie Trolley. Für das Titelbild bedanken wir uns bei der Künstlerin Jutta Kurwinkel, für Graphikarbeiten bei Isabel Moormann und für die Betreuung des Projekts im Verlag bei Oliver Schütze. Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch statt der Beidnennung das generische Maskuli-
Einleitung
num verwendet – natürlich mit Ausnahme von Textstellen, in denen ausdrücklich eines der beiden Geschlechter gemeint ist. Literatur
Brüggemann, Theodor/Ewers, Hans-Heino (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1750 bis 1800. Stuttgart 1982. Brüggemann, Theodor/Brunken, Otto (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Vom Beginn des Buchdrucks bis 1570. Stuttgart 1987. Brüggemann, Theodor/Brunken, Otto (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1570 bis 1850. Stuttgart 1991. Brunken, Otto/Hurrelmann, Bettina/Michels-Kohlhagen, Maria/Wilkending, Gisela (Hg.): Handbuch zur Kinderund Jugendliteratur. Von 1850 bis 1900. Stuttgart 2008. Doderer, Klaus (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1: A–H. Weinheim 1975. Doderer, Klaus (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 2: I–O. Weinheim 1977. Doderer, Klaus (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 3: P–Z. Weinheim 1979. Doderer, Klaus (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 4: Ergänzungs- und Registerband. Weinheim 1982. Doderer, Klaus (Hg.): Zwischen Trümmern und Wohlstand. Literatur der Jugend 1945–1960. Weinheim/Basel 1988. Fohrmann, Jürgen/Müller, Harro: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Literaturwissenschaft. München 1995, 7–12.
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Franz, Kurt/Lange, Günter/Payrhuber, Franz-Josef (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Begründet von Alfred Clemens Baumgartner und Heinrich Pleticha. Loseblattsammlung in zur Zeit 6 Ordnern. Volkach 1995– 2018. Hopster, Norbert/Josting, Petra/Neuhaus, Joachim: Kinderund Jugendliteratur 1933–1945. Ein Handbuch. Bd. 1. Stuttgart 2002. Hopster, Norbert/Josting, Petra/Neuhaus, Joachim: Kinderund Jugendliteratur 1933–1945. Ein Handbuch. Bd. 2: Darstellender Teil. Stuttgart 2005. Lange, Günter (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1: Grundlagen und Gattungen. Baltmannsweiler 42005 (EA 2000). Lange, Günter (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 2: Medien und Sachbuch, ausgewählte thematische Aspekte, ausgewählte poetologische Aspekte, Produktion und Rezeption, KJL im Unterricht. Baltmannsweiler 42005 (EA 2000). Lange, Günter (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler 32016 (EA 2011). Weinkauff, Gina/Glasenapp, Gabriele von: Kinder- und Jugendliteratur. Paderborn 32018. Wild, Reiner/Brunken, Otto (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart/Weimar 32008 (EA 1990).
Tobias Kurwinkel / Philipp Schmerheim
I Grundlagen
1 Begriffsdefinitionen 1.1 Einleitung Intuitiv mag jeder ein Verständnis davon haben, was unter Kinder- und Jugendliteratur zu verstehen ist. Allerdings zeigt die schon Jahrzehnte andauernde Diskussion über die Abgrenzung des Begriffs von anderen Literaturformen, dass die bisher vorliegenden Definitionen dessen mannigfaltigen Facetten nicht gerecht werden. Dies hat einerseits mit der kontrovers geführten wissenschaftlichen Debatte über den Literaturbegriff an sich zu tun, denn »Literatur ist nicht an das Medium Buch gebunden und Literatur ist auch kein Medium, sondern lediglich eine Formmöglichkeit eines oder mehrerer Medien« (Fohrmann/Müller 1995, 8). Anderseits hängt die Bestimmung des Terminus ›Kinder- und Jugendliteratur‹ eng mit dem Wandel der Bedeutung der Konzepte Kind, Kindheit und Jugend zusammen, die je nachdem unterschiedliche Altersabstufungen nach sich ziehen (vgl. Wild 1993; vgl. Hunt 2011; vgl. Fass 2012). Darüber hinaus lässt sich seit den 1990er Jahren das Phänomen beobachten, dass die Grenzen zwischen Kinder- und Jugendliteratur auf der einen Seite und Literatur für Erwachsene auf der anderen Seite zunehmend verwischen, worauf mit Begriffen wie ›Crossover Literatur‹ und ›All-Age-Literatur‹ hingewiesen wird (vgl. Beckett 2010; s. Kap. 2). Kinder- und Jugendliteratur steht zudem – auch angesichts der zunehmenden inter- und transmedialen Vernetzung – in enger Verbindung mit dem Begriff ›Kinder- und Jugendmedien‹. Nach dem Versuch, den komplexen Begriff ›Kinder- und Jugendliteratur‹ zu definieren, geht dieser Beitrag auf die Begriffsgeschichte ein und stellt verschiedene Ansätze der Systematisierung vor. Abschließend werden damit zusammenhängende Aspekte, die aktuell in der Kinderliteraturforschung diskutiert werden, vorgestellt.
1.2 Begriffsdefinitionen Der Begriff ›Kinder- und Jugendliteratur‹ ist mehrdeutig, denn er kann sowohl als Literatur für Kinder und Jugendliche als auch als Literatur von Kindern und Ju-
gendlichen verstanden werden. In der Kinderliteraturforschung hat man sich fast ausschließlich auf die erste Bedeutung bezogen, obwohl es nachweislich von Kindern und Jugendlichen verfasste Literatur gibt. Zumeist ist diese – von ein paar Ausnahmen wie etwa dem Tagebuch der Anne Frank (1947) oder Anthologien mit von Kindern verfassten Geschichten und Gedichten abgesehen – jedoch nicht publiziert worden. Ebenso wird hierbei außer Acht gelassen, dass es eine beträchtliche Anzahl kinderliterarischer Werke gibt, die in Kooperation von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen entstanden sind (vgl. Gubar 2009; vgl. Grenby 2011), wobei es jedoch auch aus Vermarktungsgründen heraus ›simulierte‹ Kooperationen gibt. In neueren Begriffsbestimmungen wird ›Kinderund Jugendliteratur‹ als Oberbegriff für die gesamte Produktion von (literarischen) Werken verstanden, die für noch nicht erwachsene Rezipienten geschaffen wurde. Kinder- und Jugendliteratur wird in der Regel von Erwachsenen verfasst und Kindern vorgelesen oder von Kindern und Jugendlichen selbst gelesen. Ihr Spektrum kann alle Gattungen und fast alle Genres umfassen, die auch in der Literatur für Erwachsene anzutreffen sind. Des Weiteren zählt hierzu die von der Belletristik zu differenzierende Sach- (s. Kap. 23) oder Wissensliteratur. Unter den Oberbegriff fallen auch alle Bearbeitungen erwachsenenliterarischer Werke, die für Kinder und Jugendliche bestimmt sind. Darüber hinaus gehören zur Kinder- und Jugendliteratur im weiteren Sinne noch mündlich erzählte Geschichten (vgl. Ong 1988), auch wenn diese nicht schriftlich festgehalten worden sind, sowie unveröffentlichte kinderliterarische Manuskripte und EgoDokumente (z. B. Tagebücher und Briefe). Kinder- und Jugendliteratur ist eine »Formmöglichkeit« oder ›Schreibweise‹ von und in Kinder- und Jugendmedien; als Medium wird in diesem Zusammenhang »ein konventionell [...] als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv« (Wolf 2002, 165) verstanden, das im Einzelfall – wie das Bilderbuch oder der Film – verschiedene semiotische Systeme aufweisen und kombinieren kann. Dabei ist mit Siegfried J. Schmidt zu berücksichtigen, dass sich Medien nur systemisch fassen und beschreiben lassen, dass ihrer Komplexität verschiedene Dimensionen zugrunde liegen, die sich wechselseitig bedingen und beeinflussen
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_1
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I Grundlagen
(vgl. den Beitrag von Kurwinkel zum Medien- und Produktverbund s. Kap. 12).
1.3 Historische Entwicklungen Die Ursprünge der Begriffe ›Kinderliteratur‹ und ›Jugendliteratur‹ gehen auf das 19. Jahrhundert zurück (vgl. Ewers 1995; vgl. Kümmerling-Meibauer 2003). Vorher wurden Begriffe wie ›Kinderbuch‹, ›Kinderschrift‹ oder ›Jugendschrift‹ verwendet, wobei die Abgrenzung zur Schulbuchliteratur (Fibeln, Lesebücher, Fachbücher für den schulischen Unterricht) sowie zur Volksliteratur, die beide bis zum 19. Jahrhundert eng mit der Kinder- und Jugendliteratur verzahnt waren, nicht immer leicht zu ziehen ist. Die Debatte über die Abgrenzung zu anderen Literaturformen und zur Altersstufenabgrenzung nahm aber erst seit den 1960er Jahren Fahrt auf, wobei es in der BRD und der DDR zu teils unterschiedlichen Begriffsbestimmungen kam. So hat sich etwa in der DDR der Begriff der ›intentionalen Kinderliteratur‹ (in Abgrenzung zur Kinderlektüre) etabliert. Er entspricht von der Bedeutung her demjenigen der ›spezifischen Kinderliteratur‹ in der westdeutschen Kinderliteraturforschung, während ›intentionale Kinder- und Jugendliteratur‹ in der Literaturgeschichtsschreibung der BRD eine andere Bedeutung erlangte, wie weiter unten noch deutlich werden wird. Über diesen Begriffswirrwarr hinaus wurden auch hinsichtlich der Grenzziehung zwischen Kinderliteratur und Jugendliteratur in beiden deutschen Staaten unterschiedliche Altersgruppen vorgeschlagen: In der BRD bezog sich der Begriff ›Kinderliteratur‹ auf Leser bis zum Alter von 10–12 Jahren, in der DDR auf Leser unter 14 Jahren. Entsprechend wandte sich ›Jugendliteratur‹ in der BRD an Leser zwischen 12–14 Jahren, in der DDR an 14- bis 18-jährige Leser. Für die seit den 1970er Jahren stetig anwachsende Literatur für Leser ab 14 Jahren verwendete man in der BRD ab den 1970er Jahren den Begriff ›Jeansliteratur‹, der später durch die Begriffe ›Adoleszenzliteratur‹ oder ›Literatur für junge Erwachsene‹ – in Analogie zum englischen Begriff ›Young Adult Literature‹ – ersetzt wurde. Ein weiterer in diesem Kontext verwendeter Begriff ist derjenige der ›Kindheitsliteratur‹. Er bezieht sich auf Werke der Erwachsenenliteratur, in denen der Werdegang von Kindern und Jugendlichen im Fokus steht. Hierzu zählen etwa Kindheitsautobiographien, Schülerromane und Adoleszenzromane, sofern diese sich an eine erwachsene Leserschaft richten (vgl. Seibert 2005).
Die letztgenannten Termini haben sich in der deutschsprachigen Forschung allerdings nicht gegen den weiterhin verwendeten Begriff ›Kinder- und Jugendliteratur‹ durchsetzen können. Trotz zuweilen schwankender Zuschreibungen hat sich mittlerweile als Konsens herausgestellt, 12 Jahre als Altersgrenze zwischen den beiden Literaturbereichen anzusehen. Gelegentliche Versuche, den Begriff ›Kinder- und Jugendliteratur‹ in Anlehnung an entsprechende Überlegungen und Usancen in anderen Ländern, etwa England, Frankreich, Russland und Schweden, durch denjenigen der ›Kinderliteratur‹ zu ersetzen, konnten sich trotz aller berechtigten Kritik an der willkürlichen Festlegung der Grenzziehung zwischen beiden Literaturbereichen nicht durchsetzen (vgl. Hürlimann 1959; vgl. Kümmerling-Meibauer 2003).
1.4 Typologien Ansätze zur Systematisierung Seit den 1970er Jahren hat man sich in der westdeutschen Kinderliteraturforschung darum bemüht, das breite Spektrum der Kinder- und Jugendliteratur zu systematisieren. Unter Rückgriff auf Überlegungen von Göte Klingberg (1973), der bereits eine einheitliche Nomenklatur und systematische Taxonomie des Gesamtkorpus gefordert hatte, führten diese Bestrebungen zu einer Dreiteilung in ›Kinder- und Jugendlektüre‹, ›intentionale Kinder- und Jugendliteratur‹ und ›spezifische Kinder- und Jugendliteratur‹ (vgl. Brüggemann/Ewers 1982; vgl. Gansel 1999). Während der erstgenannte Begriff, für den Hans-Heino Ewers (2012) die explizitere Bezeichnung »faktische Kinderund Jugendlektüre« (ebd., 14–15) vorgeschlagen hat, alle Texte umfasst, die von Kindern und Jugendlichen rezipiert werden, auch wenn es sich dabei nicht um für diese Zielgruppe intendierte oder verfasste Werke handelt, schränkt der zweite Begriff das Korpus auf diejenigen Werke ein, die ausdrücklich für Kinder und Jugendliche empfohlen werden. Hierzu zählen neben Bearbeitungen von Erwachsenenliteratur auch die sogenannte Volksliteratur (Volksmärchen, Sagen, Volkspoesie) sowie Texte, die sich sowohl an Kinder als auch an Erwachsene richten (z. B. religiöse Schriften, populäre Literatur). Ebenso gehören hierher die schulischen Lese- und Lehrbücher, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht eindeutig von der Kinderund Jugendliteratur zu trennen sind. Der letzte Begriff umfasst die eigens für Kinder und Jugendliche geschaffenen Texte. Dieses Korpus ist mittlerweile so
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groß, dass es zum Prototyp von Kinder- und Jugendliteratur geworden ist. Obwohl hierbei literaturhistorische, pädagogische, soziologische und rezeptionsgeschichtliche Aspekte miteinander vermischt werden, hat sich diese Terminologie seitdem in der deutschsprachigen Kinderliteraturforschung etabliert. Um die inhaltliche Verwechslung der Begriffe ›intentional‹ und ›spezifisch‹ zu vermeiden, hat Ewers (2012) stattdessen die Begriffe »intendierte Kinder- und Jugendlektüre« (ebd., 15) und »originäre Kinder- und Jugendlektüre« (ebd., 19) vorgeschlagen. Darüber hinaus wird noch die Unterscheidung von »sanktionierter« versus »nicht-sanktionierter Kinder- und Jugendlektüre« (Ewers 2012, 17) getroffen: Während der erste Begriff diejenige Kinder- und Jugendliteratur erfasst, die von Erwachsenen und öffentlichen Institutionen (Schule, Bibliothek, Verlag, etc.) als geeignete Lektüre für die Zielgruppe angesehen wird, bezieht sich der zweite Begriff auf Werke, die von denselben Institutionen als für Kinder und Jugendliche aus moralischen, ästhetischen und/oder sprachlichen Gründen unangemessen eingestuft werden. Über diese Unterscheidungen, die durch von Erwachsenen vorgenommene Lektüreentscheidungen und Auswahlkriterien bestimmt sind, hinaus finden sich noch inhaltliche und formale Begriffsbestimmungen, die Wirkungs- und Rezeptionsaspekte fokussieren. Während ›Anfängerliteratur‹ (alternativ auch: Einstiegsliteratur) darauf verweist, dass Kinderliteratur der Aneignung literarischer Regeln diene und sich demzufolge durch bestimmte Eigenschaften wie Einfachheit und Nachahmung mündlichen Erzählens auszeichne, betont ›Übergangsliteratur‹, dass vor allem die Jugendliteratur dem jugendlichen Leser den Übergang zur Erwachsenenliteratur erleichtern solle. Gelegentlich anzutreffen ist weiterhin der Begriff ›Sozialisationsliteratur‹, der Kinder- und Jugendliteratur die Funktion zuschreibt, die Zielgruppe im Sinne der zeitgenössischen moralischen, sozialen und pädagogischen Normen zu erziehen bzw. zu sozialisieren. Im Kontext der Berücksichtigung der kognitiven, sprachlichen und moralischen Entwicklung des Kindes spielt zudem der Begriff der ›kindgemäßen Literatur‹, der auf Ideen der Romantik zurückgeht, eine Rolle. Diese Bezeichnung beruht auf der Vorstellung, dass sich Kinder- und Jugendliteratur an die Bedürfnisse der Leserschaft anpasst, indem entwicklungspsychologische und pädagogische Aspekte fokussiert werden. Für diesen Anpassungsprozess hat Ewers den Begriff »Akkommodation«, der den ambigen Begriff
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»Adaption« ablösen soll, eingeführt (vgl. Ewers 2012, 171–178). Akkommodation bezieht sich dabei auf die sprachliche, formale, paratextuelle, inhaltliche und normative Anpassung kinderliterarischer Werke an die präsumtive Leserschaft. Dass diese Überlegungen eng mit dem Konzept der ›Einfachheit‹ verbunden sind, ist allerdings noch nicht in allen Facetten erfasst worden (vgl. Lypp 1984; vgl. Meibauer 2014). Basierend auf Überlegungen von Niklas Luhmann und anderen Systemtheoretikern hat sich Ewers darüber hinaus bemüht, das disparate Korpus der Kinderund Jugendliteratur mithilfe eines systemtheoretischen Ansatzes einzugrenzen. Im Allgemeinen wird Kinder- und Jugendliteratur hierbei als Subsystem der Allgemeinliteratur aufgefasst. Ferner wird eine Unterscheidung zwischen Kinder- und Jugendliteratur als Handlungssystem und als Symbolsystem getroffen. Die erste Kategorie bezieht sich auf alle gesellschaftlichen Handlungen in Bezug auf die Produktion, Distribution und Rezeption kinderliterarischer Texte, wobei neben der Bedeutung des Autors die prägende Rolle von Institutionen wie Verlage, Schulen, Buchhandel und Bibliotheken hervorgehoben wird (vgl. Ewers 2012, 86–90). Die zweite Kategorie verweist einerseits auf die den kinderliterarischen Werken zugrundeliegenden literarischen Regeln, z. B. Wissen über die Funktionen von Erzählperspektive, Reim, Ironie und Gattungskonzepten, und anderseits auf Symbole, so etwa die Kenntnis über bedeutsame Motive und literarische Figuren. Erst deren Kenntnis ermögliche die Entschlüsselung der inhärenten Bedeutung der jeweiligen kinderliterarischen Werke (vgl. Ewers 2012, 135). In diesen Kontext bettet Ewers auch seine Überlegungen zur Akkommodation ein, insofern das Verständnis dieser Regeln und Symbole hinsichtlich der Adressatengruppe nicht per se vorausgesetzt werden könne, sondern einem langwierigen Lernprozess unterworfen sei. Folglich müssten die verwendeten literarischen Regeln und Symbole an den Wissensstand der jeweiligen Altersgruppe angepasst werden. In der deutschsprachigen Forschung wird Kinderund Jugendliteratur gelegentlich auch als Gattung oder Genre bezeichnet. Diese Definition ist insofern problematisch, als hierbei ein literaturtheoretischer Begriff für eine Textgruppenbildung mit einem vorwiegend durch die Adressatengruppe bestimmten Literaturbereich gleichgesetzt wird. Kompliziert wird dieser Sachverhalt auch dadurch, dass Kinder- und Jugendliteratur nach Gattungen und Genres spezifiziert wird.
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I Grundlagen
In der englischsprachigen Forschung findet man vergleichbare Überlegungen, insofern Kinder- und Jugendliteratur als ›genre‹ klassifiziert wird. So begründet Perry Nodelman (vgl. Nodelman 2008, 107– 110) diese Klassifizierung mit der gleichartigen Struktur (engl. sameness) der meisten kinderliterarischen Werke, deren Handlungsverlauf bestimmten vorgegebenen Schemata, z. B. home-away-home, folge (zur Kritik an diesem Ansatz s. Rudd 2013). Diese Versuche, das breite Spektrum der Kinderund Jugendliteratur zu systematisieren, veranschaulichen, dass der Gegenstand der Kinderliteraturforschung sehr vielfältig ist. Zugleich verdeutlicht die verwirrende Begriffsvielfalt, dass es bislang zu keiner Einigung hinsichtlich der Definition von Kinder- und Jugendliteratur gekommen ist. Ausblick: aktuelle Diskussionen Die Auswirkungen der Globalisierung und der damit zusammenhängenden Vermarktung von Kinder- und Jugendliteratur in Form von Medienverbünden sowie die anwachsende Bedeutung digitaler Medien und sozialer Netzwerke werden zunehmend in der Kinderliteraturforschung diskutiert und haben auch Auswirkungen auf die Entwicklung und zukünftige Begriffsbestimmung von Kinder- und Jugendliteratur. Hierbei lassen sich drei Tendenzen beobachten. Obwohl sich Kinder- und Jugendliteratur bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts gegenüber anderen medialen Ausdrucksformen geöffnet hat, nehmen mediale Grenzüberschreitungen auch im Zuge der ansteigenden Ausdifferenzierung von Medienformaten stetig zu. Die digitalen Vermittlungsweisen kinderliterarischer Texte haben den Medientransfer und damit einhergehend die Entstehung von vielfältigen Medienverbundsystemen begünstigt (vgl. KümmerlingMeibauer 2001, 2007; s. Kap. 3). Diese Transferprozesse sind eng mit den Konzepten der Intermedialität und Transmedialität verzahnt. Intermedialität umfasst alle Mediengrenzen überschreitenden Phänomene, die mindestens zwei als distinkt wahrgenommene Medien involviert, wobei die jeweiligen Medien Strukturmerkmale anderer Medien aufgreifen (vgl. Rajewsky 2002; s. Kap. 35). Transmedialität dagegen verweist auf die Umsetzung eines Genres oder Erzählstoffes in verschiedenen Medien, wobei in diesem Fall die Annahme eines Ursprungsmediums nicht relevant ist (vgl. ebd., 13). Mit der narrativen Strategie, eine Geschichte über mehrere Medien hinweg zu erzählen, ist eine neue Erzählform entstanden, die man als
transmediales Erzählen bezeichnet (vgl. Jenkins 2006; s. Kap. 12). Die mittlerweile wahrnehmbare Tendenz zum transmedialen Erzählen übt einen wesentlichen Einfluss auch auf Erzählstrategien und Formen (kinder-)literarischer Texte aus, wodurch neue Buch- und Erzählformen entstehen (vgl. Herman 2004; vgl. Kümmerling-Meibauer 2015). Das damit zusammenhängende Phänomen der Medienkonvergenz eröffnet den Rezipienten neue Partizipationsformen. Seit der Jahrtausendwende zeichnet sich mit der Bedeutung der sozialen Medien im Internet hinsichtlich der Autorschaft von Kinder- und Jugendliteratur ein bedeutender Wandel ab. Kinder und Jugendliche veröffentlichen in Blogs und Fan Fiction-Sites zunehmend eigene literarische Werke. In der deutschsprachigen Forschung ist man auf diese damit einhergehende Erweiterung des Begriffs Kinder- und Jugendliteratur bislang kaum eingegangen (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012), in der englischsprachigen Forschung hat man dagegen schon mehrfach auf diese Tendenz hingewiesen (vgl. James 2007; vgl. Reynolds 2007; vgl. Nodelman 2008; vgl. Gubar 2013). Während mit den Begriffen ›Crossover Literatur‹ bzw. ›All-Age-Literatur‹ die altersgrenzenüberschreitende Rezeption von kinder- und jugendliterarischen Werken betont wird, hat sich die an junge Leser ab dem Alter von 14 Jahren gerichtete Literatur weiter differenziert. Neben der geläufigen Kategorie ›Young Adult Literature‹, die in etwa als Äquivalent zum Begriff der Jugendliteratur aufgefasst werden kann, hat sich auf dem englischsprachigen Buchmarkt in den letzten Jahren der Begriff ›New Adult Literature‹ etabliert. Er bezieht sich auf literarische Werke, die sich explizit an Leser im Alter zwischen 18 und 25 Jahren wenden. Diese Zeitspanne wird als Zwischenstufe zwischen Adoleszenz und Erwachsensein charakterisiert (vgl. Pattee 2017, 219). Die New Adult Literature zeige einerseits eine Präferenz für Entwicklungs- und Initiationsprozesse, wie sie ebenfalls der Young Adult Literature eigen sei, anderseits spreche sie Themen und Probleme an, die explizit für die anvisierte Altersgruppe relevant seien (vgl. Talley 2009; vgl. Coats 2011). Diese Diskussion zeigt an, dass die strikten Grenzziehungen zwischen Kinder- und Jugendliteratur sowie Erwachsenenliteratur immer mehr in Frage gestellt werden und sich zugleich die internationale Buch- und Medienproduktion zunehmend diversifiziert, indem sie gezielt bestimmte Altersgruppen und deren Bedürfnisse avisiert. Wie diese knappe Darstellung der aktuellen Entwicklungen auf dem internationalen Buch- und Medi-
1 Begriffsdefinitionen
enmarkt sowie die damit einhergehenden Debatten um den Status von Kinder- und Jugendliteratur verdeutlichen, zeigt sich ein Bedeutungswandel an, der sich auf drei Aspekte bezieht. Diese betreffen den Literaturbegriff, die Vorstellung von Autorschaft und die Grenzziehung zwischen verschiedenen Alters- bzw. Lesergruppen. Eine zukünftige Definition von Kinderund Jugendliteratur müsste folglich die Tendenz zum transmedialen Erzählen und zum Medientransfer, die Auswirkungen auf die Konzeption von Literatur hat, ebenso berücksichtigen wie die Option, dass dank der Möglichkeiten des Internets zunehmend Kinder und Jugendliche als Autoren kinderliterarischer Texte fungieren können. Des Weiteren differenziert sich das Spektrum der Kinder- und Jugendliteratur, indem es verschiedene Alterskohorten vom Kleinkind (ab dem Alter von ca. sechs Monaten) bis zum jungen Erwachsenen (bis zum Alter von 18–25 Jahren) umfasst. Zugleich trägt die populäre Crossover-Literatur oder AllAge-Literatur dazu bei, dass sich die Grenzen zwischen Kinder- und Jugendliteratur auf der einen Seite und Erwachsenenliteratur auf der anderen Seite verwischen. Literatur
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I Grundlagen
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Bettina Kümmerling-Meibauer
2 Crossover-Literatur
2 Crossover-Literatur 2.1 Einleitung Spätestens zur Jahrtausendwende finden sich auf dem Buchmarkt vermehrt altersübergreifende Erzähltexte, die als Crossover- oder All-Age-Literatur nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene adressieren – und dementsprechend zunehmend in den Fokus der kinder- und jugendliteraturwissenschaftlichen Forschung gerückt sind. Neben Untersuchungen, die ihr Augenmerk auf die besonderen Erzählstrategien dieser Textsorten richten, existiert auch eine kontroverse Debatte um die Bewertung und Einordnung dieses literarischen Phänomens: Der vermuteten Aufwertung der Kinder- und Jugendliteratur infolge ihrer Inanspruchnahme als Crossover-Literatur stehen Befürchtungen gegenüber, dass das Phänomen Crossover den besonderen, eigenständigen Charakter der Kinder- und Jugendliteratur bedrohe: Dementsprechend beschreibt etwa Tilman Spreckelsen im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Phänomen als »Feindliche Übernahme« (so der Titel des Artikels, Spreckelsen 2009) und fordert, die Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft solle »fragen, ob da nicht gerade etwas den Bach heruntergeht, das man schmerzlich vermissen wird, solange es Kinder gibt, nämlich eine Literatur, die sich an sie richtet und dabei ihr Weltwissen und ihre Wünsche respektiert«. Er befürchtet, es entstehe hier »eine Literatur, die sich nur scheinbar an Kinder richtet, in Wahrheit aber nach den Erwachsenen schielt« (ebd.). Damit spricht Spreckelsen ein Grundproblem der Öffnung von Kinder- und Jugendliteratur für Erwachsene an: Kinder und Jugendliche bleiben zwar die offiziellen Adressaten, es entsteht jedoch eine produktive Spannung, wenn verschiedene Rezipientengruppen integriert und ihre (vermuteten) Bedürfnisse berücksichtigt werden müssen. Im Folgenden wird es um solche Texte, Medien und Medienverbünde gehen, die sowohl Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene als direkte Adressaten ansprechen. Auf solche Werke trifft man bereits in allen Epochen der Kinder- und Jugendliteratur; viele kinderliterarische Klassiker wurden und werden von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gelesen. Aus der langen Geschichte – und aus der regen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Kinder-Erwachsenen-Literatur – ergibt sich, dass viele disparate Begriffe im Umlauf sind, teils um dasselbe Phänomen, teils um einander nur ähnelnde Konzepte zu beschreiben. Diese ver-
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wandten Konzepte, die man alle unter dem Oberbegriff ›Kinder-Erwachsenen-Literatur‹ subsumieren könnte, sollen hier mit einem Schwerpunkt auf das aktuelle, also mit dem Ende der 1990er Jahre einsetzende, Crossover-Konzept vorgestellt und differenziert werden.
2.2 Begriffsdefinitionen Ende der 1990er Jahre kommt es – sowohl auf dem Kinder- und Jugendliteraturmarkt als auch in der Forschung – zu einem Paradigmenwechsel. Besonders nach dem Erscheinen des ersten Harry Potter-Bandes (engl. 1997, dt. 1998) und dem überwältigenden Erfolg der Folgebände bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist vermehrt von ›Crosswriting‹, ›Crossover‹- und ›All-Age‹-Literatur die Rede. Dabei wird der Begriff ›Crossover‹ eher im englischsprachigen Raum und in wissenschaftlichen Kontexten, ›All-Age‹ eher im Deutschen und in den skandinavischen Sprachen sowie in Medienkontexten verwendet. Davon abgesehen sind aber beide Termini größtenteils synonym zu verstehen: Es geht um Texte (und Medienverbünde), die sich in Inhalt und Form sowie durch ihre Vermarktung sowohl an Kinder, Jugendliche als auch an Erwachsene richten, also Altersgrenzen überschreiten (daher: Crossover) bzw. sich an alle Altersgruppen richten (daher: All-Age). Im Folgenden wird hier von ›Crossover-Literatur‹ die Rede sein. Ähnliche Altersentgrenzungen sind auch im Bereich des Films zu beobachten, wo Produktionen der Sparte ›Family Entertainment‹ große Erfolge feiern. Als typische Beispiele für Crossover-Literatur werden Werke wie Philip Pullmans His Dark Materials (engl. 1995–2000, dt. 1996–2001), J. K. Rowlings Harry-Potter-Romane (engl. 1997–2007, dt. 1998–2007), Mark Haddons Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boon (The Curious Incident of the Dog in the Night-Time; 2003), Eoin Colfers Reihe Artemis Fowl (ab 2001), Christopher Paolinis Eragon- bzw. Inheritance-Reihe (engl. 2003–2011, dt. 2004–2011), Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie (2003–2007) und ihre Reckless-Reihe (ab 2010), Stephenie Meyers Twilight-Tetralogie (engl. 2005–2008, dt. 2006–2009) und Suzan Collins’ Die Tribute von Panem (The Hunger Games; engl. 2008–2010, dt. 2012–2015) sowie ggf. die jeweiligen Filmadaptionen angesehen. Rachel Falconer definiert 2004 in der zweiten Auflage der International Companion Encyclopedia of Children’s Literature (in deren erster Auflage von 1996 ein entsprechendes Stichwort noch fehlte) ›Crossover
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_2
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I Grundlagen
Literature‹ allgemein als Überschreitung der Altersgrenzen in der Erzählkommunikation: »In children’s literature criticism [...] crossover is generally meant to refer to a crossing between age boundaries [...]. Even in this field, ›crossover‹ can refer to different aspects of the narrative communication act: the relation between authors and texts, the internal attributes of texts, or the relation between texts and readers, for example.« (Falconer 2004, 557–558) Sandra Beckett hingegen beschreibt das Phänomen Crossover in The Oxford Encyclopedia of Children’s Literature (2006) als Oberbegriff, wenn sie auf verschiedene Ausprägungen des Crosswritings hinweist: Dazu zählen in ihrer weiten Definition einerseits Autoren, die Kinder bzw. Erwachsene in verschiedenen Werken ansprechen, sowie andererseits solche, die dies im selben Text tun. Bettina Kümmerling-Meibauer bietet eine ähnlich weite Definition des Crosswritings: »Bezogen auf die Kinderliteratur kann der Terminus [Crosswriting] drei Aspekte bezeichnen: erstens die Tatsache, dass viele Kinderbuchautoren auch Werke für Erwachsene schreiben; zweitens das Phänomen, dass ein zunächst als Erwachsenenbuch konzipiertes Werk von demselben Autor als Kinderbuch umgeschrieben wird oder umgekehrt; drittens ein rezipientenübergreifendes Schreiben, d. h. ein kinderliterarischer Text wendet sich in diesem Fall sowohl an kindliche als auch erwachsene Leser.« (Kümmerling-Meibauer 2003, 248) Die ersten beiden von Kümmerling-Meibauer genannten Formen des Phänomens scheinen in der Folge häufig – aber nicht notwendigerweise – unter der Bezeichnung ›Crosswriting‹ behandelt zu werden, während als ›Crossover‹ tendenziell das Überschreiten von Grenzen in einem einzigen Text bezeichnet wird. Als Crossover- (bzw. All-Age-)Literatur im engeren Sinne ist in jedem Fall Letzteres zu verstehen, also die Wendung an Kinder und Jugendliche und Erwachsene in ein- und demselben Text – um dieses Crossover im engeren Sinne wird es im Folgenden auch gehen. Dabei spielen das entsprechende Marketing, veränderte Publikationsformen sowie nur graduelle Bedeutungsabstufungen für verschiedene Altersgruppen eine entscheidende Rolle.
2.3 Historische Entwicklungen und Typologien Eng verwandt mit der Crossover-Literatur sind benachbarte bzw. historisch vorhergehende Phänomene von Kinder-Erwachsenen-Literatur, nämlich die vor
allem in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteraturforschung sogenannte Doppelsinnigkeit und Mehrfachadressiertheit. Der Beginn der systematischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Kinder- und Jugendliteratur auch für Erwachsene liegt jedoch in der englischsprachigen Forschung. Zohar Shavit erfasst mit dem Konzept des »ambivalent status of texts« bereits 1980 jene Texte, die im Rahmen der Polysystemtheorie nicht eindeutig dem System der Kinder- oder dem der Allgemeinliteratur zuzu ordnen sind. Shavit definiert ambivalente Texte über die Präsenz von mindestens zwei intendierten Lesergruppen (nämlich Kindern und Erwachsenen), die den Text aufgrund verschiedener Leseerwartungen und -gewohnheiten unterschiedlich realisieren. Shavit (vgl. 1986, 71) nimmt hier bereits zwei implizite Leser und somit zwei mögliche und intendierte Lesarten des Textes an. Diese Vorstellung wird im Folgenden auch in der deutschsprachigen Forschung mehrfach aufgegriffen, da sie verdeutlicht, dass es weniger um die reale Rezeption, sondern vielmehr um die im Text angelegten Leserrollen geht; darum, wie der Text selbst durch verschiedene Strategien und Signale seine Rezeption präfiguriert. Mehrfachadressiertheit und Doppelsinnigkeit Hans-Heino Ewers fokussiert seit den 1990er Jahren ebenfalls die rezeptionsästhetische Kategorie der impliziten Leser. Zudem differenziert er zwischen äußerer Adressierung und innerer Botschaft; eine Differenzierung, die sich im Folgenden zumindest teilweise in den Begrifflichkeiten niederschlägt. Ewers unterscheidet, je nachdem, auf welche Art und über welchen Signalbereich die erwachsenen Leser einbezogen werden, zwischen ›mehrfachadressierten‹ und ›doppelsinnigen‹ Texten. Doppelsinnigkeit und Mehrfachadressiertheit (vgl. auch O’Sullivan 2000, 122–129) können in einem Text zusammentreffen, müssen es aber nicht notwendigerweise. ›Mehrfachadressiertheit‹ steht in diesem Zusammenhang für die äußere (paratextuelle) zweifache Adressierung des Textes: beispielsweise durch einen Untertitel wie »Für Jugend und Volk« (die »Standardformel« der Mehrfachadressiertheit im 18./19. Jahrhundert, vgl. Ewers 2000, 122) oder »Für Kinder und Kenner« (Erich Kästners Adressierung für Die Konferenz der Tiere, 1949) oder durch Titel wie den der Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen (1812). Bereits in der Aufklärung waren viele kinderliterarische Werke auf diese Weise sowohl an Kinder als auch an Jugendliche oder Erwachsene
2 Crossover-Literatur
adressiert: 1788 Johann Carl August Musäus’ Moralische Kinderklapper für Kinder und Nichtkinder, nach dem Französischen des Hn. Monget (vgl. dazu Ewers 2000, 121) oder 1781 Joachim Heinrich Campes Die Entdeckung von Amerika. Ein angenehmes und nützliches Lesebuch für Kinder und junge Leute. ›Doppelsinnigkeit‹ bezieht sich hingegen auf die innere Doppeldeutigkeit eines Textes; auf Texte, die ganz unterschiedlich gelesen werden können: »Ein einfach- oder mehrfach adressiertes kinderliterarisches Werk ist dann als doppelsinnig zu bezeichnen, wenn es den erwachsenen Lesern eine anders lautende Botschaft anbietet. Die für Kinder bestimmte Botschaft ist in der Regel leicht zugänglich, die für Erwachsene dagegen mehr oder weniger versteckt.« (Ewers 2012, 64) Zum kindlichen eigentlichen Lesenden und dem erwachsenen Mitlesenden, die laut Ewers beide jedem kinderliterarischen Text eingeschrieben sind, trete im Fall der doppelsinnigen Literatur also ein weiterer impliziter Leser, der erwachsene eigentliche Leser, der – anders als der Mitleser – in eigenem Interesse und nicht etwa als Vermittler oder Gatekeeper lese (vgl. ebd.). Durch die Annahme verschiedener impliziter Leser erlaubt dieses neue Konzept der Doppelsinnigkeit eine Untersuchung auf der Symbolebene des Textes – nicht nur aufgrund äußerer Merkmale, wie etwa des eventuell nachträglich hinzugefügten Untertitels oder des vermeintlichen Status des Textes. Geht man davon aus, dass im Text unterschiedliche Lesarten angelegt sind, können differenziert die Signale analysiert werden, die auf diese Lesarten hinweisen – wie etwa Ironiesignale, intertextuelle Anspielungen, nostalgische Reminiszenzen usw., die sich an erwachsene Leser richten. Für Family Entertainment Filme, die eine »Ansprache über alle Generationen – Kinder, Jugendliche und Erwachsene – hinweg« bieten (Kurwinkel 2012, 1), beschreiben Kümmerling-Meibauer und Tobias Koebner (2010, 12) ähnliche Phänomene; so seien etwa diese so angelegt, dass erwachsene Mitbetrachter »z. B. Anspielungen auf andere Filme, auf historische Ereignisse oder gesellschaftliche Aspekte finden« oder »ironische Bemerkungen und Filmzitate« bemerken, »die vom kindlichen Betrachter nicht unbedingt verstanden werden können« (Kümmerling-Meibauer/ Koebner 2010, 12; vgl. zur Intertextualität im Family Entertainment Film auch Kurwinkel 2012, 2–4). Genau genommen müsste man hier von ›erfahrenen‹ und ›unerfahrenen‹ oder ›naiven‹ Leser und Betrachter sprechen, wie Christian Kölzer (vgl. Kölzer 2004, 18) es vorschlägt. Eine differenziertere Bezeich-
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nung der Rezipientengruppen bzw. impliziten Leser soll verdeutlichen, dass die Realisierung einer zweiten, weniger offensichtlichen Botschaft nicht den erwachsenen Leser vorbehalten sein muss – dass etwa auch Kinder oder Jugendliche aufgrund größerer Medienerfahrung im Gegensatz zu Erwachsenen den Film kennen können, auf den ggf. angespielt wird. Crossover Die Definitionen der Crossover-Literatur von Beckett, Falconer und anderen überschneiden sich mit denen der Doppelsinnigkeit und Mehrfachadressiertheit insofern, als sich alle Bezeichnungen auf Formen der Kinder-Erwachsenen-Literatur beziehen. Dennoch sind sie mit diesen eigentlich nicht völlig deckungsgleich (vgl. zur folgenden Differenzierung und zum Problem der uneinheitlichen Begriffsverwendung auch Blümer 2009 und Blümer 2016). Mit der Zuordnung eines Textes zur Crossover-Literatur wird vor allem nicht gekennzeichnet, ob die Grenzüberschreitung in Publikationsform oder Symbolebene besteht, ob sich Crossover also auf die Adressierung des Werkes bezieht (wie das Konzept der Mehrfachadressiertheit) oder auf die Codierung und Botschaft des Textes (wie das Konzept der Doppelsinnigkeit) oder aber beides. Trotzdem wird diese Bezeichnung häufig auch rückwirkend auf ältere Texte angewendet; viele historische Texte der Kinder- und Jugendliteratur werden mittlerweile auch als Beispiele für Crossover-Literatur angesehen. Immer wieder werden hier folgende Werke genannt: Lewis Carrolls Alice im Wunderland (Alice’s Adventures in Wonderland; engl. 1865, dt. 1869), Kenneth Grahames Der Wind in den Weiden (The Wind in the Willows; engl. 1908 dt. 1929), J. M. Barries Peter Pan (engl. 1904, dt. 1911), J. R. R. Tolkiens Der kleine Hobbit (The Hobbit; engl. 1937, dt. 1957) und Der Herr der Ringe (The Lord of the Rings; engl. 1954–1955, dt. 1969–1970), C. S. Lewis’ NarniaReihe (engl. 1950–1956, dt. 1957–1982), Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz (Le Petit Prince; franz. 1943, dt. 1950), Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979) und Jostein Gaarders Sofies Welt (Sofies Verden; norw. 1991, dt. 1993). Die meisten wissenschaftlichen Publikationen nehmen auf die lange Tradition der Kinder-Erwachsenen-Literatur Bezug und stellen die Crossover-Literatur bewusst in den Kontext einer längeren kinderliterarischen Entwicklung. In vielerlei Hinsicht ist diese Bezugnahme berechtigt. Bei den Klassikern handelt es sich jedoch genau ge-
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nommen meist um mehrfachadressierte oder doppelsinnige Texte, und von dieser Tradition zumindest teilweise zu unterscheiden, ist das um die Jahrtausendwende vermehrte Auftreten von Crossover-Veröffentlichungen, die auch dezidiert als solche vermarktet werden. Dieses aktuelle Crossover-Phänomen der 1990er und 2000er Jahre, das allgemein mit dem Erfolg von Rowlings Harry Potter-Bänden in Verbindung gebracht wird, wird von Falconer als »millennial crossover phenomenon« (Falconer 2009, 15) oder »millennial cross-reading« (Falconer 2009, 153) bezeichnet; Beckett spricht von »the current crossover craze« (Beckett 2009, 251). Für Filme findet eine entsprechende Entwicklung schon früher statt: Family Entertainment-Filme boomen schon seit Beginn der 1990er Jahre, beispielsweise mit den Pixar-Animationsfilmen wie Toy Story (John Lasseter, 1995) (vgl. Kurwinkel/Schmerheim 2013, 20); Tobias Kurwinkel (2012, 1) begreift sogar bereits Schneewittchen und die sieben Zwerge (David D. Hand, 1937) oder Der Zauberer von Oz (Victor Fleming, 1939) als Family Entertainment Filme. Die augenfälligste Neuerung für das literarische Crossover der Jahrtausendwende ist der MarketingAspekt, der zuvor – zumindest bei einer Doppelsinnigkeit ohne Mehrfachadressiertheit – keine Rolle spielte. Bezeichnenderweise definiert Beckett »crossover fiction« als »literary form and marketing category« (Beckett 2012, 1). Das Label ›Crossover‹ wird von Verlagen gezielt zur breiteren, auch internationalen Vermarktung der Texte eingesetzt. Dies schlägt sich in Verlagskatalogen und Ankündigungen, der Aufstellung im Buchhandel, aber auch in der Gründung neuer Reihen oder sogar Verlage nieder. Während doppelsinnige Texte häufig einengend übersetzt wurden (vgl. O’Sullivan 2000, Blümer 2016), wird die All-AgeQualität eines Textes in aktuellen Übersetzungen eher betont. Mit dem aktuellen Crossover hängen weitere Veränderungen in Publikationskonventionen, also auf der Ebene des kinderliterarischen Handlungssystems, zusammen. Häufig erscheinen Crossover-Texte in dual editions, also sowohl in einer Ausgabe für Kinder oder Jugendliche als auch in einer Ausgabe für Erwachsene. Solche Doppelausgaben finden sich für die schon erwähnten Bücher Harry Potter und der Stein der Weisen (Harry Potter and the Philosopher’s Stone; engl. 1997; hier wird auch die deutsche Übersetzung 1998 in zwei Ausgaben angeboten), die Reihen His Dark Materials und Die Chroniken von Narnia, aber auch für Sam McBratneys Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab (Guess How Much I Love You; engl. 1994, dt. 1994) so-
wie die deutsche Übersetzung von Stephenie Meyers erstem Twilight-Band Biss zum Morgengrauen (2006). Der eigentliche Text ist dabei identisch, oft unterscheiden sich die Ausgaben jedoch in der Gestaltung des Covers, das für Erwachsene dezenter gehalten wird, teilweise auch in den Illustrationen. Zunehmend finden sich aber auch eher zurückhaltend gestaltete, häufig dunkle, mit Ornamenten oder schlichten Symbolen versehene Cover, die sich gleichzeitig an alle potentiellen Käufer und Leser richten sollen – man könnte hier von universal editions sprechen. Allgemeine Merkmale von All-Age-Texten auf der textuellen Ebene zu definieren, scheint hingegen fast unmöglich – auch wenn immer wieder dahingehende Versuche unternommen werden. So wurde etwa postuliert, Crossover-Texte seien immer der Gattung Fantasy zugehörig, es handele sich immer um Liebesgeschichten oder immer um Texte mit jugendlichen Protagonisten. Dies mag für große Teile des Textkorpus zutreffen; alle derartigen Thesen lassen sich jedoch auch mit Gegenbeispielen widerlegen – wenn man etwa an All-Age-Bilderbücher (vgl. dazu Beckett 2012) oder aber auch Kriminalromane denkt. Sinnvoller erscheinen die Annahmen, dass »etliche AllAge-Texte [...] ›Leerstellen‹ gemäß der Polyvalenzkonvention« (Schneider 2011, 53) aufweisen oder aber dass im Gegensatz zur postmodernen Auflösung der Handlung hier zusammenhängende Geschichten (wenn auch häufig mit metafiktionalen und intertextuellen Elementen) erzählt werden: Es geht hier, wie Falconer (2009) beschreibt, ganz unverhohlen um das »Storytelling« (ebd., 132): »One of the most commonly articulated defences of cross-reading is that in returning to children’s fiction, adult readers are expressing their preference for strong, clear narratives with their roots in oral tradi tion.« (Ebd., 131)
Im Einklang damit betont Maria Bertling nach einer empirischen Untersuchung der Rezeption von AllAge-Literatur für ihre Rezeptionsweisen Parallelen zur sogenannten Unterhaltungsliteratur; sie erfülle ebenso wie diese alle »Elemente – Humor, Spannung, Melancholie –, die zur Unterhaltungslektüre beitragen« (Bertling 2016, 168). Tina Schneider hält (2012, 53) fest, »dass die Bandbreite der All-Age-Literatur zu groß ist, um sie anhand einzelner Kriterien sauber als ein kohärentes, geschlossenes Gebilde definieren zu können«. Vielmehr erscheint auch hier, wie bei doppelsinnigen Texten, ei-
2 Crossover-Literatur
ne Annäherung über die impliziten Leser hilfreich. So können als (aktuelle) Crossover-Werke bzw. Family Entertainment vor allem solche Texte und Medien gelten, die sich weniger mit scharf getrennten oder sogar ›versteckten‹ Lesarten jeweils an Kinder und Erwachsene, sondern vielmehr mit hybriden Lesarten an Kinder, Jugendliche und Erwachsene richten. Offenbar sind gesellschaftliche Veränderungen und ein Wandel der Medienlandschaft Voraussetzung für dieses neue Crossover. Heinz Hengst weist mit dem Begriff der »differenziellen Zeitgenossenschaft« (vgl. Hengst 2017) darauf hin, dass das »traditionelle Differenzdenken (in Altersgruppen, Altersstufen und Generationen) [...] nicht zuletzt im Zusammenhang mit Medien und neuen Technologien problematisch geworden« (Hengst 2017) ist; dass also Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihren kulturellen Praktiken vor allem Zeitgenossen sind. Auch Beckett und Falconer betonen, dass die Übernahme kindlich konnotierter Verhaltensweisen und Medienrezeptionsgewohnheiten für Erwachsene nicht mehr tabu sei. Daraus folge, dass die Grenzen zwischen Kinder- und besonders Jugendliteratur und Erwachsenenliteratur durchlässiger würden. Für die neuere Crossover-Literatur und entsprechende Medien geht man demzufolge von einer Art Übergangszone mit unscharfen Grenzen oder sogar einem neuen hybriden System aus. Literatur
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Agnes Blümer
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I Grundlagen
3 Medien- und Produktverbund 3.1 Einleitung Das Bilderbuch Der Grüffelo (The Gruffalo) von Julia Donaldson und Axel Scheffler aus dem Jahr 1999 zählt zu den erfolgreichsten Kinderbüchern überhaupt; folgerichtig ist die Erzählung um das schreckliche Tier mit den feurigen Augen nicht nur als Bilderbuch, sondern auch als Film, Hörspiel oder Theaterstück zu sehen und zu hören. Abgesehen von den Um- und Fortsetzungen der Geschichte können Eltern ihre Kinder lebensumfänglich mit Produkten versorgen, die von Kuscheltier und Bettwäsche über Sweatshirt, Jacke und Kindergarten-Rucksack bis zu Zahnbürste und Nachtlicht in Grüffeloform reichen. Ein solches System ist Thema dieses Beitrags, in dem ich Überlegungen aufgreife und weiterentwickele, die ich in den letzten Jahren zur Theorie von narrativen Medien- und Produktverbünden veröffentlicht habe (vgl. Kurwinkel 2013, 2017, 2019). In verschiedenen Abschnitten nähert sich dieser Beitrag zunächst definitorisch Verbundsystemen wie dem Beschriebenen aus Perspektive der Intermedialitäts- und Transmedialitätsforschung, skizziert folgend ihre literar- und medienhistorische Entwicklung, um darauf aufbauend Typologien von Medien- und Produktverbünden differenzierend zu beschreiben.
3.2 Begriffsdefinition Unter einem (Kinder-)Medienverbund (engl. commercial supersystem [vgl. Kinder 1991] oder children’s global multimedia [vgl. Seiter 2000]) wird »die medienübergreifende Verbreitung populärkultureller Stoffe« (Weinkauff 2014, 131) verstanden, die von einem großen Merchandising-Angebot als Produktverbund begleitet werden kann. Der Begriff wird immer wieder – u. a. in der deutschen Wikipedia – dem Medienwissenschaftler Werner Faulstich addiziert; dieser arbeitete zwar in zahlreichen Veröffentlichungen mit dem Terminus, eine Urheberschaft kann ihm aber nicht zugeschrieben werden. In die Diskussion führten den Begriff stattdessen Oskar Negt und Alexander Kluge Anfang der 1970er Jahre ein – und zwar für eine Art Superware, einem »vororganisierten Lebens- und Lernzusammenhang« (Negt/Kluge 1972, 226–227). Der Begriff des Medienverbunds als System kommerzieller Kin-
derkultur, wie er hier verwendet wird, geht auf die Arbeiten von Heinz Hengst (2007, 2014) zurück. Grundsätzlich lassen sich zwei verschiedene Typen von Medienverbünden unterscheiden: Der erste, dem das beschriebene System um den Grüffelo entspricht, setzt sich aus mindestens drei narrativen Medientexten zusammen; Ausgangspunkt ist ein Originärtext, dem eine als Bilderbuch, Roman, Hörspiel, Film, Computerspiel o. Ä. realisierte Erzählung zugrunde liegt. Dieser originäre Text steht mit den Medientexten in intra- und/oder intermedialen Beziehungen: Auf intramedialer Ebene spielen sich diese Beziehungen innerhalb eines Mediums ab, auf intermedialer Ebene überschreiten sie als Medienwechsel und intermediale Bezüge Mediengrenzen (s. Kap. 35). Unter Medienwechsel wird, Irina Rajewsky folgend, die Transformation eines medienspezifisch fixierten Texts in ein anderes, konventionell als distinkt wahrgenommenes Medium verstanden; intermediale Bezüge sind hingegen Verfahren der Bedeutungskonstitution eines Texts durch Bezugnahme auf ein anderes Medium (= Einzelreferenz) (vgl. Broich 1985) oder das semiotische System (= Systemreferenz) (vgl. Pfister 1985) eines anderen Mediums (vgl. Rajewsky 2002, 19). Medien verdrängen sich in derartigen Verbundsystemen nicht gegenseitig, stattdessen konvergieren (vgl. Jenkins 2006) und koexistieren sie, nehmen aufeinander Bezug. Diesem ersten Typ ist eine intermediale Perspektive eingeschrieben, dem zweiten Typ hingegen eine transmediale (vgl. Abb. 3.1): Auch er setzt sich aus Medientexten zusammen – der Originärtext dieser Systeme ist jedoch keine medial realisierte Erzählung, sondern besteht aus den statischen Elementen einer Storyworld (vgl. Ryan 2013, 90), aus einem Set von mentalen Narrativitätsfaktoren oder Narremen. Die Realisierung dieser als Erzählung (s. Kap. 12) begründet zwei Subkategorien dieses Typs: Entweder wird die eigentliche Geschichte verteilt über Texte in einem bzw. in mehreren narrationsdarstellenden Medien erzählt (wie z. B. bei Star Wars u. a.) oder aber sie wird über narrationsindizierende Medientexte entfaltet und als (Rollen-)Spiel mit Ensembles aus Sammelkarten (wie z. B. Magic – The Gathering u. a.) oder Actionfiguren (wie z. B. Masters of the Universe, Transformers u. a.) narrativ verwirklicht. Mit Marc Steinberg stellen letztere Figuren als character einen Nukleus dar, »that endlessly allows narratives to emerge« (Steinberg 2012, 191); derartige Medienverbünde bezeichnet Steinberg als »characterdriven« (ebd., 19).
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_3
3 Medien- und Produktverbund
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Abb. 3.1 Merkmale der unterschiedlichen Medienverbundtypen
Das zugrundeliegende Verständnis einer skalierbaren Narrativität basiert auf Werner Wolfs Erzähltheorie (vgl. Wolf 2002), die vom Narrativen als einem kognitiven Schema ausgeht; danach wirkt der jeweilige Medientext durch seine Narreme als Stimulus für die Applikation des Schemas. Die Narrativierung liegt jedoch zu einem großen Teil in der kognitiven, kulturell konditionierten Tätigkeit des Rezipierenden und findet in der Anwendung des prototypengestützten Schemas statt. Dabei werden, innerhalb einer Toleranzgrenze, fehlende oder nicht explizit vorhandene Narreme, wie z. B. im Falle der Sammelkarten bzw. der Actionfiguren, rezipientenseitig ergänzt (vgl. ebd., 52). Diese Bestimmungen basieren auf einem sowohl weiten Medien- als auch Textbegriff: Mit Wolf bedeutet Medium »nicht vorrangig einen bloß technischmateriell definierten Übertragungskanal von Informationen [...], sondern ein konventionell als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv. Dieses ist in erster Linie durch einen spezifischen [...] Gebrauch eines semiotischen Systems [...], in manchen Fällen auch durch die Kombination mehrerer Zeichensysteme [...] zur Übertragung kultureller Inhalte gekennzeichnet und erst in zweiter Linie [...] durch bestimmte technische Medien bzw. Kommunikationsdispositive« (ebd., 39). Ein Text wird in diesem Zusammenhang, unter Rückgriff auf die dem Wort zugrundeliegende etymologische Bedeutung, als Gewebe, als Struktur in verschiedenen Medien definiert: Ein Text kann damit nicht nur schriftsprachliche Äußerungen umfassen, sondern jeden zeichenhaften Komplex von Elementen
bezeichnen, die zu einem sinnenthaltenen Zusammenhang verflochten sind (vgl. Köster 2000, 504; vgl. Staiger 2007, 103). Zu einem Medienverbund kann ein entsprechender Verbund aus Merchandising-Produkten gehören. Ein erfolgreiches Merchandising entsteht, wenn der originäre Text eines Medienverbundes ein hohes Vermarktungspotential aufweist. Bernie Loomis, Präsident von Kenner Products, dem wichtigsten Hersteller von Star Wars-Spielzeug, prägte hierfür Ende der 1970er Jahre den Begriff »toyetic« (Hengst 2007, 25). Dieser drückt aus, dass ein narrativer Text so konzipiert ist, dass er »zur spielerischen Inszenierung unter Einsatz von viel Spielzeug« (ebd.) einlädt. Dan Fleming beschreibt die Faktoren, die Star Wars-toyetic machen, wie folgt: »The imaginary universe was in many ways comfortably familiar: there were spaceships like fighter aircraft, animals that were either monsters or cuddly friends, robots which were perennially popular toys, and a clear thematic core which kept it all organised. That core can be described, somewhat clumsily perhaps, as the theme of context-bound self-realisation against the odds, the contexts being a ›rainbow coalition‹ of different interests (human and non-human) and an environment of useful but subservient technology [...].« (Fleming 1996, 94)
Merchandising-Produkte tragen – wie die Medientexte – zur ästhetischen und narrativen Ausgestaltung
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I Grundlagen
der Verbundsysteme bei und beeinflussen die Rezeption: Ein Kind nimmt den Roman als originären Text in einem Medienverbund anders wahr, wenn es die filmische Adaption gesehen hat – die Rezeption verändert sich aber ebenso, wenn es mit dem Protagonisten als Actionfigur gespielt hat.
3.3 Historische Entwicklung Verbundsysteme aus Erzählungen in unterschiedlichen Medien und Produkten sind keine aktuellen Phänomene: Eine der ersten frühen Formen entsteht mit dem Fortsetzungsroman Little Lord Fauntleroy von Frances Hodgson Burnett bereits in den 1880er Jahren in den Vereinigten Staaten. Die Erzählung wird von November 1885 bis Oktober 1886 in der Kinderzeitschrift St. Nichols veröffentlicht, einen Monat später erscheint sie als Roman in Buchform. Nachdem Burnett Anfang 1888 erfolgreich gegen nicht autorisierte Fassungen ihrer Erzählung für die Bühne klagt, schreibt sie selbst eine solche Adaption, die bereits im Mai in London, im Dezember auf dem New Yorker Broadway Premieren feiert. 1914 erscheint die erste Verfilmung von F. Martin Thornton als Stummfilm in Kinemacolor; die erfolgreichste ist jedoch Jack Golds Adaption aus dem Jahr 1980, die jedes Jahr zu Weihnachten im deutschen Fernsehen gezeigt wird. Die letzte Verfilmung entsteht 2012 als Die kleine Lady: Der Film, bei dem sich Gernot Roll für Regie und Kamera verantwortlich zeichnet, spielt in Österreich statt in England – mit weiblichen statt männlichen Protagonisten. Abgesehen von Zeitschriften- und Buchroman sowie den Theaterfassungen und zahlreichen Verfilmungen besteht der Medienverbund ebenfalls aus Musicals, zudem aus Hörspielen und -büchern. Dazu umfasst der Verbund bereits früh Produkte, zu denen Spielkarten oder Schokolade ebenso gehören wie die »FauntleroyMode« für Jungen, die Kinder mit Samtjacken und Spitzkragen bis ins 20. Jahrhundert tragen (vgl. Gannon 1997). In Deutschland entsteht 1949 mit der Figur Mecki in der Programmzeitschrift HörZu ein umfassender Medien- und Produktverbund (vgl. Kümmerling-Meibauer 2007, 17). Die Wurzeln des anthropomorphisierten Igels reichen dabei bis zum Märchen Der Hase und der Igel zurück, welches die Gebrüder Grimm 1843 in der 5. Auflage ihrer Kinder- und Hausmärchen mit der Nummer 187 veröffentlichen. Die filmische Adaption dieses Märchens als Puppenfilm durch die Gebrüder Paul, Ferdinand und Hermann Diehl im Jahr 1938 lie-
fert die visuelle Vorlage für den Igel als Maskottchen der HörZu, das seinen ersten Auftritt 1949 auf dem Titelblatt der Zeitschrift hat. Zunächst nur vorgesehen als kritischer Kommentator des Programms in einzelnen Illustrationen, entwickelt sich der »Redaktions-Igel« zu einer eigenständigen narrativen Figur, deren Abenteuer und Erlebnisse von 1951 bis heute in Comicstrips, von 1952 bis 1964 in Bilderbüchern erzählt wird. Dazu drehen die Gebrüder Diehl von 1951 bis 1958 verschiedene Puppenfilme, in denen Mecki als Hauptfigur auftritt. 1995 entsteht eine Zeichentrickserie in 13 Episoden mit dem Titel Mecki und seine Freunde, Regie führt im Auftrag des Bayrischen Rundfunks Béla Ternovszky. Nicht nur diese Serie wird von einem breiten Produktkatalog begleitet, bereits 1951 bringt das Plüschtier-Unternehmen Steiff eine Mecki-Puppe auf den Markt, die in den folgenden zwei Jahren zu einer Igel-Kernfamilie komplettiert wird. Die Entwicklung des Medienverbunds als System kommerzieller Kinderkultur erfolgt parallel zu Entwicklungslinien der (Kinder-)Mediengeschichte, die einerseits durch die Produktion und Distribution von Medien und Spielzeug durch Verlage und Konzerne wie u. a. Walt Disney, Mattel, Lego oder Playmobil, andererseits durch die Rezeption gekennzeichnet sind. Eine derartige Entwicklungslinie läutet beispielsweise die Einführung von Kompaktkassette und Pocket Recorder zu Beginn der 1960er Jahre ein; ab Mitte der 1970er Jahre bestimmen Hörspiele auf Kassetten wie z. B. Fünf Freunde (Europa seit 1975) und Die drei ??? (Europa seit 1979) mehr und mehr die Verbundsysteme der Bundesrepublik (s. Kap. 31): 1970 liegt der Umsatz bei einer Million, bis 1977 steigt er auf 17 Millionen, bis 1986 auf 25 Millionen Kindertonträger (vgl. Stenzel 2008, 444). In diese Zeit fällt auch die Entwicklung des Fernsehens als uneingeschränktes Leitmedium (s. Kap. 28), zunehmend formen Kinderserien japanischer und USamerikanischer Provenienz die Medienverbünde. Die Adaptionen von Heidi (dt. Erstausstrahlung 1977– 1978 ZDF) und Biene Maja (dt. Erstausstrahlung 1976–1977 ZDF) sind bis heute erfolgreich und kennzeichnen paradigmatisch die Entwicklung der Verbundsysteme zu globalen kommerziellen Superwaren in dieser Zeit. In den 1980er und 1990er Jahren wird das Angebot an Medientexten vielfältiger und umfangreicher; damit verändern sich auch die originären Texte: Sind es vorher vor allem Romane (s. Kap. 19 und 20), Bilderbücher (s. Kap. 24) und Comics (s. Kap. 25) für Kinder und Jugendliche, finden sich nun auch Hörspiele wie
3 Medien- und Produktverbund
z. B. Jan Tenner (Kiosk/Kiddinx 1980–1989), Kinderfernsehserien wie Doctor Snuggles (dt. Erstausstrahlung 1981 ARD) oder Captain Planet (dt. Erstausstrahlung ab 1992 RTLplus) sowie beginnend Computerspiele (s. Kap. 29) wie Super Mario Bros. (Nintendo 1985) oder Street Fighter (Capcom 1987). Dazu steigt der Anteil an Spielzeug wie Masters of the Universe (Mattel 1982) oder Transformers (Hasbro 1984) als Ausgang von Verbundsystemen. Seit 1995 fungiert das World Wide Web mit seinen Homepages als Organisations- und Vermarktungszentrale der Medienverbünde. Mit den Social-MediaPlattformen des Web 2.0 werden die Verbünde seit 2000 maßgeblich um Partizipationsaspekte ergänzt, die zunächst durch die Rezipierenden selbst (z. B. MuggleNet 1999), später durch die Produzenten institutionalisiert generiert werden (z. B. Pottermore 2012). Abgesehen davon lassen sich weitere Tendenzen nennen, die als Bewegungen gegenwärtigen Verbundsystemen eingeschrieben sind: Diese führen als Kreisbewegungen (vgl. Abb. 3.2) vom Narrativen zum Ludischen und vice versa sowie – damit verbunden – vom Fiktionalen zum Realen, wie als Augmented Reality im Falle von Pokémon Go (Niantic 2016).
3.4 Typologie Die Struktur des ersten Medienverbundtyps ist linear und hierarchisch auf den Originärtext aufgebaut: Im Medienverbund des Grüffelo steht in intramedialer Beziehung zum Originärtext des Bilderbuchs aus dem Jahr 1999 das zu den gestalterischen Sondertypen des Bilderbuchs gehörende Grüffelo-Fühlbilderbuch (The Gruffalo. Touch and Feel Book, engl. 2011; dt. 2012); in intermedialer, die Mediengrenzen des Bilderbuchs überschreitender Relation stellen sich Film, Hörspiel und Theaterstück dar. Analog zu einem Rhizom als Wurzelsystem, das keine Haupt-
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wurzel hat und in dem zwischen allen Knoten Verbindungen hergestellt werden, wird in einem Medienverbund im Zuge seiner Entwicklung immer weniger auf den originären Text zurückgegriffen, weist die Organisation des Verbunds keine vertikale, streng hierarchische Struktur mehr auf. Der Rhizombegriff stammt aus der Botanik; er geht zurück auf das heute als klassisch geltende, zentrale Konzept des Poststrukturalismus und der Postmoderne, das Gilles Deleuze und Félix Guattari Ende der 1970er Jahre entwickelt haben. Danach kann ein Rhizom »die verschiedensten Formen annehmen, von der Verästelung und Ausbreitung nach allen Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Knollen und Knötchen« (Deleuze/Guattari 1977, 11). Das Rhizom ist durch verschiedene Eigenschaften gekennzeichnet, wie die Prinzipien der Konnexion und Heterogenität, nach denen jeder »beliebiger Punkt eines Rhizoms [...] mit jedem anderen verbunden werden [kann und muss]« (ebd.): Die Einzelmedien eines Verbunds entstehen aus der Variation der konstellativ strukturierten, (narrativen) Merkmale und sind in intra- und/oder intermedialen Relationen miteinander verbunden. Ein weiteres Merkmal des Rhizoms, das hier gleichfalls Bedeutung hat, ist das Prinzip des asignifikanten Bruchs: »Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden; es wuchert entlang seinen eigenen oder anderen Linien weiter« (Deleuze/ Guattari 1977, 16). Im Grüffelo-Medienverbund kann die Bilderbuchreihe Mein erster Grüffelo (My first Gruffalo, engl. 2011) aus dem Jahr 2012 als Beispiel für eine solche Entwicklung dienen: Die vier Pappbücher sind Erste-Konzepte-Bücher, mit denen Kinder ab zwölf Monaten Farben, Gegensätze, Geräusche und Zahlen lernen. Mit dem Originärtext, der Bilderbucherzählung in Reimform über eine kleine mutige und kluge Maus, die als Protagonistin den ihr Leben bedrohenden Grüffelo überlistet, haben diese Bücher
Abb. 3.2 Kreisbewegung der (Kinder-)Medien entwicklung
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I Grundlagen
wenig gemein. Nur die Figuren sind dem Bilderbuch von 1999 entnommen; sie dienen der bloßen Illustration der Sachverhalte. Der zweite Typ ist hingegen von Beginn an rhizomatisch strukturiert, ist alinear und ahierarchisch organisiert, wie z. B. bei Magic – The Gathering, einem 1993 erschienenem Sammelkartenspiel von Richard Garfield. In dem Spiel übernehmen zwei oder mehrere Spieler die Rollen von sich duellierenden Zauberern; diese reisen, so die Spielgeschichte, als sogenannte Planeswalker durch die verschiedenen phantastischen Welten eines Multiversums, wo sie ihr Wissen in Form von u. a. Zaubersprüchen erweitern. Die Karten, mit denen sich die Spieler messen, repräsentieren ihr Wissen als Weltenwanderer. Nach der ersten Edition der Sammelkarten werden in kurzer zeitlicher Abfolge immer neue Editionen und Erweiterungen an Sets veröffentlicht, die ständige Anpassungen der Spielregeln erfordern; bis heute sind 14.000 verschiedene Karten erschienen, deren Organisation im Spiel rhizomatischen Prinzipien entsprechen. Den Editionen dieser Karten liegen dabei jeweils unterschiedliche Hintergrunderzählungen zugrunde, die sich – wie die Karten – aus der Storyworld speisen. Bereits ein Jahr nach Veröffentlichung von Magic – The Gathering dienen diese Hintergrunderzählungen als Grundlage für einen Roman. Mittlerweile umfasst das Verbundsystem nicht nur mehr als 30 dieser Romane, sondern auch Comics oder Computerspiele, dazu Actionfiguren und anderes Spielzeug (vgl. Crutcher 2017). Literatur
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Tobias Kurwinkel
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I Grundlagen
4 Buch- und Medienmarkt. Produktion, Distribution und Rezeption 4.1 Einleitung In diesem Beitrag werden die Bedingungen der Produktion, Distribution und Rezeption von Kinder- und Jugendbüchern bzw. in Verbundsystemen erscheinenden Kinder- und Jugendmedien vorgestellt. Üblicherweise liegen Buchmarkt-, Buchhandels- und Verlagsgeschichte im Arbeits- und Aufgabenfeld der Buchwissenschaft (vgl. Füssel/Norrick-Rühl 2014, 55–67). Es fehlt bis heute sowohl an Einzelstudien als auch an Überblicksliteratur: Zwar gibt es in den Philologien zunehmend eine Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendliteratur, aber die Kinder- und Jugendbuchverlage werden als Akteure im kinderliterarischen Kräftefeld selten in den Blick genommen. Gerade bei den populären Lesestoffen für Kindertaschenbuchreihen, Serien, Comics, usw. gestaltet sich die Literaturlage schwierig, weil hier sowohl der Inhalt als auch die Form lange Zeit als minderwertig eingestuft wurden. Während die Buchwissenschaft traditionell eine historisch-hermeneutische Herangehensweise wählt, können sozialwissenschaftliche Methoden für eine Betrachtung des aktuellen Buchmarkts fruchtbar sein. Im Rahmen von Lese-, Leser- und Buchmarktforschung kommt dem Kinder- und Jugendbuchmarkt der Gegenwart viel Aufmerksamkeit zu. Dabei sind zum Beispiel die Kinder- und Jugendbuchstudien des Börsenvereins in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen e. V. (avj) und der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zu nennen. 2010 ist zudem eine unabhängige, empirische Studie erschienen, in der die Kommunikationswissenschaftlerin Bärbel G. Renner den Kinderbuchmarkt aus Marketing-Sicht analysierte (vgl. Renner 2011). Dieses vorhandene Material zum Kinder- und Jugendbuchmarkt kann und sollte als Grundlage für weitere Forschungsvorhaben dienen, denn sowohl aus historischer als auch aktueller Perspektive ist noch viel Forschungspotential vorhanden. Die Buchwissenschaft beschäftigt sich mit der Bereitstellungsqualität, den Organisationen, den Institutionen, den Lesern und dem Lesen sowie mit den kommunikativen Leistungen von Büchern (vgl. Rautenberg 2015, 100–101). Auf den Kinder- und Jugendbuchmarkt angewendet, bedeutet das, dass folgende Kategorien relevant sind:
• Materialität der Bücher, • Unternehmen (Verlage, Buchhandlungen, Bibliotheken), • Akteure (Autoren, Illustratoren, Lektoren, etc.), • politische und rechtliche Rahmenbedingungen (Preisbindung, ermäßigter Mehrwertsteuersatz, Jugendschutzgesetz, Urheberrecht), • Kinder als Rezipienten, • Erwachsene als mögliche Rezipienten (Sammler, Leser; s. Kap. 2) und Gatekeeper (engl. Pförtner) sowie • Bedeutung und Nutzen von Kinder- und Jugendbüchern für Individuum und Gesellschaft als Kultur- und Sozialisationsinstanz. Diese Kategorien lassen sich auch für Kinder- und Jugendmedien allgemein erweitern, womit sich ein breites Feld aufspannt, das in diesem Überblicksbeitrag umrissen werden soll. Dieser Beitrag gliedert sich in eine kurze Begriffsdefinition zur Abgrenzung von literaturwissenschaftlichen Fragestellungen; es folgt eine historische Betrachtung des Kinder- und Jugendmedienmarkts. Im dritten Teil wird eine Typologisierung in drei Schritten vorgenommen: Produktion, Distribution, Rezeption.
4.2 Begriffsdefinitionen Wenn der Buch- und Medienmarkt im Fokus steht, geht es explizit nicht darum, literaturwissenschaftliche Kategorisierungen vorzunehmen und Inhalte ästhetisch-literarisch oder -künstlerisch zu werten. Der Kinder- und Jugendbuchmarkt ist als »distributives Basissystem [anzusehen], das als relativ eigenständiger Marktsektor seit dem 18. Jahrhundert anzutreffen ist und das sich in der Gegenwart zu einem Kinderund Jugendbuch- und -medienmarkt ausgeweitet hat« (Ewers 2012, 119). In diesem Kontext sind einerseits Studien zu einschlägigen Verlagen und deren Programmen (Produktion) auszuwerten sowie andererseits Buchhandel, Leseförderung und Bildungsinstitutionen (Distribution) in den Blick zu nehmen, bevor die Zielgruppen dieses speziellen Buchmarktsegments betrachtet werden. Insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender medialer Verflechtungen muss das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen im Kontext weiterer medialer und nicht-medialer Tätigkeiten reflektiert werden (Rezeption). Zur Erfassung des Buch- und Medienmarkts gibt es keine Supertheorie, aber einige Modelle sowie Theorien aus der Soziologie und Literaturwissenschaft, die
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_4
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Abb. 4.1 Der Kommunikationszirkel des digitalen Publizierens (Ray Murray/Squires)
sich zur Perspektivierung anbieten: etwa Pierre Bourdieus literarisches Feld, Michel Foucaults Diskurstheorie oder Niklas Luhmanns Systemtheorie. Einen Überblick über die Akteure im Markt bietet der ›Digital Publishing Communications Circuit‹ (Squires/Ray Murray 2012; vgl. Norrick-Rühl 2020 für eine Anwendung auf den deutschen Bilderbuchmarkt).
4.3 Historische Entwicklungen Im Auftrag der Historischen Kommission des Börsenvereins des deutschen Buchhandels wird aktuell eine mehrbändige Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert erarbeitet; die Bände zur Kaiserzeit und zur Weimarer Republik sind bereits erschienen, es folgen in den nächsten Jahren Bände zur Buchhandelsgeschichte des Exils, des Dritten Reiches, der Besatzungszeit sowie zu BRD und DDR. In diesen Handbüchern werden jeweils auch Kinder- und Jugendbuchverlage berücksichtigt (vgl. Dettmar/Ewers/ Liebert u. a. 2003 und Karrenbrock 2012 und Vogel 2002). Damit wird eine wichtige Forschungslücke geschlossen. Aus markthistorischer Perspektive gilt es, der grundsätzlichen Periodisierung, die diesem Handbuch zugrunde liegt, einige weitere Aspekte hinzuzufügen (s. Kap. 7 und 8). Nach dem Zweiten Weltkrieg,
noch vor Gründung der BRD und DDR, waren die Gesellschaftsverhältnisse geprägt von Not, Armut, Flüchtlingselend und Arbeitslosigkeit. Durch den Krieg war der Buchmarkt im Prinzip zum Erliegen gekommen; das Verlags- und Distributionssystem musste zu erheblichen Teilen wiederaufgebaut werden. Wie der gesamte Buchmarkt unterstand die Verlagsproduktion im Bereich Kinder- und Jugendliteratur den alliierten Kontrollbehörden (Lizenzvergabe an Verlage und Autoren, Alliiertenrecht auf Zensur). Durch den Mangel an aktiven Verlagen und die strikte Lizenzvergabe gab es wenig Konkurrenzdruck; es handelte sich mindestens bis zur Währungsreform 1948 um einen Verkäufermarkt. Nach 1948 war zu beobachten, dass die Ansprüche der Leser höher wurden und das Geld knapper. Käufer stellten höhere Anforderungen an Ausstattung und Inhalte. Verlage in den westlichen Besatzungszonen griffen auf bereits erschienene und vermeintlich unproblematische Gattungen zurück, beispielsweise auf Tiergeschichten, (Kunst-)Märchen, Klassiker aus der Kaiserzeit sowie klassische Kinderbücher der Besatzungsmächte und auch neue Übersetzungen aus dem anglo-amerikanischen und französischen Raum. Insofern war die Tendenz zur Restauration einerseits inhaltlich motiviert, andererseits aber auch eine schnelle und günstige Entscheidung, um wieder auf den Markt zu treten. Der Rückgriff auf ältere Lizenzen funktionierte bereits in
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der Weimarer Republik mit Titeln aus der Kaiserzeit sehr gut – und die Strategie wird auch heute im Kinder- und Jugendbuchmarkt mit Erfolg gefahren. Immer wieder werden Titel wiederaufgelegt oder durch Jubiläen im Gespräch gehalten und damit vermarktet – auch mit Blick auf die (Groß-)Elterngeneration mit Nostalgiefaktor. Dies erklärt den lang andauernden Erfolg von inhaltlich längst überholten Mädchenbüchern wie der Trotzkopf-Serie (1885–1905). Diese Strategie sichert den Verlagen das Einkommen. Die Backlist war und ist in gewisser Weise aber auch die ›Visitenkarte des Verlags‹: bei Tessloff mit der bewährten Was-ist-Was-Reihe (ab 1961) liegt der Backlistanteil an der Produktion bei stolzen 70 %; bei Oetinger mit Astrid Lindgren, Paul Maar und anderen beliebten Klassikern bei rund 50 % (vgl. Bardola 2017, 28). Der Buch- und Medienmarkt folgte ab 1949 den Grundprinzipien des west- bzw. ostdeutschen Systems. In der DDR war er wie alle anderen Wirtschaftszweige einem staatlich gelenkten System der Planwirtschaft unterworfen. Kinder- und Jugendliteratur wurde beinahe ausschließlich vom Zentralverlag für Kinderliteratur, dem Kinderbuchverlag Berlin, bereitgestellt (in den 1980er Jahren entfielen auf ihn etwa 70 % der kinder- und jugendliterarischen Produktion, vgl. Wagner 2010, 31). Für junge Erwachsene ab 14 Jahren war der Verlag Neues Leben (1946 gegründet) zuständig, später auch der Verlag Junge Welt (1951 gegründet), u. a. mit den beliebten DDR-Comicfiguren, den Digedags (1955–1975). Dem Kinderbuchverlag wurde 1970 das »DDR-Zentrum für Kinderliteratur« angegliedert (vgl. zeitgenössisch Rabenstein 1973). Der Kinderbuchverlag wurde bereits 1949 gegründet und versorgte vom Pappbilderbuch und Minibilderbuch bis zum Jugendroman alle Altersgruppen mit staatlich sanktioniertem, sozialistischem Lesematerial – soweit möglich. Denn Bücher waren eine Mangelware und Kinderliteratur gehörte dauerhaft zur sogenannten überzeichneten Literatur: die Nachfrage war deutlich höher als das Angebot. In den 1970er und 1980er Jahren waren 70 bis 100 % aller Kinder- und Jugendbuchnovitäten überzeichnet, also schon bei Erscheinen nicht in der nachgefragten Menge lieferbar. Laut einer Stichprobe von 1971 galt dies besonders für Erstlesereihen und Kinderbuchserien (vgl. Löffler 2008, 20). Auch die Fachzeitschrift der DDR für Kinder- und Jugendliteratur, Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur, erschien im Kinderbuchverlag; ebenso die wissenschaftliche Reihe Studien zur Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Kaminski 1975). Einige weitere DDR-Verlage, die im Bereich der Kinder-
und Jugendliteratur tätig waren, wurden über die Jahre mit dem Kinderbuchverlag fusioniert, so der Alfred Holz Verlag, der Karl Nitzsche Verlag und der Postreiter Verlag Halle. In der Zeit zwischen 1949 und 1989 veröffentlichte der Kinderbuchverlag insgesamt 4804 Titel mit 260 Millionen Exemplaren. In der Folge war er von einigen Besitzerwechseln und Liquiditätsproblemen betroffen (vgl. Wagner 2010). 1991 wurde der LeiV Leipziger Kinderbuchverlag gegründet, der einige Lizenzen, so auch die beliebten Maulwurf-Bücher von Zdeněk Miler, bis heute führt. Seit 2002 ist der Kinderbuchverlag ein Imprint von Beltz & Gelberg und setzt ganz auf ›Ostalgie‹ mit Benno Pludra, Ingeborg Meyer-Rey usw. (s. Kap. 7). Der Verlag Neues Leben hat sich zwar nach 1990 mit dem Eulenspiegel Verlag und dem Verlag Das Neue Berlin zusammengeschlossen und wird als Imprint der Eulenspiegel Verlagsgruppe fortgeführt, allerdings ohne besonderen Bezug zum Jugendbuch. In den westlichen Besatzungszonen und dann ab 1949 in der BRD galt das Prinzip des Wiederaufbaus und für viele Verlage zunächst eine Restauration des Vorkriegszustands. Auch deswegen konnte sich erst in den 1950er Jahren eine eigenständige westdeutsche Kinder- und Jugendliteratur herausbilden. Der Wiederaufbau machte sich im Westen auch durch eine Institutionalisierungswelle bemerkbar: 1948 wurde die Internationale Jugendbibliothek in München gegründet (s. Kap. 11) und 1955 der Arbeitskreis für Jugendschrifttum (seit 1969: Arbeitskreis für Jugendliteratur). Der Deutsche Jugendbuchpreis wurde ab 1956 jährlich verliehen (seit 1981: Deutscher Jugendliteraturpreis). Durch die Bildungsexpansion Ende der 1950er Jahre und in die 1960er Jahre hinein verlängerte sich die jugendliche Lebensphase, worauf Verlage und andere Medienanbieter reagierten. So erschien ab 1956 die Jugendzeitschrift Bravo und Verlage kreierten eigene Angebote für Teenager, so wie die Franckh Reihe 20 für junge Leser (1963/64). In den 1970er und 1980er Jahren verlief der Paradigmenwechsel der Kinder- und Jugendliteratur (s. Kap. 7) parallel zu Umwälzungen im Buchmarkt. Eine zunehmende Kommerzialisierung der Literatur war feststellbar. Erstmals vollzogen sich in größerem Umfang Konzentrationsbewegungen im deutschsprachigen Raum, die der Buchbranche Anlass zur Sorge gaben – allen voran die Expansion von Holtzbrinck oder Bertelsmann. Im herkömmlichen Buchmarkt der 1970er Jahre war eine Titelexplosion zu beobachten: Die Zahl der produzierten Titel pro Jahr stieg zwischen 1977 und
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1980 um fast 40 % an. Besonders der Taschenbuchmarkt war dafür verantwortlich. Während 1970 erst 8,4 % der Titelproduktion Taschenbücher waren, stieg dieser Wert im Laufe der 1970er und 1980er Jahre auf ein Hoch von 18,1 % im Jahr 1988 – es folgte ein harter Verdrängungswettbewerb. Taschenbücher für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nahmen eine besondere Rolle auf dem Buchmarkt ein. Der Kinderund Jugendbuchmarkt galt in erster Linie als ein Markt, in dem meistens Erwachsene (Eltern, Großeltern, sonstige Verwandte) die betreffenden Bücher als Geschenke für junge Leser auswählen und erwerben (s. Kap. 4.4, Abschn. Rezeption). Da Taschenbücher nicht als repräsentatives Geschenk angesehen wurden, waren sie im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur immer mit Vorbehalten seitens der Verlage versehen. In den 1950er Jahren versuchten sich nur wenige traditionelle Kinder- und Jugendbuchverlage wie Herder (seit 1953), Oetinger, Benziger und Arena (seit 1958) an der Produktion von Kindertaschenbüchern. Der Großteil dieser Reihen wurde bald wieder eingestellt. Nach einer Stagnation Mitte der 1960er Jahre folgte ein Boom, bei dem nahezu zeitgleich zahlreiche wichtige Kinder- und Jugendbuchverlage wie zum Beispiel Otto Maier (heute Ravensburger) oder Ueberreuter den Einstieg in das Taschenbuchgeschäft versuchten. Bis zu den 1970er Jahren setzte sich das Taschenbuch immer weiter durch: 1972/73 war fast jedes zehnte Taschenbuch dem Sachgebiet ›Jugendschriften‹ zuzuordnen. Gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen kam es gut an, denn wenn sie die Kaufentscheidung selbst trafen, mussten die Buchpreise taschengeldfreundlich sein. Die volle Durchsetzung für Kinder war erreicht, als die heute etablierten deutschen Taschenbuchverlage wie dtv in den Markt einstiegen, so geschehen mit der Gründung von dtv junior im Jahr 1971. Dtv junior wurde als Reihe zur Zweitverwertung von Lizenzen ins Leben gerufen, aber es folgten in den 1970er und 1980er Jahren mit weiteren Reihengründungen wie rororo rotfuchs (ab 1972), Fischer FlickFlack (1974– 1977) sowie rororo panther und Fischer BOOT (1980–1992) Taschenbuchreihen für ältere Jugendliche, die sich durch Originalausgaben bzw. deutsche Erstausgaben profilierten (vgl. Norrick-Rühl 2014, 231–238 und 309–314). Im Zusammenhang mit der Studenten- und Kinderladenbewegung traten Ende der 1960er Jahre kleine, unabhängige Verlage und Initiativen auf den Markt, die alternative Titel und Distributionsstrukturen anboten. Es gab Kinderladen-interne Buch- und
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Verlagsprojekte wie die Rheinische KinderladenCoop (um 1970, Auflagen zu der Zeit ca. 500 Exemplare) oder Kollektivverlage wie den Weismann Verlag (gegründet 1970, Auflagen zu der Zeit maximal 5000 Exemplare). Letztere trugen mit ihren Experimenten maßgeblich zum Aufblühen der sogenannten antiautoritären Kinderliteratur bei, auch wenn keine großen Auflagen erreicht werden konnten. In größeren Verlagen, unter anderem bei Rowohlt in der Reihe rororo rotfuchs, kamen diese neuartigen Inhalte im Taschenbuch unter und konnten so einen deutlich erweiterten Leserkreis erreichen (Erstauflage ca. 20.000 Exemplaren); auch auf diese Weise wurde der Paradigmenwechsel der Literatur begünstigt (vgl. detaillierter Norrick-Rühl 2014). Interessant sind aus markttechnischer Perspektive auch die deutsch-deutschen Verlagsbeziehungen und innerdeutschen Lizenzen. Während westdeutsches Schriftgut in der DDR nicht erlaubt war und selbst Pixi-Bücher an der deutsch-deutschen Grenze konfisziert wurden (vgl. Geißler 2004), bemühten sich besonders in den 1970er Jahren linke und antiautoritäre Verlage und Reihen um die Vermittlung ostdeutscher Kinder- und Jugendliteratur in Westdeutschland, so beispielsweise mit den rotfuchs-Ausgaben von Martin Selber (vgl. Norrick-Rühl 2014, 160–162). Solche Bemühungen wurden sehr kontrovers diskutiert. Ein wichtiges Thema für die Buchbranche in den 1970er und 1980er Jahren war die zunehmende Medienkonkurrenz. In den 1970er Jahren begann die Kommerzialisierung der Vertonung von Texten für junge Zielgruppen; 1977 gab es bereits etwa 2000 verschiedene Titel auf verschiedenen Tonträgern (überwiegend Schallplatten, zunehmend aber auch weniger empfindliche Kassetten) (vgl. Rühr 2008, 21). Ganz unterschiedliche Akteure mischten in diesem Marktsegment mit, zum Beispiel Rowohlt mit poly rotfuchs, einer kritischen Hörplatten-Serie für Kinder, die sich allerdings gegen Hits wie Benjamin Blümchen (Kiosk/ Kiddinx seit 1977) oder Bibi Blocksberg (Kiosk/Kiddinx seit 1980) nicht durchsetzen konnte (vgl. Kurwinkel 2017b; s. Kap. 31). Außerdem machte sich die Konkurrenz durch Fernsehen und VHS in den 1970er und besonders in den 1980er Jahren bemerkbar. Farbfernsehen gab es bereits ab 1967, aber eine großflächige Verfügbarkeit war erst ab Ende der 1970er Jahre gewährleistet. Angebote für Kinder waren jedoch zu diesem Zeitpunkt durchaus vorhanden: das Sandmännchen etwa ab 1959, die Sesamstraße seit 1973 (seit 1978 mit deutschen Studiogeschichten). Anfang der 1980er Jahre kam der Videorecorder auf den Markt; 1985 hat-
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ten 23 % und 1990 48 % der Haushalte ein VHS-Gerät (vgl. Schildt/Siegfried 2009, 148). 1984 begann das duale System der öffentlich-rechtlichen und privaten Sender in Deutschland; in den 1980er Jahren startete ebenfalls das Kabelfernsehen (s. Kap. 28). In der Buchbranche wie in den Feuilletons wurde die Sorge geäußert, dass die neue Fernsehvielfalt zu einem Rückgang der Buch- und Lesekultur führen würde. Während eine eigenständige Jugendkultur sich als Teilkultur in der Gesellschaft bereits seit den späten 1950er Jahren etabliert hatte, blieb bis zu den 1970er Jahren eine Herausbildung einer eigenen Teilkultur der jüngeren Zielgruppen aus. Die sogenannte Kinderkultur (s. Kap. 1) etablierte sich erst nach 1970. Diese manifestierte sich nicht nur in Kinderbüchern, sondern auch im Kindertheater und in eigens für Kinder produzierten TV-Sendungen. So florierten erstmals aufeinander rekurrierende Kindermedien, Spielwaren und sonstige Konsumartikel als erste Ansätze von Medienverbünden. Der Kinder- und Jugendbuchmarkt bildete einen beträchtlichen Teil dieses Kindermedienmarkts und konnte sich in den 1970er Jahren neu positionieren. Dem inhaltlichen Umschwung und dem allgemeinen, wirtschaftlich nachweisbaren Aufschwung trug die Frankfurter Buchmesse 1978 Rechnung, indem sie den Themenschwerpunkt ›Kind und Buch‹ wählte. Das Messethema war von internationalen Initiativen und Veranstaltungen begleitet, zum Beispiel fand der 16. Kongress des International Board on Books for Young People (IBBY) in direktem Anschluss an die Messe in Würzburg statt. Auch wurde 1978 der Deutsche Jugendbuchpreis erstmalig im Rahmen der Frankfurter Buchmesse verliehen. Trotz des nachweisbaren Aufschwungs des Kinderund Jugendbuchmarkts diskutierten in der Branchenpresse der 1970er und 1980er Jahre Vertreter von Schulbuch- sowie Kinder- und Jugendbuchverlagen, wie sich der Geburtenrückgang (Stichwort: ›Pillenknick‹) auf die Absatzzahlen auswirken würde. Die Sorge war weit verbreitet, dass bei weniger Kindern im Haushalt weniger Bücher gekauft werden würden. Im Rückblick handelt es sich dabei um eine unbegründete Sorge, denn trotz sinkender oder stagnierender Geburtenrate ist der Kinder- und Jugendbuchmarkt heute erfolgreicher als je zuvor in der Geschichte der BRD. Diese Entwicklung zeichnete sich bereits Ende der 1980er Jahre ab. Auf die Buchhandelsstatistik Buch und Buchhandel in Zahlen (BuBiZ) blickend, kann seit der Wiedervereinigung von einer recht guten Vergleichbarkeit der
Daten ausgegangen werden. Daher beschränkt sich der Überblick über die Umsatzanteile auf die letzten 25 Jahre. In den 1990er Jahren lag der Anteil an Kinderund Jugendbüchern recht konstant bei 7 bis 9 % des Gesamtumsatzes der Branche. In den 2000er Jahren wuchs er beständig von 9 % im Jahr 2001 auf 15 % im Jahr 2010. Dieses beeindruckende Wachstum konnte in den folgenden Jahren nicht repliziert werden, aber die Zahlen blieben dennoch hoch. 2016 konnte wiederum ein neuer Zuwachs festgestellt werden auf 16,5 %, 2017 lag der Anteil zeitweise über 17 % (vgl. Hauck 2017, 23), insgesamt jedoch bei 16,3 % (BuBiZ 2018). 2018 belief sich der Anteil der Kinder- und Jugendbücher auf 16,6 % (BuBiZ 2019, 15). Besonders das Bilderbuch tat sich in den ersten neun Monaten des Jahres 2017 als Umsatzträger mit 20,8 % Anteil am Kinder- und Jugendbuchmarkt hervor (vgl. Hauck 2017, 23). 2018 machte es sogar 22,8 % des Umsatzes aus (BuBiZ 2019, 20). Diese Zahlen lassen sich dadurch erklären, dass insgesamt die Ausgaben für Kinder in Deutschland steigen und parallel in anderen Bereichen des Marktes Umsatzanteile zurückgehen. In den letzten rund 20 Jahren erlebte der Markt tiefgreifende Veränderungen durch mediale Entgrenzungen des Buches: Hörspiel/Hörbuch, Theaterstück (s. Kap. 30), Fernsehen und Film (vgl. dazu allgemeiner Möbius 2008), digitales Buch (E-Book, enhanced E-Book, App), Computerspiel (vgl. dazu allgemeiner Kepser 2008); seit 2012 führt die Frankfurter Buchmesse die Storydrive-Veranstaltungen durch, wo u. a. die Games- und Buchbranchen als ›Content Industries‹ zusammengeführt werden (s. Kap. 29). Sukzessive, gegen Ende des letzten Jahrtausends, schritt die Medienausstattung in den Haushalten mit Kindern voran. Heute finden sich in Haushalten mit Kindern nahezu flächendeckend Smartphones (»Handy/Smartphone«: 98 % der Haushalte mit 6- bis 13-Jährigen) und Laptops oder PCs mit Internetzugang (97 % der Haushalte mit 6- bis 13-Jährigen); Tablet-PCs sind in mehr als einem Viertel (28 %) der Haushalte mit 6- bis 13-Jährigen vorhanden (vgl. KIM-Studie 2016, 8). Vor allem ist seit 2000 eine Professionalisierung der Medienverbundvermarktung zu beobachten – bei erfolgreichen wie neu geplanten Titeln. Unter dem Begriff Medienverbund (engl. ›commercial supersystem‹ oder ›children’s global multimedia‹) wird ein System verstanden, das zahlreiche Einzelmedien in sich vereint, die alle auf einen originären Text, das Leitmedium, zurückgehen (s. Kap. 3). Neue Erscheinungsformen bedürfen besonderen Know-hows und besonderer Leistungen, die nicht ur-
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sprünglich im Buchverlag zu verorten sind. Es ist festzustellen, dass viel Bewegung in die ursprünglich starren Abläufe gekommen ist. Eindeutige Rollenzuweisungen (Autor, Verlag, Lektor, Buchhändler usw.) sind nicht mehr immer möglich; es entstehen neue Rollenbilder, Aufgaben und Kooperationen und Projekte werden häufig outgesourct. Verlage werden grundlegend umstrukturiert, um dem Wandel Rechnung zu tragen, oder es werden neue Abteilungen für Digitales gegründet, wie es bei Oetinger bis 2018 mit tigerbooks der Fall war (heute: ausgegliedert als StoryDOCKS GmbH). Das Paradebeispiel für einen Kinderbuchverlag, der das Prinzip des Medienverbunds verfolgt und unter einem Dach zahlreiche Produkte vereint, ist Coppenrath/Die Spiegelburg/Hölker mit Marken wie Prinzessin Lillifee, Käptn Sharky oder Felix der Hase. Die Ausgestaltung des Medienverbunds hängt auch eng mit Merchandising und der Schaffung von sogenannten ›Characters‹ zusammen. Über die Einzelmedien hinaus, die auf das Leitmedium zurückverweisen, werden Produkt- bzw. Erlebniswelten geschaffen, die in alle Bereiche des (Kinder-)Lebens übergreifen. Merchandising ist mehr als eine nebensächliche Vermarktungschance: »So entwickeln Verlage dem Zeitgeist entsprechende Projekte, die von Beginn an nicht nur auf die Vermarktung des Buchs abzielen.« (Böll 2010, 275). Merchandising kann als Lizenz vergeben oder in Eigenregie entwickelt werden, wobei Verlage häufig die buchnahe Verwertung (Hörbuch etc.) für sich behalten. Gleichzeitig spielen beim Merchandising und Medienverbund auch Longseller – besonders erfolgreiche Backlisttitel – eine wichtige Rolle. So werden Klassiker wie Eric Carles Die kleine Raupe Nimmersatt (The Very Hungry Caterpillar, 1969; Gerstenberg Verlag) seit Jahrzehnten in verschiedenen Formaten und mit zahllosen Merchandisingoptionen vertrieben (vgl. Raugust 2012). Viele Medienverbundprodukte stammen jedoch gar nicht aus dem Buchbereich, sondern bauen auf starken Spielzeugmarken auf – das betrifft Zeitschriften und Buchprodukte wie Lego Star Wars, Lego Ninjago, Playmobil Pink usw. Es wird häufig angenommen, dass der Bilderbuchmarkt gegenüber den Digitalisierungstendenzen ›immun‹ ist, da großformatige Bilderbücher nicht ohne Weiteres auf einem Handy- oder Tablet-Display reproduziert werden können. Dennoch werden zusätzlich zu analogen Printmedien zunehmend digitale Lesegeräte zur Leseerziehung herangezogen; dies spiegelt sich auch im Angebot der Verlage wider, die den Anschluss an ihre Zielgruppe(n) nicht verlieren wollen.
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Mittelgroße und große Verlage bieten mittlerweile häufig E-Book- oder App-Versionen ihrer Bilderbuchbestseller an, haben Abteilungen für digitale Strategien in ihre Geschäftsstruktur integriert usw. Noch lässt sich damit nicht viel Geld verdienen, denn die Entwicklungskosten für Apps sind sehr hoch, gleichzeitig ist die Preisbereitschaft der Kunden niedrig. Im Prinzip lohnen sich Apps für Verlage derzeit nur, wenn sie als Teil einer Gesamtmarkenstrategie innerhalb des Medienverbunds verrechnet werden, so zum Beispiel zu sehen bei Carlsen mit den Pixi-Apps, die Teil einer größeren Strategie zur Diversifikation der Marke Pixi sind (vgl. Norrick-Rühl/Vogel 2014, 127). Neben den Apps gibt es weitere Angebote wie digitale Lesestifte (marktführend: tiptoi von Ravensburger mit mittlerweile mehr als fünf Millionen verkauften Stiften) und Experimente im Bereich der Augmented Reality für Bilderbücher und Sachbücher. Hier hapert es allerdings noch bei der ›Usability‹: viele Kinder im Bilderbuchalter ermüden schnell und die Handhabung der Technik ist für sie kompliziert, wenn der richtige Abstand zwischen Mobilgerät und Buchseite eingehalten werden muss, ohne dabei die Kamera zu verdecken (vgl. Friedrich 2017). Die vorgestellten angereicherten Produkte haben gemein, dass sie das gedruckte Buch ins Zentrum rücken wollen, die Verlage damit an ihre Kernkompetenzen anknüpfen können und zudem auch der stationäre Buchhandel als wichtiger Vertriebspartner beteiligt sein kann. Während Kinderprodukte 2001 nur 4,8 % des Umsatzes für physische Tonträger und digitale Musikprodukte ausmachten, waren es 2017 knapp doppelt so viel mit 8,6 % (vgl. DMZ 2017). Hier gibt es ebenfalls neue Akteure; der Markt weist aktuell wieder ein großes Potential auf. Im Kinderbuchbereich verzeichnet das Start-Up Tonies ein enormes Wachstum; in etwa einem Jahr wurden laut Unternehmen bisher rund 70.000 Boxen und 500.000 Tonies verkauft (Tonies in Zahlen). Die Titel, die als Tonies verfügbar sind, lesen sich wie ein Who’s Who der deutschen und internationalen Medienverbünde: Kleiner Drache Kokosnuss, Grüffelo, Bobo Siebenschläfer, Ritter Rost, Die Olchis, Disney usw. Mittlerweile haben die Tonies sogar Einzug in öffentliche Bibliotheken gehalten. Zeitgleich gilt der Markt für Hörboxen als umkämpft (vgl. Vogt 2019). Während im Bilder- und Kinderbuch die besonders erfolgreichen Medienverbundtitel nicht zwingend aus dem Ausland kommen müssen, ist dies im Jugendbuch- und All-Age-Bereich (s. Kap. 2) eher typisch – spätestens seit Harry Potter (s. zu Potter aus
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Buchmarktperspektive Bak 2004, 153–162). Ausnahmen wie Kerstin Gier, Cornelia Funke und Kai Meyer bestätigen hier die Regel. Die fortgeschrittene Internationalisierung wird auch daran sichtbar, dass aus dem Englischen übersetzte Bücher erscheinen, die von angelsächsischen Autoren geschrieben worden sind, aber dort noch nicht veröffentlicht wurden und häufig noch gar keinen Verlag gefunden haben – ein interessanter Trend, der so auch im Erwachsenenbereich bekannt ist (vgl. Norrick-Rühl 2019 zum internationalen Buchmarkt allgemein). Resümierend kann konstatiert werden, dass die Entwicklung der letzten Jahre im Kinder- und Jugendbuch- und -medienmarkt von einer Kombination aus beeindruckendem Wachstum und Dynamisierung gekennzeichnet ist, die in einem ansonsten stagnierenden bzw. Verlust verzeichnenden Buch- und Medienmarkt eine starke Position einnimmt.
4.4 Typologien Die buchwissenschaftliche Forschung nähert sich dem Buchmarkt traditionell und etwas vereinfacht dreistufig: von der Produktion über die Distribution zur Rezeption. Auf diesen Ebenen lassen sich verschiedene Typologisierungen vornehmen. Auf der Ebene der Produktion können verschiedene Verlagstypen unterschieden werden; die Formen der Distribution differenzieren sich bedingt durch die Digitalisierung neu aus; die Rezeption lässt sich in verschiedene Leser- und Konsumentenkreise gliedern. Produktion Unter Produktion werden im Folgenden alle Schritte verstanden, die ein Text oder eine Buchidee vom Autor bis zum Verlag absolvieren muss oder kann. Dabei sind gerade im Kinder- und Jugendbuchmarkt verschiedene Pfade denkbar. Grundsätzlich kann man von einer Verlagsproduktion im Halbjahresrhythmus (Frühjahrs-/Herbstprogramm) ausgehen, auch wenn sich die Publikationsrhythmen teilweise beschleunigt haben. Um neue Titel (Erstauflagen/Novitäten) in der Verlagsvorschau rund sechs Monate vor Erscheinen bewerben zu können, ist häufig ein Produktionsvorlauf von zwei Jahren nötig. Wenn Titel aus der Backlist, also aus dem bestehenden Verlagsprogramm, neu aufgelegt werden, kann die Produktionsdauer deutlich kürzer ausfallen, wenn keine größeren Überarbeitungen vorgenommen werden. Im Kinder- und Ju-
gendbuchmarkt gibt es eine Vielzahl von Long- oder Steadysellern, die erfolgreiche Verlage prägen und finanziell absichern, z. B. die Bücher von James Krüss oder Astrid Lindgren bei Oetinger, Michael Ende, Max Kruse und Otfried Preußler bei Thienemann. Es sei an dieser Stelle aber auch darauf verwiesen, dass dem Buch häufig ein Doppelcharakter als Wirtschaftsund Kulturgut zugesprochen wird – danach handelt es sich um eine geistige Ware, die nicht nur ökonomischen Erwägungen unterworfen sein sollte. »Kinder- und Jugendbücher sind für den Buchmarkt nach der Belletristik das wichtigste Standbein« (BuBiz 2019, 20). Die Warengruppe wurde sogar schon als »Hoffnungsträger[]« der Branche bezeichnet (BuBiZ 2016, 19); konstant erwirtschaftet das Kinder- und Jugendbuch seit einigen Jahren etwa 16 bis 17 % des Gesamtumsatzes im Buchhandel. Mit 8752 Titeln sind im Jahr 2017 geringfügig weniger Kinderund Jugendbuch-Novitäten erschienen als noch im Jahr zuvor (2016: 8961; 2015: 9081). 2018 steigerte sich die Titelanzahl jedoch wieder auf 8807 Titel (BuBiZ 2019, 85). Diese rund 9000 Titel verteilen sich auf verschiedene Untergruppen der Hauptwarengruppe 2 ›Kinder- und Jugendbücher‹ aus der Warengruppensystematik des Börsenvereins, die als »Grundlage für alle Statistiken über die wirtschaftliche Entwicklung einzelner Segmente im Buchhandel« dient (Warengruppensystematik neu, kurz WGSneu 2006, gültig seit Januar 2007). Die Zuweisung der Warengruppe erfolgt durch die Meldung des Verlags – es handelt sich hierbei also jeweils um spezifische Kinder- und Jugendbücher bzw. zum Teil auch um sogenannte AllAge-Titel. Titel aus der Warengruppe Belletristik, die auch oder sogar überwiegend von Jugendlichen gelesen werden (z. B. der Bestseller Tschick (2010) von Wolfgang Herrndorf), werden in dieser Statistik folglich nicht erfasst. Unterschieden werden in der Warengruppe 2 acht Segmente: 1. Bilderbücher; 2. Vorlesebücher, Märchen, Sagen, Reime, Lieder; 3. Erstlesealter, Vorschulalter; 4. Kinderbücher bis 11 Jahre; 5. Jugendbücher ab 12 Jahre; 6. Biographien; 7. Sachbücher/Sachbilderbücher; 8. Spielen, Lernen. Diese sind jedoch nicht trennscharf und es ist bei darauf basierenden Statistiken zu bedenken, dass die Zuordnung zu den Warengruppen und Segmenten von den Verlagen vorgenommen wird. Gewichtet nach den Umsatzanteilen innerhalb dieser Warengruppe
4 Buch- und Medienmarkt. Produktion, Distribution und Rezeption
ergibt sich, dass die Kinderbücher bis 11 Jahre seit Jahren konstant vorne liegen (2016: 27,4 %; 2018: 27,8 %). Je nach Jahr sind die Kinderbücher bis 11 Jahre gefolgt von den Jugendbüchern ab 12 Jahren (2016: 21,0 %; 2018: 16,6 %) oder den Bilderbüchern (2016: 19,6 %; 2018: 22,8 %). Insbesondere die Bilderbücher konnten in den vergangenen Jahren leichte Zuwächse verzeichnen wie auch der Bereich Spielen, Lernen (2016: 10,5 %; der Malbuchtrend wirkt sich hier entsprechend aus; 2018: 10,4 %) sowie Sachbücher/Sachbilderbücher (2016: 9,3 %; 2018: 10,9 %). Biographien sind mit jeweils knapp über 0 % eine Randerscheinung im Kinder- und Jugendbuchmarkt (vgl. BuBiZ 2017 und BuBiZ 2019). Bei den genannten Umsatzzahlen ist jedoch zu berücksichtigen, dass sie sich maßgeblich auf die Produktion traditioneller Verlagsunternehmen beziehen, die in der Branchenorganisation, dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels, organisiert sind. Das heißt, Selfpublishing etc. wird in den Zahlen nicht abgebildet. Um zunächst bei den Autoren zu bleiben: deren Rolle hat sich deutlich gewandelt und die Erwartungen an sie sind gestiegen. Sie sind sehr aktiv an der Vermarktung ihrer Texte beteiligt – durch Lesungen, Auftritte auf Messen und Nutzung der traditionellen (Massen-)Medien einerseits und der sozialen Medien andererseits. Ein prominentes Beispiel ist J. K. Rowling, die über Twitter ihre Popularität und ihre Charaktere auch für politische und soziale Zwecke einsetzt (vgl. @jk_rowling). Claire Squires und Ray Murray charakterisieren diesen neuen Typ von Akteur als ›author-promoter‹ (vgl. Squires/Murray 2012, 5). Zum Autor als Marke sowie zur Autorinszenierung ist in den letzten Jahren verstärkt publiziert worden; die Inszenierung von Kinder- und Jugendbuchautoren ist eine Forschungslücke. Vor dem Marketing von und für Autoren steht die Aufnahme eines Titels in ein Verlagsprogramm. Natürlich gibt es noch den traditionellen ersten Schritt der Kontaktaufnahme, das heißt, ein Autor schickt unverlangt ein fertiges Manuskript an einen Verlag. Die Erfolgschancen, das heißt die Möglichkeit, dass aus einem solchen Manuskript tatsächlich ein Buch wird, sind jedoch verschwindend gering. Viele Verlage weisen mittlerweile darauf hin, dass unverlangt eingesandte Manuskripte gar nicht geprüft werden. Wie im Erwachsenenbereich üblich, arbeiten auch im Kinder- und Jugendbuch viele Autoren mit Literaturagenturen zusammen, die ihre Rechte vertreten und die Werke an geeignete Verlage vermitteln. Im Bereich der Kindersach- und der Erstlesebücher ist der Weg häufig
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anders herum: Verlage sprechen Autoren und Illustratoren an, um Buchideen mit ihnen zu realisieren. Da die Konkurrenz im traditionellen Verlagswesen hart ist, und die Selektion sehr streng, gab es schon immer Bestrebungen seitens der Autoren, ihre Werke unter Umgehung von traditionellen Verlagen herzustellen und zu vertreiben (Selfpublishing). Die Markteintrittskosten für Autoren sind stark gesunken und es gibt zahlreiche Internetplattformen für Print-on- Demand (POD) oder auch reine Online-Publikation, auch im Kinder- und Jugendbuchmarkt. Wie im gesamten Buchmarkt spielt Amazon bei diesem Umbruch eine zentrale Rolle mit Kindle Direct Publishing bzw. Kindle Kids Book Creator. Das Angebot ist unüberschaubar; zuverlässige Statistiken existieren nicht. Der Vertrieb ist zwar nach der Online-Veröffentlichung für die Produkte theoretisch gewährleistet, aber die Auffindbarkeit bleibt eine Herausforderung. Vieles, was durch Selfpublishing entsteht, bleibt im Verborgenen (vgl. Fetzer 2015b, 365). Große Erfolge – wie die All-Age-Romane von Amanda Hocking, die zunächst über Amazon veröffentlicht und später von RandomHouse übernommen wurden (auf Deutsch seit 2011 bei cbt erschienen) – sind dabei die Ausnahme. Manchmal entstehen aber auch Perlen: Nischenprodukte, die in den etablierten Verlagen keinen Platz gefunden hätten, dennoch aber eine wichtige Ergänzung für den Markt darstellen. Zum Beispiel gibt es zum Thema Regenbogenfamilien in Deutschland bisher nur sehr wenige Bilderbücher (vgl. Schumacher 2018); die Mehrzahl der erhältlichen Titel ist durch Selfpublishing entstanden. Die Übernahme durch einen etablierten Verlag wird von vielen Autoren als ›Ritterschlag‹ empfunden. Ein Beispiel dafür stellt Christopher Paolinis Eragon- bzw. Inheritance-Reihe (engl. 2003–2011, dt. 2004–2011) dar: Zunächst hatten die Eltern des Autors das erste Buch der Tetralogie in ihrem Familienverlag publiziert, bevor der US-amerikanische Verlag Alfred A. Knopf – ein RandomHouse-Imprint, also kein rechtlich selbständiger Verlag, sondern eine Marke innerhalb des Dachverlags (vgl. Fetzer 2015a) – die Rechte daran sowie an den folgenden Bänden kaufte. In Deutschland erscheint die Eragon-Reihe bei cbj (ebenfalls ein RandomHouseImprint). Für Verlage kann die Übernahme von Selfpublishing-Titeln durchaus interessant sein, weil sie bereits eine entsprechende Fan-Gemeinde aufweisen können und somit ihr Potential besser abschätzbar ist. Ein anderes Phänomen, das gerade im Jugendbuch- und All-Age-Bereich weite Kreise zieht, ist Fan Fiction. Begeisterte Leser greifen selbst zur Tastatur
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I Grundlagen
und lassen ihre Lieblingshelden weiterleben, anders leben, oder rücken marginale Charaktere in den Vordergrund und schreiben ihre Lieblingsgeschichten an anderer Stelle weiter. Das ist literaturwissenschaftlich interessant; es kann aber auch lukrativ für die Fan Fiction-Autoren und zugleich ein Ärgernis oder ein Kompliment für die Autoren der Ursprungstexte sein. So hat Rowling über ihre Literaturagentur und Anwälte verlauten lassen, dass sie nichts gegen »innocent fan fiction written by genuine Harry Potter fans« habe, wohl aber gegen Veröffentlichungen vorgehen werde, die ihre Figuren, Plots und Schauplätze als Ausgangspunkt für erotische und rassistische Inhalte nehmen (Tresca 2013, 36). Ihre Website http://www. pottermore.com kann neben der offensichtlichen ›author-promoter‹-Funktion auch als Versuch gedeutet werden, einen kontrollierbaren, geschützten Raum im Internet zu schaffen, in dem sich (minderjährige) Fans über die Bücher austauschen können (vgl. Peters 2014). Bei Fan Fiction spielen Online-Plattformen zur Verbreitung der Texte eine große Rolle, zum Beispiel Wattpad. Wichtig ist hierbei, dass diese Plattformen auch einen Austausch zwischen den Autoren und Lesern ermöglichen. Eine weitere interessante Entwicklung, die neue Formen der Autorschaft und neuartige Projekte erlaubt, sind Online-Scouting-Netzwerke der Verlage. 2014 startete das Experiment Oetinger34 des traditionsreichen Oetinger Verlags. Hier erarbeiteten mit einer eigens programmierten Software (Weißraum) Autoren, Illustratoren und Junior-Lektoren Projekte, die nach Fertigstellung eines Entwurfs freigeschaltet wurden und dann von Nutzern kommentiert und bewertet werden konnten. Aus diesen Titeln wählte das traditionelle Lektorat Projekte zur Realisierung aus; dabei war die Popularität ein wichtiges, aber nicht das wichtigste Selektionskriterium. Inzwischen ist Oetinger34 für weitere Projekte geschlossen und auch die Nachfolgeplattform StoryWunder wurde mittlerweile geschlossen. StoryWunder arbeitete nach einem ähnlichen Prinzip wie Oetinger34, war aber eine neue Plattform als Kooperation mehrerer, kleiner wie großer Verlage, darunter auch Kinder- und JugendbuchVerlage. Dahinter stand die ehemalige Oetinger-Tochter StoryDOCKS, die inzwischen eine eigenständige GmbH ist. An den genannten Beispielen wird deutlich, dass es in den letzten Jahren zu teils radikalen Veränderungen im Buchmarkt gekommen ist. Wirtschaftlich gesprochen ist ein hoher Grad an Disintermediation und Remediation feststellbar: Stufen der Wertschöp-
fungskette werden umgangen, wie etwa der traditionelle Verlag, wenn Autoren sich für das Selfpublishing entscheiden, oder der (stationäre) Buchhandel, wenn Verlage verstärkt auf das Direktgeschäft setzen, das sich über das Internet mittlerweile vergleichsweise einfach realisieren lässt. Dies wird auch daran sichtbar, dass Verlage neue Arten der Organisation ausprobieren und neue Dienstleistungen in das Portfolio integrieren, während andere, traditionelle Verlagsaufgaben wie das Lektorat häufig ausgelagert werden. Gleichzeitig unterliegen Verlage im Kinder- und Jugendsegment genauso Konzentrationsbewegungen wie die übrigen Verlage. Grundsätzlich können die Verlagsprogramme aus Originalausgaben, deutschen Erstausgaben und Lizenzausgaben (vgl. Lutz 2015) bestehen. Während es sich bei den Originalausgaben in der Regel um ursprünglich deutschsprachige Bücher handelt, können auch Übersetzungen aus anderen Sprachen vorgenommen werden und als deutsche Erstausgaben erscheinen. Lizenzausgaben bereits auf Deutsch erschienener Titel weisen häufig Variationen im Bereich der Materialität (Hardcover wird zu Softcover) oder im Format (Miniaturausgabe) auf. In den letzten Jahren ist das Lizenzgeschäft als Wirtschaftsfaktor immer wichtiger geworden, sowohl für die Autoren als auch für die Verlage. Dabei gibt es ein nationales bzw. deutschsprachiges Lizenzgeschäft, das vor allem Taschenbuchausgaben und sonstige mediale Aufbereitungen wie Hörbuch, Film und Theater betrifft; Buchgemeinschaftsausgaben sind mittlerweile kein wesentlicher Faktor mehr. Seit den 2000er Jahren, in denen inhaltlich die Genre-Hybridisierung feststellbar ist, ist im Markt eine starke Internationalisierung spürbar, die eng mit der Tendenz zur Serialität zusammenhängt. Der Lizenzeinkauf ist für deutsche Kinder- und Jugendbuchverlage sehr wichtig; rund ein Fünftel der in Deutschland produzierten Kinder- und Jugendliteratur geht auf Lizenzen aus dem Ausland zurück (bisheriger Höchststand 2014: 24,5 %; 2018: 17,8 %). Diese hohen Quoten hängen eng mit der All-Age- und Fantasy-Welle zusammen; diese Titel erscheinen häufig mit seriellem Charakter und sorgen so für eine kontinuierliche Abnahme von Lizenzen – wenn eine Reihe eingeführt ist, werden in der Regel die weiteren Titel ebenfalls eingekauft. In den letzten Jahren ist das Kinder- und Jugendbuch »die mit Abstand wichtigste Stütze im Exportgeschäft mit deutschen Inhalten« geworden (vgl. BuBiZ 2017, 112). 2016 machte der Bereich Kinder- und
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Jugendbuch mit 2883 Verträgen knapp 40 % (39,4 %; BuBiZ 2017, 114–115 mit Tab. 52) aller Lizenzverkäufe deutscher Verlage aus. 2018 waren es ebenfalls 2886 Verträge; diese machten allerdings nur noch 36,8 % aller Lizenzverkäufe deutscher Verlage aus (BuBiZ 2019, 114–115, Tab. 52). Wichtigster Abnehmer ist seit einigen Jahren China. Ungebrochen beliebt ist das Bilderbuch, mit 1195 Verträgen (2018) der absolute Spitzenreiter im Kinder- und Jugendbuchsegment mit enormen Wachstumsraten in den letzten fünf Jahren. Besonders bei chinesischen Verlagen waren in den letzten Jahren das deutsche Bilderbuch, aber auch Erstlesereihen und Sach(bilder)bücher beliebt. Oft werden ganze Serien, die verstärkt seit dem PISA-Schock 2000 konzipiert wurden (vgl. im Detail zum SachbilderbuchTrend Grubert 2016; Grubert 2017), en bloc als Lizenzen eingekauft. Es bleibt abzuwarten, ob das so bleibt oder Zensurmaßnahmen greifen werden. Neben der Frankfurter Buchmesse, die Dreh- und Angelpunkt für den Lizenzhandel in der Buchbranche ist, ist die Kinderbuchmesse in Bologna, die jährlich im April stattfindet, ein feststehender Termin im Kalender der Kinder- und Jugendbuchlektoren. 2019 fand die Bologna Children’s Book Fair zum 56. Mal statt. 2019 wurden knapp 1500 Aussteller aus 80 Ländern sowie 29.000 Besucher in Bologna begrüßt (vgl. Facts & Figures 2019). Jedes Jahr präsentiert sich ein Gastland; 2016 war es Deutschland, 2019 die Schweiz, 2020 sollte es Sharjah (Vereinigte Arabische Emirate) sein. Zum Bereich der Produktion gehört neben diesen marktwirtschaftlichen Akteuren und Institutionen auch unbedingt die Materialität des Mediums Buch, die gerade bei Kindern als Zielgruppe nicht zu vernachlässigen ist. Das beginnt im Säuglingsalter mit Frühe-Konzepte-Büchern (der Buchmarkt spricht von ›Elementarbilderbüchern‹) wie Buggybüchern aus dicker Pappe, Holz oder Stoff, die in der Regel den ersten Buchbesitz darstellen. Bei Buchprodukten, die für Kinder bis drei Jahren angeboten werden, gelten besondere Maßstäbe. Sie müssen schadstofffrei sein, dürfen sich nicht auflösen, keine Erstickungsgefahr darstellen usw. Deswegen sind die Altersangaben oft so gewählt, dass die Produkte offiziell erst ab drei Jahren freigegeben sind, auch wenn alle Konsumenten wissen, dass kleinere Kinder damit schon in Berührung kommen. Im Kleinkindalter haben viele Buchprodukte spielerische Hands-On-Elemente: Klappen, Pop-Up-Teile, Folien usw. gehören besonders im Sachbilderbuch zur Grundausstattung und bedeuten einen Mehraufwand bei der Produktion; häufig sind diese aufwändi-
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gen Zusatzeffekte, die auch als paper engineering bezeichnet werden, nur durch die niedrigpreisige Produktion in Asien, vor allem China, für Verlage realisierbar. Aber auch für ältere Kinder gilt: die vielen Illustrationen, auch im erzählenden Bereich, stellen höhere Anforderungen an die Produktion (und verursachen höhere Kosten). Kinderbücher mit vielen Illustrationen und Comicromane sind derzeit sehr gefragt. In den letzten Jahren haben besonders farbige Innenillustrationen sich im erzählenden Kinderbuch durchgesetzt (vgl. Hauck 2017, 25). Und nicht zuletzt beim Coverdesign wird seit einigen Jahren mit Glitzer, Spotlack usw. gearbeitet – am liebsten genderspezifisch in blau oder pink –, um Aufmerksamkeit in den Regalen der Buchhändler zu generieren und die Vorteile des gedruckten Buches im Gegensatz zum digitalen Produkt erfahrbar werden zu lassen. Gerade, weil Materialien im Kinder- und Jugendbuch anderen Anforderungen und Erwartungen unterliegen, bietet sich das Segment als Experimentierfeld für alternative Druck- und Herstellungsmethoden an, zum Beispiel im Bereich des sogenannten Green Publishings. Etablierte Verlage und kleine unabhängige Verlage bringen Produkte auf den Kinderbuchmarkt, vor allem im Bilderbuchbereich, die nachhaltig(er) produziert werden als herkömmliche Buchprodukte. Das heißt zum Beispiel, dass bei den Druckfarben auf biologische Abbaubarkeit geachtet und auf Mineralöle verzichtet wird oder dass Recycling-Papiere und -Pappen ausgewählt werden. Dies stellt eine Reaktion auf Befunde der Marktforschung dar, die zeigen, dass Verbraucher mit Kindern im Vergleich zu kinderlosen deutlich ökologisch bewusster einkaufen und überdurchschnittlich buchaffin sind (vgl. im Detail Norrick-Rühl/Vogel 2013). Beispiele für ›grüne‹ Reihen in etablierten Verlagen sind kiddinatur (Arena Verlag, seit 2013), 100 % Naturbuch (Beltz & Gelberg, seit 2013), Naturkind (Loewe Verlag, seit 2014) sowie Alles Natur (arsedition, seit 2016). Besonders häufig sind in diesen und ähnlichen Reihen Sachbilderbücher über Naturthemen und die Umwelt zu finden. Es gibt aber auch kleine unabhängige Verlage, die sich vollständig einem Nachhaltigkeitskonzept gewidmet haben, so zum Beispiel der Magellan Verlag. Besonders anspruchsvoll ist das Cradle-to-Cradle-Konzept, das besagt, dass alle enthaltenen Produkte in biologische oder technische Kreisläufe zurückführbar sein müssen. Diese Zertifizierung weisen nur wenige Kinderbücher auf, so zum Beispiel die Produkte aus dem Neunmalklug Verlag oder aus der Reihe Kosmos Natur (Kosmos, seit 2017).
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I Grundlagen
Die avj, der 1950 gegründete »Fachverband für Verlage, die Kinder- und Jugendbücher, aber auch audiovisuelle Medien, Kalender, BuchPlus-Produkte und vieles mehr für Kinder und Jugendliche herausgeben« und dessen Ziel die »Interessenvertretung und die Vernetzung der ihr angehörigen Verlage in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie die Förderung der Kinder- und Jugendliteratur und des Lesens« ist, listet über 100 Verlage in seinem Mitgliederverzeichnis (Stand 11/2017: 104 Verlage; vgl. avj 2017). In dieser Liste werden sehr unterschiedliche Verlagstypen in gleicher Weise präsentiert: Kleine und kleinste Verlage werden neben großen Verlagen aufgeführt und Verlage, die einer größeren Verlagsgruppe angehören, neben unabhängigen Verlagen (Independents); ferner lassen sich auch innerhalb der Kinder- und Jugendbuchverlage Spezialisierungen feststellen (etwa auf verschiedene Segmente wie Bilderbücher oder non-fiktionale Titel). Zu den Top Five der Kinder- und Jugendbuchverlage (Erhebungszeitraum: September 2016 bis August 2017) zählen der zum schwedischen Medienunternehmen Bonnier gehörende Carlsen Verlag mit 12,7 % Umsatzanteil am Kinder- und Jugendbuchmarkt, der in die international gut positionierte Ravensburger Gruppe eingebettete Ravensburger Verlag (10 %), die Verlagsgruppe Oetinger (7,5 %) sowie der zur Verlagsgruppe Westermann gehörende Arena Verlag (5,3 %) und die zur Verlagsgruppe Random House Bertelsmann gehörenden Verlage cbt/cbj (5,2 %) (vgl. Hauck 2017, 25; Rautenberg 2015, 56). Die erfolgreichsten Verlage sind also durchgängig in einen größeren Unternehmenskontext, bzw. eine Konzernstruktur eingebettet. Ein weiteres gemeinsames Merkmal von Carlsen, Ravensburger und Oetinger ist, dass es sich nicht um reine Buchverlage handelt, sondern auch andere (Kinder-)Medien und Spiele/Spielsachen sowie Merchandising-Produkte produziert und vertrieben werden. Auf dem sechsten Platz folgt der in dritter Generation von der Familie Gondrom geführte Loewe Verlag (4,1 % Umsatzanteil), der seit seiner Gründung 1863 stets unabhängig war. Die Verlage Baumhaus, Boje und One, die zusammen 3,8 % des Kinder- und Jugendbuchumsatzes auf sich vereinen, gehören (zumindest anteilig) zur Bastei Lübbe AG. Der Boje Verlag wurde mehrmals verkauft: 1986 an den Pestalozzi Verlag, dann 2006 an die VEMAG, seit Mitte 2010 gehört der Verlag zur Bastei Lübbe AG. Bei Baumhaus wurde nach seiner Übernahme durch den Verleger Bodo Horn-Rumold Bastei Lübbe 2008 Mehrheitsgesellschafter. Bei One
handelt es sich um ein Imprint von Bastei Lübbe. Einerseits können für den Kinder- und Jugendbuchmarkt – wie für den Buchmarkt in Gänze – also Konzentrationsbewegungen festgestellt werden, andererseits scheint er »Platz zu bieten für neue Verlage und Labels« (Hauck 2017, 24). Bemerkenswert ist, dass innerhalb der 15 erstplatzierten Verlage die Umsätze deutlich differieren: Während der erstplatzierte Carlsen Verlag 12,7 % des Umsatzes auf sich vereinen kann, sind es bei Platz 15 (Dorling Kindersley) gerade einmal noch 1,7 %. Die übrigen rund 90 Verlage (laut Mitgliederliste der avj) teilen sich 30,7 % des Umsatzes (Hauck 2017, 25). Trotz einer Umsatzkonzentration bleibt folglich dennoch eine große publizistische Vielfalt erhalten. Bezieht man die neuerdings in immer größerer Zahl vorzufindenden Selfpublisher mit ein, muss man sich um die Diversität des Buchangebots keine Sorgen machen, allerdings können etablierte (Konzern-)Verlage doch erhebliche Markteintrittsbarrieren aufbauen und halten. Auch wenn Verlagsmarken bei der finalen Zielgruppe in der Regel nicht deutlich im Bewusstsein sind, so haben Buchhändler doch eine Vorstellung von den Programmen und dem Profil der jeweiligen Verlage. Neben den Verlagen, die von Beginn an als Kinderund/oder Jugendbuchverlage konzipiert wurden, gibt es auch solche, die sich zunächst ausschließlich an erwachsene Lesergruppen richteten: Der Fachverlag Beltz begründete 1971 in Zusammenarbeit mit dem berühmten Verleger Hans-Joachim Gelberg das erfolgreiche Kinder- und Jugendbuchimprint Beltz & Gelberg; die Taschenbuchverlage Rowohlt und Fischer sind weitere Beispiele. Wie bereits erwähnt, verdienen viele Verlage ihr Geld heute nicht mehr nur mit dem Verkauf gedruckter Bücher. In zunehmendem Maße werden auch digitale Buchformen wirtschaftlich relevant, auch wenn dies bisher langsamer verläuft als zunächst von der Branche erwartet bzw. befürchtet. Nicht alle Verlage engagieren sich jedoch in diesem Bereich – teilweise weil sie nicht über das nötige Knowhow verfügen, teilweise weil nicht die finanziellen Mittel zur Verfügung stehen, um Experimente im digitalen Umfeld zu unternehmen, teilweise aber auch aus prinzipiellen Erwägungen heraus. Die drei größten Unternehmen im Kinder- und Jugendbuchsegment zeichnen sich durch vielfältige digitale Aktivitäten aus, die auch an den Organigrammen der Konzerne ablesbar sind. Neben Veränderungen der Abläufe im Verlag, die teilweise auch Veränderungen der Struktur mit sich bringen (müssen), stellt die Distribution digitaler
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Verlagsprodukte neue Herausforderungen an die Unternehmen. Distribution Je nach Abgrenzung lassen sich in Deutschland rund 3000 (Mitgliederzahlen des Börsenvereins) bis ca. 3700 Buchhandlungen (Steuerpflichtige im Einzelhandel mit Büchern) nachweisen. Hinter diesen Zahlen verbergen sich sowohl kleine, unabhängige Buchhandlungen wie auch mittlere und große Filialunternehmen. Neben allgemeinen (Voll-)Sortimenten, in denen das Kinder- und Jugendbuch in der Regel einen prominenten Platz einnimmt, gibt es auch ganz unterschiedliche Spezialsortimente (etwa Fachbuchhandlungen oder Krimibuchhandlungen). Davon waren im Jahr 2017 rund 25 Unternehmen reine Kinderbuchhandlungen (vgl. Weisbrod 2017). Grundsätzlich stellt der Weg über das stationäre Sortiment (die Buchhandlung am Ort) und den Zwischenbuchhandel (der Lagerhaltung und Logistik für die Verlage übernimmt) nur eine Möglichkeit dar, wie Bücher an die Käufer und/oder Leser gelangen. Der Anteil des Sortimentsbuchhandels (ohne E-Commerce) an den geschätzten Umsätzen buchhändlerischer Betriebe zu Endverbraucherpreisen hat zudem in den letzten Jahren abgenommen. 2018 wurden noch 46,8 % des Umsatzes im Sortiment generiert, der Internetbuchhandel ist gegenläufig zum stationären Handel stark gewachsen und vereint mittlerweile 19,5 % des Umsatzes auf sich, zudem engagieren sich Verlage stärker im Direktvertrieb (21 %). Neben Buchhandlungen und dem Versandhandel durch Internethändler oder Verlage generieren auch sogenannte sonstige Verkaufsstellen einen erheblichen Anteil des Umsatzes (9,8 %; vgl. BuBiZ 2017). Darunter sind alle Orte zu verstehen, an denen auch, aber nicht überwiegend Bücher angeboten werden. Für das Kinder- und Jugendbuchsegment sind besonders Spielwarengeschäfte von Interesse (neuerdings werden unter der Überschrift »Toys meet Books« auch auf der Nürnberger Spielwarenmesse Bücher ausgestellt), wobei andersherum auch in vielen Kinder- und Jugendbuchabteilungen im Buchhandel Spielwaren in großem Umfang Einzug gehalten haben. Bilderbücher sind große Umsatzbringer für den stationären Buchhandel, denn sie werden besonders gerne im Ladengeschäft und nicht online gekauft. Unabhängig von der Größe der Buchhandlung wurden durchschnittlich 11 bis 12 % des Umsatzes im Jahr 2018 mit Kinder- und Jugendbüchern erwirtschaftet (vgl. BuBiZ 2019, 66). Dennoch sieht die Branche be-
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sorgt, dass junge Eltern »mehr online unterwegs« seien und daher Umsätze abwanderten (Hauck 2017, 24). Hier scheint es einen deutlichen Wandel gegeben zu haben, denn laut verschiedener Umfragen ging noch vor wenigen Jahren die Mehrheit der Befragten zum Kauf von Kinder- und Jugendbüchern in den Buchhandel vor Ort (vgl. Lebendig und wandelbar 2013). Und auch bei den Kindern und Jugendlichen zeigt sich ein ähnlicher Wandel: Die Buchkäufer im Alter zwischen 10 und 19 Jahren gaben im Jahr 2008 noch 65 % ihres Budgets im stationären Buchhandel aus, 20 % im Onlinehandel und 15 % bei sonstigen Einkaufsstätten. Sechs Jahre später hat sich das Bild deutlich verändert: Der Anteil der Käufe in der Buchhandlung vor Ort ist auf 57 % und auch die Ausgaben in den sonstigen Einkaufsstätten sind gesunken (9 %), deutliche Gewinne hingegen haben Onlinehändler zu verzeichnen (33 %) (vgl. Buchkäufer und -leser 2015, 46). Neben dem Stöbern und Umschauen in Geschäften/Buchabteilungen bilden Gespräche und Empfehlungen mit bzw. von Verwandten, Bekannten, Freunden oder Mitschülern eine wichtige Aufmerksamkeitsquelle für den Buchkauf. Nicht zu unterschätzen ist auch die Rolle von Bibliotheken, die von jedem zehnten Kind regelmäßig genutzt werden (KIM-Studie 2018, 12). Eltern und Großeltern sind wichtige Gatekeeper im Kinder- und Jugendbuchmarkt. Im Jahr 2010 waren 73 % der Käufer von Büchern aus diesem Marktsegment älter als 30 Jahre. Bei 40 % der Käufer handelte es sich um Eltern, bei 33 % um Großeltern. Ferner fällt auf, dass rund zwei Drittel der Käufer weiblich waren. Insbesondere ältere Kunden greifen (noch) gerne auf Empfehlungen von Buchhändlern zurück und werden von Werbung, Flyern und Katalogen beeinflusst. Dieser Gruppe sind auch Altersangaben auf Büchern wichtig (KJB II, 33–39; KJB III, 7). Grundsätzlich stellt die Orientierung im Kinderund Jugendbuchmarkt (wie generell im Buchmarkt) eine Schwierigkeit dar, einerseits aufgrund des Erfahrungsgutcharakters des Mediums, also des nicht oder nur eingeschränkt beurteilbaren Nutzens des Konsums vor der Rezeption (vgl. Vogel 2011, 109), andererseits aber auch weil die direkte Zielgruppe noch nicht über ausreichende Selektionserfahrungen verfügt oder weil (mehrere) Gatekeeper zwischenge schaltet sind. Markierungen auf unterschiedlichen Ebenen können dem entgegenwirken: Sowohl bekannte Figuren als auch Serien können Orientierung bieten. Daneben stellen zudem spezielle Medien mit Kinder- und Jugendbuch-Empfehlungen Informationsmöglichkeiten dar. Die Zeitschrift eselsohr etwa,
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die 1982 als »Unterstützungsmedium für Presseabteilungen in Kinderbuchverlagen« gegründet wurde, ist mittlerweile mit der Beilage Bulletin eine der führenden Fachzeitschriften. Ferner bestehen Kundenzeitschriften für den Buchhandel, die speziell auf Kinderund Jugendbücher ausgerichtet sind, wie etwa die von der avj herausgegebene Bücherbox oder auch LOOK. Was Kids so lesen, herausgegeben von der Buchwerbung der Neun GmbH und als Beilage in den AboAuflagen der Kinderzeitschriften Geolino extra und Nido gestreut. Daneben finden sich verschiedene Informationsangebote im Internet wie etwa die seit 2002 von Stefanie Leo betriebene Webseite http:// Buecherkinder.de, auf der aktuelle Kinder- und Jugendliteratur von einer Kinder- und Jugendredaktion bewertet wird oder seit 2012 das wissenschaftliche Informationsportal http://KinderundJugendmedien. de. Ein weiteres Angebot stellt http://KinderbuchCouch.de dar, ein seit 2004 publiziertes Online-Magazin der Literatur-Couch Medien GmbH & Co. KG, das einschlägige Rezensionen veröffentlicht. Als weiteres Orientierungselement verstehen sich Literaturpreise. Neben dem Deutschen Jugendliteraturpreis, der seit 1956 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gestiftet, vom Arbeitskreis für Jugendliteratur e. V. (AKJ, 1955 gegründet) ausgerichtet und jährlich vergeben wird, gibt es eine Vielzahl regionaler Kinder- und Jugendliteraturpreise. Zunehmend relevant für den Buchmarkt werden aber auch Preise, die sich auf angrenzende Medienbereiche beziehen wie etwa der Deutsche Kindersoftware-Preis Tommi oder die GIGA-Maus der Zeitschrift Eltern for family. Daneben gibt es verschiedene Institutionen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Orientierung im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur zu bieten, so die Stiftung Lesen, die diverse Empfehlungslisten erarbeitet und zum Beispiel in Kooperation mit der Leipziger Buchmesse den »Leipziger Lesekompass« erstellt. In Österreich gibt die Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur (STUBE) neben Themenbroschüren regelmäßig Buchtipps. Rezeption Die Rezeption von Kinder- und Jugendbüchern weist in verschiedener Hinsicht Besonderheiten im Vergleich zur sonstigen Buchrezeption auf: Schon bis zur Bereitstellung der Titel durch Verlage wurden vielfältige Selektionsentscheidungen durch Verlagsmitarbeiter – durchweg erwachsene Menschen – getrof-
fen: Lektoren und/oder Verleger haben, häufig unterstützt durch Literaturagenturen, aus einer Vielzahl an Manuskripten eine Auswahl getroffen, haben diese bearbeitet und publiziert. In einer ohnehin stark weiblich geprägten Buchbranche (vgl. Fröhlich 2011, 35–36) finden sich insbesondere in den Kinder- und Jugendbuchverlagen überdurchschnittlich viele weibliche Angestellte. Als Gatekeeper stehen sie am Anfang einer langen Kette von Vermittlern, die zwischen dem Buch und dem Kind oder dem Jugendlichen stehen. Als vorgelagerte Zielgruppe wird der Buchhandel von Verlagen angesprochen. Buchhändler wirken durch ihre Einkaufsentscheidungen im Rahmen der Sortimentsfunktion und Beratung selbst wieder als Selektionsinstanz und auch Bibliothekare übernehmen beim Bestandsaufbau und der Ausleihe in Bibliotheken eine ähnliche Funktion. Darüber hinaus wirken die verschiedenen Instanzen im Lesesozialisationsprozess als Gatekeeper: Sowohl Lehrer als auch Erzieher steuern mitunter die Buchauswahl und -ausstattung – entweder durch direkte Einflussnahme auf Kinder und Jugendliche oder durch Empfehlungen an die Eltern. Diese haben aufgrund der großen Nähe zu den Kindern und Jugendlichen besonders starken Einfluss, aber auch Großeltern oder weitere buchschenkende Erwachsene wirken auf den Buchbesitz ein – je jünger Kinder sind (und damit zusammenhängend je geringer ihr Budget für Buchkäufe ist), desto stärker. Journalisten und insbesondere Literaturkritiker nehmen Bewertungen vor, die sich auf alle vorgenannten Gruppen auswirken können (vgl. Renner 2011, 65 sowie Knödler 2011, 141–162). Der Kontakt mit dem Medium Buch, der die Voraussetzung für den eigentlichen Rezeptionsprozess darstellt, ist also, zumindest im Kindesalter, in erheblichem Maße durch Erwachsene beeinflusst. Für die Unternehmen der Buchbranche bedeutet dies, dass sie im Kinderund Jugendbuchsegment stets eine doppelte Zielgruppenansprache vornehmen (müssen), da neben den eigentlichen Rezipienten die Gatekeeper mit erreicht werden sollen. Es existieren einige Studien, die zeigen, dass Bücher für Kinder überdurchschnittlich oft von Käuferinnen ausgesucht werden – Mütter, Großmütter, Erzieherinnen, etc. (2004 etwa 73,2 %, vgl. Renner 2006). Eine nicht-repräsentative Umfrage unter Buchhändlern aus dem Jahr 2016 lieferte jedoch den Hinweis, dass Männer und insbesondere Väter zwar seltener Kinder- und Jugendbücher kaufen, dafür aber häufig mehrere Bücher auf einmal – und dann ungeachtet des Preises (vgl. Sand 2016, 29). Auch die Großeltern-
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generation ist als besonders kaufkräftig und großzügig zu erwähnen. Neben der Entscheidung für ein bestimmtes Buch aus der Vielzahl der verfügbaren Titel muss auch die grundsätzliche Entscheidung für die Nutzung des Mediums Buch getroffen werden – neben medialen Alternativen konkurrieren zahlreiche weitere (Freizeit-) Optionen um zeitliche Ressourcen. Seit 1998 liefert der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (mpfs) in regelmäßigen Abständen empirische Daten zur Mediennutzung und -ausstattung von Kindern (im Zwei-Jahres-Rhythmus) und Jugendlichen (jährlich). Das Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen führt verschiedene Studien zum Leseverhalten und zur Lesesozialisation durch, besonders hervorgehoben werden können die seit 2007 jährlich vorgestellten Vorlesestudien, die Erkenntnisse zur Vorlesesituation in Deutschland liefern. Gerade beim Vorlesen wird die GatekeeperFunktion der Eltern noch einmal besonders deutlich: Die erste Vorlesestudie 2007 ergab, dass 42 % der befragten Eltern ihren Kindern nur gelegentlich oder sogar nie vorlasen, obwohl sich Kinder dies in der Regel wünschten. Im Folgejahr zeigte sich, dass das Vorlesen in den Familien hauptsächlich von den Müttern praktiziert wurde, nur selten wurde überwiegend vom Vater vorgelesen (8 %) oder von Vater und Mutter gemeinsam (11 %) (vgl. VL 2011). Ferner wurde offenbar, dass weniger als die Hälfte der befragten Eltern (45 %) innerhalb der ersten zwölf Lebensmonate ihres Kindes mit dem Vorlesen beginnen (vgl. VL 2017). Die Grenzen der Möglichkeiten der Leseförderung werden offenbar, weil sich trotz umfangreicher Bemühungen auch im Jahr 2019 die Befunde bestätigt haben: 2019 waren es 32 % aller Eltern mit Kindern zwischen zwei und acht Jahren, die ihren Kindern zu selten oder nie vorgelesen haben (vgl. VL 2019). Dabei ist bekannt, dass Kinder den Vorlesevorgang mit der ungeteilten Aufmerksamkeit ihrer Eltern und anderer Vorlesender und häufig auch mit (körperlicher) Nähe verknüpfen und somit positiv verankern. Das Vorlesen und die gemeinschaftliche Rezeption von (Bilder-)Büchern stellt eine Schlüsselsituation im Prozess der familiären Lesesozialisation dar (vgl. Muratović 2015, 387). Die Ergebnisse der (bisher) einmalig durchgeführten miniKIM-Studie aus dem Jahr 2014, die den Medienumgang von 2- bis 5-Jährigen in Deutschland untersucht, kam zu dem Ergebnis, dass in den Haushalten der untersuchten Altersgruppe bereits ein breites Medienrepertoire zur Verfügung steht, das Anschauen/Vorlesen von Büchern aber dennoch
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eine wichtige Rolle spielt: 88 % der 2- bis 3-Jährigen und 87 % der 4- bis 5-Jährigen schauen sich mindestens einmal pro Woche ein Buch an. Für 44 % der 2bis 3-Jährigen gehört »Buch anschauen/vorlesen« zu den Top 3-Lieblingsaktivitäten; aber nur für 16 % der 4- bis 5-Jährigen; in dieser Altersgruppe erfolgte die Datenerhebung aus methodischen Gründen über die Eltern, d. h. die Haupterzieher, mehrheitlich Mütter. Die geschätzte tägliche Nutzungsdauer beträgt 26 Minuten – deutlich weniger als für Fernsehen (gesamt: 43 Minuten; 2 bis 3 Jahre: 34 Minuten; 4 bis 5 Jahre: 52 Minuten). Kleinkinder können noch »am wenigsten« auf das Medium Buch/Bilderbuch verzichten (vgl. miniKIM 2014). Eine Vorbereitung für das Lesen und den Umgang mit Büchern stellen neben dem Vorlesen auch präund paraliterarische Formen der Kommunikation, also Formen primärer mündlicher Kinderliteratur wie Kinderreime, -gedichte, -lieder, -geschichten oder Märchen sowie Formen des freien Erfindens dar. Sowohl ästhetisch vorstrukturierte Sprache kann hier einen Beitrag leisten als auch kreativer Umgang mit Sprache (vgl. Hurrelmann/Hammer/Nieß 1993, 140). Durch den Umgang mit Pappbilderbüchern werden bereits Babys in die Lage versetzt, das Blättern und die Handhabung von Büchern zu erlernen. Vor dem Eintritt in die Schule und dem institutionalisierten Lesenlernen war das Vorlesen neben dem Betrachten von Bildern und dem Fühlen früher die einzige Rezeptionsmöglichkeit für Kinder ohne Lesefähigkeiten. Mittlerweile stehen jedoch viele Bücher zur Verfügung, die mit Tonelementen angereichert sind (etwa die Hör-mal-Reihe von Carlsen). Inwiefern diese das Vorlesen ergänzen oder teilweise ersetzen können ist empirisch bisher nur unzureichend erforscht. Begleitende Forschung erscheint aber aufgrund der starken Angebotsausweitung dringend geboten. Während Bücher vor Beginn der Schulzeit meist ausschließlich eine Freizeitoption darstellen, werden sie mit Eintritt in die Grundschule auch zu einem Unterrichtsmedium (s. Kap. 45); Lesekompetenz ist eine grundlegende Bildungskompetenz, in diesem Zusammenhang wird sie in internationalen Schulleistungsvergleichen untersucht. Neben der PISA-Studie (Programme for International Student Assessment), die Schüler im Alter von 15 Jahren testet, nimmt die im Fünf-Jahres-Rhythmus durchgeführte Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) Kinder am Ende der vierten Jahrgangsstufe in den Blick. Dabei zeigte sich 2016, dass etwa 20 % der deutschen Schüler während der Grundschulzeit keine ausreichende Le-
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I Grundlagen
sekompetenz erwerben konnten, was sich negativ auf ihren weiteren Bildungserwerb auswirken könnte, falls keine erfolgreichen Förderungsmaßnahmen greifen (vgl. IGLU 2016). Bereits zwischen dem 8. und 10. Lebensjahr kommt es zu einem ersten Leseknick: Beim Übergang vom Anfangsunterricht zum weiterführenden Lesen und Schreiben verliert ein Teil der Kinder den Spaß am Lesen (Jungen häufiger als Mädchen). Ein zweiter Leseknick lässt sich bei Kindern zwischen 11 und 13 Jahren, also beim Eintritt in die Pubertät feststellen (vgl. Garbe/Holle/Jesch 2009, 202). In den Zahlen der KIM-Studie 2016 spiegelt sich dieser im Alter zwischen 11 und 13 Jahren recht deutlich: Während 10- bis 11-Jährige zu 55 % regelmäßig zum Buch greifen, tun dies nur noch 44 % der 12- bis 13-Jährigen. Der erste Leseknick, der nach der Anfangsphase des Lesens einsetzt, zeigt sich in den aktuellen Zahlen nicht; die Werte für das regelmäßige Lesen steigen bis zum Alter von 10 bis 11 Jahren durchgehend an (vgl. KIM-Studie 2016). Die Daten aus der Vorlesestudie 2011 legen die Vermutung nahe, dass der Leseknick bei Kindern, die regelmäßig vorgelesen bekommen haben, geringer ausfällt. Insbesondere beim Übergang vom ersten eigenen Lesen zum weiterführenden Lesen erscheint dies plausibel, da Kinder zunächst noch nicht über eine ausreichende Lesekompetenz verfügen, um anspruchsvollere Geschichten selbst zu lesen; hören Eltern an diesem Punkt auf vorzulesen, weil sie dies als nicht mehr notwendig erachten, kann es bei den Kindern zu Frusterlebnissen kommen. Während der Phase der Pubertät verringert sich der Einfluss der Eltern, Peer-Gruppen gewinnen im Lesesozialisationsprozess an Bedeutung. Insgesamt besteht in diesem Bereich noch erheblicher Forschungsbedarf, es liegen jedoch bereits erste Studien zu Ko-Orientierung, Wettbewerb und Anschlusskommunikation in diesem Kontext vor (vgl. Bonfadelli 2015, 77). Die KIM-Studie 2016 zeigt, dass 47 % der befragten Kinder mindestens interessiert an Büchern sind. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass mehr als die Hälfte der Kinder kein großes Interesse an Büchern hat. Nach non-medialen Themeninteressen wie Freundschaft, Schule oder Sport folgen – unterbrochen vom Interesse an z. B. Musik, Spielsachen und Tieren – eine ganze Reihe medialer Alternativen wie etwa Handy/Smartphone, Internet/Computer/Laptop oder Computer-/Konsolen-/Onlinespiele. Die Medienausstattung der Kinder bzw. der Haushalte in denen Kinder leben, ist mittlerweile sehr üppig. Zwischen Jungen und Mädchen zeigen sich starke Unterschiede
in Bezug auf das Interesse an Büchern, Mädchen interessieren sich deutlich häufiger dafür als Jungen (18 % zu 8 %). Für die tatsächliche Nutzung sehen die Zahlen ähnlich aus, knapp die Hälfte der Kinder liest regelmäßig (mindestens einmal pro Woche) Bücher. Comics werden separat ausgewiesen und weisen 38 % regelmäßige Nutzung auf. In der Gruppe der Jugendlichen (12 bis 19 Jahre) ist die Buchnutzung laut der JIM-Studie 2016 noch einmal geringer: 38 % der Befragten gaben an, in ihrer Freizeit regelmäßig (mindestens mehrmals pro Woche) Bücher zu lesen, hinzu kommen 6 %, die E-Books lesen; 15 % der Mädchen verfügen über einen E-BookReader und 5 % der Jungen. Deutlich häufiger werden – kaum überraschend – mit jeweils 96 % Handy und Internet genutzt, 93 % nannten das Musikhören als regelmäßige Tätigkeit und 81 % das Ansehen von Online-Videos. Gemessen an medialen Alternativen platziert sich das Buch also vergleichsweise weit hinten. Deutlich fällt auch bei den Jugendlichen die Differenz zwischen Mädchen und Jungen aus: während 46 % der Mädchen angaben, regelmäßig Bücher zu nutzen, tun dies nur 30 % der Jungen. Zu 72 % gaben diese allerdings Computer-/Konsolen-/Onlinespiele an, die wiederum nur von 14 % der Mädchen regelmäßig genutzt werden. Bei den non-medialen Freizeitaktivitäten gaben 6 % der Mädchen und 3 % der Jungen an, mehrmals in der Woche das Angebot einer Leih-Bücherei/Bibliothek zu nutzen (vgl. JIM-Studie 2016). Über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet, zeigt sich die Buchnutzung sowohl bei Kindern wie auch bei Jugendlichen überraschend stabil (wobei anhand der vorliegenden Zahlen keine Aussagen über die Lesedauer, Leseweise und Lesesituation möglich sind). Trotzdem haben Verlage ihr Engagement im digitalen Bereich in den vergangenen Jahren deutlich ausgeweitet: Mit Text-Adventure-Apps etwa verbindet sich die Hoffnung, die Zielgruppe der jugendlichen Jungen, die besonders Computer- und Spieleaffin sind, besser ansprechen zu können. Und auch in Bezug auf die nicht in ausreichendem Maße vorlesenden Väter besteht die Hoffnung, diese über digitale Lesemedien doch zum Vorlesen animieren zu können. Inwiefern diese Hoffnungen begründet sind und inwiefern eine Hinlenkung auf Bücher erfolgen könnte, ist derzeit noch nicht ausreichend erforscht. Literatur
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Corinna Norrick-Rühl / Anke Vogel
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I Grundlagen
5 Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur 5.1 Einleitung Auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt spielt der Klassikerbegriff bis heute eine wichtige Rolle. Ob nun einzelne Kinderbücher als Klassiker vermarktet oder ganze Klassikerreihen angeboten werden, immer steckt dahinter die Idee, dass sich diese ausgewählten Werke durch besondere Merkmale auszeichnen. Worin diese genau bestehen, wird in der Regel nicht genauer ausgeführt, aber Kriterien wie Langlebigkeit, Popularität und Vorbildlichkeit, eventuell ergänzt um den Aspekt der literarischen Qualität, scheinen die Auswahl bis heute zu bestimmen. Dass der Klassikerbegriff unterschiedliche Konnotationen nach sich zieht und einem Bedeutungswandel unterworfen ist, dürfte nur wenigen Lesern bewusst sein, ebenso wie die Tatsache, dass er eng mit dem Begriff des Kanons zusammenhängt. In diesem Beitrag werden zuerst die verschiedenen Definitionen des Klassikerbegriffs diskutiert, bevor auf die historische Entwicklung dieses Begriffs eingegangen wird. Hierbei werden die Debatte um die Kinderklassiker seit Ende der 1960er Jahre, die Idee einer Weltliteratur für Kinder sowie aktuelle Diskussionen über den Zusammenhang von Klassik und Kanon fokussiert. Abschließend geht dieser Beitrag auf interund transmediale Aspekte von Kinderklassikern ein.
5.2 Begriffsdefinitionen Der Begriff des Klassischen blickt auf eine wechselvolle Rezeptionsgeschichte zurück, dessen Wurzeln bereits in der Antike zu finden sind. Hinzu kommt, dass er sich nicht nur als Wertungsbegriff, d. h. als Bezeichnung für herausragende Werke bzw. Höhepunkte in der Geschichte der Literatur, sondern auch als Bezeichnung für eine Epoche der deutschen Literaturgeschichte (Weimarer Klassik) in der Literaturwissenschaft etabliert hat, sodass sich normative und deskriptive Kriterien überlappen Fünf Aspekte sind dem Klassikbegriff inhärent: Er kann ästhetische Norm sein (im Sinne von Mustergültigkeit), er kann aber auch als historischer (als Verweis auf die Antike), stiltypologischer, epochaler und relationaler Begriff (Klassiker einer Gattung, eines Genres) verstanden werden (vgl. Thomé 2000). Als »Klassiker« bezeichnet man weiter-
hin Autoren, die entweder einer literarischen Klassik (als Epochenbezeichnung) zugeordnet werden können oder maßstabsetzende Werke verfasst haben. Ebenso kann mit diesem Begriff auch auf ein einzelnes Werk, das sich durch besondere literarische Qualitäten auszeichnet oder für die Entwicklung einer Literatur, einer Gattung oder eines Genres bahnbrechend war, hingewiesen werden (vgl. Kümmerling-Meibauer 2003). Immer wieder kommt es dabei zu einer Vermischung historisch-deskriptiver und normativer Aspekte, die von Seiten der Literaturwissenschaft teils heftige Kritik an dem Klassik-Konzept ausgelöst hat (vgl. von Heydebrand 1998). Der Klassikbegriff steht darüber hinaus in engem Bezug zu demjenigen des Kanons. Der Kanon bezieht sich auf eine Gruppe von Werken, die als exemplarisch und besonders erinnerungswürdig eingestuft werden (vgl. Rosenberg 2000). Die Kanonforschung untersucht die damit einhergehenden Selektionsprozesse und den historischen Wandel des Kanonbegriffs. Zu guter Letzt ist die Klassik- und Kanondebatte eng mit dem auf Ideen Goethes zurückgehenden Terminus der »Weltliteratur« verzahnt (vgl. Birus 2003). Diese Begriffsvielfalt muss bedacht werden, wenn man versucht, die Bedeutung von »Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur« – als Äquivalent wird auch »Kinderklassiker« verwendet – genauer zu erfassen. Dieser Begriff wird mittlerweile auch auf andere Kindermedien übertragen, etwa auf den Kinder- und Jugendfilm (vgl. Maiwald/Meyer/Pecher 2016). Denn die Schwierigkeiten, den Kinderklassikerbegriff wissenschaftlich zu begründen, hängen mit der nicht reflektierten Übertragung des Klassikbegriffs der Allgemeinliteratur auf die Kinder- und Jugendliteratur zusammen (vgl. Kümmerling-Meibauer 2003). In der Regel versteht man unter einem Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur ein literarisches Werk, das sich durch bestimmte Kriterien von dem Gesamtkorpus der Kinder- und Jugendliteratur unterscheidet und folglich einen besonderen Status einnimmt. Allerdings herrscht hinsichtlich der Kriterien kein Konsens in der Kinderliteraturforschung. Allgemein kann man hierbei zwei Positionen unterscheiden: In Analogie zu den entsprechenden Überlegungen zum Klassikbegriff in der allgemeinen Literaturwissenschaft wird einerseits die literarische Qualität und die Vorbildfunktion hervorgehoben (vgl. Nodelman 1985–1989; vgl. Kümmerling-Meibauer 1999a). Anderseits wird argumentiert, dass Kinderklassiker im Gegensatz zu Klassikern der Allgemeinliteratur durch die Kriterien Popularität und Langlebigkeit de-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_5
5 Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur
terminiert sind (vgl. Hurrelmann 1995; vgl. O’Sullivan 2000). Eine umfassende Definition des Kinderklassikerbegriffs sollte folglich diese synchronen und diachronen Merkmale integrieren. Ein Kinderklassiker wäre demnach ein kinderliterarisches Werk, das sich durch hohe literarische Qualität, Innovativität und Repräsentativität auszeichnet. Darüber können die diachronen Merkmale der Popularität und Langzeitwirkung den Klassikerstatus verstärken (vgl. Kümmerling-Meibauer 2003). Nur vereinzelt wird darauf hingewiesen, dass Kinderklassiker für den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur dieselbe Bedeutung haben können wie klassische Werke der Hochliteratur für Erwachsene: Sie werden als wesentlicher Bestandteil des »kulturellen Gedächtnisses« oder »kinderliterarischen Erbes« verstanden (vgl. Frey/Griffith 1987; vgl. Guillory 1993; vgl. Kidd 2011). Ein weiterer, damit zusammenhängender Aspekt ist derjenige der »literarischen Bildung«, der eng mit der literarischen Rezeptionskompetenz der Leserschaft verknüpft ist (vgl. Stevenson 2009). In der deutschen Kinderliteraturforschung bezieht sich der Kinderklassikerbegriff in der Regel auf einzelne kinderliterarische Werke. Er wird nicht auf einen Autor oder eine Epoche bzw. einen Epochenabschnitt bezogen. Im Gegensatz dazu hat sich in einigen Ländern, wie Großbritannien, Norwegen oder den USA, die Bezeichnung »Goldenes Zeitalter der Kinderliteratur« (Golden Age of Children’s Literature) durchgesetzt, womit ein bestimmter Zeitraum markiert ist (in Großbritannien etwa die Zeit von 1865 bis 1920), in dem besonders viele literarisch anspruchsvolle und als Klassiker eingestufte kinderliterarische Werke erschienen sind. Es wurden zudem auch Versuche unternommen, den uneinheitlich definierten und mit normativen Vorstellungen befrachteten Klassikerbegriff durch ›neutralere‹ Begriffe zu ersetzen. Im Rückgriff auf Überlegungen von Matthew Arnold hat Perry Nodelman (1985–1989) den Begriff »touchstone« eingeführt, der weitaus mehr als der tradierte Klassikerbegriff auf die literarische Qualität und Repräsentativität von literarischen Werken hinweisen soll. Um diese Idee in der Forschung zu verankern und eine weiterführende Diskussion anzuregen, hat Nodelman drei Bände ediert, in denen ca. 60 als »touchstones« klassifizierte kinderliterarische Werke kritisch auf diese Kriterien hin analysiert werden. In der deutschen Kinderliteraturforschung hat Hans-Heino Ewers (2007) die Bezeichnung »kinderliterarischer Schlüsseltext« vorgeschlagen, um den
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Akzent auf die literaturhistorische und ästhetische Bedeutung sowie die damit zusammenhängenden Rezeptionsprozesse zu legen. Obwohl Nodelman und Ewers bei ihren Überlegungen an zeitgenössische Kanondebatten anknüpfen, haben sich ihre Begrifflichkeiten in der Forschung nicht durchsetzen können.
5.3 Historische Entwicklungen Die Debatte um die Kinderklassiker In Deutschland, aber auch in anderen Ländern, hat sich ein relativ überschaubares Korpus von ca. 20 bis 30 Werken, die man gemeinhin als »Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur« ansieht, etabliert (vgl. Lundin 2004). Hierbei dominieren vor allem Kinderbücher aus dem englischsprachigen Raum; von den deutschsprachigen Werken haben es lediglich die Kinder- und Hausmärchen (1812–1815) der Brüder Grimm und Emil und die Detektive (1929) von Erich Kästner in den internationalen Kanon geschafft. Darüber hinaus gibt es eine weitaus größere Anzahl nationaler Kinderklassiker, die aber jenseits der nationalen und sprachlichen Grenzen oft völlig unbekannt sind. Während der Schwerpunkt lange Zeit auf den älteren, vor 1945 publizierten Kinderklassikern lag, werden mittlerweile auch kinderliterarische Werke neueren Datums als Klassiker eingestuft. Diese Tendenz lässt sich auch in Deutschland beobachten, wo die Hauptwerke von Autoren wie Michael Ende, Cornelia Funke, James Krüss, Paul Maar oder Otfried Preußler als moderne Kinderklassiker angesehen werden. Ebenso blickt die Kinderliteratur der DDR auf eine große Anzahl von Klassikern zurück, so etwa Ludwig Renns Trini (1954), Erwin Strittmatters Tinko (1954), oder Alfred Wellms Kaule (1962). Diese Werke sind aber – im Gegensatz zu den in Westdeutschland publizierten Kinderklassikern – größtenteils nicht mehr auf dem Buchmarkt präsent. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kinderklassikerbegriff und der Frage nach einem möglichen kinderliterarischen Kanon war in Deutschland seit Ende der 1960er Jahre zunächst von einer ideologiekritischen Perspektive beherrscht. Hierbei wurden die Kindheitsbilder und die Moralvorstellungen in klassischen Kinderbüchern, etwa Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1845), Johanna Spyris Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880) oder Kästners Emil und die Detektive als nicht mehr zeitgemäß abgelehnt (vgl. Doderer 1969). Diese distanzierte Sichtweise änderte sich erst seit den 1980er Jahren, als erste Ansätze
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zu einer Theorie des Klassischen in der Kinderliteratur formuliert wurden. Neben einem historisch-sozialgeschichtlichen Ansatz, der den Fokus auf die den Kinderklassikern zugrundeliegenden Kindheitsvorstellungen richtete (vgl. Ewers 1984), finden sich Bestrebungen, eine rezeptionsorientierte Perspektive in den Vordergrund zu rücken (vgl. Hurrelmann 1995). Diese Überlegungen wurden von Emer O’Sullivan (2000) modifiziert, indem sie auf die zunehmende Bedeutung der Kindermedienkultur verwies, die oft zu einer tiefgreifenden Veränderung der Originalversionen von Kinderklassikern geführt hat. Eine Verbindung literaturhistorischer und -ästhetischer Aspekte steht bei Kümmerling-Meibauer (1999a, 2003) im Mittelpunkt, wobei diese Überlegungen mit aktuellen Studien aus der Kanonforschung verzahnt werden. Hierbei wurde ein Kriterienkatalog zur Bestimmung und Abgrenzung von Kinderklassikern entwickelt, der neben den Kriterien der Innovativität und Repräsentativität noch sechs weitere Kriterien nennt (ästhetische Gestaltung der Sprache, Phantasie, Einfachheit vs. Komplexität, Darstellung der kindlichen Erlebniswelt, Polyvalenz, Crosswriting). Die Studie von Heidi Lexe (2003) wiederum akzentuiert die Figuren- und Motivkonstellationen internationaler Kinderklassiker, indem sie die Dominanz von Motiven wie Elternferne, Naturnähe, autonome Kinderwelt und Bewährung herausarbeitet. Zugleich richtet sie den Fokus auf deren intermediale Rezeption. Die Idee einer Weltliteratur für Kinder Die Vorstellung einer Weltliteratur für Kinder geht auf Paul Hazards Buch Bücher, Kinder und große Leute (Les livres, les enfants et les hommes, franz. 1925; dt. 1970) zurück. Trotz aller berechtigten Kritik an Hazards inhärentem Eurozentrismus und seiner unreflektierten und unvollständigen Darstellung der tatsächlichen Produktions- und Rezeptionsbedingungen auf dem internationalen Buchmarkt (vgl. O’Sullivan 2000), hat er zu Recht darauf hingewiesen, dass insbesondere die Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur durch Übersetzungen, Adaptionen und modernisierte Fassungen weltweit verbreitet werden. Daraus zieht Hazard die Schlussfolgerung, dass die Kinderklassiker deshalb auch immer im Kontext der internationalen Kinderliteratur betrachtet werden müssen. Als weiteres Argument führt Hazard an, dass Kinderklassiker intertextuell aufeinander referieren, sodass eine Entschlüsselung dieser Verweise nur durch die Kenntnis eben dieser Weltliteratur für Kinder möglich
ist. Mit diesen Gedanken kann Hazard als Vordenker derjenigen Verfechter eines kinderliterarischen Kanons angesehen werden, die dessen Bedeutung als kinderkulturelles Erbe betonen. Im Zuge des Aufkommens der Postcolonial Studies wurde dafür plädiert, den tradierten Begriff der Weltliteratur neu zu konzipieren (vgl. Gorak 1991). Diese Kritik bezog sich vor allem auf die Beschränkung des Kanons auf Werke von (meist männlichen) Autoren aus bestimmten Ländern und Regionen, mit einem Fokus auf Nordamerika und Nordwesteuropa, wofür stellvertretend Harold Blooms vieldiskutierte Monographie The Western Canon (1994) steht. Die damit einhergehende Erweiterung des Kanons um nichteuropäische, indigene Literaturen von sprachlichen, ethnischen und kulturellen Minoritäten lenkte den Blick auf die Peripherie und führte zu einer Aufwertung bislang vernachlässigter Literaturbereiche – wobei selbst bei dieser Erweiterung die Kinder- und Jugendliteratur vollkommen übersehen wurde. Die sich daraus ergebende Forderung nach einer »New World Literature« (Williams/Chrisman 1994) hat Auswirkungen auf die aktuelle Debatte über die Auswahl von Kinderklassikern, sofern hierbei auch die nationalen und regionalen klassischen Kinderbücher aus Ländern und Kontinenten berücksichtigt werden müssten, die bislang nicht im traditionellen Klassikerkanon vertreten sind (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999a). Obwohl in der allgemeinen Literaturwissenschaft die Diskussion über das Konzept der Weltliteratur weiterhin geführt und zu fruchtbaren Ergebnissen geführt hat (vgl. Papadima/Damrosch/D’haen 2011), spielt sie in der aktuellen Kinderliteraturforschung so gut wie keine Rolle. Klassiker und Kanon: aktuelle Diskussionen Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Klassiker-Konzept ist untrennbar mit dem Phänomen der Kanonisierung verbunden. Hierdurch ergeben sich vielfältige und komplexe Fragestellungen, die in ihrer Tragweite noch nicht erschöpfend diskutiert worden sind. Die Forderung nach einer kritischen Reflexion des kinderliterarischen Kanons hat einerseits bewirkt, dass dessen Normcharakter hinterfragt wurde, anderseits Studien zur historischen Kanonforschung initiiert. Ausgangspunkt entsprechender Analysen ist die Frage, aus welchen Beweggründen Kinder- und Jugendliteratur in der Regel nicht als Bestandteil der Allgemeinliteratur eingestuft und folglich de-kanonisiert
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worden ist. Infolgedessen ist Kinder- und Jugendliteratur in nationalen Literaturgeschichten in der Regel nicht berücksichtigt oder eher marginal behandelt worden. Zu diesem Themenkomplex liegen bislang nur zwei umfassende Monographien vor, die den Wandel der Bewertung von Kinder- und Jugendliteratur und die zugrundeliegenden (De)Kanonisierungsprozesse in Deutschland und den USA analysieren (vgl. Clark 2003; vgl. Kümmerling-Meibauer 2003). In den letzten Jahren sind weitere Studien hinzugekommen, die der Kanonforschung im Bereich der Kinderund Jugendliteratur neue Impulse verliehen haben, indem sie aktuelle soziologische und kulturhistorische Ansätze einbeziehen (vgl. Kümmerling-Meibauer/ Müller 2017; vgl. Müller 2017; vgl. Darr 2018) oder die Kanonisierung einzelner kinderliterarischer Genres und multimedialer Formen sowie die paradoxe Relation zwischen Avantgarde und Kanon untersuchen (vgl. Kümmerling-Meibauer 2017; vgl. Hateley 2018).
5.4 Inter- und transmediale Aspekte Wie bereits in einigen Studien beobachtet, sind die berühmtesten Kinderklassiker durch Medienverbundsysteme sowie den Transfer in andere Medien und Merchandising in mehreren medialen Formen präsent (vgl. O’Sullivan 2000; vgl. Lexe 2003). Diese Tendenz ist nicht neu, denn sie lässt sich bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts beobachten, etwa bei den Medientransformationen von Beatrix Potters Bilderbuch Die Geschichte von Peter Hase (The Tale of Peter Rabbit; engl. 1900, dt. 1902; vgl. Mackey 2008). Ein frühes deutsches Beispiel ist Kästners Roman Emil und die Detektive, der bereits zwei Jahre nach seiner Erstveröffentlichung erstmals verfilmt wurde. Mittlerweile gibt es mehr als zehn internationale Verfilmungen dieses Romans, die teilweise intermedial aufeinander referieren (vgl. Zhang 2018), darüber hinaus noch Remediationen als Theaterstück, Hörspiel, Hörbuch und Comic. Ebenso hat E. T. A. Hoffmanns Kindermärchen Nußknacker und Mausekönig (1817) eine erstaunliche mediale Karriere gemacht, da diese phantastische Erzählung seit den 1990er Jahren in Form von Animationsfilmen, Realverfilmungen, Bilderbuchversionen und Computerspielen multimedial vermarktet wurde (vgl. Kümmerling-Meibauer 2014). Des Weiteren hat die Diskussion über Crossover-Literatur und dem damit zusammenhängenden Phänomen des Crosswriting der Klassikerdiskussion neuen Auftrieb gegeben (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999b).
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Als multimedial vermarktete Produkte nehmen viele Kinderklassiker über Jahrzehnte hinweg auf dem internationalen Medienmarkt einen prominenten Platz ein. Als transmedial veröffentliche und vermarktete Long- und Bestseller finden sie zunehmend eine Nische im Internet, wo diese auf von Verlagen betreuten Webseiten oder Fan Fiction Sites überaus präsent sind. Hierbei wird die Leserschaft durch Spiele, Blogs, Videos und die Möglichkeit, bestehende Werke fortzusetzen oder umzuschreiben, aktiv einbezogen. Ein prominenter Fall ist die siebenbändige Harry PotterSerie (engl. 1997–2007, dt. 1998–2008) von J. K. Rowling, die als Franchise intermedial und transmedial vermarktet worden ist (vgl. Burn 2004; vgl. Kurwinkel/Schmerheim/Kurwinkel 2014). Die daraus entstandenen, von Fans und nicht-autorisierten Schriftstellern verfassten Fortsetzungen, Prequels, Spin-offs und Sidequels tragen zur Schaffung eines transmedialen Harry Potter-Kosmos bei (vgl. Jenkins 2015). Dieses globale Modell der intermedialen und transmedialen Vernetzung und Fortschreibung bedient sich zunehmend der Kinderklassiker und wird langfristig deren Rezeption und Wirkung prägen (s. Kap. 3). Die damit einhergehenden Veränderungen der Originalvorlage durch Adaptionen und Remediatisierungen und deren Auswirkungen auf das Verständnis der Geschichte und Figuren sind bereits mehrfach analysiert worden (vgl. Bolter/Grusin 1999). Dadurch ergeben sich neue Einblicke in den medienhistorischen und kindheitsgeschichtlichen Wandel, dem Kinderklassiker oder Adaptionen kanonisierter Werke für Kinder unterworfen sind (vgl. Van den Bossche 2011; vgl. Zöhrer 2011; vgl. Müller 2013; vgl. Geerts/Van den Bossche 2014). Literatur
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Bettina Kümmerling-Meibauer
6 Kinder- und Jugendliteraturforschung nach 1945
6 Kinder- und Jugendliteraturforschung nach 1945 6.1 Einleitung Die Kinder- und Jugendliteraturforschung erlebte nach 1945 im deutschsprachigen Raum einen bis dahin ungeahnten Aufschwung als eigenständige akademische Forschungsdisziplin der Literatur- und Kulturwissenschaft. Sie differenzierte sich in historischer, systematischer und theoretischer Perspektive in Methodenvielfalt aus und grenzte sich von pädagogischen und didaktischen Vereinnahmungsversuchen, trotz gemeinsamer Schnittmengen, ab. Nach einer terminologischen Begriffsbestimmung der fachhistorischen Geschichtsschreibung der Kinder- und Jugendliteraturforschung werden die Prozesse der Institutionalisierung, Professionalisierung, Ausdifferenzierung und Vermittlung als Ausdruck dieser Entwicklung kontextualisiert und rekonstruiert. Abschließend wird im Überblick skizziert, in welchen zentralen Theorien und Tendenzen sich die Geschichte der Kinder- und Jugendliteraturforschung von 1945 bis zur Gegenwart konkretisiert.
6.2 Begriffsdefinitionen Unter dem Begriff Geschichte der Kinder- und Jugendliteraturforschung versteht man die methoden- und theoriegeleitete Rekonstruktion und Kontextualisierung der fachhistorischen Entwicklung professioneller, akademisch institutionalisierter und theoriebasierter Diskurse über das literarische Feld der Kinder- und Jugendliteratur im regionalen, nationalen, europäischen und internationalen Zusammenhang. Die Geschichte der Kinder- und Jugendliteraturforschung ist ein Teilbereich der Fachhistoriographie der philologischen, medien- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Sie ist primär sowohl dem theoretischen Instrumentarium und dem Gegenstand der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Literaturwissenschaft verpflichtet (vgl. Danneberg/Höppner/Klausnitzer/Müller 2013) als auch ein spezifischer Teilbereich der Literaturge schichtsschreibung (vgl. Schönert 2013). Dabei gilt: »Literaturgeschichte bezeichnet sowohl einen Objektbereich als auch die reflexive Aneignung dieses Gegenstands durch die Literaturwissenschaft« (ebd., 267). Die Geschichte der Kinder- und Jugendliteraturforschung berücksichtigt einerseits fachspezifische,
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andererseits jedoch auch interdisziplinäre Perspektiven der Poetologie, Narratologie, Ästhetik, Materialität und Adressatenspezifik der Produktion, Rezeption, Distribution, Wertung, Kritik und Kanonisierung von Kinder- und Jugendliteratur und -medien in einem theoretischen, systematischen, sozialen und historischen bzw. raumzeitlichen Kontext. Sie bedient sich wissenschaftsspezifischer Publikationsformate, die teilweise periodisch erscheinen, wie Miszelle, Rezension, Essay, (Zeitschriften-)Aufsatz, Monographie oder Sammelband, in denen die Diskurse zur Geschichte, Systematik und Theorie der Kinder- und Jugendliteratur akademisch konstituiert werden. Eine systematische Geschichtsschreibung der Kinder- und Jugendliteraturforschung im deutschsprachigen Raum nach 1945 steht trotz einzelner Vorar beiten zu spezifischen Phänomenen der Entwicklung der Disziplin in der BRD, der SBZ/DDR und Österreich (vgl. Weinmann 2013; vgl. Müller 2014) erst in ihren Anfängen. Sie ist derzeit – im Gegensatz beispielsweise zu fachhistorischen Untersuchungen zur Geschichte des Deutschunterrichts und zur Entwicklung der Literaturwissenschaft insgesamt – noch weitgehend Desiderat. Die Geschichte der Kinder- und Jugendliteraturforschung ist nach 1945 einerseits gekennzeichnet durch einen Prozess der Emanzipation. Dabei gelang dem Fach die erfolgreiche Etablierung als eigenständige akademische Teildisziplin. Daraus erwuchsen intensive Bestrebungen in der Grundlagenforschung. Andererseits war diese Entwicklung durch ein stark zunehmendes Methoden- und Theoriebewusstsein, die Hinwendung zur Interdisziplinarität und zur vernetzten Internationalität der Erforschung von Kinder- und Jugendliteratur und -medien bestimmt. Besonders akzentuiert wurden die gemeinsamen Schnittmengen, die sich zu Fachgebieten wie der Kindheitsforschung, zur Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters, zur Buch- und Literaturgeschichte, zur Systemtheorie, zur Medien- und Kommunikationswissenschaft u. a. benachbarten Disziplinen ergeben haben. Reibungsflächen bildet dabei die Diskussion um Nähe und Distanz der Kinder- und Jugendliteratur und -medien gegenüber didaktischen und pädagogischen Fragestellungen. Zwar gibt es eine traditionelle Nähe, aber auch eine Indienstnahme und Vereinnahmung des literarischen Felds für schulische und erzieherische Verwertungskontexte, gegen die sich ein Teil der Emanzipationsbestrebungen der Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Erforschung nach 1968 nachdrücklich wandte.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_6
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Weite Bereiche der aktuellen Kulturwissenschaft akzentuieren ebenso wie philologisch, systemtheoretisch und medienwissenschaftlich orientierte Ansätze das geschärfte Bewusstsein für die ästhetische Autonomie der Kinder- und Jugendliteratur und -medien als gleichberechtigter Teil der Literatur und Medien insgesamt. Sie betonen, dass Kinder- und Jugendliteratur kein verlängerter Arm der Fachdidaktiken und Erfüllungsgehilfe der Pädagogik sein soll, sondern sie von spezifisch eigenem ästhetischen Wert ist. So betont Hans-Heino Ewers beispielsweise, dass »die Kinder- und Jugendliteratur einen Ausschnitt, einen abgegrenzten Teil aus dem literarischen Gesamtangebot« darstellt (Ewers 2012, 14). Sie ist somit Teil der Literatur und primär Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft. Dies schließt kultur- und medienwissenschaftliche Zugänge mit ein. Ihrem Erkenntnisinteresse gemäß akzentuieren die mit dem schulischen Verwertungskontext und dem Prozess der Lesesozialisation und der Medienrezeption befassten Wissenschaften hingegen stark die Funktion der Kinder- und Jugendliteratur als Sozialisationsliteratur. Sie untersuchen die methodisch-theoretische Kontextualisierung für didaktische Modelle und ihre Anwendung für das Literarische Lernen im Literaturunterricht der verschiedenen Schulformen und in der literarischen Öffentlichkeit (vgl. Weinkauff/ Glasenapp 2018, 248–280).
6.3 Historische Entwicklungen Die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteraturforschung nach 1945 ist im deutschsprachigen Raum beherrscht durch den Prozess der Etablierung und Ausdifferenzierung des Forschungsfelds im Zusammenhang mit einer zunehmenden Institutionalisierung und Professionalisierung des Umgangs mit Kinderund Jugendliteratur im akademischen Kontext (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012, 13–33). Der Prozess der Institutionalisierung setzt 1949 mit der Gründung der Internationalen Jugendbibliothek (IJB) in München durch Jella Lepman und Erich Kästner ein. Ziel war die bewusste Internationalisierung der Kinder- und Jugendliteratur als Antwort auf den Nationalsozialismus. Dieser Gedanke prägt diese Institution bis heute (s. Kap. 11). Mit der 1951 erfolgten Einrichtung einer eigenen wissenschaftlichen Kinderund Jugendbuchabteilung an der Deutschen Staatsbibliothek in Ostberlin wurde erstmals öffentlich versucht, eine auf Vollständigkeit und Repräsentativität
angelegte Mustersammlung von Kinder- und Jugendliteratur aus Vergangenheit und Gegenwart zusammenzutragen. Sie wurde zum Vorbild zahlreicher weiterer wissenschaftlicher Sammlungen. Heute zählt die Kollektion zu den bedeutendsten in Europa. Der Bibliothekar Heinz Wegehaupt leistete mit seiner vierbändigen kommentierten Bibliographie Alte deutsche Kinderbücher (1979–2003), die teils zugleich auch Bestandsverzeichnis der Abteilung war, wichtige Grundlagenforschung, da bis dahin Kinder- und Jugendliteratur kaum mit wissenschaftlichem Anspruch gesammelt worden ist. Flankiert wurde diese Institutionalisierung in der DDR durch die Gründung des Zentrums für Kinderliteratur in Ostberlin und die Herausgabe der Reihe Studien zur Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur (14 Bde.). Die Sammeltätigkeit für das spezielle Feld der Bilderbücher wurde 1982 in der BRD mit der Gründung des Bilderbuchmuseums der Stadt Troisdorf bei Köln auf Burg Wissem professionalisiert, das bis heute in Europa das einzige seiner Art ist. Als einflussreiche Gründungsväter und -mütter der Kinder- und Jugendliteraturforschung sind in besonderer Weise die Sammler von Kinder- und Jugendbüchern hervorzuheben. Mehrere Generationen bedeutender Sammlerpersönlichkeiten wie Bettina Hürlimann in der Schweiz, Theodor Brüggemann in Köln, Hubert Göbels in Essen, Johanna Monschein in Wien, Heiner Vogel in Leipzig, Aiga Klotz in Stuttgart, Jürgen Seifert in Göttingen und Friedrich C. Heller in Wien haben mit ihren Kinderbuchkollektionen und den dazugehörigen Bibliographien, Katalogen und Ausstellungen herausragende Pionierarbeit in der Grundlagenforschung zur historischen Kinder- und Jugendliteratur geleistet. Ihr Wert für die Entwicklung einer professionalisierten Forschung ist kaum zu überschätzen. Die Gründung des Instituts für Jugendbuchforschung an der Goethe-Universität zu Frankfurt am Main im Jahr 1963 auf Initiative von Klaus Doderer mit einem eigenen Mitarbeiterstab und einem Lehrstuhl war ein überragender und entscheidender Schritt und ein Meilenstein für die Etablierung der Kinder- und Jugendliteraturforschung als eigenständige akademische Teildisziplin in der BRD (vgl. Müller/Schindler-Frankerl 1983). Die bibliothekarische Sammeltätigkeit des Instituts, die Grundlagenarbeit durch Spezialisierung auf die Geschichte und Rezeption der Kinder- und Jugendliteratur, die Bilderbuchund Comicforschung (Klaus Doderer, Helmut Müller, Bernd Dolle-Weinkauff), die Erarbeitung des Lexi-
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kons der Kinder- und Jugendliteratur (1975–1982), historische Projekte und Reihen (Anthologien im Reclam Verlag) und die Herausbildung einer kommunikations- und systemtheoretischen Modernisierungstheorie des Handlungs- und Symbolsystems der Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Ewers 2012) haben zum nationalen und internationalen Renommee der Kinder- und Jugendliteraturforschung in der BRD entscheidend beigetragen. Die von Theodor Brüggemann initiierte Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendliteratur- und -medienforschung (ALEKI) an der Universität zu Köln leistete mit dem DFG-finanzierten Projekt der Reihe Handbücher zur Kinder- und Jugendliteratur Grundlagenforschung zur Aufarbeitung der Geschichte der Kinderund Jugendliteratur von den Anfängen des Buchdrucks bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Otto Brunken, Klaus-Ulrich Pech, Hans-Heino Ewers), in der Erforschung der Mädchenliteratur (Dagmar Grenz, Gisela Wilkending) sowie in der Lesesozialisationsforschung (Bettina Hurrelmann). Ein weiterer wichtiger Schritt war die Erarbeitung eines Handbuchs zur Kinder- und Jugendliteratur des Nationalsozialismus an der Universität Bielefeld (Norbert Hopster, Ulrich Nassen, Petra Josting) und an der Humboldt-Universität Berlin zur SBZ/DDR (Rüdiger Steinlein). Die Forschungsstelle an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg war unter Jens Thiele ein Zentrum der Bilderbuchforschung. Die Arbeitsstelle der Enzyklopädie des Märchens an der Göttinger Akademie der Wissenschaften widmete sich der speziell für die Kinder- und Jugendliteratur bedeutenden Professionalisierung der vergleichenden Erzählforschung. In zahlreichen deutschsprachigen Universitäten gehört Kinder- und Jugendliteraturforschung inzwischen zum unverzichtbaren Teil der praktischen Lehrerbildung, oftmals im literatur- und mediendidaktischen Kontext der modularisierten Lehre nach der Bolognareform, die dem Forschungsfeld einen enormen Aufschwung beschert hat. So konnte Gina Weinkauff in einer statistischen Erhebung von 2008 rund dreißig Standorte in der Bundesrepublik ermitteln, in denen Kinder- und Jugendliteratur Teil des Lehramtsstudiums ist (vgl. Weinkauff 2008). In der Schweiz gibt es ebenfalls mit dem Schweizer Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) und einem Studiengang an der Universität Zürich eine Institutionalisierung der Forschung. In Österreich wurde 1965 in Vereinsträgerschaft ein Institut für Jugendliteratur in Wien gegründet, im Umfeld der Universität Wien entwickelte sich eine rege historische Kin-
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der- und Jugendliteraturforschung. Hier wie dort haben bibliographische Grundlagenwerke entscheidende Schritte für die länderspezifische Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur bewirken können (Verena Rutschmann, Ernst Seibert, Friedrich C. Heller, Johanna Monschein, Susanne Blumesberger). Die meisten dieser Bestrebungen sind besonders in der BRD Ausdruck des für den gestiegenen Professionalisierungsgrad des Fachs entscheidenden Faktums, »dass Anfang der 80er-Jahre eine neue Generation philologisch ausgebildeter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf den Plan trat, die sich der Aufgabe verschrieb, die Kinder- und Jugendliteratur mit dem aktuellen methodischen Instrumentarium der Literaturwissenschaft zu erforschen« (Brunken 1999, 69). Eine zweite Phase der Institutionalisierung und der zunehmenden Akzeptanz der Kinder- und Jugendliteraturforschung als akademischer Disziplin wurde nach dem politischen Wandel von 1989 mit der Etablierung von Professuren für Kinder- und Jugendliteratur an der Humboldt-Universität zu Berlin (Rüdiger Steinlein), der Universität Leipzig (Ulrich Nassen) und der Universität Erfurt (Karin Richter) erkennbar. In der gesamten BRD wurde der Stellenwert des Fachs innerhalb der universitären Lehrerbildung in den Lehramtsstudiengängen gestärkt. Hier reüssierte die theoriebasierte Beschäftigung mit Kinder- und Jugendliteratur in den 1990er Jahren zu einem anerkannten Gegenstand in Lehre und Forschung (vgl. ebd.). Die Professionalisierung zeigt sich ebenso in einer Gründungswelle von Gesellschaften und Vereinen zur Förderung und Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur im deutschsprachigen Raum ebenso wie im internationalen Kontext. Hervorzuheben sind die 1987 aus einem Arbeitskreis hervorgegangene Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung in Deutschland und der Schweiz (GKJF), die 1970 in Frankfurt am Main gegründete International Research Society for Children’s Literature (IRSCL), die 1976 erfolgte Vereinsgründung der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach sowie seit 1990 die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung (ÖG-KJLF). Die Professionalisierung der akademischen Disziplin ist überdies durch die Publikation spezifischer Periodika der Kinder- und Jugendliteraturforschung gekennzeichnet, deren Zahl seit 1945 als Ausdruck der gestiegenen Bedeutung des Fachs beständig zunimmt. Unter diesen Zeitschriften ist das Jahrbuch Kinder- und Jugendliteraturforschung (seit 1995) der
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I Grundlagen
GKJF hervorzuheben, das neben Aufsätzen, Miszellen, Forschungsberichten und Rezensionen bis 2014/15 auch eine Jahresbibliographie einschlägiger Neuerscheinungen enthielt und seit 2017 als jahresweise themenbezogene, peer reviewte open accessPublikation erscheint. Für die Fachgeschichte nach 1945 aufschlussreich waren die Münchener Zeitschrift Jugendliteratur. Monatshefte für Jugendschrifttum (1955–1963), aber auch Die Schiefertafel. Zeitschrift für historische Kinderbuchforschung (1978–1986) sowie die in der DDR erschienenen Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur (1962–1992). Außerdem bestehen bereits vor 1945 bedeutende Kernorgane des Fachs wie die Zeitschrift kjl&m. Forschung. Schule. Bibliothek (gegründet 1893 unter dem Titel Jugendschriften-Warte) fort (bis 1992 unter dem Titel Informationen Jugendliteratur- und -medien, bis 2007 umbenannt in Beiträge zur Kinderund Jugendliteratur). Neben den Zeitschriften gibt es weitere vielfältige, für die Fachgeschichte wesentliche Publikationsformate. Für Dissertationen, Monographien und Sammelbände zur Kinder- und Jugendliteraturforschung ist besonders die Reihe Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien im Peter Lang Verlag als produktiv zu erwähnen. Auch die Schriftenreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e. V. publiziert regelmäßig zahlreiche neue Forschungserträge. Ebenso zu erwähnen sind die Reihen Studien zu Kinder-und Jugendliteratur und -medien des Stuttgarter Metzler Verlags, die Studien zur europäischen Kinder- und Jugendliteratur im Heidelberger Winter Verlag, die Reihe Kinder- und Jugendliteratur Intermedial im Verlag Königshausen und Neumann in Würzburg u. a. Trotz der allgemein anerkannten Notwendigkeit des Fachs für die Lehrerbildung und der zweifellos zunehmenden Akzeptanz als akademisches Lehrgebiet der Philologien, Medien- und Kulturwissenschaften und vor allem der Didaktiken behält als Gesamtresümee der aktuellen Entwicklung der Disziplin nach wie vor Gültigkeit, was Brunken bereits 1999 in der wünschenswerten Klarheit konstatiert hat: »In der germanistischen Familie sitzen die KJL-Forscher sozusagen am Katzentisch: Keiner kümmert sich so recht um sie« (Brunken 1999, 71). Dies zeigt sich gegenwärtig in der nach wie vor ambivalenten Stellung von Kinder- und Jugendliteraturprofessuren im akademischen Lehrund Forschungsbetrieb zwischen Lehrerbildung und kulturwissenschaftlicher Neuorientierung. Depravierend wirken die derzeit wieder zunehmende Verortung des Forschungsfelds innerhalb der Fachdidak-
tik und nicht zuletzt die mangelnden Perspektiven nicht weniger jüngerer Kinder- und Jugendliteraturforscher, in ihrem Spezialbereich eine dauerhafte berufliche Zukunft und anerkannte akademische Basis zu finden. Gesellschaftliche Sichtbarkeit und Relevanz für den Aspekt der Vermittlung haben zahlreiche, teilweise ehrenamtliche und an Vereine und Institutionen der Leseförderung und der Förderung von Kinder- und Jugendliteratur gebundene Publikationen wie die mittlerweile eingestellte Loseblattsammlung Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon (1995–2017). Dazu zählen auch an ein Fachpublikum der Vermittlung von Kinder- und Jugendliteratur gerichtete Zeitschriften wie JULIT (seit 1975), Eselsohr (seit 1982), 1001 Buch (seit 1985), Bulletin Jugend & Literatur (seit 1969; seit 2011 als Beilage in Eselsohr), Volkacher Bote (1981–2014), Fundevogel (1984–2004), Jugend und Buch (1952– 1985), Jugendbuchmagazin (seit 1980). Vermittlungsaspekte der Märchenforschung thematisiert die Zeitschrift Märchenspiegel (seit 1990). International ausgerichtete Zeitschriften wie IJB Bücherschloss (seit 2009) und Bookbird (seit 1963) berücksichtigen die internationale Perspektive des Vermittlungsaspekts. Diese Tendenz wird aktuell fortgesetzt. Zahlreiche Kinderliteraturfestivals wie Bielefelder Poet in Residence, Paderborner Kinderliteraturtage, Heidelberger Kinderliteraturgespräche, Oldenburger Poetikvorlesungen werden in der Reihe KJL aktuell als Brücke zwischen Forschung, Didaktik und Vermittlung dokumentiert. Eine Reihe Forschungsperiodika des deutsch sprachigen Raums sind inzwischen als open accessPublikationen online verfügbar, etwa kids + media (http://www.kids-media.uzh.ch), Jahrbuch der GKJF (http://www.gkjf.de/publikationen/) oder ph-lesenswert (https://www.ph-ludwigsburg.de/12082.html). Weitere Periodika erschienen oder erscheinen sowohl gedruckt als auch digital, bspw. libri liberorum (https:// phaidra.univie.ac.at/o:1030875) oder denkste: puppe / just a bit of: doll – de:do (https://denkste-puppe.info/). Den Trend zu digitalen Forschungs- und Publikationsstrukturen spiegeln auch Online-Repositorien wie Schatzbehalter, ein vom ALEKI und Bilderbuchmu seum Wissem betreutes Portal für historische Kinderund Jugendliteratur (http://schatzbehalter.aleki.unikoeln.de), die digitale Sammlung historischer Sachbücher wegehaupt.digital als homogenes Korpus (http:// staatsbibliothek-berlin.de/die-staatsbibliothek/abteil ungen/kinder-und-jugendbuecher/recherche-und-re ssourcen/wegehauptdigital/) sowie wissenschaftliche
6 Kinder- und Jugendliteraturforschung nach 1945
Publikations- und Informationsplattformen wie KinderundJugendmedien.de (http://www.kinderund jugendmedien.de), das an der Universität DuisburgEssen angesiedelt ist.
6.4 Theorien und Tendenzen Die Entwicklung der fachspezifischen Theorien beginnt nach 1945 mit der Hinwendung zu einer Jugendbuchforschung, die eine stark literaturpädagogisch inspirierte Theorie des ›guten Jugendbuchs‹ ausprägte (Anna Krüger, Richard Bamberger, Walter Scherf, Karl-Ernst Maier). Sie ist paradigmenbildend für die 1950er und 1960er Jahre. Die Erweiterung des Literaturbegriffs durch den Paradigmenwechsel und die vornehmlich linksemanzipatorische Literaturwissenschaft nach 1968 führten zu einem enormen Aufschwung und Bedeutungsgewinn der Kinder- und Jugendliteraturforschung in den 1970er und 1980er Jahren. Dieser Bedeutungszuwachs bedingte, dass dieses Fach durch seine Öffnung gegenüber ideologiekritischen (Malte Dahrendorf, Klaus Doderer), sozialwissenschaftlich-zivilisationstheoretischen und psychohistorischen Fragestellungen wesentlich an Selbstbewusstsein, ästhetikgeschichtlichem Eigenwert und Autonomie als Teildisziplin insbesondere der sozialhistorisch orientierten Literaturwissenschaft gewinnen konnte (Dieter Richter, Bettina Hurrelmann, Reiner Wild, Rüdiger Steinlein, Walter Pape). Zu dem Erfolg dieses Emanzipationsprozesses gehört auch der gestiegene Anteil der Kinder- und Jugendliteraturforschung am Diskurs um geschlechterorientierte Perspektiven und hierbei speziell die Etablierung einer sozialhistorischen Mädchenliteraturforschung (Dagmar Grenz, Gisela Wilkending, Susanne Barth), die aktuell in Tendenzen kulturwissenschaftlicher Genderforschung mündet. Einen Spiegel und ein interessantes Forschungsfeld bietet hierbei die Einführungsliteratur zur Kinderund Jugendliteratur, die für eine Forschungsgeschichte besonders aufschlussreiches Quellenmaterial bietet und die Vielfalt der theoretischen, systematischen und historischen Zugriffe auf den Gegenstand reflektiert. Das Spektrum bildet auch die Entwicklungsgeschichte des akademischen Fachs der Neueren Deutschen Literatur und ihrer Erforschung ab. Eine besonders interessante Phase sind die 1970er und 1980er Jahre. Hier reicht das Spektrum der Einführungsliteratur von strukturanalytischen Ansätzen (Walter Scherf), eher lesesozialisatorisch und leseerzieherisch gepräg-
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ten Ansätzen (Alfred Clemens Baumgärtner), sozialwissenschaftlichen, medientheoretischen Perspektiven (Hans Gärtner), unterrichtspraktischen und didaktischen Aspekten (Hans Karst) über formen-, gattungs- und literaturpädagogische Ansätze (Karl Ernst Maier) und traditionelle Ansätze der Jugendlektüre als Aspekt der Jugendschriftenkunde, des Leseunterrichts und der sogenannten Literaturerziehung (Richard Bamberger) bis zur Idee von Kinder- und Jugendliteratur als sprachliches Kunstwerk von Rang (Anna Krüger). Hinzu treten für die 1970er und 1980er typische Tendenzen wie ideologiekritische, sozialkritisch emanzipatorische Ansätze (Elke Liebs, Johannes Merkel, Dieter Richter, Winfred Kaminski). Die seitdem rasant zunehmende Ausdifferenzierung des Fachs führt zu einer Aufsplitterung in eine Vielzahl verschiedener theoretischer Forschungsrichtungen. Als paradigmenbildend für die 1990er bis 2000er Jahre erwies sich die systemtheoretisch-kommunikationswissenschaftliche Theorie von Normen und Konzepten eines Handlungs- und Symbolsystems der Kinder- und Jugendliteratur (Hans-Heino Ewers, Carsten Gansel). Zu den Errungenschaften der Forschung zählt in diesem Kontext die Verortung der Kinder- und Jugendliteratur in den Prozess der Modernisierung und die Akzentuierung eines Themen-, Formen- und Funktionswandels der Kinder- und Jugendliteratur als Ergebnis eines Paradigmenwechsels nach 1968. Dies erzeugte sozialkritisch-problemorientierte Emanzipationsbestrebungen gegenüber Kindern und Jugendlichen unter der Maßgabe ihrer zunehmenden Teilhabe an drängenden politischen, sozialen und zeitgeschichtlichen Fragen der Gesellschaft durch Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Ewers 2013). Diese Tendenzen münden aktuell in transmediale kulturwissenschaftliche Zugänge zur Kinder- und Jugendmedienforschung. Sie sind Ausdruck einer »Disziplin im Umbruch« (Schönert zit. nach Brunken 1999, 78). Ihnen ging ein bis heute anhaltendes verstärktes Interesse an »Bilderbuchtheorie« voraus, das der »kulturgeschichtlichen Wende in den Geisteswissenschaften« geschuldet ist (Kümmerling-Meibauer 2012, 17): »Hierbei spielte der Begriff des Bildes als eigene ästhetische Kategorie ebenso eine Rolle wie die Bedeutung der symbolischen Formen von Bild und Text und deren Interaktion« (ebd.). Neuere deutschsprachige Bilderbuchtheorien (Margarete Hopp, Michael Staiger, Tobias Kurwinkel) flankieren hier internationale Entwicklungen der aktuellen Diskussion (Bettina Kümmerling-Meibauer). Zu den Errungenschaften des Fachs gehört auch die differenzierte Er-
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I Grundlagen
forschung von Spezialliteratur wie die jüdische Kinder- und Jugendliteratur (Zohar Shavit, Hans-Heino Ewers, Gabriele von Glasenapp, Michael Nagel, Annegret Völpel), Genderdiskussionen und Gattungsdiskussionen wie die Adoleszenzliteratur, aber auch Beiträge zur Erinnerungskulturforschung zeitgeschichtlicher Kinder- und Jugendliteratur (Zohar Shavit, Malte Dahrendorf, Carsten Gansel) und der (historischen) Sachliteraturforschung (Martin Hussong, Sebastian Schmideler). Die Kindermedienforschung erweiterte den Literaturbegriff erneut und betrachtet intermediale sowie transmediale, hypermediale und medienkonvergente Phänomene in Kindermedienverbünden (Petra Josting) differenziert, behält aber auch die Geschichte und Theorie der jeweiligen visuellen und audiovisuellen Kinder- und Jugendmedien im Blick. Für die Internationalisierung der Kinder- und Jugendliteraturforschung hat die »komparatistische Perspektive wesentlich dazu beigetragen« (Gina Weinkauff, Emer O’Sullivan, Martina Seifert), »die theoretischen Ansätze der Imagologie, Interkulturalitätsforschung, Motiv- und Stoffgeschichte, Translationswissenschaft und Intertextualität gewinnbringend für die Analyse der Kinder- und Jugendliteratur einzusetzen« (ebd.). Weitere Tendenzen flankieren die Kanon- und Wertungsdebatte von Kinder- und Jugendliteratur (Bettina Hurrelmann, Bettina Kümmerling-Meibauer, Heidi Lexe) sowie narratologische Zugänge, einschließlich der Debatten um All-Age- und Crosswritingphänomene (vgl. ebd., 18; s. Kap. 2). Besonders herausragende und dauerhaft bleibende Leistungen sind der Kinder- und Jugendliteraturforschung nach 1945 speziell auf dem Gebiet der bibliographischen Erschließung und Erfassung sowie der diskursiven Kontextualisierung und Rekonstruktion der Kinder- und Jugendliteratur vorangegangener Epochen sowie in der sozialhistorischen, gattungsund adressatenspezifischen Erforschung der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur gelungen. Gegenwärtig beeindrucken der Methodenpluralismus und die vielseitige Facettierung des Gegenstandsfelds – von der Bilderbuchtheorie, der Comic- und GraphicNovel-Forschung über Medienverbundforschung bis zur Kulturtransferforschung. Die weitere theoretische Fundamentierung und die Profilierung der Anschlussfähigkeit der Kinder- und Jugendliteraturforschung
für rezente kulturwissenschaftliche Perspektiven im europäischen und internationalen Kontext sind ebenso wie die Digitalisierung Herausforderungen für die kommenden Jahre (vgl. Dettmar/Roeder/Tomkowiak 2019). Literatur
Brunken, Otto: Die zünftige Wissenschaft oder: Was machen Pippi und Robinson an der Uni? Forschung und Lehre zur Kinder- und Jugendliteratur. In: Renate Raecke (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland. München 1999, 69–88. Danneberg, Lutz/Höppner, Wolfgang/Klausnitzer, Ralf/ Müller, Dorit: Geschichte der Literaturwissenschaft. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 3. Institutionen und Praxisfelder. Sonderausgabe. Stuttgart/Weimar 2013, 1–190. Dettmar, Ute/Roeder, Caroline/Tomkowiak, Ingrid (Hg.): Schnittstellen der Kinder- und Jugendmedienforschung. Aktuelle Positionen und Perspektiven. Stuttgart 2019. Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung [2002]. Paderborn 22012. Ewers, Hans-Heino: Literaturanspruch und Unterhaltungsabsicht. Studien zur Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2013. Kümmerling-Meibauer, Bettina: Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Darmstadt 2012. Müller, Helmut/Schindler-Frankerl, Hildegard: Das Institut für Jugendbuchforschung der Johann Wolfgang GoetheUniversität in Frankfurt am Main. 1963–1983. Frankfurt a. M. 1983. Müller, Sonja: Kindgemäß und literarisch wertvoll. Untersuchungen zur Theorie des »guten Jugendbuchs« – Anna Krüger, Richard Bamberger, Karl-Ernst Maier. Frankfurt a. M. 2014. Schönert, Jörg: Literaturgeschichtsschreibung. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2. Methoden und Theorien. Sonderausgabe. Stuttgart/Weimar 2013, 267–284. Weinkauff, Gina/Glasenapp, Gabriele von: Kinder- und Jugendliteratur. StandardWissen Lehramt [2010]. Paderborn 32018. Weinkauff, Gina: Kinder- und Jugendliteratur im Lehramtsstudium (2008). In: https://www.ph-heidelberg.de/file admin/user_upload/deutsch/Zentrum_KJL/Umfrage_ KJL_LAS/Umfage_KJL_im_Lehramtsstudium.pdf (1.7.2020). Weinmann, Andrea: Kinderliteraturgeschichten. Kinderliteratur und Kinderliteraturgeschichtsschreibung in Deutschland seit 1945. Frankfurt a. M. 2013.
Sebastian Schmideler
II Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur
7 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in der BRD 7.1 Einleitung Seit ihren Anfängen ist die Kinder- und Jugendliteratur (KJL) immer diverser geworden, was einhergeht mit sich verändernden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen sowie Medienumbrüchen, ästhetischen Ansprüchen, Jugendkulturen und Kindheiten. Dabei lässt sich ein konkretes homogenes Bild von Kinder- und Jugendliteratur für einen bestimmten Zeitraum genauso wenig behaupten wie eine einzige Kindheits- oder Jugendkonzeption, was insbe sondere für das 20. und 21. Jahrhundert gilt. Nach 1945 ist die KJL noch vielseitiger, vielfältiger und zudem deutlich internationaler geworden. Doch gleichzeitig lassen sich auch Kontinuitäten feststellen: So greift die KJL nach 1945 inhaltlich wie formal auf vorgängige Literatur zurück und es werden weiterhin ältere Bücher verlegt. Dieser Überblick verfolgt in erster Linie die in Westdeutschland (den westdeutschen Zonen und der BRD) erstveröffentlichte Kinder- und Jugendliteratur von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die Gegenwart. Der Kürze halber liegt der Fokus auf westdeutschen Verlagen und Autoren sowie auf dort besonders populärer und/oder viel diskutierter und im Original erstveröffentlichter Literatur – d. h. auf einem kleinen Ausschnitt. Die Gliederung ist der auf Vereinheitlichung zielenden Struktur des Handbuchs geschuldet und nicht immer kongruent mit historischen Zäsuren. Dies gilt auch für den letzten Abschnitt des Beitrags, der als Ausblick medienübergreifende Aspekte noch einmal komprimiert nachverfolgt. Zäsuren, die sich in ästhetischer, pädagogischer, ökonomischer und politischer Hinsicht für die gesamte Kinder- und Jugendliteratur in diesem Zeitraum als tragfähig erweisen könnten, sind nur schwer auszumachen. In ihren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen betrachtet, sind für KJL die allgemeinen Einschnitte wie die Gründung der BRD und DDR, der Bau der Mauer etc. bedeutsam, doch gehen damit nicht immer formale und ästheti-
sche Umbrüche einher. Umfassende Veränderungen auch in ästhetischer und pädagogischer Hinsicht sind Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre zu verzeichnen und auf den Einfluss der 68er-Bewegung zurückzuführen, weshalb in der Forschung von einem Paradigmenwechsel gesprochen wird. Zu beachten gilt es allerdings, dass auch 1968 kein Schalter umgelegt wurde, vielmehr bahnten sich gerade die literarischen Neuerungen bereits in den Jahren und Jahrzehnten zuvor an (vgl. Dettmar/Glasenapp/O’Sullivan u. a. 2018, insbes. 5). Eingedenk dieser Prozesshaftigkeit von Kinder- und Jugendliteraturgeschichte ließe sich ferner die Veröffentlichung von J. K. Rowlings Harry Potter (engl. 1997–2007; dt. 1998–2007) als Wendepunkt verstehen, da sich mit ihr der Blick der allgemeinen Öffentlichkeit auf KJL veränderte und der Marktanteil von KJL sprunghaft anstieg.
7.2 Historische Entwicklungen Das Ende des Zweiten Weltkriegs und mit ihm das Ende des NS-Regimes bedeutet eine Zäsur, die alle wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Aspekte des Landes durchzieht. Doch markiert 1945 keinen genuinen Neuanfang, vielmehr bestehen nationalsozialistisch geprägte Strukturen oftmals im Stillen fort. Eine sogenannte ›Stunde Null‹ ist demnach nirgendwo zu verzeichnen – auch nicht in der Kinder- und Jugendliteratur. Viele Autoren, die NS-affine Schriften veröffentlicht oder das NS-System anderweitig unterstützt hatten, können unmittelbar nach 1945 weiter publizieren und bekleiden Ämter im Erziehungs-, Bildungs- und Verlagswesen. Selbst Kinderund Jugendbücher, die Anleihen zu nationalsozialistischem Gedankengut aufweisen, werden vereinzelt publiziert (vgl. Kaminski 1988), wenngleich explizit nationalsozialistische Texte nicht mehr veröffentlicht werden, da die Alliierten den Buchmarkt durch restriktive Lizenzvergabe- und Zensurpraktiken kontrollieren (vgl. Jäschke 1988), um Artefakte mit derartigem Gedankengut aus dem Verkehr zu ziehen. Insgesamt ist die Kulturpolitik der drei westdeutschen Besatzungszonen aber unterschiedlich ausgestaltet, woraus sich jeweils andersgeartete Grundbedingungen für die Publikation, Verbreitung und Rezeption von KJL ergeben.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_7
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II Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur
Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges behindern zunächst die Zerstörung der Infrastruktur, Materialknappheit und Armut die Literaturproduktion. Da Kinder- und Jugendliteratur aber auch der ›Umerziehung‹ der Deutschen dienen soll, kommt ihr insgesamt eine besondere Bedeutung im Sinne von Reeducation/Reorientation (US), Reconstruction (GB) und mission civilisatrice (F) zu, was Lizenzierungsverfahren teilweise begünstigte (vgl. Jäschke 1988). Doch woher eine möglichst ›unbelastete‹ Literatur nehmen? Erstens werden vermehrt Bücher aus anderen Ländern ins Deutsche übersetzt; zweitens geben einzelne Verlage und Initiativen ›Klassiker‹ in preiswerten Ausgaben für Kinder und Jugendliche neu heraus und drittens knüpfen viele Texte und Bilder inhaltlich wie ästhetisch an ältere und bewährte Muster an. Entsprechend ist das Gros der KJL zunächst wenig neuartig und wird dominiert von nostalgisch-pittoresken Bilderbüchern und kolonialistisch-exotistischen Abenteuerszenarien. Auch Texte über Flucht und Vertreibung von Deutschen aus den ehemals deutschen Gebieten sind mehrfach anzutreffen, während Nationalsozialismus und Holocaust kaum Beachtung finden. Mit der unmittelbaren Nachkriegsgegenwart wird sich nur in einigen Zeitschriften (Der Pinguin, 1946– 1953) sowie in Großstadt- und Bandengeschichten (z. B. von Henry Winterfeld oder Walther Pollatschek) auseinandergesetzt. Oftmals greift die KJL dieser Zeit ›Heimat‹-Thematiken auf, die mit Natur und Landleben verbunden werden. Nicht die Metropole, sondern die Kleinstadt, das Dorf und der Wald prägen also die Topographie der KJL nach 1945 – z. B. in den Büchern von Erich Kloss (vgl. Steinlein 2008, 318). Diese Neigung wird etwa durch Singfibeln mit politisch ›unverdächtigen Volksliedern‹ und Tierbücher unterstrichen und sie wird auch deutlich in den Idylle versprechenden Bilderbüchern von Lisa-Marie Blum, Dorothea von Holzhausen, Else Wenz-Viëtor u. a., in denen Jahresverläufe, Kinderspiele und Blumen dargestellt werden. Die Kinderliteratur ist in abgeschlossenen Welten verhaftet, Diminutiva beherrschen das Sprachbild, kleingestaltige Wesen wie Zwerge die Illustrationen (wie z. B. in den Büchern von Fritz Baumgarten). In diesen ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kommen im Verhältnis zur Gesamtproduktion besonders viele Bilderbücher auf den Markt (vgl. Kaminski 1988, 53), doch sind künstlerisch avancierte Werke eher selten, weshalb Kaminski und Jäschke zu Recht den nur kurz existierenden Felguth-Verlag hervorheben (vgl. ebd.; Jäschke 1988). Allerdings gab es auch Gründungen
von Verlagen, die noch immer von Bedeutung sind (Arena, 1949; Oetinger, 1946). Die Mehrzahl der zu dieser Zeit publizierten kinderliterarischen Schriften zeichnet sich nicht durch Weltoffenheit aus, sondern durch kleine abgeschlossene, überschaubare und auffällig um Normalität bemühte Gesellschaften und sogenannte ›intakte Kernfamilien‹. Wohlgeordnete, ›heile‹ Welten und gut sortierte, teils zweisprachige Fibeln beherrschen das Gesamtbild. Zumindest im Kinderbuch – so könnte man summarisch für einen Großteil der Literatur festhalten – soll die Welt noch ›in Ordnung‹ sein, weshalb Hunger, Krieg, Schuld und Holocaust unberücksichtigt bleiben. Gleichsam soll das Kinder- und Jugendbuch aber auch Ordnung schaffen. Frauen, Jugendliche und Kinder, die durch den Krieg vielfältiger in das ökonomische Leben eingebunden waren und mehr Verantwortung hatten, sollen im Sinne einer gedachten ›Normalisierung‹ nun wieder an die ihnen zugeschriebenen Plätze zurückkehren und sich in die patriarchale Struktur einfügen. Auch in den zahlenmäßig geringen Jugendbüchern geht es häufig darum, Anstand, Sittlichkeit und Demut zu vermitteln. Korrespondierend herrschen überwiegend erzählerisch auktoriale (heterodiegetisch-extradiegetische) Erzähl situationen vor. Formalästhetisch herausragend sind die beiden 1949 publizierten und kongenial von Walter Trier illustrierten Bücher Erich Kästners, Das doppelte Lottchen und Die Konferenz der Tiere. Hier gelingt es Kästner und Trier, aktuelle Themen leichtfüßig anzusprechen, darunter die Folgen von Krieg(en), alleinerziehende Mütter und zerrüttete Familien sowie globale Krisen und die Vereinten Nationen. Nicht nur diese Bücher präsentieren utopische Lösungen für komplexe Probleme, worin sich der Wunsch nach Ruhe und Frieden manifestiert. Wenngleich sich der Großteil der KJL in den 1950er Jahren kaum von der hier skizzierten unterscheidet, markiert das Jahr 1949 doch in mehreren Hinsichten einen Wendepunkt: Mit der Gründung der BRD verändern sich erstens die Produktionsbedingungen, da der Kinder- und Jugendbuchmarkt nicht mehr der Kontrolle der Besatzungsmächte unterliegt. Zweitens tritt eine zunehmende Internationalisierung ein und die Internationale Jugendbibliothek wird gegründet (s. Kap. 11). Drittens erscheint Das Tagebuch der Anne Frank (Het Achterhuis, niederl. 1947; dt. 1950), welches die Auseinandersetzung mit der Shoa anregt. Und nicht zuletzt wird, viertens, Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf (Pippi Långstrump, schwed. 1945; dt.
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1949) auf Deutsch publiziert. Dieser Meilenstein der KJL-Geschichte deutet frühzeitig auf die spätere Abkehr vom Ordnungsdispositiv hin (vgl. KümmerlingMeibauer 2012, 67). Wichtig ist jedoch nicht nur die vorhandene Literatur, sondern auch diejenige, die auf dem westdeutschen Nachkriegsbuchmarkt eklatant fehlt: So sind ›jüdische‹ Stimmen genauso abwesend wie osteuropäische/sowjetische Literatur. Bücher exilierter Autoren sind nur in Ausnahmefällen (z. B. Lisa Tetzner) zu finden; auch mutige Illustrationen (z. B. Frans Haaken) und reformpädagogische Vorstellungen sowie im weitesten Sinne ›linke‹ Kinder- und Jugendbücher sind selten. Diese Literaturen waren noch und teils gerade zur Zeit der Weimarer Republik feste Bestandteile der KJL-Szene in Deutschland (vgl. Hopster/Josting/Neuhaus 2005). Ihre Abwesenheit ist in erster Linie die Folge der nationalsozialistischen Politik, die zur Vertreibung und Ermordung sowie zum Vergessen vieler Kinder- und Jugendbuchschaffenden führte. 1950er und 1960er Jahre In der Ära Adenauer tritt eine Stabilisierung ein, die sich auch auf dem westdeutschen Kinder- und Jugendliteraturmarkt bemerken lässt, der sich im Hinblick auf die kontinuierliche Präsenz einzelner Autoren, Zeitschriften, Reihen und Verlage im Laufe der 1950er Jahre festigt. Das sogenannte Wirtschaftswunder hat dabei u. a. zur Folge, dass insgesamt mehr produziert und konsumiert werden kann. Davon profitiert auch die KJL, deren Marktanteil 1960 sprunghaft steigt (vgl. Jäschke 1988, 266–268). Jahrs darauf trennt die Mauer nicht nur die Menschen, sondern auch den Büchermarkt, der sich in der BRD und der DDR unterschiedlich entwickelt (s. Kap. 8). Auf den ersten Blick scheint sich im Vergleich mit den späten 1940er Jahren in den 1950er Jahren in der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur wenig verändert zu haben: Die zentralen Themen sind geblieben und weiterhin herrschen rückwärtsgewandte Inhalte und Gestaltungen vor. Mädchenbücher orientieren sich an vorgängigen Reihen (z. B. Käthe Theuermeisters Hummelchen, 1963–1967) und werden teilweise auch von bekannten Autoren verfasst (z. B. Margaret Haller), doch allein die Bücher Enid Blytons und Magda Trotts haben sich in der Rückschau als Longseller erwiesen. Auch Werke von NSbelasteten Autoren sind noch immer zu finden. Wurde das Thema Nationalsozialismus in der früheren KJL – von wenigen Ausnahmen abgesehen – übergan-
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gen, kann in den 1960er Jahren eine deutliche Zunahme von NS-thematisierenden Kinder- und Jugendbüchern festgestellt werden, weshalb Rüdiger Steinlein eine Verschiebung von einer »Verdrängungs-« hin zu einer »Wiedergutmachungsliteratur« konstatiert (Steinlein 2008, 335). Der wachsende Einfluss von angloamerikanischer Kultur im Allgemeinen, die auch in steigenden Zahlen von Übersetzungen deutlich wird (vgl. Jäschke 1988, 268), und Popkultur im Besonderen macht sich auch in der KJL bemerkbar. Die Begriffe ›Halbstarke‹ und ›Teenager‹ beginnen sich zu etablieren (vgl. Lindner 1996; Savage 2007). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang neben der Zeitschrift Twen (1959– 1971) vor allem das erstmalige Erscheinen der Zeitschrift BRAVO im Jahr 1956 (vgl. Maase 1992). Film und Fernsehen gewinnen an Bedeutung und die Winnetou-Filme (1962–1968) tragen zur anhaltenden Popularität der Werke Karl Mays bei. Die NordamerikaFaszination drückt sich auch in auffallend vielen Comics, Zeitschriften, Abenteuerbüchern und Sacherzählungen aus, die von Pionieren, Cowboys und ›Indianern‹ sowie Hollywoodstars handeln. Serielle ›Heftchenliteratur‹, darunter Comics (s. Kap. 25), ist bei Kindern und Jugendlichen sehr beliebt, wird von vielen Pädagogen jedoch als unsittlich und verrohend abgelehnt und teilweise skandalisiert, was erneut zu ›Schmutz- und Schundkämpfen‹ führt (vgl. Springman 1995). So wird diese Literatur für die damals heiß diskutierten Themen ›Jugendkriminalität‹ und ›Jugendverwahrlosung‹ mitverantwortlich gemacht (vgl. z. B. ebd.; Faulstich 2002; Laser 2000). Die ›Schmutz- und Schundkämpfe‹ prägen die Diskussionen um KJL, welche nach Meinung vieler Erwachsener gewaltfrei und wohlanständig gestaltet sein sollte (vgl. Bamberger 1965, 354–387). In diesem Zuge wird 1953 das Gesetz zur Verbreitung jugendgefährdender Schriften verabschiedet und im darauffolgenden Jahr die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften gegründet. Zudem entstehen verschiedene kostengünstige Reihen, die als ›gute Literatur‹ angepriesen werden und so positiv gegen ›Schmutz und Schund‹ wirken sollen (vgl. Jäschke 1988, 314–394). Die Weiterentwicklung des Mehrfarb-Offsetdrucks ermöglicht eine Produktionssteigerung von bildreichen Büchern. Ab Mitte der 1960er Jahre findet außerdem eine Hinwendung der Bilderbuch- zur aktuellen Kunstszene statt und einige Werke orientieren sich an der abstrakten Kunst (z. B. Leo Lionni). Nun finden sich vermehrt großflächige, leuchtende Farben und es wird mit verschiedenen Drucktechniken (z. B.
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Jürgen Spohn) experimentiert, wenngleich die Darstellung im Bilderbuch bis heute dominant figurativ bleibt. Die kleinformatigen und kostengünstigen Pixi-Bücher kommen 1954 auf den Markt. 1961 erscheinen zudem die ersten Ausgaben von WAS ist WAS, die auf dem amerikanischen Format How & Why basieren, wobei der sacherzählenden Literatur in der DDR insgesamt eine etwas größere Bedeutung zukommt als in der BRD. Die Kinder- und Jugendbuchlandschaft der 1950er und 1960er Jahre erscheint in der Rückschau geprägt durch die von Rüdiger Steinlein als die »Großen Drei« (Steinlein 2008, 316) bezeichneten Autoren und ihre überzeitlichen sowie literarisch aus der Masse herausragenden Werke: Otfried Preußler, James Krüss und Michael Ende. In Endes vielschichtigem Kinderbuch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1960) reisen Jim und Lukas mit der Lokomotive Emma um die Welt, worin sich eine Begeisterung für Eisenbahnen zeigt, die sich auch in dem bebilderten Kindergedicht Henriette Bimmelbahn (1957) von James Krüss entdecken lässt. Mit dessen Buch Der wohltemperierte Leierkasten (1961) sowie Josef Guggenmos’ Was denkt die Maus am Donnerstag? (1966) erscheinen in den 1960er Jahren zwei bedeutende Bände mit Kindergedichten. Krüss veröffentlicht 1962 zudem seinen phantastischen Roman Timm Thaler oder das verkaufte Lachen, der sich unschwer als Kritik an Kapitalismus und Konsumgesellschaft lesen lässt. Preußler verkleinert wiederum Gestalten aus Märchen und Sage und verwandelt dabei traditionell böse in gute Figuren: Neben Preußlers Der kleine Wassermann (1956), Die kleine Hexe (1957) und Das kleine Gespenst (1962) ist auch Meister Eder und sein Pumuckl (1965, basierend auf Hörspielen im Bayerischen Rundfunk) von Ellis Kaut ein Beispiel hierfür. Die Texte dieser Autoren eint ihr Phantasiereichtum und ihr spielerischer Umgang mit Alltagskonflikten von Kindern. Kindheit wird als eigenständige Phase gezeigt, was unter dem Schlagwort »Kinderliteratur der Kindheitsautono mie« verhandelt und teilweise als Überbegriff für diese Zeit verwendet wird (vgl. Weinmann 2003, 2005; Weinkauff/Glasenapp 2018, 82). Zu bedenken gilt es jedoch, dass dies nur für einen Teil der Kinderliteratur dieser Zeit zutreffen mag und sich solche spielerischphantasievollen ›Schutzräume‹ auch in der vor- und nachgängigen Kinderliteratur häufig finden lassen. Die Studentenbewegung und die US-amerikani sche Bürgerrechtsbewegung hinterlassen ihre Spuren in der KJL: Die 68er richten die Aufmerksamkeit dabei auf einige Themen, die in der westdeutschen Lite-
raturlandschaft zuvor wenig Beachtung fanden, kritisieren vormals dominante Kindheitskonzeptionen und prägen damit die KJL. 1970er und 1980er Jahre Ende der 1960er Jahre setzt eine Rhetorik des Umschwungs ein, die schnell auch Teile der Kinder- und Jugendliteratur erfasst. Einzelne Gruppen und Personen suchen nach neuen Möglichkeiten der Erziehung, der künstlerischen Gestaltung und des Zusammenlebens. Vielerorts werden nicht nur die bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen, sondern auch Kinder- und Jugendbücher und ihre Auswirkungen auf junge Leser hinterfragt. Dies ist vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus zu verstehen, will die 68erBewegung sich in ihrer generationalen Rede doch explizit von den alten Systemen, dem ›autoritären Charakter‹ (Fromm, Adorno u. a.) und dem faschistischen Gedankengut absetzen (vgl. Steinlein 2008). Infolgedessen lassen sich in der KJL dieser Zeit vermehrt Generationenkonflikterzählungen finden, etwa wenn sich die Familie in Christine Nöstlingers Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1972) gegen den despotischen Kumi-Ori und damit gegen das Patriarchat auflehnt. Um 1970 findet dabei ein Paradigmenwechsel (vgl. Ewers 1993, 2013) statt: Im Zuge dieser so bezeichneten ›Kinderliteraturreform‹ (vgl. Wild 2008) soll Kindheit nun nicht mehr in einem Schonraum imaginiert werden; vielmehr sollen die Kinder selbstbefähigt (empowered) und mit Widersprüchen der Erwachsenenwelt konfrontiert werden (vgl. Steffens 1998, 1). Die zuvor diskursbestimmenden Begriffe Ordnung und Sittlichkeit werden dabei abgelöst durch ihre Umkehrung: Unordnung und Freizügigkeit. Es entstehen Kinder- und Jugendliteraturen, die sich als emanzipatorisch, antiautoritär und/oder reformpädagogisch verstehen und das ›bürgerliche Wertesystem‹ hinterfragen. Vor allem Märchen und Phantastik geraten nun ins Zielfeuer der Kritik. Auch wird im weiteren Sinne ›sozialistisch‹ geprägte Literatur gedruckt, die sich – wie die Studenten- und Lehrlingsbewegung im Allgemeinen – auf Vordenker der Weimarer Republik beruft. So sind neben den Schriften Walter Benjamins und Bertolt Brechts auch die Märchenbücher Hermynia zur Mühlens wieder präsent und sollen als Raubdrucke verbreitet den Klassenkampf unterstützen. Nachdem lange Zeit grundlegende Vorbehalte gegenüber der Fernsehnutzung von Vorschulkindern geäußert wurden, führt der bahnbrechende Erfolg der
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Sesamstraße (dt. Erstausstrahlung 1972 NDR/RB/SFB III) dazu, dass sich Fernsehsendungen für jüngere Kinder etablieren. Spuren der Kinderladenbewegung um Monika Seifert und der Summerhill-School (vgl. A. S. Neill: Die grüne Wolke, engl. 1938; dt. 1971), deren Ideen und Ziele teils eigenwillig rezipiert werden, finden genauso Eingang in literarische Texte und Bilder wie Antiimperialismus und Antikapitalismus. In einigen Büchern wird sich gegen den Wehrdienst, Rüstung und Krieg ausgesprochen; manche Erzählungen spielen auch in der Hausbesetzerszene. Sogenannte ›antiautoritäre‹ KJL-Verlage, teilweise auch Kollektive, die sich in ihrer politischen Ausrichtung allerdings unterscheiden, wie beispielsweise der Basis-Verlag, Oberbaum, Benziger, Ali Baba, Elefanten Press, Weismann, Anrich und März, bilden eine Gegenbewegung zur etablierten Literaturszene. Der Angriff auf Autoritäten macht dabei selbst vor der Rechtschreibung nicht halt und darüber hinaus macht sich in der KJL eine generelle Zunahme von jugend- und fäkalsprachlichen Ausdrücken bemerkbar. KJL will nun nicht mehr brav daherkommen, sondern provozieren. Erfolgreich mit dieser ›neuen‹ KJL ist vor allem der Beltz & Gelberg-Verlag, der 1971 gegründet wird. Der Illustrator Günter Stiller prägt das Gesamtbild und produziert mit Irmela Brender und Susanne Kilian spielerische, collagenartige Kinder- und Jugendbücher, die sich kritisch mit alltäglichen Themen wie Stadtkindheiten, Konsum, Pflichten und Verboten auseinandersetzen und Bezug zu aktuellen Jugendkulturen und Popmusik nehmen. Auch gibt der Verlag historische Romane, Comics, Sammelbände und Werke von noch heute bekannten Autoren wie Nöstlinger, F. K. Waechter, Klaus Ensikat und Janosch heraus. Viele Bücher versuchen, Kinder und Jugendliche in unterschiedlicher Weise zu aktivieren, wie z. B. F. K. Waechters Opa Hucke’s Mitmachkabinett (1976) oder die Collagenbücher Jürgen Spohns. Zum Mitmachen animieren außerdem Wimmelbücher, deren Aufstieg mit Ali Mitgutschs Rundherum in meiner Stadt (1968) beginnt. Ungebrochen ist die Faszination für kräftige Farben, die sich insbesondere in vielfältigen Bilderbüchern bewundern lassen, welche nun oftmals an Pop-Art (Blow-Up, Collage, Fotorealismus etc.) erinnern, wobei z. B. Spohn, Otmar Alt, Heinz Edelmann, Anita Albus und Jörg Müller besonders innovative Bücher produzieren. Die Themen Umwelt- und Naturschutz spielen eine wichtige Rolle und so finden sich vermehrt Sach(bilder)bücher und Kinderromane, in denen bspw. das aktuelle Thema Verunreinigung von Flüssen angeprangert wird.
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Deutliche und langfristige Auswirkungen hat die 68er-Bewegung auch auf das Kinder- und Jugendtheater: Nun entstehen zahlreiche realistische, gegenwartsorientierte Stücke und moderne Theater in ganz Westdeutschland. So gründet Volker Ludwig auf den Schwingen der APO-Kinderläden in Berlin ein modernes Kindertheater, das 1972 als GRIPS bekannt wird (s. Kap. 22 und 26). Auch Sex spielt – nach der steifen Sexualmoral der vorherigen Jahrzehnte – in der Kinder- und vor allem der Jugendliteratur der 1970er und 1980er Jahre eine Rolle. Besonders bekannt und umstritten sind, neben den Büchern und Filmen Oswalt Kolles, die Veröffentlichungen des Frankfurter Sozialwissenschaftlers und SDS-Aktivisten Günter Amendt. In puncto Sexualaufklärung und Liebesfragen ist aber vor allem die BRAVO die Institution, auf die viele wissbegierige Kinder und Jugendliche zurückgreifen. Adoleszenzromane, die zunächst, vor allem als Übersetzungen aus dem amerikanischen Englisch, unter dem Begriff ›Jeansliteratur‹ auf dem Buchmarkt zu finden sind und u. a. Selbstfindungsprozesse von Jugendlichen auch unter Bezugnahme auf populäre Jugendkultur thematisieren, werden im Laufe der 1970er Jahre immer bedeutsamer (s. Kap. 20). Darüber hinaus sind psychologische Erzählungen und mit ihnen Gedankendarstellungen (Monologerzählungen, erlebte Rede etc.) immer häufiger zu finden. Insgesamt kann festgestellt werden, dass deutlich mehr realistische Texte publiziert werden, die gegenwartsorientiert sind und sich viel diskutierten sozialen Aspekten zuwenden (vgl. Steffens 1998). Bekannte Beispiele für diese Literatur sind Ursula Wölfels viel gelobte Kurzge schichtensammlung Die grauen und die grünen Felder (1970), Hans Georg Noacks Rolltreppe abwärts (1970), Leonie Ossowskis Die große Flatter (1977) und Christiane F.s Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1978). In Zuge des Realismus-Trends beginnt sich Peter Härtling als einer der bedeutendsten Kinderbuchautoren zu etablieren. Seine zahlreichen Bücher thematisieren Aspekte des Alltags, darunter auch solche, die in der vorgängigen KJL oftmals ausgeblendet oder beschönigt wurden, wie Alter oder Behinderung (s. auch: Max von der Grün, Vorstadtkrokodile [1976]). Die sozialkritische Jugendliteratur greift aktuelle Themen auf, darunter vor allem die Umwelt- und Antiatombewegung, deren Konjunktur sich unter anderem in der Gründung der Partei Die Grünen (1980) artikuliert. Besonders die ökologischen Dystopien von Gudrun Pausewang stechen dabei hervor: Die letzten Kinder von Schewenborn (1983) handelt von einem Atom-
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krieg, Die Wolke (1987) befasst sich – ein Jahr nach der Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl – mit dem Thema Super-GAU. Viele Umwelt-Bücher werden zudem aus dem Englischen übersetzt und erscheinen in der günstigen dtv pocket-Reihe, welche das Bild der sozialkritischen Jugendliteratur neben der rororo-Reihe prägt. Darüber hinaus befassen sich auch populäre Serien, phantastische Kinderbücher wie Endes Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch (1989) sowie TV-Serien (z. B. Löwenzahn, seit 1981) mit Umweltbewusstsein und Naturzerstörung. Auch die phantastische KJL dieser Zeit ist beachtenswert: 1971 wird das Jugendbuch Krabat veröffentlicht, das sich in seiner finsteren jugendliterarischen Phantastik von den anderen Texten Preußlers unterschiedet. Endes philosophische Bücher Momo (1973) und Die unendliche Geschichte (1979) tragen besonders zur langanhaltenden Popularität der Phantastik bei, und Max Kruse stellt in seiner Urmel-Reihe (1969–1979) einen Dinosaurier und andere Figuren mit liebeswerten Sprachfehlern in den Mittelpunkt. Komische Sprachspiele sind in der Kinderliteratur, insbesondere der Lyrik, zahlreich zu finden. Auch Paul Maars Sams-Reihe (seit 1973), in der ein merkwürdig gepunktetes Wesen eines Samstags bei Herrn Taschenbier eintrifft und damit nicht nur sein Leben verändert, ist in diesem Kontext zu lesen. Angela Sommer-Bodenburg feiert mit Der kleine Vampir 1979 (bis 2015) ihren Durchbruch, die meisten Bände dieser Reihe um den Grusel liebenden Anton Bohnsack und den untoten Rüdiger von Schlotterstein erscheinen aber in den 1980er und frühen 1990er Jahren. Wolfgang und Heike Hohlbeins Märchenmond (1982) bildet den Anfang einer anderen kommerziellen Erfolgsgeschichte und auch Terry Pratchetts vielgelesene »Scheibenweltromane« kommen in den 1980er Jahren in Deutschland auf den Markt. Neben phantastischen Welten und der USA (z. B. Buffalo Bill, 1975–1984) wird der Weltraum (z. B. Mark Brandis Weltraumpartisanen [1970–1987]) immer mehr zum Sehnsuchtsort, was im Zusammenhang mit dem Wettlauf ins All und der Mondlandung (1969) zu sehen ist. Auch in Kino und Fernsehen wird der Weltraum mit Raumpatrouille – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion (dt. Erstausstrahlung ARD 1966), Raumschiff Enterprise (dt. Erstausstrahlung ZDF 1972) und Star Wars (seit 1977) vielfach thematisiert. Serielle Formate beherrschen den KJL-Markt auch abseits der sogenannten ›Heftchenliteratur‹ spätestens seit den 1980er Jahren, wobei vor allem Detektiv- und Bandenerzählungen wie Ur-
sel Schefflers Kommissar Kugelblitz (ab 1982), Die Pizzabande (1984–1995) und TKKG (Bücher: 1979– 2011) populär sind. Serien für jüngere Kinder sind vor allem in Form den neu auf den Markt kommenden Kompaktkassetten erfolgreich, darunter insbesondere Elfie Donnellys Benjamin Blümchen (Kiddinx seit 1977) und Bibi Blocksberg (Kiddinx seit 1980). Großer Beliebtheit erfreuen sich zudem die sogenannten Pferdebücher, die in erster Linie Mädchen adressieren, wie z. B. die Zeitschrift Wendy (ab 1986) oder die Romanreihen Reiterhof Dreililien (1983–1994) von Ursula Isbel. Emanzipatorische Mädchenbücher, die auch zuvor vereinzelt zu finden sind, werden häufiger veröffentlicht und bei der Publikation von sacherzählenden Texten wird mehr und mehr auf die Repräsentation von Frauen und Mädchen geachtet. Wenngleich geschlechterbinär angelegte Erzählungen noch immer vorherrschend sind, werden Mädchen nun oftmals neu imaginiert (z. B. Kirsten Boie Mit Jakob wurde alles anders [1986]). Hierbei spielen Pop- und Jugendkulturen eine große Rolle, was sich bspw. am Begriff ›Girlie‹ (vgl. Wild 2008, 391–392) ablesen lässt, der in den 1990er Jahren als Bezeichnung für mädchenhaft gekleidete Frauen aufkommt und als Stil von Stars wie den Spice Girls, Gwen Stefani und Blümchen geprägt wird. Somit hat das Musikfernsehen, das mit MTV ab 1987, später mit VIVA und VH-1 im deutschen TV zu sehen ist, auch Auswirkungen auf KJL. Hier sind vor allem Stars wie Madonna und Michael Jackson sowie die für Kinder- und Jugendmedien besonders wichtigen Boy- und Girl-Groups tonangebend. Außerdem sind einige Erzählungen in jugendlichen Subkulturen situiert: 1981 debütiert im GRIPS-Theater Alles Plastik, das die ›Popper vs. Punker‹-Diskussion aufgreift (vgl. auch Dagmar Chidolues Lady Punk [1985]). Nach dem Kinder- und Jugendtheatersterben Anfang der 1980er Jahre werden in der Zeit zwischen 1989 und 1993 neue Kinder- und Jugendtheater in Westdeutschland gegründet. Viele langfristig erfolgreiche Bilderbuchkünstler etablieren sich in den 1980er und 1990er Jahren und es entstehen immer mehr Bilderbücher, die mit ästhetischen Konventionen des Mediums genauso brechen wie mit gängigen Vorstellungen von Kindheit (z. B. Nikolaus Heidelbach). So macht sich Mitte der 1980er Jahre eine ›ästhetische Entgrenzung‹ (vgl. Thiele 2003, 203) des Bilderbuchs bemerkbar und es entstehen Werke, die als postmodern bezeichnet werden können (s. Kap. 24). Besonders stark rezipiert werden weiterhin Bilderbücher mit Tier-Figuren, darunter die Wer-
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ke von Helme Heine, Janosch, Anthony Browne und Wolf Erlbruch. 1990er Jahre Zwar war der Mainstream-Kinder- und Jugendbuchmarkt auch zuvor profitorientiert, doch treten kommerzielle Medien in Form von zahl- und umfangreichen Spaß fokussierenden Serien, Gimmicks und Medienverbünden seit den 1980ern Jahren besonders hervor. Dieser gewinnorientierte Markt mag einer von vielen Gründen dafür sein, dass sich nur wenige Autoren aus der ehemaligen DDR langfristig auf dem wiedervereinten Markt durchsetzen können. Vom Westen aus betrachtet ändert sich mit der Wende auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt wenig, für viele ostdeutsche Autoren bedeutet der Systemwechsel hingegen das Karriereaus. Bereits unmittelbar nach dem Mauerfall entstehen einige Kinder- und Jugendbücher, die sich mit diesem Ereignis und der DDR im Allgemeinen befassen. So erscheint 1990 der von Peter Abraham und Margaretha Gorschenek herausgegebene Kurzgeschichtenband Wahnsinn! Geschichten vom Umbruch in der DDR. Zahlreiche Bücher folgen, u. a. von Elisabeth Ahrendt, Herbert Günther und Waltraud Lewin. Angesichts rechtsextremer Ausschreitungen und vermehrter gewalttätiger Angriffe auf Migranten (Solingen, Rostock-Lichtenhagen etc.) wird Rechtsextremismus in den 1990er Jahren mehrfach in KJL thematisiert. Außerdem etablieren sich einige wenige Schriftsteller mit sogenanntem Migrationshintergrund, darunter insbesondere Rafik Schami, Zoran Drvenkar und Kemal Kurt. Ferner befassen sich Jugendbücher mit viel diskutierten Themen wie AIDS, Drogen, Sekten, Magersucht, Straßenkindern oder Gangs. Weitestgehend abwesend sind jedoch die beiden Golfkriege, der Jugoslawienkrieg, der Völkermord in Ruanda sowie die Hungerkatastrophe in Äthiopien. Viele der ›problemorientierten‹ Bücher funktionieren in erster Linie als moderne Warngeschichte und wollen junge Leser über mögliche Gefahren aufklären, die sie in ihrer unmittelbaren Lebensrealität bedrohen. Die oben genannten Kriege und Katastrophen scheinen aus Sicht der damaligen Gatekeeper offenbar zu weit entfernt vom Alltag der jungen Leser in Deutschland, wenngleich sie in einer globalisierten und medial vernetzten Welt auch Kindern und Jugendlichen tagtäglich begegnen. Seit Ende der 1960er Jahre werden vermehrt Kinder- und Jugendbücher verlegt, die sich mit dem The-
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ma Nationalsozialismus auseinandersetzen, darunter z. B. Nöstlingers Maikäfer flieg! (1973). Diese in der älteren Forschung als ›zeitgeschichtlich‹ bezeichnete Literatur (s. Kap. 13) kann im Vergleich mit anderen Kinder- und Jugendliteraturen aufgrund ihrer Qualität und Quantität insgesamt als besonderes Charakteristikum der deutschsprachigen KJL bezeichnet werden. Profiliert ist hier neben Mirjam Pressler vor allem Klaus Kordon, dessen Wendepunkte-Trilogie (1984, 1990, 1993), in der die Geschichte einer Berliner Familie von der Novemberrevolution bis in die Nachkriegszeit verfolgt wird, zu den bedeutendsten Werken der historischen KJL zählt. Viele Romane sind zudem im Mittelalter oder der frühen Neuzeit situiert (z. B. von Harald Parigger, Arnulf Zitelmann, Inge Ott oder Isolde Heye), wobei Gabriele von Glasenapp eine sich nun »offen manifestierende Hybridität des Genres« feststellt (Glasenapp 1998, 351). In den 1990er Jahren sind auf dem Bilderbuchmarkt alte Bekannte wie Heidelbach und Waechter neben sich noch etablierenden Künstlern wie Rotraut Susanne Berner und Jackie Gleich anzutreffen. Erlbruch veröffentlicht 1999 sein in der Forschung viel zitiertes Werk Nachts; 2017 erhält er als bislang einziger Künstler aus Deutschland den Astrid-Lindgren-GedächtnisPreis und damit die weltweit höchstdotierte Auszeichnung für Kinder- und Jugendbuchautoren. Die Künste selbst stehen zudem im Mittelpunkt einiger prämierter Sachbücher: In Wie kommt der Wald ins Buch? (1989) befasst sich Irmgard Lucht mit dem Entstehungsprozess von Büchern, Susanna Partsch versucht mit Haus der Kunst (1997) Kunstgeschichte näherzubringen und Kordon legt mit Die Zeit ist kaputt (1994) eine Erich Kästner-Biographie vor. Serien und große Medienverbünde prägen den Markt (z. B. Lauras Stern, seit 1996; Conni, seit 1992). Mit Brigitte-Johanna Henkel-Waidhofers Tatort Zirkus wird 1993 der erste deutsche Band aus der Serie Die drei ??? veröffentlicht, die ihren Ursprung 1968 in den USA hat und besonders als Hörspiel erfolgreich ist. Andreas Schlüter schreibt mit Level 4 (1994–2006) eine vierzehnteilige Computerkrimi-Reihe und geht so auf neue Medien ein. Auch etabliert sich Cornelia Funke mit verschiedenen Kinderbüchern (u. a. Drachenreiter, 1997) sowie den Reihen Gespensterjäger (1994– 2001) und Die wilden Hühner (1993–2003) als international erfolgreiche Kinder- und Jugendbuchautorin (zu Medienverbund s. Kap. 3, zu Serialität s. Kap. 17). Nicht nur von der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft wird außerdem bemerkt, dass die Grenzen zwischen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur
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nun noch offensichtlicher verschwimmen, was u. a. anhand von Marketingstrategien wie ›dual editions‹ und der Präsenz von Popliteratur evident wird. Spätestens mit dem generationenübergreifenden Erfolg von Rowlings Harry Potter-Büchern werden solche Entgrenzungsthemen unter Schlagworten wie All Ageund Crossover-Literatur viel diskutiert (s. Kap. 2). 2000er Jahre Der zuvor hauptsächlich für Comics bekannte Carlsen Verlag veröffentlicht 1998 die deutschsprachige Ausgabe von Rowlings Harry Potter und der Stein der Weisen und damit den ersten Band einer der erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchreihen überhaupt. Das Erscheinen der Harry Potter-Bände führt zu einer vermehrten allgemeinen Aufmerksamkeit für Kinderund Jugendliteratur, deren Marktanteil sich auffallend steigert (vgl. BuBiz 2017, 16). Gleichzeitig wird eine wachsende Entgrenzung festgestellt und behauptet, dass sich Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur einander zunehmend angleichen (s. Kap. 2). Evident ist die größere Präsenz von Romanen, die sich primär an Jugendliche und junge Erwachsene (Teens und Twens) richten und auch bei älteren Lesern gehäuft Beachtung finden (z. B. Twilight, engl. 2005–2015; dt. 2006–2015). Wolfgang Herrndorfs an ein Roadmovie angelehnte Erzählung Tschick (2010) hat beispielsweise auch in den allgemeinen Literaturwissenschaften viel Beachtung und seinen Weg zudem schnell in den Schulunterricht gefunden und kann schon jetzt als ›Klassiker‹ bezeichnet werden. Auch Tamara Bach, Kirsten Fuchs, Nils Mohl und Jutta Richter gehören zu Autoren, die breit wahrgenommen werden und für eine Entpädagogisierung der Literatur für diese Zielgruppen stehen. Grenzverwischungen lassen sich auch mit Bezug auf Genres konstatieren, die sich noch mehr vermischen und sich mittlerweile nur schwer abstrahieren lassen, wenngleich sich diese Tendenzen in allen für KJL relevanten Zeiten finden. Kinder- und Jugendliteratur kann also in vieler Hinsicht als Hybrid bezeichnet werden. Im neuen Jahrtausend ist außerdem eine Zunahme von ironisierenden und sarkastischen Erzählweisen sowie Innendarstellungen zu vermerken. Des Weiteren sind metafiktionale Erzählungen, intensive intertextuelle Verweise sowie Spiele mit Übersetzerfiguren zu finden, wofür die von Harry Rowohlt übersetzten Eddie-Dickens-Bände (Philip Ardargh, engl. 2000– 2002; dt. 2002–2004) und Walter Moers’ fiktive Figur Hildegunst von Mythenmetz Beispiele sind.
Überdies macht sich eine zunehmende Pluralisierung sozialer Positionierungen bemerkbar und so werden vermehrt diverse Lebensrealitäten abgebildet. Die Darstellung eines »tiefbegabten« und eines ›hochbegabten‹ Kindes in Andreas Steinhöfels Rico und Oskar-Reihe (seit 2008) ist dabei auch vor dem Hintergrund von Inklusions-Debatten zu lesen. Seit Ende der 1990er Jahre etablierte sich Steinhöfel als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren und wurde als erster Kinder- und Jugendbuchautor in die Akademie für deutsche Sprache und Dichtung aufgenommen. In seinem Roman Die Mitte der Welt (1999) steht die Familie des Teenagers Phil im Mittelpunkt, dessen Homosexualität jedoch – anders als in vielen anderen Jugendbüchern dieser Zeit – nicht als ›Problem‹ thematisiert wird. Die Diskussion um die gleichgeschlechtliche Ehe führt in den 2010er Jahren dazu, dass mehr homosexuelle und queere Figuren im Kinder- und Jugendbuch literarisiert, vor allem aber, dass vermehrt sogenannte Regenbogenfamilien im Bilderbuch abgebildet werden (s. Kap. 38). Weiterhin sind geschlechterbinär angelegte Figuren und heteronormative Gesellschaften in Kinder- und Jugendbüchern aber die Regel, haben Medienverbundreihen wie Monika Finsterbuschs Prinzessin Lillifee (seit 2004) und andere Bücher in Pink für Mädchen und Blau für Jungen einen großen Marktanteil – es lässt sich im frühen 21. Jahrhundert im Kinderliteraturbereich gar ein verstärktes Gendermarketing feststellen (vgl. Brunner/Ebitsch/ Hildebrand u. a. 2019). Neben Vampiren und Hexen erfreuen sich auch Pferde, Prinzessinnen, Feen sowie Fußball, Trolle, Monster, Ritter und Ninjas einer besonderen Beliebtheit, wenngleich darunter auch einige Bücher sind, die bestehende Konventionen durchbrechen. Des Weiteren folgt auf Suzanne Collins’s Erfolgstrilogie Die Tribute von Panem (The Hunger Games, 2008–2010; dt. 2009–2011) eine Welle von Dystopien, in denen weibliche Protagonistinnen zentriert werden. Im neuen Jahrtausend verändert sich die Verlagslandschaft, die von zahlreichen Neugründungen wie etwa Aladin, Südpol, Tulipan, Magellan, minedition und Klett Kinderbuch gekennzeichnet ist. Der Verlag Mixtvision hat sich beispielsweise auf BilderbuchApps spezialisiert und auch Tiptoi und Co. verwischen die Grenzen verschiedener Genres und Medien und verändern das Vorlesen. Ältere Formate haben hingegen Absatzschwierigkeiten: Die Buchreihe Das Neue Universum, eine Reihe, die mit nur kurzen Unterbrechungen seit 1880 existierte, wird 2002 eingestellt. Vermehrt werden die DDR und die Wendezeit
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(z. B. Maja Präkels, Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß [2017]) thematisiert, wobei nun auch viele Graphic Novels zu diesem Thema entstehen. Beachtung finden Kordons teils autobiographisch inspirierte Bücher sowie die Romane Presslers, die sich häufig mit der Geschichte von Juden in Europa befassen. Hervorzuheben sind ebenfalls die dokumentarischen Romane Anja Tuckermanns, thematisieren sie doch am Beispiel der Familie Höllenreiner auf differenzierte Weise das noch immer wenig beachtete Schicksal von SintiKindern zur Zeit des Nationalsozialismus. Spätestens seit 2015 spielen Verfolgung, Flucht und Migration in der öffentlichen Diskussion aber nicht nur in historischer, sondern vor allem in aktueller Perspektive eine große Rolle – so auch im Segment Kinder- und Jugendliteratur, wobei besonders Härtlings Djadi, Flüchtlingsjunge (2016) und Boies Bestimmt wird alles gut (2016) breit rezipiert werden. KJL befasst sich zudem mit zeitübergreifenden Problemen von Kindern und Jugendlichen und so werden Themen wie Mobbing, häusliche Gewalt, Vernachlässigung, Rassismus oder Suizid, facettenreich auch von Newcomern wie Susan Kreller und Christian Duda literarisiert. Die Bücher thematisieren dabei Probleme und Konflikte, zeigen aber auch, wie sich das Leben mit Phantasie zum Positiven verändern lässt (Finn-Ole Heinrichs/Rán Flygenrings Frerk, du Zwerg [2011]). Es ist also eine große Vielfalt von Medien, Erzählweisen und Genres zu verzeichnen, die ineinander übergehen, zerfließen, sich verflüssigen, aber auch die traditionell orientierten Kinder- und Jugendbücher sind größtenteils weiterhin relevant. Mit Blick auf die neu auf den Markt kommenden Werke kann damit insgesamt von einer stärkeren Diversifizierung gesprochen werden, die auch soziale Positionierungen betrifft: Sowohl Schreibende als auch Figuren, die als Minderheiten wahrgenommen werden und/oder sich entsprechend identifizieren, darunter vor allem people of color, Angehörige einer nicht christlichen Religion sowie LSBTIQ*, sind im deutschsprachigen System Kinder- und Jugendliteratur allerdings noch immer unterrepräsentiert. Dennoch zeigt der Großteil der KJL in einer Zeit, in der gesamtgesellschaftlich eine Zunahme menschenfeindlicher Ansichten und polemischer Äußerungen zu beobachten ist, seine grundsätzlich humanistische Ausrichtung. Für KJL im 21. Jahrhundert ist dabei alles interessant, was Menschen bewegt. Sie literarisiert das Allgemeine wie das Ungewöhnliche und fragt danach, woher wir kommen, wo wir gerade stehen und wohin wir gehen
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könnten. Auch und besonders die aktuelle Kinderund Jugendliteratur zeichnet sich dabei durch eine vielfältige Bild- und Wortkunst aus, die sich hinter der Erwachsenenliteratur keineswegs verstecken muss.
7.3 Inter- und transmediale Aspekte Bei der Betrachtung von Kinder- und Jugendliteratur steht das Medium Buch oftmals im Vordergrund, doch sollte deutlich geworden sein, dass Printmedien nicht isoliert von anderen Medien und Künsten betrachtet werden können. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in einer Zeit also, in dem die Buchproduktion nur schleppend voranging, kommt dem Radio eine besondere Bedeutung zu und so nutzen die Besatzungsmächte der drei Westzonen den Rundfunk für ihre Umerziehungsstrategien, wobei viele bekannte Autoren Hörspiele für Kinder schreiben, die später teilweise als Buch veröffentlicht werden (z. B. James Krüss, Der Sängerkrieg der Heidehasen mit LP [1958]). Kinderhörspiele und Lieder erfreuen sich seit den 1960er Jahren auf Schallplatte (z. B. Europa) und seit den 1980er Jahren auf Kassette einer großen Beliebtheit. Gleichzeitig begeistert Popmusik die Jugend und findet nicht nur Einzug ins Kino, ins Fernsehen und in die von Jugendlichen rezipierte Popliteratur, sondern auch in originäre KJL. Mit dem sogenannten Wirtschaftswunder gelangen immer mehr Fernseher in westdeutsche Haushalte, woraufhin sich filmische Erzählweisen in verbalen und piktoralen Texten häufen. Außerdem hat das Fernsehen großen Einfluss auf die langanhaltende Popularität von älteren Stoffen (z. B. Heidi, Winnetou, Fury) und Genres (Western) sowie auf die Themen, die in Büchern aufgegriffen werden. Erfolgreiche Kinderund Jugendbücher werden in audiovisuellen Medien vielfach adaptiert und umgekehrt (z. B. Augsburger Puppenkiste [seit 1953]). Ansonsten werden für die jeweils neuen Medien zumeist altbekannte Märchen adaptiert – so z. B. im Rollfilm. Weitere mediale Formate – wie CDs, Computerund Handyspiele – kommen im Laufe der Jahre hinzu, wobei digitale Techniken und das Internet zu einer rasanten Ausweitung führen. So werden Medien- und Produktverbünde mit der Zeit immer umfangreicher und relevanter für die Produktion, Distribution und Rezeption (s. Kap. 4). Zunehmend werden Geschichten und Produkte von vornherein mit Blick auf eine transmediale und globale Verbreitung hin ausgelegt. Es entstehen zahlreiche und vielfältige Formen der In-
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teraktion und der medialen Verknüpfung: Von interaktiven Bilderbüchern über Fanfiction-Portale bis hin zum mittlerweile omnipräsenten medienübergreifenden Erzählen. Auch mit Blick auf Medien kann also von einem höheren Grad von komplexen Verweisen und Verknüpfungen gesprochen werden. Literatur
Brunner, Katharina/Ebitsch, Sabrina/Hildebrand, Kathleen/ Schories, Martina: Blaue Bücher, rosa Bücher. In: Süddeutsche Zeitung (11.1.2019), https://projekte. sueddeutsche.de/artikel/kultur/gender-wiegleichberechtigt-sind-kinderbuecher-e970817/ (1.7.2020). Börsenverein des deutschen Buchhandels (Hg.): Buch und Buchhandel in Zahlen 2017. Zahlen, Fakten und Analysen zur wirtschaftlichen Entwicklung. Frankfurt a. M. 2017. Dettmar, Ute/Glasenapp, Gabriele von/O’Sullivan, Emer/ Roeder, Caroline/Tomkowiak, Ingrid (Hg.): Jahrbuch der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung, GKJF (2018). In: http://www.gkjf.de/jahrbuch-2018open-access/ (1.7.2020). Doderer, Klaus (Hg.) Zwischen Trümmern und Wohlstand. Literatur der Jugend 1945–1960. Weinheim/Basel 1988. Ewers, Hans-Heino: Zwei große Neuerungsbewegungen. Anmerkungen zur Entwicklung der westdeutschen Kinderliteratur seit den 50er Jahren. In: Festschrift für Christian Stottele. Eine Sonderausgabe der Fachzeitschriften Bulletin Jugend + Literatur und Eselsohr. Hamburg/ Mainz 1993, 10–13. Ewers, Hans-Heino: Paradigmenwechsel der Kinder- und Jugendliteratur um 1970 (11.5.2013). In: http://www. kinderundjugendmedien.de/index.php/beitraeger/104mediageschichte/literaturgeschichte/659-paradigmen wechsel-der-kinder-und-jugendliteratur-um-1970 (1.7.2020). Faulstich, Werner: Groschenromane, Heftchen, Comics und die Schmutz-und Schund-Debatte. In: Ders. (Hg.): Die Kultur der 50er Jahre. München 2002, 199–216. Glasenapp, Gabriele von: Historische und zeitgeschichtliche Literatur. In: Reiner Wild (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart 32008, 347–359. Hopster, Norbert/Josting, Petra/Neuhaus, Stefan: Kinderund Jugendliteratur 1933–1945. 2. Bde. Stuttgart/Weimar 2005. Jäschke, Petra: Produktionsbedingungen und gesellschaftliche Einschätzungen. In: Klaus Doderer (Hg.): Zwischen Trümmern und Wohlstand. Literatur der Jugend 1945– 1960. Weinheim/Basel 1988, 210–520.
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Julia Benner
8 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in der DDR
8 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in der DDR 8.1 Einleitung In der Deutschen Demokratischen Republik ist die Kinder- und Jugendliteratur (KJL) eng verknüpft mit den Aufbau- und Entwicklungsprozessen des Landes. In den 40 Jahren des Bestehens der DDR steht das Handlungs- und Symbolsystem KJL unter dem Einfluss gesellschaftlicher Entwicklungen und ist zugleich Spiegelbild derselben. Im folgenden Beitrag wird die KJL der DDR in drei konstitutive Phasen gegliedert und anhand von Textbeispielen veranschaulicht. Gegenstand des ersten Abschnitts ist die Zeit der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) von 1945–1949. Daran anknüpfend wird die KJL in der Phase des Aufbaus und Ausbaus des Sozialismus der DDR in den 1950er und 1960er Jahren beschrieben. Anschließend werden die kinder- und jugendliterarischen Veränderungen der 1970er und 1980er Jahre fokussiert. Im Zentrum des letzten Abschnitts stehen intermediale Beziehungen zwischen Literatur und (DEFA-)Film.
8.2 Historische Entwicklungen Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8.5.1945 baut die Sowjetische Militäradministration (SMAD) das Gebiet der späteren DDR wieder auf, der kommunistischen Programmatik folgend. Einhergehend mit den politischen und sozial-ökonomischen Umwälzungen, wie der Industrie- und Bodenreform, verändern auch die strukturellen Neuerungen in Kultur und Bildung den Sektor nachhaltig. Auf Initiative des Dichters Johannes R. Becher wird am 3.7.1945 der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands errichtet, welcher »ein sauberes, anständiges Leben« auf geistig-kulturellem Gebiet aufbauen will (Manifest des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands 1945, 6). Einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung des neuen kulturellen Geistes im Bereich KJL hat die Zentralisierung des Verlagswesens. Mit Lizenz der SMAD gründen die Urheber des Verbundes der Freien Deutschen Jugend (FDJ) am 9.12.1946 den wichtigsten DDR-Jugendbuchverlag Neues Leben (zunächst unter dem Namen Verlag der jungen Generation). Am 1.6.1949 entsteht der Kinderbuchverlag Berlin, bis 1990 marktführend im System Kinderliteratur.
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Auf dem Gebiet der KJL finden von 1945–1949 insgesamt 79 sowjetische Titel Verbreitung, die zu einem Viertel im eigenen SWA-Verlag der SMAD erscheinen und als Vorbild für die Entstehung der sozialistischen Literatur propagiert werden: Timur und sein Trupp (Timur I yevo komanda, russ. 1940; dt. 1947), Nikolai Alexejewitsch Ostrowskis Wie der Stahl gehärtet wurde (Kak sakaljalas stal, russ. 1932–1934; dt. 1947), Samuil Marschaks Kinderchen im Käfig (Detki v Kletke, russ. 1932; dt. 1947) (vgl. Emmrich 1981, 137). Besondere Maßstäbe setzt dabei die Kindererzählung Timur und sein Trupp des russischen Schriftstellers Arkadi Gaidar, deren Held Timur sich zu einer der bekanntesten DDR-Figuren entwickelt. Neben der sowjetischen KJL gewinnen die Exilliteratur und zunehmend die proletarisch-revolutionäre KJL aus der Spätphase der Weimarer Republik an Bedeutung, welche mit Titeln wie Alex Weddings Ede und Unku (1931) dann in den 1950er Jahren eine größere Rolle spielt (vgl. Dolle-Weinkauff 2008, 414). Zur erfolgreichen Exilliteratur, die es bis in den Kanon der DDR-KJL schafft, zählt Sally Bleistift in Amerika (1935): Darin thematisiert Auguste Lazar die Unterdrückung der US-amerikanischen Arbeiterklasse sowie die kommunistischen Umwälzungen in der Sowjetunion. Als die Protagonistin Sally Bleistift nach einem Pogrom aus dem zaristischen Russland in die USA flieht, widmet sie sich der kommunistischen Erziehung ihrer Kinder, die teilweise schon selbst verdeckt im Untergrund arbeiten: »Und die wirklichen Feinde, das sind die Besitzer von den Fabriken und den großen Unternehmungen und den großen Ländereien, die alles Geld in der Hand haben und damit wirtschaften, dass sie immer reicher und reicher werden« (Lazar 1986, 71). Unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten fällt auf, dass sich die Leser von den spannenden und komischen Elementen der Geschichte unterhalten fühlen dürften, sie aber vor allem dazu angehalten werden, die vorgelebten Subjektpositionen zu verinnerlichen und in ihre eigene Lebenswirklichkeit zu übertragen. Um die Botschaft nicht missverstehen zu lassen, nutzt Lazar das Erzählmodell der direkten Konfrontation von Kommunismus und Kapitalismus, stereotypisierte Figuren, wertende Kommentierungen des Erzählers und ideologiegebundenes Vokabular. Aufgrund der teleologischen Struktur wird Sally Bleistift in Amerika von der Fachöffentlichkeit als modellhafter Text wahrgenommen, der das »Wesen der kapitalistischen Ausbeutergesellschaft, das Rassenproblem als eine Klassenfrage und den Sowjetstaat als Hoffnung aller
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_8
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Unterdrückten« (Wallesch 1977, 92) gekonnt wiederzugeben vermag. In den 1950er Jahren treten schließlich neue in der DDR schreibende Autoren in Erscheinung, wie Horst Beseler, Willi Meinck, Benno Pludra, Sigfried und Hildegard Schumacher, Fred Rodrian oder Alfred Wellm. Mit ihnen etabliert sich eine junge Autorengeneration im Alter von 25 bis 30 Jahren, die für die Schaffung einer eigenen sozialistischen KJL steht. 1950er und 1960er Jahre Mit der Gründung der DDR am 7.10.1949 werden die kulturpolitischen Rahmenbedingungen auf den Sozialismus festgelegt. Unterstützt durch zahlreiche Preisausschreiben des Ministeriums für Kultur, sind die Autoren von da an aufgerufen, eine neue KJL entstehen zu lassen: »Es ist eine hohe Pflicht aller Schriftsteller und Dichter, an der Schaffung einer neuen Jugend- und Kinderliteratur mitzuwirken, die die demokratische Erziehung der heranwachsenden Generation fördert« (Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der DDR und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung, § 35, Absatz 1, 1950). Besondere Beachtung erfahren Mitte der 1950er Jahre die Jugendromane Tinko (1954) von Erwin Strittmatter und Trini: die Geschichte eines Indianerjungen (1954) von Ludwig Renn, weil sie die ästhetischen und thematischen Schranken zwischen der Nationalliteratur und KJL überwinden. Traditionsbildend stehen sie damit – obgleich auch Kritik ausgesetzt – für die ersten bedeutsamen Erscheinungen dieser Zeit (vgl. Dolle-Weinkauff/Peltsch 2008, 418), die den für Kinder und Jugendliche schreibenden Autoren richtungsweisende Impulse (ebd.) geben. Die enge Verbindung von kindlicher und erwachsener Lebenswelt ist ein zentrales Merkmal sozialistischer KJL, die sich von der bundesdeutschen »kindertümelnden Gestaltung« (Wallesch 1976, 94) und ihrer unnatürlichen, individuell-bürgerlichen Separation der jungen Persönlichkeit abgrenzen soll: »Der sozialistische Staat kann nicht Wirklichkeit werden, wenn die Kinder keine Sozialisten werden«, formuliert auch der russische Schriftsteller Maxim Gorki (Gorki 1954, 28). Insofern übernimmt die KJL zu dieser Zeit vor allem erzieherisch-funktionale Aufgaben, deren Relevanz im Kinder- und Jugendliteraturbetrieb selbst betont wird, wenn etwa der spätere Autor und Chefredakteur der Fachzeitschrift Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur Gerhard Holtz-Baumert fordert: »Auch bei der Erziehung unserer Kinder zu jungen
Sozialisten ist die Kunst eine Waffe. Und wir wären dumm, wenn wir diese Waffe im Bücherschrank verrosten ließen« (Holtz-Baumert 1957, 16). In den Texten selbst ist kindliches Leben nicht auf dem Spielplatz verortet, sondern in die Lebens- und Arbeitswelt der Erwachsenen integriert. Darüber hinaus sind zwei Erzählmodelle verbreitet, die der erzieherischen Absicht besonderen Ausdruck verleihen. Die KJL der 1950er und 1960er Jahre ist gekennzeichnet durch a) heldenhafte Figuren, die ihr Leben vorbildhaft realisieren, z. B. in der Leitung von Kollektiven, oder b) Außenseiterfiguren, die sich zum Teil der Gemeinschaft entwickeln und dort ihr individuelles Glück erfahren, wie etwa in Pludras Popp muss sich entscheiden (1959), Ilse Korns Mit Bärbel fing es an (1952) oder Karl Neumanns Frank (1958) (vgl. auch Richter 2000, 139). In Popp muss sich entscheiden, ein früher Roman des bekanntesten DDR-Autoren von Kinder- und Jugendliteratur, Pludra, muss der elfjährige Protagonist Popp seinen Weg zu den Pionieren erst noch finden. Auf der einen Seite stehen Popps größerer Bruder Keule und dessen delinquenter Freund Erbse, auf der anderen Seite Marianne, die Leiterin der neuen, sympathischen Pioniergruppe. Marianne und Erbse sind eindimensional konzipierte Figuren, deren Eigenschaften kontrastiv gegenüberstehen, weil sie das Alte und Neue, den Gegensatz Ost-West symbolisieren. Während sich Marianne schnell als kluge, tatkräftige, freundliche junge Frau erweist, ist Erbse nicht nur gewaltbereit und dümmlich, sondern auch den Verlockungen des kapitalistischen Westens zugeneigt. Die charakterliche Anlage der Figuren wird durch ihr entsprechendes Aussehen positiv bzw. negativ verdoppelt. Während Marianne als »sehr hübsch« (Pludra 1959, 23) beschrieben wird, lässt bereits der implizit charakterisierende Name »Erbse« nicht nur den schlichten Charakter vermuten, sondern schon den hässlich kugelrunden Kopf (ebd., 6) erahnen. Teleologische Darstellungsstrategien, etwa die redundante Kommentierung von richtigem und falschem Figurenverhalten, transportieren die Botschaft des Textes unmissverständlich. Von der Wahrheit gänzlich überzeugt, hat Popp am Ende seinen Platz in der Gemeinschaft gefunden und fortan eine wichtige Aufgabe zu erfüllen – die anderen von den Pionieren zu überzeugen: »›Keule?‹ sagt der kleine Popp. ›Klar. Keule auch. Alle.‹« (ebd., 122) In der DDR wird die KJL offiziell als ein der Nationalliteratur ebenbürtiger Kulturzweig propagiert und verschiedentlich gefördert: So erscheint ab 1962 die Zeitschrift Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur, ab
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1986 wird der Alex-Wedding-Preis für Kinderliteratur der Akademie der Künste verliehen und 1970 das Kuratorium sozialistischer Kinderliteratur gegründet. Ab 1963 finden jährlich die Tage der Kinderliteratur statt, an denen sich Produzenten und Leser begegnen sollen. Diese entwickeln sich zu einer Großveranstaltung, deren Programm im Jahr 1989 mehr als 500 Lesungen umfasst und 150 Schriftsteller, Buchgraphiker sowie Übersetzer präsentiert (vgl. Strewe 2006, 95). 1970er und 1980er Jahre Mit der Machtübernahme des zunächst moderat auftretenden Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker am 3.5.1971 hoffen viele DDR-Bürger auf eine offenere Kultur. Auf dem VIII. Parteitag der SED wird eine Kulturpolitik proklamiert, welche »die Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft und jedes Bürgers« (Ebert 1977, 153) verspricht. Auf der 6. Tagung des Zentralkomitees der SED verkündet Kurt Hager, Kultur- und Bildungsminister der DDR, ein Jahr später die »reiche Vielfalt der Themen, Inhalte, Stile, Formen und Gestaltungsweisen« (Hager 1972) als neue Maxime, die von einer bis dahin unbekannten Liberalität zeugen. Trotz der nur kurz anhaltenden Offenheit stehen die Prinzipien für eine sich schrittweise wandelnde Gesellschaft, die auch im kinder- und jugendliterarischen Bereich zu wirken beginnt. Ab Ende der 1960er Jahre treten neue Darstellungsformen wie montageartige oder multiperspektivische Techniken, Ich-Erzähler oder personales Erzählen in Erscheinung (vgl. auch DolleWeinkauff/Peltsch 2008, 428), u. a. in Joachim Nowotnys Der Riese im Paradies (1969), Uwe Kants Das Klassenfest (1969), Holtz-Baumerts Trampen nach Norden (1975). Gleichzeitig entsteht eine Reihe von kinder- und jugendliterarischen Texten, die das Verhältnis von Einzelnen und Kollektiv neu setzen, individuelle Probleme fokussieren, Innenwelten psychologisch ausleuchten und Konfliktgestaltungen zuspitzen: Pludras Tambari (1969), Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1973), Wolf Spillners Wasseramsel (1984). Ein Beispiel dafür ist die kritische Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Wohnungsbau, ausgehend von den Mobilitätsprozessen der 1970er und 1980er Jahre. In Karlchen Duckdich (1979) beschreibt Wellm die Großstadt als kinderfeindlichen Raum. Einher mit der Anonymität und Eintönigkeit des Plattenbaus gehen Maßregelungen und Verbote, die kindliche Entdeckungsfreude und Bewegungsdrang blockieren: die Wiese darf
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nicht betreten, im Fahrstuhl nicht gespielt, am Zeitungskiosk nicht gestöbert werden. Die Menschen haben keine Zeit, sind hektisch und fremd. Wie in vielen anderen Texten auch, werden Lösungskonzepte nun nicht mehr im Sinne des Kollektivs gedacht, sondern exponierte Figuren gezeigt, die Konflikte eigenständig zu lösen versuchen. Einen emanzipatorischen Höhepunkt erreicht die KJL durch das vermehrte Erscheinen phantastischer Texte seit Mitte der 1970er Jahre, deren Gattungskonzept dem sozialistischen Realismus lange Zeit unvereinbar gegenüberstand: Peter Abrahams Das Schulgespenst (1978), Pludras Herz des Piraten (1985), Christoph Heins Wildpferd unterm Kachelofen (1986). Häufig sind die kindlichen Protagonisten Außenseiterfiguren, die jetzt als Vorbild erscheinen (vgl. auch Roeder 2006, 742–743): Wellms Das Mädchen mit der Katze (1983) oder Christa Kožiks Kicki und der König (1990). In ihrem phantastischen Roman Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart (1983), ein in der nachwendezeitlichen Forschung viel zitiertes Beispiel, thematisiert Kožik den Umgang mit Alterität im realsozialistischen Alltag: Einst aus dem Himmel in die DDR geflohen, muss Engel Ambrosius die neue Welt schon bald verlassen, weil sie sich als unfähig erweist, seine Andersartigkeit zu tolerieren. In Kožiks satirischer Tiergeschichte Kicki und der König ist die im Text angelegte Kritik noch deutlicher erkennbar: die wahrheitsriechende Katze Kicki unterstützt den König darin, die Missstände seines Herrschaftsreich zu erkennen und fundamental zu reformieren. Schon zu Beginn der Handlung wird auf die DDR angespielt: »Wir sind ein junges Land und haben gute Gesetze. Keiner hungert, keiner friert, jeder hat Arbeit und eine Wohnung. Aber im Lande wachsen Unfreundlichkeit und Unzufriedenheit.« (Kožik 1990, 13) Obwohl der Kinderroman Kicki und der König in seiner Deutlichkeit einzigartig bleibt, können auch andere Autoren neuralgische Themen wie ökologische Probleme, Bildungs- und Schulkonflikte früher und zum Teil konsequenter aufgreifen, als es im Bereich der Allgemeinliteratur möglich ist (vgl. Dolle-Weinkauff/Peltsch 2008, 434; Becker 2013). Um ein Manuskript zu veröffentlichen, ist zwar die Druckgenehmigung des Ministeriums für Kultur nötig. Allerdings stellt das Handlungssystem KJL einen kleineren bzw. vertrauteren Raum dar. Ein wichtiger Teil der zensorischen Arbeit findet bereits in den Verlagen statt, die für das Erstellen und Einholen von Gutachten zuständig sind. Dort können vor allem renommiertere Autoren wie Kožik den Veröffentlichungsprozess gezielt
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beeinflussen, indem sie potentielle Konflikte mit den ihnen vertrauten Lektoren schon im Vorfeld diskutieren oder sogar auszuhandeln versuchen (vgl. Becker 2013). Die positive oder negative Beurteilung kann aber auch von anderen Faktoren abhängen, wie dem Zeitraum der Veröffentlichung, der Altersgruppe der Leser oder dem Verlag. Grundsätzlich gelten im Jugendbuchverlag Neues Leben strengere Regeln als im Kinderbuchverlag Berlin (vgl. Lokatis 2006, 13). Innerhalb der Kinder- und Jugendliteraturforschung wird das tatsächliche Ausmaß der neuen Entwicklungen nicht immer gleich gewichtet. Während einige Autoren (u. a. Richter 2016, 25; Roeder 2006, 741) die Veränderungen als Paradigmenwechsel bezeichnen, sieht Carsten Gansel keinen wirklich entscheidenden Wandlungsprozess gegeben, weil »die Regularitäten bzw. Basispostulate des literarischen Teilsystems konstant« (Gansel 1997, 191) bleiben. Auch wenn sich die Strukturen des KJL-Systems nicht in der Basis verändern, ist die Öffnung der Produktionsstätten (Lokatis 2006, Becker 2013) und das sich wandelnde Kindbild (vgl. v. a. Richter 2016) in einer Reihe von Texten kaum zu ignorieren und wichtig für die distanzierte Beschreibung der Kinder- und Jugendliteratur in der DDR. Dass diese im Laufe ihres 40-jährigen Bestehens eine Entwicklung durchläuft, und nicht homogen erscheint, kann das Gesamtwerk von Pludra bemerkenswert veranschaulichen. Seine frühen Titel der 1950er Jahre (z. B. Popp muss sich entscheiden) stehen den künstlerisch hochwertigen Veröffentlichungen aus den 1960er Jahren (z. B. Lütt Matten und die weiße Muschel [1963]) und vor allem den 1970er und 1980er Jahren (z. B. Insel der Schwäne [1980]) diametral entgegen, sowohl in Inhalt und Form als auch in der kritischen Auseinandersetzung mit Wirklichkeit. 1990er Jahre Nach dem Beitritt der DDR zur BRD im Jahr 1990 hängt die Entwicklung der KJL wesentlich von der Vereinigung der bis dahin getrennten Systeme ab. Zunächst sprechen viele prospektive Signale für ein gleichberechtigtes Zusammenwachsen, getragen von der Idee der Partizipation, nicht Integration: Schon im Juni 1989 findet die Ausstellung »Bücher und Bilder – Zeitgenössische Kinderliteratur der DDR« in Hamburg statt, Anfang der 1990er Jahre laden westdeutsche Arbeitsgemeinschaften, Verbände und Vereine namhafte DDR-Autoren zum Austausch ein. Ebenso versuchen Organisationen wie die Stiftung Lesen oder
Einzelpersonen wie der Kinder- und Jugendbuchverleger Hans-Joachim Gelberg ihren Einfluss geltend zu machen (vgl. Doderer 1999, 11). Besondere Aufmerksamkeit wird auch Pludra zuteil, der 1992 den Deutschen Jugendliteraturpreis für seine Tiererzählung Siebenstorch (1991) erhält. Trotz der positiven Entwicklungen verhindern kulturpolitische Ereignisse in den neuen Bundesländern einerseits sowie die strukturelle Ausrichtung des bundesdeutschen Buchmarkts andererseits größere Erfolge. In den 1990er Jahren orientieren sich die ostdeutschen Buchhandlungen ausschließlich an westdeutschen Erzeugnissen. Zugleich werden Schullektüren aus den Lehrplänen genommen und druckfrische, aber unverkäuflich gewordene Texte auf Müllkippen entsorgt (vgl. Weskott 1995; Lokatis 2009, 28). Zuständig für die Betreuung des bis dahin flächendeckenden Bibliotheksnetzes, staatlich finanziert und abgesichert durch das DDR-Kulturministerium, sind von da an Länder und Kommunen. In der Folge werden viele Bibliotheken aufgegeben und alte Bestände erneuert (vgl. Bund-Länder-Arbeitsgruppe Bibliothekswesen 1993). Schließlich ist die Entwicklung des ostdeutschen Subsystems KJL auch abhängig davon, ob die Schriftsteller der neuen Bundesländer für westdeutsche Verlage tätig sein können bzw. wollen (vgl. Becker 2013). Selbst die renommierten Autoren müssen lernen, mit dem sozioökonomisch veränderten Berufsprofil professionell umzugehen. Sie treten von einem geschlossenen in ein offenes, d. h. strukturell und funktional gegensätzliches Literatursystem (vgl. Gansel 1997, 179). Aus Rentabilitätsgründen zeigen sich viele Verlage nur wenig risikobereit, ihre absatzsicheren Literaten durch fremde Autoren zu ergänzen oder auszuwechseln. »Auf dem westdeutschen Literaturmarkt Fuß zu fassen, war mir, trotz wiederholter Versuche, unmöglich«, resümiert 2001 die Autorin Brigitte Birnbaum (Peltsch 2001, 101). Vergleichbar damit erweist sich die neue Selbständigkeit der ehemaligen Staatsverlage als komplexe Herausforderung, da das Buchund Verlagswesen dirigistisch und zentralistisch organisiert war. Zu groß scheint der Druck der westdeutschen Konkurrenz und zu gering sind die Kenntnisse der Verlage im Bereich Marketing, Werbung und Kommunikation (vgl. Kahlefendt 2000, 30). Darüber hinaus verfügen die Betriebe weder über die technisch erforderliche Ausstattung noch über liquides Kapital (vgl. Links 2010, 320). Auch immaterielle Besitztümer gehen verloren, z. B. ostdeutsche Lizenzen, die mit der Auflösung der DDR ihre Rechtsgrundlage verlieren
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(vgl. ebd.). Ende der 1990er Jahre schreibt Klaus Doderer, zehn Jahre hätten nicht ausgereicht, die KJL der neuen und alten Bundesländer in ein »gesamtdeutsches ausgewogenes, kulturpolitisch durchdachtes Versorgungssystem zu überführen« (Doderer 1999, 14). Mitte der 2000er Jahre sind die ostdeutschen Bundesländer ohne Berlin nur noch mit 2,2 % an der gesamtdeutschen Buchproduktion beteiligt (einschließlich Berlin 11,7 %) (vgl. Links 2010, 9). Obwohl die DDR-KJL vor ökonomischen Schwierigkeiten steht, wirkt sie sich zumindest indirekt auf die gesamtdeutsche KJL aus, indem sie Stoffe, Themen und Motive beeinflusst. Auch heute noch ist die deutsch-deutsche Geschichte Thema aktueller Veröffentlichungen. Dabei fällt auf, dass vor allem in den 1990er Jahren immer wiederkehrende Topoi entstehen, die mit Gansel (2010) als Täter-Opfer-Topos, Widerstandstopos und Feindbild-Lehrer/Eltern bezeichnet werden können: Elisabeth Zöllers Alex belogen (1991), Gunter Preuß’ Vertauschte Bilder (1991), Lutz van Dijks Von Skinheads keine Spur (1995). Parallel dazu verbreitet sich ein Erzählmuster, das zeigt, wie die soziographischen Veränderungen der Wende das Leben der jüngeren Generation belasten (vgl. Richter 1995, Josting 2008), z. B. Kants Heinrich verkauft Friedrich (1993) oder Günter Saalmans Ich bin der King (1997). In ihrem Jugendroman Kalter Mai (1993) lässt Jutta Schlott das Leben der Protagonistin sukzessive zerbrechen. Im letzten Absatz des Romans konfrontiert die Autorin ihre Leser mit den drastischsten Folgeerscheinungen der Wende, als die Mutter von einem mit der Protagonistin befreundeten Jungen Selbstmord begeht: »Im obersten Stockwerk löste sich etwas von der Balustrade, etwas Schweres, das schnell nach unten fiel. Smaragdgrüner Stoff leuchtete, golden durchsetzt, in der Morgensonne auf. ›Maaaa...‹, quälte sich ein gellender Laut aus der Kehle des Jungen. Katharina riß seinen Kopf an ihre Schulter. So standen sie. Sekunden oder Stunden. In dem Kopf des Mädchens verselbstständigte sich der Satz: Eine Gesellschaft von Freunden.« (Schlott 1993, 183–184) Anders als in der bedrückenden Realitätssicht Schlotts ist die Film- und Populärkultur der 1990er Jahre aber auch Teil einer Ostalgiewelle, z. B. in Helden wie wir (1995) oder Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) von Thomas Brussig (vgl. Gronenthal 2018). Dabei überdauern besonders groteske Überzeichnungen der DDR in populären Filmkomödien wie Sonnenallee (Haußmann 1999) oder Good Bye, Lenin! (Becker 2003) den Erinnerungsdiskurs nachhaltig.
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8.3 Intermediale Aspekte In dem Filmunternehmen DEFA (Deutsche Film AG) werden zwischen 1946 und 1993 mehr als 200 Kinofilme für Kinder und Jugendliche produziert, von denen etwa 160 bis 180 Spielfilmproduktionen sind (vgl. Wiedemann 2009, 111). Erste Spielfilme, die auf literarische Prätexte zurückgehen, sind vor allem Märchen wie Das Kalte Herz (Verhoeven 1950) oder Die Geschichte vom kleinen Muck (Staudel 1953). Anfang der 1950er Jahre nimmt die DEFA Kontakt zu bekannten Kinder- und Jugendbuchverlagen auf und führt Gespräche mit renommierten Autoren wie Erwin Strittmatter, Ludwig Renn oder Alex Wedding (vgl. Giera 1984, 3–4). Die daraus resultierenden Ergebnisse werden dann Ende der 1950er Jahre, u. a. mit Sheriff Teddy (Carow 1957) und Tinko (Ballmann 1957), sichtbar. Als einer der bedeutendsten Titel der DDR-Jugendliteratur wird Tinko Teil des größeren medialen Verbunds, d. h. für den Rundfunk bearbeitet, im Fernsehen gezeigt und 1969 durch Hans-Dieter Schmidt auf der Bühne uraufgeführt. Auch die Geschichte der Dramatik für Kinder und Jugendliche ist mit gegenwartserzählenden Texten der KJL verbunden, deren Sujets adaptiert werden oder die im Kinder- und Jugendtheater zu sehen sind, z. B. Die Moorbande von Beseler (Uraufführung 1953 im Theater der Freundschaft/Berlin) (vgl. Wallesch 1976, 321; Hofmann 1976, 119). Größere Erfolge verzeichnen die DEFA-Filmangebote für Kinder und Jugendliche in den 1970er und 1980er Jahren. Zu dieser Zeit tut sich eine Generation von Regisseuren auf, mit denen neue Themen und Formen verbunden sind (vgl. Wiedemann 2009, 116–117): Das Schulgespenst (Losansky 1987), Ein Schneemann für Afrika (Losansky 1977), Insel der Schwäne (Zschoche 1983). In der Verfilmung von Pludras Jugendro man Insel der Schwäne (1980) bringt Herrmann Zschoche dessen Kritik am Wohnungsbaukonzept der DDR auf die Leinwand. Als der zwölfjährige Protagonist Stefan Kolbe sein Dorf verlassen und in eine Berliner Neubausiedlung ziehen muss, wird sein altes idyllisches Umfeld durch einen modernen, aber tristen Wohnplattenbau ersetzt. Umzug steht dabei für den Verlust von vertrauter Natur und Umgebung. Stefans Frustration nimmt zu, als in der Siedlung ein Betonspielplatz gebaut werden soll, dessen verantwortlicher Brigadier sein Vater ist: »Überhaupt was anderes mal als eure ewig glatten Wände. Alles bloß viereckig, was ihr macht, draußen wie drinnen, da wird man zuletzt noch selber viereckig davon« (Pludra 1980, 194). In Zschoches Filmadaption wird der jugendliche Protest ein-
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drücklich inszeniert: Herbeieilende Kinder stecken in einem anarchisch anmutenden Moment willkürlich zusammengesuchte Gegenstände in den noch frischen Beton, symbolisch für die Zerstörung des ihnen aufoktroyierten Lebensraumes. Mit seiner Darstellung der realsozialistischen Wirklichkeit stößt Zschoche auf heftiges Missfallen in Kultur und Politik. Wie in der KJL auch sind kritische Positionen jedoch nicht immer mit Systemwiderstand gleichzusetzen, sondern treten in der Beschäftigung mit Gegenwart oft selbstverständlich auf. DEFA-Filme und ihre literarischen Prätexte können sowohl die idealisierten Auffassungen vom realsozialistischen Alltag dokumentieren, wie zugleich Kritik daran üben (vgl. Wiedemann 2009). Und »die Befürwortung eines gesellschaftlichen Systems schließt ja die Kritik an diesem nicht aus«, fasst der Medienwissenschaftler und DEFA-Filmexperte Dieter Wiedemann zusammen (Wiedemann 2009, 123–124). Ähnlich äußert Pludra Ende der 1990er Jahre: »Ich hätte meine Bücher – so oder so – nicht anders geschrieben. Ich wollte doch nicht gegen, sondern für die DDR schreiben« (Wolfgramm/Wolfgramm 2000, 146). Von der antifaschistisch-demokratischen Literatur in der SBZ von 1945–1949 über eine Literatur des Aufbaus und der Entfaltung des Sozialismus in den 1950er und 1960er Jahren, hin zu Neuerungen in Form, Struktur und Funktion in den 1970er und 1980er Jahren der DDR: Das Prinzip Nützlichkeit ist im Handlungs- und Symbolsystem KJL bis 1990 fest verankert und vorherrschende Maxime im »Kampf für die Wahrheit und die Darstellung der Widersprüche in der Wirklichkeit«, wie der DDR- Literaturkritiker Günter Ebert betont (Ebert 1976, 113). Doch die sich ändernden Wirklichkeitsverhältnisse und -erfahrungen der Autoren entwickeln die Texte weiter. In ihrem 40-jährigen Bestehen zeigt die DDR-Kinder- und Jugendliteratur verschiedene, zum Teil auch gegensätzliche Themen, Formen und Funktionen sowie ein changierendes Maß an Qualität, Konformität und Diskrepanz. Primärliteratur
Kožik, Christa: Kicki und der König. Berlin 1990. Lazar, Auguste: Sally Bleistift in Amerika. 4Berlin 1986. Pludra, Benno: Popp muss sich entscheiden. Berlin 1959. Pludra, Benno: Insel der Schwäne. Berlin 1980.
Sekundärliteratur
Becker, Maria: Schreiben in Ost und West. Ostdeutsche Autoren von Kinder- und Jugendliteratur vor und nach der Wende. Frankfurt a. M. 2013. Bund-Länder-Arbeitsgruppe Bibliothekswesen: Abschlussbericht 1990–1992. Empfehlungen und Materialien. Berlin 1993.
Doderer, Klaus: Ostdeutsche Kinder- und Jugendliteratur nach der Wende. Fakten, Beobachtungen und Einschätzungen. In: Fundevogel 133 (1999), 5–53. Dolle-Weinkauff, Bernd/Peltsch, Steffen: Kinderliteratur der DDR. In: Reiner Wild (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart 32008, 413– 436. Ebert, Günter: Ansichten zur Entwicklung der epischen Kinder- und Jugendliteratur in der DDR von 1945–1975. Berlin 1977. Emmrich, Christian: Literatur für Kinder und Jugendliche in der DDR. Berlin 1981. Gansel, Carsten: Kinder- und Jugendliteratur in der SBZ/ DDR in modernisierungstheoretischer Sicht. Aufriss eines Problemfeldes. In: Reiner Wild (Hg.): Gesellschaftliche Modernisierung und Kinder- und Jugendliteratur. St. Ingbert 1997, 177–197. Gansel, Carsten: Atlantiseffekte in der Literatur? Zur Inszenierung von Erinnerung an die verschwundene DDR. In: Ute Dettmar/Mareile Oetken (Hg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien. Heidelberg 2010, 17–50. Gesetzesblatt der Deutschen Demokratischen Republik: Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung vom 08. Februar 1950. Verkündet durch Wilhelm Pieck. Berlin: 21. Februar 1950, 98. In: Bundesarchiv (BArch), ZB20049, Bl. 4, Druck-Nr. 16, 1950. Giera, Joachim (Hg.): Kinderliteratur und Kinderkinematografie. Berlin 1984. Gorki, Maxim: Über die Jugend. Berlin 1954. Gronenthal, Mariella C.: Nostalgie und Sozialismus: emotionale Erinnerung in der deutschen und polnischen Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2018. Hager, Kurt: Zu Fragen der Kulturpolitik der SED. 6. Tagung d. ZK d. SED, 6./7. Juli 1972. Berlin 1972. Hofmann, Christel: Theater für junge Zuschauer. Sowjetische Erfahrungen – Sozialistische deutsche Traditionen – Geschichte in der DDR. Berlin 1976. Holtz-Baumert: Kunst ist Waffe. Die Kinderliteratur als wichtigstes Mittel zur sozialistischen Erziehung. In: Der Pionierleiter 8/12 (1957), 16. Josting, Petra: Wendeliteratur für Kinder und Jugendliche. In: Dies./Clemens Kammler/Barbara Schubert-Felmy (Hg.): Literatur zur Wende: Grundlagen und Unterrichtsmodelle für den Deutschunterricht den Sekundarstufen I und II. Baltmannsweiler 2008, 39–55. Links, Christoph: Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen. Berlin 22010. Lokatis, Siegfried: Produktionsbedingungen, Zensur- und Verlagswesen in der DDR. In: Rüdiger Steinlein/Heidi Strobel/Thomas Kramer (Hg.): Handbuch zur Kinderund Jugendliteratur. SBZ/DDR. Von 1945–1990. Stuttgart/Weimar 2006, 101–113. Lokatis, Siegfried: Die Hauptverwaltung des Leselandes. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2009), 23–31. [O. V.:] Manifest des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Berlin 1945, 6. Peltsch, Steffen: Wende-Punkte: Zur Situation der Literatur
8 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in der DDR und der Literaten in den neuen Bundesländern. Weinheim 2001 (Beiträge Jugendliteratur und Medien, 12). Richter, Karin: DDR-Kindheit – Wendekindheit: der neue Alltag in ostdeutschen Kinder- und Jugendromanen. In: Hannelore Daubert/Hans-Heino Ewers (Hg.): Veränderte Kindheit in der aktuellen Kinderliteratur. Braunschweig 1995, 134–150. Richter, Karin: Kinder- und Jugendliteratur der DDR. In: Günter Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1. Hohengehren 2000, 137–156. Richter, Karin: Die Kinder- und Jugendliteratur der DDR. Eine Aufsatzsammlung. Bd. 1. Baltmannsweiler 2016. Roeder, Caroline: Phantastische Kinderliteratur. In: Rüdiger Steinlein/Heidi Strobel/Thomas Kramer (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/DDR. Von 1945– 1990. Stuttgart/Weimar 2006, 687–758. Strewe, Ute: Kinder- und Jugendliteratur und literarisches Leben in der DDR. In: Rüdiger Steinlein/Heidi Strobel/ Thomas Kramer (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/DDR. Von 1945–1990. Stuttgart/ Weimar 2006, 82–100.
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Wallesch, Friedel (Hg.): Sozialistische Kinder- und Jugendliteratur der DDR. Berlin 1976. Weskott, Martin: Die vergessenen Bücher: Was mit der Buchproduktion der DDR nach 1990 geschah. Katlenburg 1995. Wiedemann, Dieter: Der DEFA-Kinderfilm: Zwischen Resteverwertung und Politikdiskursen – Überlegungen zum Umgang mit einem Kulturerbe. In: Horst Schäfer/Claudia Wegener (Hg.): Kindheit und Film. Geschichte, Themen und Perspektiven des Kinderfilms in Deutschland. Konstanz 2009, 111–124. Wallesch, Friedel: Sozialistische Kinder- und Jugendliteratur in der DDR. Ein Abriss zur Entwicklung von 1945–1975. Berlin 1977. Wolfgramm, Grit/Wolfgramm, Markus: Verdammte und geliebte Kinderliteratur. Mit Sichtweisen von Benno Pludra zur Kinderliteratur in der DDR. In: Ute Geiling/Friederike Heinzel (Hg.): Erinnerungsreise – Kindheit in der DDR. Studierende erforschen ihre DDR-Kindheiten. Baltmannsweiler 2000, 139–151.
Maria Becker
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9 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in der (Deutsch-) Schweiz 9.1 Einleitung Was ist eigentlich Schweizer Kinder- und Jugendliteratur? Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten, und so wird im Folgenden zunächst die Komplexität dieser Frage aufgezeigt, um zu einer differenzierten und zugleich pragmatischen Definition für diesen Beitrag zu kommen. Skizziert werden sodann die Ausgangslage in der Schweiz 1945, mit Blicken zurück und nach vorn, Kontinuitäten, Aufbrüche und Neuorientierungen der folgenden Zeiten und ihre Hintergründe, die vielfach aber im Gesamtzusammenhang der deutschsprachigen Literatur stehen und zu sehen sind. Exemplarisch behandelt werden dabei Autoren und Illustratoren sowie Werke der deutschschweizerischen Kinder- und Jugendliteratur. Berücksichtigt werden jedoch nicht nur Arbeiten mit hohem literarischen und künstlerischen Anspruch und von anerkannter Qualität, sondern ebenso einige populäre Klassiker in Neubearbeitungen sowie immer wieder in der Kritik stehende Long- und Bestseller. Die vorgenommene Periodisierung ist als Groborientierung zu verstehen, innerhalb derer es unscharfe Grenzen gibt. Während sich Neues entwickelt, besteht Altes parallel weiter; manche Entwicklungen oder Phänomene sind über einen langen Zeitraum zu beobachten.
9.2 Schweizer Kinder- und Jugendliteratur Auf die Frage, wie die Schweizer Kinder- und Jugendliteratur zu bestimmen sei, gibt es im Verlauf der Geschichte unterschiedliche Antworten. War der 1942 auch unter dem Eindruck der Situation der Schweiz im Zweiten Weltkrieg initiierte Schweizerische Jugendbuchpreis über viele Jahre »an Werke gebunden, die von Schweizer Autoren stammen und in Schweizer Verlagen erschienen sind« (Raab 1979, 356), sind die Kriterien des 2003 neu aufgestellten Schweizer Kinder- und Jugendmedienpreises nun sehr viel offener definiert (vgl. Eggenberger 2017, 24): Neben Schweizer Staatsbürgern sind auch Autoren und Illustratoren, die seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz wohnhaft sind, preisberechtigt. Zudem muss die Publikation in einer Schweizer Landessprache verfügbar sein.
In einem Land mit vier Landessprachen ist die Situation der Produzierenden wie der Lesenden von Kinder- und Jugendliteratur eine gänzlich andere als in einem Land mit nur einer Landessprache. So richtet sich in der Schweiz der Blick auf den Buchmarkt der jeweiligen Nachbarländer: im italienischsprachigen Tessin nach Italien, in der französischsprachigen Romandie nach Frankreich und in der Deutschschweiz nach Deutschland und Österreich. Deutsch ist die meistverbreitete Sprache der Schweiz, doch ist hier zwischen Schweizer Hochdeutsch – dem sogenannten Schriftdeutsch – und Mundart zu unterscheiden, denn die meisten Einheimischen sprechen im Alltag eines der vielen Schweizer Idiome. Diese Situation bedeutet für die Kinder- und Jugendliteratur in der Deutschschweiz ein konstantes, produktives Spannungsverhältnis (vgl. Studer 1999). Während sich im Tessin keine eigene Literaturproduktion ausgebildet hat, verfügt die Romandie über eine kleine, aber sehr aktive Produktionsszene für französischsprachige Kinder- und Jugendliteratur, insbesondere ihre Illustratoren finden international große Beachtung. Eine kleine und thematisch regional orientierte rätoromanische Kinder- und Jugendliteratur ist in Graubünden zu verzeichnen, zum Teil erscheinen die Veröffentlichungen parallel zu deutschsprachigen Ausgaben. Die deutschschweizerische Kinder- und Jugendliteratur, auf die sich die folgende Übersicht nun beschränkt, ist, auch wenn es eine reichhaltige Produktionslandschaft in der Schweiz selbst gibt, vor allem Teil des größeren deutschsprachigen Marktes. Dieser ist, was auch die Schweizer Verlage betrifft, zunehmend durch Konzentrationsprozesse gekennzeichnet. Und doch wird die Frage nach der deutschschweizerischen Literatur, und was denn das Schweizerische an ihr sei, immer wieder gestellt. Der Literaturwissenschaftler Peter von Matt weist in seiner Antwort auf ein weiteres besonderes Spannungsverhältnis der Schweizer Literatur hin: die zahlreichen Überschreitungen der Landesgrenzen, und zwar in beide Richtungen (von Matt 2014). Das gilt auch für die Autoren von Kinder- und Jugendliteratur (vgl. ten Doornkaat 2018). Schon Johanna Spyri, die als schweizerische Kinder- und Jugendschriftstellerin par excellence gilt, adressierte ihre Werke thematisch wie sprachlich an ein Publikum im gesamten deutschsprachigen Raum und veröffentlichte sie in deutschen Verlagen (vgl. Ris 1994, 36–61). Sie war nicht die Einzige, und viele Schweizer Autoren tun es auch heute (wieder) so. Umgekehrt veröffentlichen Schweizer Verlage nicht nur
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_9
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Werke von Schweizer Autoren, sondern auch Lizenzausgaben von Werken aus anderen Ländern und Übersetzungen aus anderen Sprachen (vgl. Holliger 1999; Nagel-Kohler 1999). Ein anderes für die Kinder- und Jugendliteratur wichtiges Beispiel für Grenzgänge ist die Exilliteratur. Die Schweiz wurde für eine ganze Reihe von Schriftstellern, die das nationalsozialistische Deutschland verließen, zum Exil. Nicht alle aber durften oder konnten ihre Werke auch in der Schweiz publizieren (vgl. Benner 2015, 106–115). Lisa Tetzner und Kurt Kläber (Kurt Held), die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz blieben, das Schweizer Bürgerrecht erhielten und dort bis an ihr Lebensende arbeiteten, wurden auch dann noch eher als Außenseiter wahrgenommen und eben nicht als Schweizer Autorin und Autor (vgl. Rutschmann 1999, 31; Kaminski 1999). Anders ist es etwa bei der gebürtigen Deutschen Hanna Johansen, die seit den 1970er Jahren in der Schweiz lebt und heute als schweizerische Schriftstellerin und Verfasserin zahlreicher Kinderbücher bekannt ist. Und noch einmal anders bei dem Schweizer Illustrator Jörg Müller, der in seiner zweisprachigen Heimatstadt Biel und in Frankreich lebt. Zu Recht betont von Matt, dass es »nur eine deutsche Literatur gibt, die Literatur deutscher Sprache. [...] Die nationale Herkunft ist sekundär.« Wirklich landesspezifisch werde Literatur »nur im politischen Blick auf den eigenen Staat, die eigene Gesellschaft« (von Matt 2014). Verena Rutschmann weist zudem darauf hin, dass in der Schweiz Kinderliteratur ohnehin kaum je »als Teil der Nationalliteratur – weder der deutschen, noch der schweizerischen, wenn es denn eine solche geben sollte – betrachtet wurde« (Rutschmann 1999, 18), sondern bis in die 1960er Jahre hinein eher als Hilfsmittel für die Erziehung oder den Schulunterricht galt (ebd., 19). Vor solchem Hintergrund ist es nicht das Ziel dieses Beitrags, das Schweizerische an der Deutschschweizer Kinder- und Jugendliteratur seit 1945 herauszuarbeiten. Für deren Bestimmung orientiert sich der Beitrag an der oben angeführten weiten Definition des Schweizer Kinder- und Jugendmedienpreises.
9.3 Historische Entwicklungen Hatte in der Schweiz über lange Zeit die Wahrnehmung eines zusammengehörigen deutschsprachigen Buchmarktes vorgeherrscht, begann im frühen 20.
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Jahrhundert ein Abgrenzungsprozess gegenüber chauvinistischen deutschen Jugendbüchern. Dieser führte, zusammen mit einer unter dem Einfluss von Reformpädagogik und Heimatkunst eingeleiteten massiven inhaltlichen und sprachlichen Verschweizerung der Kinderliteratur und schließlich überhandnehmender Heimatideologie und Distanzierung Deutschland gegenüber, zur weitgehenden Trennung von der Kinderund Jugendliteratur aus Deutschland. Das Resultat war eine auch durch personelle Kontinuitäten weit über 1945 hinaus ungebrochen andauernde Sonderentwicklung der Schweizer Kinder- und Jugendliteratur – mit Aufwertung von Mundart, starken Lokal- und Regionalbezügen bzw. dominierenden Schweizer Themen, mit eigenen Verlagen und einem Vermittlungsnetz, das vor allem über die Schule breite Kreise erreichte (vgl. Rutschmann 1999, 26; Ulrich 1999, 68). Bereits zu Beginn der 1930er Jahre war im Zuge einer als Reaktion auf die progressiven Strömungen der Zwischenkriegszeit entstandenen kulturellen Verunsicherung die Idee der Rückkehr zum oder des Festhaltens am Eigenen, Traditionellen, Schweizerischen entwickelt worden. Dazu kam der äußere Druck durch die faschistische Kulturpropaganda in Deutschland. 1934 hatte sich dieser Diskurs unter dem Schlagwort »Geistige Landesverteidigung« (vgl. Jorio 2006) zu einem Programm verdichtet und war mit der von Philipp Etter formulierten Kulturbotschaft vom 9.12.1938 als staatlicher Auftrag an die Bürger lanciert worden: Stärkung des schweizerischen Selbstgefühls sollte gegen faschistisches Gedankengut wappnen. Die Ausschaltung der ausländischen Konkurrenz und mit dem Zweiten Weltkrieg zunehmende kulturelle Isolation begünstigten ein autarkes Kulturschaffen, an dem das Verlagswesen einen wichtigen Anteil hatte. Allein die deutschen Emigrierten – neben Tetzner und Held wären Oskar Seidlin und Richard Plaut zu nennen, zudem Elsa Hinzelmann – thematisierten in ihren Erzählungen über 1945 hinaus die Ideen des 1920 gegründeten Völkerbundes und die Hoffnung, durch eine gemeinsame Organisation die verschiedenen Staaten und Völker einander näher zu bringen und so internationale Konflikte friedlich lösen zu können (vgl. Rutschmann 2001, 123). 1950er und 1960er Jahre Nach dem Ende des Krieges war zunächst jedoch nicht so sehr ein Bedürfnis nach Neubeginn zu spüren als vielmehr die Sorge vor dem Überhandnehmen fremder Einflüsse; man hielt also an der Devise heimatlich-
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patriotischer Selbstbesinnung fest. Helvetischer Fundamentalismus und damit geistiger Isolationismus und Selbstgenügen bis zur Erstarrung bestimmten weit über das Kriegsende 1945 hinaus die Ausrichtung schweizerischer Kultur, im Balanceakt zwischen der Stärkung der eigenen demokratischen Werte und dem Antikommunismus, besonders auch in der Zeit des Kalten Krieges, sowie in der klaren Unterscheidung zwischen »eigen« und »fremd« bzw. »anders«. Das »gute Jugendbuch« sollte den damals geltenden Vorstellungen entsprechend einfach, wirklichkeitsnah und moralisch wertvoll sein. Ein aus schweizerischem Bürgersinn erwachsener pädagogischer Realismus prägte die wichtigsten Werke der Schweizerischen Kinder- und Jugendliteratur der Zeit (vgl. Ulrich 2002, 228). Zudem dauerte die Dominanz der »alten Garde« von Schweizer Autorinnen (z. B. Elisabeth Müller, Olga Meyer, Gertrud Heizmann) und Autoren (Fritz Brunner, Adolf Haller, Ernst Kappeler, René Gardi), die mehrheitlich aus dem Schulbereich kamen, bis zum Ende der 1960er Jahre an (vgl. Rutschmann1999, 31). Dem Bedürfnis nach Lektüre, die nicht auf den Schulunterricht abgestimmt war, begegneten die Schweizer Verlage zunächst vor allem mit Übersetzungen. Einen Freiraum für Phantasie und spielerischen Umgang mit Sprache und Bildern genossen dagegen die Bilderbücher für die Jüngsten: »sie waren es denn auch, die nach dem Krieg als erste wieder Teil der gesamten deutschen Kinderliteratur wurden« (ebd.). Neben den zu konstatierenden Kontinuitäten kam es bei Autoren, Illustratoren und ihren Werken jedoch auch zu Aufbrüchen und Neuorientierungen. Die Hauptfigur des 1945 erschienenen Bilderbuchs Schellen-Ursli von Selina Chönz und Alois Carigiet wurde schnell zur nationalen Ikone, verkörpert er doch nicht nur ein starkes Kind, sondern auch den selbstbewussten, eigensinnigen Schweizer, der sich nicht alles gefallen lässt. Gleichzeitig erlangten Chönz und Carigiet mit diesem und den weiteren, einem naiven Realismus folgenden Bilderbüchern, Flurina und das Wildvögelein (1952) und Der große Schnee (1955), alle in der bäuerlichen Bergwelt Graubündens angesiedelt, weltweit Anerkennung. Für Hans ten Doornkaat besteht in der diese Zeit kennzeichnenden Verbindung aus traditionsbezogener Thematik und stilistischem Aufbruch bzw. der Ambivalenz zwischen wertkonservativen Inhalten und relativer gestalterischer Offenheit der Grund für den enormen und anhaltenden Erfolg dieser vielfach aufgelegten Bücher (vgl. ten Doornkaat 1992, 94, 98, 102; Schultze-Kraft 1998, 166). Mit seinen zwischen 1949 und 1978 erschiene-
nen Bilderbüchern nach Märchen der Brüder Grimm – mit konkreten zeitlichen Bezügen und teilweise deutlichem schweizerischen Lokalkolorit – wurde auch der Aarauer Künstler Felix Hoffmann weltberühmt. Wichtig für diese Ära der Bilderbuchkunst waren zudem der besonders für seine Tierdarstellungen, Märchenbearbeitungen und die künstlerische Qualität der Gesamtausstattung seiner Bilderbücher bekannte Künstler Hans Fischer – z. B. mit der Katzengeschichte Pitschi (1948) – sowie der als Plakatkünstler bekannte Herbert Leupin, dessen Märchenbilderbücher (1944–1949) in jener Zeit in Formen und Farben ungewohnte Modernität zeigten. Einen eigentlichen Modernisierungsschub gab es, zum Teil parallel zur skizzierten Entwicklung, jedoch erst in den 1960er und 1970er Jahren, auch mit neuen Verlagen und neuen Kinderbuchprogrammen in alten Verlagen (vgl. Rutschmann 1999, 31; Ulrich 2002). Er führte – auch hinsichtlich der deutschen Verlage, in denen Schweizer Autoren und Illustratoren nun wieder publizierten, und der grenzüberschreitenden Kooperationen – zur Reintegration auch der erzählenden Schweizer Kinder- und Jugendliteratur in den deutschen sowie internationalen Literaturmarkt, an dem sie von nun an rege partizipierte. Dies äußerte sich auch in Preisvergaben: Den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielten die Schweizer Max Bolliger (1966), Peter Bichsel (Prämie 1970), Jörg Müller (1974), später dieser zusammen mit Jörg Steiner (1990) sowie Jürg Schubiger (1996); den Hans-Christian-Andersen-Preis bekamen zunächst Alois Carigiet (1966), sodann Müller (1994) und Schubiger (2008) zugesprochen. Nach 1960 verabschiedete sich die deutschschweizerische Kinder- und Jugendliteratur also von ihrer starken nationalen Prägung; die Themen wurden grenzüberschreitend, weltoffen, universal. Zunächst fanden die Mumins, Bär Paddington, Kater Mikesch, die Wilden Kerle und andere Figuren den Weg in Schweizer Verlage. Unter dem Einfluss der mit 1968 in Deutschland einsetzenden kritischen Auseinandersetzung mit der bisherigen Kinder- und Jugendliteratur und sodann ihrer Neuausrichtung kam es auch unter Schweizer Autoren zu einem Generationenwechsel und einer Umorientierung. Sie begann mit Bichsels Kindergeschichten (1969), die (auch sprachliche) Konventionen hinterfragten, das Bewusstsein für die alltägliche Welt schärfen und Überlegungen zum Spannungsverhältnis zwischen individueller Existenz und Gesellschaft provozieren wollten (vgl. Dierks 1975, 154). Mit Autoren wie Franz Hohler, Hans Manz oder
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Schubiger hielten nicht nur die Gegenwart und bisher tabuisierte Themen Einzug ins Kinder- und Jugendbuch. Im Zuge eines neuen produktiven Umgangs mit Sprache, der die Mehrdeutigkeit der Dinge bewusst macht und an genaues Hinschauen und Hinhören appelliert, entstanden auch neue Textformen. In diesem Zusammenhang wurde die Differenz zwischen Schriftdeutsch und Mundart wieder produktiv, nun nicht als Rückzug ins Regionale, sondern im Sinne des Aufbrechens erstarrter Formen in der Kinderlyrik und der Erschliessung neuer poetologischer Möglichkeiten des spezifisch deutschschweizerischen SprachResonanzraums als solchem, auch des schriftsprachlichen (vgl. Ulrich 1998). 1970er und 1980er Jahre Ob Franz Hohlers Trilogie phantastischer Abenteuerromane – Tschipo (1978), Tschipo und die Pinguine (1985) und Tschipo in der Steinzeit (1995) – über die Kraft poetischer Gegenwelten, seine Geschichten über die Präsenz des Übernatürlichen im Alltag in Der Granitblock im Kino und andere Geschichten für Kinder (1981), Manz’ Beschreibung von Kindergefühlen in Adam hinter dem Mond (1976) oder seine Sprachspiele wie Schnigge, Schnagge, Schnäggebei (1982), Beat Brechbühls ganz vom Kind aus erzählte Geschichten vom Schnüff (1976), Emil Zopfis Umweltgeschichten Susanna und die 700000 Zwerge (1978), César Kaisers mit dem Titel Da gab’s einen Herrn in Zernez (1985) erschienene Limericks, Steiners und Müllers Bilderbuchgeschichten oder Schubigers skurrile Märchen: Als Aufforderungen zum genauen Betrachten des Alltäglichen, zur Anstrengung des Vorstellungsvermögens, zum Gebrauch der Phantasie auch im Realen hätten die Kinderbücher der 1970er Jahre eine verwandte, mit Bedacht emanzipatorische Tendenz, resümiert Anna Katharina Ulrich 1981 (dies. 2002, 231). Dieser seien auch problemorientierte Jugendbücher verpflichtet: Mit inneren und äußeren Problemen Heranwachsender, brennenden zeitgeschichtlichen Themen wie Benachteiligung von Menschen, Entwicklungshilfe und sogenannter Dritter Welt, der Rolle des eigenen Geschlechts und der Beziehung zum anderen sei ein breiter Fächer aktueller (und auch zeitloser) Jugendbuchthemen zur Darstellung gekommen; speziell schweizerische Züge erkennt Ulrich dagegen kaum (ebd., 232). In dieser Zeit und bis in die Gegenwart findet das Thema Umwelt verstärkt Beachtung: So erscheint Müllers Bildmappe Alle Jahre wieder saust der Press-
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lufthammer nieder oder: Die Veränderung der Landschaft (1973), die ganz ohne Text von der schrittweisen Verdrängung der Natur hin zu einer zubetonierten Stadtszenerie und damit auch von der direkten Auswirkung auf die Lebensräume von Kindern und Jugendlichen erzählt. Eine ähnliche Thematik verfolgt Eveline Hasler in ihrem Roman Denk an mich, Mauro (1975), in dem die Folgen des Baus einer Schnellstraße die Bergbauern veranlassen, in die Stadt zu ziehen oder Arbeit im Straßenbau oder Tourismus zu suchen, weil die Landwirtschaft sie nicht mehr ernährt. Alice Gabathulers späterer Roman Starkstrom (2009) dreht sich um eine Flutkatastrophe in den Bergen, an der die Menschen nicht ganz unschuldig sind. In beiden Büchern stehen die Ereignisse aus der Sicht von Jugendlichen im Fokus. Wenn Karin Grütter und Annamarie Ryter in dem Jugendbuch Stärker, als ihr denkt (1988) von der 16-jährigen Seidenfabrikarbeiterin Lisa erzählen, die sich im Basel um 1850 in prekären Umständen zwischen Fabriken, noblen Salons und den dunklen Straßen der Stadt bewegt, kommen auch historische Lebenswelten in den Blick (vgl. Bäumler/ Piatti 2018, 63). Innovativ in der Sparte Bilderbuch wirkten der Graphiker Müller und der Schriftsteller Steiner, gemeinsam publizierten sie zwischen 1976 und 1998 sieben Bilderbücher: Aufstand der Tiere oder Die neuen Stadtmusikanten (1989) etwa zeichnet sich durch postmoderne Erzählstrategien wie das Eindringen medialer Bildstile aus Pop-art, Werbung und Fernsehen aus; sie spielen mit stilistischen Anklängen an die Neue Sachlichkeit und den Fotorealismus (vgl. Helbling 1998, 24–26). 1990er und 2000er Jahre Über mehr als vier Jahrzehnte verlässliche Konstanten der Schweizer Kinder- und Jugendliteratur sind Hohler mit seinen gleichermaßen spielerischen wie nachdenklichen Geschichten und Schubigers unaufdringlich philosophisches Erzählen mit scheinbar kindlichem, unvoreingenommenem Blick und lakonischer, poetisch verdichteter Sprache; zu seinen bekanntesten Werken zählen Als die Welt noch jung war (1995), Als der Tod zu uns kam (2011) und als Bearbeitung der zentralen mythischen Figur der Schweiz Die Geschichte von Wilhelm Tell (2003). Der Künstler Hannes Binder schuf dazu sowie zu seiner Graphic Novel zu Tetzners Roman Die Schwarzen Brüder (2002) oder zu Spyris Heidi in der Nacherzählung von Peter Stamm (2008) eindringliche Bilder.
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Müllers Das Buch im Buch im Buch (2001) inszeniert das Bilderbuch selbstreferentiell als dreidimensionales Artefakt und nimmt dabei auf die Produktivität von Künstler und Betrachter Bezug. Kathrin Schärer nimmt diesen Faden gleichsam auf und setzt in Johanna im Zug (2009) die die Darstellung verändernde Kommunikation zwischen der Zeichnerin und ihrer selbstbewussten Figur in Szene. Mit zahlreichen Abenteuer- und Reiseromanen erfolgreich sind Werner J. Egli wie auch Federica de Cesco. Manuela Kalbermatten weist jedoch darauf hin, dass in de Cescos über einen langen Zeitraum erschienenen Romanen »ein klares Machtgefälle zwischen der kolonisierenden und der kolonisierten, aber auch zwischen Migrations- und Aufnahmegesellschaft« zu beobachten sei (Kalbermatten 2018, 87). Häufig werden in der neueren Literatur auch Reisen in phantastische Welten dargestellt, so etwa bei Hohler und Schärer in Die Nacht des Kometen (2015), Maria Stalder in Mein Rucksack ist mein Haus (2015) oder Brigitte Schär in Lisa, Paul und Frau Fisch (2016). Ein großer thematischer Schwerpunkt der jüngsten Zeit liegt bei Migration und Flucht. Hatte Hasler in Komm wieder, Pepino! (1967) noch über ein einzelnes fremdsprachiges Kind in der Klasse geschrieben, geht es jetzt um das Zusammenleben in der multikulturellen Gesellschaft und die Herausforderungen einer Identität zwischen den Kulturen – das Ankommen, Weggehen und auch unfreiwilliges Wieder-Weggehen-Müssen nach Jahren in der Schweiz; erwähnt seien Die Insel: Eine tägliche Geschichte von Armin Greder (2002), 1000 Gründe, warum ich unmöglich nach Portugal kann von Katja Alves (2012) und Die Flucht von Francesca Sanna (2016).
9.4 Inter- und transmediale Aspekte Obwohl bereits im 19. Jahrhundert verfasst, bleibt Spyris Heidi ein populärer Klassiker, der auch nach 1945 zahlreiche Neuausgaben und mediale Bearbeitungen erfahren hat; allein in der Schweiz bzw. mit Schweizer Beteiligung gab es vier Realspielfilme: Die beiden ersten Schweizer Verfilmungen von 1952 (Luigi Comencini) und 1955 (Franz Schnyder) standen noch ganz unter dem Eindruck der Geistigen Landesverteidigung und sollten trotz Anbiederung an das deutsche Filmpublikum vor allem schweizerisch sein (vgl. Tomkowiak 2004). Die ebenfalls als Realfilm gedrehte 26teilige TV-Serie von 1978 (Tony Flaadt) bemühte sich um stärkere Berücksichtigung des sozial-
historischen Kontextes zum Ende des 19. Jahrhunderts. Demgegenüber verlegte die Filmfassung von 2001 (Markus Imboden) die Handlung in die zeitgenössische Gegenwart und von Frankfurt nach Berlin. Alain Gsponers Version von 2015 lieferte zwar wieder eine historisierende Version, doch wurde die Geschichte dahingehend modernisiert, dass sie Heidi am Ende den Wunsch, Schriftstellerin zu werden, in den Mund legt. 2015 erschien auch die historisierende Real-Verfilmung des Schellen-Ursli (Xavier Koller), die aus der Bilderbuchhandlung eine dramatisch verlaufende Sozialstudie schafft. Als weiterer Klassiker der Nachkriegszeit wurde der umstrittene Lausbubenroman von Klaus Schädelin, Mein Name ist Eugen (1955), von Michael Steiner verfilmt; der Film kam 2004 in die Kinos (vgl. Gallati 2012). Die in der Deutschschweiz erfolgreichste Schweizer Kinderbuchfigur ist jedoch der Papageienvogel Globi, 1932 vom Zeichner Robert Lips und Texter Alfred Bruggmann als Reklamefigur des WarenhausUnternehmens Globus erfunden und seit 1935 ununterbrochen – und immer wieder kontrovers diskutiert – mit jährlich einem Kinderbuch und zahlreichen anderen Produkten in verschiedenen Medien und Materialien auf dem Markt. Bereits von Beginn an versuchte man mit dieser Figur, über verschiedene mediale Ausprägungen alle Sinne zu erreichen und die Kinder zu diversen Aktivitäten zu animieren. Die Nachkriegsjahre waren von dem vergeblichen Bemühen bestimmt, Globi auf dem internationalen Markt zu platzieren oder filmisch umzusetzen; auch dem in internationaler Zusammenarbeit produzierten Film Globi und der Schattenräuber von 2003 (Robi Engler), der die beliebte Figur in einer in Anime-Ästhetik erzählten und für Globi untypischen Geschichte agieren ließ, war nur wenig positive Resonanz beschieden. Erfolgreich war man jedoch neben den bis in die Gegenwart erscheinenden Büchern mit Hörspielen, wechselnden Kooperationen mit Schweizer Einrichtungen sowie mit der Online-Plattform Globi City (vgl. Bellwald/Tomkowiak 2003). Globi und die ebenfalls gezeichnete, beliebte Serienfigur Papa Moll blieben außerhalb der Schweiz eher unbekannt. Papa Moll war 1952 im Auftrag der Schweizer Jugendstiftung Pro Juventute von Edith Oppenheim entworfen worden; inzwischen steht er im Zentrum einer breiten Produktepalette, darunter seit 2017 der Schweizer Realfilm Papa Moll (Manuel Flurin Hendry). Weitere Medienverbünde entstanden um die Figuren Fip und Fop der Schokoladenfirma Cailler/Nestlé (1936–1959), Ringgie und Zofi des Medienunterneh-
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mens Ringier (1948–1965), und Knorrli des Lebensmittelherstellers Knorr (1948 bis 1960er Jahre, dann wieder seit 1975). Eine ebenso lange Geschichte wie Globi haben die Hefte des Schweizerischen Jugendschriftenwerks (SJW). 1931 als Gegenprogramm zur sogenannten Schundliteratur initiiert und über die Schulen vertrieben, aktiv in der Geistigen Landesverteidigung der 1930er und 1940er Jahre, in der Nachkriegszeit gegen Comics im Einsatz und mittlerweile mehrfach modernisiert sind die in vier Sprachen publizierten SJWHefte eine Plattform für schweizerische Kinder- und Jugendliteraturschaffende, im Dienste der Leseförderung und des Austauschs zwischen den Sprachregionen (vgl. Rossi 1998; Linsmayer 2007). Das durchaus kritisch aufgenommene Bilderbuch Der Regenbogenfisch von Marcus Pfister – 1992 im NordSüd Verlag erschienen, in mehr als 50 Sprachen übersetzt und 2017 weltweit bereits 30 Millionen Mal verkauft – ist der international erfolgreichste Bestseller der Schweiz. Literatur
Bäumler, Andreas/Piatti, Barbara: Möglichkeitsnischen im Mittelland. Von der Veränderung der Landschaft in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM (Hg.): Atlas der Schweizer Kinderliteratur. Expeditionen & Panoramen. Zürich 2018, 58–67. Bellwald, Waltraut/Tomkowiak, Ingrid: Globi. Eine Reklamefigur wird zum Mythos. In: Globi-Verlag (Hg.): Globi und seine Zeit. Begegnung mit einem Schweizer Phänomen. Von 1932 bis heute. Zürich 2003, 8–69. Benner, Julia: Federkrieg. Kinder- und Jugendliteratur gegen den Nationalsozialismus 1933–1945. Göttingen 2015. Dierks, Margarete: Peter Bichsel. In: Klaus Doderer (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1. Weinheim/Basel 1975, 154. Doornkaat, Hans ten: Alois Carigiet: ›Vater‹ von SchellenUrsli. In: Hansjakob Diggelmann/Therese BhattacharyaStettler/Ders. (Hg.): Alois Carigiet. Zürich 1992, 91–138. Doornkaat, Hans ten: Zwischen Sonntagsreden und Alltagswirklichkeit. Kinderbuchszene Schweiz: schreiben, illustrieren und verlegen. In: Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM (Hg.): Atlas der Schweizer Kinderliteratur. Expeditionen & Panoramen. Zürich 2018, 212–223. Eggenberger, Elisabeth: Sechs Bücher, die etwas zu sagen haben. In: Buch&Maus 3/2017, 24–25. Gallati, Mischa: Ein Schundautor auf dem Amtssessel? Wie Klaus Schädelin 1958 oberster Berner Fürsorger wurde – eine Spurensuche. In: kids + media. Zeitschrift für Kinderund Jugendmedienforschung 1/2012, 23–41, https://www. kids-media.uzh.ch/dam/jcr:00000000-7a61-1c97-ffffffffaec26480/gallati.pdf (1.7.2020). Helbling, Regine: Schweizer Bilderbücher und ihre Bezüge
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zur Kunst. In: Schweizerisches Jugendbuch-Institut (Hg.): Schreiben und Illustrieren für Kinder. Das aktuelle Kinderbuchschaffen in der Schweiz. Zürich 1998, 21–32. Holliger, Christine: Literaturtransfer. Übersetzungen von Kinder- und Jugendliteratur in der deutschen Schweiz. In: Schweizerisches Jugendbuch-Institut (Hg.): Nebenan: der Anteil der Schweiz an der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Zürich 1999, 105–113. Jorio, Marco: Geistige Landesverteidigung. In: Historisches Lexikon der Schweiz (23.11.2006), http://www.hls-dhsdss.ch/textes/d/D17426.php (1.7.2020). Kalbermatten, Manuela: Emanzipation in der Fremde. Federica de Cescos weibliche Abenteuerwelten. In: Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM (Hg.): Atlas der Schweizer Kinderliteratur. Expeditionen & Panoramen. Zürich 2018, 80–89. Kaminski, Winfred: Heimat – Exil – Heimat. Die Rolle des Schweizer Exils (1933–1945) für die deutsche Kinder- und Jugendliteratur. In: Schweizerisches Jugendbuch-Institut (Hg.): Nebenan: der Anteil der Schweiz an der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Zürich 1999, 309–321. Linsmayer, Charles: »Ein geistiges Rütli für die Schweizer Jugend«. 75 Jahre SJW Schweizerisches Jugendschriftenwerk. Zürich 2007. Müller, Heidy Margrit (Hg.): Dichterische Freiheit und pädagogische Utopie. Studien zur schweizerischen Jugendliteratur. Bern 1998. Müller, Helmut: Schweiz. In: Klaus Doderer (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 3. Weinheim/Basel 1979, 350–356. Nagel-Kohler, Renate: Der Einfluss des Standorts Schweiz auf die kinderliterarische Produktion. In: Schweizerisches Jugendbuch-Institut (Hg.): Nebenan: der Anteil der Schweiz an der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Zürich 1999, 119–124. Raab, Rudolf: Schweizerischer Jugendbuchpreis. In: Klaus Doderer (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 3. Weinheim/Basel 1979, 356–357. Ris, Roland: Vom ›Verbrüderungs‹-Konzept Johanna Spyris zur ›Geistigen Landesverteidigung‹. Schweizerisch-deutsche Kulturbeziehungen im Spiegel der Sprache schweizerischer Jugendbuchautorinnen. In: Schweizerisches Jugendbuch-Institut (Hg.): Horizonte und Grenzen: Standortbestimmung in der Kinderliteraturforschung. Zürich 1994, 33–74. Rossi, Gabriela: Das »Schweizerische Jugendschriftenwerk« – Entstehung, Zielsetzungen, Werdegang. In: Heidy Margrit Müller (Hg.): Dichterische Freiheit und pädagogische Utopie. Studien zur schweizerischen Jugendliteratur. Bern 1998, 109–129. Rutschmann, Verena: Auf den Spuren der Schweizer Kinderbuch-Illustratoren. In: Librarium 27 (1984), 2–18. Rutschmann, Verena: Einleitung. In: Schweizerisches Jugendbuch-Institut (Hg.): Nebenan: der Anteil der Schweiz an der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Zürich 1999, 9–14. Rutschmann, Verena: Annäherung und Entfremdung. Zum Verhältnis der deutschen Literaturen. In: Schweizerisches Jugendbuch-Institut (Hg.): Nebenan: der Anteil der
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Ingrid Tomkowiak
10 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in Österreich
10 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in Österreich 10.1 Einleitung Eine Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in Österreich – auch wenn nur die Zeit seit 1945 fokussiert wird – steht in grundsätzlich anderen literaturund kulturgeschichtlichen Zusammenhängen als in Deutschland und in der Schweiz. Im Folgenden soll ein Prozess dargestellt werden, in dem Institutionengeschichte und Werkgeschichte der wichtigsten Kinder- und Jugendbuchschaffenden zum einen in engem Zusammenhang stehen, zum andern aber auch auf beiden Ebenen Ausdifferenzierungen mit eigenständigen Profilen zu verzeichnen sind.
10.2 Österreichische Kinder- und Jugendliteratur Die beiden nachhaltig wirksamen Epochen für die Kinder- und Jugendliteratur, Aufklärung und Romantik, waren in Österreich eher durch Gegenströmungen geprägt, die vor allem mit dem Einfluss konservativkatholischer Erziehungsvorstellungen bis weit ins 20. Jahrhundert fortwirkten. Mit dem Ende der Donaumonarchie 1918 begann ein Diskurs zur Frage der nationalen Identität virulent zu werden, von dem die Literatur sowohl der Ersten als auch die Zweiten Republik geprägt ist, wobei der genealogische Aspekt des »Habsburgischen Mythos« (Magris 2000) durchaus auch bis in innerfamiliäre Konflikte reicht, wie sie in der Kinderliteratur dargestellt werden, z. B. in Christine Nöstlingers Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1972). Dass Autoritätskonflikte ihre Wurzeln nicht nur in vordergründigen Pubertätsproblemen haben, sondern in historisch weit zurückliegenden politischen Perioden, wie etwa im autoritären Ständestaat (1934–1938) wird im Roman Johanna (1979) von Renate Welsh erkennbar. Nicht zuletzt ist die gesamte Kinder- und Jugendbuchszene lange Jahre nach 1945 von einer »sozialpartnerschaftlichen Ästhetik« (Menasse 1990, 25) geprägt, in der die Zeit des Nationalsozialismus und dessen latent fortwirkende Dominanz unter dem Schutzmantel der Opfer-Rolle tabuisiert wurde (s. Gittinger 2015). Soweit die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 bereits als ein literarhistorischer Prozess erkennbar wird, ist auch in Österreich – ähnlich wie in Deutschland – eine entscheidende Wende
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mit dem Paradigmenwechsel um 1970 zu datieren. Diese besondere Zäsur lässt sich als Entwicklung einer Avantgarde verstehen, die als Gruppe der Wiener Kinder- und Jugendbuchautoren zu Recht eine adäquate Benennung erfahren hat. Um sie von der namensähnlichen, Mitte der 1950er Jahre reüssierenden ›Wiener Gruppe‹ um Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener zu unterscheiden, wäre von einer zweiten, kinder- und jugendliterarischen Wiener Gruppe um Mira Lobe, Käthe Recheis, Ernst A. Ekker, Christine Nöstlinger und Renate Welsh zu sprechen, die sich mit ihren Werken in den Jahren um und nach 1970 in kollektiver Geschlossenheit mit literarisch innovativen Ansprüchen und mit einer Vehemenz vom Metier der damaligen Kinder- und Jugendbuchszene emanzipierte, wie es in den Jahrzehnten davor in vergleichbarer Weise kein zweites Mal zu konstatieren ist (vgl. Seibert 2015a). Die Zeit vor dieser Zäsur bis zurück ins Jahr 1945 ist als eine Suche nach verlorener literaturpädagogischer Identität zu verstehen, in der das Verhältnis der Generationen von den frühen Nachkriegsjahren an durch tendenziell sehr voluntaristische pädagogische Vorstellungen geprägt war. Erst der durch die Studentenrevolte 1968 ausgelöste Generationenkonflikt führte, getragen von dieser zweiten Wiener Gruppe, zu nachhaltig neuen Konzepten der Literarisierung von Kindheit und Jugend. Diese beiden großen Abschnitte vor und nach 1970 weisen je für sich mehrere Phasen auf, die in zunehmendem Maße mit der allgemeinen literarischen Entwicklung Österreichs in diesem Zeitraum kompatibel werden.
10.3 Historische Entwicklungen Die österreichische Literatur nach 1945 lässt man im Allgemeinen mit dem Roman Die größere Hoffnung (1948) von Ilse Aichinger beginnen, einem insofern faszinierenden Werk, als mit der in diesem Roman auf besondere Art entwickelten Kindheitsperspektive ein exemplarischer Fall von Kindheitsliteratur vorliegt. Selbstverständlich ist Kindheitsliteratur nicht mit Kinderliteratur zu verwechseln, jedoch ist festzuhalten, dass mit diesem Roman am Beginn der frühen Nachkriegszeit in Österreich (offensichtlich auch als ein österreichisches literarisches Spezifikum) ein poetologischer Diskurs über Kindheit entfaltet wird. Eben dieser besondere Diskurs wurde von der sich Mitte der 1950er Jahre festigenden Kinderbuchszene fürs Erste kaum
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_10
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wahrgenommen. So sind denn auch viele der frühen kinder- und jugendliterarischen Werke aus den ersten zehn Jahren nach 1945 literaturkritisch-interpretativ bis heute kaum jemals zur Sprache gekommen. Sehr wohl in Erinnerung sind Karl Bruckner mit seinem Fußballroman Die Spatzenelf (1949) und Mira Lobe mit dem Roman Insu-pu: Die Insel der verlorenen Kinder (hebr. 1948; dt. 1951), bei dem zu diskutieren wäre, ob man ihm mit dem ihm zugeschriebenen lapidaren Gattungsbegriff einer Kinder-Robinsonade wirklich gerecht wird (zu Bruckner vgl. Wexberg 2007; zu Lobe vgl. Lexe/Seibert 2005); vielmehr war es Lobe offensichtlich darum zu tun, mit den elf Protagonisten dieses Romans selbst noch in der deutschsprachigen, sehr neutralisierten Fassung den Versuch einer neuen Kindheitstypologie vorzulegen, die eigentlich das Trauma des Krieges 1939–1945 reflektiert. In Erinnerung ist wohl auch Vera Ferra-Mikura etwa mit der 1962 begonnenen und bis in die Gegenwart permanent neu aufgelegten Stanislaus-Serie, vergessen sind aber ihre Kinderbücher aus den 1940er Jahren, wie vor allem Der Käferspiegel (1946), der in seiner unübersehbaren Doppelsinnigkeit für den kindlichen Horizont kaum merkbar, aber für den erwachsenen sehr deutlich Reflexionen dessen darstellt, was sich in den Kriegsjahren an Unfassbarkeiten ereignet hat. Ein völlig anderer Autortyp tritt mit Johannes Mario Simmel auf, der mit Ein Autobus, groß wie die Welt (1947) und mehreren weiteren Werken eine jugend- oder eigentlich kinderliterarische Karriere begann, bevor er mit Es muss nicht immer Kaviar sein (1960) das Metier wechselte. Diesem exemplarischen und typologisch sehr inkongruenten Quartett an Frühwerken aus den 1940er Jahren, Bruckner, Lobe, Ferra und Simmel wäre ein zweites zur Seite zu stellen, in dem sich die bekanntesten Verfasserinnen der damals sehr populären Mädchenliteratur wiederfinden, Marga Frank, Hilde Forster, Dora Thaler und Helene Weilen, die ihre einschlägigen Werke zu Serienbestsellern ausbauten. Diese Gattung ist ob ihrer (vermeintlichen) Trivialität sehr bald völlig in den Hintergrund getreten, wenngleich die österreichischen Beispiele – weit entfernt von Trotzkopf- und Nesthäkchen-Klischees – aus der Sicht heutiger Lektüre sehr aufschlussreiche und durchaus auch originelle Narrative zu bieten haben. 1950er und 1960er Jahre In dieser Frühphase der ersten zehn Jahre nach 1945, in der sich, beginnend mit dem von Richard Bamberger 1948 begründeten Buchklub der Jugend, relativ
rasch eine kinder- und jugendliterarische Szene der Distribution herausbildete, stellte sich sehr bald die Praxis der Arbeit mit sehr rigiden Bewertungskriterien ein. Dies hatte zur Folge, dass die hier nur angedeutete Diversität an kinder- und jugendliterarischen Ansätzen im Sinne des pädagogisch Wertvollen zunehmend reguliert und von der vom Buchklub propagierten Idee des ›guten Jugendbuches‹ vereinheitlicht wurde. Besonderes Feindbild dieser Szene war die sogenannte ›Schmutz- und Schund-Literatur‹, gegen die schon in den späten 1940er Jahren beginnend eine breit angelegte Kampagne geführt wurde, die bis heute manchmal belächelt wird (vgl. Seibert 2013, 24–25). Aus heutiger Sicht wäre hingegen zu überlegen, dass in den Nachkriegsjahren tatsächlich eine Unzahl von faschistisch, rassistisch und sexistisch geprägter Trivialliteratur als latentes, aber auch sehr massives Nachwirken von Kriegstraumatisierungen weite Verbreitung fand, und dass deren vehemente Verurteilung bzw. die Sorge um ihre Wirkung auf Kinder und Jugendliche nicht unberechtigt waren. Für diese Frühphase lässt sich eine Zäsur festhalten, die in Österreich vermutlich deutlicher ausgeprägt ist, als in den Nachbarländern. In das Jahr 1955, historisch mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages, also mit dem Ende der Besatzungszeit verbunden, fällt die Ersterscheinung des wegbereitenden Werkes Jugendlektüre von Richard Bamberger, mit dem der Buchklub der Jugend gleichsam sein theoretisches Fundament erhielt. Mit diesem grundlegenden Werk, einer Art Organon für das Kinder- und Jugendbuch, begleitet von zahlreichen weiterführenden Schriften Bambergers wurde eine theoretische Basis des Metiers erstellt, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg vor allem auch in der Zusammenarbeit mit Kinder- und Jugendbuch-Verlagen einerseits und andererseits mit den Schulen aller Formen und Altersstufen ein über alle Bundesländer ausgebreitetes, geradezu monopolartiges Netzwerk im Bereich des Kinder- und Jugendbuchsektors ausbaute. Eine Folge dieser Monopol-Stellung war die Ausbildung von Auto- und Heterostereotypen (vgl. ebd., 27–31); es schien in dieser Hochzeit der institutionellen Regulierung des Kinder- und Jugendbuchwesens sehr klar, wer überhaupt und zumal ein guter Kinder- und Jugendbuchautor war und wer außerhalb des regulierten Kanons stand und demnach in Vergessenheit geriet. Auf diese Weise wurden neben den schon genannten Werken und Autoren Kinderbuchschaffende wie Hermynia zur Mühlen oder Auguste Lazar mit ihren Werken aus den 1940er Jahren nicht kanonisiert
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und erst Jahrzehnte später durch die historische Kinderbuchforschung wieder entdeckt. Der gewiss innovativste und auch originär österreichische Beitrag zur deutschsprachigen Kinderliteratur der 1950er Jahre ist die Entwicklung der phantastischen Erzählung, beginnend mit Erica Lilleggs Roman Vevi (1955) und Ferra-Mikuras Zaubermeister Opequeh (1956). Die besondere poetologische Idee dieser neuen Erzählform ist das Infragestellen der Eindimensionalität des Märchens, das in der Nachkriegszeit in zahlreichen trivialen Gestaltungen zu einer epigonalen Form verkommen ist. Diese spezifisch österreichische Form der phantastischen Erzählung wurde auch in den 1960er Jahren von namhaften Autoren wie Lobe mit Die Omama im Apfelbaum (1965), dem früh verstorbenen Ekker mit Die Kirschenfrau geht in die Luft (1966) und Ende des Jahrzehnts mit dem Debütroman von Nöstlinger Die feuerrote Friederike (1970) weitergeführt. Der wohl wichtigste jugendliterarische Roman und damit auch Beginn der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich ist Das Schattennetz (1964) von Recheis, mit dem die aus der Nähe des Konzentrationslagers Mauthausen stammende Autorin unmittelbar nach Kriegsende in die Krankenbaracke eines Auffanglagers für nach Westen getriebene Juden führt. 1970er und 1980er Jahre Ekker, Recheis und Lobe waren dann 1968 die treibenden Kräfte bei der Konstituierung der »Gruppe der Wiener Kinderbuchautorinnen und -autoren«, die in ihrer innovativen Bedeutung einleitend schon hervorgehoben wurde (zu Ekker vgl. Mairbäurl/Fröhlich 2004, zu Recheis vgl. Lexe/Wexberg 2013 und zu Lobe vgl. Lexe/Seibert 2005, Seibert/Huemer/Noggler 2014). Ihr gehörten von Anfang an auch Friedl Hofbauer, Nöstlinger, Welsh und Lene Mayer-Skumanz an (zu Hofbauer vgl. Blumesberger 2014, zu Nöstlinger vgl. Fuchs 2001, zu Welsh vgl. Seibert/Schlüter 2017 und zu Mayer-Skumanz vgl. Cevela 2006). Zum einen ist diese spürbare und auch von den Institutionen registrierte neue Bewegung als Prozess der Emanzipation vom eher restaurativen Handlungssystem zu sehen, zum anderen münden ihre Bemühungen um eine Literarisierung der Literatur für Kinder und Jugendliche in einen kollektiven Produktionsprozess, der seinen Höhepunkt 1977 im Sprachbastelbuch findet. Eine auf diese originelle Weise erweiterte Lyrik-Tradition wird in einer jüngeren Autorengeneration von Martin Auer,
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Heinz Janisch und Adelheid Dahiméne fortgeführt, die ihr assoziativ-poetisches Sprachverständnis über die Lyrik hinaus auch in Bilderbuchtexte münden lassen. Mit Blick über die Kinder- und Jugendbuchszene hinaus ist zu den 1970er Jahren zu sagen, dass sie von einem entscheidenden politischen und damit auch kulturell manifesten Umbruch bestimmt sind, die schlicht als Ära Kreisky zu bezeichnen ist. Auf literarischer Ebene lässt sich für die Entwicklung in Österreich eine neue und vermutlich abermals (wie auch die phantastische Erzählung) spezifisch österreichische Besonderheit feststellen: War in Österreich schon mit Aichinger (s. o.) beginnend das Kindheitsthema in der Literatur auffällig dominant, zeigt sich nun in zunehmendem Maße das Phänomen der Einbindung von Kinderliteratur in das Repertoire von Autoren, die nicht dem Metier angehören. Das beginnt mit Brav sein ist schwer (1965) und weiteren Kinderbüchern von Marlen Haushofer und findet in den 1970er Jahren Fortsetzungen bei Barbara Frischmuth mit dem Ferienbuch Ida und Ob (1972) und zahlreichen weiteren kinderliterarischen Werken dieser diesbezüglich wohl produktivsten Autorin (etwa dem Roman Machtnix, oder Der Lauf, den die Welt nahm (1993), der in der rezenten Neuauflage im Residenz-Verlag 2019 als Dystopie propagiert wird) oder mit Superhenne Hanna (1977) von Felix Mitterer und setzt sich auch in den folgenden Jahrzehnten quer durch das literarische Schaffen in Österreich fort (vgl. Seibert 2005, 367– 409). Dabei ist als ein Sonderphänomen anzudeuten, dass der Adoleszenzroman in Österreich bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum von Jugendbuchautoren als vielmehr von Autoren der Allgemeinliteratur forciert wird; hervorzuheben ist insbesondere Paulus Hochgatterer, dessen Romane Wildwasser (1997) und Caretta Caretta (1999) die in den späten 1990er Jahren einsetzenden Diskurse um den modernen und postmodernen Adoleszenzroman im deutschsprachigen Raum von österreichischer Seite mitbestimmen. Die 1980er Jahre beginnen auf institutioneller Ebene mit der Schaffung des Würdigungspreises für Kinder- und Jugendliteratur (heute Österreichischer Kunstpreis – Kinder- und Jugendliteratur). In einem gegenüber Deutschland etwas verspäteten Nachholverfahren werden nun auch an der Universität zunächst in Wien, dann auch in den Bundesländern Lehraufträge vergeben und es entwickelt sich eine vermehrte Publikationstätigkeit in teils auch neu geschaffenen wissenschaftlichen Publikationsorganen. Aus den literarischen Produktionen der 1980er Jahre ragt als Einzelwerk Nöstlingers Hugo das Kind in
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den besten Jahren (1983) heraus, das die Gattung der phantastischen Erzählung auf anspruchsvolle Weise in die Großform des Romans überführt. Inhaltlich hat in den 1980er Jahren konzentriert auf das Gedenkjahr 1988 und mit Rückblick auf den Einmarsch deutscher Truppen im März 1938 das Thema Kriegskindheit und Nachkriegskindheit größte Präsenz. Diese Fokussierung, die auf der literarischen Pionierleistung von Recheis und ihrem kindheitsliterarischen Werk Das Schattennetz (1964), aufbaut, fand zunächst eine Fortsetzung in der Anthologie Der Eisstoß (1972) von Oskar Jan Tauschinski, dann bei Nöstlinger mit Maikäfer flieg (1973), dann bei Welsh mit den Anthologien Wie in fremden Schuhen (1983) und In die Waagschale geworfen (1988), einer weiteren Anthologie, Examen im Splittergraben (1988), von Friedl Hofbauer und schließlich wieder mit Recheis in ihrem singulären Erinnerungsroman Lena, unser Dorf und der Krieg (1987), mit dem sie in neuer Stillage wieder an Das Schattennetz anknüpft. Ein weiterer großer Wurf von Recheis geht dem voran: Mit Der weiße Wolf (1982) stellt sie einer phantastischen Literatur evasorischen Zuschnittes eine zu diesem Zeitpunkt im deutschsprachigen Raum originäre Form aufklärerischer Phantastik gegenüber. 1990er und 2000er Jahre Schon Mitte der 1980er Jahre gestaltet Nöstlinger mit Olfi Obermeier und der Ödipus (1984) eine heitere Form des Familienromans, womit sie ein kinderliterarisches Pendant zu dem damaligen allgemeinliterarischen Gattungstrend vorlegt (vgl. Seibert 2015b). Eben diese Gattung wird von Welsh Ende der 1990er Jahre nochmals in realistisch-problemorientierter Form behandelt, indem sie in Besuch aus der Vergangenheit (1999) die Thematik von Kriegskindheit und Nachkriegskindheit weiterentwickelt und in eine Spätphase führt, in der sie mit ihrem autobiographiebasierten Roman Dieda (2002) den kritischen Blick des Kindes, aber gleichzeitig auch dessen psychische Verwundbarkeit zu einer neuen Poetik kindheitsliterarischen Erzählens entwickelt. Über derartige Aufarbeitungsprozesse hinaus finden zeitgeschichtliche Ereignisse nur noch in Ausnahmefällen Eingang in ein jugendliterarisches Erzählen aus österreichischer Perspektive: Robert Klement rekurriert in Sieben Tage im Februar (1998) auf den Roma-Mord in Oberwart im Jahr 1995, die interkulturelle (aus der Erwachsenenbelletristik kommende) Autorin Julya Rabinowich verortet die Geschichte eines kindlichen Selbstfin-
dungsprozesses in Dazwischen: Ich (2016) kurz nach dem ›Flüchtlingssommer‹ 2015 in einem Wohnheim für asylsuchende Menschen. Über den explizit adressierten Kinder- und Jugendroman beginnt sich eine Fülle von Entwicklungslinien abzuzeichnen, die neue Gestaltungsmöglichkeiten erkennen lassen, und in denen zunehmend auch Interferenzen – zum einen mit der Allgemeinliteratur und zum anderen mit medialen Möglichkeiten – angebahnt werden. Das nun ungemein breite Spektrum des gesamten Genres ist daran zu ermessen, dass etwa Lobe, spätestens seit ihrem mit Susi Weigel kreierten Bilderbuch Das kleine Ich-bin-Ich (1972) die Doyenne des Kinder- und Jugendbuches in Österreich, nun in der Zusammenarbeit mit dem Illustrator Winfried Opgenoorth und dann mit Angelika Kaufmann neue Formen des Bilderbuches gestaltet. Mit Lisbeth Zwerger und Linda Wolfsgruber feiern zwei weitere Illustratorinnen mit künstlerisch anspruchsvollen Werken auch internationale Erfolge. Zunehmend gewinnt in diesen Leistungen die illustrative und damit auch die medial-ästhetische Komponente der Kinderliteratur an Bedeutung.
10.4 Inter- und transmediale Aspekte Der Gestus einer illustratorischen Neubefragung von Märchen und kanonischer, im Kontext der Kinderliteratur gerne als klassisch bezeichneter Texte, mündet in ästhetischen Neuausrichtungen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts immer deutlicher in ausdifferenzierte Transformationsprozesse, an denen sich ein postmoderner Spielcharakter mit in das kulturelle Gedächtnis eingeschriebenen Formen und Figuren abzeichnet; prototypisch dafür das Bilderbuch Die Prinzessin auf dem Kürbis (1998) von Janisch und Wolfsgruber sowie das experimentelle ABC-Buch Es war einmal. Von A bis Zett (2000) von Wolfsgruber und Renate Habinger. Letztere baut über ihre eigene künstlerische Tätigkeit hinaus mit dem in Niederösterreich gelegenen Schneiderhäusl ein Kreativzentrum für Illustrationskunst und Literaturvermittlung auf. In einer nachfolgenden Autoren- und Illustratoren-Generation schreiben sich Elisabeth Steinkellner und Michael Roher mit ihren queeren Varianten in Wer fürchtet sich vorm Lila Lachs? (2013) in diese Tradition der Neu-Inszenierungen im weitesten Sinne märchenhafter Figuren und Motive ein. In einer zunehmend von Medienverbünden geprägten Kinder- und Jugendliteraturszene des aus-
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gehenden 20. Jahrhunderts (s. Kap. 4) bilden sich in Österreich keine Buchformate heraus, die serielles Erzählen jenseits marktorientierter Wiederholungsmechanismen entwickeln würden. Frühe Varianten eines Transmedia Storytelling (s. Kap. 12) beschränken sich auf die kommerziell erfolgreichen Krimiserien von Thomas Brezina, die mit den Bauformen der Trivialliteratur operieren. Auch Wechselwirkungen zwischen dem erstarkenden Netzgeschehen und der Kinder- und Jugendliteratur werden nicht sichtbar – obwohl inhaltlich und formal in der Jugendliteratur durchaus auf dieses Netzgeschehen rekurriert wird, wie Monika Pelz (Österreichischer Kunstpreis 2000) sehr früh mit ihrem radikal mit Narrationsgewohnheiten brechenden Textpatchwork True Stories (1998) und Ursula Poznansky bereits unter den Vorzeichen dystopischer Weltwahrnehmungsszenarien im Erfolgsroman Erebos (2010) zeigen. Sehr wohl aber markieren intermediale Bezüge das Entstehen einer neuen Avantgarde ebenso wie die jugendliterarischen Aufbrüche des 21. Jahrhunderts. Der Schallplattenroman Indie Underground (1997) von Dahiméne nähert sich auf einer A- und einer B-Seite in Einzelsongs den adoleszenten Erfahrungen seines Protagonisten. Eine Psychologisierung erfolgt nicht mehr durch Spiegelungen nach Innen sondern durch Überschreibungen der Figuren durch ihre innerfiktional etablierten medialen Praktiken, sei es durch das erzählstrategische Mittel eines in den Text eingeschriebenen Soundtracks wie in Kathrin Steinbergers Adoleszenzroman Manchmal dreht das Leben einfach um (2015) oder durch einen sich unter dem Label des Hashtags reproduzierenden Selbsterkundungsprozess in Sarah Michaela Orlovskýs Roman ich #wasimmerdasauchheißenmag (2017). Literatur
Blumesberger, Susanne (Hg.): Friedl Hofbauer (1924–2014). Sonderheft der Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung »libri liberorum«. 16/1 (2015).
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Cevela, Inge: Zumutungen. Lene Mayer-Skumanz und die religiöse Kinderliteratur. Wien 2006. Fuchs, Sabine: Christine Nöstlinger. Eine Werkmonografie. Wien 2001. Gittinger, Kerstin: Von Nazis, Tätern und Mitläufern. NSTäterschaft als Thema in der österreichischen Jugendliteratur nach 1945. Dissertation Univ. Wien 2015. Lexe, Heidi/Seibert, Ernst (Hg.): Mira Lobe ... in aller Kinderwelt. Wien 2005. Lexe, Heidi/Wexberg Kathrin (Hg.): Der genaue Blick. Weltbild und Menschenbild im Werk von Käthe Recheis. Wien 2013. Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien 2000. Mairbäurl, Gunda/Fröhlich, Gerda: Literatur und Musik in der Kinderkultur. Ernst A. Ekkers kinderliterarische Spurensuche. Wien 2004. Menasse, Robert: Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Essays zum österreichischen Geist. Wien 1990. Seibert, Ernst: Kindheitsmuster in der österreichischen Gegenwartsliteratur. Zur Genealogie von Kindheit. Ein mentalitätsgeschichtlicher Diskurs im Umfeld von Kindheits- und Kinderliteratur. Frankfurt a. M. 2005. Seibert, Ernst: Österreichische Kinder- und Jugendliteratur in den 1950er-Jahren – eine »Abgelegte Zeit«? In: kjl&m 13.3 (2013), 23–33. Seibert, Ernst/Huemer, Georg/Noggler, Lisa (Hg.): Ich bin ich: Mira Lobe und Susi Weigel. 399. Sonderausstellung des Wien Museums: 6. November 2014 bis 1. März 2015. Wien 2014. Seibert, Ernst: Österreichische Kinder- und Jugendliteratur in den 1970er-Jahren – Autonomie gegenüber den Institutionen. In: kjl&m 15.1 (2015a), 70–79. Seibert, Ernst: Österreichische Kinder- und Jugendliteratur in den 1980er-Jahren – forciertes gesellschaftspolitisches Erwachen. In: kjl&m 15.4 (2015b), 70–79. Seibert, Ernst/Schlüter, Sabine (Hg.): »... worüber man nicht sprechen kann, kann man schreiben ...« Renate Welsh 80. Sonderheft der Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung »libri liberorum«. 18 (2017). Wexberg, Kathrin: Verschriftlichte Heimat? Karl Bruckner – ein österreichischer Kinder- und Jugendbuchautor im Spannungsfeld zwischen Literatur und Gesellschaft. Wien 2007.
Ernst Seibert / Heidi Lexe
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11 Internationale Kinder- und Jugendliteratur 11.1 Einleitung Der deutschsprachige Kinder- und Jugendbuchmarkt gilt dank einer »Blütezeit des Literaturimports« (Seifert/Weinkauff 2006, 804) nach dem Zweiten Weltkrieg als internationaler Buch- und Medienmarkt. Die Literaturimporte sind Teil eines Literaturtransfers, bei dem Bücher von einem Land in ein anderes wandern: Welche Bücher werden wann ins Deutsche übersetzt? Woher kommen sie? In welchen Sprachen sind sie ursprünglich verfasst? Stoßen die übersetzten Titel Entwicklungen an, setzen sie Impulse? Wie werden die Bücher rezipiert – auch mit Blick auf eine (crossmediale) Umsetzung und Weiterbearbeitung in differenten Medienverbünden wie Radio, Fernsehen, Film, Internet? Aber auch: Was gelangt nicht auf den deutschsprachigen Buchmarkt? Warum? Die Gründe für einen Literaturtransfer sind vielschichtig und historischen Dynamiken unterworfen. Einerseits kann man einen Wandel ausmachen, andererseits bleiben viele Motivationen bestehen. Man kann die Parameter einzeln benennen, sie lassen sich jedoch nicht isoliert voneinander verstehen, da sie sich gegenseitig beeinflussen und sich ebenso potenzieren wie nivellieren können. Das macht das Feld des Literaturtransfers komplex und ambivalent. Die folgende Darstellung gliedert sich nach thematischen Aspekten und orientiert sich an den Mechanismen und Funktionen des Literaturtransfers. Sie werden mit Blick auf das deutschsprachige kinderund jugendliterarische System aktualisiert. Neben einem Überblick über Herkunftssprachen und -länder werden ideelle, (rezeptions-)ästhetische, interkulturell-didaktische, imagologische und intermediale Aspekte beleuchtet. Punktuell wird eine doppelte Perspektive angelegt, die beide Seiten des Literaturtransfers miteinander verschränkt.
11.2 Begriffsdefinitionen Die Internationalisierung des deutschen Kinderund Jugendbuchmarkts ›Internationale Kinder- und Jugendliteratur‹ ist ein pluralistischer und relationaler Begriff, der, vom Standpunkt des deutschsprachigen Buchmarkts betrachtet, sämtliche Kinder- und Jugendliteraturen meint, die au-
ßerhalb Deutschlands und nicht auf Deutsch publiziert werden. Der deutschsprachige Buchmarkt umfasst neben der deutschen auch die österreichische sowie Teile der Schweizer Kinder- und Jugendliteratur, die aber zugleich Teil einer eigenen österreichischen respektive Schweizer Nationalliteratur sind. Die internationalen Kinder- und Jugendliteraturen in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen, ist schlichtweg unmöglich. Im Kontext dieses Artikels meint ›internationale Kinder- und Jugendliteratur‹ daher primär jene Literaturen, die als Übersetzungen in den deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchmarkt eingegangen sind. Da Übersetzungen das literarische Handlungs- und Symbolsystem des Zielkontexts verändern, spricht man diesem beim Literaturtransfer eine größere Relevanz als dem Herkunftskontext zu (vgl. ebd., 801). Weil das Verhältnis jedoch wechselseitig ist, kann man die Herkunftskontexte und ihre jeweiligen literarischen Handlungs- und Symbolsysteme nicht außer Acht lassen. Auf dem deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchmarkt sind im Schnitt ca. 25 % bis 30 % der jährlichen Buchproduktion Übersetzungen (vgl. Weinkauff 2006, 317; Rieken-Gerwing 1995, 21). Ergänzt wird diese Produktion von der Bearbeitung kinderund jugendliterarischer Texte in audiovisuellen Medien oder in digitalen Formaten, die entweder auf bereits übersetzten Büchern basieren, oder die direkt, ohne dass sie vorher in Buchform erschienen sind, auf den Markt kommen. Es ist schwierig, valide Zahlen zum Transfer im kinder- und jugendliterarischen und -medialen Bereich ausfindig zu machen. In Buch und Buchhandel in Zahlen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (BubiZ) wird die Zahl der Übersetzungen zwar festgehalten, aber nur unregelmäßig nach Herkunftssprachen und -ländern aufgeschlüsselt. Für Englisch fehlt beispielsweise eine differenzierte Übersicht darüber, aus welchen anglophonen Ländern die Bücher stammen. Auch die Verteilung auf die einzelnen Gattungen oder die transmediale Rezeption eines Titels im Medienverbund werden nicht abgebildet. Aufgrund der komplexen Gemengelage ist der Gegenstand ›internationale Kinder- und Jugendliteraturen und -medien im deutschsprachigen Raum‹ bislang nicht in toto systematisiert oder gar analysiert worden (vgl. O’Sullivan 2004, 16). Einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des weiten Feldes leistet die Studie Ent-Fernungen (Weinkauff 2006; Seifert/Weinkauff 2006). Mit Hilfe des Begriffspaars des sogenannten »Nah- und Fernbereich des Fremden« (Weinkauff 2006, 21) wird aus imagologischer Perspektive be-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_11
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leuchtet, in welcher Größenordnung und aus welchem Grund ausgewählte Nationalliteraturen im deutschsprachigen kinder- und jugendliterarischen System zu finden sind. Darüber hinaus findet man Aufsatzsammlungen sowie Monographien zum Literaturtransfer und zur Rezeption einzelner Autoren, Werke und Gattungen (u. a. O’Sullivan 2000 zu Alice im Wunderland oder Surmatz 2005 zu Astrid Lindgren). Um Einblicke in unterschiedliche Herkunftsliteraturen zu bekommen, kann man u. a. Literaturgeschichten differenter Nationalliteraturen konsultieren. Lassen sich in vergleichenden Einzelstudien inhaltliche oder formale Zusammenhänge und Einflüsse wie beispielsweise Motiv- oder Gattungstransfers rekonstruieren und nachweisen, kann man die Frage, warum ein bestimmtes Werk übersetzt wird und ein anderes nicht, nur selten eindeutig beantworten. Denn der Prozess des Literaturtransfers wird kaum dokumentiert, und in den meisten Fällen sind verschiedene Faktoren in unterschiedlichem Maße für sein Gelingen (oder sein Misslingen) ausschlaggebend: Neben sozialen und politischen Verhältnissen und der Organisation der jeweiligen Literaturmärkte – Verlagsstrukturen, Vertriebswege, transnationale Netzwerke, staatliche Subventionen, Literaturagenten, sprachkundige Lektoren und Übersetzer – spielen kulturelle, politische, gesellschaftliche, didaktische und ästhetische Aspekte eine Rolle. Diese werden während des Literaturexports und -imports oft nicht explizit und öffentlich artikuliert oder fixiert. Sie können jedoch zu einem späteren Zeitpunkt geäußert werden, beispielsweise in Vorschauund Klappentexten und in Rezensionen. Hier werden Texte eingeordnet und charakteristische Merkmale genannt, was wiederum Rückschlüsse zu den Motiven, warum ein Buch übersetzt wurde, möglich machten kann. Gleichwohl bleibt ein Rest Spekulation. Übersetzten Titeln werden im kinder- und jugendliterarischen System des Zielkontexts verschiedene Funktionen zugeschrieben. Oft werden mehrere von ihnen wirksam, einzelne können wichtiger sein als andere, doch so hat ein Titel einen oder mehrere ›Mehrwerte‹: z. B. einen ästhetischen, wenn der übersetzte Titel das literarästhetische System durch neue Inhalte oder Erzählweisen bereichert. Der Wert kann auch ökonomisch begründet sein – wenn das Buch im Herkunftskontext ein Bestseller ist und man sich erhofft, dass es dies auch im Zielland wird. Oft werden auch ideelle wie interkulturell-didaktische Motive wichtig: Man möchte die Diversität internationaler Literaturen zugänglich machen und sieht das Buch als kulturellen Botschafter, das Alteritätserfahrungen ermöglicht.
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In diesem Zusammenhang spielen die Vorstellungen der Zielkultur über die jeweiligen Herkunftsländer eine Rolle. Diese Annahmen beeinflussen den Literaturtransfer auf vielfältige Weise: Positive Annahmen zu Herkunftskontexten können den Literaturimport erleichtern und befördern, Skepsis und negative Einstellungen ihn hingegen hemmen oder verhindern (vgl. Weinkauff 2006, 13–25). Diese diffusen, kaum objektiv messbaren Faktoren sind im Kontext von Literaturübersetzungen fortgesetzt relevant, werden jedoch mehr und mehr von marktökonomischen Überlegungen flankiert, überlagert oder abgelöst (vgl. Seifert/Weinkauff 2006, 992). In einer globalisierten Welt verschieben sich die Gewichtungen zunehmend in Richtung ökonomischer Beweggründe und Marktrentabilität (vgl. ebd., 797). Herkunftssprachen und -länder Die Statistiken des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zeigen ab dem Jahr 1951 die absolute Anzahl sowie ab 1962 den prozentualen Anteil der Übersetzungen innerhalb der kinder- und jugendliterarischen Gesamtproduktion. 1951 wurden im gesamten deutschen Sprachraum 166 Titel übersetzt (vgl. BuBiZ 1952, 10), der höchste Wert lag bei 2005 Titeln im Jahr 2013 (vgl. BuBiZ 2014, 101). Bezüglich des prozentualen Anteils ist der niedrigste Wert 13,2 % im Jahr 2007 (vgl. BuBiZ 2008, 80), der höchste 34,7 % im Jahr 1978 (vgl. BuBiZ 1979, 28–29). In der DDR pendelt sich die jährliche Anzahl an übersetzten Titeln ab Mitte der 1950er Jahre auf ca. 20 Titel ein, nachdem die sogenannten antifaschistischen und sozialistischen Schlüsselwerke bereits zwischen 1946 und 1948 übersetzt und in der sowjetischen Besatzungszone distribuiert wurden. In der DDR bleibt Russisch primäre Herkunftssprache (vgl. Bussewitz 1981, 138), während die Mehrzahl der übersetzten Titel in der BRD aus den »westlichen Sprachräumen mit weitgehend ähnlichen soziokulturellen Strukturen« (Breitinger 1979, 605) stammt. Ihnen wird eine politische und gesellschaftliche Vorbildfunktion attestiert. Generell begünstigen ein ähnlich strukturiertes literarisches Handlungs- und Symbolsystem und gesellschaftlich-kulturelle Nähe zwischen Herkunfts- und Zielland den Literaturtransfer (vgl. Seifert/Weinkauff 2006, 8340). In den Nachkriegsjahren konzentrieren sich die Übersetzungen auf das Englische und das Schwedische, bevor sich im Laufe der Zeit das Spektrum ausdifferenziert: In den 1970er Jahren werden beispiels-
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weise auch Kinderromane einer innovativen, antiautoritären und ästhetisch anspruchsvollen dänischen Kinderliteratur ins Deutsche übersetzt. In den 1980er und den frühen 1990er Jahren werden Herkunftsliteraturen, die vorher nicht präsent waren, eingekauft – etwa aus dem lateinamerikanischen Raum (vgl. Weber 2006, 28) und aus Italien, bevor man ab den 2000er Jahren wieder eine deutliche Einengung auf wenige Herkunftsliteraturen beobachten kann. Hinsichtlich der Buchübersetzungen lassen sich wie bei der Weiterverwertung im Medienverbund klare Präferenzen bei den Herkunftssprachen und -ländern ausmachen: Es dominieren die USA, Großbritannien, Frankreich, Japan, Skandinavien und Niederlande-Flandern (vgl. zu den Jahren 1970–1986 Rieken-Gerwing 1995, 30–31; für das Jahr 2016 die Statistik des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels [vgl. BuBiZ 2017, 97]). Während bei vielen Sprachen die Übersetzungen ins Deutsche gegen Null tendieren, ist Englisch mit einem Anteil zwischen 60 % und 80 % Prozent mit Abstand führend. Der Rest entfällt auf die anderen favorisierten Sprachen, wobei sich der Anteil pro Sprache zumeist im einstelligen Bereich bewegt. Hinsichtlich der aus dem Englischen übersetzten Titel stammt der überragende Anteil aus den USA, gefolgt von Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland. Bücher aus der Karibik, Afrika oder Indien sind nur marginal repräsentiert. Mit dem Englischen kann sich keine andere Herkunftssprache messen. Dies liegt jedoch auch daran, dass in vielen Ländern keine oder nur sehr vereinzelt intentionale, qualitativ wertvolle und konkurrenzfähige Kinder- und Jugendliteratur publiziert wird: So erscheinen Bücher aus Ländern, in denen sie eine Zensur passieren müssen, aufgrund ihrer politischen Instrumentalisierungen und ihrer eingeschränkten Themenwahl oft wenig attraktiv für Übersetzungen. Auch eine mangelhafte Logistik erschwert oder verhindert den Literaturexport, und schließlich darf man den Aufwand, den es oft mit sich bringt, Bücher aus kleinen Sprachen für die Übersetzung zu prüfen, nicht unterschätzen. Um diese Hürden zu überwinden, braucht es viel Engagement, bei dem man im Vorfeld selten absehen kann, ob es sich (finanziell) rentieren wird. Nicht zuletzt deshalb werden vornehmlich Titel aus Ländern eingekauft, zu denen bereits gute Verbindungen bestehen. Jedoch ist auch eine gut ausgestattete und professionalisierte Übersetzungsförderung hilfreich. Sie kann den Status kleiner Sprachen kompensieren: So wird aus dem Norwegischen seit Jahrzehnten regel-
mäßig ins Deutsche übersetzt (vgl. Galling 2015, 15– 16). Darüber hinaus unterstützen Förderprogramme oder Gastlandauftritte beispielsweise im Rahmen der Frankfurter Buchmesse den Literaturtransfer, was sich jedoch nicht immer auch im kinder- und jugendliterarischen Feld niederschlägt, so beim isländischen Gastlandauftritt 2011, der der Belletristik einen Schub gab, der Kinder- und Jugendliteratur jedoch nicht. Das Französische und das Japanische belegen ebenfalls vordere Ränge in aktuellen Statistiken, wobei die Zahl der Übersetzungen aus dem Japanischen allein aufgrund der ungebrochenen Manga-Rezeption seit den 1990er Jahren hoch ist. Romane werden hingegen so gut wie nie, Bilderbücher nur selten übersetzt. Die sprachlichen und kulturellen Hürden, die den Literaturtransfer aus Japan erschweren (vgl. Raabe 2013, 89), scheinen bei Mangas irrelevant zu sein. Auch aus anderen asiatischen Regionen und Ländern wie Taiwan oder Südkorea findet man Übersetzungen allenfalls im Bilderbuch oder Comic. Ebenfalls nur eine kleine oder gar keine Rolle auf dem deutschsprachigen Buchmarkt spielen Bücher aus Griechenland, der Türkei sowie den arabischsprachigen Regionen. Auch aus den spanisch- und portugiesischsprachigen Ländern gelangt nur wenig in den deutschsprachigen Raum: Zu den historischen Gründen – Spanien, Portugal und viele lateinamerikanische Staaten waren zum Teil bis in die 1980er Jahre Militärdiktaturen und konnten kaum Verbindungen zum deutschsprachigen Buchmarkt aufbauen (vgl. Weber 2006, 27) – gesellen sich seit der Jahrtausendwende erneute politische und ökonomische Krisen. Sie treffen die Buchbranche und erschweren den Literaturexport. Einen temporären Aufschwung erlebten in den 1980er Jahren Übersetzungen aus dem Hebräischen, in den 1990er Jahren aus dem Italienischen. Ihre Präsenz ist besonders dem Einsatz Einzelner zu verdanken: So war es z. B. Mirjam Pressler, die u. a. Romane von Uri Orlev an deutsche Verlage vermittelt und ins Deutsche übertragen hat (vgl. dazu Weinkauff 2006, 259). Schaut man auf Mittel-, Ost- und Südosteuropa, ist das Bild geteilt: Einige Länder sind auf dem deutschen Markt derzeit präsent, andere nicht. Kamen vor dem Fall des Eisernen Vorhangs vor allem Märchen, Bilderbücher und phantastische Romane, besonders aus der damaligen Tschechoslowakei und Polen über die DDR auch auf den westdeutschen Buchmarkt (vgl. Weinkauff 2006, 808 und 895–896), mussten sich die Buchmärkte nach 1989 erst einmal konsolidieren, und auch der Literaturexport, der innerhalb der War-
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schauer-Pakt-Staaten staatlich gesteuert war, kam zum Erliegen. Heute findet man – auch weil die dortige Produktion zum Teil sehr klein und wenig überzeugend ist – kaum erzählende Literatur aus den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas auf dem deutschsprachigen Markt. Bilder- und Sachbilderbücher aus dem Baltikum, Tschechien und insbesondere Polen sind hingegen im Aufwind. Von dort stammen derzeit einige der innovativsten und erfolgreichsten Sachbilderbücher (vgl. Wiebe 2011), die im deutschsprachigen Feuilleton gelobt und mit Preisen bedacht werden. Das rückt zugleich Herkunftskontexte ins Bewusstsein und kann in der Folge mehr Interesse für Literatur aus diesen Ländern generieren. Die Wertschätzung, die internationale Titel in Presse und Preiskontexten erfahren, vermittelt und stärkt den Eindruck eines genuin internationalen, weltoffenen deutschen Kinder- und Jugendbuchmarkts. Allerdings sind Übersetzungen auf den Nominierungslisten sowie bei den Preisbüchern des Deutschen Jugendliteraturpreises (DJLP) häufig überproportional präsent: Im Schnitt machen sie bei den Nominierungsbüchern zwischen 40 % und 60 %, bei den Preisbüchern 50 % aus (vgl. Weinkauff 2006, 804). Trotz Ausnahmen – 2011 kamen alle Preisträger aus dem deutschsprachigen Raum – bewegt sich die Verteilung im Mittel in dem genannten Rahmen. Im DJLP-Kontext liegt der Anteil an Übersetzungen somit über jenem der durchschnittlichen Gesamtproduktion, die zu 70 % bis 75 % aus Originaltiteln besteht. Dass der deutschsprachige Buchmarkt dennoch als international und internationalisiert gilt, liegt an seiner konsequent betriebenen Öffnung nach 1945. Die Idee des Internationalismus Übersetzte Kinder- und Jugendliteratur erfüllt auf dem deutschsprachigen Buchmarkt unterschiedliche Funktionen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit ist die Internationalisierung des westdeutschen kinderund jugendliterarischen Buchmarkts Teil der amerikanischen Re-Education-Strategie, die auf Friedenserziehung und internationale Völkerverständigung setzt (vgl. O’Sullivan 2004, 13). Unter entgegengesetzten ideologischen Vorzeichen gilt dies auch für die DDR. Das Movens des Literaturtransfers ist in der Nachkriegszeit ein ideelles und ideologisches, doch es verfügt auch über eine starke gesellschaftliche, politische und ästhetische Dimension. In Kinder, Bücher und große Leute (Les Livres, les enfants et les hommes, franz. 1932; dt. 1952) formuliert
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der Komparatist Paul Hazard die Idee des Internationalismus. Im Rückgriff auf ein romantisches Kindheitskonzept entwickelt er die Vorstellung einer weltumspannenden, von Toleranz und Verständigung getragenen Kindergemeinschaft, in der Kinder- und Jugendbüchern eine zentrale Rolle zukommt. Hazard spricht der Kinder- und Jugendliteratur eine humanisierende wie utopische Funktion zu: Empathisches wie emphatisches Lesen fördere nicht nur Verständnis und Offenheit, sondern auch ein Gefühl von Identität und Solidarität (vgl. O’Sullivan 2000, 28–33). Die Idee des Internationalismus prägt besonders Jella Lepman. 1949 gründet sie, getragen von der Überzeugung, dass die Zukunft in den Händen von Kindern und Jugendlichen liege und Bücher dabei helfen können, Grenzen zu überwinden, in München die Internationale Jugendbibliothek (IJB, vgl. dazu auch Lepman 1964). Dem Motto ›Mit Kinderbüchern Brücken bauen‹ ist die IJB, deren Sammlung aktuell mehr als 640.000 Bände in knapp 240 Sprachen umfasst, bis heute verpflichtet: Neben Ausstellungen und literarischer Vermittlungsarbeit gibt die IJB jährlich die Empfehlungsliste The White Ravens heraus, in der 200 Kinder- und Jugendbücher aus aller Welt vorgestellt werden. Auch die Arbeit des International Board on Books for Young People (IBBY) fußt auf der Idee des Internationalismus. Ebenfalls von Lepman gegründet, besteht IBBY heute aus fast 80 nationalen Sektionen und fördert die Kinder- und Jugendliteratur und ihre weltweite Vermittlung durch zahlreiche Projekte. IBBY publiziert u. a. die IBBY Honour List und verleiht mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis, mit dem seit 1956 Autoren, seit 1966 auch Illustratoren für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet werden, den ältesten internationalen Preis für Kinder- und Jugendliteratur. Die Idee der internationalen Verständigung durch Kinder- und Jugendliteratur und der Begriff der »Weltliteratur der Jugend« (Bamberger 1978, 3) werden von Akademikern und Literaturvermittlern besonders in den ersten Nachkriegsjahrzehnten diskutiert (vgl. u. a. Schmoock 1969). Ab den 1970er Jahren rücken marginalisierte Regionen und Sprachen verstärkt in den Fokus. Es werden zunehmend Bücher aus Weltgegenden übersetzt, die bislang unterrepräsentiert oder gänzlich unsichtbar waren: Auf die sogenannten ›Literaturen des Südens‹ – wozu Lateinamerika, Afrika, die arabischsprachige Welt sowie Ostasien gezählt werden – macht seit 1980 die Agentur Litprom aufmerksam. Baobab Books (ehemals Kinderbuchfonds Baobab) gibt die Empfehlungsliste Kolibri. Kulturelle Vielfalt in
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Kinder- und Jugendbüchern heraus, in der Bücher und Medien aus und über geographisch und kulturell entfernte Länder und Regionen vorgestellt werden, und verlegt Kinder- und Jugendbücher aus z. B. Südafrika, Tansania und Südkorea. Ziel ist es, literarische Vielfalt zu zeigen und Herkunftsliteraturen zugänglich zu machen, die es auf dem hiesigen Buchmarkt nicht zuletzt wegen ökonomischer Zwänge schwer haben (vgl. auch Weinkauff 2006, 261–262). Obwohl es zunehmend schwieriger wird, ideelle Motive aufrechtzuhalten, ist die Idee des Internationalismus bis heute relevant und prägt u. a. die Ausrichtung internationaler Literaturfestivals wie des internationalen literaturfestivals berlin oder des White Ravens Festivals für internationale Kinder- und Jugendliteratur. Auf beide Festivals werden immer auch Autoren eingeladen, deren Bücher (bisher) nicht ins Deutsche übersetzt sind.
11.3 Historische Entwicklungen Erweiterung des Themen- und Formenspektrums Vor allem in den 1950er und 1960er Jahren, aber auch später, hat es immer wieder Titel gegeben, die die Zielkultur um neue Themen und Erzählformen erweitern und bereichern. Solche Literaturimporte schließen Lücken im Gattungsspektrum und inspirieren die originäre Kinder- und Jugendliteratur nachhaltig (vgl. Seifert/Weinkauff 2006, 834). Obwohl unmittelbare Einflüsse und Impulse nachweisbar sind, basieren nicht alle Motiv- oder Gattungstransfers auf einer temporalen oder kausalen Folge oder können eindeutig nachgezeichnet werden: Wege können verschlungen sein, Trends unabhängig an verschiedenen Orten auftauchen oder in einer eng vernetzten Welt mehr oder minder zeitgleich erscheinen. Die Frage, wer wann wo welchen literarästhetischen Impuls mit welcher Reichweite gesetzt hat, ist immer schwieriger zu beantworten. Für die Anfangsjahre der BRD ist die stimulierende Rolle übersetzter Literatur jedoch nicht zu unterschätzen. Nach dem nationalsozialistischen Regime und dem Zweiten Weltkrieg beleben importierte Titel den Buchmarkt, sie zeigen neue Erzählformen, vermitteln liberale Kindheitsbilder und demokratische Gesellschaftsmodelle. Viele Titel, die international oder in ihren Herkunftskontexten mit nationalen Preisen ausgezeichnet werden, befördern als Impulsgeber von außen die Ausdifferenzierung des deutschen kinderund jugendliterarischen Systems – eine Entwicklung, die insbesondere ab den 1970er Jahren zunehmend
durch Erneuerungen von innen flankiert und gestaltet wird: Auch deutsche Künstler wenden sich vermehrt bislang unerschlossenen Themenfeldern zu und verhandeln sie in neuer Form. Die Entwicklung des deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchmarkts ist dementsprechend vielschichtig, und oft wird die originäre deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur selbst international stilbildend, beispielsweise in der Illustration. In den Nachkriegsjahren orientiert man sich in der BRD zunächst und vor allem nach Westen und Norden: Ab 1949 kommen den USA und Schweden eine maßgebliche Rolle bei der Belebung und Modernisierung einer wertkonservativen und restaurativen deutschen Kinder- und Jugendliteratur zu (vgl. Steinlein 2008, 313). Die schwedische Kinderliteratur bereichert den deutschen Sprachraum um eine Vielzahl moderner Texte, die weniger auf Didaxe denn auf literarästhetische Qualität setzen: Astrid Lindgrens Wir Kinder aus Bullerbü (Alla vi barn i Bullerbyn, schwed. 1945; dt. 1954) und Pippi Langstrumpf (Pippi Långstrump, schwed. 1945; dt. 1949) vermitteln ein Bild autonomer Kindheit, und mit Mio, mein Mio (Mio, min Mio, schwed. 1953; dt. 1954), das von Einsamkeit, Krankheit und Tod handelt, erschließt Lindgren der Kinderliteratur und dem deutschsprachigen Publikum neue, vormals tabuisierte Themenfelder. Mit ihrem breit gefächerten Werk wird Lindgren zum Türöffner für weitere schwedische – und skandinavische – Autoren (vgl. Weinkauff 2006, 289) und trägt in Deutschland nicht nur zu einem kinderliterarischen, sondern auch gesellschaftlichen Wandel bei (vgl. Surmatz 2005, 189–211). Ein konsequentes Erzählen aus kindlicher Perspektive und die Wahrung der kindlichen Autonomie ist auch für zeitgenössische skandinavische Kinderliteratur kennzeichnend, doch auch dysfunktionale Familienbeziehungen und schwierige Kindheiten werden thematisiert – so bei der Schwedin Frida Nilsson oder den Norwegern Øyvind Torseter, Gro Dahle, Svein Nyhus und Stian Hole. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust wird durch Texte aus den Niederlanden angestoßen: Das Tagebuch der Anne Frank (Het Achterhuis, niederl. 1947; dt. 1950) ist früh bekannt. Eine breitere Beschäftigung setzt jedoch erst in den 1960er Jahren ein (vgl. Steinlein, 335–339). Clara Asscher-Pinkhofs Sternkinder (Sterrekindere), das episodisch erzählt ist und von Deportationen, Terror und Willkür handelt, wird in den Niederlanden bereits 1946 publiziert und erscheint in Deutschland 1961. Gegenwärtig zählen Joke van Leeuwen, Bart Moeyaert, Edward van de
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Vendel, Guus Kuijer oder Anna Woltz zu den Vertretern des herausragenden kinderliterarischen Erzählens aus den Niederlanden und Flandern. Sie setzen das Erbe der grandes dames der niederländischen Kinderliteratur wie Annie M. G. Schmidt oder Maria Hendrika Jozina ›Miep‹ Diekmann fort. Angesichts ihres innovativen Potentials wird den niederländischen und flämischen ebenso wie den skandina vischen Kinder- und Jugendliteraturen ein hoher Qualitätsstatus attestiert: Sie gelten als genuin fortschrittlich und modern (vgl. zu Schweden Weinkauff 2006, 285–308). Im jugendliterarischen Bereich kommen inhaltliche und formale Impulse ab den 1950er Jahren besonders aus den USA. Sie nehmen mit Blick auf die Jugend- und Populärkultur in der BRD eine Vorreiterfunktion ein, was sich auch an zahlreichen Übersetzungen von Serien und Comics ins Deutsche ablesen lässt. Zugleich sind die vielen Übersetzungen ein Effekt einer enormen Prosperität des US-amerikanischen Buchmarkts in den 1950er Jahren (vgl. Hunt 2001, 11). Obwohl nicht als intentionale Jugendliteratur gedacht, gilt J. D. Salingers psychologischer Coming-of-Age-Roman Der Fänger im Roggen (The Catcher in the Rye, engl. 1951; dt. 1962) dank seiner Rezeption in Deutschland als jugendliterarischer Schlüsseltext. Ebenfalls viel Aufmerksamkeit erfährt Susan E. Hintons Debüt Die Outsider (The Outsiders, engl. 1967; dt. 1969). Die für ein deutsches Lesepublikum schonungslose Darstellung gesellschaftlicher Konfliktfelder im Zeichen des ›New Realism‹, das unbekannte sozio-kulturelle Setting und die gelungene Übersetzung begründen den Erfolg des Romans (vgl. Gansel 2008, 363). Die sogenannte kinderliterarische Wende um 1970 wird neben deutschen und österreichischen Autoren auch durch dänische und schwedische Sachbücher beispielsweise zu Sexualität wie auch durch Kinderund Jugendromane gestaltet. Die Dänin Cecil Bødker etabliert mit ihren Silas-Büchern eine neue Form des historischen Kinderromans (dän. seit 1967; dt. seit 1970), indem sie einen ambivalenten und zugleich emanzipierten kindlichen Helden in den Fokus stellt und Themen wie Gewalt und Unterdrückung nicht ausspart. Ab den 1970er Jahren wird der Adoleszenzroman von deutschen Autoren (wieder)entdeckt und zählt heute zum originären Repertoire (vgl. ebd., 363–373). Gleichzeitig werden dem Coming-of-Age-Roman dank amerikanischer Autoren wie John Green oder Benjamin Alire Sáenz zusätzliche Facetten hinzuge-
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fügt, die das Genre erweitern. Mit dem Roman Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums (Aristotle and Dante discover the secrets of the universe, engl. 2012; dt. 2014) ist Sáenz ein Repräsentant für die zunehmende Sensibilität gegenüber Themen wie ethnische und sexuelle Diversität und Multikulturalismus. Der Roman The Hate U Give (engl.; dt. 2017) von Angie Thomas verhandelt in ungewohnt drastischer Form und gespickt mit zahlreichen popkulturellen Referenzen strukturellen Rassismus und Gewalt gegen People of Color. Im Kontext des postmodernen Erzählens, das in den 1980er und 1990er Jahren die Jugendliteratur Skandinaviens auszeichnet (vgl. Blume 2005, 13–17, 121–314) und das durch Übersetzungen nach Deutschland exportiert wird, steht Peter Pohls Jan, mein Freund (Janne, min vän, schwed. 1985; dt. 1989). Der Roman fügt dem deutschen kinder- und jugendliterarischen Spektrum das Thema der erinnerten Kindheit und mit der retrospektiven Erzwählweise eine neue Form hinzu, die wenig später auch in der originären deutschen Jugendliteratur genutzt wird (vgl. Weinkauff 2006, 299–300). Zuvor bekommt mit Tormond Haugens psychologischem Kinderroman Nachtvögel (Nattfuglene, norw. 1975; dt. 1978) ein Meilenstein der norwegischen Kinder- und Jugendliteratur im Jahr 1979 den DJLP. Weltweit bekannt wird norwegische Kinderund Jugendliteratur mit Jostein Gaarders Sofies Welt (Sofies verden, norw. 1991; dt. 1993). Der Roman wird von Jugendlichen und Erwachsenen gelesen, was auch die ab den 1990er Jahren spürbare Durchlässigkeit zwischen Jugend- und Erwachsenenliteratur illustriert (s. Kap. 2). Diese Durchlässigkeit gilt insbesondere für die Fantasy. Dieses Genre kommt in den letzten Jahren mit einem deutlich erweiterten Themenspektrum und oft versetzt mit dystopischen Elementen und inhärenter Gesellschaftskritik – wie z. B. bei Suzanne Collins – aus den USA. Spätestens seit der Biss-Reihe von Stephenie Meyer (Twilight, engl. 2005–2015; dt. 2006– 2015) nehmen amerikanische Fantasy-Titel – aufgrund ihrer hohen Verkaufszahlen – eine herausragende Stellung auf dem deutschsprachigen Buchmarkt ein. Für das phantastische Erzählen ähnlich wichtig sind, neben eigenen Traditionen, Impulse aus Großbritannien. Die Leserschaft von J. R. R. Tolkiens Herr-der-Ringe-Trilogie (The Lord of the Rings, engl. 1954/55; dt. 1969/70) wächst seit Jahrzehnten; weitere Höhepunkte sind die Titel von C. S. Lewis, Roald Dahl und Philip Pullman. Besonders J. K. Rowlings HarryPotter-Romane (engl. 1997–2007; dt. 1998–2007) ha-
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ben durchschlagenden Erfolg (vgl. Nickel-Bacon 2008, 401–403). Im Bilderbuch revolutionieren die Dänen Arne Ungermann und Egon Mathiesen die Bilderbuchkunst bereits in den 1940er Jahren mit ihrem neu definierten Text-Bild-Verhältnis und ihrem skizzenhaftgraphischen Stil (vgl. Weinreich 2001, 165). Ihre Bücher erscheinen zeitnah in der DDR, in der BRD jedoch erst den 1970er Jahren. In der BRD werden in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren insbesondere Bilderbücher aus Schweden und den USA – hier u. a. von Eric Carle, Leo Lionni und Maurice Sendak – wahrgenommen. Sie erneuern Gattungen wie Fabel oder Tiergeschichte, aktualisieren Techniken wie die Collage und gestalten autonome, kindliche Phantasieräume (s. Kap. 24). Postmoderne Bilderbücher, die u. a. auf Metafiktion und die Materialität des Mediums Buch setzen, gelten ab den 1990er Jahren als ästhetische Speerspitze. Gestaltet werden sie neben deutschen Illustratoren u. a. von dem Briten Anthony Browne – z. B. mit Der Tunnel (The Tunnel, engl. 1989; dt. 1989) oder Willi, der Maler (Willy’s Pictures, engl. 2000; dt. 2000), von Peter Sís, US-Amerikaner tschechischer Herkunft oder dem Australier Shaun Tan, der für Bücher wie Die Fundsache (The Lost Thing, engl. 1999; dt. 2009) oder Ein neues Land (The Arrival, engl. 2006; dt. 2008) vielfach ausgezeichnet wurde. Aus Frankreich und dem französischsprachigen Belgien kennt man in Deutschland u. a. Tomi Ungerer, Yvan Pommaux, Joëlle Jolivet, Kitty Crowther oder die Pop-Up-Künstler Anouck Boisrobert und Louis Rigaud. Die europäischen Länder der Frankophonie sind bekannt für herausfordernde, unkonventionelle Bilderbücher und für Comics und Graphic Novels. Gerade zeitgenössische Werke beschäftigen sich – häufig kritisch – mit historischen und politischen Themen. Comics und Graphic Novels haben in den letzten Jahren einen großen Aufschwung erlebt (s. Kap. 25), was auch an den Comic-Romanen des US-Amerikaners Jeff Kinney liegt. Seine überaus erfolgreiche Reihe Gregs Tagebuch (Diary of a Wimpy Kid, engl. seit 2007; dt. seit 2008) findet viele Nachahmer und hat in Deutschland (und in anderen Ländern) einen Boom der Gattung ausgelöst. Dies ist Ausdruck einer zunehmenden Bedeutsamkeit des Visuellen, die man seit der Jahrtausendwende beobachten kann und die sich auch in einer stetig wachsenden Bilderbuchproduktion von hoher ästhetischer Qualität zeigt. Die Qualitätssteigerung gilt auch für Sachliteratur: Seit den 2010er Jahren kann man auf dem deutsch-
sprachigen Buchmarkt eine Vorliebe für unkonventionelle Titel ausmachen, die sich neuen Themen zuwenden und durch eine innovative künstlerische Gestaltung auffallen. Dies trifft mit Blick auf importierte Titel u. a. für polnische Bilder- und Sachbilderbücher zu, die zum Teil ungewöhnliche Themen aufgreifen. Sie spielen mit unterschiedlichen Techniken, Stilen und Einflüssen aus Plakatkunst und Graphikdesign und stehen für Experiment, Humor, Tief- und Eigensinn. Auf diese Weise knüpfen Bücher wie Aleksandra Mizielińskas und Daniel Mizielińskis Treppe, Fenster, Klo – die ungewöhnlichsten Häuser der Welt (D. O.M.E.K, poln. 2008; dt. 2010), Anna Czerwińska-Rydels und Marta Ignerskas Die Tonangeber (Wszystko gra, poln. 2010; dt. 2013) oder Piotr Sochas Bienen (Pszczoły, poln. 2015; dt. 2016) auch an das hohe Ansehen an, die die polnische Bilderbuchkunst in den 1950er und 1960er Jahren in Deutschland genoss. Wissensvermittlung, Imagines Da Kinder- und Jugendliteratur im Spannungsfeld zwischen Ästhetik und Pädagogik verortet wird, attestiert man übersetzter Kinder- und Jugendliteratur nicht selten eine didaktisch grundierte Informationsund Wissensvermittlungsfunktion: Stammt ein Text aus einem differenten Herkunftskontext, nimmt man ihn – ungeachtet seiner Fiktionalität – oft als Bote wahr, der Wissen über fremde Literaturen und Kulturen vermittelt (vgl. Weinkauff 2006, 16). Dies gilt insbesondere in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik: Hier dienen Texte aus und über unbekannte Regionen als ein Fenster zur Welt. In den 1950er und 1960er Jahren bewertet man u. a. Fotobilderbücher mit ihrem vermeintlich dokumentarischen Charakter sowie übersetzte Abenteuerund Entdeckerromane als Texte mit hohem sachinformativem Gehalt. Viele dieser Texte stammen aus dem englisch- und französischsprachigen Raum, doch auch originär deutschsprachige Abenteuerromane werden als derartige Informationsträger gelesen – obwohl weder sie noch übersetzte Texte mimetisch »die Realität« abbilden. Stattdessen dienen Abenteuerromane vielfach als Projektionsfläche und modellieren »exotische Gegenentwürfe zur eigenen Kultur« (ebd., 27, vgl. auch ebd., 39–98, 169–184), wobei insbesondere Romane aus den 1950er, 1960er, aber auch noch aus den 1970er Jahren aus einer gegenwärtigen, postkolonialen Perspektive nicht selten stereotype Klischees, fragwürdige Darstellungen und Momente »kultureller Aneignung« aufweisen (s. Kap. 36).
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Trotz zunehmender postkolonialer Sensibilität spielen im Literaturtransfer Eigen- und Fremdbilder und die bewusste oder unbewusste Funktionalisierung von literarischen Texten als Projektionsraum fortgesetzt eine Rolle. Dieses Geflecht ist komplex und bisweilen von widersprüchlichen ›doublebinds‹ bestimmt, zugleich lassen sich Vorstellungen, Annahmen und Erwartungen selten hieb- und stichfest belegen. Dennoch prägen sie sowohl den Literaturimport als auch die Rezeption übersetzter Texte und haben Anteil daran, ob und welche Bücher eingekauft werden und wie sie wahrgenommen werden. Oft verraten Paratexte etwas darüber, welche Bilder von anderen Ländern, Kulturen und Literaturen kursieren. In Klappentexten oder Rezensionen werden Erwartungen des Lesepublikums antizipiert, vermeintliche Charakteristika formuliert und übersetzte Texte als typische Vertreter eines Herkunftskontextes bewertet: Stellt man beispielsweise kinderliterarische Texte aus Schweden in eine Linie mit Lindgrens Bullerbü-Idylle, ruft man literarische Traditionen und die mit ihnen verknüpften positiven Konnotationen – Freiheit, (vormoderne) Naturnähe, unbeschwerte Kindheit sowie die (annähernde) Abwesenheit sozialer und politischer Probleme – auf (vgl. zur »BullerbüIdylle« Franke 2007). Im Gegensatz zum schwedischen Sehnsuchtsort wird Lateinamerika aus deutscher Sicht häufig »auf etwas Krisengeschütteltes, Drittwelthaftes reduziert« (Weber 2006, 28); ein Bild, das die von dort importierten Kinder- und Jugendbücher bestätigen sollen: Eine deutlich andere kulturspezifische Markierung, die sich nicht mit den zielkulturellen Vorstellungen über bestimmte Herkunftsregionen deckt, kann als unpassend empfunden werden. Das kann dazu führen, dass Übersetzungen ausbleiben (vgl. Seifert/Weinkauff 2006, 798; Raabe 2013, 88–91). Sollen übersetzte Bücher also einerseits als Botschafter aus fremden Welten fungieren, wird diese Rolle konterkariert, wenn sie hierbei andererseits primär den Vorstellungen des Zielkontextes genügen sollen (vgl. Attikpoe 2006, 16). Insbesondere hinsichtlich Kinder- und Jugendliteratur aus Afrika kann man den Eindruck gewinnen, dass man lieber Bücher über und nicht aus Afrika lesen möchte (vgl. Schär 2006). Insgesamt findet man im deutschsprachigen Raum nur wenige Kinder- und Jugendbuchverlage – so Baobab aus der Schweiz oder den Peter Hammer Verlag –, die Bilder-, Kinder- und Jugendbücher afrikanischer oder afrikanischstämmiger Autoren im Programm haben. Ein kinderliterarischer Titel wie Tommy Mütze der Südafrikanerin Jenny
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Robson (Balaclava Boy, engl. 2009; dt. 2012) oder die im Tingatinga-Stil gehaltenen Bilderbücher des tansanischen Künstlers John Kilaka sind die Ausnahme. Kaum im jugendliterarischen Feld wahrgenommen werden Romane wie Der Preis der Freiheit (Nervous Conditions, engl. 1988; dt. 1991) der simbabwischen Autorin Tsitsi Dangarembga, Ma (N’BA. Ma mère, franz. 2016; dt. 2017) von Aya Cissoko, Französin mit malischen Wurzeln, oder der Roman Positiv (The Reactive, engl. 2016; dt. 2018) des Südafrikaners Masande Ntshanga. Alle Texte verhandeln klassische Comingof-Age-Themen, sind aber mehrheitlich in (kleineren) Belletristikverlagen, die sich auf Literatur vom afrikanischen Kontinent spezialisiert haben, erschienen und im jugendliterarischen Kontext selten präsent. Doch auch wenn man festhalten kann, dass Kinder- und Jugendliteraturen aus Lateinamerika oder Afrika es auf dem deutschsprachigen Buchmarkt schwer haben, lassen sich die Gründe selten eindeutig identifizieren. Zu suchen sind sie sowohl auf der Ebene des literarischen Handlungs- als auch des Symbolsystems: Als fremd empfundene Inhalte, Sujets, Settings und Erzählformen können ebenso wirksam werden wie eurozentristische Tendenzen und »imagologische Barriere[n]« (Attikpoe 2006, 17). Aber auch schlecht ausgebaute Kommunikations- und Vertriebsstrukturen sind hemmende Faktoren, während hingegen sprachliche Hürden dem Austausch nicht entgegenstehen sollten, da die Bücher zumeist auf Englisch oder Französisch geschrieben sind. Rezeptionsmuster Die internationale Ausrichtung des deutschen Buchmarkts konzentriert sich auf einige Herkunftsliteraturen und ist von einer Vorliebe für bestimmte Formen und Inhalte geprägt. Wenn Bücher erfolgreiche Impulse setzen, entwickelt ein zielliterarisches System oft klare Gattungs- und Themenpräferenzen, die sich zu Rezeptionsmustern verfestigen können. So werden bestimmte Herkunftsliteraturen mit einem hohen Status verknüpft, was sich in Erwartung stetiger Progression und Innovation äußert (vgl. Seifert/Weinkauff, 1008) und mit typischen Themen und Erzählweisen assoziiert wird: So gilt die britische Kinderliteratur als Vorreiter der Phantastik, sie steht allerdings dank eines Autors wie Kevin Brooks auch für einen ungeschönten und harten Realismus. Italien wird, obwohl nur wenige Texte auf Deutsch vorliegen, mit komplexen, phantastischen All-Age-Romanen, wie sie Italo Calvino oder Roberto Piumini verfasst haben,
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verknüpft (vgl. Raabe 2013, 83–84), während der schwedische Jugendroman besonders mit dem sozialrealistischen Erzählen, Frankreich mit visueller Literatur und die Literaturen Mittel- und Osteuropas mit Folkloristik und Märchen sowie inzwischen auch mit innovativer Sachliteratur verbunden werden (vgl. zu Schweden Galling 2015, 15; zu Osteuropa Seifert/ Weinkauff 2006, 809, 895). Dieses Wissen um literarische Traditionen, Kernthemen und narrative Strategien einzelner Herkunftsliteraturen basiert auf den ins Deutsche übersetzten Titeln, die als Repräsentanten für die literarästhetischen Entwicklungen der jeweiligen Herkunftsliteraturen gelten. Allerdings spiegeln die Übersetzungen selten das gesamte Spektrum des kinder- und jugendliterarischen Schaffens einzelner Länder und Regionen wider – und das trifft auch auf jene Herkunftsliteraturen zu, die umfassend auf dem deutschsprachigen Buchmarkt vertreten sind. Arrivierte Rezeptionsmuster sorgen für Vertiefung und Kontinuität im Literaturimport. Sie funktionieren wie ein Türöffner, doch wirken zugleich einengend und exkludierend gegenüber Formen und Themen, die nicht dem Gewohnten entsprechen (vgl. Seifert/ Weinkauff 2006, 800). Die Wünsche der Zielkultur an die importierten Titel sind ambivalent: Oft ist der Grat zwischen dem Wunsch nach einer deutlichen kulturspezifischen Markierung und dem nach einem hohen identifikatorischen Wiedererkennungswert schmal (vgl. ebd., 1002), und auch der Sehnsucht nach Innovation und Avantgarde steht nicht selten eine Angst vor Irritation und Überforderung gegenüber (vgl. ebd., 987). Nicht zuletzt, weil die Erneuerung und Ausdifferenzierung des deutschsprachigen Buchmarkts auch immer wieder durch originäre Titel geleistet wird, zeigt man sich zurückhaltend gegenüber Erzählformen und Sujets, die nicht oder kaum bekannt sind – wie dem japanischen Shishōseto, einer originellen Mischform aus Autobiographie und Ich-Erzählung (vgl. Raabe 2013, 89). Eher skeptisch ist man vielfach auch gegenüber Texten, die in einer als ungewohnt empfundenen Tradition des oralen Erzählens stehen (vgl. Schär 2006, 13–14), und Kurzgeschichten oder Lyrik finden aktuell ebenfalls wenig Resonanz: Wurden in den 1960er Jahren u. a. die Gedichte des Schweden Lennart Hellsing, des Polen Julian Tuwim oder des Dänen Halfdan Rasmussen übertragen, findet man gegenwärtig fast keine Buchpublikationen mit Kindergedichten aus anderen Sprachen. Romane mit historischen, zeitgeschichtlichen oder gesellschaftlichen Inhalten, die eng mit den jeweiligen
Herkunftskontexten verknüpft sind, haben es ebenfalls schwerer – wie z. B. Romane aus Mittel- und Osteuropa, die den Kommunismus thematisieren, oder frankophone Texte, die die Kolonialgeschichte Frankreichs oder Belgiens beleuchten. Allerdings wird ein Jugendroman wie Wie ein unsichtbares Band von der Argentinierin Inés Garland (Piedra, Papel o Tijera, span. 2009; dt. 2013), der zur Zeit der argentinischen Militärdiktatur spielt, vom deutschen Publikum gerade dafür geschätzt, dass er den Lesern ein wenig vertrautes und selten behandeltes Thema nahebringt. Die Übersetzung eines lateinamerikanischen Titels ist eine Seltenheit. Man findet zwar Titel der argentinischen Astrid-Lindgren-Memorial-Preisträgerin Isol – z. B. Ein Entlein kann so nützlich sein (Tener un patito es útil, span. 2007; dt. 2012) –, die Bücher von Roger Mello, der als erster brasilianischer Illustrator 2014 mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis ausgezeichnet wurde, sucht man hingegen vergebens. Insgesamt sind zwischen den 1990er Jahren und 2005 weniger als 100 Titel aus Lateinamerika in Deutschland erschienen (vgl. Weber 2006, 29). Das bildet die Entwicklungen und Facetten der lateinamerikanischen Kinder- und Jugendliteraturen kaum ab. Letztlich wird der Literaturtransfer heute weltweit von einem »one-way traffic from English« aus den USA dominiert (Hunt 2001, 21; vgl. auch O’Sullivan 2004, 22). Im deutschsprachigen Raum wie in anderen Ländern machen, neben ästhetisch anspruchsvoller Literatur, Genretitel und konventionelle Massenware den Löwenanteil der Übersetzungen aus. Obwohl immer wieder Entdeckungen abseits des Mainstreams gemacht werden, ist der kommerzielle Aspekt vielfach entscheidend (vgl. Seifert/Weinkauff 2006, 797).
11.4 Inter- und transmediale Aspekte Analog zum Literatur- und Buchimport gibt es Herkunftsländer und -sprachen, die hinsichtlich der trans- und intermedialen Rezeption und Weiterverwertung eine bedeutendere Rolle als andere spielen. In großen Teilen sind die Herkunftsländer und -sprachen mit jenen identisch, die auch für den Literaturimport bedeutsam sind, nicht zuletzt weil die Weiterverwertung auch auf bereits übersetzten Büchern basiert. Zugleich gibt es aber – insbesondere mit Blick auf Trick- und Animationsfilme – Herkunftsländer, die im textbasierten literarischen Bereich keine oder nur eine kleine Rolle spielen, so beispielsweise aus dem asiatischen Raum.
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Die Ausdifferenzierung und Ausweitung des kinder- und jugendliterarischen und -medialen Systems führt nicht nur zu einer Vielzahl audiovisueller Weiterverwertungen, sondern auch zu einer mindestens ebenso großen Zahl an Filmen, Serien, Hörspielen, Podcasts, Computerspielen und Apps, die nicht oder nur rudimentär auf literarischen Vorlagen beruhen. Trotzdem sind sie, obwohl zuvor nicht in Buchform erschienen, bedeutende Formen des kinder- und jugendliterarischen Erzählens und können unter einem erweiterten Textbegriff subsumiert werden. Bereits in den ersten Nachkriegsjahren gibt es transmedialen Austausch, Adaptionen und Medienverbünde (s. Kap. 3). Das Radio etabliert sich in der Nachkriegszeit schnell (wieder) als Kanal für Kinder und sendet zu Hörspielen umgearbeitete Kinderromane von u. a. Lindgren (vgl. Stenzel 2008, 438). Bis heute setzen Kinderradiosendungen wie Mikado fortgesetzt Romane als Hörspiele um und schrecken dabei auch nicht vor komplexen Romanwelten wie Philip Pullmans His Dark Materials (engl. 1995–2000; dt. 1996–2002) zurück (vgl. ebd., 440). Ab den 1970er Jahren erleben klassische Lesungen, Hörspiele sowie Mischformen auf Tonträgern einen Aufschwung – so mit Märchenschallplatten, aber ebenso mit zahlreichen Serien wie beispielsweise von Enid Blyton (vgl. ebd., 445). Auch wenn sich das Trägermedium ändert – von Langspielplatte über Kassette und CDs zu mp3Formaten, Tonies und Internetangeboten – und trotz Konkurrenz zu anderen Medien sind Audioadaptionen fortgesetzt populär: Hörbar sind Serien wie Die drei ??? (1979–2005, wieder seit 2008) und Bilder- und Kinderbucherfolge wie Sven Nordqvists Petterson und Findus (ab 1993) oder René Goscinnys und JeanJacques Sempés Der kleine Nick (ab 2005). Sie basieren zum Großteil auf den ins Deutsche übersetzten Büchern, nicht auf Übersetzungen und Bearbeitungen fremdsprachiger Audioformate, auch wenn es diese gibt (s. Kap. 31). Die drei genannten Serien gibt es auch als (Zeichentrick-)Fernsehserie bzw. Kinofilm. Hier findet man neben Eigenproduktionen oft transnationale Koproduktionen oder ausländische Importe: Der Kinofilm Der kleine Nick (Tirard 2009) ist eine französisch-belgische Produktion. Ab den 1960er Jahren bekommt das Radio zunehmend Konkurrenz durch das Fernsehen, dessen Angebot sich in den letzten drei Jahrzehnten vervielfacht hat (s. Kap. 28). Auch das Kino nimmt eine herausragende Stellung im Medienverbund ein – das gilt auch in der DDR. Insbesondere Märchenfilmproduktionen aus der damaligen Tschechoslowakei wie Drei
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Haselnüsse für Aschenbrödel (Vorlíček 1973) erreichen bis heute viele Zuschauer. Auch weitere qualitativ hochwertige Filme, Puppenspiele und Kinderserien aus der Tschechoslowakei, die zum Teil in Zusammenarbeit mit dem westdeutschen Fernsehen entstehen, tragen dazu bei, den Ruf des Landes als ›Kinderfilmnation‹ zu stärken (vgl. Weinkauff 2006, 808, 895– 896). Ähnliches gilt für Schweden dank der LindgrenVerfilmungen von Olle Hellbom. Die Filme und Fernsehserien tragen einerseits dazu bei, Eindrücke einer glücklichen, auch nostalgischen Kindheitsidylle zu vermitteln (vgl. Hoff 2010, 201–203, 207–212, 213– 215) und setzen andererseits – wie auch weitere realistische Kinder- und Jugendfilme aus Skandinavien –, selbstbestimmte Kindheiten in bewegte Bilder um. Mehrfach und in verschiedenen Medien adaptiert werden Tove Janssons Mumins (schwed. 1945–1970; dt. 1954–1972). Sie bevölkern Bilderbücher und Comicstrips, die Jansson zum Teil selbst gezeichnet hat, werden 1959 als Marionettentheater in der Augsburger Puppenkiste aufgeführt, sind Vorlage für zwei japanische Anime-Serien (jap. 1969–1972, nicht von Jansson autorisiert, und von 1990–1992) sowie für eine polnisch-österreichische Puppentrickserie (poln. 1978–1982). Alle Serien liefen und laufen auch im deutschen Fernsehen und die Animes dienten als Inspiration für mehrere Video- und Computerspiele. Darüber hinaus gibt es unzählige Mumin-Produkte wie u. a. Bettwäsche, Handtücher, Geschirr, Magnete oder Stifte, die nicht zuletzt in Mumin-Themenparks angeboten werden. Auch andere Animes im Serien- oder Langfilmformat wie die, die auf der Manga-Reihe Sailor Moon (Bishōjo Senshi Sērā Mūn, jap. 1992–1997; dt. 1995– 1997) basieren, sind in Deutschland populär. Sie treiben auch die Übersetzungen in Buchform in die Höhe, schaffen eigene Communities und Fanuniversen und tragen zu einem genuinen Interesse für japanische Popkultur bei (s. Kap. 25). Daneben wurden Kino und Fernsehen maßgeblich durch Filme und Serien aus den USA geprägt. Sie setzen nicht selten ästhetische Standards, sind allerdings ebenso oft reine Unterhaltung. Doch immer vermitteln sie neben der eigentlichen Handlung auch einen genuinen lifestyle. Viele Filme und Serien, die nicht zwingend als intentionale Kinder- oder Jugendfilme produziert sind und die nicht alle auf literarische Vorlagen zurückgehen, prägen das Lebensgefühl ganzer Generationen. Neben Trick- und Animationsproduktionen von Disney/Buena Vista oder Pixar gibt es im weitesten Sinne realistisch erzählte Filme wie auch
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II Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur
umfangreiche Fantasy-Sagas. Weltweiten Erfolg haben Der Herr der Ringe (Jackson 2001–2003), Harry Potter (2001–2011), die Twilight-Saga (2008–2012) und Die Tribute von Panem (2012–2015). Sachbücher, die weniger für eine audiovisuelle Umsetzung prädestiniert sind, zeichnen sich seit den 2010er Jahren durch eine zunehmende technische Aufrüstung aus oder nutzen ›Augmented Reality‹. Denn auch wenn die transmediale Umsetzung und Weiterverwertung von Geschichten nicht neu ist, haben sich die multimodalen Möglichkeiten durch die Omnipräsenz von Film und Fernsehen und die ›digitale Revolution‹ potenziert. Computer- und Videospiele (s. Kap. 29; vgl. dazu auch Seiler 2016, 35) sind ebenso fester Bestandteil des Angebots wie Apps, die gerade Sachbilderbücher oder Geschichten für jüngere Kinder wie Die Raupe Nimmersatt (App-Veröffentlichung 2014) oder Die große Wörterfabrik (App-Veröffentlichung 2014) umsetzen, um zwei Titel zu nennen, die auf Übersetzungen basieren. Die Entwicklung von Apps und anderen, digitalen Erzähl- und Medienformaten ist auch in anderen Ländern und Sprachräumen in unterschiedlicher Ausprägung spürbar: So steht man in Skandinavien experimentellen Formen und digitalen Inhalten durchaus offen gegenüber, während man andernorts zurückhaltender ist – was jedoch nicht selten auch finanzielle Gründe hat. Nichtsdestotrotz sind viele Bücher, zumal Bestseller und Klassiker, gegenwärtig Teil einer umfassenden Wertschöpfungskette, die nicht nur CDs, DVDs, Computerspiele und Apps, sondern auch eine breite Merchandisingpalette umfasst, deren Produkte dank Internet letztlich auf der ganzen Welt verfügbar sind. Die Internationalisierung des deutschen Buchmarkts ist damit nicht (mehr) allein auf gedruckte Bücher beschränkt. Zugleich ist der deutsche Buchmarkt Teil eines globalen Literatur- und Medientransfers, der vielfach den Gesetzen des Marktes gehorcht: »An die Stelle einer idealistischen Weltliteratur als Dichtung für Kinder ist ein faktisch internationaler Weltmarkt für Kinderliteratur und -medien getreten [und] aus dem utopischen Konzept einer Weltrepublik der Kinder ist der weltweite Kindermarkt [mit Filmen, TV-Serien, Computerspielen, Musik und Merchandising] geworden« (O’Sullivan 2001, 430; vgl. auch O’Sullivan 2004, 22). Diese Entwicklungen erschweren Individualität, Pluralismus, Diversität und ästhetische Wagnisse. Zugleich zeigt der Blick auf den deutschen Buchmarkt, dass diese – allen ökonomischen Zwängen zum Trotz – stattfinden: Immer noch gibt es Neugier auf unbekannte
Kinder- und Jugendliteraturen, die Lust am Experiment und den Mut zum Risiko. Literatur
Bamberger, Richard: Die Bedeutung der Übersetzung in der Entwicklung der nationalen Jugendliteratur zur Weltlite ratur der Jugend. In: Lucia Binder (Hg.): Weltliteratur der Jugend. Trends, Autoren, Übersetzungen. Wien 1978, 3–20. Blume, Svenja: Texte ohne Grenzen für Leser jeden Alters. Zur Neustrukturierung des Jugendliteraturbegriffs in der literarischen Postmoderne. Freiburg i. Br. 2005. Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. (Hg.): Buch und Buchhandel in Zahlen 1952. Frankfurt a. M. 1952. Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. (Hg.): Buch und Buchhandel in Zahlen 1979. Frankfurt a. M. 1979. Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. (Hg.): Buch und Buchhandel in Zahlen 2008. Frankfurt a. M. 2008. Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. (Hg.): Buch und Buchhandel in Zahlen 2014. Frankfurt a. M. 2014. Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. (Hg.): Buch und Buchhandel in Zahlen 2017. Frankfurt a. M. 2017. Breitinger, Eckhart: Übersetzungen in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Klaus Doderer (Hg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 3. Weinheim 1979, 603–607. Bussewitz, Wolfgang: Sowjetische Literatur. In: Christian Emmrich/Wolfgang Bussewitz/Ingmar Dreher/Egon Schmidt: Literatur für Kinder- und Jugendliche in der DDR. Berlin 1981, 125–145. Franke, Berthold: Tyskarna har hittat sin Bullerbü. In: Svenska Dagbladet 9.12.2007. Galling, Ines: Das Skandinavienhoch über Österreich. In: 1000 und 1 Buch. Sonderheft Ausgezeichnet! (2015), 14–17. Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman. In: Reiner Wild (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart/Weimar 32008, 359–379. Hoff, Karin: Inszenierungen der Idylle. Kindheitsentwürfe in Astrid Lindgrens Kinderbüchern und deren Verfilmungen. In: Christine Götz/Karin Hoff/Anja Tippner (Hg.): Filme der Kindheit – Kindheit im Film. Frankfurt a. M. 2010, 201–215. Hunt, Peter: Children’s Literature. Oxford 2001. Lepman, Jella: Die Kinderbuchbrücke. Frankfurt a. M. 1964. Nickel-Bacon, Irmgard: Fantastische Literatur. In: Reiner Wild (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart/Weimar 32008, 393–405. O’Sullivan, Emer: Internationalism, the Universal Child and the World of Children’s Literature. In: Peter Hunt (Hg.): International Companion Encyclopedia of Children’s Literature. Second Edition. Bd. I. London/New York 22004, 13–25. O’Sullivan, Emer: Kinderliterarische Komparatistik. Heidelberg 2000. Raabe, Christiane: Wie machen es die anderen? In: Das Bücherschloss 2012. München 2013, 80–93. Rieken-Gerwing, Ingeborg: Gibt es eine Spezifik kinderliterarischen Übersetzens? Untersuchungen zu Anspruch und Realität bei der literarischen Übersetzung von Kinder- und Jugendbüchern. Frankfurt a. M. 1995.
11 Internationale Kinder- und Jugendliteratur Schär, Helene: Kinderbücher aus Afrika, Asien und Lateinamerika. In: Annette Kliewer/Eva Massingue (Hg.): Guck mal übern Tellerrand. Kinder- und Jugendliteratur aus den Südlichen Kontinenten im Deutschunterricht. Baltmannsweiler 2006, 4–15. Schmoock, Peter (Red.): Das Kinderbuch aus der Perspektive internationaler Verständigung. Köln 1969. Seifert, Martina/Weinkauff, Gina: Ent-Fernungen. Bd. 2. Kulturtransfer. Studien zur Repräsentanz einzelner Herkunftsliteraturen. Literaturverzeichnis, Personenregister, CD-ROM. München 2006. Seiler, Andreas: Zwischen Spiel und Erzählung. In: JuLit 1/16 (2016), 35–38. Steinlein, Rüdiger: Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende. In: Reiner Wild (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart/Weimar 32008, 312–342. Stenzel, Gudrun: Radio für Kinder und Jugendliche. In: Reiner Wild (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart/Weimar 32008, 437–449. Surmatz, Astrid: Pippi als Paradigma. Die deutsche Rezep-
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tion Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext. Tübingen/Basel 2005. Weber, Jochen: Neue Welten: Lateinamerikanische Kinderund Jugendbücher in deutscher Übersetzung. In: Annette Kliewer/Eva Massingue (Hg.): Guck mal übern Tellerrand. Kinder- und Jugendliteratur aus den Südlichen Kontinenten im Deutschunterricht. Baltmannsweiler 2006, 27–37. Weinkauff, Gina: Ent-Fernungen. Bd. 1. Fremdwahrnehmung. Zur Thematisierung kultureller Alterität in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur seit 1945. München 2006. Weinreich, Torben: Børnelitteratur – en grundbog. København 2001. Wiebe, Katja: Überblicksstudie über die aktuelle Kinderund Jugendliteratur in Polen, Russland, Slowenien, Tschechien, der Ukraine, Ungarn. München 2011.
Ines Galling (Mitarbeit: Team der Internationalen Jugendbibliothek)
III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
12 Transmediales Erzählen 12.1 Einleitung Modernes Erzählen im 21. Jahrhundert begreift die Rezipienten oft als aktive Teilnehmer in sogenannten transmedialen Universen (vgl. Thon 2015, 23). Innerhalb dieser Story-Universen werden Geschichten über verschiedene Medien hinweg erzählt. Meist sind diese Geschichten eingebettet in Franchise-Strategien und ermöglichen so eine aktive Teilhabe mit einer Suche nach neuen bzw. ergänzenden Inhalten, statt einer passiven Rezeption von Einzelelementen. In den vergangenen Jahren sind transmediale Erzählverfahren ein Kern der Film- und Fernsehindustrie geworden (vgl. Grainge/Johnson 2015), auch wenn nicht jeder Nutzer diese neuen Angebote annimmt (vgl. Evans 2011, 175). Transmediales Erzählen verbindet eine Reihe von Anreizmechanismen, die die Beschäftigung mit der Geschichte für die Nutzer besonders unterhaltsam machen soll (vgl. Jenkins 2011). Die Komplexität ist jedoch ungleich höher, ebenso die Anforderungen an das narrative Verständnis und die Medienkompetenz des Nutzers, die von Carlos Alberto Scolari (2018, 3) mit dem Begriff der transmedialen Kompetenz beschrieben wird. Diese umfasst die erforderliche Fähigkeit, kritisch-reflexiv mit Medien umzugehen und somit aktiver Rezipient bzw. Prosumer zu sein. Diese Kompetenzen stellen z. B. in W. James Potters Ansatz von Medienkompetenz (2013) die gehobenen Fähigkeiten dar, die zusätzlich generalisierende und synthetisierende Fähigkeiten des Umgangs mit Medien beinhalten – Fähigkeiten, die wiederum Scolari zufolge nur schwer formal vermittelt werden können. Vielmehr sind sie Ergebnisse informeller Aneignung durch aktive und selbstbestimmte Nutzung von transmedialen Inhalten und der daraus resultierenden Erfahrungen (vgl. Scolari 2018, 4). Kinder sind noch nicht in der Lage, dieselbe narrative Komplexität zu verarbeiten wie Erwachsene. Dennoch entstehen insbesondere für Kinder und Jugendliche immer mehr transmedial ausgerichtete Medienangebote, die in der Vergangenheit eher in sich geschlossene Narrationen beinhalteten. Transmediales Erzählen für Kinder und Jugendliche hat daher abhängig vom Alter bzw. der Entwicklungsstufe der jun-
gen Nutzer einige Einschränkungen, die im Rahmen dieses Beitrags beispielhaft diskutiert werden. Der Beitrag stellt zunächst die zentralen Begriffe sowie Typologien zum transmedialen Erzählen vor und diskutiert anschließend Medienkonvergenzprozesse im Hinblick auf narrative und kommerzielle Strategien von Transmedialität. Weiterhin wird das transmediale Erzählen für Kinder und Jugendliche exemplarisch anhand populärer Kindermedienprodukte wie Cars und Die Eiskönigin diskutiert. Anschließend wird der Frage nachgegangen, welche Einflussfaktoren das Verstehen transmedialer Erzählungen bei Kindern und Jugendlichen bestimmen, bevor das Kapitel mit einer zusammenfassenden Darstellung und weiterführenden Implikationen endet.
12.2 Begriffsdefinitionen Transmedia Storytelling ist eine narrative Erzählstrategie, die sich crossmedial über mehrere Plattformen erstreckt (vgl. Jenkins 2003; Jenkins 2007). Dabei enthalten transmediale Erzählungen grundlegend immer eine narrative Storywelt bzw. ein narratives StoryUniversum, eine Anzahl an Geschichten, die dieses erweitern sowie einen als Prosumer verstandenen Rezipienten, der mit den Inhalten interagiert (vgl. Lastra 2016, 90). Die Storywelt oder das Story-Universum stellt, Tobias Kurwinkel zufolge, den originären Text des zweiten Typs von Medienverbundsystemen dar – im Gegensatz zu Medienverbünden des ersten Typs, bei denen der originäre Text als medial realisierte Erzählung mit anderen Medientexten in intra- bzw. intermedialen Beziehungen steht (s. Kap. 3). Das grundlegende Story-Universum In der Definition der Producers Guild of America ist ein Story-Universum dann transmedial, wenn es mindestens drei Geschichten enthält, die keine reine intermediale Adaption in ein anderes Medium darstellen (vgl. Producers Guild of America 2019). Das fiktionale Universum muss entsprechend groß sein, um eine Vielzahl von Geschichten beherbergen zu können. In der Idealvorstellung von Henry Jenkins (2007)
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_12
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
wird beim transmedialen Erzählen eine Geschichte sowohl mithilfe unterschiedlicher Darstellungsformen (z. B. verbal, ikonisch, schrifttextuell) als auch verschiedener Medien erzählt (z. B. Film, Videospiele, Bücher, Webseiten u. Ä.). Für den Nutzer bereichert jedes Einzelelement Stück für Stück das Erleben einer übergeordneten Storywelt. Erweiterungen des Story-Universums Beim transmedialen Erzählen steht stets die Erweiterung der Erzählung im Vordergrund, die als Worldbuilding verstanden wird (vgl. Jenkins 2011). Diese Einzelelemente werden als Transmedia Extensions bzw. Erweiterung (vgl. ebd.) oder Sub- bzw. Paratexte (vgl. Gray 2010, 23) bezeichnet. Im Sinne einer »additive comprehension« (Jenkins 2011) füllt jede Erweiterung eine kleine Lücke der Storywelt. Prinzipiell sind die einzelmedialen Geschichten jedoch autonom und damit in sich abgeschlossen. Eine einzelne Geschichte ist also nur ein Teil der Storywelt, die durch mehrere einzelmediale Beiträge erweitert wird (vgl. Ryan 2015, 4). Dieses Merkmal ist so zentral für das Erzählkonzept, dass Marie-Laure Ryan (vgl. ebd.) sogar vorschlägt, von Transmedia Worldbuilding zu sprechen, anstatt von Transmedia Storytelling. Sie vergleicht Transmedia Storytelling eher mit stetigen Besuchen einer liebgewonnenen Welt, anstatt dem Zusammensetzen eines Puzzles, bei dem man das Ganze erst sieht, wenn alle Teile an der richtigen Stelle liegen. Erweiterungen sind nur dann wirklich transmedial, wenn die Geschichte damit narrativ ausgebaut wird (vgl. ebd., 5). Zählen beispielsweise einfache Merchandising-Artikel wie Bettwäsche von Lightning McQueen, dem Protagonisten von Disneys Cars (Lasseter/Ranft 2006) aufgrund fehlender Narration nicht zu den Transmedia-Erweiterungen, bringen Sammelkarten oder Kurzgeschichten zu den Autos (den Protagonisten der Cars-Filme [2006–2017]) neue Informationen in die Storywelt ein und machen sie damit zu transmedialen. Dieser Trend lässt sich zunehmend bei Kinderspielzeug beobachten. Merchandising-Produkte dienen in Medienverbünden somit sowohl zur ästhetischen und narrativen Gestaltung der Rezeption (s. Kap. 3). Der Rezipient als Prosumer Ein weiteres zentrales Element transmedialer Erzählungen ist die Interaktivität, denn die narrativen Elemente wie Figuren, Ereignisse, Setting, Zeit und Ort können erst über eine interaktive Beteiligung zu einer
Storyworld über Mediengrenzen hinaus verschmelzen (vgl. Ryan/Thon 2014, 4). Interaktiv meint in diesem Zusammenhang, dass diese Elemente Teil unterschiedlicher Geschichten sein können, die in einem narrativen Gesamtrahmen eines transmedialen Universums zusammengefasst sind. Diese Elemente können auch von Rezipienten mitgestaltet werden, z. B. durch die Auswahl der konkreten Medienangebote, die Reihenfolge der Rezeption und durch eigene Inhalte, die zusammengefasst Teil einer subjektiv erlebten Geschichte innerhalb der Storywelt werden, und die sich bei unterschiedlichen Nutzern stark unterscheiden kann. Durch die Überschreitung der Mediengrenzen sind Transmedia-Nutzer also gleichzeitig Zuschauer, Leser, Nutzer und Spieler innerhalb der Gesamtgeschichte. Stephen Dinehart (2008) bezeichnet sie daher als VUPs (viewer/user/players). Ähnlich versteht der Begriff Prosumer den Rezipienten sowohl als Konsumenten als auch als Produzenten, da er eigene Transmedia-Beiträge schaffen kann, die von anderen rezipiert werden können. Ursprünglich von Alvin Toffler (1980) als Begriff der Gesellschaftsentwicklung im Zeitalter der Massenproduktion verstanden, hielt der Begriff ›Prosumer‹ durch Jenkins (2008) Einzug in die Debatte zur Partizipationskultur im Umgang mit Medien. Eine spezifisch kindliche Rezeptionsart sich das jeweilige Story-Universum »qualitativ und quantitativ individuell anzueignen« (Kurwinkel 2017, 20) ist in diesem Sinne das Sammeln von Produkten mit Bezügen zur Storyworld, das sowohl Einzelmedien wie Bücher und Comics, aber auch Merchandise-Produkte wie Spielzeug umfasst. Merkmale transmedialer Erzählungen Transmediales Erzählen nutzt bestimmte Anreizstrukturen, die die Geschichte für Nutzer besonders intensiv erlebbar und unterhaltsam machen sollen. Scolari (vgl. 2009, 598) identifiziert vier narrative Komponenten, die eine transmediale Erzählung ausmachen: 1. Zwischengelagerte Mikrogeschichten, die Lücken zwischen anderen Inhalten schließen, z. B. WebSpecials und Comics, die innerhalb einer Woche zwischen zwei Fernsehepisoden einer Serie spielen 2. Parallellaufende Geschichten, die zeitgleich ablaufen und sich ggfs. kreuzen können und neue Perspektiven auf dieselbe Grundhandlung geben 3. Periphere Geschichten, die zu Spin-Offs und eigenen Transmedia-Erweiterungen werden können 4. Plattformen für Nutzer, um sich auszutauschen und die fiktionale Welt mit eigenen Inhalten (z. B.
12 Transmediales Erzählen
Fan Art, Fan Fiction) und subjektiven Perspektiven auf die Geschichten zu bereichern. Diskurse zum Begriffskonzept Ryan (2016) diskutiert den Ursprung und die Verwendung unterschiedlicher Konzeptionen transmedialen Erzählens anhand von drei Diskursen: Im Diskurs der Industrie werden transmediale Story-Universen eher als Container für einzelmediale Geschichten verstanden. Die übergeordnete Narration des Story-Universums ändert sich kaum, sondern dient als Bindeglied zwischen den Erweiterungen in den verschiedenen Medien. Geschichten stellen aus Sicht der Industrie geistiges Eigentum dar, das von den Franchise-Eigentümern kontrolliert wird – eine Appropriation durch von Nutzern erstellte Inhalte wird in vielen Fällen geduldet, kann jedoch auch stark eingeschränkt werden (s. am Beispiel des Star Wars-Franchises: Jenkins 2008, 131–168). Der Diskurs ist geprägt durch Hyperbolen, die eine radikale Neuartigkeit des Konzepts betonen sowie durch eine hörerorientierte Haltung, die darauf ausgelegt ist, Erlebnisse zu schaffen, von denen Zuschauer stetig mehr wünschen (vgl. Ryan, 2016, 5). Der Diskurs der Fans betont sowohl die kreative (Weiter-)Verarbeitung der Inhalte eines Story-Universums, die sich in Fan Fiction, Amateurfilme und Cosplay manifestiert, sowie die kritische Form von Online-Diskussionen in Social Media, die Gemeinschaften zum Thema des Story-Universums zusammenbringt (vgl. ebd., 6). Diese Rezipienten-Beteiligung kann einerseits Bottom-Up von Fans entstehen, anderseits auch von Industrie-Produzenten befördert werden (z. B. durch Wettbewerbe). Der Diskurs der Narratologie begreift das Konzept am ehesten als Kombination von Adaption und Transfiktionalität mit starken Wurzeln in bisherigen narratologischen Theorien (vgl. ebd., 7). Dieser wissenschaftliche Diskurs betrachtet die Zusammenhänge und Konsistenzen zwischen Storywelten, die Art und Weise wie einzelmediale Texte die Vorteile des jeweiligen Mediums einsetzen sowie die Art und Weise der Aufnahme und Interaktion mit den Texten durch die Rezipienten.
12.3 Historische Entwicklungen Versteht man transmediales Erzählen mit seinen Charakteristika als neue Erzählstrategie, lässt es sich von deutlichen älteren Phänomenen abgrenzen. Dazu ge-
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hören etwa das Verbreiten griechischer Mythen durch Skulpturen, Architektur oder unterschiedliche literarische Formen (vgl. Ryan 2015, 2; Johnson 2013, 2) oder biblische Geschichten im Mittelalter; diese Strategien können als Medienverbundsysteme des ersten Typs beschrieben werden (zur Historie von Medienverbünden, s. Kap. 3). Erst mit technischen Innovationen im letzten Jahrhundert, der infolge nachhaltig veränderten Medienlandschaft und der Ausbildung von Massenmedien lässt sich eine historische Ausgangslage für transmediales Erzählen und transmediale Franchises erkennen (vgl. Freeman 2014, 2377). Während die weltwirtschaftlichen und medientechnischen Entwicklungen um 1900 neue Möglichkeiten der Medienteilhabe boten, entwickelte der Autor L. Frank Baum mit dem Roman Der Zauberer von Oz (The Wonderful Wizard of Oz, engl. 1900; dt. 1940) eine erste transmediale Storywelt. Er verwendete dabei innovative, werbefinanzierte transmediale Praktiken und entwickelte nach dem Hauptroman in den Folgejahren weitere Fortsetzungen, eine Theateraufführung, Comics, Mock-Newspapers und nutzte bei allem gezielt die Werbung. Die Zauberer von Oz-Geschichten wurden vor dem Hintergrund der aufkommenden kommerziellen Systeme der modernen Werbung entwickelt. So kann Baums Erzählung mit allen Erweiterungen und der Verbindung zur Werbeindustrie als erstes Beispiel einer transmedialen Storywelt verstanden werden (vgl. Freeman 2014, 2365). Diese erweiterte Form der Erzählweise und die Verbindung von Narration mit Werbung folgten auch in ComicPublikationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die erstmals narrative Inhalte als crossmediale Promotion-Strategie zur Steuerung des Publikums verwenden und transmediales Storytelling installieren (vgl. ebd., 2369). Shawna Kidman (2012, 42) argumentiert, dass Comics in diesem Sinne sogar seit ihren Anfängen als inhärent transmedial angelegt zu verstehen seien. Matthew Freeman (2015, 2–35) zeigt eindrucksvoll anhand des Beispiels der DC Comics-Figur Superman (seit 1938), wie sehr sich narrative Techniken bereits in den 1930er bis 1960er Jahren denen des modernen transmedialen Erzählens annäherten. Er argumentiert, dass die in den 1990er Jahren begonnene Medienkonvergenz (s. Jenkins 2008) nicht den Anfang transmedialen Erzählens markiert, sondern dem bereits eine Konvergenz in der Industrie vorgelagert war, die in den 1950er Jahren begann. Medienkonzerne nutzen bereits vor dem Internetzeitalter technische und inhaltliche Synergien gezielt für Comics, Radio oder TV-Produktionen. Vor allem das sich ent-
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
wickelnde Lizenzrecht mit Urhebern und Rechteverwertern, z. B. für Merchandise oder Branding, ermöglichte erst heute inzwischen gängige transmediale Praktiken (vgl. Freeman, 2017, 4).
12.4 Typologien Zur Umsetzung von transmedialen Geschichten lassen sich unterschiedliche Grundmodelle identifizieren. Eine Typologie (z. B. Jenkins 2008) unterscheidet nach der Gewichtung der einzelnen Texte und identifiziert ein ausgeglichenes und ein unausgeglichenes Transmedia-Modell. Eine weitere Typologie (z. B. Ryan 2015; 2017) unterscheidet zwischen der Entstehung von Transmedia-Inhalten, die entweder zentral mit verschiedenen, verbundenen Texten geplant sein können (›top down‹-Modell) und ursprünglich monomedial geplanten Texten, die transmedial ergänzt werden (›bottom up‹-Modell). Letztlich finden sich noch die Begriffe ›East Coast‹ und ›West Coast Transmedia‹. Ersteres verwendet nutzergenerierte Inhalte auf digitalen Plattformen wie Social Media, während zweiteres – auch ›Hollywood Transmedia‹ genannt – als Synonym für kommerzielle Transmedia-Franchises steht (vgl. Phillips 2012, 12–14) Das ausgeglichene Modell (balanced model) bzw. Portmanteau-Modell (s. Jenkins 2008; Dena 2011) geht davon aus, dass sämtliche Teile einer Geschichte gleichrangig sind. Es gibt dabei keinen zentralen Text, alle Teile tragen gleichermaßen zur Gesamterfahrung der Narration bei. Diese idealisierte Form erfordert von Medienproduzenten intensive Planung und Vorbereitung aller beteiligten Erweiterungen vor der Veröffentlichung. Rezipienten benötigen zum Gesamtverständnis der Erzählwelt eine gute Kenntnis der einzelnen Teile. Auch wenn es mit einer Filmtrilogie quasi zentrale Texte besitzt, ist das Franchise um The Matrix (seit 1999) ein Beispiel, das diesem Transmedia-Modell sehr nahekommt. Jenkins (vgl. 2008, 93–131) und Ryan (vgl. 2015, 6–8) diskutieren das Franchise mit seinen zahlreichen eng verknüpften Transmedia-Erweiterungen intensiv als Paradebeispiel für zentral (›top down‹) geplantes, ausgeglichenes Transmedia Storytelling. Neben den bislang drei Kinofilmen wurden Teile der Geschichte in Computerspielen (Enter the Matrix, 2003), Animationsfilmen (z. B. Final Flight of the Osiris, 2003) und Comics (The Matrix Comics, 2004) erzählt. Für viele Rezipienten war die in den Filmen gezeigte Geschichte jedoch voller Widersprüche, da sie die zum narrativen Ver-
ständnis notwendigen Erweiterungen nicht kannten. Als Transmedia-Franchise war The Matrix seinerzeit zwar sehr innovativ, aber nur ein Bruchteil des Publikums nutzte die gegebenen Möglichkeiten aus. Das unausgeglichene Modell (unbalanced model) bzw. Transmedia-Franchise-Modell (s. Jenkins 2011; Ryan 2015) setzt auf einen zentralen Text (»Mothership«, Scott 2013, 46), der als Ausgangspunkt für die Geschichte dient. Alle anderen Erweiterungen sind darauf ausgerichtet und gehen implizit von einer Kenntnis des Haupttextes aus. Dieses Modell findet sehr viel häufiger Anwendung und ermöglicht zudem, bestehende Franchises und Storywelten in transmediale Geschichten umzuwandeln. Es handelt sich hier also um Beispiele des ›bottom up‹ Modells. Damit bieten derartige aufbereitete Transmedia-Inhalte dem Publikum einen klareren Einstieg in die Geschichte an. Nutzer, die kein Interesse an transmedialem Erzählen haben, können sich auf den Haupttext konzentrieren und später bei Interesse Stück für Stück zusätzliche Erweiterungen rezipieren, um in die Welt einzutauchen. Die grundlegende Geschichte lässt sich mit der Rezeption des zentralen Textes ausreichend erschließen, die Erweiterungen bieten zusätzliche Anreize, die Storyworld durch die Summe dieser Einzelteile auszubauen (vgl. Jenkins 2004). Medienkonvergenzprozesse zwischen narrativen und kommerziellen Strategien Ausgangspunkt für transmediales Erzählen ist die zunehmende Konvergenz der Mediensysteme (vgl. Jenkins 2008). Produkte, die auf Medienkonvergenz aufbauen, sind dabei weniger linear und unidirektional, sodass auch das Erzählen diesen Prinzipien folgt. Ryan und Jan-Noël Thon (2014) stellen die Narration in das Zentrum der Medienkonvergenz, die sich in populären Erzählungen wie Der Herr der Ringe, Star Wars, Batman usw. widerspiegelt. Erzählungen innerhalb dieser Storywelten finden sich in verschiedenen Medien und auf dem ganzen Spektrum zwischen Intermedialität und Transmedialität im Sinne von Irina O. Rajewsky (vgl. 2005, 44). Inwieweit transmediales Erzählen zwischen eigenständiger Erzählform und angewandter Marktstrategie der Medienproduzenten verstanden werden kann, diskutiert Ryan ausführlich (s. Ryan 2015 und 2016). Häufig werden existierende, erfolgreiche Medienverbünde von Produzenten zu transmedialen Franchises ausgebaut. Unterhaltungs-Franchises finanzstarker Medienunternehmen bieten vielfältige kom-
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merzielle Möglichkeiten und bilden eine wertvolle Produktmarke, die vom Publikum wiedererkannt und mit den darin befindlichen Geschichten verbunden wird. Mithilfe von transmedialem Erzählen werden Nutzer stärker involviert, und damit auch eine bestimmte Bindung an die Produktmarke erreicht. Star Wars ist 1977 zwar nicht als Medienverbund des zweiten Typs gestartet, wurde aber erfolgreich in ein solchen umgewandelt und nach dem Kauf für 4,05 Mrd. US-Dollar von Disney im Jahr 2012 massiv transmedial ausgebaut (›bottom up‹-Modell). Jenkins sieht transmediale Erfahrungen als einen der Hauptgründe für den anhaltenden Erfolg des Star Wars Franchise (vgl. Jenkins/Hassler-Forest 2017, 15). Mit der Übernahme von Lucasfilm durch Disney wurde der bisherige Kanon weitgehend bereinigt und koordiniert neu aufgebaut, um inhaltliche Widersprüche zu vermeiden. Dennoch listet die Wookiepedia derzeit schon rund 170 verschiedene Einzelmedien für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in neun unterschiedlichen Medientypen, die als offiziell anerkannter Teil des Star-Wars-Kanons unter Disney gelten (vgl. Wookiepedia 2019). Darunter fallen auch TV-Serien wie Star Wars: Clone Wars (seit 2008) oder Star Wars: Rebels (2014–2018), die jeweils für sich bereits Geschichten in insgesamt 129 bzw. 75 Einzelepisoden erzählen. Die offiziellen Inhalte des Star Wars-Kanons machen nur einen kleinen Bruchteil des erweiterten »Legends«Universums aus, das zusätzlich noch ein Vielfaches an inoffiziellen, teils vom Publikum geschaffenen Geschichten enthält. Die meisten dieser Geschichten sind Teil des Transmedia-Universums von Star Wars, das damit als eines der größten Medienverbünde der Welt angesehen werden kann und entsprechend akademische Aufmerksamkeit genießt (vgl. z. B. Sammelband zu Star Wars und Transmedia Storytelling von Guynes/Hassler-Forest 2017). Die Kombination unterschiedlicher Erzählungen innerhalb eines Medien- und Produktverbunds reicht von kleinen, mehr oder weniger in sich geschlossenen Storywelten für Kinder (z. B. Dora the Explorer) bis hin zu riesigen, narrativ komplexen Franchises (z. B. Star Wars), die teils mehrfachadressiert, teils adressatenspezifisch narrative Angebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen anbieten (s. Kap. 2). Unterschiedliche Dimensionen können einen Einstieg (»points of entry«; Jenkins 2003) in ein solches Transmedia-Franchise bilden und die Erfahrung damit stark individualisieren. Eine vollständige Systematisierung der Zielgruppen für Einstiegspunkte ist dabei schwierig. Als einige zentrale Dimensio-
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nen lassen sich jedoch der Kulturkreis, die Altersgruppe, das Geschlecht der Nutzer, die verwendete Medientechnik bzw. das verwendete Medium (von Spielzeugen über traditionale analoge Medien bis zu neusten Medientrends, z. B. VR/AR), die Vertrautheit mit dem Franchise (Neueinsteiger bis Experte) und der Umgang mit dem Medienverbund (z. B. Genrewechsel) identifizieren. Stefanie Jakobi diskutiert mit dem Harry-Potter-Storyverse weitere solcher Transmedia-Beispiele (s. Kap. 35). Kinder können bereits über Spielzeugangebote Medienfiguren wie Elsa und Olaf aus Disneys Die Eiskönigin – Völlig unverfroren (Del Vecho 2013) oder die Autos aus Disneys Cars kennenlernen, bevor sie die damit verbundenen Filme gesehen haben. Wenn Kinder bereits in jungem Alter mit solchen Figuren sozialisiert werden, zeigen sie ein höheres affektives Interesse an den Geschichten rund um diese Figuren. Klassisches Merchandising folgt bereits seit Jahrzehnten dieser Strategie (vgl. Jacobson/Mazur 1995, 21). Im Rahmen von transmedialem Erzählen können diese Spielzeuge jedoch noch einen zusätzlichen narrativen Mehrwert erhalten (z. B. durch damit verbundene, mitgelieferte Geschichten oder narrative Settings) bzw. als Ausgangspunkt der transmedialen Verbundsysteme dienen (s. Kap. 3).
12.5 Narratoästhetik Transmediales Erzählen für Kinder und Jugendliche In Kindermedien werden überwiegend einzelne, geschlossene Geschichten erzählt, die untereinander keine nennenswerten Bezüge zueinander aufweisen. Transmediales Erzählen folgt hingegen den oben beschriebenen Mustern, die sich prinzipiell für alle Zielgruppen eignen. Für Kinder und Jugendliche lassen sich für das transmediale Erzählen drei zentrale Einstiegsmöglichkeiten in das transmediale Story-Universum festhalten. Zum ersten kann der Einstieg über den zentralen Text in einem Transmedia-FranchiseModell erfolgen, indem ein Buch gelesen oder ein Film gesehen wird. Ein zweiter und für Kinder sehr üblicher Weg, in die transmediale Storywelt einzutauchen, sind damit verbundene Merchandise-Produkte. Kinder werden in Kaufhäusern, Supermärkten, aber auch in Kindergärten oder Schulen auf spezifische Medienfiguren aufmerksam. Sie sehen die Spielzeuge, Kostüme oder Trinkflaschen in den Geschäften und werden neugierig, welche Geschichte mit der Figur
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verbunden ist. An dieser Stelle unterscheiden sich Kinder und Erwachsene deutlich voneinander, denn Kinder nutzen auch ohne die Erzählung zu kennen die Produkte eines Franchises, was bei Erwachsenen selten der Fall ist. Als einen dritten Einstiegspunkt nehmen die Eltern vor allem von jüngeren Kindern Einfluss auf die Wahl der Medieninhalte und sind somit Gatekeeper der Storywelt. Wenn bei den Eltern eine Präferenz für eine Medienerzählung aus eigener Kindheit besteht, dann werden sie üblicherweise auch die Kinder für diese Geschichte sensibilisieren. Kinder und Jugendliche sind für transmediales Erzählen sowie für transmediale Franchises eine interessante Zielgruppe, bei der vor allem die Eltern den Einstieg maßgeblich mitbestimmen. Die Eltern bringen aber auch die Kaufkraft mit, um Spielzeuge und andere Produkte zu kaufen – sie stellen damit neben den Kindern Mitprosumenten dar; also nicht die eigentlich adressierten Rezipienten (s. Kap. 2) Diese Tatsache wird in der Produktwerbung für ältere Kinder seit Jahrzehnten gezielt genutzt. Cartoon-Serien wie Transformers (1984–1987) wurden von Spielzeugherstellern (in diesem Beispiel Hasbro) gezielt produziert, um Spielzeug zu verkaufen. Die erzählten Geschichten boten einen Schauplatz für die zahlreichen Figuren, die Kinder zu Hause sammeln konnten. Dieses Rezept funktioniert bis heute. Transmediales Erzählen findet in Kindermedien ganz unterschiedlich Anwendung. Um den Umfang und das Potential beispielhaft zu verdeutlichen, werden im Folgenden die beiden transmedial angelegten Storywelten um die Franchises Cars und Die Eiskönigin von Disney diskutiert. Beide folgen dem Transmedia-Franchise-Modell und liefern zentrale Texte mit den Kinofilmen Cars (Lasseter, Ranft 2006), Cars 2 (Lasseter 2011) und Cars 3: Evolution (Fee 2017) bzw. Die Eiskönigin – Völlig unverfroren (Buck, Lee 2013). Diese Filme sind als Family Entertainment Filme (s. Kap. 26) nicht nur für Kinder angelegt, sondern beinhalten viele Anspielungen und (pop-)kulturelle Referenzen, die klar für Erwachsene gedacht sind. Diese Strategie ist ein Markenzeichen von modernen Pixar/ Disney-Animationsfilmen. Disney-Produktionen wie Cars oder Die Eiskönigin sind Texte, die strategisch einen breiten Adressatenkreis erreichen sollen und folglich Produkte des Crosswriting (Crossover, All-Ages) darstellen (s. Kap. 2). Die Filmproduktion bestimmt bei Disney die Strategie der transmedialen Umsetzung, deren einzelne Bestandteile abhängig vom Erfolg des zentralen Textes (also des Films) ausgebaut oder abgebaut werden. Fi-
nanzstarke Konzerne investieren hierbei deutlich mehr Ressourcen in die transmediale Marke mit einer Produktion narrativer Erweiterungen und klassischem Lizenz-Merchandising an Dritte (z. B. Spielzeug-Fahrzeuge und Autorennbahnen bei Cars oder Schmuck und Kostüme bei Die Eiskönigin). Diese Produkte werden vor dem Filmstart in den Läden platziert, wodurch die Aufmerksamkeit des Publikums gezielt auf den Medien- und Produktverbund gelenkt und über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten wird. In der Storywelt von Cars existieren Kinderbücher mit Kurzgeschichten, zwei Fernsehserien (Hooks unglaubliche Geschichten [2008–2012], Geschichten aus Radiator Springs [2013–2017]), einige Kurzfilme (z. B. Hook und das Geisterlicht [2006], Tokyo Mater [2008]), dutzende Videospiele (z. B. Radiator Springs Adventures [2006], Fast as Lightning [2014], Driven to Win [2017]) und mobile Anwendungen und ein Spin-OffFilm (Planes [Hall 2013]). Einige dieser Erweiterungen vertiefen die Hintergrundgeschichte der Figuren und Ereignisse vor dem ersten Film, während andere spezielle Zeitpunkte während der Hautgeschichte des Filmes aufgreifen und parallele Geschichten erzählen (hauptsächlich in den Videospielen). Jede dieser Erweiterungen vertieft die Storywelt des Cars-Franchises im Sinne einer transmedialen Erzählstrategie. Diese Geschichten sind abgeschlossene kurze Episoden, die keinen grundlegenden Beitrag zur Hauptgeschichte der zentralen Texte (also der Filme) leisten. Für Kinder stellen sie aber eine reichhaltige Möglichkeit dar, sich mit der Storywelt zu beschäftigen und diese individuell auszubauen. Zwischen den drei Kinofilmen liegen mehr als zehn Jahre, in denen neben den Protagonisten auch die Zielgruppe mitgewachsen ist. War die Hauptfigur der Filme im ersten Teil noch ein Newcomer in der Autorennszene, ist Lightning McQueen im dritten Teil ein Veteran, der auf ein Comeback hinarbeitet. Das CarsFranchise ist primär für Jungen zwischen 2–9 Jahren gemacht. Die Filme haben eine Altersfreigabe für kleine Kinder (FSK 0 für Cars und Cars 3: Evolution, FSK 6 Jahre für Cars 2), und die Merchandising-Produkte zielen ebenfalls auf Kleinkinder bis Kinder im Grundschulkinder ab. Mit einem Abstand von ca. 5–6 Jahren zwischen den Filmen wird mit jeder Fortsetzung eine neue Generation von Kindern wieder neu an den Medienverbund herangeführt, wenn die vorherige das Interesse langsam verloren hat. Dieselbe Marktstrategie zeigt sich auch bei Disneys Die Eiskönigin. Die Eiskönigin – Völlig unverfroren war ein großer kommerzieller Erfolg und wie bereits bei vorherigen
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Abb. 12.1 Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten im Kindes- und Jugendalter (eigene Abbildung in Anlehnung an Piaget 1969 und Perner 1993)
Disney-Produktionen eine Transformation eines klassischen Märchens. Die Erzählung der Eiskönigin ist dabei an das Märchen von Hans Christian Andersen Die Schneekönigin (Snedronningen, dän. 1845; dt. 1846) angelehnt mit deutlichen Veränderungen im Handlungsverlauf und in der Figurenkonstellation (vgl. Schmerheim 2015). Eine umfangreiche transmediale Strategie zum Film wurde ausgerollt, die u. a. Bekleidung, Spielwaren, Kosmetik, Lebensmittel, Accessoires etc. umfasste. Im Gegensatz zu Cars sind hier Mädchen zwischen 4–12 Jahre die primäre Zielgruppe des Franchises, was die inhaltliche Ausrichtung der Geschichten und Lizenzprodukte deutlich dominiert. Das Verständnis der Kinder in der Zielgruppe für die Storywelt kann mittels der kurzen Geschichten der Transmedia-Erweiterungen gefördert werden, da Beziehungen zwischen den Figuren wiederholend thematisiert, Figureneigenschaften erneut verdeutlicht werden, was Kindern bei der Rezeption des ursprünglichen Medienproduktes hilft. Zudem zielt die wiederholte Beschäftigung mit den Figuren auf den Aufbau einer parasozialen Beziehung (vgl. Horton/Wohl 1956, 217) ab. Die Kinder gehen mit den Hauptfiguren der Erzählung eine fast freundschaftliche (parasoziale, weil einseitige) Beziehung ein, die aufgrund neuer Inhalte auch über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten bleibt und somit die Motivation zukünftiger Auseinandersetzung mit anderen Geschichten erhöht. Auch Identifikationsprozesse werden durch transmediales Erzählen gefördert: Indem die Kinder mithilfe der Spielzeuge und Kostüme selbst die Figuren spielen und weiterentwickeln können, oder eine be-
sondere Beziehung aufgrund der Allgegenwärtigkeit im Kinderzimmer zur Medienfigur aufbauen, finden transmediale Techniken Anwendung. Exkurs: Kognitives Verständnis transmedialer Erzählungen bei Kindern und Jugendlichen Die große Bandbreite an transmedialen Storywelten und Medienverbünde für Kinder und Jugendliche lässt die Frage aufkommen, was Kinder inhaltlich von den transmedialen Erzählungen verstehen bzw. welche kognitiven Limitierungen sie beim Verständnis begrenzen. Dabei können die kognitive bzw. sozialkognitive Entwicklung und die Komplexität der medialen Zeichen betrachtet werden. Kognitive und sozial-kognitive Entwicklung Die kognitive und sozial-kognitive Entwicklung ist die individuelle Grundlage für das Verstehen von Medieninhalten. Kognitive Entwicklungstheorien von Jean Piaget (1969), Josef Perner (1993) und Potter (2013) stellen Erklärungsmodelle bereit, ab welchem Alter Kinder kognitiv dazu in der Lage sind, mediale Zeichen zu verstehen, um schließlich an transmedialen Storywelten teilnehmen zu können. Zentrale Fähigkeiten und Entwicklungsstadien sind in Abb. 12.1 zusammenfassend dargestellt. Basierend auf natürlichen Reifungsprozessen und Umwelterfahrungen werden Kinder im Laufe der Entwicklung immer kompetenter im Umgang mit Medien. So müssen Kinder im frühen Kindesalter erst ler-
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nen, reale von medialen Welten zu unterscheiden, Intentionen von Botschaften zu erfassen und Kontexte kritisch einzuordnen, um die Inhalte, Funktionen und Mechanismen von Medien zu verstehen. Im Alter von 1,5 Jahren entwickelten sie ein erstes Verständnis für narrative Strukturen. In der Entwicklung zwischen 2 und 6 Jahren erwerben Kinder die Fähigkeit, mit medialen Zeichen zu interagieren (vgl. Piaget 1969, 69). Sie entwickeln ein Verständnis für unterschiedliche Symbolsysteme und beginnen kausale Zusammenhänge zu verstehen. Verstehen Kinder zwischen drei und sechs Jahren zunehmend den Unterschied zwischen realen und medialen Objekten und Handlungen, so zeigen sie im Alter bis vier Jahre noch deutliche Limitierungen im Verständnis von Handlungsmotiven oder Intentionen. Jüngere Kinder haben deutliche Schwierigkeiten, sich in die mentalen Zustände von anderen Personen hineinzuversetzen. Erst nach diesem Entwicklungsschritt sind verschiedene Handlungsebenen, Motive und Entwicklungen von Figuren in Medien besser nachvollziehbar. Betrachtet man das transmediale Erzählen bei Disneys Cars oder Die Eiskönigin, so ist die Narration für die Zielgruppe aufgrund der noch bestehenden kognitiven Limitierungen als zu komplex einzustufen. Eine hohe Anzahl an Figurenkonstellationen bei Cars und Die Eiskönigin mit unterschiedlichen Handlungsmotiven, Handlungsstrategien und Absichten ist für den Zuschauer im Vorschulalter nur schwer im narrativen Gefüge einzuordnen. In einer Studie (vgl. Pietschmann/Völkel/Ohler 2014, 2270–2277) zeigte sich, dass die Handlungen der Hauptfiguren für Kinder im Vorschulalter nachvollziehbar waren, die Handlungsabsichten der erweiterten Figuren aber nur schwer verstanden wurden. Da transmediales Erzählen neben lokaler Kohärenz innerhalb des Mediums und der einzelnen Geschichte auch eine globale Kohärenz innerhalb der Storywelt bzw. mehrerer Storywelten des Transmedia-Universums herstellt, sind die kognitiven Anforderungen für das Verständnis der Narration an die Zielgruppe höher. Kinder können aufgrund ihres Entwicklungsstadiums nicht dasselbe Verständnis für komplexe Narrationen aufbringen wie Jugendliche und Erwachsene. So kann eine transmediale Storywelt erst ab etwa 12 Jahren umfassend verstanden werden, da dann die kognitiven Strukturen einen Entwicklungsstand erreicht haben, die abstraktes, hypothetisches und kontrafaktisches Denken möglich machen und sich Generalisierungs- und Synthetisierungskompetenzen herausbilden (s. Piaget
1969; Potter 2013). Erst dieser Entwicklungsschritt macht ein Verständnis für den strukturellen Aufbau des transmedialen Erzählens und ein tatsächliches Verständnis des narrativen Mehrwertes eines transmedialen Franchises möglich. Medien- und Produktverbünde wie Cars und Die Eiskönigin ermöglichen Kindern zwar eine unterhaltsame Auseinandersetzung mit den Figuren und den zentralen Geschichten, eine (medienübergreifende) transmediale Narration wird von jungen Kindern jedoch nur unzureichend verstanden. Medienkonzerne wie Disney berücksichtigen dies, indem Einzelepisoden das transmediale Erzählen bestimmen, die zusätzliche Handlungen beinhalten, die aber die generelle Narration der Storyworld nicht verändern. Sie wird stattdessen additiv ergänzt und stärkt das Verständnis von Figuren (z. B. durch Wiederholung). Komplexität medialer Zeichen Zeichensysteme und die Konventionen der Zeichenverwendung müssen sich Kinder im Laufe der Entwicklung ihrer Medienkompetenz zunächst aneignen. Dieser Aneignungsprozess ist dabei einerseits bedingt von den individuellen kognitiven Fähigkeiten und den erworbenen Erfahrungen. Andererseits ist die Art der medialen Zeichen maßgeblich für das Verständnis mitverantwortlich. Können Kinder bereits im Kleinkindalter ikonische Zeichen, die auf Ähnlichkeitsverhältnissen beruhen, besser verstehen als indexikalische Zeichen, die Hinweisreize benötigen, so stellen arbiträre symbolische Zeichen als eine Zeichenklasse, die allein auf Konventionen basiert, die größte Herausforderung an die kognitiven Fähigkeiten des Kindes dar (vgl. Nöth 2000, 131–226). Die Komplexität medialer Zeichen in einem Medium bestimmt folglich das Verständnis für dessen Inhalte entscheidend mit. Comics sind aufgrund der lockeren, multimodalen Erzählweise in der Leseaneignungsphase bei Kindern und vor allem bei Jungen sehr beliebt. Comics stellen ein verbindendes Element zwischen bild- und textbasierter Erzählung dar und schaffen nach Bilderbüchern einen ersten Zugang zu narrativen Texten. Die Erzählweise mit Sprechblasen und textkongruenten Bildern motiviert zum Lesen und führt so zu ersten Leseerfolgen (vgl. Yannicopoulou 2004, 170). ComicKonventionen (s. Kap. 25), wie die Form von Sprechblasen, die Größe der Schrift in Sprechweisen der Figuren oder die Art der verwendeten Symbole sind zum Teil intuitiv verstehbar, müssen aber auch teilweise über Gesetzmäßigkeiten zwischen Zeichen und Be-
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deutung erlernt werden. Konventionen mit hoher ikonischer Ähnlichkeit oder indexikalische Zeichen sind dabei im Vergleich zu arbiträren Symbolen eher intuitiv erfassbar. Die Darstellung von Lautstärke, die im Comic über ein Größerwerden der Buchstaben angezeigt wird, ist für Kinder anhand der Ähnlichkeit zur realen Situation besser verstehbar als etwa Musiknoten als Konvention für Singen oder Musik bzw. kontextspezifische onomatopoetische Begriffe wie ›Ächtz‹, ›Knacks‹ oder ›Wromm‹. Die Erfahrungen aus dem Alltag der Kinder reichen an dieser Stelle für das Erschließen des Inhalts nicht aus, da Gesetzmäßigkeiten verstanden werden müssen (Noten für Musik bzw. Buchstaben für das jeweilige Wort). Ähnlich verhält es sich beim Verstehen der Sprechblasenkonvention. Sprechblasen weisen allgemein einen indexikalischen, hinweisgebenden Bezug auf. Die Sprechblase zeigt in ihrer Form eine klare Kontur und steht so für die Beständigkeit des Inhaltes. Im Vergleich dazu ist die Denkblase geformt wie eine Wolke, sodass der Comicleser in der Flüchtigkeit der Wolke erkennen kann, dass der Inhalt der Denkblase weniger beständig ist. In Comics stehen die medialen Zeichen in einem mehr oder weniger hohen Ähnlichkeitsverhältnis zu dem, was sie bedeuten sollen. In Abhängigkeit zum kognitiven Entwicklungsstand des Kindes kann das Verständnis bei hoher oder geringer Konventionalität bzw. hoher oder geringer Ähnlichkeit zum Referenten unterschiedlich ausfallen. Zeichen mit hoher Ähnlichkeit und geringer Konventionalität (z. B. Fotografie) werden dabei in der Kindheit im Vergleich früher verstanden als Zeichen mit geringer Ähnlichkeit und hoher Konventionalität (z. B. Buchstaben). Das Verstehen der medialen Zeichen bestimmt somit das Verständnis für die lokale Kohärenz der Geschichte (vgl. Magnussen 2011, 171). Die einzelnen Comic-Elemente müssen erst einzeln verstanden werden, bevor Bedeutungseinheiten gebildet und deren Erfassung und Interpretation das Verständnis der globalen Kohärenz bestimmen. Wird allein durch die Bildfolge die globale Kohärenz sichtbar, dann können Kinder bereits im Vorschulalter den Inhalt der Gesamthandlung verstehen. Treten zu den Bildern indexikalische Zeichen wie die Sprechblasen oder symbolische Zeichen wie Schrift hinzu, dann gewinnt die Geschichte an Komplexität, sodass für jüngere Kinder nicht alle Aspekte inhaltlich erschließbar sind. Wird eine Comic-Erzählung erweitert, indem eine transmediale Storywelt entwickelt wird, dann können jüngere Kinder diese zunehmende Komplexität kognitiv nicht ausreichend bewältigen, um ein umfassendes
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Verständnis zu erzielen. Betrachtet man beispielsweise Superhelden-Comics, dann steht jeder Superheld und jeder Superschurke für eine Storywelt, die neben dem primären Inhalt transmedial erweitert werden kann z. B. durch Franchise-Bildung. Hinzu kommt bei den Superheldengeschichten, dass Superhelden-Universen häufig mehrere dutzend Superhelden und Superschurken gleichsam enthalten, die wiederum miteinander interagieren. Für Kinder unter 12 Jahren können diese Fülle und Verbindungen der Figuren, die Vielzahl der Handlungsmotive und Perspektiven ihre kognitiven Fähigkeiten weit überfordern. Ein transmediales Erzählen bzw. ein Transmedia-Franchise für Kinder unter 12 Jahren kann folglich auf Einzelepisodenebene funktionieren, wenn auf narrative intertextuelle Bezüge zwischen Medienerweiterungen verzichtet wird. Bei Jugendlichen mit fortgeschrittenen kognitiven Fähigkeiten können solche intertextuellem und transmedialen Bezüge hingegen den in der theoretischen Konzeption transmedialen Erzählens beschriebenen besonderen Unterhaltungswert erzeugen und sie zur aktiven Teilhabe am transmedialen Erzählen motivieren. Literatur
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Daniel Pietschmann / Sabine Völkel
13 Realistisches Erzählen
13 Realistisches Erzählen 13.1 Einleitung Der Realismus-Begriff ist einer der am meisten diskutierten und wohl wichtigsten Termini für die Beschreibung philosophischer und literarischer Entwicklungen sowie ihres Wandels. Entsprechend wird er sowohl als »erkenntnistheoretischer Fachterminus der Philosophie« (Plumpe 2007, 221), als Epochenbegriff für die Zeit zwischen 1850–1900 wie auch als literarische Methode bzw. Darstellungsweise gebraucht. Das macht es notwendig, jeweils exakt zu bestimmen, was konkret bezeichnet wird, wenn von Realismus die Rede ist. Nachfolgend werden zunächst grundsätzliche Facetten des Begriffs diskutiert. Ausgehend davon, geht es um ausgewählte Aspekte der historischen Entwicklung realistischen Erzählens in der Kinder- und Jugendliteratur. Schließlich werden in Verbindung mit narratologischen Fragen spezifische Gattungskonventionen realistischer Texte verhandelt. Dabei sind die Übergänge zwischen Allgemeinliteratur und KJL zunehmend fließend.
13.2 Begriffsdefinitionen Zunächst zielt der Begriff ›Realismus‹ in Absetzung etwa von der Literatur der Romantik auf eine »größere Wirklichkeitsnähe« (Plumpe 2007, 221). Dies meint auch, dass durch eine entsprechende Darstellung ein »Wiederkennungseffekt beim Publikum nicht in Frage gestellt« (ebd.) wird. Entsprechend mussten Figuren und Ereignisse der als realistisch klassifizierten Texte für die Leser »erwartbar und in der ›Lebenswelt‹ wiederkennbar sein« (ebd., 222). Der sogenannte »Wiedererkennungseffekt« (ebd., 221) spielt daher im Kontext des Realismus in der Literatur bis in die Gegenwart eine zentrale Rolle. Als gesamteuropäische Erscheinung ging es in Texten des Realismus im 19. Jahrhundert nicht zuletzt auch um eine dezidiert sozialkritische Darstellung, die insbesondere in der Erzählliteratur umgesetzt wurde. Abgelehnt wurden alternative Literaturprogrammatiken, die als »›romantische Weltflüchtigkeit‹, ›verstiegene Polit-Utopismen‹ [...] oder ›photographischer Häßlichkeitskult‹ unter Verdikt gerieten« (ebd., 223). In der deutschsprachigen realistischen Kanonliteratur (u. a. Gottfried Keller, Theodor Fontane, Adalbert Stifter) und ihrer Rezeption nahm man die Tendenzen der englischsprachigen Erzählliteratur, wie das »modische
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Genre« der Dorfgeschichte, zustimmend zur Kenntnis (vgl. ebd., 222; Twellmann 2014; Gansel 2014). Insofern ist das Entstehen des Realismus an Entwicklungen im 19. Jahrhundert gebunden, die ihre »Kulmination in der szientifischen Ästhetik des Naturalismus finde[n]« (Schneider 2018, 21). Der Naturalismus kann wegen der Vorbildfunktion von Émile Zola als eine Art »literarisches Gegenstück positivistischer Philosophie gelesen werden« (ebd.). Der »deutschsprachige Realismus« unterschied sich – so eine bis in die Gegenwart vertretene Position – durch seine »idealisierende Wirklichkeitskonstruktion« von der gesamteuropäischen Programmatik mit ihren »dezidiert sozialkritischen, psychologisierenden, aber auch ästhetisierenden Spielarten (Thackeray, Dostojewski, Flaubert)« (Plumpe 2007, 222). In den avancierten Kunsttheorien des 20. Jahrhunderts hat Roman Jakobson zu Beginn seines Aufsatzes »Über den Realismus in der Kunst« (1921) eine notwendige Verständigung über den Begriff Realismus angemahnt und notiert: »Für realistisch halten wir die Werke, die uns die Realität unverfälscht wiedergeben, die wahrscheinlich zu sein scheinen« (Jakobson 1993, 133). Für die Weimarer Zeit ist eine Position von Siegfried Kracauer exemplarisch, der 1930 betont: »Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion« (Kracauer 1971, 16). Sehr vereinfacht wird man für die Nachkriegszeit im geteilten Deutschland zunächst von einer Kontinuität zweier Realismus-Konzepte ausgehen können, die ihre Wurzeln in der Literatur der internationalen Moderne haben. Mit der Ausdifferenzierung zweier Literatursysteme begann in der DDR zeitweise ein enges Realismuskonzept zu dominieren, das entgegen der Positionen von Bertolt Brecht Auffassungen von Georg Lukács favorisierte. Brecht hatte in der Expressionismusdebatte des Exils ein offenes RealismusKonzept vertreten und betont, dass es formalistisch sei, wenn man gegenüber den »immer neuen Anforderungen der sich immer ändernden sozialen Umwelt« an den »alten konventionellen Formen« festhalten würde. 1958 wurde dann in der Zeitschrift Sinn und Form ein Aufsatz von ihm publiziert, der 1938 entstanden war und den Titel »Volkstümlichkeit und Realismus« trug. Brecht band in diesem Beitrag ein realistisches Schreiben einmal mehr an die konkrete Wirklichkeit. »Neue Probleme tauchen auf und erfordern neue Mittel. Es verändert sich die Wirklichkeit«, notierte er, »um sie darzustellen, muss die Darstellungsart sich ändern« (Brecht 1968, 124). Dennoch wurde der (›sozialistische‹) Realismus in den 1950er Jahren einseitig auf Darstellungen in den Formen des
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_13
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Lebens« und auf eine Affirmation der neu entstandenen gesellschaftlichen Verhältnisse reduziert. Brecht hatte dagegen mit Blick auf einen Sozialistischen Realismus betont: »Unser sozialistischer Realismus muß zugleich ein kritischer Realismus sein« (ebd., 252). Frühe Versuche von Autoren, im Sinne von Brecht die starren Vorgaben zu durchbrechen, wurden bis in die 1960er Jahre abgewehrt. Entsprechend dominierten in der DDR-Literatur zunächst Wirklichkeitsdarstellungen, die typische Leitmotive, Plotstrukturen und Heldenfiguren einer sozialistischen Teleologie variieren. Demgegenüber wurde in der Bundesrepublik ein mimetisches Prinzip stilbildend, das bereits in den 1920er Jahren unter dem Begriff des ›magischen Realismus‹ diskutiert worden war (vgl. Gansel/Maldonado-Alemán 2018, 13–19). Es waren u. a. Autoren der Gruppe 47, die versuchten, »in der unmittelbaren realistischen Aussage« einer an Ernest Hemingway orientierten Schreibweise und im Gefolge von Albert Camus »hinter [...] der Realität das Irrationale« ihrer Zusammenhänge zu erfassen, so Hans Werner Richter (Richter 1946/47, 10–11). Seit Mitte der 1970er Jahre ist es dann in der Literatur in Ost und West zu einer Annäherung gekommen, die sich auch darin zeigt, dass Begrenzungen aufgebrochen und vielfältige Formen realistischen Erzählens erprobt werden. Dazu gehören nicht zuletzt Experimente mit dokumentarischen Formaten. Gleichzeitig orientierten sich westdeutsche Vertreter der Popliteratur und des sogenannten ›Neuen Realismus‹ wie Rolf Dieter Brinkmann oder Jürgen Becker dezidiert an angelsächsischen und französischen Strömungen (vgl. Meyer-Eisenhut, Anne-Rose/Meyer-Sickendiek 2014). Die Forschung geht seit der Arbeit von Richard Brinkmann (1966) davon aus, dass unter literarischem Realismus nicht die Darstellung einer ›objektiven Wirklichkeit‹ zu verstehen ist (vgl. Leine 2018, 17). Brinkmann hatte notiert: »Der übliche Begriff des Realismus im Sinne einer ›getreuen Aufnahme der tatsächlichen Wirklichkeit in die Dichtung‹ läßt sich nicht halten. Diese Bedeutung geht von einer naiven Gegenstandsvorstellung aus, die schon die Naturwissenschaft und die Philosophie seit langem haben aufgeben müssen. [...] Erzählende Dichtung ist nicht Wiedergabe einer Wirklichkeit ›draußen‹ mit mehr oder weniger ästhetischem Firnis. Sie baut eine eigene Wirklichkeit auf mit eigener Struktur, eigenen Gesetzen, eigener Logik« (Brinkmann 1966, 309). Entsprechend schätzt Gerhard Plumpe ein, dass die »ältere, repräsentationstheoretisch argumentierende Forschung«, die realistische Literatur bevorzugt als
»Wirklichkeitsabbildung« und in marxistischer Diktion als »Widerspiegelung« auffasst, sich als »unhaltbar« erwiesen habe (Plumpe 2007, 233). Stattdessen würde sich die neuere Forschung auf der »Einsicht in den Perspektivismus und die Konstruiertheit aller ›Realität‹ als Medium realistischer Literatur [gründen], die selbst festlegt, was ihre Wirklichkeit sein soll« (ebd., 233). Inzwischen gibt es Entwicklungen, die sich bevorzugt in der Philosophie unter dem Zeichen eines ›Neuen Realismus‹ sammeln und vor allem konstruktivische Auffassungen von Wirklichkeit infrage stellen (vgl. Gabriel 2014). Derartige Fragen wird die Forschung zum Realismus in der Kinder- und Jugendliteratur perspektivisch weiter zu diskutieren haben. Innerhalb der KJLForschung dominierten zumeist pragmatische Zugänge zu dem, was man ›Realismus in der Literatur für junge Leser‹ nennt. So ist für Peter Scheiner mit Realismus die »Kennzeichnung einer erzählerischen Methode der Wirklichkeitserfassung« gemeint, die »in der Organisation des Erzählrepertoires einen an die Gesetze der Wahrscheinlichkeit und an rational operierendes Denken gebundenen Bewußtseinsvorgang des Rezipienten verzeichnet« (Scheiner 1984, 37). Theodor Karst geht davon aus, dass die »Themen, Funktionen und Darstellungsmittel« der sogenannten »realistischen Kindergeschichte« ganz »wesentlich von den Seins- und Rezeptionsbedingungen der Alterszielgruppe bestimmt [werden]« (Karst 1984, 137). In diesem Kontext wird ein Bezug zur Lesealtertheorie von Charlotte Bühler hergestellt. Die »reduzierte Erfahrungsmöglichkeit« von Kindern, auf die bei Karst – wie in der älteren Forschung insgesamt – verwiesen wird, sieht Maria Lypp dagegen als ein grundsätzliches »Problem des Lebens in der modernen industrialisierten Gesellschaft überhaupt« (Lypp 1984, 88). Daher handle es sich bei der Frage, »wie die moderne Wirklichkeit literarisch dargestellt werden kann«, um kein kinder-, sondern um ein allgemeinliterarisches Phänomen (ebd.). Gleichwohl sieht Lypp im wissenschaftlich überholten Schema, das eine »Abfolge von märchenhafter zu realistischer Lektüre« annimmt, einen Sinn insofern, als es um einen »zunehmenden Komplexitätsgrad von normgebundener zu realitätsverarbeitender Darstellung« gehe (ebd., 89). Daher stelle eine »echt realistische Prosa, die sich die Abbildung der vielfältigen Lebenswirklichkeit zum Ziel setzt, an den kindlichen Leser höchste Anforderungen« (ebd., 90), weswegen in ihren »Realisationen bereits die Grenze kinderliterarischer Komplexität sichtbar« (ebd.) würde. Lypps Überlegungen, die
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auf der Analyse von Entwicklungen in der Kinderund Jugendliteratur bis zum Ende der 1970er Jahre basieren, markieren – auch, wenn davon nicht explizit die Rede ist – eine zunehmende Annäherung von Kinder- und Jugendliteratur und Allgemeinliteratur. Daher findet sich auch der Hinweis, dass die »›realistische Kindergeschichte‹ am Begriff des literarischen Realismus gemessen werden [müsse]« (ebd., 89). Dieser habe um den »Eindruck des Kunstlosen, bloß Alltäglichen hervorzubringen und zugleich die verzweigten Zusammenhänge der alltäglichen Dinge abzubilden«, im 19. Jahrhundert »komplexe Strukturen beispielhaft ausgebildet« (ebd., 90). Dazu gehören die »sozialen und psychologischen Abschattierungen ihrer Figuren, die Charakterisierung zeittypischer allgemeiner Stimmungen und Meinungen durch großangelegte gesellschaftliche Gesprächsszenen oder der verhaltene Gang, den latente Konflikte unter einer brüchigen Fassade nehmen« (ebd.). Bis zu einem solchen »Grad inhaltlicher-formaler Komplexität« könne sich die Kinderliteratur allerdings – so Lypps Überlegung – »nur annähernd vorwagen«, wenngleich dies »in neuerer Zeit« versucht werde (ebd.). Als Beispiele gelten Texte von Susanne Kilian, Irmela Wendt, Peter Härtling oder Frederik Hetmann. Die ab den 1980er Jahren erkennbar werdenden Entwicklungen führen zu einer weiteren Ausdifferenzierung und dem Entstehen unterschiedlicher Subgattungen des realistischen Kinder- und Jugendromans.
13.3 Historische Entwicklungen Maßgeblich für die Entwicklungen des Realismus wurde ab Beginn des 20. Jahrhunderts die sogenannte sozialkritisch-realistische Großstadtliteratur mit Texten wie Carl Dantz’ Peter Stoll (1925) oder Erich Kästners Emil und die Detektive (1929). Ebenso bedeutsam für den Realismus war die entstandene proletarisch-revolutionäre Kinder- und Jugendliteratur. Dazu zählten Wolf Durians Kai aus der Kiste (1927) und vor allem Alex Weddings Ede und Unku (1931). Diese Texte markierten einen Einschnitt, es ging um die realistische ›Abbildung‹ kindlicher Existenzen. Das hatte den Willen der Autoren zu kritischer Wirklichkeitserkundung zur Voraussetzung, sie mussten gewissermaßen als Beobachter den Verhältnissen von Kindern und Jugendlichen nachspüren. Etwas Neues und ein entscheidender Schritt in Richtung Realismus in der Kinder- und Jugendliteratur stellen zwei Texte von Kästner dar, die zum Ende der Weimarer Zeit erschienen sind und der
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Epoche der Neuen Sachlichkeit zugeordnet werden. Es sind dies der bereits benannte Emil und die Detektive und Pünktchen und Anton (1930). Kästners »Romane für Kinder« – so der bezeichnende Untertitel von Emil und die Detektive – stellen insofern etwas Neues dar, als sie die damalige Wirklichkeit von Kindern und Erwachsenen wie ihre Wirklichkeitserfahrungen romanhaft erzählend zum Gegenstand kinderliterarischer Darstellung machten. Kästner geht allerdings noch eine Stufe weiter: In Emil und die Detektive liefert er mit seinem Vorwort »Die Geschichte fängt noch gar nicht an« (Kästner 2018) gewissermaßen eine Art Gründungsurkunde für das, was man Realismus in der Kinder- und Jugendliteratur nennen kann. Betrachtet man ausgehend von Kästner die Entwicklungen in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 unter einem modernisierungstheoretischen Blickwinkel, dann lässt sich vereinfacht sagen: Bundesrepublik und DDR verhalten sich in den 1950er und frühen 1960er Jahren nahezu spiegelverkehrt zueinander, und erst seit den 1970er Jahren kommt es zu einer Annäherung. Das ist erklärlich, denn in beiden Fällen handelt es sich um Literaturen, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen funktionieren und andersartige Auffassungen von der Rolle der Literatur für junge Leser ausgebildet haben. Für die Kinder- und Jugendliteratur in der DDR war von Beginn an eine Auffassung von Kindheit kennzeichnend, die Kinder und Jugendliche als gleichberechtigte Partner in einem gesellschaftlichen Entwicklungs- und Aufbauprozess sah. Unter dem Stichwort des gemeinsamen Zieles hin zum Sozialismus waren weder Unterschiede der Geschlechter noch der Generationen maßgeblich, vielmehr erfolgte eine Einordnung in die ›große Bewegung‹. In dieser zählte die Individualität des Einzelnen vor allem unter dem Signum, wie dieser in der Lage war, sich ein- und unterzuordnen. Das führte zu einer Weitung der literarischen Darstellungsgegenstände auf die Wirklichkeit, also auf die Gesellschaft, ihre Vergangenheit, Gegenwart und die anvisierte Zukunft. Bis dahin für die Kinder- und Jugendliteratur existierende Tabuisierungen wurden somit aufgebrochen. Die Vision vom ›neuen Menschsein‹ war gedacht als Überwindung bürgerlich-individualistischer bzw. kapitalistischer Beschränktheit. Entsprechend kam dem Kollektiv eine herausragende Bedeutung zu (vgl. Gansel 1997). Mit anderen Worten: Der Kinderalltag war direkt gebunden an gesamtgesellschaftliche Vorgänge: die Entwicklung der Genossenschaft, der Aufbau eines Betriebes, der Einsatz neuer Techniken, der Umgang mit der nazistischen Vergangenheit oder die
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Überzeugung noch Zögernder von der Vision einer von Grund auf anderen Gesellschaft (vgl. Gansel 2016, 98–99). Texte von Erwin Strittmatter (Tinko, 1954), Benno Pludra (Die Kinder von Plieversdorf, 1959), Alfred Wellm (Kaule, 1962) oder Horst Beseler (Käuzchenkuhle, 1964) repräsentierten diese Neuerungen. Die Weitung des kindlichen Blickwinkels auf Gesellschaftliches, auf soziale Realität und ihre Probleme bedeutete einen Gewinn, freilich führte sie andererseits zu einem – dann später immanent kritisierten – Ausblenden von Individuellem, von kindlichen Interessen und inneren Widersprüchen. Kinder wurden zwar formal als gleichberechtigte Partner beim großen Aufbauwerk gesehen, aber die den Texten eingeschriebenen ethischen wie moralischen Normen bestimmten allein die Erwachsenen (vgl. Gansel 1997) In der Kinder- und Jugendliteratur in der Bundesrepublik lief ein gegensätzlicher Prozess ab. Es kam zur Ausbildung einer modernen Kindheitsautonomie, die sich nun gerade auch auf jene Kreise erstreckte, die vorher davon ausgeschlossen waren. Die zwei Welten, wie sie sich bei Wedding fanden (Ede und Unku) oder auch in Kästners Pünktchen und Anton (Anton = proletarisches Unterschichtenmilieu; Pünktchen = großbürgerlicher kindlicher Schonraum), lösten sich auf. Die reale Ausdifferenzierung von Kindheit bedeutete, dass Kinder nunmehr in nur für sie bestimmten Welten Kinder sein konnten. Die Gestaltung von Kindheitsautonomien hatte Folgen: Es kam auf der literarischen Ebene zu einer thematischen Einschränkung. An die Stelle der realistischen Zeichnung einer gemeinsamen Alltagswelt von Kindern und Erwachsenen der proletarisch-revolutionären Kinder- und Jugendliteratur sowie der Großstadtliteratur für Kinder trat die Konstruktion von phantastisch-märchenhaften Eigenwelten wie bei Otfried Preußler (Der kleine Wassermann, 1956, und Die kleine Hexe, 1957) oder von Parallelwelten, in die allein die kindlichen Protagonisten durch ›Umsteigepunkte‹ gelangten (James Krüss’ Der Leuchtturm auf den Hummerklippen, 1956 oder Die glücklichen Inseln hinter dem Winde, 1959). Vor dem Hintergrund von Modernisierung war dies ein Fortschritt, wenngleich die realistische Darstellung zurückging. Allerdings verkennen Erklärungsversuche, die ab 1968 diese Texte einzig als ›HeileWelt‹-Geschichten abwerteten, dass Autoren wie Preußler, Krüss und später Michael Ende einen anderen, aber sehr wohl legitimen kinderliterarischen Ansatz verfolgten und es ihnen nicht um eine kritische Darstellung von gesellschaftlichen Defiziten ging. Mit dem Ende der 1960er Jahre gewann der realisti-
sche Anspruch in der Literatur für junge Leser zunehmend Dominanz. Neben die Kindheitsautonomie traten Prinzipien wie Gleichheit, Akzeptanz oder Mündigkeit. Damit öffnete die Kinder- und Jugendliteratur sich für alle jene Entwicklungen, wie sie in der Allgemeinliteratur bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts zur Darstellung kamen. Es wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der in der Folgezeit die KJL der Allgemeinliteratur annäherte. Mit dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess gingen Veränderungen einher, die die Wert- und Moralvorstellungen der Gesellschaft betrafen, die Vorstellungen von Liebe, Moral, Ehe, Sexualität, das Verhältnis der Geschlechter oder die Vorstellungen über Rolle und Status von Kindern/ Jugendlichen, ihre Rechte und Pflichten. Diese Veränderungen führten zu einem Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendliteratur der Bundesrepublik (vgl. Ewers 1995). Wo sich eine neue Kindheitsauffassung durchsetzte, es reale Veränderungen in der Welt von Kindern wie Jugendlichen gab und sie als gleichberechtigte Partner angesehen wurden, konnten ihnen nicht länger jene Problem- und Konfliktfelder vorenthalten bleiben, mit denen sich die Erwachsenen auseinandersetzten. Genau dies war die Grundlage für eine zunehmend realistische Darstellung und das Entstehen entsprechender Textsorten bzw. -gattungen. Die Texte begannen, die Verhältnisse einer Gesellschaft, in der Erwachsene und Kinder lebten, kritisch zu reflektieren und auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen wie auf die Probleme damaligen Kindseins einzugehen. Ursula Wölfels Die grauen und die grünen Felder (1970), Hans Georg Noacks Rolltreppe abwärts (1970), Peter Härtlings Das war der Hirbel (1973) oder Max von der Grüns Vorstadtkrokodile (1976) avancierten zu Trendsettern einer neuen realistischen Kinderliteratur. Dabei kann Härtling als der Autor gelten, der die realistische Kinder- und Jugendliteratur von den 1970er Jahren bis 2017 maßgeblich geprägt hat, zuletzt mit Texten wie Hallo Opa Liebe Mirjam (2013); Djadi, Flüchtlingsjunge (2016) (vgl. Hernik 2019). Seit den 1970er Jahren wurden frühere Tabubereiche sukzessive mit sozialkritischem Anspruch zum Gegenstand realistischer Darstellung. Dazu gehörten Behinderung, Sterben, Tod, Scheidung, Alkoholismus/Drogen, Arbeitslosigkeit der Eltern, Dritte Welt sowie die – so die damaligen Bezeichnungen – Gastarbeiter- und Ausländerproblematik (vgl. Gansel 2016, 103–106; Steinlein 2008). Zu jenen Autoren, die den literarischen Modernisierungsschub in den 1970er Jahren mitprägten, gehörten insbesondere jene, die die Bedingungen von Kindheit und Jugend
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gesellschaftsanalytisch, also als kritische Beobachter registrierten und in realistischen Darstellungsweisen präsentierten. Kirsten Boie, Wolfgang Bittner, Härtling, Rudolf Herfurtner, Gudrun Mebs, Christine Nöstlinger, Mirjam Pressler, Renate Welsh – um nur einige zu nennen – sahen dabei von ihren eigenen Kindheits- und Jugenderinnerungen ab und erfassten stattdessen literarisch jene ›Folgen‹, die die neue Emanzipation und Mündigkeit für Kinder und Jugendliche mit sich brachte (vgl. Gansel 1995, 1998). Was Ende der 1960er und in den 1970er Jahren angeschoben wurde, fand seine Fortsetzung in den 1980er und 1990er Jahren und gilt für die Jahrtausendwende bis in die Gegenwart: Die Texte haben – wenn sie denn dem Programm eines kinder- bzw. jugendliterarischen Realismus folgen – auf rasante Wirklichkeitsveränderungen zu reagieren, die immer auch eine Folge von gesellschaftlichen Modernisierungen sind. Eben dies zeigt sich etwa bei so komplexen Gegenständen wie der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und dem Holocaust. Dabei nutzt die Kinder- und Jugendliteratur zum Thema Nationalsozialismus neuere Darstellungsweisen, sie ist – wie das Rüdiger Steinlein schon in den 1990er Jahren herausgestellt hat – ›moderner‹ geworden (Steinlein 1995, 6–26). Einen Grund hierfür sieht Steinlein darin, dass adressatenspezifische Tabus nicht mehr so schwer auf dem Thema lasten wie etwa in den 1950er Jahren. Texte wie Gudrun Pausewangs Reise im August (1992) brechen mit bisherigen jugendliterarischen Konventionen, nutzen das, was man ›harten Realismus‹ nennt und sparen auch den konkreten Massenmord an jüdischen Bürgern nicht mehr aus. Daneben entstanden wegen des gegebenen Hintergrundwissens bei jungen Leuten Texte, die nicht mehr ›Zielgruppenliteratur‹ im engeren Sinne sind, sondern die für Kinder wie Erwachsene gleichermaßen ein Lektüreangebot darstellen. Irene Disches mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnete Erzählung Zwischen zwei Scheiben Glück (1997) ist dafür ein frühes Beispiel. Auch Texten von Pausewang (Reise im August, 1992), Pressler (Malka Mai, 2001; Die Zeit der schlafenden Hunde, 2003), Morris Gleitzmann (Once, engl. 2005; Einmal, dt. 2009) oder Markus Zusak (The Book Thief, engl. 2005; Die Bücherdiebin, dt. 2008) ist nur beizukommen, wenn sich das Interesse auf die erzählerische Vermittlung richtet. Nicht zuletzt nach der historischen Zäsur von 1989, die man als Ende der Nachkriegsgeschichte werten kann, hat der kategorische Imperativ »Du musst Dich erinnern!« an Bedeutung gewonnen. Da sich ständig Schichten auf Vergangenes legen,
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besteht für jede Generation aufs Neue die Notwendigkeit des Erinnerns, vor allem an die Jahre von 1933 bis 1945, an die Hitlerdiktatur, Krieg, Holocaust und natürlich an die Jahre nach 1945 in Ost und West (vgl. Gansel 2013; Ächtler/Rox-Helmer 2013). Nach 1989 sind entsprechend zunehmend Texte entstanden, die an die DDR sowie die Wende des Jahres 1989 erinnern. Freilich besteht gerade in diesem Zusammenhang die Tendenz, dass DDR- wie Wende-Zeit lediglich als Stofflieferanten für aktionsreiche Handlungen fungieren und wiederkehrende Stereotype von vermeintlichen Tätern und Opfern produzieren. Nun hat es nach 2000 Veränderungen insofern gegeben, als die Bilder von Wende und Nach-Wende differenzierter geworden sind. Texte wie Pludras Jakob Heimatlos (1999), Holly-Jane Rahlens Mauerblümchen (2009), Daniel Höras Gedisst (2009) oder Petra Kaschs Bye-Bye Berlin (2009) liefern hart an der Realität differenziertere Darstellungen von den Problemen, die entstehen, wenn ganze Biographien delegitimiert werden. Insofern erzählen die Texte auch und gerade vom Abstieg der Eltern, was auf die jugendlichen Protagonisten nicht ohne Auswirkungen bleiben kann (s. Gansel 2010, 17–50). Seit 2015 sind für realistisches Erzählen nunmehr auch die neuen kriegerischen Konfliktfelder im Nahen Osten und die weltweiten Fluchtbewegungen zum Gegenstand des Erzählens geworden. Dabei – so eine zutreffende Diagnose – dominiert das realistische Erzählen: Die Texte nehmen »politische Debatten auf und konzentrieren sich stärker auf die Vermittlung von Werten wie Solidarität und Toleranz« (Mikota 2017). Auf diese Weise würde die Kinder- und Jugendliteratur »die aufklärerische Tradition literarischer Texte« fortsetzen (ebd.).
13.4 Typologien Seit dem Entstehen einer spezifischen Kinder- und Jugendliteratur im ausgehenden 18. Jahrhundert hat es immer wieder Diskussionen um ihre Funktion, ihr Wesen sowie mögliche Typologien gegeben. In der Epoche der Romantik etwa herrschte die Auffassung vor, die Literatur für junge Leser solle eine Art »Wiedergeburt der Volkspoesie« sein, und es gab die Position, die Kinder- und Jugendliteratur müsse die jeweils für die Allgemeinliteratur gültigen »ästhetischen Grundsätze und poetischen Gesetzmäßigkeiten uneingeschränkt« respektieren (Ewers 2000, 182, 185). Diese Programmatik schlug sich in den jungen
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Lesern angebotenen Texten nieder. Ein Teil der Kunstmärchen der Romantik war daher an Kinder und Jugendliche wie Erwachsene gleichermaßen adressiert und insofern All-Age-Literatur (s. Kap. 2) im besten Sinne. Das betraf etwa Texte wie E. T. A. Hoffmanns Nussknacker und Mausekönig (1816) und Das fremde Kind (1817) oder Ludwig Tiecks Der blonde Eckbert (1797) und Die Elfen (1812). Diese Texte, in denen phantastische Elemente eine gewichtige Rolle spielen, waren gewissermaßen gattungstheoretisch an dem einen Pol des Symbolsystems Kinder- und Jugendliteratur angesiedelt. Am anderen Pol sind fiktionale Texte zu verorten, die darauf abzielen, möglichst detailliert aktuelle wie historische Räume, Handlungen und Figuren zu erfassen. Damit ist der theoretische Rahmen für das gelegt, was man realistisches Erzählen nennt. Grundsätzlich gehört die Frage nach der realistischen Darstellung zeitgeschichtlicher Problemkomplexe in das Gebiet der Stoff- und Motivforschung (s. Kap. 34). Dabei handelt es sich um Stoffe, die die Realgeschichte der Literatur vorgibt, es geht um Motive, die bestimmte Formungen und Funktionen haben, angesprochen sind ebenso Themen, die innerhalb und außerhalb der Literatur in ideologischen Auseinandersetzungen und öffentlichen Diskursen einen Platz einnehmen. In welcher Weise es um den Zusammenhang von Werk und Realgeschichte geht, das zeichnet sich bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert mit der entstehenden Subgattung der »historischen Erzählung für Kinder« ab, die mit Joachim Heinrich Campes Die Entdeckung Amerikas (1781/82) einen ersten und frühen Höhepunkt erreichte (vgl. Steinlein 2011, 169). Bei der Betrachtung von Texten dieses Typs zeigt sich, dass es zu den Konventionen der Subgattung des ›historischen Jugendromans‹ oder – der Begriff wird später geprägt – der sogenannten ›zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendliteratur‹ gehört, ein möglichst realistisches und ›stimmiges‹ Bild jener geschichtlichen Periode zu geben, in der die Handlung verortet ist. Dies bedeutet freilich nicht, dass historische Romane eine 1:1-Entsprechung der jeweils dargestellten Zeit liefern müssen und sollen. Gleichwohl gilt, dass »man bei einem historischen Buch die Richtigkeit der Fakten voraussetzen sollte« (Pleticha 2000, 446), es mithin um eine realistische Darstellung geht. In der jüngeren Forschung sind die gattungstypologischen Überlegungen zum historischen Roman im Hinblick auf die Allgemeinliteratur vertieft worden. Die vorgeschlagene Unterteilung in ›dominant heteroreferentielle‹ und ›dominant autoreferentielle‹ Texte (vgl.
Nünning 2007) lässt sich demnach auch auf die Kinder- und Jugendliteratur übertragen. Der entscheidende Schub in Bezug auf eine realistische Darstellung in der Kinder- und Jugendliteratur steht im Zusammenhang mit dem Prozess von gesellschaftlicher Modernisierung, der seit den 1970er Jahren zu einem Paradigmenwechsel führte. Dabei meint gesellschaftliche Modernisierung, so Ulrich Beck in seiner klassischen Definition, die »technologischen Rationalisierungsschübe und die Veränderung von Arbeit und Organisation, umfasst darüber hinaus aber auch sehr viel mehr: den Wandel der Sozialcharaktere und Normalbiographien, der Lebensstile und Liebesformen, der Einfluss- und Machtstrukturen, der politischen Unterdrückungs- und Beteiligungsformen, der Wirklichkeitsauffassungen und Erkenntnisnormen« (Beck 1986, 25). Nun ist Becks Ansatz in den letzten Jahren vielfach diskutiert, ergänzt und korrigiert worden. Nach wie vor aber gilt, dass Veränderungen in der Kinder- und Jugendliteratur ein Reflex auf den Prozess von gesellschaftlicher Modernisierung darstellen. Sämtliche der von Beck genannten Aspekte von Modernisierung finden sich in realistischen Texten der Kinder- und Jugendliteratur wieder und haben gattungstypologisch zum Entstehen des modernen Kinderromans (s. Kap. 19) geführt. Damit ist eine (kinder-)literarische Gattung gemeint, deren Texte prinzipiell über die gleichen Merkmale verfügen wie der moderne Roman für Erwachsene, wenngleich es natürlich graduell Unterschiede gibt (vgl. Gansel 1999; Gansel 2016, 108–130). Der Begriff ›moderner Kinderroman‹ bezieht sich nicht primär auf eine zeitliche Dimension im Sinne von ›gegenwärtig‹, ›aktuell‹, ›zeitgenössisch‹, sondern es geht um eine veränderte Struktur der Texte (vgl. ebd.). Folglich lässt sich der moderne Kinderroman nicht reduzieren auf Modifizierungen auf der Ebene der ›histoire‹ oder des ›Was‹. Wie in der Allgemeinliteratur wirken die Veränderungen sich auch auf den ›discours‹ oder das ›Wie‹ der literarischen Darstellung aus. Wo eine (aktuelle) Wirklichkeitserkundung das Ziel ist, bekommt anstelle der ›pragmatischen Relation‹, also der Beziehung Werk – Rezipient, die ›mimetische Relation‹, also die Beziehung Werk – Realität, größeres Gewicht. Es geht damit um die Frage, inwieweit der Text Wirklichkeit authentisch erfasst? Ein solcher Ansatz macht unter historischen, thematischen wie formalen Gesichtspunkten eine neue Ausdifferenzierung in Unter- bzw. Subgattungen der Kinder- und Jugendliteratur möglich. Inzwischen ist die Unterscheidung zwischen a) dem modernen pro-
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blemorientierten bzw. sozialkritischen Kinderroman, b) dem modernen psychologischen Kinderroman, c) dem modernen komischen Kinderroman sowie d) dem modernen phantastischen Kinderroman in der Forschung akzeptiert. Bei dieser Typologie handelt es sich – außer beim phantastischen Kinderroman (s. Gansel 1999) – um Texte, die im Kern eine realistische Darstellung von Wirklichkeit anstreben. Natürlich handelt es sich bei der hier angesetzten Unterscheidung, wie dies generell für Gattungsbestimmungen gilt, um eine modellhafte, denn in der literarischen Praxis gestalten sich die Übergänge fließend. Der problemorientierte bzw. sozialkritische Kinderroman ist ein Reflex auf die seit 1968 sich etablierende neue Sicht auf Kindheit, das Verhältnis der Generationen und die Schattenseiten der modernen Gesellschaft. In diesen Texten werden die Verhältnisse einer postmodernen Gesellschaft, in der Erwachsene und Kinder leben, einer kritischen Prüfung unterzogen. Nicht (phantastische) Schonräume oder spannungsreiche Abenteuer waren daher die Darstellungsgegenstände, sondern jene Wirklichkeit, mit der Kinder wie Erwachsene tagtäglich konfrontiert wurden (= normale Alltagswelten). Das führte zu Veränderungen auf der Ebene der ›histoire‹: Die Handlungen, Figuren und Räume sind demzufolge der auf die soziale Erkundung ausgerichteten Darstellung angepasst. Beim psychologischen Kinderroman erfolgt eine Schwerpunktverlagerung auf die Darstellung kindlicher Innenwelten. An die Stelle von Aktion tritt die Reflexion über psychische Phänomene der eigenen Subjektivität. Insofern wird der »Blick ins Innere« (Lypp 1989) geöffnet und die kindlichen Figuren mit ihren Gedanken, Gefühlen, Träumen, Ängsten werden erfasst (vgl. Steffens 1995). Die Schwerpunktsetzung wechselt von der Außenwelt- zur Innenweltdarstellung. Die Außenwelt wird zwar erfasst (= äußere Handlung), aber die Darstellung zielt nicht primär auf soziale Erkundung. Vielmehr geht es darum, die Folgen für das Individuum (= innere Handlung) zu zeigen. Mit anderen Worten: Die moderne Subjektivitätsproblematik, die ansonsten kennzeichnend für die Allgemeinliteratur ist, findet mit dem psychologischen Kinderroman Eingang in die KJL. Der psychologische Kinderroman schildert darüber hinaus die Auswirkungen der veränderten Familienkonstellationen (Scheidung, Tod, alleinerziehende Eltern) auf die Psyche der kindlichen Protagonisten und markiert die Verlustängste wie die Unsicherheiten der Kinder. Der komische Kinder- bzw. Familienroman gewinnt dagegen den neu entstehenden Familienverhältnissen
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eine positive Seite ab. Auch im komischen Kinderroman gelangen durchaus Defizite ins Blickfeld, nur werden sie nicht beklagt, sondern in den Kontext einer witzig-humorvollen Bewertung gestellt. Gleichzeitig kommen die Handlungsmöglichkeiten, der Spaß und die Lust zur Sprache, die die kindlichen Protagonisten aus den mitunter chaotischen Situationen ziehen, ins Blickfeld. Auch in dieser Subgattung werden also die Risiken in einer modernen Gesellschaft nicht verschwiegen, aber im Unterschied zum psychologischen Kinderroman erfahren sie eine andere Wertung, mit Problemen wie Spannungen wird locker, gelassen, humorvoll und ironisch umgegangen (vgl. Gansel 1999). Neben dem modernen Kinderroman mit seinen Subgattungen existiert natürlich weiterhin das sogenannte problemorientierte Kinder- und Jugendbuch, das in der Tradition der Exempelgeschichte der Aufklärung steht und auf den exemplarischen Fall ausgerichtet ist. Um epische Totalität oder explizite Innenweltdarstellung geht es in Texten dieses Typs, die seit den 1970er Jahren entstanden sind, nicht. Die Wirksamkeit und Existenzberechtigung im kinderund jugendliterarischen System der Gattungen gewinnen problemorientierte Texte aus der Authentizität des Dargestellten, dem Bezogensein auf jeweils aktuelle Wirklichkeitsfelder und dem Wiedererkennungseffekt (vgl. Gansel 1992, 300–301; Scheiner 2000, 172; Gansel 2016, 163–165). Wegen ihrer ›Problemnähe‹ und der ›Zeitbezogenheit‹ werden sie auch als ein zeitdiagnostisches Medium angesehen. Grundsätzlich ist zu sagen, dass es sich bei dem Versuch, einen direkten Bezug zu den aktuellen Wirklichkeitserfahrungen, den Problemlagen und Konflikten der jugendlichen Leser herzustellen, um eine insgesamt ganz und gar positiv zu wertende Tendenz handelt (vgl. Gansel 1992, 300–301; Gansel 2019, 163). Das Erzählgeschehen dieser Texte ist als ›realistisch‹ in dem Sinne zu bezeichnen, als es in einem vom Leser »lokalisierbaren räumlichen und zeitlichen Koordinatensystem« (Scheiner 1984, 38) angesiedelt ist und mit wirklichkeitsmodellierenden Verfahren arbeitet. Problemorientierte Texte stellen Teile von Wirklichkeit ins Zentrum der Darstellung, sie folgen dem »Trend zur Segmentierung der Realität in einzelne Problemfelder« (ebd.). Letztlich steht ein Protagonist im Zentrum der Handlung, der in einem spezifischen Segment der Wirklichkeit agiert und zumeist mit einem besonderen sozialen Problem konfrontiert ist. Dabei verfügen die Figuren nur begrenzt über eine Individualität, abgehoben wird vielmehr auf Exemplarisches und Typik (vgl. Gansel 2016, 163).
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
Zu einer dominant realistisch geprägten Gattung zählt auch der Adoleszenzroman (vgl. Gansel 2016, 165–195; Gansel 2011). Texte, die über Jugend bzw. Adoleszenz erzählen, finden sich bereits am Ende des 18. Jahrhunderts. Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) und Karl Philipp Moritz᾽ Anton Reiser (1785–1790) zählen daher zu Vorläufern der Gattung. Bis weit in die 1970er Jahre gab es in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur keine typologische Klassifikation, was dazu führte, dass Hilfsbegriffe wie ›Jeansliteratur‹ oder ›emanzipatorische Mädchenliteratur‹ genutzt wurden, um eine Gruppe von Texten zu erfassen, die in besonderer Weise von der Jugendphase erzählten. Schließlich setzte sich ab Ende der 1980er Jahre in Anlehnung an das Muster der angloamerikanischen adolescent novel in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung die Bezeichnung ›Adoleszenzroman‹ durch (vgl. Gansel 2004; Gansel 2016). Betrachtet man, welche Kategorien in Anschlag gebracht werden, um einen Text als Adoleszenzroman einzuordnen, dann zeigt sich: Narratologisch gesehen, ist die Ebene der ›histoire‹, also das ›Was‹ des Erzählens, entscheidend. Nach dem Blick auf die Figuren, Handlungen (Ereignisse, Geschehnisse) sowie die Räume wird man gegebenenfalls zu dem Ergebnis kommen, dass es sich um einen Adoleszenzroman handelt. Einfacher gesagt: Der Adoleszenzroman stellt eine Typenbildung dar, die auf der Grundlage von inhalts- und stoffbezogenen Merkmalen erfolgt. Kennzeichnend für Texte dieses Typs ist der Umstand, dass die Hauptfiguren sich zumeist in einer Krise befinden, was in der Realität symptomatisch für diese Entwicklungsstufe ist. Es hängt dies damit zusammen, dass in der Adoleszenz Allmachts- und Größenphantasien eine gewichtige Rolle spielen, es um die Auseinandersetzung mit physiologischen Veränderungen geht, die Protagonisten auf der Suche nach der eigenen Identität sind und Absetzbewegungen von der vorherigen Generation (Eltern) notwendig erscheinen. Genau diese Aspekte finden dann auch in den Texten auf der Ebene der ›histoire‹ eine literarische Gestaltung. Narratologisch gesehen, sind die Romane und Erzählungen zumeist durch ein offenes Ende gekennzeichnet, die Protagonisten bleiben auf der Suche, eine Identitätsfindung im Sinne des Findens eines festen Wesenskerns muss in neueren Texten nicht erfolgen und wird auch nicht angestrebt. Literaturhistorisch wie aktuell lassen sich mit dem klassischen, dem modernen und dem postmodernen Adoleszenzroman Subgattungen unterscheiden, die ihre Grundlage – wie auch die Gattung des Kinderromans – je-
weils in der an die konkret-historische Wirklichkeit gebundenen realistischen Darstellung finden. In der Gegenwart zeichnet sich die Tendenz ab, dass die Übergänge zwischen Adoleszenzroman sowie AllAge-Texten fließend sein können (vgl. Gansel 2016, 6–8). Ob und inwieweit es sich in der Tat um einen Adoleszenzroman handelt, das wird letztlich nur durch analytische Arbeit am Text zu belegen sein. Dies gilt auch für weitere Romane, die allerdings sämtlich in allgemeinliterarischen Verlagen erschienen sind. Dazu gehören so unterschiedliche Texte wie Rocko Schamonis Dorfpunks (2004), Alina Bronskys Scherbenpark (2008), Wolfgang Herrndorfs Tschick (2010), Hansjörg Schertenleibs Cowboysommer (2010), Kevin Kuhns Hikikomori (2012), Cornelia Travniceks Chucks (2012), Torsten Schulz’ Nilowsky (2013) oder Michael Wildenhains Das Lächeln der Alligatoren (2015).
13.5 Narratoästhetik Narratologisch gesehen, können Realismus und Phantastik (s. Kap. 14) als gegensätzliche Pole literarischer Darstellung modelliert werden. Dies erklärt, warum in Absetzung von »märchenhaften und phantastischen Genres« das Kennzeichen von realistischen Texten darin gesehen wird, dass sich das »Erzählgeschehen in logischen und rational durchschaubaren Handlungsschritten« entfaltet (Scheiner 1984, 37). An anderer Stelle ist von der »Verankerung des Erzählgeschehens in einem gegenwärtigen, für den Leser genau lokalisierbaren räumlichen und zeitlichen Koordinatensystem« die Rede (ebd., 38). Letztlich lasse sich mit Blick auf eine »rezipientenorientierte Kategorie der Erfahr- und Überprüfbarkeit bzw. Erlebnisnähe der Erzählgegenstände« der Begriff einer realistischen Kinder- und Jugendliteratur auf Erzählungen verengen, »die von Kindern und Jugendlichen im sozialen Bezugsfeld ihres alltäglichen Lebensbereiches handeln« (ebd., 37). Ausgehend davon, werden Gattungen herausgestellt, die der realistischen Methode in besonderem Maße verpflichtet seien, wie der »Abenteuerroman, der historische oder der psychologische Roman« (ebd.). Für Karst wird eine »Kindergeschichte« als realistisch verstanden, die »von Kindern handelt« und »deren Umwelt möglichst wirklichkeitsgetreu zu treffen versucht« (Karst 1984, 138). Als Arbeitsdefinition, die sich am ›Was‹ und ›Wie‹ der Texte orientiert und in Absetzung zu einer Bestimmung von Phantastik funktioniert (vgl. Gansel 2019, 140–141), sei folgender Vorschlag gemacht:
13 Realistisches Erzählen
Beim realistischen Erzählen wird auf der Ebene der ›histoire‹ von den Wahrscheinlichkeiten einer bestimmten historisch-sozialen Erfahrungswirklichkeit ausgegangen. Entsprechend werden auf der Ebene des ›discours‹ die narrativen Elemente gemäß der Logik ihrer Verknüpfung in der realen Welt auch in der künstlerischen Darstellung miteinander verbunden. Mit anderen Worten: Auf der Ebene der ›histoire‹ werden – im Unterschied zur Phantastik – Ereignisse, Geschehnisse, Handlungen, Figuren, Räume so miteinander in Verbindung gesetzt, wie das in der empirischen Wirklichkeit der Fall ist. Von daher orien tiert sich die künstlerische Darstellung an den Gesetzen der Logik. Anders gesagt: In realistischen Texten erfolgt auf der Ebene der ›histoire‹ – im Unterschied zur Phantastik – keine Überschreitung der Grenzen der empirischen Wirklichkeit (vgl. Gansel 2019, 141). Dies bedeutet, dass etwa das Vorhandensein von phantastischen Träumen, die einer Figur zugeschrieben werden, in jeder Hinsicht legitim für realistisches Schreiben ist, solange die Ebene der ›histoire‹ (Handlungen, Figuren, Räume) der Logik der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (Gesetze der empirischen Wirklichkeit) nicht zuwiderläuft. Wenn man nun in globaler Perspektive aktuelle und die in vielerlei Hinsicht von den Akzentsetzungen der 1970er Jahre nachhaltig beeinflussten Entwicklungen in den Blick nimmt, dann sind Überlegungen von Moritz Baßler mitzudenken, der in einem – internationale Trends reflektierenden – Beitrag eine Art ›populären Realismus‹ ausgemacht hat und damit Texte von Autoren erfasst, die von Haruki Murakami über amerikanische Thriller-Autoren bis zu Frank Schätzing, Bernhard Schlink oder Daniel Kehlmann in Deutschland reichen. Der Erfolg dieser Autoren und Texte verdankt sich in erster Linie – so die Vermutung – ihrer realistischen Schreibweise. Dabei ist Baßler zufolge mit Realismus ein Verfahren bzw. eine Technik gemeint, »so zu schreiben, dass sich dem Leser automatisch eine erzählte Welt, eine Diegese, präsentiert, ohne dass er zunächst mit Phänomenen der Textebene zu kämpfen hätte« (Baßler 2011, 91).
13.6 Inter- und transmediale Aspekte Im Kontext mit Kinder- und Jugendliteratur spielt in Verbindung mit der Adaption, also der Anpassung an die kindlichen und Jugendlichen Leser/Hörer/Zuschauer, der Medienverbund (s. Kap. 3) eine zentrale Rolle. Dabei ist »weder das Phänomen noch der Be-
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griff [des Medienverbundes – C. G.] eine Erfindung der unmittelbar vergangen Jahrzehnte« (Josting/Maiwald 2007, 7). Neu allerdings ist der Umfang, in dem sich gegenwärtige Medienverbünde präsentieren (vgl. Gast 2009, 177). Es sind nicht nur die Neuen Medien und soziale Netzwerke hinzugekommen, sondern zunehmend spielt auch die Konsumindustrie eine gewichtige Rolle. Insofern gehört die Transformation von Texten der Kinder- und Jugendliteratur in andere Medien wie auch eine weiter ansteigende Kommerzialisierung im Rahmen des Medienverbundes zur Praxis eines Alltags medienrezipierender Kinder und Jugendlicher (vgl. ebd.). Die Literaturverfilmung kann dabei im weiten Sinne als »Prozeß und Produkt der Umsetzung eines sprachlich fixierten Textes in das audiovisuelle Medium des Films« definiert werden (Jahraus 2002, 751). Dabei erfolgt eine Anpassung des literarischen Textes an die Erfordernisse oder strukturellen Bedingtheiten einer anderen Gattung bzw. eines anderen Mediums (u. a. Adaption eines realistischen Romans für Hörspiel, Film, Theater). In dem Fall, da es um eine Literaturadaption geht, also die filmische Inszenierung eines literarischen Textes, kommt der Filmsprache entscheidende Bedeutung zu, denn der Film als Medium hat eine eigene Sprache, die sich durch das Zusammenspiel von Bild, Sprache und Ton konstituiert. Der Sinn des Films ergibt sich durch die Kombination dieser audiovisuellen Merkmale (vgl. Gast 1993). Nach 1945 – so wird man konstatieren können – sind zunächst bevorzugt phantastische Texte bei der medialen Vermittlung bevorzugt worden, dazu gehören Verfilmungen von Bestsellerautoren wie Astrid Lindgren und Michael Ende (vgl. Kurwinkel 2016). Mit der realistischen Tendenzwende seit den 1970er Jahren sind zunehmend auch realistische Kinder- und Jugendromane zur Grundlage für Verfilmungen geworden. Dabei konnte man an frühe Entwicklungen anknüpfen. Es war Erich Kästners »Roman für Kinder«, Emil und die Detektive, der bereits 1931 filmisch adaptiert wurde. Weitere Verfilmungen folgten 1954 und 2001. Vergleichbares gilt für Das fliegende Klassenzimmer, das 1954, 1973 und 2002 verfilmt wurde. Dabei erfolgte jeweils eine Anpassung des Figurenensembles wie der Konfliktlagen an die historischen Kontexte. Ein Trendsetter neuer Entwicklungen war mit der Gestaltung von Tabu-Themen die Verfilmung von Max von der Grüns Vorstadtkrokodile (1976) als TV-Adaption im Auftrag des WDR (Becker 1977), die bereits ein Jahr nach der erfolgreichen Publikation des Textes erfolgte. Es handelte sich hier um das »erste Projekt im westdeutschen Fernse-
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
hen, das gemeinsam von der Kinder-/Jugendredaktion und der Redaktion Fernsehspiel des WDR realisiert wurde« (Gast 2001, 237). 2009 gab es eine aktualisierende Adaption, die sich als Remake in der Figuren- und Handlungsstruktur weitgehend an von der Grüns Kinderroman orientierte. Offensichtlich wurden aber bereits Veränderungen in Richtung auf den Trend Crossover- bzw. All-Age-Literatur (s. Kap. 2). So kam es zu einer stärkeren Beachtung der Rolle der Erwachsenen sowie familiärer Konfliktlagen. Nach dem Erfolg des Remakes verließen die Filmemacher den Rahmen der Literaturverfilmung und schrieben die Geschichte auf der Grundlage des Stoffes weiter. Bei Vorstadtkrokodile 2 (Ditter 2010) und Vorstadtkrokodile 3 (Groos 2011) bildete zwar die eingeführte Gruppe der Protagonisten weiterhin das Zentrum, aber »die Handlungs- und Figurenentwicklung verselbständigte sich« (ebd., 238). Für die Gegenwart ist davon auszugehen, dass bevorzugt Bestseller bzw. erfolgreiche realistische Kinder- und Jugendliteratur wie auch Adoleszenz- und All-Age-Texte die Chance haben, in Film, Hörbuch oder Computerspiel weiter popularisiert zu werden. Exemplarisch trifft dies für Cornelia Funkes Reihe Die wilden Hühner (1993– 2006) und in anderer Weise für Wolfgang Herrndorfs Adoleszenzroman Tschick (2010) zu. Tschick, der nicht in einem Kinder- und Jugendbuchverlag erschien, erreichte eine Millionenauflage und die Theaterfassung (EA 2011) avancierte zum meistgespielten Gegenwartsstück. Auch die Verfilmung (Akin 2016) wurde mit zahlreichen Preisen bedacht und zog über eine Million Zuschauer in die Kinos. Literatur
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Carsten Gansel (Unter Mitarbeit von Monika Hernik)
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
14 Phantastisches Erzählen 14.1 Einleitung Das Phantastische ist ein notorisch unklarer Begriff, der je nachdem für ein Genre, einen Modus, eine Schreibweise und andere Phänomene innerhalb des weiten Feldes der Fiktion verwendet wird. Die Uneinigkeit reicht über Gegenstand, theoretischen Ansatz bis hin zur Schreibweise des Begriffes selbst. Dies liegt auch daran, dass es in der Diskussion schlicht keine Einigkeit darüber gibt, was der Begriff der Phantastik alles umfassen soll, und die Vielzahl der Definitionen ist ein eindrucksvoller Hinweis darauf, wie sehr die Korpusauswahl das Untersuchungsergebnis bestimmt. Phantastik lässt sich als eine bestimmte Schreibweise bestimmen, die besonders prägnant in mit ihr synonymen Genres auftritt – jedoch längst nicht nur dort. Der Widerspruch zwischen realistischer Alltagswelt des Lesers und dem phantastischen Erzählten steht im Mittelpunkt der meisten Definitionen des Phantastischen und wird auch hier verwendet werden. Das Phantastische ist grundsätzlich ein Abweichungsphänomen, wobei diese Abweichung aufgrund eines neuzeitlich-modernen Weltbildes gegeben sein muss. Dies kann, muss aber nicht als eine disruptive Abweichung – oder nach Roger Caillois als »Riß« in der erzählten Welt (Caillois 1974, 46) – auftreten. Ob das Übernatürliche nun als Störung bzw. Verstörung empfunden wird, ist Teil der Wirkungsästhetik, jedoch kein geeignetes Abgrenzungskriterium, besonders im Bereich der Kinderliteratur. Dieser Beitrag wird zunächst einen Überblick über verschiedene Definitionsansätze innerhalb der (Kinderliteratur-)Forschung geben, bevor eine Übersicht über die Entwicklung dieser Schreibweise in der deutschen Kinderliteratur erfolgt. Anschließend werden Aspekte der Narratoästhetik diskutiert, wobei es sich angesichts der großen Genrevielfalt notwendigerweise um einen Ausschnitt handeln muss. Zum Abschluss wird auf jene Aspekte der Intermedialität eingegangen, die prägend für den Bereich der kinderliterarischen Phantastik in Deutschland waren oder sind.
14.2 Begriffsdefinitionen Kaum eine Definition des Phantastischen ist für die germanistische Literaturwissenschaft so bedeutsam wie die von Tzvetan Todorov – und kaum eine gilt als so wenig brauchbar, wenn sie auf die Kinderliteratur
angewendet werden soll. Todorovs in der Forschung in der Regel als »minimalistisch« charakterisierte Theorie der phantastischen Literatur wurde von diesem hauptsächlich anhand von Texten der Allgemeinliteratur des 19. Jahrhunderts erarbeitet. Laut seiner oft zitierten Definition ist das Phantastische »die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat« (Todorov 1992, 26). Diese Unschlüssigkeit des Lesers – eine Unschlüssigkeit auf Seiten der Figuren ist nach Todorov nicht zwingend erforderlich (ebd., 33) – ist in den meisten Texten vorübergehend und löst sich am Ende auf. Steht die Erklärung für das scheinbar übernatürliche Ereignis im Einklang mit den natürlichen Gesetzen der Welt, so handelt es sich um die Unterkategorie der »fantastischunheimliche[n]« Erzählung (ebd., 43). Erweist sich das Ereignis jedoch als in der Tat übernatürlicher Natur, so muss der Text als eine »fantastisch-wunderbare« Erzählung gelten (ebd., 49). In die Kategorie des »unvermischt Wunderbaren« fallen hingegen solche Texte, in denen das Übernatürliche als gegeben angenommen wird und keinen Bruch mit der natürlichen Ordnung der erzählten Welt darstellt. Hierzu zählt nach Todorov auch das Märchen (ebd., 51). Das »unvermischt Unheimliche« schließlich umfasst Texte, in denen außergewöhnliche, unglaubliche oder schockierende Dinge passieren, die sich jedoch vollständig rational erklären lassen (ebd., 44–45). Obwohl sich die meisten Auseinandersetzungen mit kinderliterarischer Phantastik auf Todorov beziehen, herrscht weitgehende Einigkeit über die begrenzte Anwendbarkeit seines Ansatzes auf ein Korpus, das sich größtenteils wesentlich von den Texten unterscheidet, die Todorovs Definition zugrunde liegen. Gerade der Aspekt der Unschlüssigkeit gegenüber einem möglicherweise übernatürlichen Phänomen verkompliziert sich im Bereich der Kinderliteratur, unabhängig davon, ob man diese Unschlüssigkeit nun auf intra- oder extradiegetischer Ebene ausmachen möchte. Für jüngere Kinder, die noch nicht scharf zwischen Wirklichkeit und Fiktion bzw. make believe unterscheiden, stellt sich die Frage nach der Todorovschen Unschlüssigkeit nicht oder sie lässt sich nicht eindeutig beantworten. Aber auch die geschlossenen Welten der Fantasyliteratur entfalten ihre Wirkung gerade durch die willentliche Aufhebung des Zweifels angesichts offensichtlich übernatürlicher Phänomene, wie es bereits J. R. R. Tolkien in seiner Theorie phantastischer Literatur formuliert (vgl. Tolkien 2008, 52–
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_14
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53; zur Definition von Fantasyliteratur s. den folgenden Abschnitt zur Typologie). Frühe Ansätze zur Erforschung der kinderliterarischen Phantastik in Deutschland beziehen sich nicht auf die allgemeinliterarische Phantastikforschung, sondern definieren das Phantastische (z. T. deutlich abwertend) als eine dem Märchen nahestehende Schreibweise (vgl. Koch 1959, Krüger 1960). Bemerkenswert ist Anna Krügers Typologie, die unter anderem die »[ph]antastischen Erlebnismöglichkeiten durch die Setzung einer neuen Umwelt mit anderen Lebensbedingungen« (Krüger 1960, 344–345) und somit bereits den Aspekt unterschiedlicher Welten bzw. Räume anführt. Göte Klingberg differenziert zwischen der »surreal-komischen« und der »phantastischen Kinder- und Jugenderzählung«, wobei Erstere sich demzufolge »in einer, meist der realen, vertrauten Welt des Lesers« abspiele, während die andere »in zwei verschiedenen, aufeinander stoßenden oder ineinander übergehenden Welten« situiert sei (Klingberg 1974, 222). Weiterhin lässt sich von der »phantastischen« (ebd.) die »mythische Erzählung« abgrenzen, die in einer geschlossenen Welt spielt, die jedoch im Gegensatz zur surreal-komischen Erzählung eigenen Gesetzen folgt (ebd., 227). Strebt man eine nach Todorov historische Definition der Phantastik für den Bereich der Kinderliteratur an (im Gegensatz zur systematischen Gattungsbildung), so ist die augenfällige Eigenart der zu erfassenden Texte eine spezifische, im weiteren Sinne räumliche Struktur der erzählten Welt. Daher beziehen sich auch zahlreiche Definitionen auf dieses Kriterium. In seinem Essay On Fairy Stories entwickelt Tolkien eine Theorie der Phantastik (die er nicht so nennt), bei der er unterscheidet zwischen der »Primary World« der Leser und der »Secondary World« einer (phantastischen) Geschichte, welche das Werk des erzählenden »sub-creator« ist (Tolkien 2008, 52). Hierauf aufbauend und wesentlich für die Kinderliteraturforschung ist das sogenannte Zwei-Welten-Modell, das sich bereits bei Krüger und Klingberg andeutet, aber schließlich von Maria Nikolajeva (1988) ausdifferenziert formuliert wird. Die Zwei-Welten-Definition geht von der impliziten oder expliziten Präsenz zweier Welten innerhalb eines Textes aus, die unterschiedlichen Gesetzen folgen: Während die Primärwelt den allgemein bekannten Naturgesetzen unterworfen ist – und mehr oder weniger der Erfahrungswelt der Leser entspricht – ist die Sekundärwelt dadurch geprägt, dass in ihr übernatürliche bzw. magische Phänomene vorkommen,
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die sich meist durch Regelhaftigkeit auszeichnen. In der erzählten Welt der Diegese können beide Welten räumlich verwirklicht sein, dies ist jedoch nicht zwingend notwendig. Nikolajeva unterscheidet hier zwischen drei verschiedenen Modellen. Die magische Sekundärwelt kann im Text vollständig räumlich realisiert und ohne direkte Berührung mit der Primärwelt, also »geschlossen«, sein oder aber der Primärwelt gegenüber »offen«, also sich durch die Möglichkeit der Interaktion auszeichnend. Der dritte Fall ist der einer räumlich vollständig realisierten Primärwelt, in der die magische Sekundärwelt mit ihren eigenen Gesetzen ausschließlich durch eine Figur oder ein Artefakt impliziert ist (vgl. Nikolajeva 1988, 36). Während also beispielsweise die Erdsee-Romane (Earthsea, engl. 1968–2001; dt. 1979–2003) von Ursula K. Le Guin in einer geschlossenen Sekundärwelt spielen, die durch eine spezielle regelhafte Form der Magie geprägt ist, wird in Cornelia Funkes Tinten-Trilogie (2003–2007) die Handlung durch die konfliktträchtigen Berührungen und Überschneidungen zwischen der naturgesetzlich geregelten Primärwelt der Protagonistin Meggie und der phantastischen Tintenwelt vorangetrieben. In Christine Nöstlingers Kinderroman Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1972) bricht hingegen in das scheinbar idyllische Familienleben der Protagonistin mit dem despotischen Gurkenkönig Kumi-Ori der Repräsentant einer übernatürlichen Sekundärwelt hinein, die auf grell-verstörende Weise die Machtstrukturen der Primärwelt widerspiegelt. Carsten Gansel ergänzt den räumlichen Ansatz der Zwei-Welten-Definition um das strukturelle Element unterschiedlicher »Handlungskreise« (Marzin 1982, 116–149), anhand derer er eine Typologie der phantastischen Kinderliteratur entwirft. Während das »Grundmodell A« durch den Eintritt phantastischer Elemente (Figuren, Objekte, Ereignisse) in eine mimetisch-realistische Welt gekennzeichnet ist, schildert das »Grundmodell B« den Übergang von der realistischen in eine magisch-phantastische Welt oder umgekehrt. Dies geschieht über unterschiedlich realisierte Schleusen. Im »Grundmodell C« hingegen ist nur eine phantastische Sekundärwelt verwirklicht, die gleichwohl die reale Welt des Autors widerspiegeln kann (vgl. Gansel 1998, 599–600). Einen weniger am Raummodell orientierten Ansatz vertritt Gerhard Haas (1978), der im Anschluss an Claude Lévy-Strauss Phantastik als eine Form des »wilden Denkens« definiert, also ein dem logisch-begrifflichen Denken entgegengesetztes bildlich-intuitives Denkverfahren. Diese »maximalistische« Definiti-
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on des Phantastischen Schreibens umfasst auch die Gattungen Märchen, Sage und Science Fiction, die die meisten anderen Definitionen ausklammern. Der vorliegende Beitrag geht jedoch davon aus, dass es sich hierbei um getrennte literarische Phänomene handelt, die klar unterscheidbaren ästhetischen Prinzipien folgen. Die sogenannte High Fantasy hingegen wird als Teil der Phantastik betrachtet und im Abschnitt zur Typologie näher definiert werden. Im Gegensatz zur minimalistischen Definition nach Todorov basieren maximalistische Definitionen auf der Grundannahme, dass sich phantastisches Schreiben durch den Verstoß gegen die Regeln der Naturgesetze konstituiert. Dies wird dann problematisch, wenn es sich um sogenannte »ahistorische« maximalistische Definitionen handelt (Durst 2007, 29–30), die den Entstehungszeitraum eines Textes und das ihm zugrundeliegende Weltbild ignorieren. Schließlich verletzen etwa biblische Erzählungen und Mythen nach ihrem Selbstverständnis überhaupt keine Naturgesetze, da in ihrem Naturbegriff göttliches bzw. übernatürliches Wirken eingeschlossen ist. Dies gilt natürlich nicht für Märchen, da diese auf dem literarischen Vertrag des Fiktiven basieren. Der magische Realismus als Abgrenzungsproblem Ein Abgrenzungsproblem stellt in diesem Zusammenhang der Bereich des magischen Realismus dar. Eingeführt als ein Begriff der bildenden Kunst von Franz Roh zur Zeit der Weimarer Republik, wurde der magische Realismus ab Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem mit Werken südamerikanischer Autoren in Verbindung gebracht. So bezieht sich der von Alejo Carpentier geprägte Begriff »lo realismo maravilloso« (= »marvellous realism«) auf die südamerikanische Literatur, die durch unterschiedliche kulturelle Einflüsse und Erfahrungen sowie eine tiefe Verwurzelung in den verschiedenen indigenen Glaubenssystemen geprägt ist (vgl. Bowers 2004, 14–15). Mittlerweile hat der Begriff eine immer stärkere Ausweitung erfahren. In Werken, die heute dem magischen Realismus zugerechnet werden, findet eine Integration magischer Elemente in eine ansonsten grundsätzlich realistische, bzw. mimetische Art der Darstellung statt. Der Unterschied zur phantastischen Literatur besteht darin, dass im magischen Realismus diese übernatürlichen Phänomene nicht als Bruch mit der Ordnung der erzählten Welt konzipiert sind, sondern dass dieser vielmehr ein »magi-
sches« Weltbild zugrunde liegt, in dem Magie nicht als Störung angesehen wird. Rawdon Wilson spricht hier von der Koexistenz zweier literarischer Codes, die miteinander verwoben sind, ohne dass sie sich bis zur Ununterscheidbarkeit auflösen (vgl. 1995, 212). Die Anwendbarkeit dieses Konzeptes auf die Kinderliteratur unter Beibehaltung der Zwei-Welten-Mo delle ist nicht unproblematisch. So ist es theoretisch einigermaßen schwierig zu begründen, wieso David Almonds Roman Zwischen gestern und morgen (Kit’s Wilderness, engl. 1999; dt. 2000) nun dem magischen Realismus zugerechnet werden soll und nicht dem Modell einer offenen magischen Sekundärwelt im Sinne Nikolajevas. Hilfreich können hier das Kriterium der für den magischen Realismus typischen Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart sowie der starke Ortsbezug dieser Texte sein. In der Erzählung werden die Handlungsorte somit zu Mnemotopen, Orten, an denen sich Geschichte und Erinnerung konzentrieren, Veränderung und Kontinuität ebenso wie sakrale und profane Zeit nebeneinander bestehen können. Abgrenzung zum Märchen und zur Sage Eine Abgrenzung der phantastischen Literatur zum Märchen und zur Sage ist allein schon deswegen nötig, weil frühe Definitionen wie die von Tolkien keine eindeutige Abgrenzung vornehmen. Verkompliziert wird die Lage dadurch, dass zahlreiche Texte der phantastischen Kinderliteratur Stoffe oder Motive aus dem Bereich von Märchen und Sage entlehnen, ohne dass sie selbst unbedingt diesen Genres zuzurechnen wären. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass das Übernatürliche im Märchen selbstverständlicher Teil der erzählten Welt ist, während das in der phantastischen Literatur nicht der Fall sein muss. Weiterhin zeichnet sich das Volks- bzw. Buchmärchen im Gegensatz zur phantastischen Literatur durch seine Eindimensionalität aus, die handelnden Figuren besitzen keine psychologische Tiefe und erscheinen typenhaft (vgl. Petzold 2000, 249–250). Anders als die meisten Märchen weisen Sagen einen direkten historischen oder lokalen Bezug auf, was auch ihren Anspruch auf Abbildung der Wirklichkeit betont. Hier ist nämlich das Übernatürliche kein akzeptierter Teil der erzählten Welt, sondern wird als außergewöhnlich und erschreckend wahrgenommen (s. Kap. 16). In Märchen und Sagen entsprechen zudem Handlungsablauf, Personal und im Text erwähnte Objekte in
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der Regel narrativen Funktionen, während in der phantastischen Literatur der Wirklichkeitseffekt durch die Einbeziehung von beschreibenden oder ausschmückenden Details erreicht wird, die keine unmittelbare narrative Funktion haben. Kunstmärchen entsprechen ihrer Tendenz nach den Volksmärchen, können jedoch eine größere narratoästhetische Komplexität aufweisen, weswegen die Abgrenzung zur phantastischen Literatur manchmal schwerfällt (zur Problematik der Abgrenzung zwischen Volks- und Kunstmärchen s. Kap. 15 sowie Neuhaus 2005, 3–4).
14.3 Historische Entwicklungen Der folgende Überblick über die Geschichte der kinderliterarischen Phantastik fokussiert die Entwicklung in der westdeutschen Kinderliteratur. Allerdings wird an geeigneter Stelle auf bedeutende Werke und Autoren der DDR sowie Österreichs und der Schweiz verwiesen. Phantastische Literatur für Kinder hat im deutschsprachigen Bereich eine weitaus geringere Tradition als etwa im englischsprachigen Bereich. Ein frühes Beispiel ist E. T. A. Hoffmanns Erzählung Nußknacker und Mausekönig (1816), deren Düsternis und Ambivalenz wiederholt dazu führten, dass ihr die Eignung als Kinderlektüre abgesprochen wurde. Insgesamt wurde Hoffmanns Werk kinderliterarisch nur wenig rezipiert, anders als etwa im englischsprachigen Raum (vgl. Weinkauff/Glasenapp 2018, 109). Ewers verweist jedoch auf die modellbildende Wirkung seiner Erzählung Das fremde Kind (1817), die zusammen mit Ludwig Tiecks Die Elfen (1811) den Prototyp einer kinderliterarischen »Elfen- bzw. Feenkindfigur« erschafft (Ewers 2013, 250), als dessen Nachfolger Figuren wie Peter Pan, Pippi Langstrumpf, Wiplala und Momo zu verstehen sind. Während sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine verstärkte Produktion an Kindermärchen feststellen lässt, trifft dies auf phantastische Erzählungen weniger zu. In der Nachkriegszeit, die im Bereich der Kinderliteratur durch restaurative Tendenzen gekennzeichnet ist, erscheinen eine Reihe von phantastischen Romanen für Kinder, die auf Figuren, Schauplätze und Handlungselement der Märchen- und Sagenwelt zurückgreifen, wobei es sich in der Regel um den Bereich der Grimmschen Märchen handelt. Die verstärkte Übersetzung fremdsprachiger Kinder- und Jugendliteratur wirkt sich auch auf die phan-
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tastische Literatur impulsgebend aus. Während im Westen die zum Teil phantastischen Werke von Astrid Lindgren (Pippi Langstrumpf [Pippi Långstrump], schwed. 1945; dt. 1949, Mio mein Mio [Mio min Mio] schwed. 1954; dt. 1955, Lillebror und Karlsson vom Dach [Lillebror och Karlsson på taket] schwed. 1955; dt. 1957) große Wirkungsmacht entfalteten, fand in der DDR aufgrund der fehlenden Übersetzungsrechte eine breitere Rezeption Lindgrens nicht statt. So verweist Caroline Roeder (2006) darauf, dass die kinderliterarische Phantastik in der DDR ihren Durchbruch erst in den 1970er Jahren hatte. Prägend für die Kinderliteratur der BRD waren unter anderem die Bücher von Otfried Preußler (Der kleine Wassermann [1956], Die kleine Hexe [1957], Das kleine Gespenst [1966]). Trotz der Verwendung von Figuren der Sagen- und Märchenwelt handelt es sich hier um Kinderromane, die entweder ein offenes oder implizites Zwei-Welten-Modell verwenden. Der Alltagswelt der Menschen ist eine phantastische Welt gegenübergestellt, sei es nun die der Wassermänner, Gespenster oder Hexen. In dieser Welt geschieht zwar aus der Menschenperspektive Übersinnliches, dennoch gibt es feste Regeln und magische Gesetze, deren Verletzung auch drastische Folgen haben kann: So begibt sich das kleine Gespenst beispielsweise am Tag in den Sonnenschein und wird daraufhin schwarz. Die phantastischen Figuren in Preußlers Kinderromanen haben in der Regel kindliche Züge, sie interagieren am erfolgreichsten mit menschlichen Kindern und ihre Probleme spiegeln diejenigen von Kindern wider. Dabei geht es im Subtext immer wieder um die Frage der Anpassung an gesellschaftliche Regeln der (menschlichen oder magischen) Erwachsenenwelt und inwieweit diese übertreten werden können oder müssen, wenn das moralisch richtige »gute« Handeln wie im Fall der kleinen Hexe diesen Regeln zuwiderläuft. Tatsächlich dient der phantastische Modus bei Preußler immer der Vermittlung einer moralischen Botschaft und die Handlung der Exemplifizierung moralisch »richtigen« Handelns und ist somit charakteristisch für die phantastische Kinderliteratur seiner Zeit. Als Wendepunkt in der Entwicklung der deutschsprachigen kinderliterarischen Phantastik lässt sich sicherlich das Erscheinen von Michael Endes Die Unendliche Geschichte (1979) beschreiben. So löste der enorme Verkaufserfolg des Romans eine neuerliche Debatte über den literarischen Wert phantastischer Literatur aus, an deren Ende durchaus eine stärkere Akzeptanz wahrnehmbar scheint (vgl. Kaminski 2002). Allerdings handelt es sich bei der Unendlichen
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Geschichte um eine klassische Zwei-Welten-Konstruktion, die mit der High Fantasy (s. den Abschnitt zur Typologie) die Quest-Struktur und das Initiationsthema, nicht aber das geschlossene Raummodell gemeinsam hat. Die zahlreichen intertextuellen Bezüge zur deutschen Romantik hingegen verweisen auf Endes Bemühungen, an eine phantastische Tradition innerhalb der deutschen Literatur anzuknüpfen. Tolkiens Romane selbst waren zuvor erst mit starker Verspätung in Deutschland rezipiert worden. So wurde Tolkiens originärer Kinderroman Der kleine Hobbit (The Hobbit or There and Back Again, engl. 1937) erst 1957 ins Deutsche übersetzt und die Herr der RingeTrilogie (The Lord of the Rings, engl. 1954–1955) erschien 1969–1970 erstmals in deutscher Sprache. Infolge des Paradigmenwechsels zur problemorientierten bzw. antiautoritären Kinder- und Jugendliteratur in der Kinderliteratur erscheinen auch phantastische Romane für Kinder und Jugendliche, die eine gesellschaftskritische Haltung einnehmen. Hierzu zählen neben den Romanen von Nöstlinger auch die von Paul Maar. So tritt in dessen Sams-Büchern (seit 1973) das titelgebende Fabelwesen als Vertreter einer kindlichanarchischen Gegenwelt in das Leben des braven Herrn Taschenbier ein und stellt mit seinen ebenso phantasievollen wie respektlosen Sprachspielereien die Gegebenheiten der Erwachsenenwelt in Frage. In den Bereich der spekulativen Literatur fallen die Romane von Gudrun Pausewang (Die Kinder von Schewenborn [1983], Die Wolke [1987]), die eine dystopische Zukunftsvision als Warnung vor den Gefahren der atomaren Aufrüstung und der Kernenergie entwerfen. Gleichsam als Gegenbewegung zur problemorientierten Kinderliteratur der 1970er und 1980er Jahre lässt sich die aufkommende Popularität von Fantasyromanen interpretieren. Eine deutliche Anknüpfung an die englischsprachige Fantasy unternehmen die Romane von Wolfgang und Heike Hohlbein, die ab den 1980er Jahren kommerziell äußerst erfolgreich sind. Die Romane folgen für gewöhnlich den gängigen Handlungsschemata der Fantasy. Sie kreisen um einen strikten Gut-Böse-Antagonismus, der durch die kindlichen Protagonisten in der Rolle der Auserwählten im Sinne der guten Seite entschieden wird, häufig unter Verwendung der bekannten Quest-Struktur, wodurch die anfänglich eingeführte Störung behoben wird. Die Verwendung bekannter Motive und Topoi der Fantasy in nur geringer Variation muss als epigonal charakterisiert werden und die Hohlbein-Romane überschreiten nicht selten die Grenze zur Trivialliteratur. Eine andere Form des Umgangs mit dem Arsenal
fantasytypischer Handlungsmuster und Motive weisen die Scheibenwelt-Romane von Terry Pratchett auf (Discworld, engl. 1983–2015; dt. 1992–2015), die durch ihre parodistische Komik mit Genrekonventionen spielen. Während die Scheibenwelt-Romane mehrheitlich an Erwachsene adressiert sind, wenden sich einige von Pratchetts Romane auch gezielt an Kinder und Jugendliche (Johnny Maxwell-Trilogie, engl. 1992–1994; dt. 1994–1997, Dunkle Halunken [Dodger], engl. 2012; dt. 2015). Ein deutschsprachiger Vertreter der parodistischen Phantastik ist Walter Moers, dessen Romane sich durch den Einsatz metafiktionaler und intertextueller Elemente auszeichnen und sich sowohl an Erwachsene als auch an Kinder und Jugendliche richten (etwa Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär [1999]). Das Erscheinen der Harry Potter-Reihe von J. K. Rowling (engl. 1997–2007; dt. 1998–2007) löste auch in Deutschland eine neue Phantastikwelle aus und bereitete sicherlich auch den Weg für den Erfolg deutschsprachiger Phantastik. Die deutsche Autorin Cornelia Funke schreibt seit den 1980er Jahren neben realistischen auch phantastische Erzählungen für Kinder und Jugendliche (Kein Keks für Kobolde [1989], Drachenreiter [1997]). Ihre phantastischen Jugendromane Herr der Diebe (2000), die Tinten-Trilogie sowie die Reckless-Romane (2010–2015) waren internationale Verkaufserfolge. Die Bücher der Tinten-Trilogie zeichnen sich durch ein hohes Maß an markierter und unmarkierter Intertextualität (s. Kap. 35) aus und nehmen das Motiv des Buches als magisches Artefakt, das die Grenze zwischen der magischen und der Alltagswelt markiert, wieder auf. Seit den 1990er Jahren veröffentlichen Autoren wie Kai Meyer äußerst erfolgreich Romane, die sich eher an der internationalen Fantasyliteratur orientieren als an einer spezifisch deutschsprachigen Phantastiktradition. Die Zeitreiseromane von Kerstin Gier wiederum greifen das Rezept der populären Fantasy Romance auf, das Stephenie Meyers BissRomanen (Twilight, engl. 2005–2008; dt. 2006–2009) immensen Erfolg verschaffte. Übersetzungen vor allem aus dem Englischen üben nach wie vor einen starken Einfluss auf die Rezeption und Produktion kinderliterarischer Phantastik in Deutschland aus.
14.4 Typologien Phantastisches Schreiben umfasst eine Reihe von Genres und Gattungen, die sich auch überschneiden können. So betont Ulf Abraham, die zuvor oft überbetonten Differenzen zwischen den einzelnen Sub-
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genres seien aus einer zeitgenössischen intermedialen Perspektive »zwar nicht eingeebnet, aber weniger klar zu ziehen« (Abraham 2014, 6) und Weinkauff/Glasenapp stellen fest, dass die nach 1970 erscheinende phantastische Literatur für Kinder zunehmend Elemente anderer Genres wie des Abenteuerromans, der Reiseerzählung, des historischen Romans, des psychologischen Romans sowie des Kriminal- und Schülerromans aufweist (2018, 103). Ein weiteres, besonders in der Kinderliteratur vertretenes Genre ist zudem das der phantastischen Tiergeschichte. Ebenfalls um ein Subgenre handelt es sich bei der Fantasy. Da dieser Begriff jedoch im englischsprachigen Bereich für phantastische Literatur im Allgemeinen verwendet wird, kommt es hier zu Unklarheiten, weswegen hier eine kurze Begriffsklärung unternommen wird. Charakteristika (heroischer) Fantasy Als Fantasyromane bezeichnet man in der deutschen Forschung solche Texte, die eine meist geschlossene Sekundärwelt konstruieren, in der Magie zu den als selbstverständlich akzeptierten Gesetzen gehört (vgl. ebd., 102) Da dies die Unterscheidung zum Märchen erschwert, wird häufig auch auf inhaltliche und strukturelle Gemeinsamkeiten verwiesen, die das Genre prägen. Hierzu zählen etwa der Rückgriff auf mythologische Stoffe und Motive, thematische Anbindung an die Artus-Epik (vgl. Rank 2016, 172) sowie die häufige Dominanz des Gut-gegen-Böse Motivs. Häufig auftretende Motive wie das des Auserwählten oder die Konstruktion einer an europäischen Gesellschaften des Mittelalters orientierten Sekundärwelt sind bei der thematischen Breite der heutigen Fantasy nicht als Definitionsmerkmale geeignet. So hat sich etwa in den letzten Jahren die Subkategorie der Urban Fantasy herausgebildet, die durch übernatürliche Gesetze geleitete urbane Schauplätze aufweist. Hiervon zu unterscheiden ist die klassische High Fantasy, zu deren Merkmalen ein an der Quest-Struktur orientiertes Handlungsmuster gehört, das häufig in Verbindung mit der Initiationsthematik auftaucht. Dieses Handlungsschema fällt in das von Joseph Campbell beschriebene Muster der »Reise des Helden«, das besonders im anglo-amerikanischen Raum weit über den akademischen Bereich hinaus rezipiert wurde (vgl. Campbell 2008, 41–215). Verbunden mit dem Motiv der Reise oder Suche ist auch die Figur des (kindlichen bzw. jugendlichen) Auserwählten, dem die Rettung seiner fiktionalen Welt oder zumindest die Bewältigung einer scheinbar unlösbaren Aufgabe
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zufällt, was mittlerweile schon eher zu den Genreklischees gerechnet werden muss. Die Reise des Helden ist geprägt durch die initiatorische Trias von Ausgang/ Aufbruch des Helden, einem Aufenthalt in der Fremde, der durch verschiedene Prüfungen und Auseinandersetzungen gekennzeichnet ist, sowie der Rückkehr des Helden, der innerlich gereift und oft mit einem Wundermittel o. Ä. versehen, in seine Heimat zurückkehrt oder – in einer Variante des Musters – in einen neuen, übergeordneten Raum eingeht. Dies kann auch in Form einer apotheotischen Entrückung geschehen. Campbells Grundannahme eines »Monomythos« (vgl. Campbell 2008, 1–18) gilt zwar aus wissenschaftlicher Sicht als längst widerlegt, aber gerade der Universalitätsanspruch seines Modells und dessen Präsenz in zahlreichen kommerziell erfolgreichen Filmen und Romanen haben ihm eine bislang anhaltende Popularität beschert. Die beschriebenen Muster sind aber bei Weitem nicht auf Romane mit geschlossenen Sekundärwelten beschränkt, sondern findet sich auch in den NarniaBüchern von C. S. Lewis (The Chronicles of Narnia, engl. 1950–1956; dt. 1957–1982), den magisch-realistischen Romanen von Almond oder der Tinten-Trilogie von Funke: Der Dualismus von Gut und Böse, das nicht selten personifiziert ist, gehört zu ihrem spezifischen Motivkreis, ebenso wie die Verwendung von Sagenelementen oder mythologischer Motive und Stoffe, die auf mal epigonale, mal äußerst kreative Weise in die erzählte Welt integriert werden. Doppeladressierung, Crossover und All-AgeLiteratur Ein Trend, der sich ungefähr ab den 1990er Jahren und dem immensen Erfolg der Harry Potter-Bücher datieren lässt, ist das Phänomen der Crossover- bzw. AllAge-Literatur, das auch die phantastische Literatur betrifft (s. Kap. 2). Hierbei handelt es sich nicht um die Herausbildung eines Subgenres mit eigenen narratoästhetischen Merkmalen, sondern um eine Tendenz in der Adressierung wie auch in der Vermarktung von Texten verschiedenster Subgenres. Beispielsweise richten sich Moers’s Zamonien-Romane (seit 1999) gleichermaßen an erwachsene wie an jugendliche Leser. Aber auch die Tintenwelt-Romane von Funke sowie ihre Reckless-Trilogie weisen eine doppelte Adressierung auf und werden von den Verlagen entsprechend vermarktet. Gleiches gilt für die Romane von Gier, wobei in diesem Fall die Grenzen zur trivialen Jugend- bzw. zur sogenannten Frauenliteratur verschwimmen.
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14.5 Narratoästhetik Phantastisches Erzählen in der Kinderliteratur äußert sich auf literarästhetischer Ebene auf äußerst vielfältige Weise. Daher lässt sich auch keine allgemeingültige Beschreibung phantastischer Narratoästhetik erstellen. Vielmehr werden im Folgenden einige für die Kinderliteratur in Deutschland besonders prägende Aspekte aufgegriffen. Die phantastische Welt als Chiffre kindlicher Erfahrungswelt Ein Motiv, das besonders häufig in der Kinderliteratur der Nachkriegszeit auftritt, ist der Entwurf einer phantastischen Sekundärwelt, sei sie nun offen, geschlossen oder implizit, die als Spiegel bzw. Chiffre der kindlichen Erfahrungswelt an sich fungiert. Oft ist diese betont idyllisch gestaltet und wird von Figuren aus der Märchenwelt oder aber lebendigen Spielzeugfiguren oder Tieren bevölkert. Diese Verschränkung vom Raum der Kindheit mit einem idyllischen Garten Eden knüpft an das romantische Kindheitsbild sowie an die Rousseausche Vorstellung vom Kind als präzivilisatorischen Naturwesen an. In der Kinderliteratur ist sie in Werken von Kenneth Grahame und A. A. Milne vertreten, die auch im deutschsprachigen Bereich rezipiert wurden. Preußlers Kinderbuchwelten wie die vom Räuber Hotzenplotz (1962–1973), die das Personal eines Kasperletheaters verwendet, oder Endes Roman Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1960), dessen Schauplatz Lummerland dem Radius einer Spielzeugeisenbahn entspricht, stehen in dieser kinderliterarischen Tradition. Das Phantastische als Kipp-Phänomen kindlicher Wahrnehmung Eine verwandte ideologische, wenn auch nicht notwendig räumliche, Konstruktion weisen die Texte auf, in denen das Phantastische als Kipp-Phänomen kindlicher Wahrnehmung auftritt. Bereits in Hoffmanns Nußknacker und Mausekönig bleibt offen, ob das phantastische Geschehen tatsächlich stattfindet oder nur in der Wahrnehmung der Protagonistin Marie Stahlbaum (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012, 84–85). Diese Form der Darstellung wird in Deutschland aber erst vergleichsweise spät von der kinderliterarischen Phantastik wieder aufgenommen (vgl. Ewers 2013, 253). So konstatiert auch Gansel, »[d]er Versuch einer literarischen Darstellung auch der kindlichen ›Nachtsei-
ten‹ (Ich-Thema) ist ein Indiz für die literarische Modernität eines Textes.« (Gansel 1999, 97 Herv. i. Orig.). Ein Beispiel ist etwa Christoph Heins Das Wildpferd unterm Kachelofen (1984), das gezielt mit der Wahrnehmung der Protagonisten und Leser spielt. So ist am Text nicht abschließend auszumachen, ob die intradiegetischen Geschichten, die der erwachsene Ich-Erzähler von dem Jungen Jakob Borg erzählt bekommt, auf der Ebene der Diegese wirklich passieren oder ob es sich um die Erfindungen eines einsamen Jungen handelt. Der Erzähler selbst nimmt eine ambivalente Position ein, indem er dem Leser seine eigene Bewertung dieser Binnenerzählungen nicht verrät, sodass dieser im Zweifel bleibt, ob von ihm in diesem Fall eine ›suspension of disbelief‹ erwartet wird oder nicht. Dieser bleibende Zweifel hebt das Werk auch von seinem kinderliterarischen Prätext, Milnes Pu, der Bär-Romanen (Winnie-the-Pooh, engl. 1926; dt. 1928 und The House at Pooh Corner, engl. 1928; dt. 1954), ab. In Milnes Romanen erfindet der väterliche Erzähler Geschichten für und mit seinem kleinen Sohn Christopher Robin, dessen Spielzeugfiguren ausschließlich in dem narrativen Raum der Intradiegese ein eigenes Leben führen. Auch in Das Herz des Piraten (1985) von Benno Pludra bleibt es dem Ermessen des Lesers überlassen, ob die Erlebnisse der Protagonistin Jessi Ausdruck ihrer Sehnsucht nach einem Vater oder phantastisches Geschehen sind. Der ungewöhnlich warme und leuchtende Stein, den Jessi am Strand findet und der ihr erzählt, er sei in Wirklichkeit das Herz eines Piraten, könnte auch nur ein einfacher Stein sein, der einzig in Jessis Vorstellung zu ihr spricht. Wie Gansel ausführt liegt »das Besondere des Textes [...] darin, dass es keine rationale Auflösung des Konfliktes und die Entscheidung für eine Leseweise gibt.« (Gansel 1999, 99) Diese Unentscheidbarkeit macht Pludras Roman somit zu einem der eher seltenen Beispiele für genuin phantastische Literatur im Sinne Todorovs in der deutschen Kinderliteratur. Politisches und gesellschaftskritisches Potential Die phantastische Literatur war und ist in Deutschland dem Vorwurf des Eskapismus ausgesetzt. So sah sich Ende im Zuge des großen Erfolgs seines phantastischen Romans Die Unendliche Geschichte wiederholt Angriffen ausgesetzt, die sein Werk als Ausdruck von Weltferne und Realitätsflucht kritisierten (vgl. NickelBacon 2008, 398–399). Dieser Argumentation steht jedoch entgegen, dass einige der bedeutendsten phantastischen Werke für
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Kinder eine dezidiert politische oder gesellschaftskritische Position einnehmen. So setzt sich etwa Preußler in Krabat (1971) mit der Verführbarkeit junger Menschen durch die Macht auseinander. Für seinen Protagonisten Krabat ist es die Aussicht auf Einfluss und Macht, die ihn dazu antreibt, in der Zauberschule auf der Schwarzen Mühle zu lernen. Dass der Pakt mit dem Müller gleichzeitig ein Pakt auf Leben und Tod ist, wird ihm erst später klar. Denn der Meister steht selbst in einem Bund mit dem teuflischen Gevatter, der von ihm jedes Jahr eine Seele verlangt. Die knochenmahlende Mühle und der Bund mit der Macht sind vom Autor ausdrücklich als Analogie zur deutschen Vergangenheit angelegt (vgl. Preußler 1998, 177). Käthe Recheis behandelt in Der weiße Wolf (1982) ebenfalls das Thema der Verführung durch eine mächtige Führerfigur. Auch der »Große Gond« ist ein charismatischer Redner, der von den »Söhnen Gonds« unterstützt wird, einer militärischen Jugendorganisation, die unter einer Fahne mit einem unverkennbar auf die Swastika verweisenden »Sonnensymbol« marschiert. Die Aran ähneln nicht nur namentlich den Ariern. Auch diese blauäugigen blonden Riesen vertreten die Idee, einem überlegenen Volk anzugehören, was in ihren Augen die Unterwerfung des friedfertigen Naturvolks der Dinadan rechtfertigt. Recheis entlässt jedoch nicht den Einzelnen aus seiner Verantwortung. Während in Krabat die Kette der wechselseitigen Abhängigkeiten von einer unmenschlichen Macht des Bösen durchaus einem gewissen Entschuldungsbedürfnis der Generation des Autors entgegenkommen mag, wird bei Recheis unmissverständlich klargestellt: »es ist nicht der Meister, der uns schuldig macht, wir sind es, die schuldig werden« (Recheis 2003, 324). Beispielhaft für die sozialkritische Tendenz in der phantastischen Literatur für Kinder sind die antiautoritären Kinderromane von Nöstlinger, in denen das Phantastische häufig als parodistisches Element auftaucht (Wir pfeifen auf den Gurkenkönig, Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse [1975]). Die Verzerrungen, die hier entstehen, verweisen auf gesellschaftliche Missstände, indem sie sie bis ins Groteske steigern. Auch Ende nutzt die Verwendung phantastischer Elemente zur Gesellschaftskritik: In Momo (1973) stehlen die grauen Herren den Menschen ihre Zeit, indem sie sie zu sinnlosem Konsum und Karrierismus anstacheln. Es wäre jedoch verfehlt, ausschließlich der (antiautoritären, emanzipatorischen) Literatur ab den 1970er Jahren ein gesellschaftskritisches Element zu-
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zusprechen. So nehmen auch die früher entstandenen Romane von James Krüss eine deutlich gesellschaftskritische Haltung ein. In Timm Thaler oder das verkaufte Lachen (1962) ist der Teufel ein weltweit erfolgreicher Unternehmer, der die Methoden der modernen Werbeindustrie ebenso zu nutzen weiß wie die Möglichkeiten eines globalisierten Welthandels. Die Schwelle als Strukturmerkmal Ein strukturell und motivgeschichtlich bedeutsames Element phantastischer Romane, die durch ein offenes Zwei-Welten-Modell strukturiert sind, ist die Schwelle zwischen den beiden Welten bzw. komplementären Räumen. Gansel verweist auf die Bedeutung der sogenannten Schleusen, die den Übergang zwischen realistisch gestalteter und phantastischer Sekundärwelt markieren, während Nikolajeva diese als eigene Phantaseme einordnet. Strukturell ist es unerheblich, ob die Schwelle im Text nun als Linie im Raum, Durchgang, magisches Objekt bzw. Artefakt oder möglicherweise durch eine Figur selbst realisiert ist. Wesentlich ist, dass sich hier in einem Element die Grenze zwischen zwei gegensätzlichen Räumen manifestiert, wodurch eine Passage überhaupt erst möglich wird. Der liminale Status dieser Elemente verweist auch auf den ambivalenten Status der Figuren, die sie überqueren und somit in einen fremden Raum eintreten. Häufig verbindet sich mit dieser Form der Grenzüberschreitung auch das Handlungsmuster der Initiation bzw. des Coming-of-Age (vgl. Kurwinkel 2014). Diese Verbindung verweist unter anderem auf die zahlreichen Heldenmythen, die der phantastischen Literatur oft als Prätext dienen.
14.6 Inter- und transmediale Aspekte Wie die gesamte Kinderliteratur ist auch die phantastische Literatur für Kinder in Deutschland seit den 1980er Jahren durch eine zunehmende Einbindung in den Medienverbund geprägt. Wie Abraham anmerkt, ist das Phantastische zwar geprägt »durch eine lange buchliterarische Vorgeschichte, aber es ist längst trans- und intermedial« (Abraham 2014, 5). Literarische Texte erscheinen heutzutage nicht nur in Buchform, sondern auch als Hörspiel-, Film- und Fernsehadaptionen, die wiederum durch Soundtracks, HomeVideo-Versionen oder Computerspiele und schließlich die Neuauflage der Buchvorlage als Movie Tie-In weitervermarktet werden können. Diese wechselseiti-
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
gen Verbindungen wirken sich nicht nur nachhaltig auf die Produktion, sondern auch auf Rezeption kinderliterarischer Phantastik aus. Bereits die Hollywood-Verfilmung von Endes Die unendliche Geschichte, die vom Autor bekanntlich vehement abgelehnt wurde (vgl. Kurwinkel 2016, 29– 31), war ein großer kommerzieller Erfolg gewesen, der sich aber wirkungsästhetisch kaum niederschlug. Prägend war hingegen die Adaption von Krüss’ Roman Timm Thaler oder das verkaufte Lachen, der 1979 unter der Regie von Sigi Rothemund als dreizehnteilige Weihnachtsserie für das ZDF verfilmt wurde. Der immense Erfolg der Serie zog bis heute diverse Crossmedia-Verwertungen nach sich, zu denen u. a. ein Hörspiel nach der Serie, ein Soundtrack und der Verkauf als DVD zählen. 2017 kam eine Neuverfilmung unter der Regie von Andreas Dresen in die Kinos, die sich sowohl auf die Romanvorlage von Krüss als auch auf die Rothermund-Serie bezieht (so taucht etwa der frühere Hauptdarsteller der Serie, Thomas Ohrner, in einer kleinen Rolle auf). Erfolgreiche Verfilmungen phantastischer Kinderromane können über den kinderliterarischen Markt hinaus prägend wirken. Auch hier sind – neben den eher auf ein erwachsenes Publikum ausgerichteten Herr der Ringe-Verfilmungen von Peter Jackson (2001– 2003) – wieder die Harry Potter-Filme (2001–2011) zu nennen, deren Ästhetik stilprägend wirkte. Internationale Blockbuster kinderliterarischer Klassiker wie Der König von Narnia (Andrew Adamson, 2005) oder Der goldene Kompass (Chris Weitz, 2007)haben sicherlich dazu beigetragen, dass auch im deutschsprachigen Bereich aufwändige Verfilmungen von phantastischen Kinderbüchern produziert werden (Krabat; 2008 unter der Regie von Marco Kreuzpaintner). Freilich ist der Fall einer Hollywood-Verfilmung eines deutschsprachigen Kinderbuchs wie die von Funkes Tintenherz (Iain Softley, 2008) als Ausnahme zu betrachten. Seit den 1990er Jahren umfasst die CrossmediaVerwertung erfolgreicher kinderliterarischer Produkte auch zunehmend den Bereich der Computerspiele, deren Ästhetik und Plotlines wechselseitig auch die Literatur beeinflussen. Bereits die genreprägende Herr der Ringe-Trilogie von Tolkien fällt durch ihre wahrhaft epische Breite und die formale Anlage als Mehrteiler auf. Das Prinzip der Buchreihe findet sich auch in originär kinderliterarischer Phantastik. Das Erscheinen der Harry PotterBände gab diesem Format noch einen weiteren Schub, zumal es sich um ein für die Verlage äußerst lohnendes Verkaufsmodell handelt. Dementsprechend erschei-
nen seit der Jahrtausendwende vermehrt Romane entweder als abgeschlossene Buchreihen oder – in der kommerziell erfolgversprechendsten Variante – als nahezu unendlich verlängerbare Buchserie. Ein Beispiel für letzteres Modell ist der immense Verkaufserfolg der von einer unter dem Pseudonym Erin Hunter schreibenden Autorengruppe verfassten Warrior CatsSerie (engl. seit 2003; dt. seit 2008). Primärliteratur
Recheis, Käte: Der weiße Wolf [1982]. München 122003.
Sekundärliteratur
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Hadassah Stichnothe
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
15 Märchen 15.1 Einleitung Märchenbücher finden sich in der Kinderstube. Das scheint außer Frage zu stehen. Schon in ihrer ersten Ausgabe von 1812 beziehen sich Jacob und Wilhelm Grimm mit dem Titel ihrer Märchensammlung Kinder- und Hausmärchen (KHM) auf den kindlichen Adressaten. Dabei betont Jacob Grimm in einem Briefwechsel mit Achim von Armin die Doppeladressiertheit der Sammlung: »Das Märchenbuch ist [...] gar nicht für Kinder geschrieben, aber es kommt ihnen recht erwünscht« (Grimm in Steig 1904, 271). In den folgenden Auflagen werden die KHM zur explizit sanktionierten Kinderliteratur, indem vor allem Wilhelm Grimm auf die von Armin artikulierte Kritik, einige Märchen seien ungeeignet für Kinder, eingeht (vgl. Steig 1904, 271): Er greift vor diesem Hintergrund redigierend und korrigierend in die Textsammlung ein, überarbeitet sie stilistisch und inhaltlich, ersetzt das Perfekt durch das Präteritum, fügt eine formelhafte, volkstümliche Sprache ein, entfernt die indirekte Rede sowie im bürgerlichen Sinne anstößige Inhalte und arbeitet die Motive aus (vgl. Lüthi 2004, 54; Rölleke 2010, 626; Uther 2006, 11). Im Folgenden werden vorerst die Bedeutung des Begriffs ›Märchen‹ sowie dessen verschiedene Untergattungen erläutert. Anschließend kommt die Entwicklung des Märchens, beginnend mit den KHM der Grimms, zur Sprache. Im Kapitel Typologie werden die thematischen und theoretischen Ansätze genannt, während das Kapitel Narratoästhetik das Volksmärchen vom Kunstmärchen anhand der gattungsbildenden Kriterien detailliert differenziert. Zuletzt soll am Beispiel des Märchens von Rotkäppchen die Intermedialität des Märchens skizziert werden.
15.2 Begriffsdefinitionen Der Begriff ›Märchen‹ leitet sich etymologisch von dem mhd. Wort ›maere‹ ab, das Bericht, Kunde, Gerücht, Erzählung bedeutet, wobei der Diminutiv ursprünglich negativ konnotiert war und auf den als Unwahrheit verstandenen Fiktionsgehalt der erzählten Begebenheiten im Märchen bezogen wurde (vgl. Lüthi 2004, 1). Angesprochen sind damit all jene erfundenen, übernatürlichen Elemente des Märchens, die den Natur- und Kausalgesetzen der realen Welt des Rezipienten folgend unmöglich sind: Hexen, Zwerge,
Zauberei, magische und/oder sprechende Gegenstände, sprechende Tiere und Gestirne. Wegen seiner wunderbaren Elemente steht das Märchen der phantastischen Literatur nah. Das Übernatürliche zeigt sich im Märchen weder im Kontext eines numinosen Erschreckens (Sage/Legende, s. Kap. 16), noch stellt es sich als mögliche Realität einer Zukunftsvision (Science Fiction) dar, noch führt es beim Leser zum Empfinden einer ›Unschlüssigkeit‹ (vgl. Todorov 1992, 26), wie in der phantastischen Literatur (s. Kap. 14). Das Übernatürliche im Märchen ist nicht das Wirken einer göttlichen oder fremden Macht, sondern selbstverständlicher Zauber der Natur, weshalb hier vom Wunderbaren, nicht vom Numinosen oder Phantastischen gesprochen wird. Das Wunderbare ist die natürliche Eigenschaft der fiktiven Märchenwelt, seine Figuren nehmen daran keinen Anstoß (vgl. Lüthi 1985, 8). Den Theorien der phantastischen Literatur folgend lassen sich Märchen zum einen dem Modell einer geschlossenen sekundären Welt nach Maria Nikolajeva zuordnen (vgl. Nikolajeva 1988, 36), zum anderen dem Grundmodell C nach Carsten Gansel (s. Kap. 14). Gleichzeitig behauptet sich das Märchen als eigenständige Gattung, gerade weil es von der sogenannten ›Eindimensionalität‹ (Lüthi 1985, 8) beherrscht wird (vgl. Glasenapp/Weinkauf 2014, 101): Es gibt nicht mehrere Welten, die einander gegenüberstehen, sondern nur die eine Welt, in der das Übernatürliche eine alltägliche Erscheinung ist. Das gilt zumindest für Märchen, wie sie die Brüder Grimm verschriftlicht haben, die sogenannten Volksmärchen. Grundsätzlich unterscheidet die Forschung zwischen ›Volks- und Kunstmärchen‹, darüber hinaus findet auch der Terminus ›Buchmärchen‹ Verwendung. Volks- und Kunstmärchen differenzieren sich im Umgang mit Zeit und Ort, der Gestaltung der Figuren und Charaktere, in ihrem Weltbild, in Sprache und Stil, ihrer Handlung und ihren Schauplätzen (vgl. Neuhaus 2005, 9). Maßgeblich bestimmt wird das Volksmärchen jedoch von der Vorstellung oraler Überlieferung und der damit verbundenen inhaltlichen sowie sprach-ästhetischen Veränderung bis zum Zeitpunkt seiner Verschriftlichung. Aus dieser Tradierung ergibt sich, dass kein einzelner namentlich bekannter Autor für das Volksmärchen genannt werden kann. Problematisch ist der Begriff Volksmärchen, weil er suggeriert, dass das einfache Volk die Erzählung kollektiv erfunden und im kollektiven Gedächtnis aufbewahrt hat. Es handelt sich um einen »Idealbegriff«,
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_15
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der sich aufs Engste mit der Sammeltätigkeit und der Idee der Brüder Grimm vom Märchen verbindet (Bluhm 2007, 472). Anders als der Begriff Volksmärchen Glauben macht, stammen nicht nur viele Texte der KHM aus der bürgerlichen Schicht, sondern auch aus schriftlichen Quellen (vgl. Lüthi 2004, 53; Rölleke 1992, 62; Rölleke 2010, 618). Zudem gibt es einige Märchen der KHM, die von bekannten Autoren nach dem Muster der Volksmärchen bearbeitete Stoffe sind und somit konkreten Verfassern zugeordnet werden können. Die von Philip Otto Runge verschriftlichten Märchen galten den Grimms als Vorbild (vgl. Rölleke 1992, 52). Vor diesem Hintergrund hat die Forschung in Abgrenzung zum Terminus ›Volksmärchen‹ die Begriffe ›Buchmärchen‹ (Bluhm 2007, 472; Bluhm 1995, 9) bzw. ›Gattung Grimm‹ (Jolles 1974, 219) geprägt. Jolles pointiert mit diesem Begriff, dass die KHM als »Maßstab« für Märchen gelten. Er definiert Märchen als Erzählungen »in der Art, wie sie die Gebrüder Grimm in ihren Kinder- und Hausmärchen zusammengestellt haben« (Jolles 1974, 219). Im Gegensatz zum Volksmärchen hat das Kunstmärchen einen namentlich bekannten Verfasser und wird von diesem schriftlich fixiert. Damit zählt es zur Individualliteratur und fällt, da es häufig auch stilistisch anspruchsvoll ist, ebenso unter die Hochliteratur. Bekannte Autoren von Kunstmärchen sind Goethe, Novalis, Ludwig Tieck, Clemens Brentano, E. T. A. Hoffmann, Adelbert von Chamisso, Wilhelm Heinrich Wackenroder, Joseph von Eichendorff, Wilhelm Hauff, Eduard Mörike und Theodor Storm (vgl. Zabka 2007, 414). Kunstmärchen stehen den Volks- bzw. Buchmärchen insofern nah, als sie sich volksmärchenhafter Motive bedienen. Während Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (1802) zur sanktionierten bzw. intendierten Jugendlektüre wird, bei der sich die Identifikation mit dem jugendlichen Protagonisten anbietet (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012, 43), zählt Hoffmanns Nussknacker und Mausekönig (1816) zur originären Kinder- und Jugendliteratur, da Hoffmann sein Kunstmärchen eigens für die Kinder eines Freundes verfasst hat. Angesiedelt ist die Erzählung in einer realistischen Alltagswelt, in die phantastische Elemente eindringen. Mit Hoffmanns Märchen wird deutlich, dass Kunstmärchen nicht am Kriterium der Eindimensionalität festhalten müssen. Vielmehr kann dieses Kriterium nur für die Volksmärchen geltend gemacht werden. Hoffmanns mehrdimensionale Kunstmärchen haben die phantastische Literatur in Europa nicht nur nachhaltig beeinflusst (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012, 46), sondern
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markieren auch den Beginn der phantastischen KJL in Deutschland (vgl. Weinkauff/Glasenapp 2018, 101).
15.3 Historische Entwicklungen Die Auseinandersetzung mit dem Märchen beginnt in Deutschland in der Romantik. Wenn es auch zuvor schon Märchen, Märchensammlungen und Texte mit Märchenmotiven gegeben hat – z. B. das GilgameschEpos, das AT der Bibel, Texte des griechischen und römischen Altertums sowie der mhd. und fr. Versepik (vgl. Poser 1991, 254) –, so setzt die eigentliche wissenschaftliche Beschäftigung mit Märchen erst mit den Brüdern Grimm ein. Die umfassende Sammelleidenschaft der Romantiker ist in Herders Idee von der Volkspoesie begründet. Seine Geschichtsphilosophie prägt ein neues Zeitverständnis, in dem historische Prozesse, analog zu Wachstums- und Verfallsprozessen, organisch gedacht werden (vgl. Schmitz-Emans 2016, 31). Onto- und Phylogenese des Menschen werden gleichgesetzt: Die Kindheit des Individuums verbindet sich so mit dem Beginn der Menschheit (vgl. Brunken/Hurrelmann/Pech 1998, 36). Demnach wird mit der Volkspoesie das Ursprüngliche und Vergangene verbunden, das im triadischen Geschichtsmodell der Romantiker das Positive repräsentiert: einen verlorenen Zustand, den es in einem neuen goldenen Zeitalter wiederherzustellen gilt. Märchen, Sagen, Legenden und Volkslieder sind Relikte dieser vergangenen goldenen Zeit, die im Zeichen der Suche nach dem Ursprünglichen durch Sammeltätigkeit konserviert und wiederbelebt werden sollen. Sie sind Ausdruck der viel beschworenen Naturpoesie (vgl. Rölleke 1992, 61; vgl. auch Bausinger 1999b, 1274). Von Arnims und Clemens Brentanos Sammlung volkstümlicher Lyrik Des Knaben Wunderhorn (1805– 1808) geht den KHM voraus. Vorbilder für Märchensammlungen finden die Grimms in der alten arabischen Märchensammlung Die Erzählungen von Tausendundein Nächten (8.–10. Jahrhundert) und in der europäischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts: Giovanni Francesco Straparolas Le Piacevoli notti (Die ergötzlichen Nächte, 1550–1553), Giambattista Basiles Lo cunto de li cunti (Pentamerone, 1634–1636) oder Charles Perraults Histoires ou contes du temps passé (Die Märchen, 1695/97). Deutschsprachige Vorläufer sind Christoph Martin Wielands Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva (1764), Dschinnistan oder auserlesene Feen- und Geistermärchen (1789) und Johann Karl August Musäus’ Volksmärchen der Deutschen
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
(1782–1787) (vgl. Freund 1996, 187). Zum Teil finden sich deutliche intertextuelle Bezüge in den KHM auf ihre Vorbilder (vgl. Rölleke 1992, 43; Rölleke 1998, 8). Angeregt wird die deutschsprachige Märchenproduktion durch den Einfluss der französischen Feen- und orientalischen Märchen, die Anfang des 18. Jahrhunderts in den Salonkreisen kursieren (Grätz 1988, 265). Die Auseinandersetzung der Aufklärung mit dem Aberglauben wird dabei zur Voraussetzung für die Akzeptanz des Wunderbaren und die Entwicklung des Märchens als eigener Gattung (ebd., 271). Wie die Volkspoesie verbindet sich auch das Kind mit dem Ursprünglichen. Kinder gelten den Romantikern als vorrationale Wesen intuitiver Weisheit, die der Poesie nahestehen, entsprechend pointiert Novalis »Wo Kinder sind, da ist ein goldenes Zeitalter« (Novalis 2005, 273). Kindheit und Volkspoesie stehen so auf besondere Weise zueinander in Bezug. Märchen und ihre kindlichen Rezipienten gehören per se zusammen. Doch nicht nur die Volkspoesie ist eine geeignete Lektüre für Kinder, sondern auch solche Werke, in denen »Kindheit als poetische Daseinsform begriffen« (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012, 43) wird, wie bei Tieck, Hölderlin oder Jean Paul. (Kunst-)Märchen der Kinderliteratur sind z. B. Hoffmanns Nussknacker und Mausekönig, Das fremde Kind (1817), Tiecks Die Elfen (1812), Lewis Carrolls Alice im Wunderland (Alice’s Adventures in Wonderland, engl. 1865, dt. 1869), Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz (Le petit prince, franz./engl. 1943, dt. 1950), Astrid Lindgrens Nils Karlsson-Däumling (Nils Karlsson Pyssling, schwed. 1949, dt. 1957), Otfried Preußlers Die kleine Hexe (1957), Michael Endes Momo (1973) und Gottfried Kellers Spiegel, das Kätzchen. Ein Märchen (1856), die Märchen-Almanache (1825/28) von Wilhelm Hauff sowie als aktuelles Beispiel J. K. Rowlings Die Märchen von Beedle dem Barden (The Tales of Beedle the Bard, engl./dt. 2008). Rowling inszeniert mit ihrem Werk eine Sammlung von fünf Volkserzählungen, indem sie die strukturellen und stilistischen Merkmale des Volksmärchens zitiert. Tatsächlich handelt es sich um Kunstmärchen, die in der phantastischen Welt von Harry Potter situiert sind. Märchen zählen zu den kanonischen Werken der KJL. In den 1970er Jahren hinterfragte die 68er-Generation vor dem Hintergrund antiautoritärer Bestrebungen den Wert der Märchen. Der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim rehabilitierte die Buchmärchen (vgl. Neumann 2005, 30), indem er die schon für von Arnim relevante Frage, ob Märchen trotz ihrer Grausamkeit kindgerecht sein können, neu beantwor-
tete. Seit den 1970er Jahren entstehen zahlreiche Parodien und Umarbeitungen. Für Rotkäppchen sind weit mehr als 700 Parodien verzeichnet worden (vgl. Kawan 2004, 860). Als Beispiel für die KJL wäre Janosch erzählt Grimms Märchen und zeichnet für Kinder von heute (1972) zu nennen. 2005 erklärt die UNESCO die handschriftlich verbesserte Erstausgabe der KHM, die im Besitz der Universität Kassel ist, zum Weltkulturerbe. 2016 ernennt sie das Märchenerzählen zum immateriellen Weltkulturerbe (s. Europäische Märchengesellschaft).
15.4 Typologien Seit der impulsgebenden Auseinandersetzung der Brüder Grimm mit dem Märchen ist Selbiges zur eigenständigen literarischen und literaturwissenschaftlich relevanten Gattung avanciert. Die Märchenforschung hat dabei verschiedene Theorien zur Entstehung des Märchens entwickelt: die indogermanische Theorie (Grimm), die in den Märchen das Erbe der Mythen alter indogermanischer Stämme sieht; die indische Theorie (Benfey), nach der die Märchenur sprünge in Indien liegen; die anthropologische Theorie, nach der die internationale und -kulturelle Vergleichbarkeit der Märchen mit der »Strukturgleichheit der menschlichen Seele« (Poser 1991, 356) begründet wird sowie die geographisch-historische Theorie. Letztere wurde durch Antti Aarne initiiert, der einen Typenkatalog entwickelt hat, um internationale Märchenmotive in ihren Varianten zu erfassen. Der Amerikaner Stith Thompson und zuletzt 2004 Hans-Jörg Uther haben das Projekt des Finnen übernommen, sodass der Katalog, beständig erneuert und erweitert, inzwischen ein internationales Standardwerk ist. Uther legt darüber hinaus ein Typenverzeichnis deutschsprachiger Märchen vor, den Deutschen Märchenkatalog. Ein umfangreiches Nachschlagewerk bietet außerdem die Reihe der Konferenzschriften der Europäischen Märchengesellschaft. Märchen werden zudem thematisch differenziert in Zauber- und Wundermärchen, Feenmärchen, Schwankmärchen, Tiermärchen, Lügenmärchen, äti ologische Märchen und Legendenmärchen (vgl. Petzoldt 2000, 248). Des Weiteren bedient sich die Märchenforschung verschiedener Ansätze: Die wichtigsten theoretischen Zugänge sind der volkskundliche Ansatz (Grimm), der soziologische (Bloch/Zipes/ Röhrich), der strukturalistische (Propp/Aarne/Lüthi), der tiefenpsychologische (Drewermann) und psycho-
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analytische Ansatz (Bettelheim) sowie der philologische Ansatz (Rölleke/Bluhm/Uther) (vgl. Poser 1991, 357; vgl. Schweikle 1990, 293).
15.5 Narratoästhetik Nach wie vor weisend sind die ›Wesensmerkmale‹ des europäischen Volksmärchens, die Max Lüthi erarbeitet hat: Zu den konstituierenden und damit gattungsbildenden Merkmalen zählen die Autoranonymität der Erzählung und die mündliche Tradierung der Motive. Die Narration ist der Ausgestaltung der Figuren übergeordnet, sodass ›Flächenhaftigkeit‹ (vgl. Lüthi, 1985, 13) entsteht. Die Erzählstruktur des Volksmärchens wird auf der Makroebene vom Dreischritt einer 1. Notsituation als Ausgangslage bestimmt, d. h. einem Problem des Protagonisten, 2. der daraus resultierenden Aufgabe des Helden und 3. der Lösung des Problems, dem glücklichen Ende. Auch die Mikrostruktur ist häufig als Zwei- oder Dreischritt konstruiert. So gibt es mehrteilige Aufgaben (z. B. Frau Holle) oder die Protagonisten haben mehrere Versuche, die gestellte Aufgabe zu lösen (z. B. Rumpelstilzchen). Da Motivik und Handlung im Vordergrund der Erzählung stehen, treten die Figuren hinter ihr zurück. Das Volksmärchen zeichnet sich durch flache Figuren aus, die so stark typisiert sind, dass selbst die Protagonisten häufig keine Eigennamen besitzen. Auch wird die Handlung von außen an die Figuren herangetragen. Sie ist einsträngig, linear und knapp gefasst, was sich aus der – beim Volksmärchen postulierten – ursprünglich oralen Überlieferung ergibt. Bei der Lösung der Aufgaben stehen dem deutlich abgehobenen Helden magische Dinge oder Helfer beiseite. »Alle wichtigen Figuren also sind auf den Helden bezogen als dessen Partner, Schädiger, Helfer oder als Kontrastfiguren zu ihm« (Lüthi 2004, 27). Wie das Personal des Volksmärchens ist seine ganze Welt in der Dialektik von gut/böse, schön/hässlich, arm/reich, klug/dumm angelegt, wobei das Gute in der Regel über das Böse siegt. Stilistische Merkmale des Volksmärchens sind ein parataktischer Satzbau, formelhafte Wendungen (›Es war einmal‹), der Einsatz direkter Rede und sich wiederholender Verse (z. B. ›Spieglein, Spieglein an der Wand‹), stilisierte Wendungen sowie eine grundsätzlich einfache Sprache. Zudem finden sich Zahlensymbolik sowie Mineralisierung und Metallisierung häufig im Märchen. Situiert ist das Volksmärchen in einer Welt, die das Wunderbare als natürlich erachtet. Diese
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Tatsache steht der Welt des Rezipienten derart fern, dass das Märchen weder zeitlich noch räumlich fixiert ist, was sich an der typischen Eingangsformel des Volksmärchens zeigt: »Es war einmal vor langer Zeit an einem unbekannten Ort« (Lüthi 2004, 30). Der Einfachheit des Volksmärchens steht die Komplexität des Kunstmärchens gegenüber. Das Kunstmärchen als originäre Dichtung eines einzelnen Autors zeigt sich viel weniger formelhaft, flach, linear und eingängig. Wenn es auch auf die Motive des Volksmärchens zurückgreift, ist es in seiner ästhetischen Gestalt völlig frei. So weisen die Märchen von Novalis (Klingsohrmärchen und Hyacinth und Rosenblütchen, 1802) durchaus das Kriterium der Ort- und Zeitlosigkeit auf, in Hoffmanns Der goldne Topf (1814) hingegen spielen die Geschehnisse in Leipzig am Himmelfahrtstage. Ebenso wenig sind die Autoren der Kunstmärchen auf das Kriterium der Eindimensionalität festgelegt. Während Novalis in seinen beiden Märchen eine geschlossene Welt darstellt, in der Wunderbares und Realistisches gemeinsam existieren, zeigt Hoffmann eine realistische bürgerliche Welt, in die das Wunderbare auf für den Protagonisten verwirrende Weise als Parallelwelt einbricht. Deutlich hebt sich das Kunstmärchen vom Volksmärchen in der Gestaltung seines Personals ab: Die Figuren des Kunstmärchens – nicht nur die Protagonisten – sind psychologisiert und motivieren ihre Handlung selbst. Diese ist originär und thematisiert häufig philosophisch-existentielle oder poetologische Fragen. Dementsprechend ist das Ende der Erzählung keineswegs auf einen glücklichen Ausgang angewiesen. Vielmehr verlegt sich der Ausgang des Kunstmärchens häufig auf eine utopische Zukunft. Sprachlichstilistisch ist das Kunstmärchen anspruchsvoll und den jeweiligen ästhetischen Ansprüchen seiner Entstehungszeit verpflichtet (vgl. Neuhaus 2005, 9). Gemeinsam haben das Kunst- und Volksmärchen häufig die narrative Grundstruktur von Problem, Aufgabe und Lösung, die Verwendung magischer Dinge und Requisiten, die Zahlen- oder Natursymbolik, die Anwesenheit des Wunderbaren repräsentiert von jenseitigen Figuren oder Gegenständen (vgl. Neuhaus 2005, 9).
15.6 Inter- und transmediale Aspekte Intertextuelle Verweise und Bezüge in der KJL sind vielfältig – gerade im Bezug auf die Grimmschen Märchen. Sie finden sich intramedial in zahlreichen Bil-
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
derbüchern, Lesebüchern, Kinder- und Jugendbü chern, intermedial in zahlreichen Adaptionen und Allusionen für Film, Rundfunk, Hörspiel und Hörbuch, (Puppen-)Theater, Oper sowie für Computerspiel und App. In Bezug auf Intertextualität in der KJL tritt immer wieder die Frage auf, ob kindliche Rezipienten in der Lage sind, die Verweise zu verstehen. Zum einen ist das auch beim erwachsenen Leser nicht vorauszusetzen, zum anderen ist eine Lektüre auch möglich, ohne die entsprechenden Verweise zu entschlüsseln. Gerade bei intertextuellen Verweisen auf die Buchmärchen ist aber mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass auch Kinder sie verstehen, weil sie als »kollektives Bildungsgut« (Wicke 2014, 14) gelten. Überdies bildet Intertextualität gerade bei Werken, die vornehmlich von jüngeren Kindern gemeinsam mit Erwachsenen konsumiert werden, die Grundlage für Doppeladressiertheit und Crosswriting. Zu fragen wäre, ob die Nähe der Buchmärchen zur Volkserzählung – wenn es auch eine inszenierte Nähe ist – das Märchen zur Fort- und Umschreibung im intertextuellen Kontext besonders geeignet macht. Rotkäppchen ist eines der populärsten Buchmärchen, entsprechend zahlreich sind seine Verweise und Adaptionen: Sie reichen von Erich Kästners Kinderbuch Pünktchen und Anton (1931) bis zu Beate Teresa Hanikas Jugendbuch Rotkäppchen muss weinen (2009). Aber auch Kleinkinder kommen durch Bilderbücher mit der Figur Rotkäppchen in Kontakt, noch bevor sie das Märchen gelesen haben, z. B. bei Stella Dreis Grimms Märchenreise – Ein Wimmelbuch (2012), Susanne Straßers Das Märchen von der Prinzessin, die unbedingt in einem Märchen vorkommen wollte (2010) oder Mario Ramons Ich bin der Stärkste im ganzen Land (C’est moi le plus fort, franz. 2001, dt. 2003). Viele weitere aktuelle Autoren wie Cornelia Funke, Paul Maar und Walter Moers beziehen sich auf andere Märchen aus der Grimmschen Sammlung, auf Volksmärchen und Kunstmärchen überhaupt. Letzterer verweist in seinem Jugendbuch Ensel und Krete (2000) auf das Volksmärchen Hänsel und Gretel, in Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl (2007) auf Gottfried Kellers Novellenmärchen Spiegel, das Kätzchen. Maar rekurriert in Ein Sams für Martin Taschenbier (1996) auf Hoffmanns Kunstmärchen Das fremde Kind. Fredrik Vahle bezieht sich in einer Strophe seines Liedes Lioliola (1984) auf das Rotkäppchen-Motiv. Dabei wechselt er nicht nur die literarische Gattung von der Epik zur Lyrik, sondern auch den Inhalt: Rotkäppchen heißt hier Gretchen und ist ein starkes Mädchen,
das sich den Verführungsversuchen des Wolfes sofort widersetzt. Dementsprechend kurz ist die Erzählung: »Es war ein mal ein Mädchen, / das Mädchen das hieß Gretchen, / das lief zu ihrer Oma hin, / da lag der Wolf im Bettchen drin. / Er sagte: Ach, wie bist du schön! / Doch sie sprach: Ich muss Pipi gehn. / Sie lief hinaus und dann nach Haus, / und damit ist das Märchen aus« (Vahle 2014, 39). Hier fragt nicht das Rotkäppchen den als Großmutter verkleideten Wolf, warum er so große Ohren habe, hier betont der Wolf Gretchens Schönheit, während er im Bett liegt. Dabei schwingt eine sexuelle Konnotation mit, wie sie in Perraults Vorlage noch viel deutlicher zu finden ist (Uther 2013, 65), die hier von Vahle durch die namentliche Anspielung auf die Gretchenfigur aus Goethes Faust wieder aufgegriffen wird. Gleichwohl fällt der Ernst und die Bedrohung, auch der Prätexte, ins Humoristische mit der Antwort des Vahlschen Rotkäppchens im Posttext: »Ich muss Pipi gehen«. Diese Art der Flucht Rotkäppchens ist aus französischen und italienischen Varianten bekannt (vgl. Kawan 2004, 858). Vahle bezieht sich explizit und implizit gleich mehrfach auf das Märchen. Als implizite Einzelreferenz rekurriert er mit der Figurenkonstellation (Wolf und Mädchen) und dem Ort (Bett der Großmutter) nicht nur auf Rotkäppchen, sondern reflektiert zugleich die Gattung des Prätextes, wenn er vom Märchen spricht. Darüber hinaus zitiert er als Systemreferenz auch dessen stilistische Eigenschaften, indem er den formelhaften Beginn des Buchmärchens ›Es war einmal‹ und das erzählende Imperfekt nutzt. Zudem verweist der Refrain des Liedes auf die orale Erzähltradition, aus der das Volksmärchen stammt: »O lioliola, / alleweil ist einer da, / der will euch was erzählen, / was sagen und was singen« (Vahle 2014, 39). Märchen erscheinen nicht nur in Texten und Liedern, sondern auch in anderen Medien: Pjotr Iljitsch Tschaikowskis und Marius Petipas Ballett Nussknacker und Mausekönig (1892) ist vielleicht die bekannteste intermediale Adaption des Hoffmannschen Märchens, entsprechend oft wird auf sie verwiesen, z. B. im Animationsfilm Barbie in: Nussknacker (Barbie in the Nutcracker, 2001). Der Animationsfilm Shrek (2001) ist eine Bilderbuchadaption, die sich Versatzstücke einzelner Märchen einverleibt und parodiert, gleichzeitig aber als Systemreferenz auf die Gattung Märchen verweist, indem sich die filmische Narration selbst als idealtypisches Märchen entlarvt, das als Textcollage aus anderen Märchen besteht (vgl. Kurwinkel 2015, 526). Ganz ähnlich verfährt der Film Verwünscht (Enchanted, 2007), der nicht nur Märchentexte, sondern explizit auch Märchenfilme parodiert (vgl. Kurwinkel 2018,
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362). Wie Shrek bedient sich auch die Serie Once Upon A Time (2011–2018) dem märchenhaften Worldbuilding, sodass die verschiedenen Märchenhelden nicht mehr separiert, sondern in einer einzigen Märchenwelt leben und interagieren. Darüber hinaus werden Märchenhelden für die Werbung fruchtbar gemacht, so bewirbt bspw. Rotkäppchen Sekt und Käse (vgl. Mieder 2015, 643). Märchenfiguren sind somit längst allgegenwärtig als Teil der konstituierenden Medienverbünde. Primärliteratur
Novalis: Blüthenstaub. In: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. München/Wien 22005. Vahle, Fredrik: Lioliola. In: Ders.: Anne Kaffeekanne. Hamburg 2014, 37–39.
Sekundärliteratur
Bausinger, Hermann: Buchmärchen. In: Wilhelm Wolf Brednich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Bd. 2. Berlin/New York 1979, 974–978. Bausinger, Hermann: Märchen. In: Wilhelm Wolf Brednich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Bd. 9. Berlin/New York 1999a, 250–274. Bausinger, Hermann: Naturpoesie. In: Wilhelm Wolf Brednich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Bd. 9. Berlin/ New York 1999b, 1273–1280. Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. München 232001. Bluhm, Lothar: Grimm-Philologie. Hildesheim/Zürich/New York 1995. Bluhm, Lothar: Märchen. In: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart/Weimar 32007, 472–474. Brunken, Otto/Hurrelmann, Bettina/Pech, Klaus-Ulrich: Einleitung. Einflussbereich Literatur. In: Dies. (Hg.): Handbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 4: 1800– 1850. Stuttgart/Weimar 1998, 10–57. Europäische Märchengesellschaft (Hg.): Konferenzschriften. Seit 1980. Freund, Winfried: Deutsche Märchen. Eine Einführung. München 1996. Gansel, Carstel: Vom Märchen zur Discoworld-Novel. In: Der Deutschunterricht 51 (1998), 507–606. Grätz, Manfred: Das Märchen in der deutschen Aufklärung. Vom Feenmärchen zum Volksmärchen. Stuttgart 1988. Haas, Gerhard: Märchen, Sage, Schwank, Legende, Fabel und Volksbuch als Kinder- und Jugendliteratur. In: Ders.: Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart 21976, 144–177. Hamann, Hermann: Die literarischen Vorlagen der Kinderund Hausmärchen. Berlin 1906. Jolles, André: Einfache Formen. Legende. Sage. Mythe. Rätsel. Spruch. Kasus. Memorabile. Märchen. Witz. Tübingen 51974. Kawan, Christine Shojaei: Rotkäppchen (AaTh 333). In: Wilhelm Wolf Brednich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Bd. 11. Berlin 2004, 854–867.
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Kümmerling-Meibauer, Bettina: Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Darmstadt 2012. Kurwinkel, Tobias: Märchenhafte Medientexte – mediale Märchentexte. Wie DreamWorks’ Shrek das Märchen aktualisiert und weiter schreibt. In: Claudia Brinker von der Heyde/Holger Ehrhardt/Hans-Heino Ewers/Annekatrin Inder (Hg.): Märchen, Mythen und Moderne. Frankfurt a. M. 2015, 517–528. Kurwinkel, Tobias: Von 7 Zwergen, grünen Ogern und einer Prinzessin auf dem Times Square: Der komische Märchenfilm. In: Ute Dettmar/Claudia Maria Pecher/Ron Schlesinger (Hg.): Märchen im Medienwechsel. Zur Geschichte und Gegenwart des Märchenfilms. Stuttgart 2018, 359–371. Lüthi, Max: Das europäische Volksmärchen. Tübingen 81985. Lüthi, Max: Märchen. Stuttgart 102004. Lüthi, Max: Volksmärchen und Volkssage. Berlin 31975. Mieder, Wolfgang: Werbung. In: Wilhelm Wolf Brednich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Bd. 15. Berlin/New York 2015, 640–647. Neuhaus, Stefan: Märchen. Tübingen/Basel 2005. Nikolajeva, Maria: The Magic Code. The Use of Magical Patterns in Fantasy for Children. Stockholm 1988. Petzoldt, Leander: Märchen, Mythen und Sagen. In: Günter Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1. Baltsmannsweiler 2000, 246–266. Pöge-Alder, Kathrin: Märchenforschung. Theorien. Methoden. Interpretationen. Tübingen 32016. Poser, Therese: Das Märchen. In: Otto Knörrich (Hg.): Formen der Literatur in Einzeldarstellungen. Stuttgart 21991, 251–259. Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Bonn/Berlin 31992. Rölleke, Heinz: Grimms Märchen und ihre Quellen. Trier 1998. Rölleke, Heinz: Nachwort. In: Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Hg. von Heinz Rölleke. Bd. 3. Stuttgart 2010, 611–639. Schmitz-Emans, Monika: Einführung in die Literatur der Romantik. Darmstadt 42016. Schweikle, Günther: Märchen. In: Günther und Irmgard Schweikle (Hg.): Metzlers Literatur Lexikon. Stuttgart 21990, 292–294. Steig, Reinhold: Achim von Armin und die ihm nahe standen. Bd. 3. Stuttgart/Berlin 1904. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Frankfurt a. M. 1992. Uther, Hans-Jörg (Hg.): Deutscher Märchenkatalog: Ein Typenverzeichnis. Berlin/Boston 2015. Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Münster 22013. Uther, Hans-Jörg: Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. 26. Ergänzungslieferung. Hg. von Kurt Franz, Günter Lange und Franz-Josef Payrhuber. Meitingen 2006, 1–36. Uther, Hans-Jörg: The types of international folktales. A classification and bibliography based on the system of Antti Aarne and Stith Thompson. Helsinki 2004.
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
Weinkauff, Gina/von Glasenapp, Gabriele: Kinder- und Jugendliteratur. Paderborn 32018. Wicke, Andreas: Intertextualität in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Kurt Franz/Günter Lange/Franz-Josef Payrhuber (Hg.): Kinder- und Jugendbuchliteratur – ein Lexikon. 52. Ergänzungslieferung. Meitingen 2014, 1–24.
Zabka, Thomas: Kunstmärchen. In: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart/Weimar 32007, 413–414.
Alina Behrend
16 Sage
16 Sage 16.1 Einleitung Wie bei den Märchen initiieren die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm auch bei den Sagen die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Im Kontext der romantischen Suche nach den naturpoetischen Literaturformen sammeln sie nicht nur Märchen, sondern auch Sagen. Wenige Jahre nach der ersten Ausgabe ihrer Märchensammlung erscheint 1816 und 1818 ihre zweibändige Anthologie Deutsche Sagen, die sich niemals ganz aus dem Schatten der weitaus erfolgreicheren KHM (s. Kap. 15) lösen kann. Im Folgenden wird zuerst der Begriff der Sage bestimmt, um anschließend auf ihre Entwicklung einzugehen. Die Typologie der Sagen sowie ihre narratoästhetische Gestaltung werden in den nachfolgenden Kapiteln aufgegriffen. Zuletzt werden intermediale Realisierungen der Sage kurz beleuchtet.
16.2 Begriffsdefinitionen Das Wort ›Sage‹ leitet sich etymologisch vom ahd. ›saga‹ bzw. mhd. ›sage‹ ab und bedeutet ursprünglich Erzählung, Bericht, Gerücht und Aussage. Im 18. Jahrhundert beginnt sich die heute gültige Bedeutung, im Sinne einer Textart der Epik, durchzusetzen. In ihrem Wörterbuch beschreiben die Grimms drei Konnotationen der Sage, die alle die Nähe zum Verb ›sagen‹ betonen: erstens die Fähigkeit zu sprechen, zweitens den Sprechakt, der im Zusammenhang mit der Zeugenaussage vor Gericht steht, sowie drittens einen »auf mündlichem wege verbreiteten bericht über etwas« (Grimms Wörterbuch 1854, 1646). Die Sage ist ein kurzer Erzähltext, der von ungewöhnlichen Ereignissen berichtet. Sie zeichnet sich durch eine kurze, linear und rasch erzählte Handlung aus. Wie das Märchen zählt auch die Sage zur Volkspoesie, da beide als ursprünglich mündlich tradierte Texte unbekannter Provenienz verstanden bzw. inszeniert werden. Märchen und Sagen gleichen sich ebenso in der Wahl ihrer Motive, die das Übernatürliche in Form von Hexen, Monstern, Zwergen, Geistern und anderen Gestalten darstellen. Im Gegensatz zum Märchen thematisiert die Sage jedoch dieses Übernatürliche und erhebt es zum Zentrum ihrer Erzählung. Im Märchen entpuppt sich das Wunderbare als alltäglich und verwundert die Figuren nicht, die Sage hingegen lenkt den Blick auf die außergewöhnlichen Erscheinungen (vgl.
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Lüthi 1971, 9). So nehmen die Figuren der diegetischen Welt das Wunderbare als ungewöhnlich wahr, sie sind irritiert oder erschrecken darüber, begreifen es jedoch als reale Erscheinung (vgl. ebd.). Während das Volksmärchen somit nur die Eindimensionalität seiner phantastischen Welt kennt, beschäftigt sich die Sage mit dem Schrecken über die Erkenntnis der Mehrdimensionalität, der Existenz einer jenseitigen Welt (vgl. ebd.). Trotz der phantastischen Elemente erhebt die Sage Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Dieser Realitätsanspruch wird durch eine exakte topographische und zeitliche Fixierung geltend gemacht. Zudem verleihen historische Persönlichkeiten oder dem Rezipienten bekannte Personen den berichteten Ereignissen Authentizität. Mit diesem Aspekt greift die Sage auf ihre etymologische Bedeutung im Sinne einer Zeugenaussage zurück. Sagen entstehen diesem Verständnis nach aus dem individuellen Erlebnis eines Einzelnen, das anschließend sprachlich geformt und in eine »kollektive Glaubensvorstellung« (Pöge-Alder 2007, 674) überführt wird. Damit wird die Sage zum Ausdruck der »Normen, Wertungen und Ansichten der Menschen über die sie umgebende Welt und ihrer kulturellen Manifestationen« (Petzoldt 2000, 259). Als Motivation des Erzählens können etwa beängstigende Naturerscheinungen, außergewöhnliche Felsbildungen oder sonderbare Redensarten dienen (vgl. Bausinger 1980, 182). Der Sage kommt damit eine psychologische Funktion zu: Sie soll das Erschreckende benennen, erklären, vor ihm warnen und über es belehren (vgl. Rörich 1966, 2). Anders als beim Märchen unterscheidet man bei der Sage nicht zwischen Volks- und Kunstsage. Stattdessen muss zwischen antiker Heldensage sowie nordischer Sage (Saga) und der Volkssage differenziert werden. Die Helden- und Göttersagen der antiken, germanischen und nordischen Literatur sind ursprünglich schriftlich fixierte, genuine Erzählungen namentlich bekannter Autoren, die zwar häufig aus dem Fundus der mündlich tradierten Sagenstoffe schöpfen, damit jedoch zur Hoch- bzw. Individualliteratur zählen (vgl. Petzoldt 2000, 259). Sie stehen den Sagen der Volksliteratur, wie sie die Romantiker bestrebt waren zu sammeln, entgegen. Die Grimms bestimmen mit ihren Deutschen Sagen maßgeblich die Vorstellung von der Volkssage als einer mündlich tradierten, kollektiven Erzählung des einfachen Volkes, die durch stilistische Überarbeitung und schriftliche Fixierung dann zur sogenannten ›Buchsage‹ wird (vgl. Röhrich/Uther 2015, 1025). Märchen, Sage und Schwank gelten als die drei Grundformen der Volksdichtung (vgl. ebd., 1019).
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_16
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Ebenso wie vom Märchen unterscheidet sich die Sage vor allem durch ihren Umgang mit dem Wunderbaren von der Legende. Diese ist eine ursprünglich schriftliche Erzählung, die von dem vorbildhaften Leben eines Heiligen berichtet (vgl. Schweikle 1990a, 261). Das Unheimliche trägt hier den Charakter des Numinosen: Das, was geschieht, ist Gottes Fügung (vgl. Lüthi 1971, 11). Der Schwank ist thematisch im Alltag situiert. Er ist eine kurze Prosaerzählung, die auf eine Pointe hin ausgelegt ist. Im Gegensatz zu Sage, Legende und Märchen ist der Schwank weder unheimlich oder bedrohlich noch phantastisch, sondern wendet sich dem Ungewöhnlichen komisch oder parodistisch zu.
16.3 Historische Entwicklungen Die Brüder Grimm sind nicht die Ersten, die im Zuge der romantischen Suche nach der Naturpoesie eine Sagensammlung herausgeben. Vorläufer und Vorbilder sind die Sammlungen von Johann Karl August Musäus’ Volksmährchen der Deutschen (1782–1786), Ludwig Leonhard Wächters Sagen der Vorzeit (1787), Christiane Benedicte Nauberts Neue Volksmährchen der Deutschen (1789), Friedrich Wilhelm Müllers Volksmährchen aus Thüringen (1794) sowie Johann Carl Christoph Nachtigals Volkssagen (1800) (vgl. Petzoldt 2002, 18). Die Brüder Grimm sind jedoch die Ersten, die mit einem wissenschaftlichen Anspruch an die Sage herantreten, womit ihre Deutschen Sagen vorbildhaft für folgende Sammlungen werden. Ihr Verdienst ist es, die Sage bekannt gemacht zu haben, indem sie zum einen Wert auf die Werktreue und auf das Quellenstudium gelegt und sich zum anderen mit einer Begriffsdefinition beschäftigt haben. Zu Beginn ihrer Sammeltätigkeit fassen sie unter dem Begriff ›Sage‹ jede mündliche Volkserzählung, später differenzieren sie in ihren Publikationen Märchen und Sagen voneinander. Sie engen die Bedeutung des Wortes schließlich auf den literarischen Gattungsbegriff ein und grenzen ihn von demjenigen des Märchens ab (vgl. Rölleke 1994, 705): »Das Märchen ist poetischer, die Sage historischer; [...] die Sage [...] hat noch das Besondere, daß sie an etwas Bekanntem und Bewußtem hafte, an einem Ort oder einem durch die Geschichte gesicherten Namen« (Grimm/Grimm 1994, 11). In ihrer vielzitierten Differenzierung aus der Vorrede zu den Deutschen Sagen finden sich die entscheidenden Kriterien der Historizität und der zeitlich-topographischen Fixierung. Dabei handelt es sich genau genommen bei den Deutschen Sagen nicht um eine Ansammlung von
Sagen, sondern um eine Anthologie verschiedener epischer Kurztexte aus Reise- und Wunderberichten, Kuriositätenliteratur, gelehrtem Aberglauben, juristischen Schriften und Volksbüchern aus der Prodigienund Chronikliteratur des 16. bis 18. Jahrhunderts, auf welche die Grimms bei ihrer Sammeltätigkeit zurückgreifen (vgl. Röhrich/Uther 2015, 1022). Sagen als Teil der Volkspoesie werden im Kontext des romantischen Verständnisses von Kindheit per se als kindgerecht gewertet. Onto- und Phylogenese des Menschen werden nach Johann Gottfried Herders naturphilosophischem Ansatz analog gedacht: Die Kindheit des Individuums verbindet sich mit der Kindheit, dem Ursprung der Menschheit, dessen Ausdruck sich in alten Zeugnissen der Volkspoesie findet (s. Kap. 15). Kindheit und Volksliteratur werden gleichermaßen idealisiert und finden ihren gemeinsamen Ausdruck im spezifischen Kinderton (vgl. Brunken/ Hurrelmann/Pech 1998, 36). Während Märchen und Kinderlyrik vor allem Kleinkinder adressieren, richten sich die Helden- und Volkssagen vornehmlich an Jugendliche. Letztere sind vorerst Teil des humanistischen Bildungsgutes und so nur dem gebildeten Bürgertum zugänglich, dienen aber später auch der »nationalerzieherischen, moralischen, geografischen oder heimatkundlichen Belehrung« (Schikorsky 2012, 52). Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickeln sie sich dann zum »populären Lesestoff breiter Schichten« (ebd.). Zur Privatlektüre der Jugendlichen werden sie, indem sie in sprachlich und inhaltlich überarbeiteter Form aufbereitet werden. Gustav Schwabs Buch der schönsten Geschichten und Sagen (1836/37) beinhaltet vereinfachte, ›jugendgerechte‹ Nacherzählungen der Sagen, befreit von anstößigen Inhalten (vgl. Brunken/Hurrelmann/Pech 1998, 39). Sein Buch avanciert zum Klassiker der KJL. In der Mitte des 20. Jahrhunderts werden die Volkssagen im Sinne des nationalen und vaterländischen Erbes erneut als Jugendlektüre fruchtbar gemacht und für »die Heimpflege und den heimatkundlichen Unterricht« (Röhrich/Uther 2015, 1027) eingesetzt. 1818 beteuern die Brüder Grimm in ihrer Vorrede zu den Deutschen Sagen, dass das Volk »noch nicht ganz aufgehört hat, an seine Sagen zu glauben« (Grimm/Grimm 1994, 12), dies ist noch heute gültig. Sagen von geisterhaften Trampern, im Restaurant serviertem Rattenfleisch oder von Krokodilen in Abwasserkanälen kursieren aktuell (vgl. Pöge-Alder 2007, 674). Die zeitgenössischen Sagen nennt man, unter Einfluss der anglo-amerikanischen Forschung, urban legends oder contemporary legends. Diese verbreiten
16 Sage
sich im Gegensatz zu den Volkssagen nicht nur oral, sondern auch medial. Einige Anthologien solcher urban legends, z. B. Die Spinne in der Yucca-Palme (2000) von Rolf Wilhelm Brednich, sind zum Bestseller geworden. Das Interesse an urban legends ist ungebrochen. Ihr einfaches Erzählschema, bestehend aus Wahrheitsbeteuerung, Alltagssituation und Katastrophe (vgl. Martínez 2005, 52), bedingt ihre Verbreitung.
16.4 Typologien Die Forschung ist bemüht Sagen zu typologisieren. Volkssagen werden nach inhaltlichen, funktionalen, formalen oder strukturellen Kriterien voneinander unterschieden (vgl. Petzoldt 2000, 258). Die drei Untergattungen dämonische Sage, historische Sage und aitiologische Sage sind die am häufigsten genannten. Es ergibt sich dabei das Problem, dass auf verschiedene Kategorien zurückgegriffen wird: Thema der Sage (dämonisch oder historisch) und erklärende Funktion (aitiologisch). Eine Sage kann damit gleichzeitig verschiedenen Untergattungen zugeordnet werden, z. B. könnte Der Rattenfänger von Hameln sowohl als aitiologische als auch dämonische oder historische Sage bezeichnet werden. Mit inhaltlichen Kriterien lassen sich Totensage, Teufels-, Zwergen-, Riesen-, Wildgeistersage usw. voneinander unterscheiden. Auch die Verbreitung kann als Mittel der Kategorisierung fruchtbar gemacht werden, sodass zwischen Lokal-, Stadt-, Regional- oder Wandersage differenziert wird (vgl. Röhrich 1966, 2). Ebenso ordnet die kulturhistorische Forschung Sagen nach ihrem vermuteten Alter in allgemein-primitive Sagen, mittelmeerisch-antike Sagen, germanischheidnische Sagen, christlich-mittelalterliche Sagen, neuzeitliche und moderne Sagen (vgl. ebd.). Zudem wendet sich die Forschung den Sagen aus verschiedenen Perspektiven zu, indem sie z. B. kulturhistorische, stoff- und motivgeschichtliche oder morphologische Interpretationsansätze anwendet. Zahlreiche Sagen finden sich im ATU-Märchentypenkatalog (Aarne/ Thompson/Uther) verzeichnet (vgl. Röhrich/Uther 2015, 1033; s. auch Kap. 15).
16.5 Narratoästhetik Wie beim Volksmärchen sind auch bei der Volkssage Autoranonymität und mündliche Tradierung gattungsbildende Merkmale. Grundsätzlich folgt die
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Volkssage, ebenso wie das Volksmärchen, einer einsträngig-linearen Narration. Die Volkssage kann als »eine episodische Kurzform« (Röhrich/Uther 2015, 1020) bezeichnet werden, die skizzenhaft bleibt und weniger als das Märchen als bewusste Dichtung zu bezeichnen ist (vgl. ebd.). Im Gegensatz zum Volksmärchen ist bei der Volkssage häufig ein schlechter Ausgang zu finden, der den Menschen zur Vergeltung eines Tabubruchs den Naturgewalten ausliefert (vgl. ebd.). Die Stilistik der Volkssage ist vielfältig und variabel und lässt sich deswegen schwer verallgemeinern. Häufig ist sie von Einfachheit geprägt. Wie bei anderen Formen der Volkspoesie variiert die Komplexität der Erzählung jedoch mit der Kompetenz des Erzählers. Die Volkssage zeichnet sich meist durch Kürze, Kargheit und eine reduzierte parataktische Syntax aus (vgl. Pöge-Alder 2007, 674). Ihre Sprache ist dementsprechend nüchtern und schmucklos sowie durch den regionalen Bezug öfter dialektal gefärbt, umgangssprachlich geprägt oder stilistisch anspruchslos (vgl. Schweikle 1990b, 406).
16.6 Inter- und transmediale Aspekte Intertextuelle und intermediale Verweise auf bekannte Sagen sind in der KJL häufig. Otfried Preußler greift in seinem Werk immer wieder auf regionale Sagenstoffe zurück, z. B. in Die Abenteuer des starken Wanja (1968), Krabat (1971), Hörbe mit dem Hut (1981) oder Mein Rübezahlbuch (1993). Die Loreleysage in Form von Heines Gedicht gibt es als illustrierte Ausgabe für Kinder. Die Sage um Till Eulenspiegel greift Daniel Kehlmann in seinem Roman Tyll (2017) auf. J. K. Rowling verarbeitet bekannte Motive, wie den Wolfsmenschen und die magische Alraune, in ihrer Harry-Potter-Heptalogie (engl. 1997–2007, dt. 1998–2007). Aber auch Motive und Themen der urban legends werden in Kinderbüchern aufgegriffen: Das Krokodil in der Kanalisation findet sich im Kinderbuch von Nina Weger Ein Krokodil taucht ab und ich hinterher (2013) oder in Richard Warings Wanted! Have you seen this alligator? (2002) und sogar im Computerspiel World of Warcraft gibt es ein krokodilartiges Monster, das in der Kanalisation lebt. Primärliteratur
Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm (Hg.): Deutsche Sagen. Ediert von Heinz Rölleke. Frankfurt a. M. 1994.
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Sekundärliteratur
Bausinger, Hermann: Formen der Volkspoesie. Berlin 21980. Brunken, Otto/Hurrelmann, Bettina/Pech, Klaus-Ulrich: Einleitung. Einflussbereich Literatur. In: Dies. (Hg.): Handbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 4: 1800– 1850. Stuttgart/Weimar 1998, 10–57. Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm: Sage. In: Dies.: Deutsches Wörterbuch. Bd. 8.2. Leipzig 1854, 1644–1647. Lüthi, Max: Volksmärchen und Volkssage. Zwei Grundformen erzählender Dichtung. Bern 31975. Lüthi, Max: Märchen. Stuttgart 102004. Martínez, Matías: Moderne Sagen. Urban legends zwischen Faktum und Fiktion. In: Der Deutschunterricht 2 (2005), 50–58. Petzoldt, Leander: Otfried Preußler und die Tradition. Elemente der Volkserzählung im Werk Otfried Preußlers. In: Heinrich Pleticha (Hg.): Otfried Preußler. Werk und Wirkung. Stuttgart 1983, 42–50. Petzoldt, Leander: Märchen, Mythen und Sagen. In: Günter Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1. Baltmannsweiler 2000, 246–266.
Petzoldt, Leander: Einführung in die Sagenforschung. Konstanz 32002. Pöge-Alder, Katrin: Sage. In: Dieter Burdorf u. a. (Hg.): Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart 32007, 674–675. Röhrich, Lutz: Sage. Stuttgart 1966. Röhrich, Lutz/Uther, Hans-Jörg: Sage. In: Wilhelm Wolf Brednich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Bd. 11. Berlin 2015, 1017–1041. Rölleke, Heinz: Entstehungs- und Druckgeschichte der Deutschen Sagen. In: Jakob Grimm/Wilhelm Grimm (Hg.): Deutsche Sagen. Ediert von Heinz Rölleke. Frankfurt a. M. 1994, 705–724. Schikorsky, Ina: Kurze Geschichte der KJL. Norderstedt 2012. Schweikle, Günther: Legende. In: Ders./Irmgard Schweikle (Hg.): Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart 21990a, 261–262. Schweikle, Günther: Sage. In: Ders./Irmgard Schweikle (Hg.): Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart 21990b, 405–406.
Alina Behrend
17 Serielles Erzählen
17 Serielles Erzählen 17.1 Einleitung Serien sind vielfältige literarische, mediale, kulturelle – und damit auch veränderliche – Phänomene. Im Zeitalter von Online-Streaming-Diensten faszinieren sie längst nicht nur Kinder und Jugendliche; insbesondere das Feld der Kinder- und Jugendliteratur und -medien ist jedoch, und dies nicht erst in jüngster Zeit, ein besonders geeignetes Anschauungsgebiet: Serien gehören hier seit Langem zu den Erfolgsformaten, sie finden sich in diversen Formen, Genres und Medien, die von Erstlesegeschichten bis zur All-Age-TV-Serie ein weites Adressatenspektrum ansprechen. Im folgenden Beitrag soll zunächst der Begriff der Serie definiert, danach ein kurzer historischer Abriss gegeben werden, an den sich die typologische Differenzierung anschließt. Die Entwicklungen und die sich derzeit abzeichnende Entwicklungsdynamik des seriellen Erzählens werden dann im Anschluss an neuere theoretische Modellierungen zur Serialität diskutiert und in mediale und kulturelle Kontexte gestellt. Der Schwerpunkt der Überlegungen liegt hier insbesondere auf aktuellen, über Einzelmedien hinweg erzählenden Narrationen, dem sogenannten ›Transmedia Storytelling‹.
17.2 Begriffsdefinitionen Folgt man zunächst einer weiten Definition, wie sie vor allem in den Medienwissenschaften bzw. der Fernsehwissenschaft gängig ist, dann sind Serien »fiktionale Formate [...], die mit wiedererkennbaren Figurenensembles und Settings Narrationen kreieren, die periodisch fortgesetzt werden« (Schabacher 2010, 23). Selbst diese weit gefasste Definition, die jede Form der Fortsetzung einschließt, ließe sich noch allgemeiner formulieren, um auch faktuale bzw. hybride Formate, etwa Reality Soaps, aber auch Youtube-Channels, in die immer wieder neue Beiträge eingespeist werden, zu integrieren. Tanja Weber und Christian Junklewitz definieren entsprechend offener: »Eine Serie besteht aus zwei oder mehr Teilen, die durch eine gemeinsame Idee, ein Thema oder ein Konzept zusammengehalten werden und in allen Medien vorkommen können.« (Weber/Junklewitz 2008, 18) Die in Gabriele Schabachers Definition genannten Stichworte Wiedererkennbarkeit und Fortsetzung verweisen auf ein konstitutives Merkmal von Serien: Sie
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bewegen sich strukturell immer im Spannungsfeld von Wiederholung und Variation. Serien bieten nichts Einzigartiges, völlig Neues (sofern es solches überhaupt gibt). Sie kommen damit rezipientenseitig der Lust an der Bestätigung des Bekannten, am Wiedererkennen und damit: an der Wiederholung des Vergnügens entgegen – auch wenn in diesem Rahmen Differenz möglich und notwendig ist, denn sonst droht Langeweile. Auf dieses Spiel mit dem Vertrauten in Variation weisen übereinstimmend Theorien hin, die sich mit Serien und dem seriellen Erzählen beschäftigen. Umberto Eco hat dieses wirkungsästhetische Prinzip bereits in den 1980er Jahren entfaltet, er sieht darin zudem eine spezifisch kindliche Lust am Werk: »Der Mechanismus, auf dem der Genuß an der Wiederholung beruht, ist für die Kindheit typisch – Kinder wollen keine neue Geschichte hören, sondern immer wieder die Geschichte, die sie bereits kennen und die ihnen schon häufig erzählt wurde« (Eco 1986, 207). Das Prinzip Wiederholung, darauf haben Mavis Reimer, Deanna England, Melanie Dennis Unrau und Nyala Ali (2017) in ihren Überlegungen zur Serialität hingewiesen, hat in der Kinder- und Jugendliteratur entsprechend nicht nur eine lange Tradition, sondern es spielt in unterschiedlicher Hinsicht eine Rolle. Die genannten Autorinnen verweisen auf didaktische und mnemotechnische Funktionen insbesondere bei der oralen Tradierung sowie auf Adaptionen, die in der Kinder- und Jugendliteratur verbreitet sind. Serien werden, darauf verweist die oben zitierte Definition von Weber und Junklewitz, durch ein »Konzept« zusammengehalten; zumeist stellt sich dieser übergreifende Sinnhorizont durch die Kontinuität von Figuren, Handlungsmustern und zumeist auch Schauplätzen und Settings auf der Ebene der Diegese her. Zudem dienen paratextuelle Rahmungen in Buchserien, vor allem aber in medialen Adaptionen, als Wiedererkennungseffekt. So stimmen Hörspieloder TV-Serien durch Intros, Titelsong bzw. -melodie oder einen Vorspann, der die Figuren vorstellt, auf die Erzählwelt ein. Buchserien wie Ein Fall für TKKG (Wolf 1979–2011), Der kleine Vampir (Sommer-Bodenburg 1979–2015) oder Die Schattenbande (Reifenberg/Mayer 2014–2015), die die zentralen wiederkehrenden Figuren in Text und Bild kurz porträtieren, verfahren vergleichbar. Auch Epitexte, wie Websites, können diese Funktionen übernehmen; der OnlineAuftritt der Warrior Cats (Hunter seit 2003) zum Beispiel referiert mit Landkarten, Figurendarstellungen, Geschichten und Games (wie dem Memoryspiel) auf das »gemeinsame folgenübergreifende Weltmodell«
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_17
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
(Krah 2007, 433) und dient zugleich als Gedächtnis der inzwischen über sechs sogenannte Staffeln laufenden Buchserie. Diese Kontinuität unterscheidet Serien grundsätzlich von Reihen: Hier werden einzelne Produktionen in der Programmstruktur von Fernsehanstalten oder Verlagen unter ein gemeinsames Label gestellt: »Die Reihe bildet weder einen chronologischen Zusammenhang der einzelnen Folgen noch ein gemeinsames folgenübergreifendes Weltmodell aus [....]« (ebd.). Ein Beispiel aus dem kinder- und jugendliterarischen Feld ist die erfolgreiche mädchenliterarische Reihe Freche Mädchen – freche Bücher (seit 1998). Die Geschichten stammen von unterschiedlichen Autorinnen, sie stehen zunächst für sich und sind nicht durch ein gemeinsames Figurenensemble oder eine übergreifende Handlung miteinander verbunden. Unter diesem Dach können allerdings wiederum Serien zu einzelnen Figuren entstehen, deren Geschichte dann von den jeweiligen Autorinnen weitererzählt wird.
17.3 Historische Entwicklungen Das serielle Erzählen lässt sich bis zur Entstehung der spezifischen Kinderliteratur im 18. Jahrhundert zurückführen: So erscheint Christian Felix Weißes Kinderzeitschrift Der Kinderfreund (1776–1782) zunächst im Wochen-, dann im Vierteljahresrhythmus. Nach dem Vorbild der ›moral weeklies‹ sind die – teils wiederum segmentiert publizierten – Einzelbeiträge in die Rahmenhandlung einer fortgesetzt erzählten Familiengeschichte integriert. Auch Joachim Heinrich Campes in zwei Bänden erschienener Roman Robinson der Jüngere (1779/80) erzählt die abenteuerliche Geschichte im Rahmen einer fiktiven Familienunterhaltung, die über insgesamt 30 Abende hinweg läuft. Die einzelnen Episoden brechen häufig im spannenden Moment ab und machen mit dieser Form des Cliffhangers Lust auf die Fortsetzung. Die wachsende Massenkultur im späteren 19. Jahrhundert gibt auch dem seriellen Erzählen weiteren Auftrieb, insbesondere Reihen und industriell produzierte Heftserien gehören seit der Jahrhundertmitte zu den in hohen Auflagenzahlen verbreiteten Erfolgsformaten. Mit den populären Zeitschriften entstehen zudem Publikationsmedien, die sich in ihrer periodischen Erscheinungsform insbesondere für Fortsetzungserzählungen eignen. Das kinder- und jugendliterarische Erzählen differenziert sich in diesem Zusammenhang
auch genderbezogen aus: So erschienen die Abenteuererzählungen Karl Mays im 19. Jahrhundert teils zunächst in Fortsetzungen in der populären ›Illustrierte(n) Knaben-Zeitung‹ Der gute Kamerad (ab 1887); derselbe Verlag Spemann brachte die an Mädchen adressierte Zeitschrift Das Kränzchen (1889/90) heraus, die auch die sogenannten Backfischerzählungen, etwa von Else Ury, in Fortsetzungen abdruckte. Auch die in Buchform publizierten Backfischromane sind seriell fortgeschrieben worden: Emmy von Rhodens 1885 erschienener Trotzkopf-Roman wurde nach dem Tod der Autorin u. a. von ihrer Tochter Else Wildhagen fortgesetzt (Trotzkopfs Brautzeit, 1892; Aus Trotzkopfs Ehe, 1895); Else Urys Nesthäkchen-Serie (1913–1925) verfolgt die – im Sinne zeitgenössischer Genderkonstruktionen idealtypisch überformte – Entwicklung Annemarie Brauns von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter. Nach 1945 wurden viele der erfolgreichen mädchen- und abenteuerliterarischen Serien neu aufgelegt. Außerordentlich populär wurden seit den 1950er Jahren auch in Deutschland die bis heute (teils in überarbeiteter Form) aufgelegten Internatsund Abenteuerserien von Enid Blyton: Hanni und Nanni (St. Clare’s, engl. 1941–1945; dt. seit 1965), Geheimnis um ... (Mystery of ..., engl. 1943–1961; dt. 1953–1964) und vor allem Fünf Freunde (Famous Five, engl. 1942–1963; dt., seit 1953). Nur die ersten übersetzten Bände dieser Serie stammten von Blyton selbst; Folgebände liefen weiterhin unter dem eingeführten Markenzeichen Blyton, wurden jedoch für den deutschsprachigen Markt von deutschen Autorinnen fortgeschrieben. Auf eine ähnliche Übersetzungs- und andauernde Erfolgsgeschichte kann die Mystery-Detektivserie Die drei ??? (The Three Investigators 1964–1990; dt. seit 1968) zurückblicken; von Robert Arthur begründet und von verschiedenen US-amerikanischen Autoren fortgesetzt, erschienen nach der Einstellung der Serie in den USA ab 1993 eigene Fortsetzungsbände in Deutschland. Mit der Serie Ein Fall für TKKG (seit 1979 unter dem Pseudonym Stefan Wolf, d. i. Rolf Kalmuczak, publiziert) entstand ab Ende der 1970er Jahre eine der kommerziell erfolgreichsten deutschsprachigen Detektivserien. Sowohl Die drei ??? als auch TKKG waren zudem als Hörspielserien sehr populär. Die Kinderliteraturreformbewegung der 1970er Jahre hat Folgen auch für das serielle Erzählen. So ist die im Zentrum von Paul Maars Sams-Erzählungen (seit 1973) stehende phantastische Figur als Verkörperung des unangepassten, gewitzten und frechen Kin-
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des deutlich im anti-autoritären (Zeit-)Geist verfasst. In den Kontext der emanzipatorischen Kinder- bzw. Mädchenliteratur zählen auch Christine Nöstlingers Gretchen Sackmeier-Bände (1981–1988), die mit der Tradition der weit bis in die 1960er Jahre verbreiteten Backfisch-Serien brechen. Mit Angela Sommer-Bodenburgs Kleinem Vampir (1979) entsteht Ende der 1970er Jahre zudem eine weitere erfolgreiche Serie im Feld der phantastischen Literatur, die die später in zahlreichen Vampirserien wiederkehrende populärkulturelle Ikone kinderliterarisch beliebt macht. Die über Jahrzehnte fortgesetzte (und in zahlreiche Medien adaptierte) Sams-Serie, die die Geschichte der Figuren über einen langen Zeitraum hinweg verfolgt, ist zugleich ein Beispiel für ein Erzählen nach dem Muster der progressive series bzw. des serials. Historisch betrachtet haben in der Kinderliteratur lange Zeit abgeschlossene Episodenserien (successive series, s. hierzu den Abschnitt Typologie) dominiert. Diese wurden, verstärkt seit den 1970er Jahren, auch in umfangreiche Medienverbünde integriert (vgl. Josting 2011). Als Film-, TV- oder Hörspielserien, die teils auf der Basis erfolgreicher Bücher und/oder parallel zu den Buchserien produziert wurden, haben international produzierte TV-Serien und Filme zu Enid Blytons Fünf Freunde-Bänden, die gleichnamigen Hörspielserien zu TKKG (Europa seit 1981) und die Die drei ??? (Europa seit 1979), aber auch die in Japan produzierten Animationsserien zu Die Biene Maja (dt. Erstausstrahlung 1976–1977 ZDF) und Heidi (dt. Erstausstrahlung 1977–1978 ZDF) ihre eigene Seriengeschichte geschrieben. Keines der angesprochenen Phänomene (Serialisierung, Medienwechsel, Medienverbund) allerdings ist neu: Bereits L. Frank Baums 1900 erschienener Roman Der Zauberer von Oz (The Wonderful Wizard of Oz, dt. 1940) wurde – wie viele erfolgreiche Kinderbücher später dann auch – in weiteren Bänden fortgeschrieben (zwischen 1904 und 1910 erschienen fünf Fortsetzungsbände, von 1913 an schrieb Baum jedes Jahr einen weiteren Roman), schnell entstand ein Musical, Baum arbeitete selbst an Theater- und Filmversionen (vgl. Kelleter 2013). Seit den 1980er Jahren differenziert sich das serielle Erzählen in Kinder- und Jugendliteratur und -medien weiter aus. Detektivserien zählen zwar nach wie vor zu den erfolgreichsten Serienproduktionen. Das Spektrum ist allerdings inzwischen sehr viel breiter; insbesondere die kommerziell erfolgreichen Serien arbeiten zunehmend auch mit genderbezogenen Adressierungen, die sich in Paratexten und Texten manifes-
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tieren: Prinzessin Lillifee (Finsterbusch [seit 2004]), Käpt’n Sharky (Langreuter/Neuendorf [seit 2006]), Die Wilden Hühner (Funke [1993–2003]; 2009 als Buchadaption des dritten Kinofilms fortgesetzt) und Die Wilden Fußballkerle (Massanek [2002–2006]) sind sehr erfolgreiche Beispiele für solche Positionierungen, die häufig mit stereotypen Geschlechterbildern einhergehen. Serien finden sich in der Kinderund Jugendliteratur in unterschiedlichen Buchgattungen, Genres und Erzählformen: Von Bilderbüchern und Erstlesegeschichten, wie der Conni-Serie (seit 1992), Nöstlingers Geschichten vom Franz (1984– 2011) oder Kirsten Boies Der kleine Ritter Trenk (seit 2006) über kinderliterarische Detektiv-, Schul-, Tier-, Fußball-, Banden- und Abenteuerserien, Comic- und Comicromanserien wie Jeff Kinneys Gregs Tagebuch (Diary of a Wimpy Kid, engl. seit 2007; dt. seit 2008), die in Deutschland wiederum erfolgreiche Nachfolger gefunden hat (zum Beispiel Mein Lottaleben, Pantermüller [seit 2012]), bis hin zu jugendliterarischen Thriller- und Fantasy-Serien. Etablierte Erfolgsserien wie Die drei ???, TKKG und Conni haben sich zudem weiter ausdifferenziert und richten sich an jüngere Fans (Die drei ??? Kids [seit 1999]; TKKG Junior [seit 2018]), an ältere Fans (Conni & Co [Buch 2016], Conni15 [seit 2013]) oder dezidiert an Leserinnen, wie im Fall der drei !!! (seit 2006). In seriengeschichtlicher Perspektive gilt J. K. Rowlings Harry Potter-Heptalogie (engl. 1997–2007; dt. 1998–2007) als markanter Einschnitt: Sie ist ein Paradebeispiel für ein fortlaufendes, sich auch über unterschiedliche Medien hinweg verzweigendes, episch ausgreifendes und dabei komplexer werdendes Erzählen, das darüber hinaus generationenübergreifend rezipiert wurde. Mit ihrem außergewöhnlichen Erfolg hat die Harry Potter-Serie die weitere kinder- und jugendliterarische Entwicklung hin zum mehrbändigen, im Sinne Victor Watsons progressiven Erzählen geprägt, das häufig auch ein breites Adressatenspektrum anspricht (vgl. Schlachter 2016). Philip Pullmans Trilogie His Dark Materials (engl. 1995–2000; dt. 1996–2001) ist ein weiteres Beispiel für ein solches vielschichtiges, mehrfach codiertes Erzählen, das unterschiedliche Lesarten zulässt und über Altersgrenzen hinweg erfolgreich ist. 2017 ist der erste Band einer weiteren Trilogie (The Book of Dust vol. 1: La Belle Sauvage; dt. His Dark Materials 0: Über den wilden Fluss) erschienen, der als Prequel die Vorgeschichte erzählt. 2019 folgte der zweite Band als Sequel der Ursprungsserie (The Secret Commonwealth; dt. His Dark Materials 4: Ans andere Ende der Welt).
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
17.4 Typologien Serien sind mit Bezug auf die Konstruktion der Fortsetzungsgeschichten, das zeigt der historische Abriss, selbst noch einmal zu differenzieren. Schaut man auf die intraserielle Kohärenz, d. h. auf die Verknüpfung der einzelnen Folgen in ihrem Verhältnis zur gesamten Serie, dann gibt es signifikante Unterschiede. Watson (2004) unterscheidet Bezug nehmend auf kinderund jugendliterarische Serien zwischen successive und progressive series. Die Fernsehforschung differenziert in series und serials (hierzu Schleich/Nesselhauf 2016, 120–136). Weber und Junklewitz unterscheiden mit Blick auf die beiden Grundtypen in Episodenserie und Fortsetzungsserie (vgl. Weber/Junklewitz 2008, 21), teils wird im deutschsprachigen Diskurs vom vertikalem bzw. dem horizontalen Erzählen gesprochen (vgl. Fröhlich 2018, 11). (Successive) series sind charakterisiert durch in sich abgeschlossene Episoden. Das jeweilige Abenteuer, der jeweilige Fall, ist neu und bietet Abwechslung, der erzählerische Rahmen, die Figuren und Konfigurationen, die Schauplätze, auch das Erzählschema (bspw. Krimi, Abenteuererzählung oder Schulgeschichte) bleiben so, wie sie bekannt und vertraut sind. Ein zentrales Kennzeichen dieser successive series ist damit nicht nur die Wiedererkennbarkeit, sondern die Unveränderlichkeit der Figuren: »A successive series is one in which the characters show few signs of growing older or changing in any significant way. [...] The works in most successive series may be read in any order, since none is critically dependent upon its place in the sequence« (Watson 2004, 533). Bekannte Beispiele für solche successive series sind TKKG, Fünf Freunde, Die drei ???, oder Die Schule der magischen Tiere (Auer [seit 2013]). Die episodische Abgeschlossenheit unterscheidet successive series von serials bzw. in der Terminologie Watsons von progressive series: »A progressive series is one in which a continuous and developing story is told in instalments, each book telling a different part of a sequential narrative, with the characters growing older and more mature« (ebd., 532). Die einzelnen Episoden bauen in dieser Form der Serie aufeinander auf, sie setzen die Erzählung fort, Handlung und Figuren entwickeln sich fortlaufend, Stück für Stück, weiter. Um der Entwicklung und Spannungsdramaturgie folgen zu können, müssen die Einzelbände entsprechend nacheinander gelesen werden. Das kinder- und jugendliterarisch erfolgreichste Beispiel für eine solche progressive series bzw. ein se-
rial ist Rowlings Harry Potter-Serie. Über die sieben Bände hinweg wird hier in vielschichtiger Weise die Entwicklungsgeschichte des Protagonisten und seiner Freunde von der Kindheit bis zur Adoleszenz erzählt – und mit dem seit 2016 in London zu sehenden Theaterstück Harry Potter and the Cursed Child auch deutlich darüber hinaus: Harry Potter setzt hier nun als Familienvater und in fester Anstellung im Zauberministerium sein Werk fort. So verbindet sich die übergreifende Geschichte des Erwachsenwerdens mit dem fortgesetzten Kampf gegen das Böse. Das Beispiel Harry Potter zeigt auch, dass episodische Abgeschlossenheit und serielle Offenheit, die Watsons Typologie idealtypisch trennt, zusammenspielen: Das Schul- bzw. Internatsjahr gibt die relative zeitliche Geschlossenheit der Bände vor, in denen jeweils ein Abenteuer endet; die Geschichte bleibt aber mit Blick auf die weitere Handlung und die Figurenentwicklung offen bzw. fortsetzungsoffen. Viele Serien bilden Mischformen, mit Robin Nelson (2007) flexi-narrative aus, die sich zwischen den beiden seriellen Grundtypen verorten lassen. Die einzelnen Episoden bilden einen in sich abgeschlossenen Subplot, sie sind zugleich durch fortlaufende Erzählstränge in eine übergreifende Dramaturgie integriert. Wie sich die einzelnen Episoden einer Serie zum übergreifenden Handlungsbogen, dem story arc, verbinden, wäre also im Einzelfall zu differenzieren. Weber/Junklewitz unterscheiden mit Blick auf die »intraseriale Kohärenz« (Weber/Junklewitz 2008, 24) zwischen der ›Fortsetzungsreichweite‹, die beschreibt, über welche Distanz der Handlungsbogen führt, und ›Fortsetzungsdichte‹, die das quantitative Verhältnis zwischen abgeschlossenen und fortgesetzten Folgen bestimmt.
17.5 Narratoästhetik Mit den unterschiedlichen Typen des seriellen Erzählens verbinden sich unterschiedliche Erzählmuster, narrative Strategien und Komplexitätsgrade. (Successive) series folgen häufig genrespezifischen Erzählschemata (Detektiv-, Abenteuer-, Schul- oder Tiererzählungen), die variiert werden und sich auch hybridisieren können – ein sehr erfolgreiches Beispiel ist Margit Auers Die Schule der magischen Tiere. Da die Einzelbände das jeweilige Abenteuer oder den Fall in abgeschlossenen Folgenhandlungen jeweils zu einem (guten) Ende bringen, arbeiten sie nicht mit Cliffhangern. Allenfalls teasern sie den Folgeband an,
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indem das erste Kapitel in Teilen abgedruckt und im spannenden Moment abgebrochen wird. Der Status Quo der erzählten Welt ist hier auf Dauer gestellt, series beginnen immer wieder von vorne, führen an dieselben Orte, lassen das eingeführte typisierte Figurenensemble auftreten. In Epitexten, in Intros oder im Vorspann werden die Figuren mit ihren typischen Attributen häufig eingangs noch einmal kurz vorgestellt. Das für Fernsehserien typische ausführliche »Previously on ...«, an die die aktuelle Folge dann anknüpft, findet sich beispielsweise in Maars Sams-Serie in Form einer der eigentlichen Erzählung vorangestellten kurzen Zusammenfassung des vorangegangenen Geschehens. Da die Einzelbände in der Regel mit einem relativ großen zeitlichen Abstand publiziert werden, erleichtern diese Rückwendungen den Wiedereinstieg in die Serie. Häufig finden sich auch im Erzähltext Analepsen, die auf Erlebnisse, von denen in früheren Bänden erzählt wurde, oder auf Charakteristika der Figuren verweisen. Auch running gags, wiederkehrende Motive (wie das rituelle Überreichen der Visitenkarte der drei ???) oder eingespielte Beziehungsmuster tragen zur Kohärenz von (successive) series bei. Intertextuelle und intermediale Verweise auf ikonische Vorläufer des Genres, etwa Sherlock Holmes (Arthur Conan Doyle [1886–1927]), können zudem zum selbstreferentiellen oder parodistischen Spiel mit den bekannten Erzählkonventionen und seriellen Figuren genutzt werden. So können Leseerwartungen durchbrochen, Überraschungsund Spannungseffekte gesetzt werden. In serials erzählen die Einzelbände und -folgen über einen längeren Zeitraum hinweg; die Handlungen verzweigen sich, Konflikte und Geschichten werden komplexer. Im Vergleich zu den häufig stark typisierten, teils auch stereotypen Figuren der successive series können Figuren hier stärker individualisiert und psychologisch differenziert gezeichnet werden. Die miteinander verknüpften Texte sind erzähltechnisch raffinierter gemacht, arbeiten mit Vorausdeutungen und erzählerischen Finten und schließen nicht zuletzt ein sehr viel größeres und veränderliches Figurenensemble ein. So ist die Notwendigkeit der Rekapitulation, die filmisch zumeist in einem Zusammenschnitt wichtiger Szenen (›recap‹) erfolgt, gegeben, um weiter folgen zu können. In den über lange Handlungs- und Spannungsbögen geführten Buchserien wird häufig durch erzählerische Einschübe, Figurenrede oder durch Rückblenden die Vorgeschichte in den für das Weitererzählen relevanten Geschehnissen erinnert und dieses präsent gehalten. Zudem ar-
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beiten serials im Gegensatz zu series mit Cliffhangern, die als gezielte Unterbrechung der Narration am Spannungshöhepunkt neugierig auf die Fortsetzung machen (vgl. Fröhlich 2015).
17.6 Inter- und transmediale Aspekte Jugendliterarische Serien wie Harry Potter, Stephenie Meyers Twilight-Serie (engl. 2005–2008, dt. 2006– 2009), Suzanne Collins’ The Hunger Games (engl. 2008–2010, dt. 2012–2015) oder die Divergent-Serie (engl. 2011–2014; dt. 2012–2014) der Autorin Veronica Roth sind längst nicht nur als Bestseller, sondern auch als Blockbuster erfolgreich. Die auf dem gleichnamigen Roman von Jay Asher basierende NetflixSerie Tote Mädchen lügen nicht (13 Reasons Why, 2017–2020) zeigt, wie mit den sich im Kontext der Digitalisierung ausdifferenzierenden Distributionsund Rezeptionsmöglichkeiten neue Serien-Formate entstehen. Der Streamingdienst greift auch in weiteren Fällen auf kinder- und jugendliterarische Buchserien zurück, so auf Lemony Snickets Eine Reihe betrüblicher Ereignisse (A Series of Unfortunate Events, 2017–2019); zu Luke Pearsons Kindercomic-Serie Hilda (engl.; dt. seit 2010) entstand 2018 eine Animationsserie. Mit der gegenwärtig sich abzeichnenden Entwicklungsdynamik verändert sich das serielle Erzählen, und dies zeigt sich auch im Feld der Kinderliteratur. Zum Beispiel im Fall der seit 25 Jahren international erfolgreichen kinderliterarischen Horror-Serie Gänsehaut (Goosebumps, engl.; dt. 1992–1997) von R. L. Stine. Aus der ursprünglichen successive series wird mit Spin-Offs wie Gänsehaut HorrorLand (Goosebumps HorrorLand, engl.; dt. 2008–2012) eine progressive series, die den Handlungsbogen über die Einzelbände hinweg führt. Auch die in mehreren sogenannten Staffeln publizierten Warrior Cats des Autorinnenkollektivs Erin Hunter oder Joachim Massaneks Wilde Fußballkerle mit ihren über viele Bände, Spin-Offs, eine Animationsserie und Filme geführten expandierenden Erzähluniversen zeigen die neuen Dimensionen an. Im Anschluss an aktuelle theoretische Ansätze zur Populären Serialität (Kelleter 2012) lässt sich die kinder- und jugendliterarisch sich abzeichnende Entwicklungsdynamik als Zeichen serieller Selbstbeobachtung verstehen: Serien werden in diesem Konzept serieller Evolution als »historische Akteure« (ebd., 20) verstanden, die miteinander und mit ihren Rezipien-
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
ten interagieren und in diesem Resonanzraum auch ihre Erzählweisen verändern. Andreas Jahn-Sudmann und Frank Kelleter (2012) verweisen insbesondere auf Überbietungseffekte, die sich strukturell nicht nur dadurch ergeben, dass Serien mit jeder weiteren Folge über sich hinaus wachsen (müssen). Sie stehen zugleich in Konkurrenz zu anderen populären Genres und – so wäre mit Blick auf Buchserien zu ergänzen – auch zu anderen medialen Formen. So sind etablierte Film- und TV-Formate mit ihren Erzählmustern Bezugspunkte für kinder- und jugendliterarische Genres wie Comedy-, Teen-Drama, Horror- und Mystery-Serien, an die sie zugleich variierend, kombinierend und teils auch hybridisierend anknüpfen. Intertextualität und Intermedialität sind auch und insbesondere für das serielle Erzählen, das auf die eigenen Vorgänger rekurriert, sich auf etablierte Genres, aber auch auf Figuren und Motive der Populärkultur bezieht, wichtige Kategorien. System- und Einzeltextreferenzen sind in narrative Strategien eingebunden und eröffnen weitere Assoziations- und Erzählräume, die auch über das spezifisch kinder- und jugendliterarische Feld hinausführen. So setzt sich das computerspielbasierte transmediale Erzähluniversum von World of Warcraft inzwischen auch kinderliterarisch fort: Der Band Traveler (Weisman [engl. 2016; dt. 2017]) ist als Prequel zur Serie erschienen. Vergleichbar verfahren Buchpublikationen zu den global und transmedial verbreiteten Serien des DC-Superheldenuniversums (zum Beispiel Wonder Woman: Warbringer/Wonder Woman: Kriegerin der Amazonen (Bardugo [engl. 2017; dt. 2018]); auch zur Netflix-Jugendserie Riverdale erschien ein jugendliterarisches Prequel: Riverdale. Der Tag davor (Riverdale. The Day Before, Ostow [engl. 2018; dt. 2019]). Jugendliterarische Serien schreiben sich so in bestehende Serien ein oder entwickeln eigene Spin Offs, wie die Enola Holmes-Krimiserie (Springer [engl. 2006–2010; dt. seit 2019]), in deren Zentrum die fiktive jüngere Schwester Sherlock Holmes’ steht. Intertextuelle und intermediale Referenzen können zudem als narrative Strategien dienen, um Serien mehrdeutig und für heterogene Adressatengruppen attraktiv zu machen (vgl. Hoffmann 2018). Birgit Schlachter (2016, 143–145) unterscheidet mit Blick auf das Koordinatensystem, in das serielle Entwicklungen konzeptionell eingebunden sind, paradigmatische und syntagmatische Relationen. Erstgenannte meinen den Zusammenhang von Einzelwerk, Einzelserie und Genre, auf dessen Erzählschemata es sich bezieht, die teils auch in anderen, vor allem audio-visuellen Medien, etabliert wurden.
Serialität im syntagmatischen Sinn meint demgegenüber den Bezug der Einzelfolgen, die sich aufeinander beziehen, aufeinander aufbauen, dabei über sich und eben zunehmend über Mediengrenzen hinaus wachsen können. In diesem Beziehungsgefüge lassen sich nun einerseits die zahlreichen Standardisierungsprozesse verorten, die in der Kinder- und Jugendliteratur zu beobachten sind, wenn kommerziell erfolgreiche Serien schnell Nachfolger finden. Es können andererseits vieldeutige, anspielungsreiche Texte und Medienversionen mit tiefer gehenden Konflikten, differenziert gezeichneten Figuren und mehrsträngigen Handlungsbögen entstehen, die durch narrative Strategien von Öffnung und Schließung fortlaufend zusammen und kohärent gehalten werden müssen. Mit den fortgesponnenen Erzähluniversen und im medienübergreifenden Zusammenspiel von Büchern, Filmen, Computerspielen, Apps, E-Novelas etc. verändern sich damit nicht nur quantitativ gesehen die Möglichkeiten, Stoffe in unterschiedlichen Medien zu verbreiten; es verändern sich auch qualitativ die Formen des Erzählens. Es entstehen dynamisch wachsende, offene Narrationen, die nicht für sich stehen, sondern als ein übergreifendes Narrativ anzusehen sind. Das unterscheidet sie von Medienadaptionen bzw. -wechseln, wie Literaturverfilmungen, bei denen Buch und Film relativ unabhängig voneinander produziert und als eigenständige Kunstwerke wahrgenommen werden. Henry Jenkins, der sich grundlegend und wirkmächtig mit diesen Zusammenhängen des Mediengrenzen überschreitenden Erzählens beschäftigt hat, spricht entsprechend von einer »unified and coordinated entertainment experience« (Jenkins 2007), die mit den transmedialen Fortsetzungsgeschichten, im Zusammenspiel der medienspezifisch geformten narrativen Komponenten generiert wird. Für das von ihm so genannte ›Transmedia Storytelling‹ ist es konstitutiv, dass die verschiedenen Medienversionen, die zu den dynamisch sich weiter entwickelnden, expandierenden Erzähluniversen beitragen, co-creativ verfahren, d. h. jedes Medium trägt mit einem eigenen Ansatz, mit neuen Geschichten und Episoden, mit anderen Perspektiven und zusätzlichen Informationen zur Erzählwelt bei, vervielfältigt und erweitert sie auf diese Weise: »A transmedia story unfolds across multiple media platforms, with each text making a distinctive and valuable contribution to the whole« (Jenkins 2006, 97–98, s. Kap. 35). Ein solches expandierendes und intermedial vielfältig verflochtenes Erzähluniversum kann im Prinzip
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unendlich weitererzählt, ausgearbeitet und ausgemalt werden: Spin-Offs erzählen von den Gründungszeiten und -mythen, stellen andere Figuren in den Mittelpunkt oder koppeln Bücher aus, die in der fiktionalen Erzählwelt eine Rolle spielen. Das Spiel mit dem ›Buch im Buch‹ eröffnet darüber hinaus ein metafiktionales Spiel mit Medialität und Materialität. Selbstreferenzen, Rückbezüge, wiederkehrende Figuren und Konflikte sowie Anspielungen, die die Rezipienten auch auf die falsche Fährte führen können, bieten nicht nur immer wieder neue Erzählanlässe, sie generieren damit auch ein »serielles Gedächtnis« (Schleich/Nesselhauf 2016, 217). Der fortgesetzte Ausbau der Erzählwelten produziert bei Autoren und Rezipienten Jenkins folgend einen »encyclopedic impulse« (Jenkins 2007). Dieser manifestiert sich nicht zuletzt auch in den Aktivitäten der Fans, die etwa zu Serien wie den Warrior Cats oder Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie (2003–2007) eigene Wikis erstellen und so die Erzählwelten zugleich präsent halten. Jenkins betont grundsätzlich den Anteil der Fans, die mit Fan-Fiction und Fan-Art eigene Zugänge zu den Erzählwelten schaffen und die Grenzen zwischen Rezeption und Produktion verschwimmen lassen. Jenkins spricht von sogenannten partizipativen Kulturen, die insbesondere im Zeichen von Digitalisierung und Medienkonvergenz neue Dimensionen annehmen. Er unterscheidet dabei Aktivitäten, die von Medienkonzernen gesteuert werden, sogenannte top down-Aktivitäten, und solche, die von Fans bottom up ausgehen (Jenkins 2006). Beides kann zusammenspielen, aber auch gegeneinander laufen: So gab es Proteste von Fans, nachdem die Plattform zur Harry Potter-Serie, Pottermore, umgestellt wurde und die früher vielfältigeren Formen der Interaktionen damit beschränkt wurden. Verlage nutzen Websites zu erfolgreichen Serien, nicht nur um die Wartezeiten zwischen den Bänden zu verkürzen und erzählerisches Zusatzmaterial einzustellen, sondern auch um in Foren und Wikis Möglichkeiten zum Mitmachen und zur Anschlusskommunikation zu bieten. Facebook-Seiten zu Figuren, Postings und Augmented Reality Games zu Serien überspielen zudem die Grenzen von faktualem und fiktionalem Erzählen, sodass transmediale Erzählstrategien, crossmediale und transfiktionale Vermarktung in den neuen seriellen Formen zusammenspielen. Zu sehen ist an diesen Entwicklungen, dass sich im Metaprozess der Mediatisierung (vgl. Krotz 2007) und mit den Digitalen Kulturen (Stalder 2016) die medialen und sozio-kulturelle Rahmenbedingungen
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verändern; sie bieten Möglichkeiten der Erzählung, der Expansion, der Reflexion sowie der Anschlusskommunikation. Wie sich das serielle Erzählen in diesem Kontext und mit diesen fortlaufenden Prozessen weiter entwickeln wird, ist also selbst fortsetzungsoffen. Literatur
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
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Ute Dettmar
18 Unzuverlässiges Erzählen
18 Unzuverlässiges Erzählen 18.1 Einleitung Die Erzählerin Lili in Valérie Dayres Lilis Leben eben (C’est la vie, Lili, franz. 1991; dt. 2005) ist zwölf Jahre alt, als sie auf dem Weg in die Ferien von ihren Eltern an einer Autobahnraststätte vergessen wird. Das Mädchen arrangiert sich mit seinem Schicksal: Lili richtet sich in der für sie tristen Parallelwelt der Raststätte ein und wartet auf die Rückkehr der ungeliebten Eltern. Tagebuchartig schildert Lili ihre Erlebnisse der 24 Tage, die sie an der Raststätte verbringt. Plötzlich endet diese Erzählung und ein heterodiegetischer Erzähler übernimmt: Lilis Aufzeichnungen entpuppen sich als Phantasieprodukt, das vermeintlich verlassene Kind befindet sich in Wirklichkeit mit den Eltern im Sommerurlaub. In einem der letzten Einträge gesteht Lili: »Ich hab gelogen.« (Dayre 2005, 77) Lügende Figuren sind in der Kinder- und Jugendliteratur ebenso zahlreich wie prominent, als Beispiel sei hier Pippi Langstrumpf angeführt. Doch während sich Pippis Lügen oftmals an erwachsene Figuren des Romans richten und man sich als Leser mitunter schadenfroh an ihnen erfreuen kann, ist die Situation bei Lili anders gestaltet, handelt es sich in ihrem Fall im Unterschied zur Figur Pippi um eine Erzählinstanz. Durch den ontologisch unsicheren Status ihrer Erzählung verliert Lili das logische Erzählerprivileg; der Anspruch, dass Erzähleraussagen »im Rahmen der erzählten Welt [...] nicht nur wahr, sondern notwendig wahr« (Martínez/Scheffel 2016, 102) seien, wird bei Dayre unterlaufen. Der folgende Beitrag befasst sich mit dem Phänomen des unzuverlässigen Erzählens, das im Kontext der Kinder- und Jugendliteratur als noch junges Verfahren erachtet werden kann: Etwa seit der Jahrtausendwende haben Verfahren des unzuverlässigen Erzählens überhaupt erst in relevantem Ausmaß Einzug in die Kinder- und Jugendliteratur gefunden. Nach einer kurzen Auseinandersetzung mit dem Begriff der erzählerischen Unzuverlässigkeit wird im Folgenden zunächst auf die Geschichte erzählerischer Unzuverlässigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur hingewiesen. Anschließend wird auf verschiedene Typologien eingegangen; dabei wird der kontroverse wissenschaftliche Diskurs überblicksartig zusammengefasst. Narratoästhetische Auseinandersetzungen mit unzuverlässigem Erzählen in der aktuellen Jugend- sowie Kinderliteratur liefern den Hauptteil dieses Beitrags, wobei neben vorkommenden Erschei-
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nungsformen auch ihre jeweiligen Funktionen berücksichtigt werden. Abschließend wird auf intermediale Zusammenhänge verwiesen.
18.2 Begriffsdefinitionen Manche Erzählinstanzen lügen, andere verschweigen Dinge, verstehen sie falsch oder nehmen sie aus den unterschiedlichsten Gründen nicht wahr. Gemeinsam ist ihnen allen ein Verlust des genannten logischen Erzählprivilegs. Solche »Erzähler, deren Behauptungen, zumindest teilweise, als falsch gelten müssen mit Bezug auf das, was in der erzählten Welt der Fall ist« (ebd., 105), werden als unzuverlässig bezeichnet. Diese Definition ist nur eine von vielen, sie ist einzuordnen in einen Diskurs zum unzuverlässigen Erzählen, der mit einer ersten Bestimmung durch Wayne C. Booth im Jahre 1961 seinen Anfang genommen hat und bis in die Gegenwart andauert. Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen keineswegs homogen ist, verwundert nicht, handelt es sich beim unzuverlässigen Erzählen um einen ebenso uneindeutigen wie komplexen Sachverhalt (vgl. Nünning 2005, 90). Dies liegt vor allem daran, dass das Begriffsverständnis in hohem Maße abhängig ist von jeweils aktuellen wissenschaftlichen Strömungen; das Phänomen hat sich als kontrovers und nur schwer greifbar erwiesen. Zu einem Konsens ist es bis dato nicht gekommen.
18.3 Historische Entwicklungen Nur sehr wenige an Kinder bzw. Jugendliche adressierte Werke, die vor 2000 erschienen sind, enthalten unzuverlässige Erzähler. Regina Hofmann (vgl. 2010, 180) weist etwa auf unzuverlässige Erzählverfahren in Anna Steins 52 Sonntage – Tagebuch dreier Kinder (1846), Edith Nesbits Die Schatzsucher (The Story of the Treasure Seekers, engl. 1899; dt. 1848) sowie Paula Dehmels Singinens Geschichten (1904) hin. Das wohl am häufigsten herangezogene Beispiel für unzuverlässiges Erzählen in der historischen Kinderliteratur ist Mark Twains Die Abenteuer des Huckleberry Finn (Adventures of Huckleberry Finn, engl. 1884; dt. 1890). Unzuverlässigkeit manifestiert sich insbesondere in Huckleberrys Einschätzungen seiner Taten: Der Junge fühlt sich schuldig, das Falsche getan zu haben, nachdem er dem Sklaven Jim bei dessen Flucht geholfen hat. Sein Schuldgefühl resultiert aus
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_18
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
den ihn umgebenden vorherrschenden kulturellen Gegebenheiten. Insbesondere stehen die Lehren der für seine Erziehung verantwortlichen Witwe in klarem Kontrast zu Huckleberrys Handlungen. Konterkariert wird dieses gesellschaftliche Bild insbesondere durch eine durchweg positive Figurenzeichnung Jims. Zwischen den Zeilen wird so in Die Abenteuer des Huckleberry Finn mittels der Unzuverlässigkeit des Erzählers eine Kritik an jenen zeitgenössischen Ungerechtigkeiten transportiert, für die die Witwe Repräsentantin ist; Huckleberry befindet sich in einem Dilemma zwischen seiner Freundschaft zu Jim und dem allgegenwärtigen Rassismus, und er kommt in seiner Erzählung oftmals zu ›falschen‹ Schlüssen (vgl. hierzu insbes. Riggan 1981, 156). Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Die Abenteuer des Huckleberry Finn ursprünglich nicht allein an Kinder adressiert war – und auch nicht nur von Kindern rezipiert worden ist. Andere kindliche oder jugendliche unzuverlässige Erzähler entstammen einer Kindheitsliteratur, die zwar Kindheit thematisiert, aber eben nicht an Kinder oder Jugendliche gerichtet ist. Irmgard Keuns 1938 erschienenes Werk Kind aller Länder ist hierfür ein Beispiel: Dessen unzuverlässige Erzählerin Kully ist zwar ein Kind – der Roman aber klar an eine erwachsene Leserschaft adressiert. In den 1990er Jahren kommt es zu einer stärkeren Orientierung der Kinder- und Jugendliteratur an den Erzählverfahren der sogenannten Allgemein- oder Erwachsenenliteratur und damit auch an postmodernen Erzählverfahren; mit dieser Entwicklung geht ein Anstieg unzuverlässiger Erzählweisen in der Kinderund Jugendliteratur einher. Erst etwa ab der Jahrtausendwende halten diese dann in deutlichem Maße Einzug.
18.4 Typologien Booth gibt dem Phänomen den Namen: ›Unreliability‹. Darunter versteht er eine Diskrepanz zwischen den Aussagen und Handlungen der Erzählerfigur und den Aussagen und Werten des (werkimmanenten) impliziten Autors, der damit als Bezugsgröße für eine fiktionale Wahrheit dient (vgl. Booth 1961, 70–71). Dieser Auffassung wird ab den 1980er Jahren ein konstruktivistisches Verständnis erzählerischer Unzuverlässigkeit als sogenannte Naturalisierungsstrategie entgegengestellt: Unzuverlässigkeit ist in diesem Sinn nicht als textuelle Eigenschaft zu verstehen, sondern vielmehr als eine Rezeptionsstrategie, in der Inkon-
gruenzen der Erzählung vom Rezipienten als Hinweise auf eine erzählerische Unzuverlässigkeit gelesen werden. Jene Inkongruenzen werden kontextuell in bestimmten Bezugsrahmen (›frames of reference‹, vgl. Nünning 1998, 27) abgeglichen. Lassen sich die identifizierten Unstimmigkeiten nicht durch andere, zum Beispiel gattungsspezifische Faktoren erklären (naturalisieren), wird dem Erzähler erzählerische Unzuverlässigkeit diagnostiziert (zum Konzept der Naturalisierung vgl. Yacobi 1981 sowie Nünning 1998). Nünning bedient sich in diesem Kontext der ›frame theory‹; er entwickelt verschiedene literarische sowie nicht-literarische Bezugsrahmen, anhand derer textuelle Unstimmigkeiten abgeglichen werden. Die Diagnose erzählerischer Unzuverlässigkeit ist damit eine von verschiedenen Möglichkeiten, textuelle Unstimmigkeiten zu erklären. Obwohl die wissenschaftshistorisch begründete Dichotomie in dem Boothschen Verständnis folgende (und in Anlehnung an sein Werk Rhetoric of Fiction rhetorisch genannte) und konstruktivistische Ansätze generell mit erzählerischer Unzuverlässigkeit in Verbindung gebracht wird, ist eine klare Unterscheidung nicht immer möglich; in einigen Beiträgen wird auch eine Synthetisierung der verschiedenen Positionen angestrebt (zur Theorie unzuverlässigen Erzählens vgl. z. B. Nünning 1998; Köppe/Kindt 2014; Volpp 2016; Martínez/Scheffel 2016). Weitere Ansätze bemühen sich um Differenzierungen und Systematisierungen unterschiedlicher Formen erzählerischer Unzuverlässigkeit (vgl. z. B. Phelan 1999; Hansen 2007). Die geläufigste Systematisierung ist die von Matías Martínez und Michael Scheffel (1999) vorgenommene Unterscheidung mimetischer und theoretischer Unzuverlässigkeit: Mimetische Erzähleraussagen sind Beschreibungen der erzählten Welt, theoretische betreffen bspw. »kommentierende Stellungnahme[n] des Erzählers über die Welt überhaupt« (Martínez/ Scheffel 2016, 105). Mimetische Unzuverlässigkeit unterteilen sie zudem weiter in mimetisch teilweise Unzuverlässigkeit sowie mimetische Unentscheidbarkeit: Könne im ersten Fall noch auf eine ontologische Wahrheit geschlossen werden, sei dies im zweiten Fall nicht mehr möglich (vgl. ebd., 105–112). Im Unterschied dazu bleiben Beiträge, die sich mit erzählerischer Unzuverlässigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur befassen, bislang überschaubar. William Riggan (1981) betrachtet im Rahmen seiner Einteilung unzuverlässiger Erzähler mit den naiven Erzählern erstmals auch unzuverlässige kindliche bzw. jugendliche Erzähler, wobei diese auch nur einen Teil
18 Unzuverlässiges Erzählen
der Gruppe der ›naïfs‹ ausmachen und nicht auf Kinder- und Jugendliteratur spezifiziert sind. Eine direkte wissenschaftliche Auseinandersetzung innerhalb der Kinder- und Jugendliteraturforschung setzt 2005 ein: In unterschiedlicher Schwerpunktsetzung befassen sich Beiträge von Yvonne Wolf (2005), Hofmann (2010), Gabriele von Glasenapp (2011) sowie Daniela Frickel (2017) mit unzuverlässigen Erzählweisen in der Kinder- und Jugendliteratur. Hofmann schreibt kindlichen unzuverlässigen Erzählern zweierlei Motivation für ihre Erzählweisen zu, die sie als negativ bzw. positiv (vgl. Hofmann 2010, 181–182) bezeichnet. Eine negative Motivation könne aus einer kognitiven oder emotionalen Überforderung, aus »belastende[n] oder den kindlichen Erfahrungshorizont überfordernde[n] Situationen« (ebd.) oder auch aus Langeweile resultieren (vgl. ebd., 181). Andererseits könnten unzuverlässige kindliche Erzählinstanzen aus »durchaus positiven Gründen [motiviert sein], durch ihre Freude am Fabulieren, am Ausmalen phantastischer Welten und Erfinden von Geschichten, an Übertreibungen und dem Spiel mit Lüge und Wahrheit« (ebd., 182). Eine im November 2017 erschienene Ausgabe der Schweizer Zeitschrift kids & media ist dem unzuverlässigen Erzählen gewidmet; vor allem die Beiträge von Heidi Lexe und Sonja Klimek knüpfen an den Diskurs um (Un-)Zuverlässigkeit im kinder- bzw. jugendliterarischen Kontext an. Lexe unterscheidet drei verschiedene Situationen erzählerischer Unzuverlässigkeit in der aktuellen Jugendliteratur: »[d]efizitäre Ich-Erzähler_innen« (ebd., 7), wie Andreas Steinhöfels Romanreihe um Rico und Oskar (seit 2008), »[b]eschädigte Ich-Erzähler_innen« (ebd., 11) wie in Tote Mädchen lügen nicht (Thirteen Reasons Why, engl. 2007; dt. 2009) von Jay Asher oder »[f]ragmentierte Wirklichkeit« (ebd., 18) wie in Nils Mohls Es war einmal Indianerland (2011). Klimek setzt sich in ihrem Beitrag ebenfalls mit verschiedenen Aspekten erzählerischer Unzuverlässigkeit auseinander. Anders als Lexe, die sich nahezu ausschließlich mit Jugendliteratur befasst, nimmt Klimek auch Kinderliteratur in den Blick. Sie hebt dabei auch unterschiedliche Funktionen erzählerischer Unzuverlässigkeit in der KJL hervor: So könne unzuverlässiges Erzählen in kinderliterarischen Werken auf einen normabweichenden kognitiven Zustand der Erzählinstanz hinweisen, aber auch gesellschaftliche Missstände betonen. Klimek weist zudem auf die Tatsache hin, dass die Naturalisierung textueller Diskrepanzen als Hinweise auf vorliegende erzählerische Unzuverlässigkeit stark abhängig von der Reife der jeweiligen Rezipienten sei (vgl. Klimek 2017, 41).
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18.5 Narratoästhetik Im aktuellen Jugendroman findet sich ein großes Spektrum unzuverlässiger Erzählverfahren sowohl in Bezug auf die Erzählkonstruktionen als auch hinsichtlich der Funktionen. Erzählerische Unzuverlässigkeit dient insbesondere der Charakterisierung der Erzählerfigur im Kontext ihrer Ich-Findungsprozesse: Innere (Identitäts-)Konflikte, aber auch potentielle emotionale, kognitive oder moralische Defizite der Erzählerfigur werden mittels unzuverlässigen Erzählens auf der Ebene des Discours spürbar gemacht. Dies kann einhergehen mit lustvollem Fabulieren oder auch einem Hang zur Selbstüberschätzung der Erzählinstanzen. Das Hervorheben des Erzählaktes – auch in Form von intertextuellen Verweisen – ist dabei ein nicht unübliches Verfahren. Mitunter finden sich auch unentscheidbare Erzählanteile, wodurch zugleich auf eine epistemologische Unsicherheit der (jugendlichen) Gesellschaft verwiesen wird. In Do van Ransts Jugendroman Mütter mit Messern sind gefährlich (Moeders zijn gevaarlijk met messen, niederl. 2008; dt. 2010) befindet sich der zwölfjährige IchErzähler Jef in einer regressiven Krise: Der neue Freund seiner Mutter bedroht in seinen Augen die Ordnung der Familie, und sein Freund Süleyman scheint ihm keine Hilfe, sondern mit eigenen pubertären Problemen beschäftigt zu sein. Nach und nach offenbart sich in Jefs oft abfälligen Kommentaren und zunehmend unmoralischen Handlungen jedoch, dass er nicht so unschuldig ist, wie er es zu sein vorgibt. Mit der Entschlüsselung der Unzuverlässigkeit wird eine zutiefst verletzte und unsichere Seite des Ich-Erzählers sichtbar, der seine emotionalen Probleme durch Schuldzuweisungen auf andere projiziert. Erst nachdem die Situation eskaliert ist, wird für Jef eine Lösung der Krise angedeutet – und seine Erzählung wird am Erzählende etwas zuverlässiger. Die Unzuverlässigkeit ist, nach Martínez und Scheffel, als mimetisch charakterisierbar. Auch der namenlose Ich-Erzähler in Christian Frascellas Jugendroman Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe (Mia sorella è una foca monaca, ital. 2009; dt. 2012) hadert mit seiner Lebenssituation. Der junge Mann leidet darunter, dass seine Mutter die Familie für einen jungen Tankwart verlassen hat, und er kompensiert sein schlechtes Ich-Gefühl vor allem durch einen Hang zur Prahlerei. Ähnlich wie es bei Mütter mit Messern sind gefährlich der Fall ist, sind besonders die Fehleinschätzungen und beleidigenden Urteile des Erzählers über andere von selbstoffenbarender Qualität. Frascella verbindet die Defizite des großmäuligen
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
Antihelden dabei mit der Verwendung eines stark an den mündlichen Sprachgebrauch angelehnten Sprachstils – mit mitunter komischem Effekt. Auch in Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe wird die Erzählung mit zunehmender Reife des Erzählers zuverlässiger. Die Erzählung ist ontologisch entscheidbar, die Unzuverlässigkeit ist als mimetisch gekennzeichnet. Komplexer ist die Konstruktion in Mohls Jugendroman Es war einmal Indianerland (2011) gestaltet. Wieder erzählt ein konfliktbelasteter Jugendlicher, der ebenfalls unter den üblichen Teenagernöten leidet, doch muss er zusätzlich damit umgehen, dass sein Vater die Stiefmutter umgebracht hat. Anstatt sich wie versprochen zu stellen, flieht der Vater, und der Erzähler macht sich auf die Suche nach ihm. Eine zentrale Figur, Mauser, erweist sich dabei erst im Laufe des Romans als Imagination des Erzählers, als Abspaltung von Teilen seiner Persönlichkeit. Mit dieser vermeintlich realen, aber doch nur imaginierten Figur wird eine falsche Fährte hinsichtlich des Erzählten gelegt, und der erzählerischen Unzuverlässigkeit kommt in Es war einmal Indianerland so neben der Charakterisierung der Erzählerfigur auch eine spannungsfördernde Funktion zu. Die Komplexität der Unzuverlässigkeit geht mit einer Aufhebung der Chronologie aber noch einen Schritt weiter: Kapitelweise springt die Erzählung in der Zeit vor oder zurück, gelegentlich wird sie auch für eingeschobene Listen oder Kommentare unterbrochen. Auf der Bildebene wird dies zudem durch vignettenartige Symbole für play, pause, rewind, fast forward und stop markiert. Insbesondere in Bezug auf die Erzählgegenwart ergeben sich unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten, und je nach Lesart müssen (große) Erzählanteile komplett infrage gestellt werden. Die Unzuverlässigkeit ist ebenfalls als mimetisch charakterisierbar. Insgesamt ergibt sich eine durchgehende Unzuverlässigkeit in Es war einmal Indianerland – wobei sich die Qualität dieser in der Romanmitte ändert. In Tamara Bachs Roman Marienbilder (2014) ist der ontologische Status des Erzählten an vielen Stellen nicht mehr entscheidbar: Als die 16-jährige Ich-Erzählerin Mareike aus der Schule nach Hause kommt, ist ihre Mutter verschwunden; sie hat ohne Ankündigung die Familie verlassen. Mareike lenkt sich ab, indem sie auf eine Party geht und dort sexuellen Kontakt mit einem Bekannten hat; zwei Wochen später macht sie einen Schwangerschaftstest. Nacheinander werden von der haltlosen und völlig verunsicherten Erzählerin in der Folge unterschiedliche Möglichkeiten, wie die Geschichte weitergehen könnte, collagenartig
durchgespielt. Es ergibt sich eine Erzählsituation, in der oft nicht mehr zu entschlüsseln ist, was wahr ist und was erfunden: Es wird nicht aufgelöst, welche Handlungselemente tatsächlich zutreffen: ob Mareike das Kind möglicherweise bekommt, ob sie es verliert – auch nicht, ob der Schwangerschaftstest überhaupt positiv ist. Auch eingefügte Handlungsstränge, in denen sich die Erzählerin mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzt, bleiben bezüglich ihres ontologischen Gehalts höchst unsicher. Schließlich scheint die gesamte Erzählkonstruktion zu implodieren, wenn die Erzählerin am Erzählende sogar ihre eigene Existenz in Frage stellt. Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Marienbilder ist oft unentscheidbar, und sie verweist auch auf eine epistemologische Unzuverlässigkeit: Erzählt wird von Möglichkeiten, von Entscheidungsmomenten, aus denen sich wiederum neue Möglichkeiten ergeben. Im Bereich der Kinderliteratur ist ein ebenfalls deutlicher Anstieg unzuverlässiger Erzählweisen zu verzeichnen, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß, wie es in der Jugendliteratur der Fall ist. Dennoch finden sich vermehrt auch komplexe und durchaus nicht immer explizit aufgelöste Unzuverlässigkeitskonstruktionen in kinderliterarischen Werken. Eine Auflösung ist für ein Verständnis der Werke auch nicht immer zwingend notwendig. Von hoher Bedeutung ist oft das Erzählen selbst, das in unzuverlässig erzählten kinderliterarischen Werken thematisiert bzw. in den Vordergrund gestellt wird. Vergleichbar mit den jugendliterarischen Beispielen Mütter mit Messern sind gefährlich oder Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe handelt es sich auch bei dem kindlichen Erzähler in Anton taucht ab von Milena Baisch (2010) um eine zumindest ein Stück weit als defizitär angelegte Figur. Der Grundschüler Anton verbringt mit seinen Großeltern einen Campingur laub. Anton hatte sich auf einen Swimmingpool gefreut, der stattdessen angetroffene See macht ihm Angst. Zudem fällt es Anton nicht leicht, mit den anderen Kindern in Kontakt zu treten. Als Anton jedoch in einem Barsch einen Freund findet, bessert sich seine Verfassung. Auch in Anton taucht ab kommt es zu Diskrepanzen zwischen Aussagen und Handlungen der Erzählerfigur bzw. zwischen Eigen- und Fremdkommentaren – und Anton ist wohl nicht so couragiert, wie er es in seiner Erzählung vorgibt. Allerdings bleiben die so aufgezeigten Defizite Antons (gerade im Vergleich zu den jugendliterarischen Beispielen) relativ harmlos, ihre Entschlüsselung ist auch für ein Verständnis der Erzählung nicht zwingend notwendig.
18 Unzuverlässiges Erzählen
Neben dieser, auf eine Entlarvung des Erzählers ausgerichteten Charakteristik, fallen in Anton taucht ab zudem die stark mündliche Sprache des Erzählers sowie sein spezieller, von Übertreibungen geprägter Erzählstil auf: Im Grunde genommen sind Antons geschilderte Erlebnisse nahezu banal – der Junge inszeniert sie aber als Abenteuererzählung. Lustvolles Erzählen steht so in Anton taucht ab durchweg im Vordergrund, dies wird bereits in seinen ersten Worten deutlich, die er an ein noch nicht weiter spezifiziertes Publikum richtet: »Jetzt erzähle ich die Geschichte. Eine Abenteuerheldengeschichte, in der es um mich geht, Anton unter Wasser. Es beginnt in der Zeit, als ich noch Starflashman hieß, und hier sind Chips. Ich habe auch extra Popcorn gemacht. Ihr sollt sitzen bleiben und zuhören, alles klar?« (Baisch 2008, 5)
Der ontologische Status des Erzählten ist in der Regel, aber nicht immer, entscheidbar. Es handelt sich um mimetische und offene Unzuverlässigkeit. Der Erzähler setzt Übertreibungen gezielt ein, um seine Geschichte unterhaltsamer zu gestalten. In dieser Lesart enthält die Erzählung zusätzlich eine selbstironische Komponente. Anton erzählt durchgängig (bis zum Schluss) unzuverlässig. Die erzählerische Unzuverlässigkeit in Susann Opel-Götz’ Kinderroman Außerirdisch ist woanders (2012) funktioniert ähnlich: Der kindliche Ich-Erzähler Jona ist zehn Jahre alt, und er lebt in privilegierten Verhältnissen. Jonas Leidenschaft gilt Aliens, sein größter Wunsch ist es, eines Tages selbst einem zu begegnen. Als Henri, ein neuer Schüler, in Jonas Klasse kommt, hält Jona ihn dann auch für einen Außerirdischen. Im Laufe der Erzählung finden sich viele Hinweise darauf, dass es sich bei Henri eben nicht um ein Alien handelt. Statt aus dem Weltall kommt er aus prekären Verhältnissen, was erklärt, warum er nicht gerne über sein Zuhause spricht. Nur Jona scheint dies nicht zu verstehen. Auch in Außerirdisch ist woanders ist das Thema Erzählen von hoher Bedeutung: So verfasst Jona seine Erzählung als »Forschungsbericht« (Opel-Götz 2012, 5) über seinen vermeintlich außerirdischen Freund. Wie Anton in Anton taucht ab erzählt Jona durchgängig unzuverlässig – anders als Anton ändert sich dies bei Jona aber zum Erzählende: Mit zunehmendem Weltwissen verliert Jona seine Naivität und seine Fehleinschätzungen unterbleiben, bzw. sie sind eher seiner Fabulierlust als einer kognitiven Überforderung geschuldet.
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In dem Kinderroman Die Kurzhosengang (2004) wird die erzählerische Unzuverlässigkeit qualitativ und quantitativ auf die Spitze getrieben. Angeblich von den beiden kanadischen Autoren Victor Caspak und Yves Lanois unter dem Originaltitel The Mysterious Adventures of the Short Ones verfasst, entpuppten sich bereits diese Angaben als Erfindung: Bei der Verleihung des Jugendliteraturpreises (2005) stellte sich heraus, dass der Roman tatsächlich von Zoran Drvenkar und Steinhöfel verfasst worden war. Im Anschluss an die damit bereits irreführenden bibliographischen Angaben des Werks folgt ein ausführliches »Vorwort des Übersetzers« (Drvenkar 2004, 5) Steinhöfel, in dem er mit einer fiktiven, aber als real präsentierten Entstehungsgeschichte des Romans eine weitere falsche Fährte legt. Bereits dem paratextuellen Rahmen des Werks ist damit nicht zu trauen. An vielen Stellen finden sich Fußnoten des vermeintlichen Übersetzers, in denen er in wissenschaftlichem Duktus mal auf reale, mal auf nahezu absurde erfundene Tatsachen und Quellen verweist. In der eigentlichen Romanerzählung geht es dann um vier Jungen, die in multiperspektiver Erzählweise nacheinander jeweils ihre Version der Geschehnisse erzählen, wie sie zu überregionaler Bekanntheit gelangt sind. Zahlreiche Inkongruenzen und subjektive Verfärbungen zwischen, aber auch innerhalb der vier Erzählungen weisen darauf hin, dass auch diese Erzähler nicht zuverlässig sind. Die erzählerische Unzuverlässigkeit des Romans ist so nicht nur von hoher Komplexität, sie durchzieht auch mehrere Ebenen. Erneut hat das Erzählen selbst einen besonderen Stellenwert. Erzählerische Unzuverlässigkeit dient in Die Kurzhosengang im Unterschied zu Anton taucht ab und Außerirdisch ist woanders nicht dem Verweis auf ein potentielles Defizit – vielmehr steht eine ästhetisch unterhaltende, komische und stellenweise sogar parodistische Funktion im Vordergrund.
18.6 Inter- und transmediale Aspekte Eine in vielen unzuverlässig erzählten kinder- sowie jugendliterarischen Werken erkennbare Hervorhebung des Themas Erzählen wird auffallend oft auch intertextuell und intermedial unterstützt. Gerade in an eine ältere Leserschaft gerichteten Jugendromanen sind solche Referenzen enthalten (vgl. Wallraff 2020). Als abschließendes Beispiel soll erneut Mohls Roman Es war einmal Indianerland herangezogen werden; in ihm finden sich zahlreiche durchaus verschie-
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III Erzählen in Kinder- und Jugendmedien
dene intermediale Anleihen: Obwohl sich die Handlung in weiten Teilen in einer eigentlich eher tristen Umgebung einer Hochhaussiedlung abspielt, schildert der Erzähler sein Umfeld in filmischer Westernmanier und legt dabei einen starken Hang zum Fabulieren an den Tag, wenn er immer wieder ausladend und in höchst dramatischem Modus auf Westernstereotype zurückgreift. Solche Bezüge können als höchst bedeutungsvoll in Bezug auf die erzählerische Unzuverlässigkeit gewertet werden, tragen sie doch entscheidend zur Konzeption der Erzählerpersönlichkeit bei. Parallel dazu finden sich zahlreiche Verweise auf unzuverlässig erzählte Filme der 1990er Jahre. So kann die bereits beschriebene Aufhebung der chronologischen Ordnung als direkter Verweis auf den Kultfilm Pulp Fiction (Tarantino 1994) gelesen werden, die Figurenkonzeption des Ich-Erzählers wiederum erinnert stark an die Figur des Tyler Durden aus David Finchers Fight Club (1999), ebenfalls Kultfilm und Paradebeispiel unzuverlässigen Erzählens im Film: Mit Mauser und Tyler finden sich in beiden Werken scheinbar autonome Figuren, die sich erst im Nachhinein als imaginierte, einer Persönlichkeitsspaltung entsprungene Idealprojektionen eines jeweils namenlosen Ich-Erzählers erweisen. Neben der Relevanz in Bezug auf die Hervorhebung des Themas Erzählen kommt diesen Verweisen eine weitere, kompositorische Bedeutung zu: Mohl lässt seinen Erzähler spielerisch völlig unterschiedliche Elemente verschiedener Gattungen zu einem postmodernen Werk verknüpfen. Primärliteratur
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Sekundärliteratur
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Nana Wallraff
IV Medien
A Buch 19 Epische Texte 1: Kinderroman 19.1 Einleitung Als eine der wichtigsten Gattungen der Kinderliteratur unterliegt der Kinderroman steten Wandlungen. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf realistisch erzählende Kinderromane, die »sich auf Ausschnitte der realen, empirisch gegebenen Erfahrungswelt des Kindes« beziehen (Steffens 1995a, 25), wobei insbesondere die Entwicklungen im westdeutschen Raum im Fokus stehen. Auf ein Begriffskapitel folgt ein historischer Abriss der Entwicklungen des Kinderromans seit 1945, bevor eine Typologie seiner Untergattungen sowie prägnante Erzählverfahren skizziert werden. Ein Blick auf intermediale Aspekte rundet den Beitrag ab.
19.2 Begriffsdefinitionen Der Begriff des Kinderromans bezeichnet einen umfangreichen fiktionalen Erzähltext in Prosa und in schriftlicher Form, der an Kinder im achten bis etwa zwölften Lebensjahr adressiert ist. Mit Umfang ist nicht nur die Länge des Textes gemeint, sondern insbesondere die inhaltliche und strukturelle Komplexität, die sich etwa in mehrsträngigen Handlungsverläufen sowie in der Figuren-, Raum- und Zeitgestaltung äußert. Inhaltlich fokussieren Kinderromane den Alltag der kindlichen Akteure und ihre Lebenswelt: Dabei variieren nicht nur das Kindheitsbild, die Motive, Themen, Stoffe sowie Darstellungsweisen, sondern auch die Funktionen des Kinderromans. Er kann einerseits als Sozialisationsliteratur verstanden werden, denn er erzählt über die »erfahrbare, empirisch zugängliche Welt« der Kinder, »um ihnen zu helfen, sie zu verstehen, sich darin zurechtzufinden, sich zu behaupten, auch und gerade gegenüber Erwachsenen« (Steffens 1998b, 1), andererseits kann er zur Unterhaltung sowie zum literarästhetischen Genuss gelesen
werden. Der Übergang zum Jugendroman (s. Kap. 20) ist hinsichtlich bestimmter Themen fließend beispielsweise mit Blick auf das Verliebtsein und auf die Erfahrungen der ersten Liebe (vgl. hierzu Romane wie Roberta verliebt [2019] von Judith Burger oder Wörter mit L [2019] von Tamara Bach). Man kann zwischen originären und intendierten Kinderromanen differenzieren, d. h. jenen literarischen Texten, die für Kinder verfasst werden, und jenen, die von Erwachsenen als geeignet empfunden werden (vgl. Ewers 2012, 15–19). Die Altersspanne begründet sich mit den Lesekompetenzen, denn der Kinderroman nimmt auf die kognitiven, emotionalen und sprachlichen Fähigkeiten Rücksicht (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012a, 20). Seit den 1990er Jahren existiert in der Forschung neben dem allgemeinen Begriff ›Kinderroman‹ auch – analog zum ›modernen Roman‹ – der Terminus ›moderner Kinderroman‹. Der Begriff wird in der Kinderliteraturforschung als ein »Reflex auf den kulturge schichtlichen Wandel im Rahmen eines Prozesses von gesellschaftlicher Modernisierung« (Gansel 2010, 103; s. auch Ewers 1995) seit 1968 verstanden. Damit ist einerseits gemeint, dass sich der Kinderroman »nur noch graduell [...] von der modernen Erwachsenenliteratur« unterscheidet (Gansel 2010, 107), dass er somit zunehmend Erzählverfahren nutzt, die in der Literatur für erwachsene Leser seit Beginn des 20. Jahrhunderts eingesetzt werden. Dies führt auch zu einer Unterscheidung zwischen anspruchsvollen und unterhaltsamen Texten, denn es ist vor allem der anspruchsvolle Kinderroman, der sich des unzuverlässigen Erzählers, des Ich-Erzählers, Pro- und Analepsen usw. bedient (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012a, 75–83). Aus der veränderten Erzählperspektive folgt ein weiteres wichtiges Merkmal des modernen Kinderromans: der Wertungsstandort wird in die kindlichen Aktanten gelegt und auch dann nicht korrigiert, wenn er sich nicht mit der Sicht der Erwachsenen bzw. der Gesellschaft deckt. Damit verlässt der moderne Kinderroman einen erzieherischen Ansatz und bietet den kindlichen Lesern nur bedingt Lösungen an. Anderer-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_19
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seits erfolgte im Kinderroman nach 1968 eine thematische Öffnung, die das Leben der Kinder in schulischen und familiären Kontexten betrifft, Kindern politische Themen zumutet und auch vor den dunklen Seiten der Gesellschaft nicht Halt macht. Die kindlichen Leser werden als mündige Wesen ernst genommen. Ausgehend von diesen Überlegungen, die historische, thematische und formale Aspekte berücksichtigen, haben sich drei Untergattungen herausgebildet: (1) der problemorientierte, sozialkritische, (2) der psychologische und (3) der komische Kinderroman. Hinzu kommt noch der phantastische Kinderroman (s. Kap. 13 und 14). Die umfangreiche Forschungsliteratur zum Kinderroman oszilliert zwischen einer literaturwissenschaftlichen und einer literaturdidaktischen Forschung, wobei bestimmte Autoren wie Kirsten Boie oder Andreas Steinhöfel im Fokus der Forschung stehen. Mit dem Band Moderne Formen des Erzählens der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart unter literarischen und didaktischen Aspekten, herausgegeben von Günter Lange sowie Wilhelm Steffens, wird ein wichtiger Grundstein für den Blick auf den modernen Kinderroman geschaffen (vgl. Lange/Steffens 1995, 7). 1997 erscheint die Dissertation Der moderne realistische Kinderroman von Elvira Armbröster-Groh und damit rücken nach den Debatten um eine inhaltlichthematische Veränderung im Kinderroman, die bis in die 1990er Jahre die Kinder- und Jugendliteraturforschung prägten, Fragen der literarästhetischen Gestaltung der Texte in den Mittelpunkt der Forschung. In Überblicksartikeln werden u. a. die unterschiedlichen Untergattungen des Kinderromans hervorgehoben und Fragen nach Entwicklungen gestellt (s. Payrhuber 2000). Besonders signifikant sind die thematische Enttabuisierung (s. Lypp 1999) sowie erzähltechni schen Modifikationen bzw. moderne Textstrukturen (s. Payrhuber 2000, 45; Steffens 1998a). In Überblicksartikeln zu der Kinder- und Jugendliteratur der 1990er Jahre dominiert der Blick auf den Kinderroman im Medienverbund (s. Steinz/Weinmann 2000; Ewers/ Weinmann 2002). Neben Überblicksartikeln erscheinen Sammelbände etwa zu Boie, Zoran Drvenkar, Salah Naoura, Steinhöfel oder Paul Maar (s. Steffens 2006; Mikota/Oehme 2013–2017; Wicke/Roßbach 2017) – Autoren, die prägend sind für die Entwicklungen des Kinderromans. In literaturdidaktischen Überlegungen werden der Einsatz des modernen Kinderromans im Literaturunterricht diskutiert sowie Unterrichtsmodelle vorgestellt. Literaturdidaktiker setzen sich für den Einsatz
des modernen Kinderromans im Literaturunterricht ein, widersetzen sich jedoch dem Ansatz, die literarischen Texte als Themenlieferanten zu nutzen und den Text auf einen bloßen »Inhaltismus« (Kruse 2010, 16) zu reduzieren.
19.3 Historische Entwicklungen Bis zur Gründung der BRD steht der Kinder- und Jugendbuchmarkt unter dem Einfluss der alliierten Behörden, die einen Bruch mit der Zeit des Nationalsozialisten auf institutioneller, personeller sowie ideeller Ebene forderten. Diese »Lenkungsmechanismen« verhindern eine »eigendynamische Entwicklung« (Weinmann 2011, 13) der Kinder- und Jugendliteratur. Die Alliierten kontrollierten u. a. den Produktionsprozess von Büchern und die Vergabe von Lizenzen, womit sie entschieden, welche Manuskripte veröffentlicht wurden oder welche Autoren publizieren durften. Allerdings vermutet Andrea Weinmann, dass »die Zensurmaßnahmen auf inhaltlichem Gebiet relativ locker gehandhabt« wurden (ebd., 14). Als Gründe benennt sie den Gegenstand Kinder- und Jugendliteratur, der als harmlos betrachtet wurde. Hinzu kam in den ersten Nachkriegsjahren auch ein Mangel an Manuskripten, sodass ältere Texte wie z. B. Der Trotzkopf (1885) von Emmy von Rhoden erneut aufgelegt wurden und Einfluss auf Neuerscheinungen hatten. Kinderromane wie Margot Benary-Isberts Die Arche Noah (1948) erzählen von der Flucht aus dem Osten bis zur Ankunft in eine deutsche Stadt. Der Nachkriegsalltag wird ebenso geschildert wie die Rückkehr des Vaters sowie der Einzug in ein Haus auf dem Land. Dem Roman wurde eine »politische Abstinenz der Autorin« (Mattenklott 1994, 19) attestiert. Der Text fokussiert die Darstellung der Familie, in der die Kinder Halt und Geborgenheit finden. Es geht nicht um die Aufarbeitung der Verbrechen der Nationalsozialisten. Vielmehr setzen kinderliterarische Texte wie Die Arche Noah eine Tradition fort, in der man das Kind von der Welt der Erwachsenen fernhalten möchte (vgl. ebd., 18). Weinmann und Hans-Heino Ewers widersetzen sich der Ansicht, dass es eine »Annäherung an die Wirklichkeit der ersten Nachkriegsjahre« (Kaminski 1989, 28) nicht gegeben hätte und machen auf Kinderromane aufmerksam, in denen auch die unmittelbare Lebenswirklichkeit der Kinder thematisiert wird. Abenteuerromane wie Die schwarze Fahne (1948) von Karl Brüne oder Flunki und der Au-HaKlub (1948) von Hansgünter Thebis erzählten vom Le-
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ben und Überleben in den Trümmerstädten der Nachkriegszeit. Eingebettet wurden die Geschichten in eine abenteuerliche Handlung, oftmals gemischt mit einer Kriminalgeschichte. Allerdings ist diese Thematik nur auf eine kurze Zeit beschränkt, denn mit »dem Verschwinden der Trümmer verschwanden auch die Kinderbücher darüber« (Weinmann 2011, 16). 1950er und 1960er Jahre Die 1950er Jahre sind aufgrund des intakten Literaturmarktes durch eine Differenzierung der Themen, Genres und Schreibstile gekennzeichnet (vgl. Steinlein 2008, 323), wobei Autoren wie Alfred Weidemann in ihren Romanen – z. B. Gepäckschein 666 (1953) oder die beiden Kaulquappe-Bände (1951/53) – sich der Tradition der Neuen Sachlichkeit bedienen. Doch zunächst erscheinen 1949 zwei Kinderromane, die nachhaltig Einfluss auf die Konzeption des Kindheitsbildes sowie der Vorstellung von Erziehung hatten: Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf (Pippi Långstrump, schwed. 1945) kann bis heute als ein Schlüsseltext innerhalb des kinderliterarischen Korpus gelesen werden. Das Werk löste die dominante Vorstellung von einer Kinderliteratur als moralisch-didaktische Literatur hin zu einer kindgemäßen Literatur (vgl. Weinmann 2011, 18) ab. Die Themen veränderten sich, denn mit Pippi betritt eine elternlos lebende kindliche Figur die kinderliterarische Welt. Anders als solche Aktanten in der bisherigen Kinderliteratur leidet Pippi aber nicht unter der Elternlosigkeit (vgl. ebd.). Sie widerspricht in ihrer Selbstständigkeit und Überlegenheit dem bisherigen Bild des unterlegenen Kindes, das zudem trotz seiner zahlreichen Lügen Freunde gewinnt. Ihre Lügengeschichten werden nicht als Fehlverhalten aufgefasst, sondern mit Komik und Nonsens kombiniert. In seinem Kinderroman Das doppelte Lottchen verweigert sich Erich Kästner der Tradition, in Kinderbüchern Kindern einen Schonraum zu gewähren und setzt sich mit der Frage, was man kindlichen Lesern zumuten dürfe und wie man es in kinderliterarischen Werken darstellen könne, auseinander (vgl. Kästner 1981, 65). Kästner greift das Thema der Scheidung auf, entwirft die Geschichte um den Rollentausch der Zwillingsschwestern Luise und Lotte als ein Plädoyer für das Recht der Kinder auf eine glückliche Kindheit. Der realistische Kinderroman der 1950er und frühen 1960er Jahre wählt Schauplätze außerhalb der städtischen Umgebung aus. Die Geschichten etwa Lindgrens sind überwiegend in dörflichen Settings verortet, die kindlichen Fi-
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guren erleben Abenteuer fern der erwachsenen Lebenswelt und bekommen in diesen klar begrenzten Räumen die Möglichkeit, sich selbst zu entfalten. In den 1950er Jahren dominieren jedoch weniger gesellschaftskritische und realistische Erzählformen, sondern jene, die die Kinderliteraturforschung dem »althergebrachten Geschichtenerzählen« zurechnet (Weinmann 2011, 22, vgl. auch Ewers 1989) und vom Roman hinsichtlich der Erzählstrategien abgrenzt. Kennzeichen dieser Texte sind u. a. Orientierung an der Mündlichkeit, übersichtliche Handlungskonstruktionen sowie eine »einprägsame Figurengestaltung« (Weinmann 2011, 22). Die Nähe zur volkstümlichen Literatur belebt beispielsweise den Märchenroman, zudem finden sich Schwänke und Nacherzählungen volkstümlicher Stoffe. Exemplarisch hierfür stehen die Bücher Der kleine Wassermann (1956), Die kleine Hexe (1957) und Das kleine Gespenst (1966) von Otfried Preußler, aber auch Jim Knopf und der Lokomotivführer (1960) von Michael Ende sowie die Kinderromane von James Krüss. Letzterer verlangt in der Kinderliteratur ein »Recht auf Phantasie« (Steinlein 2008, 330). Mit seinem Erzählzyklus Der Leuchtturm auf den Hummerklippen (1956) setzt sich Krüss mit der deutschen Vergangenheit, genauer dem Ende des Zweiten Weltkriegs, auseinander, wobei die Hummerklippen als Rückzugsort gelten, an dem märchenhafte Geschichten ausgetauscht werden. Es ist vor allem die Verspieltheit der Texte, die diese »vom pädagogischen Hauptdiskurs der Adenauerära« abhebt (ebd.). Gegen Ende der 1950er Jahre zeigt sich eine Wende: Parallel zu den Wiedergutmachungsdebatten und auch in Reaktion auf das Erstarken der NPD und antisemitische Hetze entstehen Kinderromane zum Thema Holocaust. Bereits 1950 wird Das Tagebuch der Anne Frank (Het Achterhuis, niederl. 1947) ins Deutsche übersetzt, 1958 folgt mit Jaap findet das gelobte Land (Chaweriem, niederl. 1955) von Leonard de Vries ein weiterer Text, der aus der Perspektive eines ShoahÜberlebenden vom Leben in Israel erzählt. Jaap kann mit seinen Eltern aus den besetzten Niederlanden ins spätere Israel fliehen. Anfang der 1960er Jahre erscheinen drei weitere Romane, mit denen sich die Kinderliteratur der Zeitgeschichte öffnet und das bisherige Kinderbild modifiziert: Damals war es Friedrich (1961) von Hans Peter Richter, Sternkinder (Sterrekinderen, niederl. 1946; dt. 1961) von Clara Asscher-Pinkhof und Die toten Engel (1963) von Winfried Bruckner. Seine eigentliche Blüte wird der zeitgeschichtliche Kinderroman in den 1970er und 1980er Jahren erleben. Vor allem Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
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(When Hitler Stole Pink Rabbit, engl. 1971; dt. 1973) der erste Teil der Rabbit-Trilogie von Judith Kerr, die selbst als Kind 1933 mit ihren Eltern Alfred und Julia Kerr ins Exil gehen musste, setzt neue Akzente und wendet sich der Flucht vor der nationalsozialistischen Diktatur und dem Holocaust zu. Der Kinderroman der DDR beschreitet andere Wege: Mit der Gründung der DDR (1949) stehen Gegenwartsstoffe im Mittelpunkt, die eine »ideologische Erziehung der Heranwachsenden im Sinne der aufzubauenden sozialistischen Gesellschaft« erstreben (Richter 2016, 35). Eine Trennung zwischen einer Welt der Erwachsenen und der Kinder, wie sie für die westdeutsche Kinderliteratur charakteristisch war, erfolgt in der DDR der 1950er Jahre nicht (s. Kap. 8). Beide Bereiche werden nicht getrennt betrachtet, vielmehr besitzen erwachsene und kindliche Figuren gemeinsame Erfahrungen. Hierfür kristallisieren sich zwei Erzählmuster heraus, in denen das Verhältnis zwischen der kindlichen Hauptfigur und einem Kollektiv beschrieben wird (vgl. ebd.). Beispielhaft für das Kind, das bereits von den Idealen überzeugt ist, sich gemeinschaftlich engagiert und als Vorbildfigur dienen kann, sind die Kinderromane In Wiepershagen krähn die Hähne (1953) und Gustel, Tapp und die anderen (1958) von Benno Pludra, Mit Bärbel fing es an (1952) von Ilse Korn und Die Kinder von Pliversdorf (1959) von Alfred Wellm. Zum zweiten Erzählmodell, in dem Kinder zunächst als Außenseiter gezeigt werden, gehören neben dem wohl bekanntesten Beispiel Tinko (1954) von Erwin Strittmatter, Kaule (1962) von Wellm und Popp muss sich entscheiden (1959) von Pludra. Beide Narrative finden ihre Vorläufer bereits in der proletarischrevolutionären Kinder- und Jugendliteratur. Tinko, der als »der ›erste Höhepunkt in der Entwicklung der KJL der DDR‹« gilt (ebd., 37), erzählt von dem Jungen Martin Kraske, genannt Tinko, der die Veränderungen im Dorf zwischen 1948 und 1950 sowie die Diskussionen zwischen seinem Großvater, der alten Denkmustern verhaftet ist, und seinem Vater, der sich für eine neue Gesellschaft einsetzt, erlebt. Tinko versteht langsam die Veränderungen und erkennt die positive Entwicklung nicht nur für die Gemeinschaft, sondern auch für ihn. Auch die Figur Kaule im gleichnamigen Kinderroman ist als anfänglich naive Kinderfigur angelegt, denn zu Beginn der Handlung versteht der Junge die gesellschaftlichen Strukturen nicht, was sich ähnlich wie bei Tinko im Laufe der Handlung ändert. In den 1960er Jahren wandelt sich das Erzählen dahingehend, dass sich Autoren wie Pludra, Karl Neumann oder Wellm vom Kollektiv abwenden und stärker die
kindliche Individualität in den Fokus rücken. Betrachtet wird nun, wie sich die Gemeinschaft zu dem Einzelnen verhält und welche »Möglichkeiten sie zu dessen individueller Entwicklung bereithält« (ebd., 40). 1970er und 1980er Jahre Der Paradigmenwechsel in der Kinderliteratur erfolgt in Westdeutschland im Zuge der Reformbewegungen um die sogenannte 1968er Bewegung, aber auch der Einfluss der skandinavischen Literatur auf den modernen Kinderroman darf nicht unterschätzt werden. Steffens zeigt in einer detaillierten Analyse des schwedischen Kinderbuchs Der Zauberhut (Björn med trollhatten, schwed. 1965; dt. 1975) von Hans-Eric Hellberg, wie innere und äußere Handlung miteinander verwoben sind: Die Innenwelt der achtjährigen Hauptfigur Björn wird durch eine subjektive Perspektivierung verankert. Erlebte Rede und innere Monologe spiegeln die Psyche des Jungen wider. Übersetzungen aus dem Schwedischen bekommen so eine Vorreiterrolle für den psychologischen Kinderroman zugesprochen (vgl. Steffens 1998b, 4). Neben den gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und ideellen Umwälzungen sowie den Übersetzungen aus den skandinavischen Ländern spielt auch die rezeptionsästhetische Wende der Literaturwissenschaft eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Kinderromans. Kinder- und Jugendliteratur wird nicht nur als Gegenstand des Literaturunterrichts wahrgenommen, auch die Leser rücken als Rezipienten kinderliterarischer Texte in den Blick. Damit wird der Kinderroman einerseits didaktisiert, andererseits sucht man nach »Gegenpositionen zu traditionellen Konstrukten der Wirklichkeit« (Scheiner 2000, 165). Man lehnt eine Trennung der kindlichen und erwachsenen Welt, wie sie zuvor in der Kinderliteratur üblich war, ab und setzt auf gemeinsame Erfahrungsräume. Das Entwicklungskonzept, Kindern in kinderliterarischen Texten einen Schonraum zu gewähren, wird aufgelöst zugunsten eines realistischen Kinderromans, der ihre Sorgen und Ängste ernst nimmt. Ursula Wölfels Kinderromane läuten diese Wende ein. Autoren wie Mirjam Pressler, Renate Welsh, Christine Nöstlinger oder Peter Härtling erweitern das thematisch-inhaltliche Spektrum um Generationenkonflikte, Außenseiter, soziale Randgruppen sowie Probleme in den Familien. In phantastischen Kinderromanen von Nöstlinger oder Hetmann treten ebenfalls »soziales Engagement und politische Appellfunktion« hervor (Steffens 1995b, 210).
19 Epische Texte 1: Kinderroman
Nach einer ersten Phase der sozialkritischen und »politisch aggressiven« (Steffens 1998b, 2) Kinderliteratur der frühen 1970er Jahre, deren Texte politische Botschaften aufnehmen und bemüht waren, »die Fassade der realen Welt unverstellt zu erkennen und zu beschreiben« (Scheiner 1984, 44), rückten die Erfahrungen der Kinder mit Eltern, Geschwistern, Nachbarn, Schule und Freizeit in den Mittelpunkt. Ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre kommen kritische Stimmen gegenüber dem problemorientierten Kinderroman auf, der als zu einseitig wahrgenommen wird. Das Erzählen verschiebt sich von einem eher aufklärerischen Impetus hin zu einer emotionalen Darstellung der kindlichen Akteure. Nicht die äußeren Einflüsse dominieren, sondern die Innenwelten der Protagonisten. Wichtige Akzente setzen die Kinderromane Oma (1975) und Ben liebt Anna (1979) von Härtling sowie die Übersetzungen der Romane von Tormod Haugen und Guus Kuijer. In Oma werden am Ende jedes Kapitels die Gefühle der Großmutter in einem inneren Monolog aufgenommen, der ihre Gedanken über ihren Enkelsohn Kalle, über Erziehungsfragen, Schwächen und Sorgen wiedergibt. Der Wechsel zur Innensicht der Figuren bedeutet auch eine veränderte Erzählsituation: Ich- bzw. homodiegetische Erzähler schildern das Innenleben der kindlichen Akteure, die jetzt nachdenklich die Welt betrachten. Der psychologische Kinderroman verlangt eine hohe Reflexionsleistung von den kindlichen Rezipienten (vgl. Steffens 1995a, 33). Die 1980er Jahre sehen einen weiteren qualitativen Produktionsschub. So spricht Steffens von einem »Höhepunkt der Entwicklung« (Steffens 1998b, 5) des psychologischen Kinderromans. Die Texte nehmen nicht ausschließlich die Themen und literarästhetischen Darstellungsweisen auf, sondern erweitern diese mit Blick auf die Entwicklung der Kindheit und der Gesellschaft. Gudrun Mebs’ Sonntagskind (1983) gilt als »die erste Vollform des psychologischen Kinderromans« (Scheiner 2000, 173; vgl. auch ArmbrösterGroh 1997, 166). Ähnlich wie in Härtlings Das war der Hirbel (1973) erzählt auch Mebs von einem Heimkind, wählt aber die Ich-Erzählperspektive und erkundet so das Innenleben der namenlosen Protagonistin. Armbröster-Groh (vgl. 1997, 166) sieht in Boies Roman Mit Kindern redet ja keiner (1990) den zweiten Höhepunkt innerhalb der Entwicklung dieses Typus’. Boie greift das brisante Thema ›Selbstmordversuch eines Elternteils‹ auf und zeigt brüchige Familienformen. Sie differenziert zwischen einem erlebenden und einem erzählenden Ich, lässt in Rückblenden
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die Geschichte der Protagonistin Charlotte von ihrem fünften bis zu ihrem neunten Lebensjahr erzählen und setzt sich auf diese Weise mit dem Suizidversuch der Mutter auseinander. Karin Richter spricht auch für den Kinderroman der 1970er und 1980er Jahren in der DDR von Aufbrüchen und einem Paradigmenwechsel (vgl. Richter 2016, 42). Der optimistische Ton der 1950er und 1960er tritt zurück und es kommt zu einem Generationenkonflikt. Richter sieht zwei Richtungen der kinderliterarischen Produktion: zum einen werden Leser ermuntert, Wünsche zu äußern und sich gegen Widerstände zu behaupten, zum anderen wird der erwachsene Leser aufgefordert, soziale Beziehungen so zu gestalten, dass eine glückliche Kindheit möglich sei (vgl. ebd., 43). Die Erzähl- und Darstellungstechniken nähern sich dem Roman für Erwachsene an. In dieser »Offenheit der Erzählstrukturen« sieht Richter den entscheidenden Wandlungsmoment in der Kinderliteratur der DDR (ebd., 44). Hinsichtlich der veränderten Erzählstrukturen korrespondieren der westund ostdeutsche Kinderroman miteinander. 1990er Jahre Anfang der 1990er kommt es mit dem komischen Kinderroman zu einer weiteren Innovation: Bereits in den 1980er Jahren bildete sich eine neue Elterngeneration, deren Einstellungen auch die 1990er Jahre prägen: sie widersetzen sich patriarchalen Mustern und betonen die Gleichberechtigung des Kindes. Neue Familienformen stellen Kinder vor neue Herausforderungen. Der komische Kinderroman setzt auf die Chancen dieser neuen Familienmodelle. In Paule ist ein Glücksgriff (1985) nähert sich Boie in ihrem literarischen Debüt nicht nur dem Thema ›Adoption‹, sondern entfaltet weitere Themenfelder: Rassismus, Asyl, Familie. Die Kinderromane erzählen nach wie vor von ernsten Situationen der Kinder: Verinselung der Kinder (Boie: Mittwochs darf ich spielen [1993]), Ein-Eltern-KindFamilien (Boie: Nella-Propella [1994]) oder Trennung der Eltern (Nöstlinger: Einen Vater hab ich auch [1994]). Die kindlichen Akteure sehen in den verän derten Lebensmodellen aber auch eine Chance. In den 1990er Jahren besinnt sich der Kinderroman zudem auf Genres wie Ferienerzählungen, Abenteuer-, Natur- und Dorfgeschichten, Kriminalromane sowie Lausbubengeschichten zurück, die in eine dörfliche oder kleinstädtische Idylle eingebettet sind und vor diesem Hintergrund von komplizierten und schwierigen Themen erzählen. Die Geschichten zeich-
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nen sich u. a. durch poetisierende Naturschilderungen und genaue Beschreibungen aus, aber eben auch durch schwierige Familienverhältnisse, Armut oder Ausgrenzung. Insofern präsentieren diese Romane eine »beschädigte Idylle« (Ewers 2002, 461), weil Probleme von Kindern nicht ausgeklammert werden. Exemplarisch für diese Entwicklung sind die schwedische Kinderbuchautorin Viveca Sundvall sowie die deutsch-finnische Autorin Marjaleena Lembcke. Ein weiteres Kennzeichen des Kinderromans seit den 1990er Jahren ist die Serialität, wobei diese keine Erfindung des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist, sondern auf eine lange Tradition zurückblickt (s. Kap. 17). Beide Entwicklungen hängen mit der medialen Entwicklung zusammen. In der Forschung spricht man von einer »kindliche[n] Lektüre in eine[r] multime diale[n] Welt« (Kümmerling-Meibauer 2012a, 79). Zunehmend lässt sich eine »Kommerzialisierung der Kindermedien« (ebd., 80) beobachten: Kinderromane werden immer häufiger im Medienverbund und/ oder als Buchserien ausgewertet. Beispiele sind Die wilden Hühner von Cornelia Funke (1993–2009) oder Reihen wie Freche Mädchen – freche Bücher (seit 1998). Diese Entwicklung setzt sich im 21. Jahrhunderts fort, denn hier bedienen sich Autoren wie Franziska Gehm mit den Vampirschwestern (2008–2016), Frank M. Reifenberg und Gina Mayer mit der fünfbändigen Serie Die Schattenbande (2014–2015) oder Sonja Kaiblinger mit der sechsbändigen Serie Scary Harry (seit 2013) bestimmter literarischer und medialer Moden. Die Buch-Serien erscheinen zudem oftmals als Hörbücher. 2000er Jahre Der Begriff ›All-Age‹ – u. a. in der Forschung bezogen auf die folgenden Buchtitel Sofies Welt (Sofies verden, norw. 1991; dt. 1993) von Jostein Gaarder, His Dark Materials (engl., dt. 1995–2000) von Philip Pullman sowie Harry Potter (engl. 1997–2007, dt. 1998–2008) von J. K. Rowling – prägt seit den 1990er Jahren auch die Debatten um den realistischen Kinderroman. Dabei geraten insbesondere jene Texte in den Fokus der Literaturkritik und -forschung, die unterschiedliche Altersgruppen und Milieus ansprechen. Exemplarisch hierfür stehen u. a. Autoren wie Steinhöfel mit der Rico-Tetralogie (2008–2017) und Finn-Ole Heinrich mit der Maulina-Schmitt-Trilogie (2013–2014). Hinzu kommen Autoren wie Annette Pehnt, Pressler oder Irene Dische, die sowohl für Kinder als auch für Erwachsene schreiben und sich im Kinderroman ähn-
licher sprachlicher Mittel bedienen wie in Texten für ein älteres Lesepublikum. 2008 erscheint mit dem bereits erwähnten Rico, Oskar und die Tieferschatten von Steinhöfel ein Schlüsseltext des aktuellen Kinderromans. Steinhöfel orientiert sich in seinen mittlerweile vier Bänden an Kästner, indem er nicht nur das Genre des Kriminalromans, sondern auch das Setting der Großstadt Berlin wählt. Weiter setzt Steinhöfel neue Akzente im Umgang mit Beeinträchtigung, denn der »tiefbegabte« Rico, der im Mittelpunkt der Handlung steht, tritt als Ich-Erzähler auf. Gedankensprünge sowie Rückblenden werden dabei selbstverständlich genutzt. Ähnlich wie schon in seinem Erstlingswerk Dirk und ich (1991) zeichnet Steinhöfel eine Kindheit nach, die bezüglich der Kindheitsdarstellung an Lindgren erinnert und erweitert diese durch die Probleme der Gegenwart wie Obdachlosigkeit oder Einsamkeit in der Großstadt. Neben der Darstellung der Großstadt prägt eine genderspezifische Adressierung die Debatten um den Kinderroman seit der Jahrtausendwende im Kontext der PISA-Studie 2000. Die Leseförderung von Jungen wird verstärkt diskutiert, was sich ebenfalls im Kinderroman niederschlägt, wo männliche Figuren in den Fokus rücken. Es werden nicht nur Kriterien bezüglich der Lektürepräferenzen von Jungen entwickelt (s. Garbe/Holle/Jesch 2009; Reifenberg/Barnieske 2015), sondern auch die Darstellung von Männlichkeit diskutiert. Seit etwa 2008 findet sich im Kinderroman ein neues Jungenbild (u. a. Steinhöfel; Naoura; Kliebenstein; Ludwig; Heinrich). Die Jungenfiguren können liebevoll und frech sein, sich um ihre Geschwister sorgen und dennoch zu Streichen aufgelegt sein. Sie agieren in männlichen Freundschaftsgruppen, bekommen an ihre Seite beste Freunde, ohne mit diesen jedes Geheimnis zu teilen (vgl. etwa 70 Tricks, um nicht baden zu gehen [Met je hoofd boven water, niederl. 2010; dt. 2014] von Gideon Samson). Gerade diese neu entstandenen Freundschaften heben sich von dem Gros der Freundschaftsdarstellungen im Kinderroman ab. Nach 2000 fokussiert die mediale Berichterstattung über Kindheit Themen wie Kinderarmut, Vernachlässigung und Bevormundung. Der Kinderroman kennt diese Debatten, ironisiert die Übermütter (Die schrecklichsten Mütter der Welt [2009] von Sabine Ludwig), zeigt aber auch das Leben in sozialen Brennpunkten (Entführung mit Jagdleopard [2015] von Boie). Eine neue Debatte, die 2018 von der schwedischen Autorin Frida Nilsson auf dem Internationalen Literaturfesti-
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val in Berlin angeregt wurde, setzt sich mit der Bedeutung des kindlichen Spiels für die Entwicklung der Phantasie auseinander. Nilsson fordert Erwachsene auf, Kinder spielen zu lassen und ihren Alltag nicht zu stark zu reglementieren (vgl. Nilsson 2018). Ihren Überlegungen entsprechen Autoren wie Lena Hach, die in ihren Werken Kindheiten entwerfen, die nicht mehr überbehütet sind, sondern in denen die kindlichen Figuren spielen, ihre Phantasien ausleben können und ihnen Selbstständigkeit zugebilligt wird.
19.4 Typologien Aus den bereits erwähnten Debatten nach 1968 entstehen neue Untergattungen des Kinderromans: (1) der problemorientierte, sozialkritische; (2) der psychologische und (3) der komische Kinderroman. Die zweite und dritte Untergattung kann als »innerliterarischer Wandel« (Ewers 1993, 22) oder als »eine Vollendung zu einer Hochform des modernen realistischen Kinderromans gedeutet werden« (Steffens 1998a, 2). Der problemorientierte Kinderroman wird als eine Reaktion auf die Reformbewegungen nach 1968 betrachtet, denn die neue Sicht auf Kindheit, auf Familie sowie auf das Verhältnis der Generationen untereinander führt zu einem neuen Diskurs im Kinderroman. Die eingangs genannten Parameter spielen hierbei eine entscheidende Rolle, denn das Verhältnis zwischen kindlichen und erwachsenen Figuren wird ebenso modifiziert bis hin zu einer Aufhebung der hierarchischen Strukturen wie das Verhältnis der Darstellung der Innen- und Außenwelt. Kennzeichnend ist die »Ent-Tabuisierung« (Dahrendorf 1988, 41–43) von Themen und Motiven wie u. a. Politik, Gewalt, Faschismus, Arbeitslosigkeit, Sexualität, Tod. Texte von Härtling (Das war der Hirbel: Behinderung, Außenseiter; Oma: Altern, Tod, Generationskonflikte), Max von der Grün (Vorstadtkrokodile [1976]: Behinderung, Familie), Nöstlinger (Die feuerrote Friederike [1970]: Außenseiter; Mobbing; Maikäfer flieg! [1973]: Nationalsozialismus, Nachkriegszeit) oder Ursula Wölfel erzählen kritisch über die Welt der Kinder und Erwachsenen. Diese Autoren verstehen sich als »Anwälte der Kinder« (Daubert 2011, 90), sie verzichten auf Schonräume und verzahnen die Welt der Erwachsenen mit derjenigen der Kinder. Im Vergleich mit den Geschichten aus den 1950er und frühen 1960er Jahren werden die Handlungsorte ausgetauscht. Die kindlichen Akteure agieren an bekannten Alltagsorten und reflektieren die Schattensei-
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ten einer modernen Gesellschaft (vgl. Gansel 2010, 111). Sie treten entweder als emanzipierte Figuren auf, die ihre Rechte einfordern oder als solche, die unter den dargestellten Verhältnissen leiden. Diese Darstellungsweisen fordern die Leser heraus und ermuntern sie, über die gesellschaftliche Situation nachzudenken bzw. diese kritisch zu überprüfen. Die Forschung sieht hier eine Parallele zu Bertolt Brecht und seiner Lehre vom »eingreifenden Denken« (Payrhuber 2000, 46). Die Texte setzen auf Aufklärung im Hinblick auf gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse. Der problemorientierte/sozialkritische Kinderroman bedient sich der Darstellungsweisen, die sich in der sozialkritischen Literatur für Erwachsene seit der Mitte des 19. Jahrhunderts etablieren konnten: Kennzeichnend ist dabei die Kontrolle des Erzählers über die Ereignisse. Damit wandelt sich im Kinderroman auch das Verhältnis zwischen kindlichen und erwachsenen Figuren. Das bekannteste Beispiel hierfür dürfte Härtlings Das war der Hirbel sein, der den Blick auf Beeinträchtigung weitet und den gesellschaftlichen Umgang mit Kindern mit Beeinträchtigung in das Themenspektrum der deutschsprachigen Kinderliteratur einführt. Ein nullfokalisierter heterodiegetische Erzähler führt durch die Geschichte, ohne jedoch »Ausdruck für eine asymmetrische [...] Kommunikation« (Gansel 2010, 116) zu sein. Härtling knüpft damit an das mündliche Erzählen an und schafft so einen Zugang zum kindlichen Leser. Der Erzähler übernimmt zudem die Sprecherfunktion für Hirbel, der nicht in der Lage ist, seine Situation zu schildern. Allerdings beschränkt sich die Position des Erzählers auf die Außenperspektive. Im psychologischen Kinderroman verlagert sich die Darstellung auf kindliche Innenwelten. Anders als im problemorientierten Kinderroman werden nicht nur die Außenwelten beschrieben, sondern Fragen nach der Psyche der kindlichen Akteure gestellt. Auf Handlung folgt die Reflexion über »psychische Phänomene der eigenen Subjektivität« (Gansel 1994a, 354). Ein wichtiges Kennzeichen psychologischer Romane ist der homodiegetische Erzähler, denn seit den 1970er Jahren nimmt die Zahl »der [...] allwissenden Erzählinstanzen [...] ab, während die Zahl der primär durch die Augen [...] eines (kindlichen) Ich-Erzählers vermittelten Kinderromane stark ansteigt« (Hoffmann 2010, 69). Eine Instanz, die korrigierend oder wertend in Form eines heterodiegetischen Erzählers eingreift, findet sich im psychologischen Kinderroman nicht. Eingesetzt werden Bewusstseinsberichte, erlebte Rede, innerer Monolog oder Bewusstseinsströme, was auch zu einem größeren Schwierigkeitsgrad der Texte führt.
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Mit dieser Weitung kommt es zu größeren Deutungsspielräumen und unterschiedlichen Lesarten. Neben der veränderten Darstellungsweise wandelt sich im psychologischen Kinderroman auch das Bild von Kindheit. Kinder werden nach und nach als gleichberechtigte Partner wahrgenommen, lernen Problemund Konfliktfelder kennen, die lange Zeit den Erwachsenen vorbehalten waren. Diese Mündigkeit kann aber auch zu Überforderungen der Kinder führen, denn das Kind muss sich selbstständig mit den Problemen auseinandersetzen, diese wahrnehmen und auch nachvollziehen können. Damit setzt sich der psychologische Kinderroman mit den Auswirkungen der Konflikte im Alltag der Kinder auseinander; die Darstellung der Innenwelt wird so zur systemprägenden Dominante. Die Außenwelt dient nicht mehr der sozialen Erkundung wie im problemorientierten Kinderroman, sondern wird lediglich beschrieben, um die Folgen für das (kindliche) Individuum aufzuzeigen. Kritik an der Gesellschaft kommt indirekt auf, wenn die Figuren auf bestimmte Entwicklungen reagieren und sich äußern. Damit steht die Verarbeitung von Konflikten im Mittelpunkt der Handlung. Die kindlichen Akteure erfassen nicht immer die äußere Welt, wirken schwach und in ihrem Alltag verloren. Boies Kinderroman Mit Kindern redet ja keiner steht am Anfang einer Vielzahl von Texten, die konsequent von den Gedanken und Gefühlen der kindlichen Figuren erzählen und den homodiegetischen Erzähler vielfältig variieren. Weitere Beispiele auch aktuelle Kinderromane wie etwa Jutta Richters Der Tag, als ich lernte die Spinnen zu zähmen (2000) oder Hechtsommer (2004) sowie die Maulina Schmitt-Trilogie von Heinrich nutzen Darstellungsweisen des psychologischen Kinderromans. Der komische Kinderroman stellt eine weitere »Stufe in der Erkundung aktueller Wirklichkeit« (Gansel 2010, 126) dar. Komik wird zur systemprägenden Dominante, ohne dass Probleme idealisiert werden. In der Forschung wird diese literarische Form oftmals auch Familienroman genannt, da Familie eines der wichtigsten Themen im komischen Kinderroman ist (s. Daubert 1999b; Gansel 2010). Während der problemorientierte Kinderroman in einer Außenperspektive den Blick auf die Alltagswelten lenkt, der psychologische Kinderroman dann Protagonisten entwirft, die mit den neuen Freiheiten und Alltagswelten auch überfordert sind, zeigt der komische Kinderroman, dass neue Familienkonstellationen auch gewisse Vorteile haben können, ohne die komplexen und mitunter auch schwierigen Situationen zu vereinfachen. Im ko-
mischen Kinderroman verlieren tradierte Werte und Rollenbilder ihre Gültigkeit (vgl. Gansel 2010, 126). Plötzlich ist der Vater Hausmann, die Mutter muss Geld verdienen oder das Kind einer alleinerziehenden Mutter merkt, dass intakte Familienmuster durchaus zu mehr Problemen führen können als der Haushalt ohne einen Vater. Eine solche Verschiebung von Normen und Werten führt zu komischen Situationen, mit denen die kindlichen Figuren selbstbewusst umgehen können. Aber auch die Erwachsenen haben sich verändert: Während sie in den früheren Romanen noch mit den neuen Rollenmodellen haderten, sich nicht aus tradierten Vorstellungen befreien konnten, sind sie im komischen Kinderroman selbstbewusster und haben sich selbst für bestimmte Situationen entschieden. Wichtige Autoren sind etwa Boie, Nöstlinger und Anne Fine (vgl. Ewers 1995, 274–275). Ein Blick in die Produktion des Kinderromans seit den 1990er Jahren zeigt, dass sich die drei Untergattungen nicht exakt voneinander abgrenzen lassen. Der Kinderroman Schere, Stein, Papier (Baby, engl. 1993; dt. 1994) der US-amerikanischen Schriftstellerin Patricia MacLachlan markiert den Übergang von einem psychologischen zu einem tragikomischen Kinderroman. »Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?«, fragt Kathrin Wexberg (2015, 17) bezogen auf ein Zitat von Thomas Bernhard und setzt sich mit dem tragikomischen Kinderroman als hybride Form auseinander, den sie als präsenter wahrnimmt als den komischen Kinderroman. Autoren wie Kuijer mit seinen Polleke-Bänden (niederl. 1999–2001; dt. 2001–2005), Anna Woltz mit ihren Kinderromanen Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess (2015) oder Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte (2017), Marjolijn Hof mit Tote Maus für Papas Leben (Ein kleine kans, niederl. 2006; dt. 2008), im deutschsprachigen Raum ist es neben Heinrich mit den drei Bänden um Maulina Schmitt, Susann Opel-Götz mit Außerirdisch ist woanders (2012), aber auch Boie mit ihrer Thabo-Serie (2016–2017) oder dem Kinderroman Entführung mit Jagdleopard changieren in ihren Geschichten zwischen Tragik und Komik. Mit ihren tragikomischen und idyllisch gebrochenen Kinderromanen bemühen sich die Autoren um einen Ausgleich »zwischen Daseinsernst und Problementbundenheit, zwischen Mitbesorgtheit und zeitweiliger Unbeschwertheit, zwischen realitätsbezogener Nüchternheit und phantasiemäßiger Ausschweifung« (Ewers zit. nach Steinz/Weinmann 2000, 130). Die Vorstellung der ausgewählten Romane zeigt, dass es trotz des humorvollen Tons und der idyllischen Darstellung zu
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keiner Verharmlosung kommt. Die Leser werden auch in den Kinderromanen seit den 1990er Jahren ernst genommen. Die Kinderliteratur gewinnt jedoch nicht nur die »psychische Stützfunktion« (Steffens 1998a, 3) zurück, sondern entlastet das anvisierte Zielpublikum. Neben den hier vorgestellten Typen finden sich u. a. auch geschichtserzählende Kinderromane, Mädchenromane oder Kinderkriminalromane.
19.5 Narratoästhetik In den letzten Jahrzehnten sind derart viele Kinderromane erschienen, dass hier nur exemplarisch auf für den Kinderroman besonders signifikante Erzählverfahren, Themen und Motive verwiesen werden kann. Die gegenwärtige Debatte um die sprachliche Gestaltung des Kinderromans bewegt sich im Spannungsfeld zwischen komplexer und leichter/einfacher Sprache. Reihen wie einfach lesen (Cornelsen) bearbeiten Werke von Boie und Funke, um sie auch Lesern mit wenig Leseerfahrung zugänglich zu machen. Neben der Frage nach leichter Sprache spielt auch die Mehrsprachigkeit im Kinderroman eine immer wichtigere Rolle, wobei die integrative Mehrsprachigkeit dominiert, etwa in Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor (Toen mijn vader een struik werd, niederl. 2010; dt. 2012) von Joke van Leeuwen. Hier setzt die niederländische Autorin neue Akzente, erzählt von einer Kriegssituation in einem nicht näher lokalisierten Land und schildert die Problematik der Sprache, denn die Hauptfigur Toda muss ihr Zuhause verlassen und damit auch die Sprache wechseln. Der Verlust der Heimat wird in Leeuwens Roman vor allem mit dem Verlust der Sprache in Verbindung gebracht. Intertextuelle Strukturen in kinderliterarischen Texten knüpfen einerseits an eine historische Praxis kinderliterarischer Akkommodationsverfahren an. Sie sind andererseits im Sinne der Postmoderne auch als ein gesellschaftlich-kulturelles und ästhetisches Phänomen zu werten. Bisher wurde nur vereinzelt auf den Aspekt der Intertextualität im Kontext der Kinderliteratur verwiesen und fast ausschließlich auf wenige Autoren, vor allem Maar, Steinhöfel oder Ende reduziert (vgl. Wicke 2014; Mikota/Pecher 2017). Autorinnen wie Isabel Abedi, Antonia Michaelis oder Sabine Ludwig wurden bislang nicht im Kontext des intertextuellen Spiels mit literarischen Verweisen wahrgenommen und dennoch zeigt sich an ihren Kinderromanen, inwiefern intertextuelle Verweise im Kinderroman zu finden sind (s. Mikota/Oehme 2017;
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Mikota 2017; Kumschlies/Mikota 2019). Andreas Wicke benennt neben literarischen und poetischen auch marketingstrategische oder kanonisierende Funktionen von Intertextualität (vgl. Wicke 2014, 16). Bettina Kümmerling-Meibauer hebt gleichermaßen hervor, dass Autoren damit auch »zur Aufwertung des eigenen Werkes« (vgl. Kümmerling-Meibauer 2003, 216) beitragen können. Neben den bereits erwähnten Erzählverfahren charakterisiert den Kinderroman jedoch vor allem eine Vielfalt an literarischen Motiven und Themen. Dabei gilt Familie als eines der wichtigsten kinderliterarischen Motive und es finden sich unterschiedliche Facetten eines familiären Zusammenlebens sowie verschiedene Perspektiven auf Mütter, Väter, Geschwister und Großeltern. Seit 1945 unterliegen diese Familienkonstellationen einem steten Wandel; beispielsweise spiegelt sich der Paradigmenwechsel nach 1968 vor allem in den Verhältnissen der einzelnen Figuren zueinander wider. Daniela Frickel hält mit Blick auf die Romane Jette (1995) von Härtling, Man darf mit dem Glück nicht drängelig sein (1997) von Pressler, Mit Kindern redet ja keiner von Boie und Mama ist gegangen (2003) von Christoph Hein fest, dass »[d]ie Mutter in Werken der aktuellen KJL [...] häufig alleinerziehend, krank oder gar tot« ist (Frickel 2011, 16). Hinzu kommen jedoch auch alleinerziehende Mütter wie in Boies Nella-Propella, Steinhöfels Rico-Trilogie oder Die Buddenbergs (2018) von Antje Herden, die nicht nur das Leben zwischen Beruf und Erziehung meistern, sondern im Falle der Familie Buddenbergs auch mit unterschiedlichen Vätern ausgestattet sind. In Anlehnung an TV-Serien wie Gilmore Girls (2000–2007) werden zudem Mutter-Tochter-Konstellationen, die einen freundschaftlich-harmonischen Umgang zwischen Töchtern und ihren Müttern entwerfen (etwa die Reihe Hier kommt Lola [2004–2014] von Abedi), inszeniert. Aber auch der alleinerziehende Vater erobert ebenso wie gleichgeschlechtliche Elternpaare den Kinderroman. In diesem Kontext etabliert sich langsam auch das Thema ›Queerness‹, denn neben gleichgeschlechtlichen Elternpaaren treten – etwa in George von Alex Gino (engl. 2015; dt. 2016) – auch Konzepte der Inter- und Transsexualität auf. Weitere Motive des modernen Kinderromans sind Gewalt und sexueller Missbrauch in Familien oder Gewalt unter Schülern. Autoren setzen in Kinderromanen wie Elefanten sieht man nicht (2012) von Susan Kreller oder Gar nichts von allem (2017) von Christian Duda neue Akzente, zeigen einerseits die schweigenden Nachbarn, andererseits aktive Kinder.
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Während Kreller Missbrauch innerhalb einer gut situierten Familie zeigt und sich auf die Reaktionen der Umwelt fokussiert, bettet Duda seine Geschichte in multikulturelle Kontexte der 1970er Jahre ein. Er zeigt einerseits Gewalt in der Familie, andererseits den Rassismus der Gesellschaft. Das multikulturelle Zusammenleben und die Vielfalt der Gesellschaft spiegeln sich in fast allen Kinderromanen. Doch erst um die Jahrtausendwende sind es dann Figuren mit Migrationshintergrund, die als homodiegetische Erzähler fungieren und ihren Blick auf das Aufwachsen in der BRD werfen. Dazu gehören Romane von Drvenkar (Niemand so stark wie wir [1998]; Im Regen stehen [2000]), die, so Annette Kliewer, den Weg für eine neue ›Migrantenliteratur‹ ebnen (vgl. Kliewer 2004, 172–181). Im 21. Jahrhundert sind es Autoren wie Abedi (Lola-Serie), Boie (Der Junge, der Gedanken lesen konnte [2012]) oder Benjamin Tienti (Salon Salami. Einer ist immer besonders [2017]), die das Zusammenleben der unterschiedlichen Kulturen thematisieren. Flucht und Integration sind weitere Motive, die sich seit der Nachkriegszeit im Kinderroman auf unterschiedliche Weise finden. In den 1950er Jahren dominiert das Motiv der Flucht aus den osteuropäischen Regionen, in den 1970er Jahren wird die Flucht vor den Nationalsozialisten zu einem der wichtigsten Motive und seit den ausgehenden 1990er Jahren kommt Flucht aus Kriegsregionen wie Afghanistan, dem Kosovo oder Syrien (z. B. Uticha Marmons Mein Freund Salim [2015] und Härtlings Djadi, Flüchtlingsjunge [2016]) wie auch aus afrikanischen Ländern hinzu. Kinderromane wie Vielleicht dürfen wir bleiben von Ingeborg Kringeland Hald (Albin Prek, norw. 2010; dt. 2015) markieren sowohl inhaltlich (z. B. in der Darstellung der Flucht) als auch formal (z. B. zwei Erzählebenem, kein chronologisches Erzählen) den Übergang zum Jugendroman. Korrespondierend mit der Thematik Interkulturalität setzt man in den Kinderromanen zum Motiv Flucht seit der Jahrtausendwende auf homodiegetische Erzähler sowohl mit Fluchterfahrung als auch ohne Fluchterfahrung, um kindlichen Lesern unterschiedliche Facetten darzulegen. Besonders im Kontext des Erzählens von Krankheit, Behinderung oder Tod zeigt sich der Wandel des Kinderromans: Während in Das war der Hirbel noch ein heterodiegetischer Erzähler eingesetzt wird, um die Leser auf die Thematik vorzubereiten und sie durch die Geschichte zu führen, werden die Themen Krankheit, Tod oder Beeinträchtigung seit den 1970er Jahren aus der Ich-Perspektive (vgl. Wicke 2017, 123)
erzählt. Dazu gehören Romane wie Hechtsommer von Richter, aber auch Sally Nicholls’ Wie man unsterblich wird (Ways to Live Forever, engl.; dt. 2008) oder die bereits erwähnten Tri- bzw. Tetralogien um die Figuren Maulina Schmitt und Rico Doretti. Die Zerstörung der Umwelt ist seit den 1970er Jahren ein wiederkehrendes Motiv des Kinderromans. Im Fokus stehen Fragen des Umwelt-, Natur- und Klimaschutzes, exemplarisch etwa in Der Krötenkrieg von Selkenau von Isolde Heyne (1985), eine Geschichte über den Schutz von Kröten in unserer modernen Welt. Sind es im frühen ökologischen Kinderroman vor allem erwachsene Figuren, die Kinder in die Thematik einführen und aufklären, erweitert sich das erzählerische Spektrum seit den 1990er Jahren: Es treten vermehrt kindliche Akteure als Umwelthelden auf, die selbstständig recherchieren und die erwachsenen Figuren aufklären. 2019 erlebt diese Literatur einen vorläufigen Höhenpunkt, was auch an der Bewegung Fridays for Future liegen mag. Es erscheinen insbesondere Sachbücher, aber auch Kinderromane zum Thema Natur-, Klima- und Umweltschutz.
19.6 Inter- und transmediale Aspekte Der moderne Kinderroman zeichnet sich durch das Spiel mit intermedialen Verweisen aus. Er konkurriert seit den 1980er Jahren mit den modernen Medien – audiovisuelle, auditive und interaktive –, die auch seine Entwicklung bis in die Gegenwart beeinflussen. Dementsprechend kennzeichnen Intermedialität, Serialisierung und Hybridisierung den Kinderroman im 21. Jahrhundert und erweitern seine Spielarten. Beispielsweise werden regelmäßig mediale Erzählformen integriert: Filmisches Erzählen mit wechselnden Perspektiven, die man analog zur Kameraperspektive betrachten kann, Comic-Elemente und Bilder, die Text und Bild miteinander kombinieren (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012a, 81; vgl. hierzu die Romane von Heinrich oder von Håkon Øvreås). In der Forschung wird Intermedialität als das Wechselspiel zwischen zwei Medien verstanden, wobei man nach Irina Rajewsky (2002) zwischen Medienwechsel, Medienkombination und intermedialen Bezügen differenziert. Kinderromane wie Antje Szillats Rick-Serie (2011– 2012) ahmen das filmische Erzählen nach, nutzen u. a. Cliffhanger und viele Dialoge, um Spannung zu erzeugen. Auch Computerspiele und Kinderbuch werden verzahnt: Einerseits werden den Kinderbüchern CDs beigefügt (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012a, 82). Al-
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lerdings erfolgt diese Aneignung vorsichtiger als im Jugendroman. Hinzu kommt die Kommerzialisierung des kinderliterarischen Marktes, die mit den Termini Medienverbund und dem Phänomen der Serialität verknüpft ist (s. Kap. 3 und Kap. 17). Seit den 1980er Jahren sind Kinderromane in komplexe Medienverbünde eingebettet (Die drei ???; Die Drei !!!; Die Wilden Hühner; Die Vampirschwestern; Die wilden Kerle; Bibi & Tina; Gregs Tagebuch). Leser begegnen den literarischen Akteuren im Buch, Film, Hörspiel, Hörbuch, Computerspiel oder in Fanforen. Dort bekommen sie die Möglichkeit, die Abenteuer ihrer Helden nicht nur zu kommentieren, sondern auch ihre Geschichten in sogenannten Fanfictions weiterzuschreiben. Eine weitere Entwicklung zeigt sich in der Verbindung von Kinderroman und Illustration. In der Forschung (hier v. a. Kümmerling-Meibauer 2012b und Kurwinkel 2017) heißt es, dass die Bilder im Kinderroman eine untergeordnete Rolle spielen und keine eigenständigen Bedeutungsträger sind. Dennoch treffen diese Aussagen nur bedingt zu, denn insbesondere der aktuelle Kinderroman spielt mit der Verbindung von Text und Bild. Neben der bereits vielfach zitierten Trilogie zu Maulina Schmitt lassen sich diesbezüglich auch Kinderromane wie die Helden-Trilogie SuperBruno (Brune, norw. 2013; dt. 2016), Super-Matze (Svartle, norw. 2015; dt. 2017) und Super-Laura (Blåse, norw.; dt. 2018) von Øvreås und Øyvind Torseter oder Schlafen Fische (2017) von Jens Raschke und Jens Rasmuss anführen. In diesen Romanen bekommen die Illustrationen eine eigene Bedeutungsebene zugewiesen, erfassen Gefühle der Figuren und füllen teilweise Leerstellen. Sie erhalten so narrative Eigenständigkeit. Blickt man in die Geschichte des Kinderromans, so lässt sich diese Entwicklung auch in dem ersten SamsBand (Eine Woche voller Samstage [1973]), illustriert von Maar, beobachten. Auch hier etablieren die Illustrationen um das Wesen Sams eine weitere Bedeutungsebene, die leider in den neueren Illustrationen von Nina Dulleck so nicht mehr aufgenommen wird (vgl. hierzu auch Madeheim 2017; s. Kap. 40). Neben diesen Texten, die teilweise schon mit Comic-Elementen experimentieren, entwickelte sich seit etwa 2008 mit dem Erscheinen der US-amerikanischen Serie Gregs Tagebuch (Diary of a Wimpy Kid, engl. seit 2007) von Jeff Kinney eine Romanform, die bewusst Elemente des Comics mit längeren Erzählpassagen kombiniert. Mit Coolman und ich (2010) von Rüdiger Bertram und Herbert Schulmeyer wird ein deutsches Pendant entworfen.
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Primärliteratur
Kästner, Erich: Das doppelte Lottchen. Dressler: Hamburg 1981 (EA: 1949).
Sekundärliteratur
Armbröster-Groh, Elvira: Der moderne realistische Kinderroman: Themenkreise, Erzählstrukturen, Entwicklungstendenzen, didaktische Perspektiven. Frankfurt a. M. 1997. Daubert, Hannelore: Moderne Kinderromane im Unterricht. In: Hannelore Daubert/Hans-Heino Ewers (Hg.): Lesen in der Schule mit dtv junior: Moderne Kinderromane 2. Unterrichtsvorschläge für die Klassen 4 bis 7/ Konzeption. München 1999a, 5–12. Daubert, Hannelore: »Es verändert sich die Wirklichkeit ...« Themen und Tendenzen im realistischen Kinder- und Jugendroman der 90er Jahre. In: Renate Raecke (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland. München 1999b, 89–105. Daubert, Hannelore: Moderne Kinderromane. In: Günter Lange (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler 2011, 87–105. Ewers, Hans-Heino: Kinder brauchen Geschichten. Im kinderliterarischen Geschichtenerzählen lebt die alte Erzählkunst fort. In: Grundschule 1989, H. 1, 8–13. Ewers, Hans-Heino: Studentenbewegung und Kinderliteraturreform, Formen- und Funktionswandel der westdeutschen Kinderliteratur zu Beginn der 70er Jahre. 1993 (unveröffentlichtes Manuskript). Ewers, Hans-Heino: Themen-, Formen- und Funktionswandel der westdeutschen Kinderliteratur seit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. In: Zeitschrift für Germanistik 2 (1995), 257–278. Ewers, Hans-Heino/Weinmann, Andrea: Die neunziger Jahre. In: Reiner Wild (Hg.): Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur. 2., erg. Aufl. Stuttgart 2002, 455–463. Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung. 2., überarb. und aktualisierte Aufl. Paderborn 2012. Frickel, Daniela: Periphere Personen im Zentrum – Mütter am Rande. In: 1000 und 1 Buch. Das Magazin für Kinderund Jugendliteratur 4 (2011), 14–19. Garbe, Christine/Holle, Karl/Jesch, Tatjana: Texte lesen. Lesekompetenz – Textverstehen – Lesedidaktik – Lesesozialisation. Paderborn 2009. Gansel, Carsten: Die moderne Kinder- und Jugendliteratur als literaturdidaktische Herausforderung. In: Deutschunterricht 1994, H. 7/8, 352–361. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. Berlin 42010. Lange, Günter/Steffens, Wilhelm (Hg.): Moderne Formen des Erzählens in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart unter literarischen und didaktischen Aspekten. Würzburg 1995. Kaminski, Winfred: Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur. Literarische Phantasie und gesellschaftliche Wirklichkeit. 2., korr. Aufl. Weinheim 1989. Kliewer, Annette: Pädagogik der Vielfalt: Zoran Drvenkar:
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19 Epische Texte 1: Kinderroman Wexberg, Kathrin: Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Über einen tragikomischen Kinderroman. In: 1000 und 1 Buch. 3 (2015), 17–19. Wicke, Andreas: Intertextualität. In: Kurt Franz (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Autoren, Illustratoren, Verlage, Begriffe. 52. Erg.-Lfg. Meitingen 2014, 1–24.
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Wicke, Andreas/Roßbach, Nikola (Hg.): Paul Maar. Studien zum kinder- und jugendliterarischen Werk. Würzburg 2017.
Jana Mikota
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20 Epische Texte 2: Jugendroman 20.1 Einleitung Die Bezeichnung Jugendroman fungiert als ein Oberbegriff, der unter seinem Dach verschiedene literarische Spielarten versammelt. Es ergibt sich daraus ein komplexes »Gefüge von Ober- und Unterbegriffen, von Gattungen und Untergattungen bzw. Subgenres« (Ewers 2013, 73; vgl. auch Gansel 2010, 160), denn eine erzählerische und stoffliche Vielfalt kennzeichnet den Jugendroman auf der Darstellungs- und der Handlungsebene. Der Beitrag widmet sich zunächst einer Begriffsdefinition, um davon ausgehend diachrone Entwicklungslinien im Jugendroman ab 1950 im deutschsprachigen Raum zu zeigen. Daran anschließend werden sowohl erzählerische Besonderheiten als auch interund transmediale Aspekte diskutiert.
20.2 Begriffsdefinitionen Das Kompositum Jugendroman deutet in den Bestandteilen von Jugend sowie Roman den bestimmenden Kern des Begriffs bereits an: Es handelt sich um Romane und damit eine epische Erzählform, die in einem spezifischen Bezug zu(r) Jugend steht. Offen bleibt in dieser semantischen Doppelbesetzung jedoch, in welchem Verhältnis die Referenznahmen zueinanderstehen, bzw. auf welcher Ebene diese verortet sind: Erzählt wird möglicherweise für ein jugendliches Lesepublikum oder von jugendlichen Figuren bzw. der entsprechenden Lebensphase innerhalb der Handlung. Insofern ist der Begriff des Jugendromans in seiner Definition beweglich, ruft sowohl aus einer diachronen als auch synchronen Perspektive divergierende Aspekte auf und wird unterschiedlich verwendet. Mit der Bezeichnung Jugendroman verbinden sich somit Aspekte, die auf verschiedenen Ebenen lokalisiert sind, sowohl extratextuell als auch intratextuell: soziokulturell, zeithistorisch, adressatenspezifisch, narratologisch und thematisch. In der folgenden Argumentation steht der Jugendroman im Hinblick auf die textinternen Inszenierungen von Jugend in Verbindung mit narratologischen Besonderheiten im Zentrum, um so wirkmächtige handlungslogische Motive und erzählerische Muster nachzuzeichnen, die aber stets auch in Verbindung mit ihrer gesellschaftlichen Kontextualisierung zu denken sind (vgl. Lexe 2016). Eine statische Definition
des Begriffs Jugendroman erscheint daher wenig sinnvoll. Ebenso wie es ›die‹ Jugend im Singular nicht gibt, weist auch ›der‹ Jugendroman in seiner Binnendifferenzierung ein plurales Spektrum auf. Es ergeben sich außerdem genderspezifische Unterschiede (vgl. Lehnert 1996, 8–9), die in der bisherigen Forschung und Geschichtsschreibung wenig Beachtung gefunden haben. Verstärkt wird die Unschärfe durch eine häufige Ineins-Setzung von Kinder- und Jugendroman. Dies erfolgt vor allem bei genealogischen Betrachtungen, die die Geschichte ebendieser Texte nachzeichnen. Zwischen Jugend- und Kinderroman sind aber durchaus unterschiedliche Entwicklungen zu beobachten. Das Verständnis über den Jugendroman differenziert sich weiterhin, analog zu sich wandelnden Vorstellungen von Jugend, in gesellschaftlich-historischer Perspektive zusätzlich aus. Ebenso wie sich die kultu rellen Konzepte von Jugend verschieben, verändern sich die literarischen Spielarten und Inszenierungen. Um den Begriff Jugendroman definieren zu können, gilt es daher vorab, den Begriff Jugend als kulturelle Konstruktion zu reflektieren. Jugend ist weder an ein feststehendes Konzept noch an ein konkretes biologisches Alter gebunden, sondern wird vielmehr in steter diskursiver Verhandlung geprägt und verschoben. Für den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert hat Reiner Wild solche Prozesse anhand der Begriffsgruppe ›Kind, Kindheit und Jugend‹ exemplarisch nachge zeichnet (vgl. Wild 1993, 9–16). So eng diese Beschreibungen zunächst miteinander verwoben waren und bisweilen synonyme Verwendung erfahren haben, hat sich Jugend im historischen Verlauf als explizite Zwischen- und Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsensein ausdifferenziert. Noch weiter zuspitzen lässt sich dies mit der Abgrenzung zur Adoleszenz, welche die psychologischen Dimensionen des Übergangs von Jugend zum Erwachsensein als krisenhafte Situation betont und im Subgenre des Adoleszenzromans ausgestaltet wird. Das Verhältnis von gesellschaftlicher Kontextualisierung und literarischer Darstellung von Jugend ist eng, denn Literatur nimmt und nahm eine zentrale Stellung in der diskursiven Formung und Entwicklung von Jugend als Konzept ein, ist nicht nur Speicher- und Ausdrucksmedium dieser Prozesse, sondern Reflexions- und Verhandlungsraum der Vorstellungen von Jugend (vgl. Ewers 1997; Oesterle 1997; Steinlein 2004, 8). Spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wird Jugend literarisch aufgegriffen, etwa in Texten des Sturm und Drang, aber auch der Romantik, darin in unterschiedlichen Facetten aus-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_20
20 Epische Texte 2: Jugendroman
geleuchtet und ist seit Rousseau mit Imaginationen des Aufbruchs und des Wandels aufgeladen. Der Terminus Jugendroman etabliert sich jedoch erst im 20. Jahrhundert, rückblickend lassen sich aber auch ältere Texte mit dieser Bezeichnung erfassen. Im englischsprachigen Forschungsdiskurs ist die Begriffsbestimmung diffuser; so werden die Begriffe ›Young Adult Fiction‹, ›Young Adult Literature‹ und ›New Adult Literature‹ verwendet (s. Kap. 2), wobei Letzterer vor allem ein Marketinglabel des Buchhandels ist. Der folgende Beitrag schließt an den deutschsprachigen Forschungsdiskurs zum Jugendroman an und greift auf die darin bereits etablierten Besetzungen zurück. Heidi Lexe schlägt dazu eine sinnvolle Unterscheidung der Definition in zwei Richtungen vor: Jugendliteratur wird zum einen im Handlungssystem »aufgrund seiner Zuschreibung an jugendliche Leser_innen wahrgenommen« und zum anderen im Symbolsystem als »Darstellungsgegenstand« auf spezifische Weise geformt (Lexe 2016, 36). Der Jugendroman lässt sich, als eine episch erzählende Form, innerhalb des Handlungs- und Symbolsys tems der Jugendliteratur über verschiedene Zugriffe in der Korpusbildung eingrenzen (vgl. Ewers 2013, 74). Anschlüsse in der Begriffsbestimmung ergeben sich im Hinblick auf die Adressierung, wie Carsten Gansel festhält: »Der Begriff Jugendroman [...] meint [...] alle romanhaften Darstellungen für Jugendliche« (Gansel 2010, 160). In dieser Definition werden zum einen Texte erfasst, die von Jugendlichen gelesen werden und zum anderen sind damit Texte gemeint, die explizit für Jugendliche geschrieben werden. In dieser Perspektive bestimmt sich das Korpus, in der Ausrichtung auf die Adressaten der Romane, überwiegend auf einer extratextuellen Ebene und beschreibt vor allem eine Praktik der Jugendlektüre oder im Anschluss an Lexe der Zuschreibung (vgl. Lexe 2016, 36). Eine solche Korpusbildung (vgl. Ewers 2012, 13–14) geht oftmals mit normativen Wertungen und Vorstellungen über jugendliche Leser einher, wobei inhaltliche Spezifika und die narrative Konstruktion der Texte eher in den Hintergrund treten. Problematisch an dieser Definition ist, dass sich jugendliche Lektüre nicht nur intersubjektiv unterscheidet, sondern ebenso sozio-kulturellen und zeitspezifischen Entwicklungen unterliegt. Mit dieser »gattungsübergreifenden Korpusbildung[..]« (Ewers 2013, 72) und -bestimmung mittels der Adressatenbezüge geht die Gefahr einher, dass die spezifische Textualität und inhaltliche Ausrichtung der jeweiligen Romane aus dem Blickfeld geraten. Verbunden sind mit einer solchen Korpusbildung weiterhin Konstruk-
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tionen von Altersgrenzen im Handlungs- und Marktsystem, so wird der Jugendroman gemeinhin für Lesende ab zwölf Jahren (s. Kap. 2) geführt. Die Eingrenzung des Jugendromans kann im Gegensatz dazu auch auf einer intratextuellen Ebene, entlang inhaltlich-thematischer sowie erzähltechnischer Bezüge, als Gattungsbestimmung vorgenommen werden. Im Anschluss an Hans-Heino Ewers meint der Begriff Jugendroman dann »Erzählungen bzw. Romane, die sich auf das Jugendalter und dessen Probleme konzentrieren und in der Regel mit einem oder mehreren Protagonisten aufwarten« (Ewers 2013, 73). In die Kategorie des Jugendromans fallen demnach solche Texte, die Jugend, Jugendkultur oder Konfliktkonstellationen sowie Prozesse des Heranwachsens darstellen und diskutieren. Übergänge, Umbrüche und Passagen sind entsprechend wiederkehrende und tradierte Handlungselemente des Jugendromans, die auf die entwicklungspsychologischen Prozesse des Heranwachsens als »Darstellungsgegenstand« (Lexe 2016, 36) verweisen. Ewers grenzt weiterhin die erzählende Jugendliteratur ab, die nicht nur Jugendromane meint, sondern auch solche Erzählformen, die keine jugendlichen Protagonisten aufweisen und sich dennoch an jugendliche Lesende richten (vgl. Ewers 2013, 74). Eine enge Nähe ergibt sich weiterhin zur sogenannten Problemerzählung, die einen markanten Konflikt auserzählt und spezifische Grenzerfahrungen thematisiert, sich jedoch in Abgrenzung zum Jugendroman durch ihre kurze und pointierte Form auszeichnet (vgl. Ewers 2009, 195–196). Christian Bittner betont, dass für den Jugendroman vor allem dem »Aspekt der Perspektivierung von bzw. der Perspektive auf Jugend Beachtung geschenkt werden« sollte. (Bittner 2012, 79) D. h., dass es sich bei den Figuren im Jugendroman meist um jugendliche Protagonisten handelt, auf deren Mitsicht sich das Geschehen in der narratologischen Konstruktion fokussiert. Für Texte, die Kindheit thematisieren, jedoch nicht genuine Kinderliteratur sind, hat sich der Begriff Kindheitsroman etabliert, während es für Texte, die Jugend thematisieren und kein Teil der Jugendliteratur sind, kein begriffliches Äquivalent gibt. Wiederkehrende Konstante ist in diachroner und synchroner Perspektive die damit verbundene latente Überschneidung zu allgemeinliterarischen Texten, die Jugend thematisieren bzw. jugendliche Protagonisten perspektivieren. Dies gilt nicht allein für die popliterarischen Werke der 1990er und 2000er Jahre, wie etwa von Alexa Hennig von Lange (Relax [1997]), Heinz Strunk (Fleisch ist mein Gemüse [2004]) oder Rocko Schamo-
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ni (Dorfpunks [2004]). Ein solcher Mechanismus der Verschränkung offenbart sich bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und setzt sich um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart fort, sodass es viele Romane gibt, die zwischen den Feldern von Jugend- und Allgemeinliteratur oszillieren. Die Grenzen zwischen jugend- und allgemeinliterarischen Romanen sind seit jeher fließend, verhandelbar und werden immer wieder neu abgesteckt.
20.3 Historische Entwicklungen Zur Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur, und damit implizit zum Kinder- sowie zum Jugendroman, wurde in einschlägigen Handbüchern und Überblicksartikeln umfangreich geforscht (vgl. etwa Steinlein 2008; Gansel 2000; Ewers 1997; 2000). Auffällig ist dabei jedoch ein Ungleichgewicht, denn häufig werden die Entwicklungen von Kinder- und Jugendroman gemeinsam abgehandelt oder es wird der Kinderroman ins Zentrum gestellt (vgl. Steinz/Weinmann 2000; Scheiner 2000). 1950er und 1960er Jahre Der Zeitraum der 1950er und 1960er Jahre firmiert in der deutschsprachigen Forschung zur Kinder- und Jugendliteratur unter den Schlagworten der ›Restauration und Kindheitsautonomie‹ (vgl. Steinlein 2008, 312; Scheiner 2000, 162–163). Für die Entwicklungen im Bereich der Kinderliteratur ist dies zwar weitestgehend treffend, wobei sich im deutschsprachigen Raum weiterhin Differenzen zwischen den Literatursystemen in der BRD, der DDR, der Schweiz und Österreich ergeben (s. Kap. 7–10). Aber wie der Begriff Kindheitsautonomie schon verdeutlicht, steht die Konstruktion von Kindheit im Zentrum. Rüdiger Steinlein erfasst die Entwicklung in dieser Zeit programmatisch unter dem Leitspruch: »Keine ›Stunde Null‹ – Neubeginn im Vorgestern« (Steinlein 2008, 312), denn in der Nachkriegszeit erscheinen vor allem Wiederauflagen und Fortsetzungen bekannter Texte. Auf der inhaltlichen Ebene werden auch im Jugendroman die unmittelbare Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges und seine Folgen bewusst ausgeblendet (vgl. Steinz/Weinmann 2000, 109). Der zeithistorische Kontext erscheint nicht als erzählerische Folie, um aktuelle Konflikte, Probleme oder Konstruktionen einer vom Krieg aufgestörten und verstörten Jugend zu thematisieren. Die Adoleszenz,
verstanden als ein gesellschaftliches Moratorium, in dem die Protagonisten sich erproben können und ihre Identität festigen oder die Adoleszenz als Krisenzeitraum des Heranwachsens mit problematischen Bedingungen erfahren, wird zumindest in deutschsprachigen Texten nicht verhandelt (vgl. Ewers 2013, 77). Jörg Steinz und Andrea Weinmann verorten die Entwicklungen der 1950er und 1960er Jahre entsprechend noch »in der Tradition der moralischen Beispielgeschichte« (Steinz/Weinmann 2000, 118). Auffällig ist dabei auch eine genderspezifische Einschreibung, denn das sogenannte Mädchenbuch ist als eine Sonderform des Jugendromans besonders populär. Dies manifestiert sich in Wiederauflagen von Emmy von Rhodens Der Trotzkopf (1885) oder Else Urys Nesthäkchen-Serie (1913–1925). Auf der Handlungsebene der Texte verfestigen sich die damit verbundenen tradierten sozialen Rollenmuster und Verhaltensweisen von Mädchen und jungen Frauen im Heranwachsen. Steinz/Weinmann betonen, dass im Jugendroman, der sich an Jungen richtet, hingegen »die historische und historisch-abenteuerliche Erzählung mit einer gewissen Nähe zum Sachbuch« (ebd., 109) dominiert. Das jugendliterarische Feld der 1950er und 1960er Jahre ist geprägt von einem gesellschaftlichen Traditionsbewusstsein, das kaum Erneuerungsprozesse zulässt. Wichtige Impulse, die durchaus schon eine inhaltliche Erweiterung von Jugend als Konzept beinhalten und eine Modernisierung vordenken, gehen in dieser Zeit von Übersetzungen aus, die nicht als genuine Jugendromane erschienen sind. J. D. Salingers Der Fänger im Roggen (The Catcher in the Rye, engl. 1951; dt. 1962) ist zentraler Referenztext, um von den offenen Prozessen der Adoleszenz in einer modernen Gesellschaft zu erzählen: Der Protagonist Holden Caulfield, der sich durch die labyrinthischen Räume der Großstadt New York treiben lässt, ist Symbolfigur dieses Umbruchs. Er flieht vor den strengen Erziehungsmaximen und gibt sich den scheinbar unendlichen Möglichkeiten der Waren- und Konsumwelt hin. Auch Jack Kerouacs Unterwegs (On the Road, engl. 1957; dt. 1959) erzählt von einer suchenden und offenen Bewegung. Im Zentrum steht dabei die Reise des Protagonisten Sal, der sich richtungslos quer durch die USA auf der Straße durchschlägt. Der Highway wird zum semantischen Vektor, um die Rebellion gegen starre gesellschaftliche Strukturen zu thematisieren. Das konkrete Ziel rückt in den Hintergrund, allein das Unterwegssein wird zum Leitmotiv des jugendlichen Dazwischenseins und des Aufbruchs, das sich mit der Sub-
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kultur der Beat-Generation verbindet. Auch wenn beide Texte zunächst nicht als Jugendromane veröffentlicht wurden, sind sie dennoch Ausdrucksmedium spezifischer Bilder von Jugend. Im normativ geprägten jugendliterarischen Feld der Zeit konnten solche Vorstellung von Jugend jedoch noch keinen Eingang finden. Die Zeit der 1950er und 1960er Jahre bewegt sich für die literarischen Konstruktionen von Jugend somit in einem ambivalenten Spannungsfeld zwischen der Tradierung fester Rollenmuster und der Ausdifferenzierung neuer Lebenswelten. 1970er und 1980er Jahre Eine umfassende inhaltliche Modernisierung des Jugendromans erfolgt im deutschsprachigen Raum erst in den ausgehenden 1960er sowie den beginnenden 1970er Jahren. Der Jugendroman öffnet sich – im Zuge westdeutscher gesellschaftlicher Umwälzungen – für neue thematische Ausrichtungen; nicht genuine Jugendromane wie Der Fänger im Roggen werden zur Jugendlektüre, wobei gleichzeitig die Tradierungen älterer Texte präsent bleiben. Der Zeitraum der 1970er Jahre, deutlich beeinflusst von den gesellschaftlichen Umbrüchen und Entwicklungen der 68er-Bewegung, fokussiert einen von der Forschung später sogenannten ›Paradigmenwechsel‹, hin zu einer »kritischen, offenen, problemorientierten, politisch und sozial engagierten Jugendliteratur« (Ewers 1989, 4). Dieser Wechsel bringt eine inhaltliche Öffnung und Neuausrichtung, die vor allem auf stofflicher Ebene Realitätsbezüge stark macht, damit einhergehend eine Enttabuisierung bewirkt und gesellschaftlich gewandelte Jugendkonzepte darstellt. Eine Problemorientierung, die ungeschönt die bisweilen kritischen Dimensionen von Jugend – als ein Hadern mit sich selbst und der Umwelt – diskutiert, rückt in das inhaltliche Zentrum. Die vielfältigen jugendlichen Subkulturen, die sich unter den gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen infolge der 68er-Revolution überhaupt erst entwickeln und ausbilden konnten, schlagen sich in der jeweiligen Inszenierung nieder. So spiegeln sich die Auflehnung gegen Autoritäten und das Hinterfragen starrer Instanzen in den Konflikten der Texte wider. Populär werden in diesem Jahrzehnt etwa die »Außenseiter-, Unterschichten- und Randgruppenromane« (Ewers 2013, 80; vgl. dazu auch: Scheiner 2000, 170), die Figuren aus marginalisierten Milieus etablieren und deren Krisen thematisieren. Die Ausdifferenzierung des Jugendromans findet
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zunächst vor allem auf der Handlungsebene statt, während sich erst langsam auch narrative Weiterentwicklungen abzeichnen (vgl. Steinz/Weinmann 2000, 114). Insbesondere für das Subgenre des Adoleszenzromans, das in den 1970er Jahren seine »Blütezeit« (Ewers 1989, 9) erlebt, ergeben sich, auch im Hinblick auf die Erzählweisen, erneut Anschlüsse an die Allgemeinliteratur, wie etwa mit Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W (1973). Als hypertextuelle Bearbeitung von Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774) ist diese adressatenspezifische Interferenz bereits im Prätext angelegt. Sukzessive wird der Adoleszenzroman spätestens in den 1980er Jahren zum festen Bestandteil des jugendliterarischen Feldes, löst dabei aber nicht den problemorientierten Roman gänzlich ab, sondern beide Formen bleiben nebeneinander bestehen (vgl. ebd., 7). In den 1980er Jahren deuten sich im englischsprachigen Raum erzähltechnische Entwicklungen an, wie sie prototypisch an Bret Easton Ellis’ Adoleszenzro man Unter Null (Less Than Zero, engl. 1985; dt. 1986) abzulesen sind und die sich im deutschsprachigen Jugendroman ab den 1990er Jahren ebenso ausbilden. Postmoderne Erzählverfahren und intermediale Ästhetiken prägen nun auch das Erzählen über Jugend auf der Darstellungsebene, entwerfen komplexe und ambivalente Texte, die die Grenzen zwischen Allgemein- und Jugendroman erneut verwischen – vor allem auch in erzähltechnischer Hinsicht. Ellis entwirft eine Konstruktion von Jugend, die von einem lakonischen sich-Treiben-lassen geprägt ist und dieses assoziative Erleben des Protagonisten in kurzen Episoden, die keinen inhaltlichen Tabus unterliegen, als fragmentierte Schlaglichter darstellt. Der Roman folgt einer losen Kohärenz, thematisiert in dieser narrativen Anordnung vielmehr die Entgrenzung und Auflösung eines gefestigten Selbstentwurfs und »beschränkt sich nicht mehr auf die Thematisierung sozialer Rollenexistenzen« (Scheiner 2000, 177). 1990er Jahre Die Texte, die in der Folge von Ellis auch im deutschsprachigen Raum veröffentlicht werden, arbeiten mit avancierten Erzählverfahren und einhergehend mit dieser Gestaltung der Ebene des ›discours‹ ergeben sich auf der Handlungsebene ›histoire‹ erneute Verschiebungen. Die meist männlichen Protagonisten begeben sich primär nicht mehr auf die Sinnsuche nach einem gefestigten Selbst, sondern stellen »die mit der modernen Subjektform wesentlich verknüpfte
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Verantwortungs- und Leistungsethik infrage« (Ewers 2013, 81). Wichtige Impulse für den Jugendroman und gleichzeitige Interferenzen ergeben sich in der Strömung der sogenannten ›Neuen deutschen Popliteratur‹ der 1990er Jahre. Alexa Hennig von Lange kontrastiert in Relax die Sichtweisen einer männlichen sowie einer weiblichen Erzählstimme; in der daraus resultierenden Doppelperspektive offenbart sich auch eine genderspezifische Divergenz. Während der erste Teil des Romans Chris’ Trudeln durch das Nachtleben im Drogenrausch herausstellt und sein damit verbundenes Selbstverständnis im ersten Satz deutlich markiert – »Mann. Ich bin ein Rockstar« (Hennig von Lange 1997, 9) – stellt der zweite Teil die Gedankenwelt seiner namenlosen Freundin dar. Dass ihr kein vollständiger Name zugestanden wird und sie bloß ›Kleine‹ genannt wird, exponiert ihre beschränkte Handlungsmacht deutlich in der äußeren Zuschreibung. Dies setzt sich weiterhin in ihrer Bewegungslosigkeit fort, denn statt Chris in das Partyleben zu folgen, wartet sie in der Wohnung auf seine Rückkehr. Damit offenbart sich exemplarisch, auf welche Weise die Konstruktionen von Jugend immer noch mit einer spezifischen Genderdifferenz aufgeladen sind: Prozesse der Bewährung, des Aufbruchs und der Passage sind eher männlich codiert. Gansel hat unlängst darauf hingewiesen, dass die Romane der Neuen deutschen Popliteratur in ihrem Kern häufig die Adoleszenz thematisieren (vgl. Gansel 2003, 236) und damit Ausdrucksmedium einer spezifischen Konstruktion von Jugend(kultur) sind; dass dies aber vor allem eine männliche Jugend ist, ist dabei ebenso kritisch zu reflektieren. Die Semantisierung von (verlängerter) Jugend zeigt sich in Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998). Der Roman malt entlang diverser Musikzitate die Postadoleszenz des Anfang 20-jährigen Protagonisten aus. Neben inhaltlichen Überschneidungen von Popliteratur und postmoderndem Adoleszenzroman (vgl. Kaulen 1999a, 330–333) ergeben sich weiterhin Austauschprozesse in der Art und Weise des Erzählens. Wichtige Stellung nehmen dabei intermediale Elemente ein – wie filmische Erzählweisen und musikalische Referenzen – die sich bis heute in der Narration des Jugendromans niederschlagen und das Erzählen überformen. Leicht übersehen wird aber auch, dass intermediales Erzählen bereits seit den 1920er Jahren zu beobachten ist, nicht allein in Erich Kästners Kinderromanen, sondern beispielsweise später auch in Kerouacs Road Novel Unterwegs.
2000er Jahre In den 2000er Jahren setzt sich im Jugendroman nicht nur der Einfluss von intermedialen Bezügen (s. Kap. 35) als narratives Gestaltungselement fort, sondern in diesem Zeitraum ist insbesondere eine ›Wiederentdeckung‹ des seriellen Erzählens, ausgelöst durch den Erfolg der Harry Potter-Bände (engl. 1997–2007; dt. 1998–2007), zu beobachten. Dabei ergeben sich multireferentielle Systeme der Bezüge: »Die kinder- und jugendliterarischen Erzählwelten sind intermedial miteinander verflochten, sie nehmen aufeinander Bezug, öffnen sich darüber hinaus über implizite oder explizite Verweise auf Texte, Genres, Medien, Bildsprachen, Figuren und Ikonen [...] zu weiteren medialen Resonanzräumen populären Erzählens« (Dettmar 2016, 116; s. Kap. 17). Fortgesetztes Erzählen wird in den 2000er Jahren populär und schlägt sich vornehmlich in zahlreichen Erscheinungen nieder, die im Bereich der Phantastik und Fantasy angesiedelt sind. In Zuge dessen erfahren ebenso Klassiker des Genres, wie J. R.R Tolkiens Der Herr der Ringe (The Lord of the Rings, engl. 1954/55; dt. 1969/70) oder C. S. Lewis Die Chroniken von Narnia (The Chronicles of Narnia, engl. 1950–1956; dt. 1977) – zusätzlich beflügelt durch die jeweiligen filmischen Adaptionen – im deutschsprachigen Raum eine Wiederentdeckung. Im regelrechten ›Boom‹ der Fantasy (s. Kap. 14) lässt sich neben der Relektüre älterer Texte, die beim Erscheinen meist auch noch nicht als originäre Jugendromane markiert waren, eine zunehmende Genre-Hybridisierung beobachten, indem verschiedene Merkmale miteinander kombiniert werden. Wichtiges Subgenre ist dabei die Dystopie, wie beispielsweise in Suzanne Collins’ Trilogie Die Tribute von Panem (The Hunger Games, engl. 2008–2010; dt. 2009–2011), die jedoch ebenso Elemente des Abenteuerromans und der Coming-of-Age Geschichte beinhaltet. So wird zwar vordergründig von den repressiven Bedingungen in dem Gesellschaftssystem Panems erzählt, in diesem Rahmen vollzieht sich aber die Entwicklungsgeschichte der jugendlichen Katniss. Prozesse der Überschichtung erscheinen als zentrales Moment gegenwärtiger Jugendromane, wobei zwei Tendenzen besonders wichtig sind: Zum einen ist ein Wandel in der Inszenierung von Mädchenfiguren zu beobachten, die sich weiter emanzipieren und zunehmend in narrative Konstellationen gestellt werden, die bislang eher männlich besetzt waren (Heldenreise, Initiation, Abenteuer) und damit eine starre Genderordnung hinterfragen (vgl. Kalbermatten 2012). Zum an-
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deren greifen die Texte verstärkt aktuelle Entwicklungen auf, die ökologische Transformationen betreffen bzw. deren Folgen drastisch darstellen (vgl. Wanning/ Stemmann 2015). Impulse gehen dabei erneut von Übersetzungen aus dem amerikanischen und englischen Sprachraum aus. Susan Beth Pfeffers Roman Die Welt, wie wir sie kannten (Life as We Knew It, engl. 2006; dt. 2010) und Saci Lloyds Euer schönes Leben kotzt mich an (The Carbon Diaries, engl. 2009; dt. 2009) erzählen beide in einer Tagebuchform von einem ökologischen Krisenszenario. Aus der subjektiven Mitsicht der jugendlichen Protagonistinnen erscheint das Setting des Weltuntergangs dabei aber auch als zugespitzte Situation, um vor dieser Folie ihre adoleszenten Krisen zu verhandeln. Es ließe sich kritisch diskutieren, ob die Umweltkrise somit nicht als Vehikel erscheint, um die Adoleszenz in neuer Weise als Chaosphase darzustellen (vgl. Stemmann 2017a). Der Adoleszenzroman ist eine wichtige Subform des Jugendromans und hat mit dem sogenannten klassischen, modernen und postmodernen Adoleszenzroman (vgl. Kaulen 1999b; Gansel 2000) in diachroner Sicht mehrere Varianten ausdifferenziert. Ab 2000 lässt sich die Typologie noch um den postpostmodernen Adoleszenzroman ergänzen. Denn in einer Gesellschaft, in der die jugendlichen Aushandlungsprozesse mit den Eltern weniger spannungsgeladen sind, bedarf es anderer Strategien, um jugendliche Abgrenzungsbemühungen darzustellen (vgl. Stemmann 2019). Die von Gansel konstatierte »Entdramatisierung« (Gansel 2012, 354) des Generationenkonfliktes, die in den Romanen der 1990er Jahren zu beobachten war, verschiebt sich gegenwärtig in den 2000er Jahren zu anderen Problemfeldern. Eine Neuausrichtung der Adoleszenz als Krisenzeitraum ist beispielsweise in der Verbindung mit Krankheitsnarrativen zu beobachten, worauf Iris Schäfer hinweist (vgl. Schäfer 2014; 2016). Von Krankheiten sind dabei aber oft nicht nur die jugendlichen Protagonisten betroffen, sondern zunehmend auch ihre Eltern (vgl. Stemmann 2017b; Dettmar 2013). In Tamara Bachs was vom Sommer übrig ist (2012) erscheinen zwei unterschiedliche Facetten dieser Prozesse der Parentifizierung. Die erwachsenen Figuren kreisen um sich selbst, ihre eigenen Sorgen und können den Kindern keinen Halt mehr geben. Erzählerisch wird dies in der doppelperspektivischen Ausrichtung des Textes, die jeweils eine der beiden Protagonistinnen fokussiert, ausgeleuchtet, ohne jedoch plakativ zu sein. Bach verwendet Leerstellen und Andeutungen als ein zentrales Stilmittel in ihren Romanen (wie etwa in Busfahrt mit Kuhn
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[2004] oder 14 [2017]) und im gegenwärtigen Jugendroman nehmen solche komplexen erzählerischen Konstruktionen zunehmend eine zentrale Stellung ein. In der Darstellung jugendlicher Konflikte stehen aktuell weniger starre Grenzziehungen und die Rebellion dagegen im Vordergrund, als vielmehr neue Störfelder, die aus verschobenen Familienkonstruktionen resultieren (vgl. Stemmann 2019, 196). Neben dem Rollentausch innerhalb der Handlung ergeben sich weitere Überlagerungen und Annäherungen in zwei Richtungen: zwischen den Lebensphasen von Kindheit und Jugend sowie zwischen Jugend und Erwachsensein lösen sich die Grenzen auf. CrossoverLiteratur ist dafür zum wichtigen Schlagwort geworden (vgl. Blümer 2016; Hoffmann 2018; s. Kap. 2). Analog zu den sich verschiebenden Adressatenbezügen lassen sich inhaltliche sowie erzählerische Überlagerungen und Hybridisierungen beobachten, die bisherige Genregrenzen überschreiten und auflösen (vgl. Stemmann 2014). Diese Prozesse der Verschichtung offenbaren sich mit Blick auf die Nominierungslisten des deutschen Jugendliteraturpreises der letzten Jahre. Zunehmend finden sich dort Texte, die sich kaum mehr einer der Sparten zuordnen lassen oder zumindest eine Kombination verschiedener Elemente aufweisen. Diese Beobachtung gilt sowohl für die extratextuelle Ebene der Adressaten, die verstärkt als All-Age-Publikum definiert werden, als auch für die inhaltliche Ausrichtung, etwa in der Annäherung von Kinder- und Jugendroman. Letzteres verdeutlicht die Nominierung von Martina Wildners Die Königin des Sprungturms (2013) in der Sparte Kinderbuch exemplarisch. Dieser Text ist mit seinem zentralen Handlungskonflikt explizit im Dazwischen von Kindheit und Jugend verortet und erzählt von einer Phase des Übergangs, die sich einer eindeutigen Zuordnung bewusst entzieht. Überlagerungen ergeben sich aber auch in medialer und erzähltechnischer Hinsicht, so lassen sich zunehmend hybride Formen finden, die nicht mehr allein dem Bilderbuch zuzuordnen sind, sondern auch den ›klassischen‹ Erzähltext durch graphische Elemente erweitern. Pssst! (2016) von Anette Herzog ist zwar in der Sparte Kinderbuch nominiert, thematisiert aber ebenfalls den spannungsvollen Übergang von der Kindheit zur Jugend der Protagonistin und die beginnende Pubertät. Dies geschieht in einer »Medienkombination« (Rajewsky 2002, 15), indem Comic-Sequenzen, Illustrationen, nachgeahmte Fotografien und andere Skizzen mit dem Erzähltext verwoben werden. In dieser formalen Überschichtung des Erzählens findet der liminale Status der Figur sei-
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IV Medien – A Buch
ne graphische Entsprechung. Dass sich graphisches Erzählen für die Darstellung von Entgrenzungen während der Adoleszenz (vgl. Giesa 2015) sowie die Spannungen der beginnenden Pubertät und des damit verbundenen Übergangs besonders anbietet, offenbart auch der Comic Ein Sommer am See (2015) von Mariko und Jillian Tamaki. 2016 wurde damit zum ersten Mal ein Comic in der Sparte Jugendbuch nominiert, was auf eine mediale Vielfalt im Erzählen über Jugend verweist, die sich nicht nur facettenreicher Inhalte, sondern auch Darstellungsstrategien bedient. Weitere Verschichtungen, die ebenfalls die Nomi nierungsliste abbildet und mit einer medialen Erweiterung des Erzählens einhergeht, ergeben sich im Hinblick auf die Kombination von faktualem und fiktionalem Erzählen. So gewannen Reinhard Kleists Comic Der Boxer (2012) und Christina Röckls Bilderbuch Und dann platzt der Kopf (2014) in der Sparte Sachbuch. Visuelle und graphische Erzählelemente nehmen eine wachsende Stellung im Erzählen ein und richten sich eben nicht mehr allein an Kinder, sondern ebenso an jugendliche Lesende. Auch hier scheinen vor allem Übersetzungen wichtige Impulsgeber für die neuen Entwicklungen zu sein. Sherman Alexies Das absolut wahre Tagebuch eines Teilzeit-Indianers (The Absolutely True Diary of a Part-Time Indian, engl. 2007; dt. 2009) folgt narrativ dem Aufbau eines Tagebuchs und ahmt dessen Erzählweise mit graphischen Mitteln nach, indem Zeichnungen und Skizzen, die der Protagonist Arnold angefertigt hat, als eingeklebt erscheinen. Diese graphischen Elemente öffnen zusätzliche Erzähl- und Resonanzräume, die die diegetischen Konfliktstellungen verdichten.
20.4 Typologien Zentrales Thema des Jugendromans sind Prozesse des Heranwachsens, die in all ihren – häufig vor allem krisenhaften – Dimensionen aufgegriffen und in diversen Subgenres dargestellt werden. Aber nicht allein die Adoleszenz, als eine krisenbesetzte Phase des Erwachsenwerdens, auch wenn diese lange im Fokus der Forschung zum Jugendroman stand (vgl. Gansel 2004; Kaulen 1999a; 1999b), ist ein Stoff des Jugendromans. Jugend und die damit verbundenen Probleme, Konflikte und Entwicklungen lassen sich mit verschiedenen Stoffen in unterschiedlichen Genres ausmalen und als übergreifendes Thema formulieren. Jugend als Thema ist jedoch nicht isoliert zu betrachten, sondern vielmehr eingebettet in einen sozialen Kontext: Die Aus-
einandersetzung mit Eltern und Gleichaltrigen ist dafür zentral, sodass das dargestellte Wechselspiel von Individuum und Gesellschaft einen wichtigen Wirkungsmechanismus ausmacht. Nicht nur das Modell des realistischen Jugendromans, auch jenes des phantastischen Jugendromans ist Ausdrucksmedium dieser Konstruktionen (vgl. von Glasenapp 2010, 118–136). Im Geflecht der verschiedenen Subgenres des Jugendromans manifestieren sich Abenteuerromane, historische Romane, Dystopien, Phantastik und Fantasy sowie der Adoleszenzroman als dominante Grundmuster des Erzählens. Ewers differenziert diverse weitere Spielarten des Jugendromans aus, die eine enorme Vielfalt abbilden (vgl. Ewers 2013, 90). Die gegenwärtige Entwicklung, hin zu einer Überschichtung verschiedener Elemente, lässt sich mit einer solchen Zuordnung oder Etikettierung aber kaum mehr darstellen. Auf ein zentrales Subgenre des Jugendromans, den Adoleszenzroman, soll hier noch knapp eingegangen werden. Der Adoleszenzroman stellt die zugespitzte Phase der psychologischen sowie sozialen Herausforderungen des Übergangs von Jugend zum Erwachsensein als Moratorium dar. Wiederkehrendes Motiv sind Passagen, Übergänge und Umbrüche, die die damit, psychoanalytisch gesprochen, verbundenen Verflüssigungen (vgl. Erdheim 1992, 277) des Selbst der Protagonisten abbilden. Der Konnex von Jugend und Aufbruch ist ein tradiertes und wirkmächtiges Element. Bewegungen durch den Raum offenbaren sich daher als narratives und handlungslogisches Element, um diese Prozesse metaphorisch zu verdichten. Zeitliche Entwicklungsschritte in eine Bewegung durch den Raum zu übersetzen, ist ein bewährtes Element des Jugendromans (vgl. Galling 2016). Bereits Goethes Protagonist Werther betont die Wegbewegung aus dem vertrauten und insbesondere dem einengenden Raum in seinem ersten Satz als notwendig. Jugend erscheint in der literarischen Inszenierung häufig als Zeit des Wandels, des Aufbruchs und des Umbruchs. Diese Passagen korrelieren mit einem Erzählmuster, das an die Stufen des ›rite de passage‹ von Arnold van Gennep rekurriert (vgl. van Gennep 2005). Überschneidungen ergeben sich dabei zu Joseph Campbells Modell des Monomythos bzw. der Heldenreise, die einer ähnlichen Struktur folgt (vgl. Campbell 2011). Peter Freese hat davon ausgehend das Subgenre der Initiationsreise-Geschichte definiert, die diese Stationenfolge aufgreift (vgl. Freese 1971). Die Protagonisten gehen auf Reisen, müssen sich bewähren und kehren als veränderte Figuren zurück. Parallelen ergeben sich zum Bildungs- und Ent-
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wicklungsroman (vgl. Titzmann 2002); aber ebenso zur strukturalen Raumordnung in Novellen der Romantik, wie Hartmut Böhme nachgewiesen hat (vgl. Böhme 1981). Kritisch mitzudenken ist dabei eine Gendercodierung, denn solche Bewegungsmomente durchlaufen meist nur die männlichen Protagonisten. Verschiedene Spielarten der Reise(bewegung) finden sich in diachroner Perspektive als wiederkehrendes Muster im Jugendroman, das sich gegenwärtig verstärkt im Subgenre der Road Novel entfaltet. Wolfgang Herrdorfs tschick (2010), in dem die Jungen Maik und Tschick mit einem gestohlenen Lada durch die Weiten Brandenburgs kurven, sei exemplarisch genannt. Die Road Novel und die Initiationsreise-Geschichte lassen sich als weitere Subformen des Adoleszenzromans verstehen, denn häufig geht es um eine Übergangsphase, die in der Reisebewegung die liminale Phase der Adoleszenz manifest erscheinen lässt (vgl. Stemmann 2019, 34–78).
20.5 Narratoästhetik Der Jugendroman weist im Hinblick auf literarästhetische Aspekte wie auch in der inhaltlichen Ausrichtung ein weites Spektrum an narrativen Merkmalen auf. Diese lassen sich kaum adäquat im Detail auflisten; wichtig erscheint allerdings der Verweis auf eine Entwicklungstendenz, die bereits in den vorangegangenen Kapiteln nachgezeichnet wurde: Die Erzählweise im Jugendroman differenziert sich sukzessive aus und nähert sich in komplexen Formen der Allgemeinliteratur an. Daneben gibt es zwar weiterhin auch Texte, die weniger anspruchsvoll erzählen, aber auch in populären und vermeintlich trivialen Formaten haben komplexe Erzählstrukturen, wie etwa das multiperspektivische Erzählen, mittlerweile Eingang gefunden. So gibt es beispielsweise Fantasy-Romane, die aus verschiedenen Perspektiven erzählen (Bernhard Hennen: Die Elfen [2004]). Es fällt auf, dass in der Konstruktion der Jugendromane seit den 1970er Jahren verstärkt autodiegetische Erzählstimmen installiert werden, die aus ihrer subjektiven Mitsicht bzw. internen Fokalisierung das Geschehen wiedergeben. In funktionaler Sicht geht damit auch eine gewisse Emanzipation einher: Über die jugendlichen Figuren wird so nicht mehr von außen – und etwaig wertend oder kommentierend – erzählt, sondern deren individuelle Perspektive nachgeahmt und keine endgültige Musterlösung angeboten. Damit verbunden sind auch Entwicklungen hin zu
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einem potentiell unzuverlässigen Erzählen, dem Spiel mit Leerstellen und vagen Andeutungen, die nicht mehr sämtliche Aspekte plakativ ausgestalten (vgl. Ullmann 2017). Ebenso präsent ist multiperspektivisches Erzählen, das die Sichtweisen verschiedener Figuren thematisiert und kontrastiert, um eine Pluralität auszudrücken. Eine gedoppelte Erzählperspektive realisiert etwa Zoran Drvenkar in Cengiz und Locke (2004), um die divergierenden Sichtweisen zu überlappen, zu durchkreuzen und Irritationen zu schaffen. Daraus entsteht eine dichte Erzählung, die um die beiden Protagonisten kreist und ihr Erleben unmittelbar abbildet, was wiederum durch die erzählerische Du-Anrede aufgebrochen wird. Bachs Jetzt ist hier (2007) stellt hingegen fünf homodiegetische Erzählstimmen nebeneinander, um schrittweise die einzelnen Perspektiven miteinander zu verschränken. In Marienbilder (2014) erzählt Bach die Familiengeschichte von drei Frauen über drei Generationen hinweg, die Erzählperspektive und die erzählte Zeit, in der die homodiegetischen Stimmen jeweils verortet sind, verweben sich zum reziproken Geflecht, das in diesem Erzählverfahren subtil das Ursache-Wirkungsgefüge aufdeckt. Neben wechselnden Erzählstimmen und Fokalisierungen folgt die Konstruktion der erzählten Zeit in vielen Romanen nicht mehr nur einer linearen Chronologie, sondern etabliert Sprünge und Dissonanzen als Stilmittel. Sukzessive fügen sich so die Handlungskonflikte erst schrittweise zusammen, in Unordnung gebrachte Verhältnisse finden ihre narrative Entsprechung oder zeigen die Desorientierung der Protagonisten auf der Darstellungsebene. Alexandra Kuitkowski schafft in Die Welt ist eine Scheibe (2013) mit unvermittelten Zeitsprüngen ein Spiel aus Ana- und Prolepsen, um langsam die Geschichte der Protagonistin Wiebke bzw. das Familiengeheimnis aufzudecken. Auf ähnliche Weise und mit vergleichbarer Funktion erzählen auch Nils Mohls Es war einmal Indianerland (2011), Stadtrandritter (2013) sowie Zeit für Astronauten (2016) oder Finn-Ole Heinrichs Räuberhände (2007). Eine solche Textur korreliert meist mit intermedialen Bezügen, die ein weiteres spezifisches literarästhetisches Mittel des aktuellen deutschsprachigen Jugendromans ausmachen (vgl. Stemmann 2019, 86).
20.6 Inter- und transmediale Aspekte Der Jugendroman und Intermedialitätskonzepte stehen in vielfältiger Weise miteinander in Beziehung. Im Anschluss an Irina Rajewsky versteht sich Inter-
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IV Medien – A Buch
medialität als ein Austauschprozess zwischen zwei als distinkt wahrgenommenen Medien (vgl. Rajewsky 2002, 13). Diese Prozesse können auf thematisch-inhaltlicher (Medienwechsel), erzähltechnischer (intermediale Bezüge) sowie materieller (Medienkombination) Ebene stattfinden. Erscheint der Jugendroman als kontaktnehmendes Medium, also jenes in dem erzählt wird, sind insbesondere intermediale Bezüge relevant. Damit werden narrative Erzählverfahren beschrieben, die die Ästhetik und Spezifika eines anderen Mediums imitieren (vgl. ebd., 16–17). Das sogenannte ›filmische Erzählen‹ im Roman ist dafür zum geflügelten Wort geworden. Bach gestaltet und überformt den Roman Busfahrt mit Kuhn in Anlehnung an ein filmisches Drehbuch; beschriebene Kamerafahrten, wechselnde Point-of-Views und schnelle Schnitte greifen stilistische Mittel des Mediums Film auf und ahmen diese mit den Mitteln des Romans nach: »Kameraschwenk auf das Schultor. [...] Näher, näher, da durch, über den Hof« (Bach 2007, 13). Außerdem nehmen musikalische Referenzen eine zentrale Rolle ein, da ein erzählter Klangteppich die Protagonistin auf ihrer Reise begleitet. Diese Zitate sind semantisch aufgeladen, verdichten die Ereignisse der Handlung oder kommentieren die Konflikte: »Die Szene fängt an mit: Sensorama, where the rabbit sleeps. Ein Lied, mit dem ein Film anfangen sollte« (ebd., 12). Intermediale Bezüge erfüllen hier also eine dezidierte Erzählfunktion für die Geschichte (vgl. Lexe 2006). In Nils Mohls Stadtrand-Trilogie (2011–2016) bilden die intermedialen Bezüge das narrative Gerüst, um davon ausgehend die handlungsbezogenen Krisen der Protagonisten mit der Darstellungsebene engzuführen. Handlungs- und Darstellungsebene verschränken sich zum durchkomponierten Konstrukt, das die spannungsgeladenen Prozesse der Adoleszenz in all ihren Facetten ausmalt. Dabei sind filmische sowie musikalische Einflüsse zentral. Neben einem Soundtrack, der im Paratext platziert ist, formen filmtechnische Begriffe die Gestaltung der erzählten Welt aus: »Er ist ein guter Boxer, quakt Kondor plötzlich aus dem Off« (Mohl 2011, 173). Die erzählte Zeit verläuft dabei nicht chronologisch, sondern springt vor und zurück, womit sich die diegetische Desorientierung der Hauptfigur in harten Schnitten auf die Ebene des discours übersetzt. Eine solche fragmentierte und neu zusammengesetzte Ordnung des Erzählten und des Erzählens etabliert auch Finn-Ole Heinrich in Räuberhände. Hier wechselt die Handlung zwischen vier Zeitachsen, wobei sich die Übergänge zwischen den einzelnen Episoden wie in einer filmischen Überblendung verbinden, um Ver-
knüpfungen zwischen den zeitlich auseinanderliegenden Ereignissen herzustellen. Intermediale Bezüge erscheinen daher nicht bloß als eine narrative Ausschmückung, sondern erfüllen zentrale Funktionen für die Handlungsentwicklung. Auf einer Metaebene verweisen solche zerstückelten erzählerischen Konstrukte auch auf die veränderten Selbstbilder der Protagonisten, die sich in einer Spätmoderne durch zerfaserte gesellschaftliche Gefüge bewegen. Neben intermedialen Bezügen finden sich im aktuellen Jugendroman auch Formen von Medienkombinationen, indem zwei verschiedene Medien miteinander verbunden werden und beide in ihrer ursprünglichen Materialität noch erkennbar sind. Dies gilt etwa für den bereits erwähnten Roman Das absolut wahre Tagebuch eines Teilzeitindianers von Sherman Alexie, aber auch Reif Larsens Die Karte meiner Träume (The Young and Prodigious T. S. Spivet engl. 2009; dt. 2009) oder Andrew Smiths Winger (engl. 2013; dt. 2016). Die Autoren spielen mit der Verbindung von Romantext und graphischen Elementen, die nicht bloße Illustrationen sind, sondern für die Entwicklung der Handlung einen narrativen Mehrwert transportieren. Die Zeichnungen erweitern den Erzählraum und sind meist selbstreflexive Ausdrucksfläche der autodiegetischen Stimmen, um ihre Erlebnisse zu kommentieren. Gegenwärtig fällt weiterhin auf, dass viele Jugendromane einen sogenannten Medienwechsel vom Roman zum Film erfahren. Auch wenn sich das Korpus des Jugendfilms in diachroner Perspektive häufig an Romanvorlagen orientiert hat, werden in den 2000er Jahren verstärkt solche Romane in das Medium Film transponiert, die ebenfalls in diesem Zeitraum entstanden sind. Während Rolf Lapperts Pampa Blues (2012) für eine TV-Produktion in der ARD (2015) entstand, haben Wolfgang Herrndorfs tschick (2016), Andreas Steinhöfels Die Mitte der Welt (2016), Nils Mohls Es war einmal Indianerland (2017) sowie Stefanie de Velascos Tigermilch (2017) einen Medienwechsel zum Kinofilm durchlaufen. Interessant ist dabei auch, dass diese Filme in ihrer Ästhetik und Machart avancierte Formen erproben und die spezifischen Texturen der Romane aufgreifen und fortschreiben. Das Erzählen im Medienverbund (s. Kap. 3), also in einem System, das in diesem Falle um einen Romantext entsteht – etwa in Filmen, Hörspielen und Merchandise (vgl. Josting 2014; Kurwinkel 2017) – und den Inhalt des Ausgangsmediums in andere Medien übersetzt, ist ein bereits in den 1920er Jahren entstandenes Prinzip. Ein neueres Phänomen ist hingegen
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das sogenannte ›Transmedia Storytelling‹ (s. Kap. 12). Dieses Konzept beschreibt das verzahnte Erzählen eines Stoffes über verschiedene Mediengrenzen hinweg; so entstehen offene und dynamische Erzählwelten, die nicht nur verschiedene Adaptionen eines Textes beinhalten, sondern sich vielmehr zu einem Gesamtnarrativ verbinden (vgl. Dettmar 2016, 122). Henry Jenkins hat den Begriff Transmedia Storytelling geprägt und definiert diesen entsprechend: »A transmedia story unfolds across multiple media platforms, with each text making a distinctive and valuable contribution to the whole« (Jenkins 2006, 97–98). Im Gegensatz zum Medienwechsel erweitert sich im Transmedia Storytelling die Narration durch verschiedene mediale Formate, wobei jeder Teil für die Rezeption der übergreifenden Storyline obligatorisch ist. Die zentralen Impulse gehen dabei wieder von Übersetzungen aus: James Freys am Reißbrett entworfene und überkonstruierte Serie Endgame (engl. 2014–2016; dt. 2014– 2016) ist ein Beispiel für solches Transmedia Storytelling, das sich um den Kern der Romanserie spinnt. Noch dynamischer in den Referenzsetzungen ist das Superheldenuniversum des Marvel Verlags, das sich vertikal und horizontal in Comics, Filmen und Serien ausdifferenziert. Diese Entwicklungen verweisen auf Prozesse der Mediatisierung, die in der Soziologie beobachtet und diskutiert werden (vgl. Krotz 2007). Jugend und Jugendkultur sind eingebettet in umfassende Umbrüche der Digitalisierung, die sich auch in den Erzähl- sowie erzählten Welten der Jugendromane abbilden (vgl. Dettmar 2018). Analog zu sich wandelnden gesellschaftlichen Prozessen rücken entsprechend neue Stoffe und Konstruktionen von Jugend(kultur) ins Zentrum des Erzählens von Jugend und damit des Jugendromans. Primärliteratur
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Anna Stemmann
21 Lyrische Texte
21 Lyrische Texte 21.1 Einleitung Lyrik bildet, in Bezug auf Kinder und Jugendliche, einen sehr komplexen literarischen Bereich. Der Fokus dieses Beitrags liegt, im Anschluss an eine begriffsdefinitorische Bestimmung, auf der Literarhistorie der Kinderlyrik seit 1945, wobei auch auf spezifisch jugendliterarische Formen eingegangen wird. Es folgen Erörterungen zur Typologie und Narratoästhetik. Abschließend werden aktuelle intermediale und transmediale Aspekte der Kinderlyrik erörtert.
21.2 Begriffsdefinitionen Lyrische Texte (für Kinder) sind sämtliche in gebundener Rede und großenteils (end-)gereimter Form von Kindern oder Erwachsenen für Kinder vom Kleinkindalter bis etwa zwölf Jahren verfassten bzw. von diesen rezipierten sprech-, les- und zum Teil auch singund spielbaren Sprachgebilde (vgl. Franz 2016a, 4). Das Attribut ›lyrisch‹ bezeichnet bei diesem Doppelbegriff die Gattungszugehörigkeit, d. h. es handelt sich um Lyrik, einfacher gesprochen um Gedichte im weitesten Sinn, denn lyrische Elemente können auch für andere Texte wie bspw. Erzählungen, Briefe, Spiele konstitutiv sein. Für ›Lyrische Texte‹ (für Kinder) wird heute im Allgemeinen der Gattungsbegriff ›Kinderlyrik‹ verwendet, auf den somit auch die obige Definition zutrifft. Der Bereich Kinderlyrik scheint innerhalb der Kinderliteratur von seiner Form her als Gattung am leichtesten fassbar und abgrenzbar zu sein. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber die besondere Komplexität, und zwar im Hinblick auf die Entstehung (volkstümlich/anonym – bekannter Verfasser), die Produzenten (Kinder – Erwachsene), die Überlieferung (mündlich – schriftlich), die Zielgruppe (Kinder auf verschiedenen Altersstufen – in bestimmten Formen auch für Erwachsene) sowie die sprachlich-formale, inhaltlichthematische und funktional-pragmatische Seite. Als Oberbegriff für den Kinderreim, das Kindergedicht, das Kinderlied und verwandte Formen sollte man den relativ jungen, aber inzwischen eingeführten Terminus ›Kinderlyrik‹ gelten lassen, auch wenn die Ausprägungen im Einzelnen oft sehr stark divergieren: Eine Unterscheidung wie ›Kindergedicht‹ (als ›Gedicht von Kindern‹) vs. ›Gedicht für Kinder‹ hat sich nicht durchgesetzt. Unter ›Gedichten für Kinder‹ versteht man heute übergreifend im Allgemeinen alle Texte, die
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man für die kindliche Rezeption empfehlenswert und geeignet hält, also sowohl solche, die nicht speziell für Kinder verfasst sind (Rainer Maria Rilke, Advent [1989]), wie auch solche, die unmittelbar für Kinder geschrieben sind (Friedrich Güll, Kletterbüblein [1846]), wobei man hier von originären bzw. spezifischen Kindergedichten spricht, wofür – etwas verengend – auch der Terminus ›Kinderlyrik‹ verwendet wird. In Bezug auf die Entstehung und Überlieferung der Kinderlyrik werden unterschiedliche Begriffe benutzt. Von den lange gebräuchlichen Begriffen ›Kindervolkslied‹ (anonyme Überlieferung) und ›Kinderkunstlied‹ (bekannte Verfasserschaft) ist man – auch wegen des Bestimmungswortes ›Lied‹ – weitgehend abgegangen, wenngleich eine terminologische Unterscheidung weiterhin notwendig erscheint. Da der von Hans-Heino Ewers (1993, 43) vorgeschlagene Begriff ›lyrische Kinderfolklore‹ (für ›Kindervolkslied‹) aus mehreren Gründen ungünstig ist, sollte man bei den beiden Termini ›volkstümliche Kinderlyrik‹ und ›literarische Kinderlyrik‹ bleiben, wobei die beiden Epitheta natürlich als wertneutral zu gelten haben. Die semantische Spanne des Begriffs ›Kinderlyrik‹ reicht vom einfachsten Kinderreim bzw. ›Kindervers‹ bis zu anspruchsvoll durchkomponierten Kindergedichten, Kinderballaden/Erzählgedichten und Kinderliedern sowie zu visuellen (visuelle und konkrete Poesie) und akustischen Texten (akustische Poesie). Analog zum Begriff ›Kinder- und Jugendliteratur‹ (s. Kap. 1) ist auch der Begriff ›Jugendlyrik‹ entstanden, der sich auf den Altersbereich von 10/12 bis 16/18 Jahren bezieht. Er ist allerdings weit offener und kaum exakt zu definieren, da er den vielschichtigen Bereich des Übergangs zur ›Erwachsenenlyrik‹ betrifft, wobei sich jedoch gegenwärtig spezifische Formen einer literarischen Jugendkultur entwickelt haben.
21.3 Historische Entwicklungen Die Anfänge der ›literarischen Kinderlyrik‹ liegen in der Periode der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (vgl. Vahle 1992, Vogdt 1998, Franz 2016a u. a.). Entsprechend werden in den nach gängigen Lyrikmustern geformten Gedichten die vorherrschenden bürgerlichen Moral- und Tugendvorstellungen transportiert, etwa in den mehrfach vertonten Kinderliedern (1766/67) von Christian Felix Weiße oder in den beliebten Fabelgedichten von Christian Fürchtegott Gellert, Magnus Gottfried Lichtwer und Gottlieb Konrad Pfeffel.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_21
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Einen echten Einbruch in die intentionale pädagogische Tradition bedeutet die Romantik, die an die Volksliedtheorie Johann Gottfried Herders und des Sturm und Drang anknüpft. Hier erhält die volkstümlich-traditionelle, eher spielerische und weniger explizit pädagogisch intendierte Kinderlyrik bei aller immanenten Lehrhaftigkeit ihren hohen Stellenwert. Hauptauslöser dafür wird die aus verschiedenen Quellen gespeiste dreibändige Sammlung Des Knaben Wunderhorn (1806/08) von Achim von Arnim und Clemens Brentano mit dem Anhang »Kinderlieder« im dritten Band. Seit der Romantik fließen zwei Strömungen nebeneinander, die eher pädagogisch-lehrhafte, mit dem Ursprung in der Aufklärung, und die mehr volkstümlich-lyrische, wobei es im Folgenden allerdings zu starken Überschneidungen kommt. Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sind Autoren wie Paula Dehmel, Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz und später Erich Kästner von Bedeutung, da sie neue Töne ins Kindergedicht bringen, bis es in der NS-Zeit auch hier zur literarischen Normierung kommt. Besinnt man sich nach 1945 zunächst gezwungenermaßen auf traditionelles Reimgut, so knüpfen die Autoren der DDR an die Vorläufer einer sozialistischen und pazifistischen Kinderlyrik in der Zeit vor 1900 an, in der in agitatorischen Versen Missstände wie Ausbeutung, Kinderarbeit, Bildungsnotstand, Krieg u. Ä. angeprangert werden. Zum großen Vorbild wird – wie später auch im Westen – Bertolt Brecht mit seinen Kinderliedern (1950) und weiteren Gedichten. Auch andere Autoren wie Franz Fühmann, Dieter Mucke, Günter Kunert, Walther Petri und Peter Hacks bleiben folgenreich bis in die Gegenwart. Bei der Jahreszahl 1945 kann man durchaus von einer »Stunde Null« sprechen, denn es brauchte, da das unmittelbar Vorhergehende tabuisiert war, eines Neuanfangs, sodass man zunächst besonders stark auf traditionelles Literaturgut angewiesen war. Die neuen Grundschullesebücher und Anthologien greifen zunächst fast ausschließlich auf Kindergedichte des 19. Jahrhunderts zurück; sie prägen nicht nur in der Nachkriegszeit das Lyrikbild der Vor- und Grundschulkinder, sie zählen teilweise zum permanenten Lyrikbestand bis in unsere Zeit. 1950er und 1960er Jahre Trotzdem lassen sich auch schon in den 1950er und vor allem 1960er Jahren Neuansätze erkennen (vgl. u. a. Motté 1983, Franz 2016b). Ein Sonderfall ist der
Volksschullehrer Hans Baumann, der zwar mit einigen Texten zum NS-Liedgut beitrug, aber jetzt kleine bildhafte Poeme schafft wie Kinderhände (1973), die sich zu Lesebuchklassikern entwickeln. In den 1950er Jahren tritt auch ein anderer Autor in Erscheinung, der neben Josef Guggenmos wie kein anderer die Kinderlyrikszene der Nachkriegszeit mitbestimmt hat: der ebenfalls zum Lehrer ausgebildete Helgoländer James Krüss, der 1959 seine historisch orientierte Anthologie So viele Tage wie das Jahr hat herausgibt. Sein mit dem Deutschen Jugendbuchpreis prämierter und mit vielen Gedichten angereicherter Erzählzyklus Mein Urgroßvater und ich (1959) ist ebenfalls ein Meilenstein in der Entwicklung der Kinderlyrik. Diese Jahrzehnte markieren eine Phase der großen Kinderlyriker, denn mit Guggenmos’ Gedichtbändchen Was denkt die Maus am Donnerstag? (1967), mit dem erstmals die Kinderlyrik durch die Prämierung beim Deutschen Jugendbuchpreis 1968 eine besondere Würdigung erfährt, wird ein erster Höhepunkt erreicht. Beide, Krüss und Guggenmos, knüpfen stark an Traditionelles an, finden jedoch zu einem jeweils unverkennbaren individuellen Stil, was nicht zuletzt ihren Erfolg als Lesebuchklassiker teilweise bis in die Gegenwart erklärt. Auffallende Neuerungen ergeben sich durch den spielerischen und experimentellen Umgang mit Sprache, speziell etwa in Gedichten von Vertretern der Konkreten Poesie wie Eugen Gomringer und Ernst Jandl (ottos mops, 1970), die sich zu Klassikern für Kinder entwickeln. Ebenfalls Beispiele für All-Age-Literatur sind die poetischen Gebilde Christine Bustas, deren Band Die Sternenmühle (1959) als Vorbild für genuin lyrisches Schreiben gilt. Die 1960er Jahre markieren eine Blütezeit der neueren deutschsprachigen Kinderlyrik, bevor es im Zuge der 68er-Revolution zu gravierenden Einschnitten kommt. Peter Hacks erzielt mit seinen sozialkritischen Kinderballaden in seinem Flohmarkt (1965) nachhaltige Wirkung. Auf dem Gebiet des sprachspielerischen Kindergedichts gelingt Hans Adolf Halbey mit seinem Pampelmusensalat (1965) der große Wurf, und Elisabeth Borchers pflegt in ihrem Gedichtband Und oben schwimmt die Sonne davon (1965) meisterhaft die Tradition der stimmungsvollen Kinderlyrik. Max Kruse stellt in seinem Band Windkinder (1968) spielerisch-leichte Gedichte zusammen und von Michael Ende erscheint das verspielt-skurrile, hintergründige Schnurpsenbuch (1969). Zehn Jahre nach Krüss bedeutet Hans-Joachim Gelbergs Anthologie Die Stadt der Kinder (erstmals
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1969) ein editorisches Großereignis am Ende des Jahrzehnts, das bis in die Gegenwart wirksam geblieben ist, da er einen Querschnitt durch die Kinderlyrik seiner Zeit gibt. 1970er und 1980er Jahre Das Jahr 1968 markiert einen Wendepunkt in der bundesrepublikanischen Geschichte, denn durch die Ereignisse in diesem Jahr und danach werden weitreichende politische und soziale Tendenzen ausgelöst, die sich in den 1970er und 1980er Jahren auch im pädagogischen und literarischen Bereich auswirken, da überkommene Wertmaßstäbe in Frage gestellt und verändert werden. Trotzdem ist der Begriff ›Wende‹ mit Vorsicht zu benutzen, da nur ein Teil der Kinderlyrik der neuen Richtung zuzuordnen ist, während ein wesentlicher Teil der traditionellen Lyrik verschrieben bleibt. Allerdings stellen in den 1970er Jahren die emanzipatorischen und antiautoritären Kindergedichte eine echte Neuerung dar, auch wenn es vereinzelte Vorläufer gibt. Typisches und inzwischen klassisches Beispiel ist Susanne Kilians an Brecht angelehntes Kindsein ist süß? mit der lakonischen Schlusszeile »Kindsein ist mies« (Nein-Buch für Kinder, 1972). Vor allem wird jetzt das idealisierte KindErwachsenen-Verhältnis häufig relativiert. Dies zeigt sich weniger an der Form als vielmehr an der Fülle aufgegriffener Themen, Stoffe und Motive, deren Spektrum sich im Kindergedicht stark erweitert, etwa bei Christine Nöstlinger oder in Klaus Kuhnkes Sammlung Baggerführer Willibald von 1973, deren Kinderlieder und -gedichte in Sprache und Struktur ganz traditionell, aber in der Aussage emanzipatorisch und teilweise provokant sind. Die emanzipatorische Kinderlyrik löst zwar Diskussionen aus, doch wirken daneben andere wichtige Tendenzen weiter, vor allem im Bereich des sprachspielerischen Gedichts. Da sind nicht nur die Werke des Schweizer Lehrers Hans Manz zu nennen, etwa sein speziell dem schulischen Gebrauch zugedachtes Buch Worte kann man drehen (1974), ähnlich dann das vom Österreicher Hans Domenego herausgegebene Sprachbastelbuch von 1975, das immer wieder neu aufgelegt wurde. Wie wichtig die Verbindung von Text und Bild ist, beweist am Ende des Jahrzehnts das bibliophil gestaltete Büchlein Drunter & Drüber. Verse zum Vorsagen Nachsagen Weitersagen (1980) von Jürgen Spohn, das als eines der wenigen Gedichtbücher 1981 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt, und zwar in der Sparte Kinderbuch.
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Wiederum als Seismograph ist Gelbergs Anthologie Überall und neben dir (1986) zu sehen, denn mit seinen fast 140 darin vertretenen Autoren gibt er einen nicht zu überbietenden Überblick über das kinderlyrische Schaffen der 1980er Jahre und der Zeit davor. Hier finden sich alle Namen versammelt, die teilweise bis zum Jahrtausendende und darüber hinaus die Kinderlyrikszene bestimmen: Martin Auer, Georg Bydlinski, Josef Guggenmos, Peter Hacks, Peter Härtling, Hans Adolf Halbey, Ernst Jandl, James Krüss, Max Kruse, Rainer Kunze, Paul Maar, Hans Manz, Christine Nöstlinger, Regina Schwarz, Franz Wittkamp u. a. 1989, genau 30 Jahre nach der Anthologie von Krüss, erscheint wiederum eine ähnlich literarhistorisch angelegte Sammlung von »alten und neuen Gedichten für Kinder« (wie es im Untertitel heißt): Die Wundertüte, zusammengestellt von Heinz-Jürgen Kliewer. 1990er Jahre Bis in die 1990er Jahre hinein läuft noch der hervorragende und viel gelobte Versuch Uwe-Michael Gutzschhahns, in der Reihe RTB Gedichte (12 Bände von 1988 bis 1991) ausgewählte Werke bekannter Lyriker wie Günter Kunert, Christoph Meckel, Oskar Pastior, Sarah Kirsch, Erich Fried, Christa Reinig u. a. jüngeren Lesern nahezubringen. Am Anfang des Jahrzehnts steht Franz Wittkamps Kalendermerkbuch mit Versen: Alle Tage immer wieder (1990). Die 365 gereimten Vierzeiler sind in der Aussage lakonisch, epigrammatisch-prägnant, dabei auch hintergründig-witzig. »Neue Gedichte« bietet 1997 Guggenmos in seinem Bändchen Katzen kann man alles sagen. Die Gedichte in Peter Maiwalds Gedichtband Pauls Zauberland heißt Samarkand (1998) haben jeweils in der Person des kleinen Paul ihren gemeinsamen Bezugspunkt. Speziell die österreichische Kinderlyrik wird repräsentiert von Autorinnen wie Friedl Hofbauer mit ihrem Band Weißt du, dass alles sprechen kann (1999) und Christine Nöstlinger mit ihren zum 60. Geburtstag in einem Sammelband vereinigten Gedichten: Mein Gegenteil (1996). Ihre Texte, auch die neueren, sind nach wie vor gesellschaftskritisch, provozierend und damit aktuell. Zur jüngeren Garde (Jahrgang 1960) zählt Heinz Janisch. Von ihm erscheint 1999 der in der Aufmachung sehr modern wirkende Gedichtband Ich schenk dir einen Ton aus meinem Saxophon, in dem die Verbindung mit den Zeichnungen eine große Rolle spielt. Einen guten Querschnitt durch die österreichische Kinderlyrik bieten die Anthologien Im
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Pfirsich wohnt der Pfirsichkern von Wolf Harranth (1994) und Der neue Wünschelbaum von Georg Bydlinski (1999) als Aktualisierung des Wünschelbaums von 1984. Weiterhin ungebrochen aktuell bleiben auch Martin Auers Gedichte: Sie verkörpern gedanklich und strukturell das, was man unter innovativer Kinderlyrik verstehen könnte (dazu auch Kirchhoff 2002, 368). 2000er Jahre Der Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert (vgl. u. a. Franz 2000) bedeutet keinen spürbaren Einschnitt, denn die Zeit ist weiterhin geprägt von der Rückbesinnung auf Altes, von der Wiederentdeckung traditioneller Werte. Trotzdem sind zahlreiche weitere Kriterien und Einflussbereiche zu beachten, vor allem das Aufwachsen der Kinder in einer multimedialen Umwelt und die sich dadurch verändernde kindliche Literaturrezeption. Traditionelles Literaturgut spielt zwar weiter eine große Rolle, vor allem in den Grundschullesebüchern, doch experimentiert die Kinderlyrik nun verstärkt etwa mit freirhythmischen Formen, Sprachspielen sowie mit Intertextualität, nutzt Anthologisierung, Illustrationen sowie die Ausdrucksmöglichkeiten neuer Medien (vgl. Franz 2016a, 92–108). Ihre Distanz zur hermetischen modernen Lyrik verringert sich allerdings kaum. Viele Autoren greifen auf altbekannte Texte zurück und verarbeiten diese neu, übernehmen Teile daraus oder spielen darauf an. Dabei werden nicht nur alte Kinderreime und sprachspielerische Phrasen verwendet, sondern häufig Motive aus Märchen. Zudem bleibt Kinderlyrik stark gekennzeichnet von Requisit erstarrung; allein die Liste der immer beliebten und in allen Zeiten beibehaltenen Tiere von der Maus bis zum Elefanten ist typisch. Aber auch die dem Kind vertrauten Dinge gehören ebenso wie Naturerscheinungen dazu. Andererseits dringen durch die sich abzeichnenden gesellschaftlichen und technischen Veränderungen sukzessive auch neue Themen, Motive und Requisiten ins Kindergedicht ein. Als ganz entscheidend für die Innovation des Kindergedichts erweisen sich die relevanten Ausgaben der von Anton G. Leitner herausgegebenen Zeitschrift Das Gedicht (seit 1993), in der auch neue Autoren zu Wort kommen. Die Zahl der Autoren in den letzten beiden Jahrzehnten ist immens, doch kann man einige prägende Namen hervorheben wie Paul Maar, Lutz Rathenow, Michael Gutzschhahn, Arne Rautenberg, Judith Holofernes, die Österreicher Georg Bydlinski, Heinz Ja-
nisch, die Schweizer Max Bolliger, Franz Hohler und Jürg Schubiger.
21.4 Typologien und Narratoästhetik ›Kinderreime‹ und einfache volkstümliche Kindergedichte zeigen gemeinsame strukturelle Merkmale, die einerseits in einer gewissen Begrenztheit und Einförmigkeit, andererseits in einem unbegrenzten Variantenreichtum liegen. Die überwiegend unstrophigen Gebilde bestehen häufig aus drei- oder vierhebigen, paarweise gereimten Verszeilen. Besonders häufig sind, nicht zuletzt wegen des Paarreims, Zwei- und Vierzeiler, aber relativ oft auch Drei- und Fünfzeiler wie überhaupt Texte mit unregelmäßiger Zeilenzahl, da ein Anruf, eine Anrede vorangestellt oder eine Waise, also eine nichtreimende Verszeile (x), eingeschoben oder angehängt ist oder eine Zeile refrainartig wiederholt wird. ›Unreine Reime‹ finden sich in Versen von Kindern selbst relativ häufig, aber auch in überlieferten Texten wie mehrfach im bekannten »Backe, backe Kuchen, / der Bäcker hat gerufen«. Spottverse, Abzählreime, Spielverse u. Ä. sind im Allgemeinen kurz, während Lawinengedichte, Kettenreime u. Ä., früher oft in der Form der ›Kinderpredigt‹, durch das Prinzip der Reihung fast beliebig lang sein können, oft um die 20 Zeilen und darüber. Beim ›Kindergedicht‹ im weiteren Sinn sind die Übergänge zum Kinderreim, gerade für die von Erwachsenen produzierten Reime, oft fließend, denn zunächst gilt das über Rhythmus, Klang, Reim und die formale und sprachliche Einfachheit Gesagte auch für das Kindergedicht, doch steigert sich dieses umfangmäßig (Zeilen-, Strophenzahl), formal (komplizierteres Versmaß und Reimschema, z. B. Kreuzreim; reimlos, freirhythmisch), sprachlich (Wortgebrauch, Satzbau) und inhaltlich (breitere Thematik) gerade mit zunehmendem Alter der Rezipienten. Den wesentlichen Unterschied aber sieht man vor allem darin, dass das Kindergedicht inhaltlich planmäßig verfasst ist, abgeschlossene Geschehnisse thematisiert bzw. Sachverhalte schildert, also ein in sich abgerundetes Ganzes bildet, weshalb sich relativ viele erzählende Gedichte (›Geschehnislyrik‹) finden. An Klassifikationsversuchen hat es auch da nicht gefehlt, obwohl man sich über die Kriterien und die Terminologie nie ganz einig wurde. So unterteilen Hermann Helmers und andere in ›Naturlyrik‹ (Tra ri ro, der Sommer, der ist do ..., 1778), ›Geschehnislyrik‹ (Erzählgedichte, Kinderballaden, z. B. Ballade vom
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großen Hut von Peter Hacks, 1965) und ›lyrischen Humor‹ (Klanglyrik wie Zungenbrecher und Lautgedichte; Reimspiele wie Kettenreime und Buchstabenspiele etc.). Andere Einteilungen sind Stimmungs-, Klangund Erzähllyrik, Erlebnis-/Stimmungslyrik, Reflexionslyrik, Geschehenslyrik, Sprachspiele oder erzählende, lehrhafte und liedhafte Gedichte; dazu kommen noch unter anderem Bild- und Rätselgedichte sowie Gebete, die von Intention und Funktion her eindeutig festgelegt sind und die man von daher durchaus auch als eigenes Genre klassifizieren könnte. Auch wenn im Ganzen keine stringente Klassifizierung vorliegt, so lassen sich doch speziell für die volkstümliche Kinderlyrik etliche funktionale Typen, wenngleich mit Überschneidungen, nennen: Kitzel-, Krabbelvers, Fingerreim und -spiel, Kosereim, Beruhigungsvers, Trostvers, Heilsegen, Kniereiter, Schaukelreim, Wiegenlied (vgl. Franz 2017, 1–59), Zuchtreim, Heischelied (vgl. Franz 2016a, 239–263), Spott-, Neck-, Ulk- und Scherzreim, Nachahme- und Deutereim, Tierreim, Rätselvers, Lügen-, Verkehrte-Welt-Gedicht, Parodie, Nonsens, Abzählreim, ABC-Vers, Kettenreim, Endlos-Gedicht, Lawinengedicht, Schnellsprechvers/Zungenbrecher (vgl. ebd., 264–285), Kinderpredigt, Bastlösereim, Gebet, Wetterspruch, Reigen- und Tanzlied, Spielvers, Albumvers, obszönes Sprachspiel/›verbotene Reime‹ von Kindern und andere mehr. Alle diese Texttypen haben, auch wenn nicht immer unter den alten Benennungen, selbst in der unmittelbaren Gegenwart große Bedeutung. Damit sind sämtliche Formen sinnlichen Wahrnehmens und Handelns – stärker als im Erwachsenenbereich – eingeschlossen: Sprechen, Hören, Sehen, Greifen, Fühlen, Singen, Musizieren, Spielen, Sich-Bewegen. Kinderlyrik ist nicht nur sprachlich-formal in einen weiten Rahmen gespannt, auch aus handlungsorientierter Perspektive treten große Unterschiede zutage; da reicht die Skala von der Vermittlung moralischethischer Normen im Lehr- und Moralgedicht bis zum anscheinend aussagefreien scherzhaften Sprachgebilde im Nonsens-Gedicht, in konkreten und dadaistischen Texten, wobei auch hier eine Intention immanent ist, ob man nun unterhalten, belustigen, provozieren, zum Nachdenken anregen oder Freude am Spiel mit Sprache vermitteln will. Und so befindet sich Kinderlyrik in seiner Formenvielfalt – nicht anders als ›Jugendlyrik‹ und ›Erwachsenenlyrik‹ – wertungsmäßig ebenfalls immer auf einer Gratwanderung zwischen gesellschaftlicher Normativität und Abweichung, zwischen Regelgebundenheit und spieleri-
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scher Regellosigkeit, zwischen ästhetischer Anerkennung und Ablehnung.
21.5 Inter- und transmediale Aspekte Die Vermittlung von Kinder- und Jugendlyrik geschieht heute über vielfältige mediale Kanäle. Da diese literarische Gattung in ihrer relativen Kürze und formalen Geschlossenheit nicht nur im Alltag von Kindern und Jugendlichen und auch im familiären Umkreis verbreitet war und ein großes pädagogisches Potential aufweist, sind diese Texte seit über 200 Jahren fester Bestandteil von Schulbüchern und Anthologien. Allerdings spielte schon immer die orale Komponente eine entscheidende Rolle beim Sprechen und Singen, nicht nur bei Kleinkindern. Der Alltag der Kinder wird heute weitgehend von der Massenproduktion einer Kinderlieder-Industrie bestimmt; ihre tägliche Rezeption verlagert sich von Radio, CD-Player und anderen auditiven Medien immer mehr auf die Zugänge über das Smartphone. Bei der großen Zahl an illustrierten Gedichtausgaben, aber auch von Bilderbüchern, selbst zu einzelnen Gedichten, spielt die Text-Bild-Interdependenz eine wichtige Rolle. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts übernehmen immer stärker auditive und audiovisuelle Medien die Vermittlung, häufig als Begleitmedium zur gedruckten Ausgabe. So finden wir gegenwärtig kaum noch Gedichtausgaben, die nicht zugleich als Hörbuch, CD, CD-ROM oder App erhältlich bzw. abrufbar sind. Hinzu kommen die zahlreichen eigenständigen medialen Umsetzungen, vor allem mit Kinderliedern. Gerade durch die technische Entwicklung in den letzten Jahrzehnten hat das typisch Orale der Lyrik wieder auffällig an Bedeutung erlangt, vor allem in Verbindung mit Gesang und Musik. Äußerst große Wirkung entfalten eingängige Songs von Filmen, ob aus Biene Maja oder Shrek. Kinder- und Jugendzeitschriften sowie eigene Musiksender, auch im Fernsehen (MTV, VIVA u. a.), unterstützen den Trend, sodass sich eine eigene literarische Kinder- und Jugendkultur entwickelt hat. Diese übergreifende Kultur äußert sich in vielfältigen Formen, von denen der Sprechgesang besondere Beliebtheit bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen erlangt und in der diffamierenden Form des Battle-Rap eine neuere Ausprägung gefunden hat. Eine ganz wesentliche, vor allem auf Jugendliche und junge Erwachsene fokussierte Form ist Slam-Poetry, eine Art Performanceliteratur,
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da meist auf einer Bühne eine Art Vortragswettbewerb (Poetry-Slam) ausgetragen wird. Diese innovativen und motivierenden Lyrikformen werden nicht unbegründet auch für die Didaktik fruchtbar gemacht, da inzwischen auch die meisten Texte zugänglich sind, wie etwa schon in Ralf Schweikarts Songtexte- und Gedichte-Band Explicit Lyrics (1999). Kinder- und Jugendlyrik weist also gegenwärtig eine Vielfalt an literarischen Formen auf, die über verschiedene mediale Kanäle vermittelt werden. Auffällig ist eine neuere Erscheinung, die an die mittelalterlichen Epen, aber auch an die bis heute gängigen gereimten Bilderbuchgeschichten erinnert, nämlich längere Texte in Reimform, wozu z. B. der Debütroman The Weight of Water (2012; dt. 2013) der irischen Jugendbuchautorin Sarah Crossan zählt. Literatur
Ewers, Hans-Heino: Kinderlyrik im bürgerlichen Zeitalter. Ein Rückblick auf die Ära des Kindergedichts. In: JuLit 19/2 (1993), 32–46. Franz, Kurt: Maja, Rap und Guggenmos. Kinderlyrik an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. In: Ders./Günter Lange/ Franz-Josef Payrhuber (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur zur Jahrtausendwende. Autoren – Themen – Vermittlung. Baltmannsweiler 2000, 22–43. Franz, Kurt: Kinderlyrik. In: Günter Lange (Hg.): Kinderund Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler 22012, 193–216.
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Kurt Franz
22 Dramatische Texte
22 Dramatische Texte 22.1 Einleitung Dramatische Texte haben als literarische Gattung insofern eine Sonderrolle inne, als dass sie in der Regel nicht primär für die Lektüre, sondern für die theatrale Darstellung geschrieben und daher mit dieser untrennbar intermedial verknüpft sind (vgl. Denk/Möbius 2017, 18). Die Produktion von neuen Texten eigens zur szenischen Darstellung im Kinder- und Jugendtheater hat bereits eine lange Tradition. Im ästhetischen Diskurs um die künstlerische Qualität des Kinder- und Jugendtheaters hingegen ist die Diskussion über neue dramatische Texte erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts fest verankert (vgl. Taube 1998, 6). Im Anschluss an begriffliche Klärungen wird im Folgenden die historische Entwicklung des Dramas für Kinder und Jugendliche nachgezeichnet. Daran schließt sich ein Abschnitt zur Typologie, eine Skizze narratoästhetischer Erzählverfahren sowie ein Abschnitt zu intermedialen Aspekten des Kinder- und Jugenddramas an.
22.2 Begriffsdefinitionen Im Unterschied zu den Gattungen Lyrik (s. Kap. 21) und Epik (s. Kap. 19 und 20) zeichnet sich die Dramatik durch ihren Doppelcharakter aus, der die Aufführung bereits miteinschließt (vgl. Pfister 2001, 24). Der Begriff ›Drama‹ (griech. für Handlung) kann nach Aristoteles’ Poetik davon abgeleitet werden, dass Dichter wie Sophokles oder Aristophanes in dieser Kunstart »ihre Charaktere selbst agieren lassen« (Aristoteles 2009, 5). Vermittelt wird die Handlung im dramatischen Text durch dialogische oder monologische Figurenrede (Haupttext), ergänzt durch szenische, außersprachliche Anweisungen (Nebentext). Aufbauend auf der Poetik von Aristoteles und der antiken Tragödientradition wird zwischen der geschlossenen und verschiedenen offenen Bauformen des Dramas unterschieden, die jeweils durch ihren spezifischen Spannungsbogen sowie Anzahl, Sprachstil und sozialen Stand der handelnden Personen und den Schauplatz gekennzeichnet sind (vgl. Pfister 2001, 320–326). Neben dem Dramen-Begriff gehen auch die Definitionen der Untergattungen ›Tragödie‹ und ›Komödie‹ auf Aristoteles zurück (vgl. Asmuth 2016, 24–25). Wenngleich sich einzelne Texte des Kinder- und Jugendtheaters wie Medeas Kinder von Per Lysander
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und Suzanne Osten (1975) noch auf die klassische Form des geschlossenen Dramas und der Tragödie beziehen, haben sich die meisten dramatischen Texte für Kinder und Jugendliche im 20. Jahrhundert von der starren Form des geschlossenen Dramas gelöst. Beispielsweise betitelt Horst Hawemann seine dramatischen Texte als »Inszenierungen auf Papier«: Das »ist so eine Schutzbehauptung, weil ich mich damit in bestimmten Sachen einfach fein raushalten kann. Ich muß mich damit nicht so an die Strukturen des Dramas halten und leiste mir eine gewisse Freiheit« (Hawemann 1990, 35). Auch für den niederländi schen Autoren Ad de Bont ist die Theatralität seiner Texte wichtiger als literaturwissenschaftliche Kriterien: »Wenn ich schreibe, fühle ich mich eher als Theatermacher denn als Autor. Es geht mir nicht um die Worte. Die müssen leider sein, sonst gibt es kein Stück« (de Bont 1991, 32). Die klassische Dramenform wird in der Dramatik für Kinder und Jugendliche insbesondere seit den 1980er Jahren auffallend häufig von epischen Dramaturgien und Formen abgelöst (vgl. Schönfelder 2009, 74). Daneben gibt es speziell für das Kindertheater viele dramatische Texte, die auf verschriftlichtem Improvisationstheater basieren wie zum Beispiel Robinson & Crusoe (1985) von Nino d’Introna und Giacomo Ravicchio.
22.3 Historische Entwicklungen Eine deutschsprachige Dramatik für Kinder und Jugendliche hat ihre Vorläufer bereits im protestantischen Schultheater des 16. und 17. Jahrhunderts, in dem vor allem religiöse, aber auch politische und philosophische Konzepte propagiert wurden. Auch im 18. Jahrhundert dominiert die didaktische Funktion in den ersten Stücken speziell für Kinder, beispielsweise den Dramatischen Kinderspielen von Gottlieb Konrad Pfeffel (1769) oder den ›Sprichwortdramen‹ von Christian Felix Weiße (vgl. Schneider 1994, 9). 1950er und 1960er Jahre Bearbeitungen von Märchen für unterhaltsame, illusionsästhetische Kinderstücke zur Weihnachtszeit erweisen sich bereits seit dem 19. Jahrhundert als Publikumsmagneten und Kassenschlager und prägen auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Dramatik für Kinder und Jugendliche in der BRD. Daneben entstehen nun vermehrt Dramatisierungen kinderliterari-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_22
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scher Weltliteratur etwa von Erich Kästner, Mark Twain und Robert L. Stevenson. Während das Weihnachtsmärchen praktisch die Tätigkeit des Autors »pervertiert« (Jahnke 2001, 157), indem die dramatischen Texte hier nur als Gerüst für theatrale Effekte dienen, erinnert Kästner mit seinen eigenen Romanadaptionen an das »Programm eines proletarischen Kindertheaters« von Walter Benjamin, der darin bereits 1926 forderte, »die kindlichen Signale aus dem gefährlichen Zauberreich der bloßen Phantasie zu erlösen und sie zur Exekutive an den Stoffen zu bringen« (Israel 2009, 32). In den 1970er Jahren wird das »Programm« Benjamins neu aufgegriffen, u. a. in der »Arbeitsgruppe Spielumfeld« (ebd.); bis dahin gibt es in der BRD jedoch wenig neue Dramatik für Kinder oder Jugendliche. Anders in der DDR: Nach Vorbild des 1921 in Moskau eröffneten Theaters für Kinder entstehen in der DDR zwischen 1946 und 1952 mehrere eigene Theaterhäuser für Kinder. Für deren Ensembles werden Stücke des sowjetischen Kindertheaters übersetzt (wie Das Tierhäuschen von Samuil Marschak, 1956), von DDR-Autoren wie Peter Hacks, Peter Ensikat oder Albert Wendt wird zudem neue Gegenwartsdramatik geschaffen. Diese bearbeitet die realen Konflikte von Kindern entweder in märchenhaften oder mythischen Stoffen (insbesondere bei Ensikat) oder beruht auf Improvisation, auch dies in Anlehnung an sowjetische Stücke wie zum Beispiel Unterwegs von Viktor Rosow 1967. 1970er und 1980er Jahre In der BRD entwickelt sich mit den Stücken des emanzipatorischen, neorealistischen Kindertheaters Anfang der 1970er Jahre eine neue Dramatik, die untrennbar mit den Autoren (und Theatermachern) insbesondere des Grips-Theaters in Berlin verbunden ist. Die Stücke sind stark didaktisch angelegt, allerdings wollen sie das kindliche Publikum nicht belehren, sondern »Mut machen« (ebd., 24), indem erstmals auch Alltagsprobleme, Gewalt oder Sexualität thematisiert werden. In den emanzipatorischen Stücken zeigt sich »in Szenenfolge und Liedern eine eigene, neue Dramaturgie: Gespielt wurde in Brüchen, das Versenken in eine psychologische Spielweise war nicht gewollt« (ebd., 24– 25). Anders als das zugrundeliegende Konzept werden die Stücke von Autoren wie Volker Ludwig oder Rainer Hochfeld heute kaum noch rezipiert. Der Grund hierfür mag darin liegen, dass diese Stückentwicklungen sehr eng mit der Sprache und den gesellschaftlichen
Themen ihrer Entstehungszeit verknüpft sind und heutzutage altmodisch wirken. Eine neue ästhetische Qualität zeigt sich in den 1980er Jahren: Kunstvolle Märchen-, Mythenund Klassikerbearbeitungen aus der zeitgenössischen schwedischen, holländischen oder italienischen Dramatik werden ins Deutsche übersetzt; mit Paul Maar und F. K. Waechter können sich zwei deutschsprachige Autoren etablieren, die dem Ruf nach phantasievollerer Ästhetik und poetischen Texten entsprechen. Thematisch werden nun auch weitere Tabuthemen wie Tod und Sterben aufgegriffen. 1990er und 2000er Jahre Die von Waechters Erzähltheater bekannte epische Spielweise erlebt nach der Wiedervereinigung »als eine den Kindern gemäße Form« großen Aufschwung (ebd., 28). Wie in der Entwicklung des zeitgenössischen Theaters überhaupt, beginnen sich im neuen Jahrtausend die Grenzen zwischen den Medien langsam aufzulösen, es entstehen neue Bilderbuchadaptionen (u. a. von Gertrud Pigor in der Dramatik für Kinder) und unzählige weitere Kinder- und Jugendbuchadaptionen. Zwischen 1989 und 2010 wurde diese Entwicklung durch die Gründung verschiedener Fördereinrichtungen der dramatischen Literatur für Kinder und Jugendliche unterstützt, vom Frankfurter Autorenforum bis hin zum Mülheimer KinderStückePreis. Die Förderung und Forderung neuer Dramatik nahm zeitweilig ein solches Ausmaß an, dass sich die Jugendstückautoren Rolf Kemnitzer, Andreas Sauter und Katharina Schlender öffentlich »gegen den Uraufführungswahn« zur Wehr setzten (Schönfelder 2009, 81). Die vielen neuen Stücke für Jugendliche seit der Jahrtausendwende zeichnen sich zum einen durch literarisch ausgebildete Autoren und zum anderen durch thematische und ästhetische Bezugnahme auf die neuen Medien aus. Dabei dominieren bei den Stücken für das Jugendtheater zeitaktuelle, realistische Stoffe zur ersten Liebe oder politischen Themen (z. B. Malala – Mädchen mit Buch von Nick Wood, 2013). Im Kindertheater dagegen ist »das Verhältnis von naturalistischen und phantastischen Stoffen als Spiegel der Realität ausgewogener«, indem »sowohl mythologische und poetische Geschichten als auch Geschichten über den Alltag in Schule und Familie« (ebd., 74–75) thematisiert werden. So gibt es Stücke zum Alltag in Patchworkfamilien oder in Familien mit getrennt lebenden Eltern wie Tag Hicks oder Fliegen für Vier von Kirsten Fuchs (2016).
22 Dramatische Texte
Die Adaption klassischer Stoffe oder über Improvisation entwickelte Ensembleprojekte zu aktuellen Themen finden in »kollektiver Autorschaft« dabei vermehrt auch wieder direkt in den Theaterhäusern statt (ebd., 82), so erarbeitete Hannah Biedermann beispielsweise Entweder und zusammen mit dem JES Ensemble Stuttgart (2016). Verbunden mit der sich auflösenden Abgrenzung von Kinder- und Jugendtheater und Erwachsenentheater (vgl. Israel 2009, 36–38), öffnen sich auch die hierfür geschriebenen Stücke in ihrer Thematik und Ästhetik zunehmend einem Altersgrenzen überschreitenden Publikum.
22.4 Typologien In der Dramatik für Kinder- und Jugendliche sind feste Gattungszuweisungen durch die Autoren im Stückuntertitel sehr selten und eindeutige Gattungszuordnungen schwierig. Einzelne Komponenten der verschiedenen Dramenformen lassen sich jedoch allen Stücktexten zuordnen. Dabei haben die phantastischen Attribute des Illusionstheaters seit dem Weihnachtsmärchen die längste Erzähltradition, gefolgt vom naturalistisch-neorealistischen Erzählen des emanzipatorischen Theaters der 1970er Jahre und der anschließenden Erweiterung um epische, komische, tragische, tragikomische und groteske Elemente der deutschsprachigen Autorenstücke für Kinder und Jugendliche seit den 1980er Jahren. Insbesondere seit den 1980er Jahren wird die Dramatik für Kinder und Jugendliche auffallend häufig von epischen Dramaturgien und Formen dominiert (vgl. Schönfelder 2009, 74). Diese können sprachlich zum Ausdruck kommen, indem Figuren das Geschehen kommentieren, reflektieren oder zusammenfassen. Die Handlung ist im epischen Drama zudem weniger auf ein spannendes Finale hin konzipiert, sondern eher in episoden- oder stationenhafter Struktur (vgl. Pfister 2001, 105). In der Dramatik für Kinder findet sich in Die Reise einer Wolke von Roberto Frabetti (1994) ein Beispiel dieser Struktur: Hier nimmt die Wolke Zirrus ein Kind mit auf seine Reise und erzählt ihm von den verschiedenen Landschaften der Erde, die nacheinander besucht werden. Auch Elemente der revuehaften Dramenform (Schule mit Clowns von Waechter, 1975) lassen sich in der Dramatik für Jugendliche finden, doch selten gibt es ein pessimistisches Ende oder eine Dramenform ganz ohne Zielpunkt wie im Absurden Theater (vgl.
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Denk/Möbius 2017, 139–142). Bei aller Ernsthaftigkeit bleiben die Stücke »leicht« (Jahnke 2001, 141). Die Aufnahme sogenannter postdramatischer Formen (vgl. Lehmann 2008) kann im Extremfall bedeuten, dass der Text nur noch aus Handlungsanweisungen besteht, sodass »auf jegliche Fiktion beziehungsweise Bedeutungszuschreibung der Handlungen verzichtet, also die Semiotizität der Darstellung reduziert wird, [...] keine fertige Geschichte erzählt wird, sondern [...] die Kinder selbst das Geschehen deuten und eigene Geschichten erfinden können« (Heinemann 2016, 294–295). Besonders die dramatischen Texte für ein ganz junges Publikum beschränken sich oft auf eine Reihe von Spiel- und Handlungsanweisungen, die situativ auf das jeweilige Publikum sowie den Spielort (Wenn Räume träumen von Theater Kormoran, 2009) oder bestimmte Requisiten (Krawumm! Spielzeugge schichten nach einem Konzept von Theater Isenkram in Oslo, 2016) Bezug nehmen. In der Struktur ähneln sie damit den Stücken der Postdramatik, in der Intention handelt es sich jedoch gewissermaßen um ›Prädramatik‹, die zu traditionellem, mimetischem Theater hinführt und nicht davon weg.
22.5 Narratoästhetik Die Dramatik für Kinder und Jugendliche kennzeichnet eine historisch gewachsene Bandbreite an Formen und Erzählverfahren. Grundsätzlich lässt sich die Narration des Erzähltheaters von dialogischen Strukturen unterscheiden, wobei sich erzählte Passagen und situativer Dialog auch innerhalb eines Stückes abwechseln und partizipative Elemente integrieren können. Neben originären Texten finden sich Märchenadaptionen, Adaptionen der Kinder- und Jugendliteratur sowie Stücke der klassischen (Theater-)Literatur. Die ästhetischen Muster dieser Stoffquellen sind auch für die sprachliche Form der dramatischen Texte für Kinder und Jugendliche prägend. Sowohl in den frühen Märchenadaptionen des 19. Jahrhunderts als auch in den Märchenadaptionen von Ensikat oder Maar in den 1970er Jahren bleiben die Figuren typisiert verdichtet (Schneider 1994, 19), die Anzahl an Konflikten ist begrenzt. Märchenadaptionen können sowohl in szenischer Dialogform wie auch als Erzähltheater umgesetzt werden. Die »traditionelle kleine Form« (Mattenklott 2007, 233) des dramatisierten Märchens ist für die meisten Stücke des Kindertheaters kennzeichnend: Sie ist geprägt von einem einfachen Stil, symbolischer Darstel-
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lung und einfachen Handlungsstrukturen, übersichtlicher Thematik; Höhe- und Wendepunkte sind leicht zu identifizieren. Mit den scharfen Kontrasten elementarer Symbole, wiederkehrenden, klar konturierten (Sprach-)Figuren und Requisiten können Entwicklungsgeschichten abstrahierend erzählt werden (vgl. ebd., 233–235). Mit einem eindeutigen Konflikt, linearem Handlungsablauf, übersichtlicher Personenkonstellation und bildhafter Sprache können Märchendramatisierungen einige Elemente des geschlossenen Dramas aufweisen. Die Tradition des Märchenerzählens im Erzähltheater wurde besonders von Waechter geprägt. Bei diesen Stücken handelt es sich um ›Monodramen‹ mit nur einer einzigen (Erzähler-)Figur, die Märchenstoffe in teils distanziert-sarkastischer Form bearbeiten. Innerhalb der monodramatischen Form wird hier also eine Märchengeschichte mit eigener Handlungsstruktur vermittelt. Die kleine Dramenform des Monodramas taucht auch bei den Klassenzimmerstücken wieder auf, diese sind allerdings an realistische Stoffe gebunden und eher für Jugendliche als für Kinder konzipiert. Anders als die Klassenzimmerstücke grenzen die Erzähltheater-Texte von Waechter an die Funktion des Lesedramas, das eher der Lektüre als einer Aufführung bedarf. Waechters Erzähltheater oder auch die szenischen Dialoge von Laura de Weck stellen als Lesedrama jedoch eher die Ausnahme dar. Im Normalfall ist nicht der dramatische Text, sondern die jeweilige Bilder-, Kinder- oder Jugendbuchgrundlage für die Lektüre bestimmt. Im Unterschied zum Märchen dominiert in den Klassiker-Adaptionen die szenische Darbietung, auch die Handlungssegmentierung ist zumeist an der Vorlage orientiert: So ist Rose und Regen, Schwert und Wunde. Ein Sommernachtstraum von Beat Fäh (1989) in fünf Akte unterteilt oder Was innen geht von Anja Hilling (2016) wie Ovids Metamorphosen in 15 Teile gegliedert und (teilweise) in Hexametern formuliert. Sprachlich zeichnen sich Klassiker-Adaptionen durch ihre Mischung von klassischen Versmaßen und genau beobachteter Alltagssprache aus. Dramaturgische und sprachliche Elemente wie das Katharsis-Konzept, Stichomythie oder Parabase sind jedoch nicht alleine Klassiker-Adaptionen wie Medeas Kinder von Lysander und Osten (1975) vorbehalten. Als Stilmittel finden sie sich auch bei zeitgenössischen Autoren wieder, die daneben auf eine elliptische Sprache (Sauter), Sprachwitz (Lutz Hübner) oder eine stark musikalische Sprache (Guy Krneta) setzen, um Alltagsspra-
che zu Kunstsprache zu verdichten. Deutlich wird dieser Kunstcharakter auch in selbstreferentiellen Elementen (vgl. Hentschel 2016, 50), z. B. in Haha der letzte Erzähler von Hawemann (1996) oder Kikerikiste von Maar (1973). »Trotz aller Komplexität der gefundenen ästhetischen Mittel, trotz aller fragmentarisierter Dramaturgie« (Jahnke 2001, 138) erhalten die Stücke im Kinder- und Jugendtheater eher eine »Ästhetik des Einfachen« (Hentschel 2016, 53), »eine Form von Lebendigkeit, Farbigkeit, Frische« (ebd., 52). Gerade nicht nur die als ›Familienstücke‹ bezeichneten Weihnachtsmärchen adressieren damit auch Erwachsene (vgl. Schneider 1994, 22). Auch wenn sich nur noch in Ausnahmefällen eine klassische Einteilung in drei oder fünf Akte finden lässt, sind die dramatischen Stücke für Kinder und Jugendliche durch eine eindeutige Zielorientierung gekennzeichnet, die im emanzipatorischen Konzept in einem optimistischen Ende (vgl. die Gesamtkurve zum Guten, Denk/Möbius 2010, 130) mündet. Neben einer grundsätzlich optimistischen Handlungsstruktur kennzeichnet die Kinder- und Jugendtheaterstücke seit den 1980er Jahren (in der DDR bereits früher), dass sie sich eng an der Lebenswelt ihres Zielpublikums orientieren. Ob die Figuren der Märchen- oder Fabelwelt entstammen, ob sie einem konkreten sozialen Milieu zugeordnet werden können oder nicht – immer kann die Handlung vom (jungen) Publikum auf die eigene Realität bezogen werden. Gerade in Jugendstücken dominiert ein oft zeitaktueller Realitätsbezug, der an Dokumentartheater grenzen kann. Infolge dieser Realitätsnähe sind die Stücke mal mehr, mal weniger deutlich von (künstlicher) Alltagssprache, Figuren verschiedener sozialer Schichten und einer ausschnitthaften Handlungsstruktur geprägt und somit der Form des offenen Dramas zugehörig. Gleichzeitig drückt sich von den didaktischen Stücken des 18. Jahrhunderts über das emanzipatorische »Mutmachtheater« bis hin zum zeitgenössischen »Kompetenztheater« (Hentschel 2016, 61) durchgehend ein pädagogischer Impuls aus, auch wenn die Texte darauf nicht reduziert werden können (vgl. Denk/Möbius 2017, 152).
22.6 Inter- und transmediale Aspekte Als plurimedialer Text im Sinne Manfred Pfisters schließt das Drama per se bereits die Aufführung und damit das Medium Theater mit ein, welches seinerseits weitere Medien integrieren kann. Manche Stück-
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texte treten ausschließlich im Rahmen einer Aufführung zutage und werden gar nicht veröffentlicht. Einen Zugang zu kurzen dramatischen Texten öffnet die Anthologie Spielplatz, die seit 1972 jährlich im Verlag der Autoren erscheint. Neben diesem Verlag werden dramatische Texte für Kinder und Jugendliche vor allem im Verlag für Kindertheater publiziert. Innerhalb der Texte selbst finden sich verschiedene intermediale Bezüge sowohl in den narrativen Strukturen als auch in den behandelten Stoffen. Manche Autoren lassen zudem visuelle Künste wie die Illustration (Maar) oder Karikatur (Waechter) in die dramatischen Texte einfließen, andere betonen sprachlichmusikalische Komponenten (Krneta). Einen Sonderfall stellt das Libretto dar. Hier impliziert der sprachliche Text nicht nur die Darstellung auf der Bühne, sondern auch die Vertonung und die musikalische Umsetzung (vgl. Gier 1998). Wie bei dramatischen Texten für das Sprechtheater werden auch für das Musiktheater häufig Klassiker der Kinder- und Erwachsenenliteratur adaptiert, zum Beispiel für die Kinderoper Otello und der Kleine (2019, Libretto von Tiina Hartmann, Komposition von Aurélien Bello) oder den Songzyklus Alice im Wunderland (2012, Komposition von Anno Schreier, Text von Alexander Jansen). Die intermedialen Bezüge des Dramas für Kinder und Jugendliche überbrücken teils Jahrhunderte: So sind Otfried Preußlers Geschichten über den Räuber Hotzenplotz (1962–1967) letztlich literarische Aneignungen der Dramen Franz Poccis, der in den 1850er Jahren seine bis heute im Kasperletheater einflussreiche Figur des Kasper Larifari geprägt hat. Poccis Texte greifen wiederum Figuren und Stereotype der ›Commedia dell’Arte‹ auf – darunter die Figur des Pulcinella sowie die häufigen Liedeinlagen in den Larifari-Geschichten (vgl. Brunken 2008, 263–5). Direkte Dramatisierungen von Kinder- oder Jugendfilmen sind selten, allerdings adaptieren Filme und Theaterstücke oft denselben erzählenden Text. Roman- und Bilderbuchadaptionen sind ein häufiges Phänomen, ebenso werden auch Comics (wie Der Affe von Hartleepool von Wilfried Lupano und Jérémie Moreau 2018) dramatisiert. Oder es wird Bezug genommen auf Themen, Figuren oder Autoren von Klassikern wie Robinson & Crusoe von d’ Introna und Ravicchio oder Jules Verne und die Geheimnisse von Kiel von Jens Raschke (2010). Auf umgekehrtem Wege können auch Dramentexte in Prosa übersetzt werden (z. B. Schlafen Fische von Raschke [2012] oder Peterchens Mondfahrt von Gerdt von Bassewitz [1912]). Konzeptionell wird der Bezug zur erzählenden Litera-
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tur in den verschiedenen Erzähltheaterstücken oder monodramatischen Klassenzimmerstücken deutlich. Gerade diese Texte werden auch erfolgreich als Hörspiel adaptiert. Ein prominentes Beispiel ist hier Klamms Krieg von Kai Hensel (2000). Neue Medien wie das Internet spiegeln sich thematisch in verschiedenen Stücken wider, so in Wunder des Alltags von PeterLicht (2012). Die Chatroom-Dialoge in norway.today von Igor Bauersima (2000) oder eine SMS-Szene wie in Lieblingsmenschen von de Weck (2007) sind zudem in ihrer ästhetischen Form von den digitalen Medien beeinflusst. Literatur
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Johanna Tydecks
23 Sachbuch
23 Sachbuch 23.1 Einleitung Vom horazischen Aufklärungsmotto des prodesse et delectare bis hin zum postmodernen Edutainment zieht sich ein Grundprinzip durch die Sachliteratur für Kinder und Jugendliche: Wissen als Unterhaltung. Dass es sich hierbei nur scheinbar um einen Widerspruch handelt, beweist die vielfältige Gattungstradition des Kinder- und Jugendsachbuchs, das eine Fülle von unterschiedlichsten Formen vom textlosen Pappbilderbuch für Kleinkinder bis hin zum umfangreichen All-Age-Tatsachenroman ausgeprägt hat. Um seiner doppelten Berufung von Wissensvermittlung und Unterhaltung gerecht zu werden, bedient es sich – unter den Bedingungen des Marktes, der Medienlandschaft und Weltanschauungen – der Möglichkeiten, die Wissenschaft und Literatur bereitstellen: Bild und Text, Beschreiben und Erzählen, Fakt und Fiktion schließen sich keineswegs aus. Im Gegenteil: Das Sachbuch bezieht sein Potential gerade aus der Vielfalt und Mischung verschiedener Textsorten, Stile, Sprechhandlungen, Modi und Medien und steht von Anfang an im Zeichen einer produktiven Hybridisierung. Was jeweils als Wissen gilt und wie sich Unterhaltung im Kinder- und Jugendsachbuch gestaltet, das ändert sich im Laufe der bildungspolitischen, ästhetischen und medialen Entwicklungen. Denn empfindlicher als andere Gattungen scheint das Sachbuch auf eben die Welt, die es darstellen und in der es Orientierung bieten soll, zu reagieren und wird somit zu einem Seismograph kultureller Entwicklungen. Als »Medium gesellschaftlicher Teilhabe, Mittel der Verständigung und Sozialisation« (Schikowski 2017, 571) ist es für die Forschung ein wertvolles literarisches Zeitdokument, das nicht nur Aufschluss über gesellschaftliche Vorstellungen von Wissen und Werten, sondern aufgrund seiner formalen Vielfalt auch Einblick in literarische und mediale Entwicklungen gewährt. Im Folgenden werden dementsprechend Perioden, Traditionslinien und Trends des Kinder- und Jugendbuchs in der BRD skizziert, die zugleich die produktive Hybridität des Sachbuchs im Spannungsfeld von Fakt und Fiktion, Wissen und Unterhaltung und einer sich wandelnden Medienlandschaft deutlich machen sollen. Statt Abgrenzungen vorzunehmen, werden eher Interferenzen kartiert und das Sachbuch nach Affinitäten mit anderen Gattungen, Themen oder Entwicklungen der internationalen KJL und Erwachsenenliteratur befragt.
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Auf Überlegungen zum Gattungsbegriff und dem Status des Sachbuches in Kritik und Forschung folgt ein Überblick über geschichtliche Entwicklungen des Kinder- und Jugendsachbuches in der Bundesrepublik von 1945 bis heute. Das breite Spektrum unterschiedlicher Formen wird im dritten Abschnitt umrissen, und im Anschluss einige Grundmuster unterhaltender Wissensvermittlung skizziert. Im letzten Abschnitt wird schließlich dargestellt, wie sich das Sachbuch im Medienverbund positioniert und auf die Konkurrenz anderer Informationsmedien im Wissens- und Informationszeitalter reagiert.
23.2 Begriffsdefinitionen Ganz bewusst wird hier der Begriff des Sachbuchs bzw. der Sachliteratur und nicht des Sachtextes (auch Sachprosa, -schrift, -schrifttum) gewählt – denn abgesehen davon, dass Wissen gerade in jüngerer Zeit verstärkt in multimodalen und intermedialen Formen dargeboten wird (vgl. Janich 2017, 58), in denen das Bild dem Text gegenüber oft eine führende Rolle nimmt, zeichnet sich Sachliteratur weniger durch eigene Text- oder Bildverfahren als durch pragmatische, extraliterarische (Autorintention, Erwartungshaltung der Leser, Verlagsprogramm, Vermarktung, Distribution, Nutzung) und gestalterische Aspekte (Paratexte, Multimodalität, Intermedialität) aus und setzt sich somit durch eine stärkere lebensweltliche An- und Einbindung von der Belletristik ab (vgl. Schikowski 2017, zur Geschichte des Sachbuchbe griffs, vgl. Diederichs 2010). Insofern ist es wesentlich, das Sachbuch nicht als Textsorte oder literarische Gattung, sondern – wie es die Struktur des Handbuchs nahelegt – im umfassenden Sinn als Medium ernst zu nehmen. Immer wieder wurde in der Forschung der Umstand beklagt, dass es keine allgemeingültige Definition des Begriffs »Sachbuch« gebe (vgl. dazu zusammenfassend Ossowski/Ossowski 2012, 364–370 und Franz 2011). Vor allem irritierte, dass die Ränder der Gattung so unscharf sind. Zu vielfältig sind die Formen und Verfahren, zu breit das Spektrum möglicher Textsorten, zu verwirrend die Überschneidungen. So herrschte lange die Strategie vor, das Sachbuch von dem her zu definieren, was es nicht ist. Der englische Begriff non-fiction macht – ex negativo – die Referentialisierbarkeit des Dargestellten zum ausschlagge benden Kriterium, die auch den deutschen Bezeichnungen ›Wissensliteratur‹ oder ›Sachbuch‹ (und dem
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_23
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älteren Begriff ›Realienliteratur‹) im Gegensatz zur Belletristik eingeschrieben ist. Abgesehen davon, dass non-fiction als Oberbegriff sehr weit und somit für Analysen nur begrenzt produktiv ist, verdeckt er, dass »Ansätze zur Fiktionalisierung sowohl auf der Bildebene wie auch auf der Textebene« (Steitz-Kallenbach, zit. in Franz 2011, 13) ganz wesentlich zur unterhaltsamen Wissensvermittlung im Sachbuch beitragen. Abgrenzungsversuche für das Sachbuch gibt es vor allem zum Fach- und Lehrbuch einerseits (durch seinen Adressatenbezug, seine Wissenspopularisierung, seinen Unterhaltungsanspruch und seinen Status als Freizeitlektüre) und zur Dichtung andererseits (durch die wissensorientierte Bindung an Tatsachenmaterial). Was diese Bemühungen jedoch vor allem deutlich machen, ist der hybride und gattungstranszendierende Charakter des Sachbuchs, der klare Grenzziehungen unmöglich macht (zum Begriff der hybriden Genres, vgl. Ernst 2008). Statt die dem Sachbuch inhärente Hybridität als Problem zu sehen, erkennt insbesondere die neuere Forschung darin sein Potential: »Doch gerade diese Variationsdichte der Gestaltungsmöglichkeiten und der begrüßenswerte Umstand, es deshalb mit einem ›offenen Begriff‹ zu tun zu haben (Diederichs)«, formuliert Sebastian Schmideler befreiend, »machen Sachliteratur zu einem besonders interessanten und beachtenswerten Gegenstand der Literaturwissenschaft.« (Schmideler 2017b, 31) Auch Klaus-Ulrich Pech hat die »produktiven Spannungen« sowohl der Begriffsbestimmung als auch der Gattung selbst hervorgehoben (Pech 2004). Im Sinne einer positiven Begriffsbestimmung sind dementsprechend drei wesentliche Merkmale des Sachbuchs festzuhalten: 1. inhaltlich geht es um Wissen – wobei das, was als Wissen bzw. als relevant und angemessen gilt, jeweils nach Zielgruppe, historischer Situation und weltanschaulicher Position variiert (vgl. Hahnemann/Oels 2008, 7–10) und sowohl Sach- und Personen-, Normen- und Orientierungs- als auch Handlungswissen umfassen kann. 2. pragmatisch um die adressatenspezifische Vermittlung dieses Wissens – in diesem Fall an Kinder und Jugendliche –, also um Popularisierung und die entsprechenden Handlungsmuster von Erzählen, Beschreiben, Berichten, Erklären, Anleiten u. a. 3. rhetorisch um die zugleich informative und unterhaltende Gestaltung dieses Wissens, in Text und/ oder Bild, darstellend oder erzählend, multi-
modal, intermedial und/oder im Medienverbund, mit faktualen oder fiktionalisierenden Vermittlungsformaten. Direkte Adressierung, Personalisierung, Verankerung in der Lebenswelt durch Rahmengeschichten und die Einbindung in eine erlebende Perspektive stellen wichtige rhetorische Vermittlungsstrategien dar. Was die Forschung zum Sachbuch seit den 1990er Jahren betrifft (zur früheren Forschung vgl. Franz 2011, zu angloamerikanischen Ansätzen Kiefer/Wilson 2011), so gilt grundsätzlich das Urteil von Reiner Neubert, dass sie »jedenfalls in keinem Verhältnis zur realen Situation« stehe – also weder den bedeutenden Marktanteil des Sachbuchs an der KJL-Gesamtproduk tion noch das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen widerspiegele (Neubert 2017, 43). Das trifft vor allem auf die literaturwissenschaftliche Forschung zu, in deren impliziten Gattungshierarchie das Sachbuch weiterhin ganz unten steht. So kommen die wichtigsten Impulse aus der Praxis – dem Literaturbetrieb (Franz 2011, Grubert 2004, Ossowski/Ossowski 2012, Schikowski 2017), der Didaktik (Leisen 2013) oder Bibliothekswesen (Schmidt-Dumont 1993, Weber 2004) – bzw. aus praxisnahen Disziplinen wie der Buchwissenschaft (Krause 2008, Oels/Meissner/Wrage 2010). Beiträge erscheinen meist verstreut in KJL-Fachzeitschriften; wichtige Standortbestimmungen leisten die beiden Sondernummern von Beiträge Jugendliteratur und Medien bzw. kjl&m (Josting/Stenzel 2004, Knobloch 2011). Die germanistische Forschung hat sich – abgesehen von der historischen KJL-Forschung – erst im Zuge kulturwissenschaftlicher Fragestellungen systematisch mit dem Sachbuch befasst. Das Internetportal sachbuchforschung.de (https://www2.hu-berlin.de/ sachbuchforschung/, Stand Jan. 2019) versammelt eine Vielzahl anregender theoretische Beiträge, Analysen und Interpretationen, die von der KJL-Forschung bisher jedoch kaum aufgegriffen wurden – dabei widmet sich ein ganzes Heft ihrer Zeitschrift Non Fiktion dem Kinder- und Jugendsachbuch (Oels/Meissner/Wrage 2010). In jüngster Zeit haben empirische Studien in der Lese- und Lesesozialisationsforschung und medienwissenschaftliche Ansätze den Blick auf das Sachbuch produktiv erweitert und Mythen der Forschung ins Wanken gebracht – etwa dass Kinder grundsätzlich Belletristik der Sachliteratur vorziehen (vgl. Colman 2007, 258; Weber 2008, 59) oder dass Sachbücher vor allem für (leseschwachen) Jungen geeignet seien (vgl. Fenkart 2012). Insbesondere ein erweitertes Verständnis von Literalität, das auch Visual Literacy und Medien-, und Informationskompetenz als Schlüsselqualifi-
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kationen für das 21. Jahrhundert versteht und die soziokulturelle Dimension von Literalität(en) herausarbeitet (z. B. Dresang 2008, Fenkart 2012), erweist sich als anschlussfähig. Sprachwissenschaftliche Untersuchungen (Janich 2017, Meibauer 2015), die die sprachlichen und kognitiven Strukturen von Kindersachbüchern im Kontext von anderen Wissensmedien kritisch betrachten, bieten Anschluss an entwicklungspsychologische Forschung und an Bemühungen um sprachsensibles Lernen (Leisen 2013). Schließlich stellt die noch junge Multimodalitäts-Forschung ein differenziertes Analyse-Instrumentarium bereit, das über intermediale Ansätze hinausgeht (Janich 2017). Angesichts dieser vielfältigen Zugriffe wird deutlich, dass die Erforschung des Sachbuchs nur interdisziplinär erfolgen kann. Auch in der Literaturkritik bleibt das Sachbuch für Kinder und Jugendliche Stiefkind. Das liegt zunächst an der gleichen Vormachtstellung der Belletristik, an der auch die Forschung leidet. Vor allem aber fühlen sich Kritiker verunsichert, da das Sachbuch an zweierlei Maßstäben gemessen wird: Einerseits soll es auf das Was hin überprüft werden – die Richtigkeit und Aktualität der Fakten – und verlangt dementsprechend nach Fachwissen in den unterschiedlichsten Gebieten; andererseits soll das Wie beurteilt werden – die sprachliche, literarische und visuelle Gestaltung, die intermedialen Bezüge und ästhetischen Verfahren. Schließlich kann die Angemessenheit der Darstellungsweisen und die Schlüssigkeit des Gesamtkonzepts nur aus der Zusammenschau des Was und Wie begutachtet werden. Für diejenigen, die sich trotzdem an die Sachbuchkritik wagen, wurden inzwischen vielfach hilfreiche Bewertungskriterien vorgelegt (z. B. Weber 2004). Es sei noch auf die wichtigsten Preise hingewiesen – schließlich sind sie Zeichen gesellschaftlicher und kritischer Anerkennung. Von daher ist es aufschlussreich, dass die Kategorie Sachbuch erst 1967, und damit mehr als zehn Jahre nach Gründung des Deutschen Jugendliteraturpreises eingeführt wurde (vgl. Frank 2011, 3–5; Grubert 2004, Jüngst 2016, 62–65; Ossowski/Ossowski 2012, 374–375). Ähnlich ist es beim Österreichischen Kinder- und Jugendliteraturpreis, der 1955 gegründet wurde und erst 1973 eine eigene Sparte für das Sachbuch schuf. Das aktuelle Selbstverständnis als Wissensgesellschaft spiegelt sich in dem seit 2007 vom österreichischen Staat ausgeschriebenen »Wissenschaftsbuch des Jahres«, der mit der Kategorie Junior-Wissensbücher nicht zuletzt die Wissenschaftler der Zukunft fördern möchte.
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23.3 Historische Entwicklungen Eine systematische Gattungsgeschichte des deutschsprachigen Kinder- und Jugendsachbuchs liegt bisher nicht vor. Das ist vor allem einem mangelnden Interesse literaturwissenschaftlicher Forschung zuzuschreiben. Die historische Kinderbuchforschung, vor allem so wie sie in den Metzler-Handbüchern Gestalt angenommen hat, hat allerdings niemals die Sachliteratur ausgeschlossen. Das ist sicher auch der historisch sich wandelnden Gattungshierarchie zuzuschreiben: während Sachliteratur als Inbegriff nützlichen Vergnügens den Wesenskern philanthropischer Aufklärungsliteratur bildete, wurde sie im Zeitalter der Industrialisierung zum unentbehrlichen Begleiter technischen Fortschritts. So liegen für die Aufklärung und Kaiserzeit wegweisende Monographien (z. B. Chakkalakal 2014, te Heesen 1997, Pech 1998), anregende Sammelbände (Kuhlmann/Söcknick 1990) und zahlreiche Aufsätze zum Sachbuch vor. Vor allem wird die Sachliteratur als fester Bestandteil der Gesamtliteratur dieser Epochen in ihren vielfältigen Wechselbezügen zu früheren und anderen Formen der Kinder- und Erwachsenenliteratur wahrgenommen und in ihren historischen, pädagogischen und epistemischen Kontext situiert. Auch für das Kinder- und Jugendsachbuch der DDR liefert der von Schmideler herausgegebene Sammelband Wissensvermittlung in der KJL der DDR »Bausteine [...], die für eine künftige Geschichte der Kinder- und Jugendsachbücher der DDR im Zusammenhang mit einer weiterführenden Geschichte der Kinder-und Jugendliteratur in diesem Land unter Berücksichtigung der Sachbuchproduktion Verwendung finden können.« (Schmideler 2017a, 9). Das war nur dank wertvoller Vorarbeiten möglich: Ein Jahr vor dem Mauerfall legte Harri Günther eine Monographie (1988) vor, die zugleich Zeugnis des hohen Ansehens ist, die das Sachbuch im sozialistischen Deutschland genoss. Mit etwa 3000 Titeln stellte das Sachbuch ein Fünftel der KJL-Gesamtproduktion der DDR dar; im letzten Jahrzehnt der DDR bestritt die Lektüre von Sachliteratur die Hälfte der gesamten Kinderlektüre (vgl. Neubert 2017, 42). Bemühungen, das Sachbuch systematisch in die allgemeine Kinderliteraturgeschichtsschreibung der BRD aufzunehmen, gab es bisher nicht vor. In der Tat: Liest man Überblicke zur Geschichte der deutschsprachigen KJL, so könnte man den Eindruck gewinnen, Sachliteratur käme nach 1945, wenn überhaupt – nur noch am Rande vor. Dabei stellt sie zu Beginn des neu-
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en Millenniums ein Drittel des KJL-Bestandes in öffentlichen Büchereien (vgl. Grunt 1999, 120) und im Jahr 2005 21 % des KJL-Gesamtumsatzes dar (vgl. Grubert zit. in Krause 2008, 35). Auch wenn die Entwicklungen des Sachbuchs weitgehend mit der hier im Band vorgeschlagenen Periodisierung vereinbar sind, gibt es doch einen entscheidenden Unterschied: Die 1960er Jahre markieren den Beginn einer Blütezeit, in der sich das Sachbuch ausdifferenziert und kritisch den realen Lebens- und Erfahrungswelten von Kindern und vor allem Jugendlichen zuwendet, statt Schonräume zu bieten. Zugespitzt lassen sich die Abschnitte wie folgt charakterisieren: • 1945 bis 1960 – Kontinuität und Weichenstellungen: »Die Großen...« • 1960er Jahre – Ausdifferenzierung und Demokratisierung: Signale setzen • 1970er bis 1980er Jahre – Engagement und Dokumentation: Nein! • 1990er Jahre – Visual turn und Postmoderne: Sehen, Wissen, Staunen • Seit 2000 – Pisa-Schock und Nostalgie – Das große Wissenssammelsurium 1945 bis 1960 Während die Nachkriegsjahre in der DDR der Ausbildung eines sozialistischen Sachbuchs dienten und somit nach neuen Formen gesucht wurde, griffen westdeutsche Verlage zunächst auf vertraute Formen, Formate und Autoren zurück. So konnte etwa Hans Baumann mit Abenteuererzählungen wie Steppensöhne. Vom Sieg über Dschingis-Khan (1954) an seine schriftstellerischen Erfolge aus dem Dritten Reich anknüpfen, indem er starke Führerfiguren zwar ideologisch kritisch, dafür aber erzählerisch mitreißend als historisches Sachwissen darbot (vgl. Kaminski 1993, 113–118). Viel zitiert ist das Beispiel von Kurt Knaaks Hornissenvolk (1948), das unverhohlen unter dem Deckmantel einer Geschichte aus dem Leben der Natur – so der Untertitel – völkisches Gedankengut transportiert (vgl. ebd., 23–26). Gleichzeitig aber werden neue Weichen gestellt (vgl. Schmidt-Dumont 1993). Dass die Faszination für Größe und die Suche nach Vorbildern auch in andere Bahnen gelenkt werden konnte, zeigen Jugendsachbuchreihen wie Die Großen, die ab 1955 im jungen Würzburger Arena-Verlag erscheinen und Künstler, Wissenschaftler und Querdenker des bildungsbürgerlichen Kanons in biographischen Aufsätzen vorstel-
len. Der Reihentitel Die Großen könnte auch als Motto über der gesamten Sachbuchproduktion der Nachkriegszeit stehen: Nicht nur thematisch geht es um überlebensgroße Figuren – Entdecker, Forscher oder Herrscher – und ihre großartigen Abenteuer (Mythisierung, Heroisierung, Emotionalisierung), auch rezeptionsästhetisch richtete sich diese Sach-Erzählliteratur an die Großen – an Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen. Das Crossover- und All-Age-Phänomen ist im Bereich Sachbuch nichts Neues – im Gegenteil: Bestseller wie C. W. Cerams Götter, Gräber und Gelehrte (1949) waren auch heiß begehrte Jugendlektüre. Nicht zuletzt waren die schrifttextbasierten Sachbücher dieser Zeit – in erster Linie erzählende Literatur – schlicht vom Umfang her groß – richtige Schmöker von fast 500 Seiten Fließtext, nur spärlich aufgelockert durch Zeichnungen und Karten, die immersives, identifikatorisches Lesen begünstigten und dementsprechend auch große Gefühle garantierten. 1960er Jahre Die 1960er Jahre, gekennzeichnet von Ausdifferenzierung und Demokratisierung, markieren eine bedeutende Zäsur in der Geschichte des Jugendsachbuchs: Zu beobachten sind ein enormer Aufschwung des Sektors, eine Hinwendung zu Politik, Zeitge schichte und journalistischen Formen, ein sachlicherer Stil und eine Anpassung an neue Sehgewohnheiten, die das neue Massenmedium Fernsehen mit sich brachte. Früher als in der Belletristik wird die Kindheitsautonomie im Sachbuch aufgehoben. Ein Meilenstein ist die Gründung des Signal-Verlags im Jahr 1959, der Literatur zum Aufklärungsmedium im Dienst der Demokratie und Emanzipation ernennt. Das manifestiert sich einerseits im Verlagsprogramm mit Titeln wie Weltmacht Hunger (1966), der sich der Dritten Welt zuwendet, Bürger auf Zeit (1967), der die Frage nach dem Status von Ausländern in der Bundesrepublik aufwirft, oder dem Jahrbuch Signal. Ein Buch für junge Menschen, das seit der Gründung in unregelmäßigen Abständen erscheint und Gedichte, Reportagen und Erzählungen in produktiven Dialog bringt. Andererseits setzt der Gründer und Verleger Hans Frevert neue Impulse, indem er Jugendliche an der Verlagsplanung beteiligt und ein Jugendlektorat einrichtet. Dieses Mitbestimmungsrecht räumen die Titel auch dem Leser ein, indem sie die Form des spannend erzählten Sachbuches zugunsten des Lesebuchs aufgeben, in dem Erzählungen, Berichte, Dokumente nebeneinander stehen, Fakt ne-
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ben Fiktion, Text neben Bild, Prosa neben Gedichten. Statt sich durch einen auktorialen Erzähler bevormunden zu lassen, muss nun der heranwachsende Leser distanziert-kritisch bleiben und sich selbst seine Meinung bilden. Überhaupt wird das anthologische Lesebuch zu einer traditionsbildenden Form der emanzipatorischen Sachliteratur: Heinrich Pleticha, seit den 1950er Jahren erfolgreicher Autor von erzählenden historischen Sachbüchern, gibt im ArenaVerlag die Reihe »aus erster Hand« heraus. Die Quellensammlung Geschichte aus erster Hand [...] berichtet von Augenzeugen und Zeitgenossen (1961), ist eines der seltenen Sachbücher für Jugendliche dieser Zeit, in der Judenverfolgung und -vernichtung zur Sprache kommen. Einen zweiten Meilenstein in der Sachbuchlandschaft setzt der Tessloff-Verlag 1961, indem er aus den USA einen radikal neuen Sachbuchtypus importiert und in Deutschland zunächst als Lizenzausgabe unter dem Titel WAS ist WAS? lanciert. Auf jeweils 48 farbigen bild-dominierten Seiten werden in übersichtlichem Layout die großen Themen dargestellt, angefangen mit Band 1: Die Erde und Band 2: Der Mensch. Damit reagierte der Verlag auf sich durch das Fernsehen verändernde Rezeptionsformen. Das Visuelle und Dokumentarische verbinden die seit Mitte der 1950er Jahre beliebten Fotobilderbücher – exemplarisch die Serie von Astrid Lindgren und Anna Riwkin-Brick –, die den Horizont jüngerer Kinder erweitern, indem sie einen allerdings eher nostalgischen als kritischen Blick auf fremde Welten lenken (vgl. Kümmerling-Meibauer 2017). 1970er bis 1980er Jahre Nach den 1968ern hat sich das Sachbuch endgültig als wichtiges Erkenntnis- und Sozialisationsmedium etabliert. In einer Zeit, in der Authentizität, Aufklärung und sozialkritisches Engagement zu zentralen Aufgaben der Kinder- und Jugendliteratur werden, gehen Sach- und Kinderbuch genretranszendierend produktive Verbindungen ein. Der konsequente dokumentarische Realismus einer Ursula Wölfel, zum Beispiel, findet seine Vorbilder im journalistischen Feature und in der Sachprosa und führt erzählerisch zu neuen Formen im problemorientierten und sozialkritischen Kinderroman. Mit seinem 1971 gestarteten Jugendbuchprogramm macht Hans-Joachim Gelberg das sozialkritisch engagierte Sachbuch auch Kindern zugänglich. Das geschieht zunächst aufsehenerregend antiauto-
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ritär mit der von Günther Stiller avantgardistisch konzipierten und gestalteten Trilogie Streitbuch (1973), Nein-Buch (1972) und Ja-Buch für Kinder (1974), hybride (Vor)Lese- und Dialogbücher, in denen nicht nur Bild – insbesondere das Foto – und Text neue Verbindungen eingehen, sondern auch Fakt und Fiktion, um Kinder und ihre Eltern im kritischen Denken zu üben – denn Kinder treten hier gleichberechtigt mit Erwachsenen als Instanzen des Wissens auf, das nicht auf Autorität sondern Erfahrung basiert. Bei Gelberg erscheint auch die mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnete Guevara-Biographie Ich habe sieben Leben von Frederik Hetman (1972), die erzählerisch mit Textmontage und graphisch mit ästhetisierten Fotos experimentiert, um spannende Kontraste zu schaffen und einen neuen Blick auf eine Popikone der 68er zu werfen. Das Sachbuch der 1970er und 1980er Jahre trägt wesentlich zur Enttabuisierung der Kinder- und Jugendliteratur bei, indem es mal nüchterner, mal provokanter Themen wie soziale Gerechtigkeit, Sexualität, Umwelt und die Angst vor Atomenergie und -krieg aufgreift: Dem Bild in seinen unterschiedlichen ästhetischen und rhetorischen Möglichkeiten kommt hierbei eine wichtige Rolle zu: Verdammt und zugedreht (1976) dokumentiert das Leben einer türkischen Gastarbeiterfamilie im Ruhrgebiet mit SchwarzWeiß-Fotos in Sozialreportagen-Tradition; der Aufklärungsklassiker Familie Lindström bekommt ein Baby (1977) setzt bewusst auf Comicstil und Bildergeschichten, um an Lese- und Freizeitgewohnheiten von jüngeren Kindern anzuknüpfen; Jörg Müller sprengt mit seinen fotorealistischen Plakaten in Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder (1973) nicht nur das Buchformat und herkömmliche Bilderbuchästhetik, sondern schafft auch ein Hybrid aus textlosem Bildersachbuch, Dystopie und Doku-Fiktion. Auch Gudrun Pausewangs Umwelt-Dystopie Die Wolke (1987) spielt bewusst mit der Grenze von Fakt und Fiktion, indem sie etwa offizielle Berichte über die Tschernobyl-Katastrophe im Roman abdruckt. Dank der emotionalen Kraft fiktionalen Erzählens gewinnen die Fakten an Wucht und verbinden sich zu neuen Formen engagierter Literatur. Während die erzählende Literatur sich ab den 1960er Jahren in Form von Tagebüchern, autobiographischen Erzählungen und historischen Romanen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen begann, etablieren sich im Sachbuchsektor erst verspätet Formen der Darstellung: dialogisch in Horst Burgers Vier Fragen an meinen Vater (1976),
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biographisch in Hermann Vinkes Das kurze Leben der Sophie Scholl (1980), quellengestützt-dokumentarisch in Michael Brenners Am Beispiel Weiden. Jüdischer Alltag im Nationalsozialismus (1983). In den 1980er Jahren ist das Sachbuch mit seinen Themen im Mainstream angekommen: Waren es zuvor vor allem junge, avantgardistische Verlage, die mutig neue Themen und Formate vorgebracht hatten, so bespielen nun fast alle großen Verlage Sachbuchprogramme und geben eigene bzw. Lizenzsachbuchreihen heraus, um an dem zunehmend profitablen Markt teilzuhaben. 1990er Jahre In den 1990er Jahren steht die KJL im Zeichen von Intermedialität und Postmoderne (vgl. v. a. das analytische Instrumentarium von Dresang 2008): Im Sachbuch wird das besonders augenfällig. 1989 erwirbt der Gerstenberg Verlag von dem britischen Erfolgsverleger Dorling Kindersley die Lizenz zur Sachbuchreihe Eyewitness und gibt ihr den Namen Sehen Staunen Wissen. Mit striktem Doppelseitenprinzip, 80 bis 90 % Bildanteil (vgl. Krause 2008, 74), hochwertigen, freigestellten Fotos auf weißem Hochglanzpapierhintergrund und vielen Kurztexten statt einem Fließtext prägt die Reihe einen neuen Sachbuchtypus, der den veränderten Seh- und Lesegewohnheiten neuer Mediengenerationen gerecht werden will und seinen globalen Siegeszug antritt. Statt linear-kontinuierlichem Lesen fördert das Rundlayout Schauen und häppchenweises Lesezapping (vgl. ebd., 81). Damit markiert die Reihe einerseits den sogenannten visual turn im Sachbuch, einen grundlegenden konzeptionellen Wandel: Statt Sachbücher vom Text her zu entwerfen und in einem zweiten Schritt mit Bildern auszustatten, sind die neuen Wissensformate vom Bild her gedacht. Andererseits nimmt in diesem nicht-hierarchischen, bilddominierten Layout eine postmoderne Auffassung von Wissen Gestalt an: Es erscheint nicht mehr als narratives Wissen, das sich allein durch seine Form legitimiert, sondern setzt sich aus einer Vielfalt von Formen und Medien zusammen. Dass Erzählen und lineares Lesen jedoch keineswegs aus dem Sachbuch verschwinden, führt beeindruckend der (als Belletristik vermarktete) genre-hybride All-Age-Besteller Sofies Welt (Sofies verden, norw. 1991; dt. 1993) vor: eine mehr als 600-seitige Geschichte der Philosophie, dargeboten in einer Mischung aus Brief-, Kriminal- und Abenteuerroman, in der die Postmoderne in Form von Metafiktionalität auftritt.
Seit 2000 Zu Beginn des neuen Jahrtausends sendet die PISAStudie 2000 Schockwellen durch Deutschland, die direkt dem KJL-Sachbuchmarkt zugutekommen: der Anteil an Sachbüchern im KJL-Segment verdoppelt sich von 2000 auf 2007 (vgl. Grubert, zit. in Oetken 2014, 27). Insbesondere kindliche Frühforderung wird angemahnt, und so erweitern fast alle Verlage ihr Programm um Sachbuchreihen für das Vorschul- und Babyalter: seit 2007 vermittelt zum Beispiel WAS ist WAS junior Vorschulkindern ab fünf Jahren Wissen über Feuerwehr, Dinosaurier oder Bauernhof, 2010 folgt WAS ist WAS Kindergarten für Kinder ab 3 – das geschieht kleinformatig und farbenfroh, mit Klappen und Beschäftigungsideen. Die Ausdifferenzierung nach Zielgruppen erfasst auch das andere Ende des Spektrums: neue Spieler auf dem Jugend-Sachbuchmarkt wie Campus, Rowohlt Berlin oder Knesebeck bieten All-Age-Sachliteratur (vgl. Weber 2008, 59). Die bildungspolitische post-PISA-Verunsicherung spiegelt sich schließlich in einer Vielzahl von Sachbüchern, die Altbewährtes und Kanonisiertes in neuer Aufmachung darbieten: So bietet der Arena-Verlag mit der Reihe Allgemeinwissen – das muss man wissen Orientierungswissen zu Geschichte, Literatur oder Naturwissenschaften für Leser ab 12 in günstiger Klappenbroschur oder kompakt im Schuber erhältlich. Die Rückbesinnung auf bildungsbürgerliches Allgemeinwissen und bewährte Formate schlägt sich auch im Programm des Gerstenberg-Verlags nieder. 2010 gibt er die Erfolgs-Lizenzreihe Sehen Staunen Wissen zurück an DK und entwickelt eine eigene Reihe mit neuem Konzept, die bezeichnenderweise den Titel Lesen Staunen Wissen trägt. Programmatisch wird Sehen durch Lesen ersetzt; Erkenntnisse der Leseforschung und Entwicklungspsychologie sind in neue Layouts gegangen, das Doppelseitenprinzip weicht einem linearen page-flow, die freigestellten Fotos sind ersetzt durch Illustrationen oder Fotos, die den beschriebenen Gegenstand in seinem Umfeld zeigen, und die unzusammenhängenden Texthäppchen werden überführt in klar strukturierten aber kontinuierlichen Fließtext, der nicht mehr versucht, mit Hypertexten zu konkurrieren, sondern ein alternatives Bildungsangebot macht. Inzwischen führt Gerstenberg den Reihentitel nicht mehr, da laut Verlagsauskunft »das Interesse an Sachbuch-Reihen merklich zurückgegangen ist« (Korrespondenz); ehemalige Reihentitel werden mit veränderter Covergestaltung als Einzeltitel ausgegeben. Gleichzeitig feiert Maja
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Nielsens Abenteuer-Reihe große Erfolge, die ganz auf traditionelles Erzählen im Medienverbund setzt: die visuell und literarisch spannend aufbereiteten Sachbücher über Indianer, die Titanic oder Fußball werden durch kulthafte Autorenlesungen, Hörbücher und Internetauftritte wechselseitig ergänzt und beworben und entwickeln Marken-Charakter. Drei Tendenzen des Sachbuchs nach 2000 werden hier exemplarisch sichtbar: Der Rückgang von Lizenzreihen, die 2003 noch 80 % der Sachbuchproduktion im KJL-Bereich darstellten, zugunsten von Eigenproduktionen (vgl. Krause 2008, 36; Pech 2004, 13), der Vorzug von Solitären gegenüber Reihentiteln, und schließlich ein erneuter Trend hin zum erzählenden Sachbuch, das oft im Medienverbund zumindest mit Hörbuch erscheint. Nostalgisch aber zugleich verspielt gibt sich die visuelle Gestaltung vieler Kinder- und Jugendsachbücher, die dank eines durchdachten Gesamtdesigns auffallend oft von der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet werden. Bemerkenswert ist vor allem die ab 2010 auch in den Nominierungslisten des Jugendliteraturpreises sichtbar werdende Überschneidung von Sach- und Bilderbuch: Parallel zur Renaissance des erzählenden Sachbuchs experimentieren Künstler mit neuen bildbasierten Formen der Wissensvermittlung, indem sie das gesamte Arsenal an narrativen Möglichkeiten des Bilderbuchs ausschöpfen und es um die Sachbildtradition erweitern. So nimmt das kreative und erkenntnisstiftende Potential der Hybridität des Sachbuchs gegenwärtig vor allem im Sachbilderbuch Gestalt an: transgenerisch und intermedial verbindet es höchst ästhetisch Fakt und Fiktion, Wissen und Unterhaltung.
23.4 Typologien Als Literatur, die sich programmatisch der Welt zuwendet, deckt das Sachbuch die Themen ab, die von der Gesellschaft jeweils als wissenswert (und/oder vermarktbar) beurteilt werden (vgl. Hahnemann/Oels 2008, 7–10; Pech 2004, 9). Im Kinder- und Jugendbereich ist das Spektrum umso breiter, als es sich von den ersten elementaren Kenntnissen für Kleinkinder (häusliche Umgebung, Familie, Körper) bis hin zu Allgemein- und Spezialwissen für All-Age-Leser erstreckt, Sachwissen ebenso umfasst wie Orientierungs- und Handlungswissen. Zugleich bestimmen pädagogische Vorstellungen und gesellschaftspolitische Erwartungen die Themenauswahl entscheidend mit: was für welches Alter als angemessen empfunden wird und welche Funktionen das Wissen erfüllen soll
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– vom Spracherwerb bis hin zum Mitspracherecht, von Emanzipation über Orientierung bis hin zur Indoktrination. Führen Tiere, Natur und Technik die Themenhitliste weiter an (vgl. Weber 2008, 61), lassen sich seit den 1960er Jahren kontinuierlich thematische Diversifizierung und Enttabuisierung beobachten. Vielfalt bestimmt auch hier das Bild. Ebenso wenig wie es eine einheitliche Definition vom Sachbuch geben kann, lässt sich die hybride Gattung in eine allgemeingültige Typologie zwängen. Von Wissensspeichern wie Atlanten und Lexika über bilddominierte Medien wie Sachbilderbücher oder Graphic Novel bis hin zu textdominierten Varianten wie Reisebericht, Sacherzählung und Biographie erstreckt sich das Spektrum, das – einer weiter gefassten Definition – im KJL-Bereich auch handlungsorientierte Textsorten wie Reiseführer, Werkbuch und Ratgeber umfasst (s. Kap. 4). In der Sachbuchforschung variieren die Eingrenzungen der Gattung und Einteilungen in Untergattungen je nach Ansatz und Fragestellung (vgl. die sich ergänzenden Übersichten bei Krause 2008, 39–40, Fenkart 2012, 41–45 und Schmideler 2017b, 32–33, für den angloamerikanischen Raum Wilson/Kiefer 2011). Die große Formen-Vielfalt heutiger Sachbücher für Kinder und Jugendliche lässt sich vereinfacht auf zwei historische Prototypen zurückführen: erstens auf den Orbis pictus des Amos Comenius, der 1658 mit dem Primat des Bildes den Typus des Sachbilderbuches geprägt hat, und zweitens auf Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere, der 1779/80 programmatisch das pädagogische Bestseller-Potential des erzählenden Sachbuchs unter Beweis gestellt hat. Anschauung und Erzählen bilden seither die Grundpfeiler des Sachbuchs für Kinder und Jugendliche; Wissen tritt einmal als Bild in Erscheinung, einmal als Erzählung, wobei natürlich auch das Bild erzählen und Erzählen veranschaulichen kann. Trotz aller Wandlungen bleiben die beiden Grundtypen erkennbar und werden in der Forschung als informierendes und erzählendes Sachbuch bezeichnet. Die zweite klar zu treffende Unterscheidung ist die zwischen Reihen- und Einzeltitel, auch Solitär genannt. Sie liegt auf der Ebene der Produktion und Distribution (s. Kap. 4), wirkt sich jedoch auch wesentlich auf die Gestaltung aus (vgl. Krause 2008, 18–19). Sachbücher für Kinder und Jugendliche werden bevorzugt seriell verlegt und entwickeln als solche schnell Markencharakter. Viele Reihentitel liegen an Bahnhofsbuchhandlungen aus und werden in Verkaufskarussellen dargeboten (vgl. Jüngst 2016, 65–66), sie bestücken
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zuverlässig die Bücherregale in Schulbüchereien und Kinderzimmern und haben das öffentliche Image des Sachbuchs wohl am nachhaltigsten geprägt. Oft handelt es sich um global distribuierte Lizenzreihen, deren aufwändige Produktion und Aufmachung nur dank hoher Auflagen möglich ist. Der Wiedererkennungswert solcher (meist) nach einer festen Formel gestalteten Bücher birgt zwar die Gefahr der Standardisierung und Stereotypisierung (vgl. Pech 2004, 13) dient aber nicht nur der Vermarktung, sondern auch der Lesemotivation und Verständnissicherung: Einmal vertraut mit dem Aufbau und Layout einer Reihe, finden sich Leser schnell zurecht und können gezielt Informationen finden und einordnen. Während Kritik und literaturwissenschaftliche Forschung Sachbuchreihen eher pauschal als Massenware verurteilen, haben didaktische sowie buch- und medienwissenschaftliche Studien nicht nur ihren lesedidaktischen Wert, sondern auch ihr Innovationspotential im Hinblick auf Wissensvermittlung aufgezeigt (s. Dresang 2008, Fenkart 2012, Krause 2008). Hier lohnt ein unvoreingenommener Blick, der nicht nur nach literarisch-ästhetischer Qualität fragt, »sondern [auch danach,] in welchen Kontexten und mit welcher Zielsetzung [Wissen] aufgerufen, inszeniert oder erst produziert wird.« (Hahnemann/Oels 2008, 8) Abgesehen von diesen beiden konsensfähigen Grundunterscheidungen zwischen informierendem und erzählendem Sachbuch einerseits und Reihenund Einzeltitel andererseits, bietet die Vielzahl vorgeschlagener Typologien erste Orientierung im Sachbuchuniversum. Bewährt hat sich Anja Krauses buchwissenschaftliche Typologie, die sich bewusst ausschließlich auf die Kategorie des Layouts beschränkt und vier Gestaltungstypen identifiziert, die vom linear-kontinuierlichem Lesen bis hin zum Zapping unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Leseformen entsprechen (vgl. Krause 2008). Überzeugend sind vor allem jene Ansätze, die das Sachbuch in einem Kontinuum zwischen zwei Polen unterschiedlicher Kategorien ansiedeln: So geht Jörg Meibauer (2015) aus linguistischer Perspektive von den Gegensatzpaaren deskriptiv/narrativ, einfach/komplex, weniger Text/ mehr Text aus; Sachbuchautorin Penny Colman (2007) situiert Sachbücher zwischen faktual/fiktional, enzyklopädisch/episodisch, weniger/mehr literarische Verfahren, schwächere/stärkere Erzählerpräsens, weniger/mehr Bildmaterial. Dass es sich hierbei um heuristische Kategorien handelt, die jeweils der Fragestellung und dem Korpus anzupassen sind, liegt wieder in der Hybridität der Gattung begründet (vgl.
auch Jüngst 2016, 63). Grundsätzlich lässt sich eine zunehmende Hybridisierung des Sachbuchs beobachten, insbesondere Grenzverwischungen zwischen Deskriptivem und Narrativen sowie Trends hin zu Fiktionalisierung und Ästhetisierung, die vor allem im Sachbilderbuch für Innovation sorgen und ihrerseits das Formenrepertoire des Bilderbuchs erweitern (vgl. von Merveldt 2017, Oetken 2014).
23.5 Narratoästhetik Gemäß seiner Kommunikation im produktiven Spannungsfeld von Wissen und Unterhaltung geht es beim Sachbuch darum, angemessene Darstellungsmuster zu wählen, um das Wissen altersgerecht, anschaulich und kurzweilig oder gar spannend zu vermitteln. Erzählmuster stellen nur eine der Gestaltungsmöglichkeiten dar. Tatsächlich formt das Sachbuch für Kinder- und Jugendliche Wissen vor allem auf drei Arten: • durch visuell-graphische Ordnungs- und Vermittlungsmuster • durch deskriptive, argumentative und narrative Sprachmuster, bzw. ihrem Zusammenspiel • durch die Fiktionalisierung des Faktischen, d. h. der Tendenz, Faktenwissen nicht nur mit fiktiven Figuren und Szenarien, sondern auch im fiktionalen Sprechmodus darzubieten Dementsprechend werden im Folgenden nicht nur Erzählmuster skizziert, sondern auch andere Formen der Gestaltung, die das Sachbuch für Kinder und Jugendliche wesentlich prägen. Auf die visuelle Formgebung des Wissens, der im Kinder- und Jugendsachbuch eine wesentliche Rolle zukommt, kann hier lediglich hingewiesen werden. Visuelle Ordnungsmuster beginnen mit Format und Seitenlayout, nehmen Gestalt an in der typographischen Ausdifferenzierung des Textes in einen Fließtext und oft mehrschichtige Paratexte (Infokästen, Tabellen, Bildunterschriften, Glossar usw.) und verdichten sich in diversen druck- und fotographischen Visualisierungsformen (Schemazeichnung, Diagramme, Querschnitte, Fotos usw.). Nachweislich wirken sich diese Formen auf die Rezeption der Texte aus; insofern ist die Kenntnis dieser sich in Textsorten kristallisierten Formen wichtiger Teil der Informationskompetenz (vgl. Dresang 2008). Die Wichtigkeit der visuellen Dimension, dem Anspruch nach Anschaulichkeit und Visualisierung geschuldet, mag die besondere Affinität von Sachbuch und Bilderbuch erklären.
23 Sachbuch
Im Unterschied zu anderen kinderliterarischen Medien, die dominant narrativ sind, übernehmen im Sachbuch neben dem narrativen Sprachgestus der deskriptive und argumentative Sprachmodus wichtige Aufgaben. Beschreiben gilt als »Grundgestus allen Informierens und Kommunizierens« (Klotz 2013, 10), dessen Muster, Komplexität und Interesse von der Sachbuchforschung bisher noch kaum wahrgenommen werden (außer Meibauer 2015). Dominant deskriptiv sind Lexika, Reiseführer, Ratgeber und Anleitungen, in denen Beschreibungsmuster zu Textsorten gerinnen und die in der Regel nach externen und pragmatischen Ordnungsmustern gegliedert sind: alphabetisch, chronologisch oder systematisch. Auch prototypische Sachbuchreihen bleiben dem deskriptiven Modus treu und entwickeln markenähnliche Muster (vgl. Krause 2008, 18). Deswegen Sachbücher insgesamt jedoch als »deskriptive Gattung« zu bezeichnen, scheint nicht angebracht. Auch wenn die darstellende Sachliteratur in der Tradition des Orbis pictus dominant deskriptiv ist, stellt, wie der historische Abriss gezeigt hat, das Erzählen den anderen dominanten Modus der unterhaltenden Wissensvermittlung dar und kommt es vor allem zu Mischformen. Produktiver ist es insofern, das dynamische Wechselspiel der drei basalen Sprachhandlungen von Beschreiben, Argumentieren und Erzählen in Sachtexten zu analysieren und nach den spezifischen Mustern und ihren jeweiligen Funktionen zu befragen. Als dominantes Erzählmotiv der Sachliteratur für Kinder und Jugendliche kann die Reise gelten, das unterschiedliche Muster prägt: Von Reisebeschreibungen und -reportagen, Reiseberichten und Entdeckerfahrten über Abenteuerreisen variieren diese Erzählungen journalistische, ethnographische und zunehmend fiktionale Narrative. Im Dienst der Anschaulichkeit und Unterhaltung bedient sich die erzählerische Wissensvermittlung auch gern phantastischer Erzählmuster: Zeitreisen sind besonders beliebt als Mittel, junge Protagonisten in historische Fernen zu versetzen und erlebnispädagogisch die historische Vergangenheit am eigenen Leibe erleben zu lassen. Verwandlungserzählungen, meist in Verbindung mit Schrumpfung, eignen sich hervorragend, um Reisen durch den Körper, durch Computer oder durch den heimischen Garten verfremdend und abenteuerlich zu gestalten. Biographische Formen nähern sich – besonders im Bilderbuch – Mustern exemplarischen Erzählens an: Statt ein ganzes Leben von der Wiege bis zum Grab zu erzählen, werden anekdotenhaft Schlüsselerlebnisse geschildert, die prägend für ein Schicksal sind, das über das Einzel-
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leben hinaus an symbolischer Bedeutung gewinnt. Schließlich liefert das im Mythos und Film gängige Muster der Heldenreise mit seinen festen Stationen (u. a. Ruf des Abenteuers, entscheidender Prüfung und Rückkehr mit Elixier) eine beliebte Form für biographische Wissensliteratur (Entdecker-, Erfinder-, und Wissenschaftlerbiographien). Das sprachlich-kognitive Grundmuster, auf dem fast die gesamte Sachliteratur beruht, ist das von Frage und Antwort. Reihentitel wie WAS ist WAS (Tessloff), Wieso? weshalb? warum? (Ravensburger) oder Frag doch mal die Maus (cbj) machen die seit dem Aufklärungsalter grundlegende pädagogische Prämisse der Sachliteratur sichtbar: Kinder seien von Natur aus wissbegierig und neugierig und suchen nach Antworten auf ihre Fragen. Das sich daraus ergebende dialogische Grundmuster von Frage und Antwort, das pragmatisch oft in direkter Leser-Adressierung und fingierter Mündlichkeit Form annimmt, findet sprachlich unterschiedlich Ausprägung: mal dominant didaktisch-deskriptiv, tendenziell katechetischmagistral, in Form von rhetorischen Fragen und autoritär-autoritativen Antworten (historische Vorbilder: Comenius, Luther; strukturbildend in vielen Sachbuchreihen, in denen Fragen die Abschnitte gliedern), mal pädagogisch behutsamer und argumentativ-narrativ in Form von sokratischen Dialogen (à la Campe und Fénélon), mal im Zeichen der Authentizität deskriptiv-narrativ in Form von Fragebögen, Interviews und persönlichen Berichten oder Anekdoten (charakteristisch für Gelberg-Sachbücher). Narrativ ausge dehnt wird der Frageprozess in Formen des informierenden Journalismus (Feature, Reportage). Konse quente narrative Umsetzung findet das investigative Fragemuster schließlich im fiktionalen Erzählmuster des Krimis. Gattungstranszendierende Reihen wie die Zeitdetektive, in denen zeitreisende Jugendliche im antiken Rom, im hohen Mittelalter oder am Hof des Sonnenkönigs durch kluges Fragen Kriminalfälle aufdecken, verbinden historisches Wissen mit spannender Unterhaltung. Was dieser bei Weitem nicht vollständige Überblick zu Gestaltungsformen des Sachbuchs für Kinder und Jugendliche deutlich macht: Populärwissenschaftliche Beschreibungs-, Argumentations- und Erzählmuster sowie Visualisierungsformen sind gattungstranszendierend und laufen quer zur Grenze von Fakt und Fiktion. Um angesichts dieser verwirrenden Hybridität begriffliche Klarheit und analytische Schärfe zu bewahren, bietet es sich an, von einer »Fiktionalität des Faktischen« zu sprechen. Analog zu histoire und dis-
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IV Medien – A Buch
cours lässt sich bei Wissensliteratur zwischen dem zu vermittelnden Inhalt als real oder fiktiv (d. h. mit oder ohne Referenz in unserer Wirklichkeit) und seiner Vermittlung als faktual oder fiktional unterscheiden. Faktuale Texte zeichnen sich durch »wahrheitsheischende Rede des realen Autors« aus, während fiktionale Texte »imaginäre Rede eines fiktiven Erzählers« (Klein/Martínez 2009, 4) sind und als solche keinerlei Anspruch auf Referentialität erheben. Dank dieser Begrifflichkeit lassen sich auch hybride Formen des Sachbuchs differenziert beschreiben und analysieren (vgl. von Merveldt 2019).
23.6 Inter- und transmediale Aspekte Als Wissensmedium ist das Sachbuch besonders stark dem Konkurrenzdruck der audiovisuellen und digitalen Medien ausgesetzt. Vor allem das Internet verändert den Umgang mit und die Auffassung von Wissen – nicht nur, indem es aktuelle Fakten jederzeit leicht zugänglich und teilbar macht, sondern auch weil Wissen im Web 2.0-Zeitalter weniger autoritativ vermittelt als zunehmend partizipativ produziert und rezipiert wird (Dresang 2008, 294–295). Als intermediale und hybride Gattung, die von Anfang an ein breites Arsenal an text- und bildbasierten Visualisierungsstrategien entwickelt hat, reagiert das Sachbuch auf die veränderten Wahrnehmungsweisen, Sehgewohnheiten und gesteigerte Unterhaltungserwartungen generell auf dreierlei Art: »Anpassung, kontrastive Absetzung und Verbund.« (Pech 2004, 15, vgl. auch Helm 2014). Als Beispiele für Anpassung an die hypertextuellen und interaktiven Strukturen des Internets kann das Rundlayout von Dorling Kindersleys Lizenzreihe Sehen, Wissen, Staunen einerseits und digitale Hörstifte wie der 2013 von Tessloff eingeführte TING gelten – häppchenweise wird hier visuell bzw. auditiv Wissen abrufbar und zum Erlebnis gemacht. Im Medienverbund dagegen versucht das (gute) Sachbuch nicht mit Hörbuch, Fernsehen oder Internet zu konkurrieren, sondern Synergien einzugehen, medienergänzendund übergreifend Wissen zu vermitteln und sich durch die ihm eigenen Möglichkeiten des Vor- und Zurückblätterns oder vielfältigere Rezeptionsformen (vom Vorlesen über selbstbestimmtes Eigenlesen) zu behaupten und zu bewähren. So ergänzte Tessloff schrittweise sein Print-Angebot um ein Onlineportal (2000), ein Fernsehprogramm auf Super RTL (2001), Hörspiele für die Kleineren und schließlich um QuizApps (2011). Die 2017 mit dem Softwarepreis GIGA-
Maus ausgezeichnete App #stadtsache versteht sich als crossmediale Ergänzung zu Anke M. Leitzgens Mitmachbuch Entdecke deine Stadt, die Nutzer über Plattformen vernetzt, ihren Stadtentdecker-Aktionen größere Sichtbarkeit verleiht und zugleich eine Einübung in multimedialen Off- und Online-Aktivismus darstellt. Ein dazugehörendes Workbook mit DownloadMaterial für Gruppenarbeit im Stadtraum schöpft schließlich die pädagogischen und partizipatorischen Möglichkeiten von Multi-Plattform-Produkten aus. Im Rahmen kontrastiver Absetzung schließlich besinnt sich das Sachbuch auf sein medienspezifisches Potential als Buch und reizt die multimodalen und sinnlichen Aspekte des dreidimensionalen Papier-Objekts aus – von Klappen und Drehscheiben über Transparentseiten und Pop-ups bis hin zu unterschiedliche Texturen, Typographien und Seitengestaltungen –, um ganz eigene Darstellungsformen zu erproben und ästhetische Effekte zu erzeugen. Alternativ setzt das Sachbuch bewusst auf seine traditionelle Stärke des Erzählens und experimentiert mit genretranszendierenden Formen der narrativen Wissensvermittlung – Stichwort »Wiederkehr des erzählenden Sachbuchs«. Vor allem aber nutzt es zugleich strategisch und lustvoll die intermedialen Möglichkeiten von Text und Bild und spielt mit Freiräumen, die durch das Informationsbeschaffungsmedium Internet entstanden sind: Entlastet von der Aufgabe objektive, aktuelle Fakten zu liefern stellen sich insbesondere ästhetisch anspruchsvolle Sachbilderbücher der Herausforderung, zugleich subjektive und reflektierte Annäherungen an komplexe Fragen der heutigen Lebenswelt und menschlichen Existenz zu bieten (vgl. Oetken 2014). Literatur
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IV Medien – A Buch
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Nikola von Merveldt
24 Bilderbuch
24 Bilderbuch 24.1 Einleitung Dieser Beitrag ist dem Bilderbuch gewidmet, jener »Gruppe von reich illustrierten Büchern«, die ein »buntes Produktionsfeld« (Doderer/Müller 1973, V) zeitigt, wie Klaus Doderer und Helmut Müller bereits Anfang der 1970er schreiben. Das »reichhaltige [...] Gebiet« (ebd.) des Bilderbuchs fokussiert dieser Beitrag in verschiedenen Abschnitten: Auf eine Begriffsdefinition, die sich über verschiedene Kriterien einer definitorischen Bestimmung des Bilderbuchs nähert, folgt eine Darstellung seiner Entwicklung in Schlaglichtern seit 1945. Ein typologischer Überblick beschreibt und ordnet das Produktionsfeld der Buchgattung, mit deren Bild-Text-Interdependenzen als dominantes narratoästhetisches Erzählmuster sich der darauffolgende Abschnitt auseinandersetzt. Abschließend wird die Intermedialität des zeitgenössischen Bilderbuchs exemplarisch anhand von David Wiesners Strandgut (Flotsam; engl. 2006) aus dem Jahr 2013 skizziert.
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wie auch Kinderbücher und Kinderfilme – im deutschsprachigen Raum vor allem im kommerziellen Bereich nach Altersstufengliederungen differenziert. Zumeist verwenden diese Gliederungen einen Abstand von zwei Jahren sowohl bei Kleinkindern (zwei, vier Jahre) als auch bei Kindern (sechs, acht, zehn Jahre). Kleinstkinder kommen ab einem Alter von zehn bis zwölf Monaten mit den sogenannten Frühe-Konzepte-Büchern in Kontakt, für Kleinkinder und Kinder spielt das Bilderbuch als Erstlesebuch eine wichtige Rolle. In thematischer, erzählerischer und bildnerischer, nicht zuletzt in medialer Hinsicht hat sich das Bilderbuch zu einem »komplexen, offenen Bild-Text-Medium« entwickelt (Thiele 2011, 218); auch jugendliche und erwachsene Leser und Betrachter sind damit zu Konsumenten geworden. Ein Beispiel für letztere Adressatengruppe ist Und dann platzt der Kopf (2014) von Christina Röckl, das 2015 den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Sachbuch gewann. Das Bilderbuch wird vom Verlag als »für Erwachsene von Kindern gedacht« beworben und damit der Crossover-Literatur (s. Kap. 2) zugeordnet. Kriterium Text-Bild-Verhältnis
24.2 Begriffsdefinitionen Als Bilderbuch, so liest sich im Lexikon der Kinderund Jugendliteratur, bezeichne man »ein für Kinder von etwa 2 bis 8 Jahren entworfenes Buch mit zahlreichen Illustrationen und wenig oder gar keinem Text«; weiter haben Bilderbücher »nur wenige Blätter, sind oft aus zerreißfestem Papier oder Folie hergestellt und weisen sehr unterschiedliche Formate auf« (Künnemann/Müller 1984, 159). Diese Definition ist nicht mehr zeitgemäß. Das Bilderbuch als Buchgattung der Kinder- und Jugendliteratur hat tiefgreifende Entwicklungen in ästhetischer, narrativer und buchgestalterischer Hinsicht durchlaufen, welche diese Aussagen nicht reflektieren. Verschiedene Kriterien dieser engen Definition aber, das Alter der Adressaten, das Text-Bild-Verhältnis und der Umfang, können als Ausgangspunkte für aktualisierende Überlegungen dienen – und letztlich zu einer definitorischen Annäherung führen. Kriterium Adressatenalter Das Bilderbuch sei vor allem, wie Jens Thiele geschrieben hat, eine »Spezialkunst für Kinder« (Thiele 2005, 228). Als Bilderbücher für Kinder wird diese Kunst –
Das Definitionskriterium des Verhältnisses von Schrift- und Bildtext im Bilderbuch ist für die Bestimmung dessen von großer Bedeutung; entsprechend schreibt Karl Ernst Maier, dass das »erste kennzeichnende Merkmal« des Bilderbuchs sich aus der »einfachen Feststellung« ergebe, dass »das Bild die dominierende Stelle« einnehme (Maier 1996, 1). Doch was genau bezeichnet die dominierende Stelle? Das quantitative oder das qualitative Verhältnis von Text und Bild im Buch – oder gar beide Aspekte? ›Einfacher‹ – und vor allem präziser – ist eine qualitative Perspektive auf das Verhältnis, die mit dem erzählerischen Inhalt des Buches in Verbindung gebracht wird: So kann für das Bilderbuch definiert werden, dass sich der Bildtext, wie auch der Schrifttext, als selbstständiger Bedeutungsträger (vgl. Weinkauff/von Glasenapp 2018, 164) darstellt und ein Handlungskontinuum entwickelt (vgl. Dolle-Weinkauff 2007, 227). Ein derartiges Kontinuum kann jedoch ebenfalls durch die Bilder allein entfaltet werden. Durch diese Definition ist eine Abgrenzung des Bilderbuchs vom illustrierten Kinder- und Jugendbuch möglich, da die Bilder in Letzterem kein Handlungskontinuum entwickeln, sondern eine den Schrifttext erläuternde, kommentierende und oft nur dekorierende Funktion einnehmen.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_24
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IV Medien – A Buch
Kriterium Umfang In Friedrich Justin Bertuchs Bilderbuch für Kinder, einem zwölfbändigen Unterrichtswerk, das zwischen 1790 und 1830 Wissen für Kinder in Themengruppen wie Weltwunder oder Fabelwesen aufbereitete, liest sich, dass ein Bilderbuch von geringem Umfang sein und dem Kind »nicht auf einmal ganz, und etwa in einem großen dicken Bande« (Bertuch 1790, 4) übergeben werden sollte. Was hier als adressatenspezifische Akkommodation formuliert ist, liest sich ohne pädagogischen Impetus auch in der eingangs dargelegten Definition, nach der ein Bilderbuch »nur wenige Blätter« habe (Künnemann/Müller 1984, 159). Thiele präzisiert 2003 derartige Angaben, indem er schreibt, das Bilderbuch habe »in der Regel 30 Buchseiten« (Thiele 2003b, 71). Auch wenn eine große Anzahl von Bilderbüchern den genannten Umfang aufweist: Ein Blick in die Nominierungslisten des Deutschen Jugendliteraturpreises der vergangenen Jahre offenbart, dass das gegenwärtige Bilderbuch derartigen Konventionen und Limitierungen immer weniger folgt. Nicht anders sind Bilderbücher zu erklären, die 48 Seiten wie Die Flucht (Francesca Sanna, The Journey; 2016), 96 Seiten wie das 2013 erschienene Akim rennt (Akim court; franz. 2012) von Claude K. Dubois, 120 Seiten wie Øyvind Torseters Der siebente Bruder: oder Das Herz im Marmeladenglas (Mulegutten; norweg. 2015) von 2017 oder sogar 224 Seiten wie Das literarische Kaleidoskop (Regina Kehn 2013) haben.
24.3 Historische Entwicklungen 1950er und 1960er Jahre Nach 1945 tritt die Entwicklung des Bilderbuchs, ähnlich wie bei den anderen Gattungen der Kinder- und Jugendliteratur, zunächst in eine restaurative Phase, die eine »Rückwendung zum konventionellen Inventar und Ton der deutschen Kinderstube« (Giachi 1973, 358–359) zeitigt. »Man wollte im Bilderbuch«, schreibt Willi Weismann, »die glückliche Kindheit retten und eine heile Welt vortäuschen, um ja nicht mit den Ereignissen der Zeit zu konfrontieren« (Weismann 1980, IX). Viele der alten, von den Besatzungsmächten wieder zugelassenen Verlage greifen infolgedessen auf ihre Vorkriegsbestände zurück oder veröffentlichen, wie die wenigen, neugegründeten Verlage, Bilderbücher mit inhaltlich sowie künstlerisch Bewährtem. Demgemäß finden sich zahlreiche Bücher, die einer schlichten und konservativen Vorstellung von Kind-
gemäßheit und dem »Bedürfnis nach einer gefälligen Stilisierung und Verklärung des Erfahrungshorizontes von Kindheit und Familie« (Weinkauff/von Glasenapp 2018, 173) entsprechen; es sind ›kindertümliche‹ Titel und Werke wie Meine Hemden-Mätze purzeln durchs Jahr (1946) von Inge Klingbeil, Dörte Gayots Marlis will nicht zur Schule gehen (1946) oder Elfchens Geburtstag (1948) von Bärbl Bauer. Bauers Bilderbuch erzählt von verschiedenen Elfen und ihren tierischen Begleitern, die dem Elfchen Silberhaar zu ihrem siebten Geburtstag gratulieren. Es besteht aus 14 Doppelseiten, die jeweils rechte Seite enthält den Schrift- und Bildtext; das Verhältnis des Textes zu den monoszenischen Bildern ist parallel bzw. symmetrisch. Die Illustrationen verhalten sich damit zum auktorial erzählten Text redundant: Wenn Urselchen und Elfengrete »anmarschieren«, um zu Elfchens »Wiegenfest« zu kommen (Bauer 1948, 7), dann zeigt der Bildtext in Wasserfarben eben dies – und kaum mehr bzw. weniger (vgl. Abb. 24.1 und 24.2). Die Handlung wird auf Ebene des Verbaltextes in Paarreimen in Endreimstellung erzählt; sowohl diese Erzählform als auch der Inhalt sind typisch für die Nachkriegszeit: Die Verknüpfung von Kind und phantastischer Natur sowie die stilisierten Figuren und anthropomorphisierten Tierwesen entsprechen dem Zeitgeist ebenso wie der offen zutage tretende pädagogische Duktus. So reflektieren die Bilderbücher bis in die 1950er Jahre hinein weniger die kindliche Perspektive als vielmehr wünschenswerte Verhaltensweisen – oder belehren direkt. Entsprechend »schleppen« Ruth und Inge schwer an dem Gänseblümchen-Busch, den sie Elfchen zum Geburtstag schenken – »doch beide haben sich gedacht, dass er sicher Freude macht« (vgl. Abb. 24.2). Und ein Häschen, wie von Silberhaar »befohlen« (Bauer 1948, 6), bringt Klaus, der gerade vom Spielen kommt, zum Fest. Diese implizite Vermittlung von altruistischem Verhalten und Gehorsamkeit wird weiter um die explizite Vermittlung von deklarativem Wissen ergänzt: Jeder Gast bringt dem Geburtstagskind eine Pflanze mit, deren Name im Text enthalten und typographisch durch blaue Schriftfarbe hervorgehoben wird. Abgesehen von diesen Büchern veröffentlichen die Verlage Neuauflagen ihrer bis dato erfolgreichen Bilderbücher. Die Gründe dafür sind im Beschriebenen zu suchen, im Festhalten am Konventionellen, im Rückzug in die oktroyierte Idylle der Kinderstube; zudem vergeben die Behörden der Besatzungsmächte zum Teil restriktiv ihre Lizenzen und zensieren streng.
24 Bilderbuch
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Abb. 24.1–2 Elfchens Geburtstag (Bauer 1948, 2 und 8)
Abgesehen von den genannten Faktoren spielen wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle: Bereits kommerziell erfolgreiche Bücher versprechen die Sicherheit zukünftiger Einnahmen, dazu entstehen den Verlegern zumeist keine neuen Honorarkosten für Autoren und Illustratoren, da diese üblicherweise pauschal bei der Erstveröffentlichung bezahlt werden. Derartige ökonomische Erwägungen waren für die Verlage vor allem nach den Währungsreformen 1948 von Bedeutung, da die Käufer hiernach jeden Pfennig der neuen Währungen zweimal umdrehten. Zu den Bilderbüchern, die direkt nach dem Krieg neu aufgelegt werden, zählen u. a. 1946 Hänschen im Blaubeerwald (Elsa Beskow 1920), 1947 Die Häschenschule (Fritz Koch-Gotha [Bild], Albert Sixtus [Text] 1924) und 1949 Etwas von den Wurzelkindern (1906) von Sibylle von Olfers. Diese heute als klassisch geltenden Bücher sind geprägt durch die Einflüsse, die der Jugendstil und die Kunsterziehungsbewegung ausübten. Einer der wichtigsten Illustratoren dieser Stilepoche ist der Schweizer Ernst Kreidolf, jener »Nachfahre der Romantik mit der Formensprache des Jugendstils«, dessen »bildliche Überzeugungskraft« (Künnemann 1984, 255) in Gestalt von vermenschlichten Blumen und Tieren sich auch noch deutlich in den Bilderbüchern von z. B. Klingbeil und Bauer nachweisen lässt. Die Entwicklung einer modernen Bilderbuchkultur vollzieht sich in der Bundesrepublik und in der DDR später als in Ländern wie u. a. Großbritannien, Japan oder den USA, wo diese bereits nach Ende des Krieges ihren Anfang nimmt: In der BRD (s. Kap. 7) sind es Illustratoren wie Gerhard Oberländer, Marianne Bau-
mann-Scheel, Marlene Reidel und Reiner Zimnik, in der DDR (s. Kap. 8) Werner Klemke, Hans Baltzer, Eberhard Binder und Elizabeth Shaw, die Mitte der 1950er Jahre Maßstäbe setzen, die zu Orientierungspunkten für die gesamte Bilderbuchproduktion dieser und zukünftiger Jahre werden (vgl. Künnemann/Müller 1984, 168). Die Bilderbücher dieser Zeit sind in Westdeutschland Ausdruck einer Literatur, die an die kindliche Weltsicht und Erlebnisperspektive einer seit der Romantik geforderten Autonomie der Kindheitsphase anknüpft (vgl. Kümmerling-Meibauer 2001, 1586). In der Kinderliteratur Ostdeutschlands erscheint das »als Unmöglichkeit« (Richter 1995, 134), wie Karin Richter schreibt; hier werden Kinder in die Gesellschaft der Erwachsenen integriert, wird kindliches Leben in die dominanten gesellschaftlichen Prozesse eingebunden. Bis in die 1970er Jahre sind inhaltlich für die sozialistische Bilderbuchkunst Tendenzen kennzeichnend, die Heinz Kuhnert wie folgt zusammenfasst: »Der Weg vom Einzelkind als Mittelpunktsfigur zur Gestaltung kollektiver Beziehungen; von inaktiver Anpassung an Normen zu selbständigem und verantwortungsbewußtem Handeln; von der Abschreckung durch Darstellen des Negativen zur aktivierenden Aufforderung an den Leser oder der Weg weg von einer idyllisierten Kinderwelt zur historisch-konkreten Realität.« (Kuhnert 1976, 12) Ästhetisch setzen sich in diesen Jahren neue künstlerische Stile und Merkmale durch, die ihre Ausprägungen in der Verwendung verschiedener Buchformate und Layoutkonzeptionen, Typographien sowie
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IV Medien – A Buch
Abb. 24.3–4 Ausschnitte aus Pienchen mit hartem »P« (Oberländer 1956, 31 und hinterer Vorsatz)
Bild-Text-Interdependenzen finden (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012a, 69). So kombiniert Oberländer beispielsweise in seinem 1956 erschienenen Bilderbuch Pienchen mit hartem »P« nicht nur parallele bzw. symmetrische Interdependenzen von Bild und Text mit komplementären Relationen, sondern schafft mit seinen Illustrationen auch einen neuen Stil: Mit wenigen »eigentümlich spritzigen« (Giachi 1973, 3586) Feder- oder Kugelschreiberstrichen erfasst Oberländer das Wesentliche, das er mit nur wenig Farbe akzentuiert (vgl. Abb. 24.3 und 24.4). Reminiszenzen an die Gebrauchsgraphik der 1950er Jahre sind ebenso Bestandteil seines Stils wie Anleihen an den Comic (vgl. Abb. 24.4), der zu dieser Zeit auch in der BRD reüssiert: 1950 findet sich das erste Superman-, 1951 das erste Micky-Maus-Heft an den Kiosken (s. Kap. 25). In den 1960er Jahren erscheinen in der BRD vermehrt Bilderbücher aus dem Ausland; es sind vor allem Bücher von US-amerikanischen Künstlern wie Eric Carle, Leo Lionni und Maurice Sendak, deren Einflüsse deutliche Spuren hinterlassen – inhaltlich wie narratoästhetisch. In Wo die wilden Kerle wohnen (Where The Wild Things Are; engl. 1963, dt. 1967) wird Max, die individualisiert gestaltete Hauptfigur, ohne Abendessen aufs Zimmer geschickt, weil er »nur Unfug im Kopf hat[..]« (Sendak 1967, 3); im Gegensatz zu vielen anderen (Bilderbuch-)Geschichten, in denen à la Struwwelpeter (Heinrich Hoffmann 1845) auf das beispielhafte ›Vergehen‹ einer zumeist typisierten Kinderfigur die ebenso beispielhafte Strafe oder aber ein Schicksalsschlag folgt, geht es in Sendaks Bilderbuch nicht um
die erzieherische Maßnahme, sondern um die Betroffenheit des Kindes ob dieser. Daraus entwickelt sich Max’ Traum vom Land der wilden Kerle, in dem sich die »psychische Reaktion auf die schmerzliche Erfahrung fort[setzt], wie sich ihm auch visuelle und psychische Reize aus der unmittelbaren Umgebung des Jungen einverwandeln« (Tabbert 1987, 26). Narratoästhetisch werden die Bilderbücher dieser Zeit von Kunstströmungen und -richtungen wie der abstrakten Kunst und der Pop-Art, von zeitgenössischen Entwicklungen der Massenmedien und des Designs beeinflusst. Ein Beispiel für ein abstraktes Bilderbuch, dessen Farbflächen deutlich vom amerikanischen Color Field Painting inspiriert sind, ist Lionnis erstes Werk Das kleine Blau und das kleine Gelb (Little Blue and Little
Abb. 24.5 Das kleine Blau und das kleine Gelb (Lionni 1962, 25)
24 Bilderbuch
Yellow; engl. 1959, dt. 1962), dessen gleichnamige Hauptfiguren Freunde sind. Im Spiel umarmen sie sich, aus der daraus resultierenden Mischung ihrer Komplementärfarben werden aus dem kleinen Blau und dem Gelb zwei grüne Tupfer, die zu Hause von ihren Eltern aufgrund ihrer Farbzeichnung nicht erkannt werden. Abbildung 24.5 beschreibt den Moment, als das vormals kleine Gelb auf seine Eltern trifft. In der DDR erscheinen – bis auf wenige Ausnahmen wie Bilderbücher von Janosch oder Lilo Fromm – keine Werke aus dem westlichen Ausland (vgl. Kuhnert 1976, 81); ihr Einfluss bleibt entsprechend marginal. Abgesehen von Illustratorinnen und Illustratoren wie Werner Klemke, Eberhard Binder und Elizabeth Shaw, die in den 1960er Jahren den Höhepunkt ihres Schaffens erreichen, tritt eine neue Generation an, die in der DDR herangewachsen ist und die Kinderbuchillustration wesentlich prägen wird, zu dieser zählen u. a. Künstler wie Klaus Ensikat, Konrad Golz oder Gerhard Lahr (vgl. Bode 2006, 858). 1970er und 1980er Jahre Anfang der 1970er Jahre zeichnet sich ein Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendliteratur ab, dem ein anderes, neues Verständnis von Kindheit zugrunde liegt: Kinder (und Jugendliche) werden nicht mehr als ›andere Wesen‹ betrachtet, die in einer eigenen Welt, getrennt vom modernen und problematischen Dasein der Erwachsenen, leben. Entsprechend sollen sie aus den gesellschaftlichen Schonräumen in die Wirklichkeit und Widersprüchlichkeit der modernen Industriegesellschaft geholt werden (vgl. Weinmann 2011, 30); Emanzipation und die gleichberechtigte Teilhabe an der Welt der Erwachsenen sind die programmatischen Forderungen der neuen Autoren. Die Folgen sind eine Enttabuisierung bisher ausgesparter Themenbereiche, wodurch die problemorientierte Kinder- und Jugendliteratur entsteht, in der »die Krise des Einzelnen in Bezug auf seine Umwelt oder die Innenwelt einer einzelnen Person, vor allem des Kindes, in seiner Bedrohung und Gefährdung« (Kaminski 1990, 321) Gegenstände sind. Wenngleich sich diese Entwicklung motivisch und thematisch vor allem im Kinder- und Jugendroman findet, erscheinen dennoch auch viele problemhaltige Bilderbücher. In der BRD thematisiert Martin wünscht sich einen Freund (Steven Kellogg 1973) die Vernachlässigung eines Kindes durch die alleinerziehende Mutter, die zeit- und kräftezehrend für den Lebensunterhalt sorgen muss, im Zentrum von In der Dach-
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kammer brennt noch Licht (Rüdiger Stoye 1973) steht ein alter Mann, den seine Krankheit von der Gesellschaft isoliert, im Guten Tag Buch (Walter Schmögner 1974) geht es um Tod und Erinnerung, Selim und Susanne (Ursula Kirchberg 1978) hat Migration und Integration zum Thema. Dieser Paradigmenwechsel findet in ähnlicher Weise auch in der DDR statt, wenngleich die Entwicklungen in den beiden Literaturen unterschiedlich verlaufen. Einen Berührungspunkt sieht Richter in der Zeichnung einer »›Kindheit des Daseinsernstes‹, die in der KJL der DDR zunehmend als bedrohter Raum charakterisiert wird« (Richter 1995, 295) – wie z. B. in Karlchen Duckdich (Werner Klemke [Bild], Alfred Wellm [Text] 1977). In der Erzählung muss der Protagonist durch einen Umzug der Familie Abschied nehmen von der ihm vertrauten Umwelt, von dem kleinen Dorf, »in dem er jeden Menschen kannte« (Klemke/Wellm 1977, 60). In der großen Stadt, in der unüberschaubaren und auch undurchschaubaren neuen sozialen Umgebung findet er keinen Platz, gelingt keine Ankunft (Lüdecke 2002, 449). In Westdeutschland spielen für diesen Paradigmenwechsel die politisch links orientierten Studentenbewegungen Ende der 1960er Jahre eine wichtige Rolle; die politischen Positionen der Bewegungen lassen sich in einem ideologischen Dagegen konzentrieren: »Gegenposition wurde bezogen zum Vietnam-Engagement der Amerikaner, gegen die Herrschaft des Schahs in Persien, gegen das Etablierte und am Herkömmlichen Haftende in der BRD. [...] gegen den Fetisch Familie und gegen autoritäre Erziehung, gegen Anpassung und politische Bewußtlosigkeit [sic!], gegen Vereinzelung, gegen Triebverzicht, gegen den politischen Einfluß [sic!] wirtschaftlicher Kräfte, [...] gegen die Entfremdung durch Arbeit.« (Künnemann 1974, 83) Dieses Dagegen realisiert sich in der Pädagogik in der antiautoritären, später emanzipatorischen Erziehung und findet in der Kinderladenbewegung ihre Institutionalisierung. Beispiele für Bilderbücher dieses linksalternativen Spektrums sind Fünf Finger sind eine Faust (1970) von Brigitte Wengoborski oder Die Roten Bremer Stadtmusikanten (1975); abgesehen von diesen Arbeiten leistet insbesondere Friedrich K. Waechter mit dem Anti-Struwwelpeter (1969) einen wesentlichen Beitrag, indem er »Gegenmodelle entwickelt, die weniger eine konsumierende Haltung bei Kind und Eltern, als vielmehr Widerspruch, Streitfreudigkeit und Provokation anzielen« (Künnemann 1973, 425). Die Struwwelpetriade folgt dem Inhalt und der Spra-
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IV Medien – A Buch
che von Hoffmanns Original, kehrt die pädagogische Intention dessen aber ins Umgekehrte. Zu den Bilderbüchern dieser Jahre gehören auch diejenigen, in denen von der Umwelt und ihrer Zerstörung erzählt wird. Sie reflektieren in der BRD die zunehmende Sensibilisierung der Gesellschaft für die Natur und ihren Schutz, die Anfang der 1970er Jahre in zahlreichen Bürgerinitiativen gipfelt: 1972 wird der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) gegründet, 1975 der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) – zwischen diesen Jahren erscheint das Bilderbuch Alle Jahre wieder saust der Preßlufthammer nieder oder Die Veränderung der Landschaft (1973) des Schweizer Künstlers Jörg Müller. Das Buch ist eine Mappe mit sieben ausklappbaren, großformatigen Bilderbogen, welche die Veränderungen einer fiktiven Landschaft im Verlauf von 20 Jahren zeigen: Aus einer rural geprägten Dorfsiedlung mit Feldern und Wiesen wird eine Stadt mit Fabriken und Einkaufszentren. Für die dokumentarisch verhaltene, sachliche Darstellungsweise erhält Müller 1974 den Deutschen Jugendliteraturpreis. Von einzelnen Innovationsschüben abgesehen, bleibt die Entwicklung des Bilderbuchs in den 1970er Jahren in ihrer Ausrichtung weithin traditionell, sodass sich »weniger von Traditionsbrüchen sprechen lässt, als von einem Nebeneinander traditioneller und moderner Formen, Inhalte und Funktionen« (Weinkauff/von Glasenapp 2018, 175); diese modernen Formen umfassen in der BRD naturalistische Darstellungsweisen sowie Spielarten eines phantastischen, expressiven Realismus und des Surrealismus (vgl. Bode 2006, 870–871). Neben den traditionellen entwickeln sich im Osten moderne Ausdrucksformen wie ein groteskes Element, das sich z. B. in den Bilderbüchern von Ruth Mossner oder Hans Ticha zeigt, weiter die Karikatur (Manfred Bofinger, Gerhard Lahr) und eine besondere Form graphisch surrealer Erfindungen (Gisela Neumann, Egbert Herfurth) (vgl. Bode 2006, 871). Eine deutliche Zäsur in der literarhistorischen Entwicklung des Bilderbuchs lässt sich Mitte der 1980er Jahre verorten und sich mit dem Begriff der Postmoderne in Verbindung bringen. Sie zeitigt nach Reinhart Koselleck eine Asymmetrie zwischen der Vergangenheit als Erfahrungsraum und der Zukunft als Erwartungshorizont, woraus sich die in der Moderne auf ein Minimum verengte Gegenwart zu einer breiten »Gegenwart der Simultaneitäten« (Gumbrecht 2007, 137) ausdehnt: Diese Gegenwart ist eine Dimension des Erlebens, Verhaltens und Handelns, in der
Vergangenheit als beständig abrufbar, reproduzierbar zur Verfügung steht, während Zukunft als ungewiss und oft bedrohlich erlebt wird (vgl. ebd.). Die Reproduzierbarkeit von Vergangenheit konkretisiert sich in vielen Bilderbüchern als Kunstzitate. Diese interpiktoralen Verweise können – den Begriffen zur Intertextualität von Ulrich Broich und Manfred Pfister folgend – in Einzelbild- und Systemreferenzen unterschieden werden. Ein Beispiel für eine Einzelbildreferenz ist das Titelbild (vgl. Abb. 24.6) aus Sendaks Als Papa fort war (Outside Over There; engl. 1981) aus dem Jahr 1984, das Philipp Otto Runges wohl bekanntestes Gemälde (vgl. Abb. 24.7) von den Hülsenbeckschen Kindern zitiert (1805–1806). Andere und weitere Bildreferenzen finden sich im Werk Anthony Brownes, der wie Sendak die Entwicklung des westdeutschen Bilderbuchs nachhaltig beeinflusst hat; in Willi der Grösste (Willy the Champ; engl. 1985, dt. 1987) nimmt der britische Illustrator auf verschiedene Bilder von Rene Magritte Bezug, wie u. a. auf Le Blanc-Seign (1965) oder Les enfants trouvés (1968). Interpiktoriale Systemreferenzen sind hingegen Bezugnahmen auf u. a. Kunstgattungen, auf Epochen, Strömungen oder Stile. Wenngleich sich die literarhistorische Entwicklung des Bilderbuchs in der DDR nur eingeschränkt mit dem Begriff der Postmoderne charakterisieren lässt, zeigen sich auch in ostdeutschen Bilderbüchern derartige Tendenzen in Form von Einzelbild- und Systemreferenzen. Als Beispiele können Jules Ratte (Peter Hacks (Text) 1982) sowie Daidalos und Ikaros (Gerhard Holtz-Baumert (1984)) aus dem Werk Ensikats dienen. In beiden Bilderbüchern integriert der Illustrator, der in den 1980er Jahren endgültig zu einem internationalen Aushängeschild für die Bilderbuchkunst der DDR wird, Zitate aus Ärchäologie, Kunst- und Baugeschichte (Bode 2006, 882) Diese Referenzen bedienen jedoch nicht die Sehnsüchte nach Überschaubarkeit wie die genannten idyllischen, oft rural geprägten Bilderwelten Heines, Janoschs oder Erwin Mosers zu Beginn der 1980er Jahre, jener »Zeit des Eintritts in die Mediengesellschaft« (Hurrelmann/Becker/Nickel-Bacon 2006, 292). Eben dieser Eintritt läutet einen »signifikanten Wendepunkt« (Oetken 2015, 42) in der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur ein: »Die neuen Medien, zunächst vor allem in Gestalt des Fernsehens, verdrängen die Printmedien aus ihrer Zentralstellung. Die Bildmedien avancieren zu Leitmedien des öffentlichen Diskurses und beginnen, die gesellschaftliche Wissenskultur wie den privaten Alltag zu durchdringen.« (Hurrelmann/Becker/Nickel-Bacon 2006, 292)
24 Bilderbuch
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Abb. 24.6–7 Titelbild aus Als Papa fort war (Sendak 1984) und Philipp Otto Runges Die Hülsenbeckschen Kinder (1805–1806)
Mitte der 1980er Jahre differenziert sich das Fernsehen (s. Kap. 28) als uneingeschränktes Leitmedium durch das Privatfernsehen in Westdeutschland weiter aus. Dies hat in verschiedener Hinsicht weitreichende Konsequenzen für die Zuschauer, die von der zunehmenden Kommerzialisierung des Angebots über neue Serien- und Filmformate US-amerikanischer und asiatischer Provenienz bis zur konsequenten Vermarktung von Stars und dem Kult um diese reicht. 1990er Jahre Der zunehmende Einfluss der Medien im Allgemeinen und des Fernsehens im Besonderen kennzeichnet die 1990er Jahre im wiedervereinigten Deutschland. Eine Verarbeitung dieser medialen Entwicklung findet sich bereits 1989 in Jörg Müllers und Jörg Steiners Bilderbuch Der Aufstand der Tiere oder die neuen Stadtmusikanten. Thema des Buchs ist das »Gedankenspiel, in welchem Maße die Medien den Alltag bestimmen und welchen Einfluss sie auf die Wahrnehmung der Welt und die Selbstfindung des Individuums haben [...]. Die Fremdbestimmung der Tierfiguren, zunächst durch die Vereinnahmung als Werbefiguren und später als Animationsfiguren in einem Spielfilm, führt folgerichtig zu der Frage, ob man sich als Einzelperson dem omnipräsenten Einfluss der Medien überhaupt entziehen kann.« (KümmerlingMeibauer 2012b, 54) Das Thema wird durch zahlreiche intertextuelle wie auch intermediale Referenzen in Text und Bild
umgesetzt; eine besondere Rolle nimmt dabei die Gestaltung von paratextuellen Elementen wie dem Vorsatzpapier ein, das ebenfalls auf das Fernsehen als Leitmedium verweist. Auf anderer Ebene verarbeitet Wolf Erlbruch, der mit Jutta Bauer, Rotraut Susanne Berner und Nikolaus Heidelbach zu den wichtigsten Bilderbuchkünstlern dieser Jahre gehört (vgl. Mikota 2016, 5), seine Perspektive auf den Medien- und Fernseheinfluss, auf den »idiotischen, kategorischen Wechsel von Kindern und auch vieler Erwachsener vom Buch zum Bildschirm« (Erlbruch 2004, 19): Mit Hilfe einer »ausgeprägten Materialität« seiner Papiere und Zeichnungen setzt er »Kontrapunkte zu der immateriellen [...] visuellen Kultur« (Oetken 2015, 45). In seinem Bilderbuch Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat (1989), das 1990 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wird, montiert er »verschroben-groteske Tierfiguren als sperrige Kreidezeichnungen auf Packpapier offen und unvermittelt in einen weitestgehend leeren, flächigen gelblich-weißen Bildraum. Der Kreidestrich auf dem rauen Packpapier verleiht den ausgeschnittenen Figuren eine fast haptische Materialität, insbesondere in Kontrastsetzung zur neutralen weißen Bildfläche.« (Oetken 2015, 45) Abgesehen von dieser Collagetechnik zeichnen sich auch die Bilderbücher Erlbruchs durch ihre Intertextualität bzw. Intermedialität aus. In Nachts, einem Buch, das der Künstler 1999 für die niederländische Kinderboekenweek entwirft, geht ein Vater mit sei-
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IV Medien – A Buch
Abb. 24.8–11 Zoom (Banyai 1995a, 2–9)
24 Bilderbuch
nem nicht zur Ruhe kommenden Sohn Fons durch die Nacht; er erklärt ihm, dass »überhaupt nichts los [sei]« (Erlbruch 1999, 10), dass er deswegen endlich schlafen könne und solle. Die Worte des Vaters, die sich im Schrifttext als Figurenrede lesen, stehen in einem kontrapunktischen Verhältnis zum Bildtext: Die Bilder indizieren das Gegenteil seiner Behauptungen, strafen seinen Aussagen Lügen – zeigen, dass fürwahr einiges los ist in der Nacht. Dabei scheint der Bildtext die subjektive Sicht von Fons wiederzugeben – und weist unzählige Verweise auf: So erinnert ein Gorilla, den Fons auf einer Abbildung an der Hand hält, an King Kong aus dem Film von Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack von 1933, an manche Selbstporträts Erlbruchs und an die Figuren Brownes (vgl. Weinkauff/ von Glasenapp 2018, 178). Weiter wird Lewis Carolls Klassiker der phantastischen Literatur aus dem Jahr 1865 referenziert: Entsprechend findet sich Alice, die durch einen vom weißen Kaninchen gehaltenen Reifen schwebt, auf einer Doppelseite des Bilderbuchs. Intertextualität und vor allem Intermedialität sind mit Umberto Eco die termini ombrelli dieser Zeit. Sie beschreiben nicht nur das Verhältnis von Texten untereinander, sondern die in den 1990er Jahren »immer offenkundiger und allgegenwärtig zutage tretende Tendenz«, nach der sich mediale Ausdrucksformen und Gattungen als mediale Bezüge, durch Medienwechsel und in Medienkombinationen »aufeinander zu bewegen, sich mischen, gegenseitig durchdringen« (Rajewsky 2002, 1) und aufeinander verweisen. Im Bilderbuch sind es intermediale Bezüge auf den Comic, den Film (s. Kap. 26), die Fotografie, die Musik oder das Computerspiel (s. Kap. 29). Ein Beispiel, wie im Bilderbuch auf den Film referiert wird, bietet Istvan Banyais Zoom (1995a). Der ungarisch-amerikanische Künstler legt dem Buch ein filmisches Gestaltungsmittel, das sowohl den narrativen als auch ästhetischen Text strukturiert, als erzählerisches Prinzip zugrunde. Dieses Prinzip des Bilderbuchs, auf das Banyai mit ReZoom (1995b) ein weiteres folgen lässt, ist der titelgebende Zoom-out, die Veränderung der Brennweite am Kameraobjektiv, die den Eindruck einer Rückwärtsbewegung erzeugt (vgl. Abb. 24.8 bis 24.11). 2000er Jahre Die »zunehmende Vernetzung« des Bilderbuchs mit »immer weiteren Medien« (Oetken 2008, 140), die in den 1990er Jahren ihren Anfang nimmt und bis in die Gegenwart reicht, umfasst nicht nur intermediale Bezugnahmen, sondern auch Medienwechsel. Angelehnt
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an Thieles Begriff der »ästhetischen Entgrenzung« (Thiele 2003a, 203), welche die Entwicklung des Bilderbuchs seit den 1980er Jahren als Überschreitung von ästhetischen, erzählerischen und buchgestalterischen Limitierungen umschreibt, können Medienwechsel als mediale Entgrenzungen beschrieben werden (vgl. Kurwinkel 2016, 22): Sie umfassen Adaptionen von Bilderbüchern als Hörspiele, Theaterstücke, digitale Bilderbücher sowie Filme. »[In]der Regel« (Staiger 2012, 114) werden Bilderbücher dabei als Animationsfilme, vor allem als Trickfilme und Computeranimationsfilme, adaptiert: Bekannte Beispiele sind die ›Verfilmungen‹ von Weißt Du eigentlich wie lieb ich Dich hab? (Sam McBratney und Anita Jeram, Guess How Much I Love You 1994), die Steve Moltzen besorgte oder Die drei Räuber (Tomi Ungerer 1961) von Hayo Freitag. Von dem populären, erfolgreichen Bilderbuch Weißt Du eigentlich wie lieb ich Dich hab? gibt es nicht nur eine filmische Adaption in Form einer Animationsserie; die Erzählung ist auch in anderen Medientexten realisiert. So finden sich nicht nur ein Leporello und ein Pop-Up-Bilderbuch auf dem Markt, sondern auch ein Hörspiel, diverse Adaptionen für das (Puppen-)Theater sowie verschiedene Browsergames. Damit bildet das Medienensemble um den kleinen und den großen Hasen einen Medienverbund, ein sowohl intra- als auch intermediales System, das zunehmend die Produktion und Rezeption von Kinder- und Jugendliteratur zeitigt (vgl. Frederking/Krommer/Maiwald 2012, 78). Medienverbünden, die wie bei Weißt Du eigentlich wie lieb ich Dich hab? aus einem originären Text hervorgegangen sind, ist ein serielles Erzählen eingeschrieben. Realisiert wird die narrative »Wiederholungskunst« (Eco 2005, 85) syntagmatisch, d. h. als Beziehung zwischen verschiedenen Teilen eines Werks sowie als Erweiterung dessen durch Fortsetzungen und Adaptionen (vgl. Schlachter 2016, 101). Wenngleich serielles Erzählen in der Kinder- und Jugendliteratur mit der Entstehung der populärkulturellen Massenkultur seit Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitet ist, werden insbesondere seit der Harry-Potter-Welle (engl. 1997–2007, dt. 1998–2007) vermehrt Reihen für Kinder und Jugendliche veröffentlicht, die mit Birgit Schlachter »ein eigenes Subsystem« (ebd., 100) konstituieren. Das gilt auch für das Bilderbuch: Entsprechend finden sich verschiedene Bilderbücher in Serie, allen voran Sachbilderbuch-Reihen, die nicht zuletzt durch das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei den PISA-Studien in den Jahren 2000 und 2003 einen »wahre[n] [...] Boom« (Grunert 2016, 91) erfah-
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IV Medien – A Buch
ren. Ein Beispiel dafür ist die im Ravensburger Buchverlag erscheinende Reihe Wieso Weshalb Warum, die bis heute über 50 Einzeltitel führt und nicht selten mit mehreren Büchern auf den ersten Plätzen der einschlägigen Bestseller-Listen positioniert ist (vgl. ebd., 95). Die jeweils 16 Seiten umfassenden Pappbilderbücher richten sich an Kinder von zwei bis vier Jahren und arbeiten in Richtung Interaktivität mit Klapp-Elementen, die einen der wichtigsten Trends in dieser Sparte bezeichnen (ebd.). Interaktivität charakterisiert ebenso Rotraut Susanne Berners Wimmelbilderbuch-Reihe, die 2003 mit dem Winter-Wimmelbuch ihren Anfang nimmt. In den Bilderbüchern wird vom Leben in der fiktiven Stadt Wimmlingen erzählt, dabei entwickeln sich viele der über 80 Figuren sichtbar weiter: So geht ein Kindergartenkind ein Band später zur Schule, eine schwangere Frau fährt ihr Baby im folgenden Jahreszeitenbuch in einem Kinderwagen spazieren. Einzelnen Figuren bzw. Figurenensembles wie z. B. dem Buchhändler Armin (2011) oder Manfred und Elke (2012) sind mittlerweile einzelne Bände gewidmet, in denen in Paarreimen jahreszeitlich abgestimmt Wimmlinger Geschichten erzählt werden. Ähnlich wie bei Weißt Du eigentlich wie lieb ich Dich hab? sind diese Werke inzwischen Teile eines Medienverbunds, der sich nicht nur aus den fünf Wimmelbüchern in verschiedenen Formaten und den Wimmlinger Geschichten zusammensetzt, sondern auch unzählige Produkte vom Pop-Up-Bilderbuch über Puzzles und Kochbücher bis zum Nachtlicht enthält. Abgesehen von Sachbilderbüchern und Berners Wimmel-Werk prägen viele weitere Reihen die letzten Jahre; zu nennen sind u. a. die Garman-Trilogie (norw. 2005–2010, dt. 2009–2012) von Stian Hole, deren erster Band Garmans Sommer mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2010 ausgezeichnet wird, ebenso wie die Reihen Weltliteratur für Kinder (seit 2002) im Kindermann Verlag oder Das musikalische Bilderbuch (seit 1998) bei Ueberreuter. Wenngleich die letzten beiden Reihen in keinen Medien- bzw. Produktverbünden organisiert sind, wird das Bilderbuch seit Ende der 1990er Jahre im und durch Medienverbünde definiert und unterliegt entsprechend intermedialen Einflüssen; es lässt sich nicht mehr nur als Medium aus Bild- und Schrifttext fassen, sondern ist auch durch seine medialen Entgrenzungen und elektronischen Erweiterungen zu bestimmen, durch die es beeinflusst und verändert wird. Eine solche Erweiterung stellt der tiptoi von Ravensburger dar, der im Herbst 2010 erscheint. Der tiptoi ist, wie ähnliche Produkte mit den Namen Toystick
oder Ting – ein Lesestift: Wird mit der Stiftspitze auf ausgezeichnete Stellen im Bilderbuch getippt, werden Audiodateien abgespielt, die vorher über das Internet auf den Stift geladen wurden. Die Dateien enthalten nicht allein den Schrifttext des Bilderbuchs, sondern sind darauf ausgelegt, zusätzliche Informationen zu liefern. Diese reichen wie bei den Klangbilderbüchern von Tierstimmen über einen Gitarrenarpeggio in Die monsterstarke Musikschule (2013) bis hin zur Aufforderung, bestimmte Dinge auf der Bilderbuchseite zu finden. Einem ähnlichen, jedoch über die medialen Möglichkeiten von tiptoi hinausgehenden Konzept folgt Carlsen mit LeYo! seit Sommer 2014 – die Rolle des Lesestifts nehmen dabei das Smartphone oder der Tablet-Computer ein: Mit Hilfe einer auf den Geräten installierten Software, der LeYo!-App, können Kinder ab drei Jahren die Bilderbuchinhalte akustisch, visuell und spielerisch erschließen. Ähnlich funktioniert SuperBuch (seit 2016), das maßgeblich von der Oetinger Verlagsgruppe in Kooperation mit neun deutschen Kinderbuchverlagen entwickelt wurde. Das Prinzip von LeYo! und SuperBuch ist die Erweiterung der Realität um digitale Inhalte, was als Augmented Reality bezeichnet wird. Inhaltlich lesen und betrachten sich in den Bilderbüchern der 2000er Jahre Entgrenzungen, die – ähnlich wie in anderen Kinder- und Jugendmedien – vor allem im Spiel mit Genres und ihren Konventionen deutlich werden: »Since postmodernism found its way into Western art and thus also into children’s literature during the last decades of the twentieth century, these [...] forms of mixing elements in the picturebook have stood out more and have become more challenging [...].« (van Lierop-Debrauwer 2018, 81) Es sind Dekonstruktionen von Genres, Genre-Mixes und Hybride aus zwei oder mehr Genres als relativ stabile Schemata oder Muster (vgl. Kammerer 2009, 105–106), bei denen »typische Formen und typische Inhalte« zusammenkommen (Abraham/ Knopf 2019, 4). Mit den Genre-Konventionen des Western, der sogenannten western formula (vgl. z. B. Cawelti 1976, 251), die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt, wird in Hildegard Müllers Der Cowboy (2013) gespielt: Bereits das Titelbild verweist mit dem klassischen Stetson als Cowboyhut und dem Lasso, das die Figur über die Schulter trägt (vgl. Abb. 24.12), auf das Genre. In diesem »entwickelte sich eine eigene amerikanische Form des männlichen Individualismus, die den klassischen Helden des Western, den Westerner, bestimmt. [...] Der klassische Westerner ist ein Mann
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Abb. 24.12–13 Der Cowboy (Müller 2013, Cover und 27–28)
ohne Frau (Frauen kommt oft die Funktion der Domestizierung des Mannes zu), er ist häufig einsam, ein Loner, er ist introvertiert und wortkarg, physisch höchst agil und gewandt, aber kaum reflektierend.« (Kiefer 2011, 775) Diese archetypischen Merkmale des Westerner wird in Müllers Bilderbucherzählung dekonstruiert: Der kleine Cowboy wird zwar ebenfalls als Held stilisiert, da er Annas Hund vor dem Ertrinken im Meer mit seinem Lasso rettet – dazu muss er jedoch einen Erwachsenen bitten, ihn auf die Schultern zu heben. Genretypisch gibt es am Ende der Erzählung einen Sonnenuntergang (vgl. Abb. 24.13), doch der Held reitet nicht alleine in diesen: Weder reitet er, noch ist er alleine – gemeinsam mit seiner neuen Freundin verlässt er den Strand, dabei führt er den Hund und sie spielt mit dem Lasso. Inszeniert wird hier keine Domestizierung des Westerner, welcher nach erfolgreich beendeter Mission in die friedliche Existenz einer Sesshaftigkeit wechselt, sondern ein auf Gleichberechtigung beruhendes Rollenverständnis: Wie ein Cowboy kann auch eine Frau, wie der Junge mit dem Cowboyhut kann auch Anna mit dem Lasso umgehen. Verbunden ist diese Dekonstruktion mit weiteren Genres: Entsprechend stellt die Bilderbucherzählung einen Genre-Mix dar, eine Kombination eines Wes-
tern für Kinder mit den typischen Formen und Inhalten von Freundschafts- und Tiergeschichten. Ein Genre, das seit 2011 sowohl für sich allein als auch in Kombination vermehrt Zuwachs an Bilderbüchern verzeichnet, ist die ›Flucht-Literatur‹. Wenngleich das Phänomen Flucht die Menschheitsgeschichte schon immer begleitet hat, rückt es mit den Fluchtund Migrationsbewegungen im Zuge des Arabischen Frühlings und des Bürgerkriegs in Syrien in den Fokus. Dabei konstatiert es sich durch Elemente, die eine jede Fluchtbewegung umfasst; Flucht ist »[...] eine individuelle Katastrophe für diejenigen, die Heimat, Familie, Zuhause aufgeben bzw. aufgeben müssen [...]. Flucht bedeutet vor allem Verlust – von familiären Bindungen und Sicherheit, von sozialen und kulturellen Bezügen, von Ordnungen und Orientierungen, nicht selten von Identität. Flucht bedeutet auch oft hochriskante Mobilität, Aufenthalt in transitorischen Räumen und immer wieder die Hoffnung auf ein Ankommen [...]. Daneben hat Flucht auch eine soziale und gesellschaftliche Dimension – vor allem für die aufnehmenden Gesellschaften.« (Wrobel/Mikota 2017, 9) Es sind Bilderbücher wie u. a. Am Tag, als Saída zu uns kam (Susana Gómez Redondo [Text], Sonja Wimmer [Bild] 2016), Nusret und die Kuh (Anja Tuckermann [Text], Mehrdad Zaeri, Uli Krappen [Bild]
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IV Medien – A Buch
Abb. 24.14–15 Akim rennt (Dubois 2013, 9, 8)
2016) oder die einleitend erwähnten Bücher Die Flucht und Akim rennt, die diese Elemente in Bild und Text enthalten. Dubois’ Bilderbuch, in dem die Illustratorin eine Zeichentechnik (Bleistift) mit einer Maltechnik (Aquarell) verbindet (vgl. Abb. 24.14 und 24.15), erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen, der mit dem Krieg konfrontiert wird und der vor ihm, der sein Dorf zerstört und ihm Freunde und Eltern genommen hat, fliehen muss. Dubois findet den richtigen Ausdruck: Mit dem Bleistift als Zeichengerät skizziert sie und deutet damit nur an, was ein Bilderbuch mit diesem Thema anderenfalls für Kinder unmöglich gemacht hätte. Trotzdem vermitteln die Skizzen eindrucksvoll die Folgen, die ein Krieg mit sich bringt; kongenial bildet Dubois seine schreckliche Dynamik ab, das Auf-der-Flucht-Sein, das Getrieben-Sein, das Niemals-zur-Ruhe-Kommen, diagnostiziert die immer anwesende Unsicherheit mit ihren Symptomen Angst und Panik. Entsprechend sind die Bilder ihrer Figuren gezeichnet, weisen in ihren Abbildungen (Leer-)Stellen auf, die den Malgrund durchscheinen lassen wie den Krieg, der alles und jeden betrifft und bestimmt. Manche dieser Stellen hat die Künstlerin durch sparsames Aquarellieren geschlossen. Die Illustrationen wirken dadurch noch weicher – und reflektieren damit nicht zuletzt die Hoffnung, die sich durch die Erzählung zieht und sich am Ende für die Hauptfigur erfüllt.
24.4 Typologien Um festzustellen, dass das Angebot an Bilderbüchern breit gefächert ist, und ein – wie eingangs erklärt – »buntes Produktionsfeld« (Doderer/Müller 1973, V) umfasst, genügt ein Blick in eine imaginäre (Kinder-)
Buchhandlung: Neben Bilderbüchern, in denen Figuren in Kindern vertrauten Umgebungen kleine und große Abenteuer erleben, stehen Bücher im Regal, die von feuerspeienden Drachen und bösen Märchenhexen handeln. Einen Regalboden weiter finden sich Sachbilderbücher, die den Wald, den Weltraum und das Wetter in bunten Bildern kindgemäß erklären. Ein ganzes Regal enthält Bücher, die auf unterschiedlichste Weise zum Spielen einladen; der Fußboden ist ihrer Größe wegen den großformatigen und pappeschweren Wimmelbüchern vorbehalten. Diese Aufzählung folgt keiner Ordnung. Um eine derartige vorzunehmen, werden in der wissenschaftlichen Beschäftigung Typologien erstellt; dabei können Bilderbücher auf erster Ebene zunächst in Erzähl- und Sachbilderbücher differenziert werden. Erstere bezeichnen dabei fiktionale (von lat. fingere: bilden, erdichten, vortäuschen) Bilderbücher – sie erzählen von Geschehen, die keinen Wirklichkeitsbezug, keine Referentialisierbarkeit beanspruchen und demnach weder als wahr noch als falsch gelten können. Zweitere teilen demgegenüber als faktuale (von lat. factum: Geschehen, Tatsache) Sachbilderbücher Vorgänge mit, die einen Anspruch auf Referentialisierbarkeit, auf Verwurzelung in einem empirisch-wirklichen Geschehen erheben (Martínez/Scheffel 2009, 13): Sie informieren, wie Doderer schreibt, »ihre kindlichen Leser über Dinge, Ereignisse oder Zusammenhänge dieser Welt in einer solchen Weise, daß [sic] [...] der Leser gleichzeitig unterhalten und belehrt wird.« (Doderer 1961, 14) Zu den Sachbilderbüchern zählen auch die Frühe-Konzepte-Bücher für Kleinstkinder; diese »enthalten Bilder von Gegenständen aus dem kindlichen Erfahrungsbereich wie einen Ball, einen Apfel, einen Teddy, Schuhe oder einen Stuhl, aber keinerlei Text. Höchstens ist den Bildern die Bezeichnung des dar-
24 Bilderbuch
gestellten Gegenstandes zugeordnet. Diese Bilder können Zeichnungen oder Photographien [...] sein.« (Kümmerling-Meibauer 2012c, 2) Die Unterscheidung zwischen Fiktionalität und Faktualität, zwischen Erzählbilderbuch und Sachbilderbuch gilt auch dann, wenn Figuren, Geschehnisse, Schauplätze und Daten einer fiktionalen Erzählung der Realität entlehnt sind: In Blumkas Tagebuch (2011) von Iwona Chmielewska werden zwölf Kinder aus dem Waisenhaus von Janusz Korczak vorgestellt; der polnische Reformpädagoge ist eine historisch reale Person, dennoch zählt dieser Text zum erzählenden Bilderbuch. Der Grund dafür liegt in der Fiktionalisierung der Figuren und ihrer Biographien, in der Anreicherung und Gestaltung des sich tatsächlich Ereigneten. In Anlehnung an Ossowski kann Blumkas Tagebuch als Sacherzählbilderbuch bestimmt werden – als Erzählbilderbuch, das »sich im Rahmen einer Erzählung mit einer Sache« (Ossowski/Ossowski 2011, 377) befasst. Hieran wird deutlich, dass die Kategorien ineinander übergehen und Mischformen bilden können (s. Kap. 23); insbesondere im Bilderbuch kommen derartige Formen häufig vor. Das erzählende Bilderbuch kann auf zweiter Ebene nach der Erzählform in realistische und phantastische Bilderbücher klassifiziert werden: Letztere unterscheiden sich von den realistisch erzählenden Bilderbüchern insofern, als ihre Handlungen in fiktiven Welten spielen, in denen Naturgesetze verletzt werden (vgl. Durst 2010, 29). Das »wesentliche Charakteristikum« (Rank 2011, 175) phantastischer Kinderund Jugendliteratur ist nach Maria Nikolajeva jedoch das Vorhandensein von zwei Welten, einer realistischen Primärwelt und einer phantastischen Sekundärwelt (s. Kap. 14). Dieses Zwei-Welten-Modell geht in seiner Begrifflichkeit auf den Essay On Fairy-Stories von J. R. R. Tolkien aus dem Jahr 1947 zurück; hiernach erfährt es in der Kinder- und Jugendliteraturforschung verschiedene Variationen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen durch u. a. Göte Klingberg oder Wolfgang Meißner. Die Naturgesetze unserer Welt werden auch in den (Zauber-)Märchenbilderbüchern verletzt, das Wunderbare ist ihnen eingeschrieben: Der maximalistischen Definition entsprechend zählen diese Texte damit zu den phantastischen Bilderbüchern. Sie lassen sich jedoch durch Merkmale wie die Eindimensionalität ihrer Handlungen und Figuren oder stereotype Schauplätze von phantastischen Texten unterscheiden. Aus der Figurenzeichnung, die eine Psychologisierung nicht zulässt, erklären sich die fehlenden
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Emotionen der Handlungsträger bei der Begegnung mit dem Wunderbaren, was sich in der phantastischen Literatur anders darstellt: In dieser staunen Protagonisten wie Antagonisten, wundern und erschrecken sich angesichts der phantastischen Elemente, mit denen sie konfrontiert werden. Primär- und Sekundärwelt sind ebenfalls Strukturmoment von Bilderbüchern, deren Geschichten der Science Fiction zugehören, jener »in Prosa gekleideten Prognostik der Zukunft« (Haller 2011, 349), wie Hugo Gernsbach als Begriffsbegründer 1929 schrieb. Entsprechend erkundet Marie gemeinsam mit ihrem Chamäleon Mr. Hobbes in Die fantastische Reise mit einem wundersamen Gefährt (2012) von Robert Göschl phantastische Sekundärwelten wie z. B. den Mond, um nach ihrem verlorenen Bruder zu suchen. Sie erreicht die Anderswelt des Mondes aus der Primärwelt heraus mit Hilfe von »mingo«, einem Gefährt, das als Rakete fungiert. Ein derartiges Schwellenmotiv kann als Kriterium zur Einordnung von und Differenzierung zwischen Science Fiction und phantastischer Literatur dienen, weil es innerhalb eines wissenschaftlich-technischen Bezugsrahmens steht und eine Art rationaler Erklärung für die irrationalen Ereignisse bietet. Gestalterische Sondertypen des Bilderbuchs (vgl. Ries 1992, 46–68) finden sich auf erster Ebene sowohl unter den Erzähl- als auch den Sachbilderbüchern. Es handelt sich hierbei um Spiel- oder Beschäftigungsbilderbücher, die durch ihr Äußeres, durch ein ungewöhnliches Format, durch Beilagen, Papierfaltungen, Durchbrüche, Spiegel, Klappen, Pläne, kinetische Objekte, Ziehlaschen etc. (vgl. Schürmann 1994, 42) charakterisiert sind. Zu diesen Bilderbüchern zählen beispielsweise Lochbilderbücher wie Eric Carles Die kleine Raupe Nimmersatt (The Very Hungry Caterpillar 1969), Fühlbilderbücher wie Mein kleiner Streichelzoo (2010) von Sandra Grimm (Text) und Ana Weller (Bild), Aufklapp- und Zieh-, Pop-up- und Aufstellebenso wie Puzzlebilderbücher und die wie eine Ziehharmonika gefalteten Leporellos. Letztere Bezeichnung geht zurück auf Don Juans Diener Leporello in Mozarts Oper Don Giovanni: Der Diener bewahrt in einem Album in Kleinformat die Liste der Namen von Don Juans Geliebten auf (vgl. Doderer 1984, 344). Ein Beispiel für ein solches Leporello ist Wipfelwärts und Wurzelwärts (2016) von Tobias Krejtschi, das ausgezogen und aufgestellt eine Länge von knapp drei Metern umfasst. In diese Aufzählung der Spiel- und Beschäftigungsbücher gehören auch die Wimmelbücher, sofern es sich um Such-Wimmelbücher handelt. Das Prinzip
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der Bücher ist einfach: Eine ausgewählte Figur oder ein Objekt will im pluriszenisch wimmelnden Bildraum gefunden werden – wie in Mein großes Spielplatz-Wimmelbuch (2014) von Ali Mitgutsch, in dem die zu suchenden Elemente auf jeder Doppelseite in einer Vignettenleiste abgebildet sind. Das Spiel ist damit regelbasiert und determiniert: Art und Weise des Spiels, Spielraum und -elemente sind festgelegt, wenngleich z. B. die Reihenfolge der zu suchenden Elemente frei gewählt werden kann. Auch diejenigen Bilderbücher, die elektronische Erweiterungen aufweisen, gehören zu den Spiel- bzw. Beschäftigungsbilderbüchern. Abgesehen von den beschriebenen Erweiterungen wie tiptoi, LeYo! oder Superbuch zählen dazu beispielsweise auch Klangund Stimm(bilder)bücher wie Wer brüllt denn da? (2011) von Anna Taube (Text) und Günther Jakobs (Bild), die das Bilderbuch mit einem Tonmodul erweitern. Musikbilderbüchern wie Leise rieselt der Schnee (2015) von Silke Leffler ist eine Musik-CD beigegeben, welche – dem Prinzip der Klangbilderbücher folgend – die visuelle Rezeption um eine auditive Ebene ergänzen.
24.5 Narratoästhetik Das Bilderbuch ist eine inhärent intermediale Buchgattung, seine Analyse muss sowohl das »stehende Bild« als auch die »geschriebene Sprache« (Barthes 1988, 102) interdisziplinär berücksichtigten. Diese beiden Aspekte sind Ausgangspunkte der narratoästhetischen Bilderbuchanalyse, die Bild und Schrifttext auf den zwei Ebenen des narrativen Textes, ›das Was‹ und ›das Wie‹ der Darstellung betreffend, untersucht: Auf Ebene der Geschichte oder ›histoire‹ als Abfolge von Ereignissen und auf Ebene des Textes oder ›discours‹ als Abfolge von Zeichen (vgl. Vogt 2011, 18; vgl. Fludernik 1993, 62). Die Bilderbuchanalyse (vgl. Abb. 24.16) ermöglicht, indem sie auf den Medienbegriff Werner Wolfs (2002) zurückgreift, sowohl die Betrachtung der spezifischen Eigenschaften der Einzelmedien als auch ihr Zusammenspiel. Ein dem Bilderbuch als Medienkombination inhärentes Zusammenspiel sind die Interdependenzen von Bild und Text. Diese bezeichnen und typologisieren die verschiedenen Möglichkeiten und Kombinationen des Verhältnisses von Bild und Text, die für das Bilderbuch charakteristisch sind: »Sie können sich gegenseitig stützen oder stören, Nähe oder Distanz herstellen, wechselnde Rollen im Er-
zählstrom übernehmen, auf ihre je spezifische Art »erzählen«, Erzählen in bildnerischen und textlichen Kategorien stattfinden lassen und so unterschiedlichste narrative Fäden im gemeinsamen Gewebe ziehen.« (Thiele 2003a, 74) Zumeist wird in Bilderbüchern durch mehrere dieser Interdependenzen erzählt; auch Mischformen kommen vor. In der Forschung, die sich seit den 1980er Jahren intensiv mit dem Verhältnis von Bildund Schrifttext im Bilderbuch auseinandersetzt, liegen inzwischen verschiedene Typologien und Taxonomien vor (vgl. Staiger 2019). Zwei dieser Ordnungsund Beschreibungssysteme werden hier vorgestellt: Zum einen die in Deutschland »wohl gängigste[n]« (Jantzen/Klenz 2013, 7) Kategorien Thieles, zum anderen die Typologie von Nikolajeva und Carole Scott, die frühere Beschreibungskategorien weiterentwickelt und ausdifferenziert haben. Unter der ›Parallelität von Bild und Text‹ versteht Thiele nicht einfach eine »Doppelung der Aussage«, sondern eine »produktive Korrespondenz«, bei welcher die Aussage des einen Textes durch den anderen ergänzt und erweitert wird (Thiele 2011, 224). Die Doppelung als Vermittlung von (ungefähr) gleichen Informationen bezeichnen Nikolajeva und Scott als ›symmetrisches Verhältnis‹ (vgl. Tabelle 24.1) von Bild- und Schrifttext (vgl. Staiger 2019, 22; vgl. Nikolajeva/Scott 2006, 14); die Mehrheit der Bilderbücher weisen dieses gegenseitig redundante Verhältnis auf. Die Ergänzung und Erweiterung des jeweils anderen, die Thiele Parallelität nennt, bezeichnen Nikolajeva und Scott als ›Anreicherung‹, die sie qualitativ von minimal bis signifikant quantifizieren (vgl. Staiger 2019, 22; Nikolajeva/Scott 2000). Als ›geflochtenen Zopf‹ definiert Thiele eine »komplexere Form der Bild-Text-Korrespondenz«, bei der »beide narrative Ebenen ineinander greifen und abwechselnd das Erzählen übernehmen« (Thiele 2011, 25). Dafür liefert Sendaks Klassiker Wo die wilden Kerle wohnen ein Beispiel: Nachdem die Kerle Max zum KöThiele (2011)
Nikolajeva/Scott (2006)
Parallelität von Bild und Text
symmetrisches Verhältnis
geflochtener Zopf
komplementäres Verhältnis
kontrapunktische Spannung
kontrapunktisches Verhältnis
Anreicherung
Widerspruch Tab. 24.1 Typologien von Nikolajeva/Scott und Thiele im Vergleich (Staiger 2019, 22)
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nig ernannt haben, erteilt dieser einen ersten Befehl: »Und jetzt [...] machen wir Krach!« (Sendak 1967, 22). Dieser Schlüsselmoment des Bilderbuchs, in dem Max als »archetypisches Kind einem ursprünglichen, unbewussten und instinktiven Zustand entsprechend agiert« (Lexe 2014, 157), wird auf drei Doppelseiten allein über den Bildtext erzählt. Vorangehend stehen Bild und Text in einem parallelen Verhältnis, bei dem die In-
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formationen des Schrifttexts durch den Bildtext angereichert werden. Nikolajeva und Scott bezeichnen das Ineinandergreifen beider Ebenen als ›komplementäres Verhältnis‹, als eine signifikante Anreicherung. Sie ist dadurch charakterisiert, dass Bild- und Schrifttext wechselseitig bestehende Leerstellen füllen. In Bilderbüchern, in denen Bild- und Schrifttext in einer ›kontrapunktischen Beziehung‹ stehen, ergibt
Abb. 24.16 Modell der narratoästhetischen Bilderbuchanalyse (Kurwinkel 2017, 51)
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Abb. 24.17 Kontra punktisches Erzählen in Opas Engel (Bauer 2001, 16–17)
sich die »eigentliche Botschaft im Zusammenprall beider Ebenen« (Thiele 2011, 226): Bild und Text enthalten unterschiedliche Informationen, vermitteln jedoch gemeinsam eine Erzählung. Ein Beispiel ist die Binnenerzählung des Großvaters in Jutta Bauers Opas Engel (2001), die kontrapunktisch strukturiert ist: Der Schrifttext gibt die Erzählungen des Großvaters aus seinem Leben in direkter Rede wieder, der Bildtext spiegelt den Inhalt dessen, fügt aber ein wesentliches Element hinzu: Die Bilder erläutern, warum dem Großvater zeit seines Lebens »keiner [etwas] konnte« (Bauer 2001, 3): Ein Engel gab acht, dass ihm nichts geschah, wenn er auf die höchsten Bäume kletterte oder in die tiefsten Seen sprang; große Hunde zitterten nicht vor dem Großvater, wie er überzeugt erzählt, sondern vor seinem Schutzengel (vgl. Abb. 24.17). Wenngleich die Informationen in Bild- und Schrifttext unterschiedlich sind, so vermitteln sie in Bauers Bilderbuch doch eine Erzählung; schließen sich die Informationen hingegen gegenseitig aus und sind unvereinbar, wird diese extreme Spielart kontrapunktischen Erzählens als ›Widerspruch‹ bezeichnet (vgl. Staiger 2019, 22; vgl. Nikolajeva/Scott 2006, 12).
24.6 Inter- und transmediale Aspekte Wiesners Strandgut kann als Beispiel eines zeitgenössischen Bilderbuchs dienen, dem Intermedialität sowohl auf Ebene der ›histoire‹ als Aspekt seiner Geschichte als auch auf Ebene des ›discours‹ eingeschrieben ist.
Ausschließlich in Bildern berichtet das phantastische Erzählbilderbuch von einem Jungen, der am Meer spielt und eine alte Unterwasserkamera findet, die an Land gespült wurde. Der Junge öffnet die Kamera und bringt den Film zur Entwicklung in ein Fotolabor. Die Fotos, die er nach einiger Wartezeit bekommt, offenbaren Wundersames: Ein Oktopus liest ein Buch, während er in einem Sessel in seinem Wohnzimmer sitzt. Auf einem weiteren Foto trägt eine Meeresschildkröte eine Stadt aus Muscheln auf ihrem Rücken. Das interessanteste Foto ist jedoch das letzte: Auf ihm ist ein Mädchen zu sehen, das ein Foto von einem Jungen in der Hand hält, der wiederum ein Foto von einem anderen Kind in die Kamera zeigt. Nachdem er das Foto mit Lupe und Mikroskop untersucht hat, stellt der Junge fest, dass er nur einer in einer Reihe von unzähligen Fotografen ist, die diese Kamera gefunden haben. Schließlich macht auch er ein Foto von sich, auf dem er das Bild mit seinen zahllosen Vorgängern in die Linse hält. Darauf wirft er den alten Apparat zurück ins Meer. Nach einer langen Reise durch das kalte Wasser des eisbedeckten Südpols und warmen tropischen Meeren wird der Fotoapparat wieder an einen Strand gespült – und von einem anderen Kind gefunden. Die Kamera ist in Wiesners Geschichte ein intermedialer Bezug auf die Fotografie qua System, die in ihren Bildern jedoch nicht die Repräsentationen einer sichtbaren, realistisch gezeichneten Welt abbildet, sondern einer nicht-sichtbaren, phantastischen. Sie fungiert damit als ein Schwellenmotiv, das als »rede-
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Abb. 24.18–24 Strandgut (Wiesner 2013, 11)
ployment of [an] everyday item[..]« (Leonard 1999) die Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantastik permeabel werden lässt und sichtbar macht, dass der Wirklichkeit das Phantastische immer gegenwärtig ist. Weiter akzentuiert sie Fragen nach den Interdependenzen von Technik und Natur sowie Individuation und Entindividuation, indem sie über die unzähligen, zeitlichen und ethnischen Grenzen überschreitenden Fotografien den Stellenwert des Individuums in einer vernetzten, globalisierten Welt thematisiert. Auf Ebene des ›discours‹ wird die Geschichte zum einen durch (Kamera-)Techniken erzählt, die der Fotografie bzw. dem Film entnommen sind; dazu zählen der Zoom und typische Perspektiven wie die Aufsicht. Zum anderen folgt das Layout einzelner Seiten der Comic-Gestaltung durch das Arrangement ihrer Einzelbilder in Panels. Die Panels (vgl. Abb. 24.18–24) zeigen, wie der Junge ungeduldig vor dem Fotolabor auf die Entwicklung des Films wartet: Das Verstreichen der erzählten Zeit wird erreicht durch die sich wiederholende Abbildung derselben Umgebung im Einzelbild, welcher die Figur des Jungen in verschiedenen Positionen und Körperhaltungen gegenübergestellt wird. Der zeitliche Verlauf des Erzählten entsteht dabei erst durch den Rezipienten, welcher die narrativen Leerstellen assoziativ – nach Scott McCloud durch ›Closure‹ (vgl. McCloud 1993, 63) – auffüllt. Diese den Erzählverlauf betreffenden Leerstellen bezeichnet Wolfgang Kemp als ›äußere Leerstellen‹ (vgl. Kemp 1989, 67). Die Darstellung des zeitlichen Verlaufs sowohl durch die Gestaltung von statischen und dynamischen Elementen als auch durch die Hiatus als äußere Leerstellen sind Verweise auf den Comic – und den Film. Bei derartigen Bezugnahmen können die Referenzmedien bzw. Komponenten derselben mit Hilfe der Mittel des Bilderbuchs als Objektmedium nicht aktualisiert bzw. reproduziert werden (vgl. Rajewsky 2002, 195). Erzeugt werden kann immer nur eine Illusion –
ein ›Als ob‹ – des Fremdmedialen: Im Falle von Strandgut bedeutet dies, dass der Illustrator nur gestalten kann, als ob er über die Instrumente der Fotografie bzw. des Films verfügen würde, es realiter jedoch nicht tut (vgl. Heller 1986, 279). (Dieser Beitrag basiert in vielen Teilen auf der Erst- und erweiterten Zweitauflage meiner Bilderbuchanalyse: Kurwinkel 2017, 2020.) Primärliteratur
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25 Comic, Manga und Graphic Novel 25.1 Einleitung Der vorliegende Beitrag verschafft einen grundlegenden Überblick über die Erzählform der Comics. Hierzu werden Begrifflichkeiten geklärt, verschiedene Formen und Inhalte vorgestellt sowie mediale Besonderheiten herausgestellt. Ein kurzer Überblick über mediengeschichtliche Entwicklungen zeichnet die Entwicklung bis zur Gegenwart nach, wobei der Schwerpunkt auf kinder- und jugendliterarische Comics gelegt wird. Die Entwicklung von Kinder- und Jugendcomics nach 2000 wird dann in ihren unterschiedlichen Ausprägungen zum Gegenstand der weiteren Ausführungen des Typologie-Abschnitts. Abschließend wird das Erzählen mit Bild und Text systematisiert und es werden Rezeptionsanforderungen und Analysemöglichkeiten benannt.
25.2 Begriffsdefinitionen Die in der Forschung oft gestellte Frage ›Was ist ein Comic?‹ soll hier nur kurz problemorientiert umrissen werden. In seiner jüngsten Auseinandersetzung mit einem Definitionsversuch hält Stephan Packard (2016) fest, dass ›Comic‹ kein Fachbegriff und kulturell viel zu disparat sei, sodass entsprechende Versuche »hochspezifisch nach Kultur, Zeitpunkt und Zusammenhang ausfallen oder unbefriedigend bleiben.« (Packard 2016, 56) Vor diesem Hintergrund sei auf einen Vergleich Art Spiegelmans verwiesen, der die Methode des Erzählens in Bildern wie einen Baum begreift, dessen Äste die unterschiedlichen Ausprägungen darstellen (vgl. Spiegelman 2010, XI): Von dieser Art des Erzählens in Bildern zu unterscheiden sind Cartoons und Karikaturen im Sinne eines Einbildwitzes sowie Bildgeschichten bzw. Bilderbücher, in denen sowohl das Bild als auch der Text eine weitestgehende Eigenständigkeit behalten, indem sie jeweils Handlungskontinua entwickeln (s. Kap. 24). Neben dem hier bisher verwendeten Begriff ›Comic‹ finden sich in Verlagsangaben, Untertiteln und Rezensionen zahlreiche teils synonym verwendete Begriffe. Nimmt man einen Oberbegriff wie ›graphisches Erzählen‹ für ein Erzählen mit Bildern an, können sämtliche dieser Begriffe als formale bzw. nominale Ausprägungen verstanden werden. Neben dem aus dem amerikanischen Sprachraum stammenden Be-
griff ›Comic‹, der etymologisch und historisch eine Nähe zu komischen Geschichten offenbart – Comics waren ihrem Ursprung nach komisch (vgl. dazu auch Frahm 2010, 8) – sind für den aktuellen Comicmarkt insbesondere die Bezeichnungen ›Graphic Novel‹ und ›Manga‹ relevant. Während mit Manga japanische Comics bezeichnet werden (vgl. Berndt 1995, 2014), lässt sich die Graphic Novel nicht so leicht einordnen. Popularisiert wurde der Begriff durch Will Eisner, der damit seine Kurzgeschichtensammlung A Contract with God (1978) explizit von den Comics seiner Zeit abheben wollte. Seitdem gibt es konkurrierende Auffassungen zur Graphic Novel, die beispielsweise als reines Label oder als eigenständige Gattung charakterisiert wird. Letzteres hat jüngst umfangreich Dieter Wrobel (2016) zu determinieren versucht. Er begreift die Graphic Novel inhaltlich als eine deutlich komplexere Erzählform, da sie über eine vermeintlich größere Anzahl an Ausdruckmöglichkeiten verfüge (vgl. Wrobel 2016, 3). Dabei ignoriert er die geschichtliche Entwicklung eines romanhaften Erzählens in den ›Alternative Comics‹ im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (vgl. dazu Hatfield 2005, 152–163; Giesa 2015, 294). Komplexe Erzählverfahren wurden nicht erst in Graphic Novels, sondern bereits in alternativen Comicheften erprobt. Diese erschienen jedoch in serieller Form; erst nachträglich publizierte gesammelte Ausgaben wurden mit dem Label ›Graphic Novel‹ versehen, ganz ähnlich wie dies in Fortsetzungsgeschichten des 19. Jahrhunderts üblich war. Diesen Widerspruch sieht auch Comiczeichner Eddie Campbell in seinem Graphic Novel Manifesto, wenn er den Terminus dort als einen unliebsamen Begriff bezeichnet (vgl. Campbell 2004/10). Letztendlich überlässt Campbell es den Zeichnenden, ob sie sich dem Begriff anschließen; ausschlaggebend sei, ob er für sie verkaufsfördernd sei (vgl. ebd.). In einem Kommentar zu Campbell halten Dan Mazur und Alexander Danner fest, dass jedoch jenseits der Diskussion um den Begriff Graphic Novel das Erscheinen von Comics in Buchlänge revolutionäre Auswirkungen für den Comicmarkt hatte: neben einer veränderten Wahrnehmung entstanden auch neue Genres und Erzählverfahren (vgl. Mazur/Danner 2014, 295). Im Zuge der Digitalisierung können auch für Comics digitale Publikationsformen beobachtet werden: Grundsätzlich muss dabei zwischen regulär produzierten Comics, die digital veröffentlicht wurden, und solchen, die für eine digitale Veröffentlichung direkt produziert wurden, unterschieden werden. Digitale Comics kann damit als Oberbegriff verstanden wer-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_25
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den, wohingegen Webcomics als eine bestimmte Kategorie digitaler Comics begriffen werden muss (vgl. dazu Hammel 2014, 26).
25.3 Historische Entwicklungen Doch vor diesen Entwicklungen nahm der Comic seinen Anfang als eigenständige Erzählform um 1900. Hervorgehend aus der Karikatur finden sie in den Zeitungen des massiv expandierenden Zeitungsmarkts des ausgehenden 19. Jahrhunderts ideale Bedingungen, um sich auszudifferenzieren (vgl. Weixler 2016, 143). Comics boten eine Möglichkeit, die erzählerischen Beschränkungen der um die Jahrhundertwende zunehmend populären Karikatur zu umgehen; sie erlaubten es Zeichnenden, umfangreichere Geschichten zu erzählen (vgl. Gardner 2013, 241). Der Einbildwitz entwickelt sich in der Folge zu einer einzeiligen Sequenz bzw. später zur opulenten ganzseitigen Bildfolge in Farbe. Prominente Vertreter sind hier solche Serien wie Winsor McCays Little Nemo in Slumberland (ab 1905) oder Lyonel Feiningers The Kin-der-Kids (ab 1904). Diese Entwicklungen geschehen dabei langsam und wechselwirkend über unterschiedliche Medien hinweg. Für den deutschsprachigen Raum lässt sich eine Entwicklung von den Bildgeschichten der Flugblätter bis zum illustrierten Kinderbuch des 19. Jahrhunderts verfolgen (vgl. Dolle-Weinkauff 1999, 777–780). Im Spannungsverhältnis von Karikatur und Kinderbuch sind es die Arbeiten von Heinrich Hoffmann, dessen Struwwelpeter (1844) sich in zahlreichen Überarbeitungen experimentierend verschiedener Möglichkeiten des Erzählens in Bildern erprobt (vgl. Dolle-Weinkauff 2013, 206–207). Hoffmanns vielschichtige Erzählverfahren fanden ihre Fortsetzung in den Bildge schichten Wilhelm Buschs. Bei Busch und Hoffmann ist bereits eine stärkere Betonung der Schrift gegenüber dem Bild zu erkennen, jedoch sind sie hier noch strikt voneinander getrennt. In den Comics wird die Beziehung zwischen Bild und Schrift dann schließlich konstituierend. Im Comic-Strip ab Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt sich eine klare Lokalisierung des Erzählimpulses in den Blocktexten und Sprechblasen (vgl. dazu Wiesing 2010). Insbesondere die Sprechblase stellt eine genuine Entwicklung des Comics dar, die sich deutlich in ihrer Funktion von den früheren Bildgeschichten abheben (kritisch dazu Clausberg 2013). Die graphische Visualisierung der wörtlichen Rede der Co-
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micfiguren stellt ein medienspezifisches Verfahren dar, welches einen deutlichen Realitätseffekt hat (vgl. Wiesing 2010, 42). Nachdem sich der Comic-Strip schnell etabliert, findet die Weiterentwicklung der Comics spätestens ab den 1940er Jahren im Comicheft statt. Hier werden erstmals umfangreichere Erzählungen zusammenhängend präsentiert. Waren die Comic-Strips aufgrund ihres Erscheinungsorts in Zeitungen bestenfalls adressatenunspezifisch – neben den erwachsenen Käufern konnte man sich kindlicher und jugendlicher Mitleser sicher sein – richteten sich die eigenständigen Comicpublikationen erstmals auch an eine konkrete Lesendenschaft. Die aus pulp magazines entlehnten Geschichten etwa der Fantasy oder Science Fiction wie Superman (seit 1938) und später Batman (seit 1939) richten sich vorrangig an Jugendliche. In diesem Umfeld entsteht auch das Superhelden-Genre, das am häufigsten mit der gesamten Kunstform assoziiert wird (vgl. dazu Ecke 2016). 1950er und 1960er Jahre In der Bundesrepublik Deutschland etablieren sich Comics ab den späten 1940er Jahren als Teil der Kinder- und Jugendliteratur. Ihre starke Verbreitung erfuhren die Comics in durch die Verwaltung in der amerikanischen Besatzungszone eingeführten Zeitungen (vgl. Dolle-Weinkauff 1990, 23). Die am weitesten verbreiteten Formate sind dabei das Heft und das Album, wobei eine heimische Produktion auf längere Sicht noch die große Ausnahme darstellt (vgl. ebd., 115–117). Der Einfluss jedoch insbesondere dieser Comics auf den deutschen Markt zeigt sich weniger in der umfangreichen Übersetzung entsprechender Titel, sondern vor allem in der Produktion eigener Reihen. So zeigen sich etwa Hansrudi Wäschers Falk (seit 1960) und Sigurd (seit 1953) inspiriert von Hal Fosters Prinz Eisenherz (seit 1937). Die vermeintlich gewaltverherrlichende Darstellung der weitestgehend dem Abenteuergenre entstammenden Geschichten führte während der 1950er Jahre zur sogenannten Schmutz-und-Schund-Debatte und schließlich zur Einrichtung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften sowie einer freiwilligen Selbstkontrolle der Verlage, allen voran der Lehning Verlag, in dem zahlreiche von der Zensur bedrohten Abenteuercomics erschienen (vgl. ebd., 99–102). »Die kulturelle Stigmatisierung« (Dolle-Weinkauff 2012, 316) führt zu einem illegitimen Status der Comics als unerwünschte Lektüre durch in erster Linie Kinder.
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IV Medien – A Buch
Nicht betroffen von solchen Zensurbestrebungen waren etwa Comics wie Donald Duck (seit 1936) oder Mickey Maus (seit 1932) aus dem Disney-Verlag sowie an den Erfolg der Tiercomics angelehnte heimische Serien. Neben Fix und Foxi (seit 1953) von Rolf Kauka sind etwa die ursprünglich als Werbecomics konzipierten Lurchis Abenteuer (seit 1952) zu erwähnen. Dabei handelt es sich um dezidiert an Kinder adressierte Comics bzw. Comicmagazine, die durch Abenteuer und karnevalesken Humor gekennzeichnet waren. Eine Erweiterung erfährt das Comicangebot dann mit der Einführung des Albenformats für die Comics. In diesem Format gelang es, die frankobelgischen Comicklassiker auf dem deutschsprachigen Markt zu etablieren. Allen voran Hergés Tim und Struppi (seit 1952 unter dem Titel Tim, der pfiffige Reporter; seit 1967 unter dem Titel Tim und Struppi) gelingt, den Comic zunehmend zu etablieren. Die im Herkunftsland an ein All-Age-Publikum gerichteten Serien wie Asterix (seit 1968), Lucky Luke (seit 1958) oder Spirou und Fantasio (seit 1958) können neben dem Storytelling und dem Humor vor allem auch durch die graphische Gestaltung überzeugen. Die Themen bleiben dabei weitestgehend im Bereich der Abenteuerliteratur. 1970er und 1980er Jahre Erst in den 1970er Jahren werden, ausgelöst durch die kulturellen Umwälzungen der 1968er, im deutschsprachigen Raum auch ernstere Themen in Comics bedient (vgl. Dolle-Weinkauff 2008, 38). Hier sind es erneut Serien aus dem französischen Sprachraum, wie etwa Yoko Tsuno (seit 1976) von Roger Leloup oder Valerian und Veronique (seit 1973) von Pierre Christin und Jean-Claude Mézières, die in phantastischen Settings zeitgenössische Gesellschaftsthemen aufgreifen. In den 1980er Jahren etabliert sich davon ausgehend auch der Comic als Erzählform für ›erwachsene‹ Themen, entsprechend ist erstmals von Erwachsenencomics die Rede (vgl. Kaps 1990, Titel). Dies bringt eine Steigerung der Literarizität in den Comics mit sich, die schließlich auch avancierte Comics für Kinder und Jugendliche ermöglicht. Gänzlich anders verläuft die Entwicklung in der DDR. Spätestens ab Mitte der 1950er Jahre ist es Parteilinie in der DDR, dass sich alle Druckerzeugnisse hinsichtlich ihrer ideologischen Verwertbarkeit für eine Veröffentlichung ›eignen‹ müssen (vgl. Lettke mann/Scholz 1995, 14). Allerdings sind Comics und
insbesondere Sprechblasen als Ausdruck westlicher ›Primitivkultur‹ in der SED verpönt (vgl. ebd., 3), weswegen Comics im offiziellen Sprachgebrauch als ›Bildgeschichten‹ bezeichnet werden (vgl. Kramer 2006, Sp. 951). Ähnlich wie Fix und Foxi in Westdeutschland konnten sich dennoch ab den 1950er Jahren auch Kinder- und Jugendzeitschriften mit Comics in der DDR etablieren. Unter der Aufsicht der FDJ entstanden, entwickelten die Comics in Atze (1955–1991), FRÖSI (1953–1991) und Mosaik (seit 1955) einen deutlichen Einfluss auf Kindheit und Jugend in der DDR (vgl. ausführlich Kramer 2002 und Lettkemann/Scholz 1994). Für den Bereich der aktuellen Kindercomics hat hierbei vor allem das Mosaik eine gewisse Relevanz, da es nach wie vor erscheint und eine umfangreiche Stammlesendenschaft besitzt. 1990er Jahre Neben dem sich konsolidierenden Albenmarkt sind im Mainstream der 1990er Jahre insbesondere zwei wichtige Entwicklungen zu beobachten. Einerseits zeigt der Boom von Superheldencomics in den USA auch hierzulande seine Auswirkungen mit einer vermehrten und diversifizierten Publikation von Heftserien, andererseits können sich Mangas erstmals auf dem Markt etablieren und neue Lesendenschichten erreichen. Jenseits dieser populären Erscheinungsformen finden in dieser Zeit jedoch Entwicklungen statt, die Nachwirkungen bis auf den heutigen Comicmarkt haben. Die sogenannte ›Comic-Avantgarde‹ entsteht im Nachwende-Berlin und setzt sich aus Zeichnern sowohl aus Ost und West zusammen. In den Arbeiten und Kooperationen werden neue Erzählverfahren mit neuen Themen und Publikationsformaten ausgelotet (vgl. Giesa 2015, 147). Zahlreiche Angehörige dieser losen Gruppe arbeiten mittlerweile als Dozenten an Kunsthochschulen und sind so an der Ausbildung der aktuellen Comiczeichner beteiligt (gewesen). 2000er Jahre »Kinder lieben Comics« ist auf einem aktuellen Werbeflyer des Reprodukt Verlags aus Berlin zu lesen. Der Verlag bewirbt damit seinen 2013 begründeten Zweig mit Kindercomics und spielt mit seiner Werbung auf das weitverbreitete Vorurteil an, Comics seien per se eine kinderliterarische Erzählform. Doch kann am Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts überhaupt nicht mehr davon ausgegangen werden,
25 Comic, Manga und Graphic Novel
dass Comics unter Kindern und Jugendlichen eine weit verbreitete Lektüre sind. Zum einen ist die Branche weit von den Millionenauflagen der 1950er und 1960er Jahren entfernt und zum anderen hat eine deutliche Ausdifferenzierung des Angebots an Kindermedien stattgefunden, mit denen auch die Comics konkurrieren. Die aktuellen KIM- (2016) und JIMStudien (2017) liefern jeweils Zahlen, in welchem Umfang Comics überhaupt noch gelesen werden: Für die 6- bis 13-Jährigen wird festgestellt, »38 Prozent lesen mindestens wöchentlich Comics« (KIM 2016, 11), während dies bei den 12- bis 19-Jährigen nur noch 20 Prozent machten (vgl. JIM 2017, 40). Wobei in der JIM-Studie Comics gemeinsam mit dem Zeichentrickfilm abgefragt wurden, der tatsächliche ComicKonsum also noch deutlich niedriger angesetzt werden dürfte. Des Weiteren kann aufgrund des undifferenzierten Frageprofils angenommen werden, dass Comics bei den Kindern und Jugendlichen eher eine Gelegenheitslektüre ausmachen und nicht eine präferierte Erzählform darstellen.
25.4 Typologien Auf dem aktuellen Comicmarkt lassen sich unterschiedliche Erscheinungstypen von Comics ausma chen. Alben, Graphic Novels u. a. haben eine unterschiedlich starke Verbreitung auf dem Markt. Die vorherrschenden Formen werden im Folgenden näher betrachtet. Zeitschriften Der bereits beschriebene sinkende Stellenwert des Comics bei Kindern und Jugendlichen stellt sich auch konkret in Auflagenzahlen dar. In seiner populärwissenschaftlichen Untersuchung Deutschsprachige Kinder- und Jugendzeitschriften stellt Peter Lukasch fest: »Der Anteil der allgemein für Kinder bestimmten Comichefte ist im Vergleich zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts noch deutlich reduziert worden.« (Lukasch 2010, 384) Selbst Micky Maus hat einen Verbreitungsgrad von deutlich unter 100.000 Exemplaren erreicht (vgl. ivw). Im Vergleich dazu erscheinen etwa die Kindercomics von Reprodukt in einer Auflagenhöhe von »jeweils ein paar Tausend« (Wirsching 2013), also beinahe schon in einer Limitierung. Somit ist festzustellen, dass Comics für Kinder ihren größten Verbreitungsgrad in Zeitschriften haben. Neben wenigen Titeln wie der bereits angesprochenen Micky Maus
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stellen dabei Periodika, die im Medienverbund erscheinen, das Gros dieser Publikationen dar. Bekannte Beispiele sind hierbei etwa Serien aus dem Hause Disney oder das recht erfolgreiche LEGO-Franchise. Von früher wöchentlichen Erscheinungsrhythmen ist die Branche mittlerweile weitestgehend auf eine monatliche Erscheinungsweise umgestiegen (vgl. Dolle-Weinkauff 2012, 320). Ästhetisch und erzählerisch handelt es sich hier um im besten Sinne »Massenzeichenware« (Drechsel/Funhoff/Hoffmann 1975), die zügig für die sich schnell wandelnden Trends auf dem Medienmarkt produziert werden müssen. Manga Relativieren muss man diese Ausführungen hinsichtlich einer Comicspielart, die seit der Jahrtausendwende für einen massiven Umbruch in der deutschsprachigen Comiclandschaft gesorgt hat: Die Rede ist von den japanischen Manga. Seit den späten 1990er Jahren erscheinen die in japanischer Leserichtung (von rechts nach links) publizierten Taschenbücher vermehrt auf dem deutschen Markt und stellen für diesen das derzeit erfolgreichste Segment dar. Insbesondere die gegenläufige Leserichtung stellt für die Mangaleserinnen – denn in der Mehrheit handelt es sich um weibliche Jugendliche – ein formales Alleinstellungsmerkmal dar (vgl. Berndt 2014, 49–50). Es handelt sich hierbei eben nicht, so das Argument, um Comics, sondern um Manga. Manga lassen sich aus westlicher Perspektive als ›Comics aus Japan‹ begreifen (vgl. Brunner 2010, 12). Die eingeschränkte Auswahl der hierzulande als Übersetzungen erscheinenden Titel erlaubt eine solche vereinfachende Kategorisierung auch für eine stilistische Beschreibung: Demnach handelt es sich bei Manga um schwarz-weiß gezeichnete Geschichten mit cartoonesken Figurenzeichnungen und einem Verzicht auf detaillierte Hintergründe (vgl. Berndt 2014, 49–50). Es scheinen gerade diese Merkmale zu sein, die für die Rezipienten einen äußerst kreativen Umgang mit den Manga ermöglichen. Jaqueline Berndt fasst diese denn auch eher als user denn als reine Leser auf (vgl. ebd.). Geprägt ist auch hier der komplexe Zugriff auf die Geschichte aus einem Medienverbund von Animes und Games heraus. Im Sinne eines Prosumers erfolgt die Aneignung durch etwa »fan art, Online-Kommentare und Cosplay« (ebd.). Insbesondere das Cosplay, also das Verkleiden im Stile bevorzugter Figuren, hat dabei ein deutlich Gemeinsamkeit stiftendes Element. Dieser hohe Grad an In-
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IV Medien – A Buch
sich dabei noch in zahlreiche Subgenres wie Abenteuer-, Science Fiction- oder Sportmanga für Jungen bzw. Fantasy- und Magical Girl-Manga für Mädchen. Auffällig ist schließlich, dass es gerade die weiblichen Leserinnen von Manga sind, die transgressiv auch ›fremde‹ Genres rezipieren (vgl. Berndt 2014, 51). Durch die bereits angesprochene prosumentische Aneignung kommt es hierbei immer wieder zu Umschreibungen und Umdeutungen in den Figurenkonstellationen in der Form, dass sich in Fanpublikationen etwa die zwei männlichen Antagonisten ineinander verlieben. Seit den 1980er Jahren hat sich hieraus das Subgenre des boys love herausgebildet. In den Erzählungen homoerotischer Beziehungen zwischen zwei männlichen Figuren werden allerdings stereotype Paarprobleme verhandelt und die an Leserinnen adressierten Manga dienen als Projektionsfläche für die eigenen Beziehungskonflikte (vgl. Eckstein 2014, 164; Berndt 2014, 52). Kindercomics
Abb. 25.1 Seite aus Royal Lip Service
volviertheit stellt dabei auch die Grundlage für den teils sehr lang anhaltenden Erfolg einzelner Serien dar. Manga werden oftmals noch stärker als Comics als homogenes Genre begriffen, was jedoch diesen, wie auch den Comics, in keiner Weise gerecht wird. In Japan selbst erscheinen Manga in erster Linie serialisiert in einem hochdifferenzierten Zeitschriftensystem. Grob gliedern diese sich nach Alter, Geschlecht und Lesevorlieben. Die beiden wirkmächtigsten Genres für den kinder- und jugendliterarischen Bereich sind dabei shōjo manga für Mädchen und shōnen manga für Jungen. Stellvertretend für den Erfolg der Manga in diesen beiden Genres lassen sich Dragon Ball (1997) von Akira Toriyama und Sailor Moon (1998) von Naoko Takeuchi benennen. Die beinahe gleichzeitige Ausstrahlung der auf den Mangavorlagen basierenden Animeserien hatte einen umfangreichen Erfolg bei den jugendlichen Rezipienten. Diese Form geschlechtlicher Zuordnungen und heteronormativer Ausprägung liegt an der ursprünglichen Publikation in japanischen Mangazeitschriften, von denen lediglich die erfolgreicheren Serien dann in Taschenbuchform gesammelt werden. Shōnen und shōjo gliedern
Neben Zeitschriften und Manga existiert auch eine kleine Nische mit Kindercomics. Diese »Königsdisziplin Kindercomic« (Schikowski 2010, 12) bietet ästhetisch und erzählerisch häufig sehr avancierte Geschichten, die im kinderliterarischen Segment auch durch den Erfolg der sogenannten Graphic Novel ermöglicht wurden. Diese Entwicklung lässt sich etwa auch anhand der Nominierungen von Comics für den Deutschen Jugendliteraturpreis ablesen. So wurden im Jahr 2010 Ma maman est en Amérique, elle a rencontré Buffalo Bill (Meine Mutter ist Amerika und hat Buffalo Bill getroffen, franz. 2007; dt. 2009) von Émile Bravo, Such dir was aus, aber beeil dich (2009) von Nadia Budde und drüben! (2009) von Simon Schwartz in unterschiedlichen Sparten nominiert. Alle drei Titel erscheinen in einem Buchformat, adaptieren also den erfolgreichen Graphic-Novel-Trend. In der Folge versuchen die Kinderbuchverlage vereinzelt, ebenfalls Comics in ihren Programmen zu etablieren, jedoch mit unterschiedlichem Erfolg. Erfolgreich waren dabei insbesondere Comicadaptionen von kinderliterarischen Klassikern wie etwa Isabel Kreitzens Comics der Kinderbücher von Erich Kästner (vgl. Giesa 2014). Der Zeichnerin gelingt es in Anlehnung an die Titelillustrationen Walter Triers, eine eigene Bildwelt zu den beliebten Kinderbuchfiguren zu entwerfen und die Geschichten erzählerisch behutsam zu ›entstauben‹. Es ist sozusagen dieser Umweg über das Qualitätssiegel der Namen etablierter Kinderbuchautoren,
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Abb. 25.2 Seite aus Pssst!
der schließlich auch zur erfolgreichen Publikation originärer kinderliterarischer Comics führt. So deckt etwa Reprodukt von der Reihe Petit Poilu (Kleiner Strubbel, franz. seit 2008; dt. seit 2013) von Céline Fraipont und Pierre Bailly bis zu Sandra Brandstätters Paula: Liebesbriefe des Schreckens (2016) den gesamten kinderliterarischen Bereich vom Kindergarten bis zur frühen Sekundarstufe ab. Im Verlag Peter Hammer liegt mit der Coming-of-Age-Geschichte Pssst! (2016) von Annette Herzog und Katrin Clante einer der avanciertest gestalteten Comics der letzten Jahre vor. In einem komplexen Geflecht aus Collagen, Sachillus-
trationen und traditionellen Comicseiten erschaffen die Künstlerinnen eine beeindruckende Bildwelt für die psychologischen Unsicherheiten während der Pubertät (vgl. Giesa 2019). Während solche Arbeiten jedoch hierzulande nach wie vor Ausnahmeerscheinungen bleiben, hat in den USA eine regelrechte »Youth-Comics Explosion« (Riesman 2017) stattgefunden. Aufgrund demographischer Wandlungen richtete sich der Comicmarkt dort immer stärker an ein erwachsenes Publikum, während Kindercomics beinahe gänzlich verschwunden waren. Doch seit den späten 2000er Jahren etab-
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lierten Bibliotheks- und Lehrerverbände die in die entstehenden Lücken drängenden Comics für Kinder und Jugendliche von Kleinverlagen durch die Aufnahme in Empfehlungslisten und Rezensionen (vgl. Mazur/Danner 2014, 301). Dieses ›Goldene Zeitalter‹ (vgl. ebd.) wurde jedoch sowohl jenseits als auch diesseits des Atlantiks durch als Adoleszenzcomics zu bezeichnenden Erzählungen vorbereitet bzw. begleitet (vgl. dazu Giesa 2015). Diese oftmals autobiographischen Erzählungen der eigenen Jugendzeit wie etwa Craig Thompsons Blankets (engl. 2003; dt. 2004) waren adressatenunspezifisch in kleinen Comicverla gen erschienen, wurden jedoch oftmals auch jugendliterarisch rezipiert. Die damit einhergehende Erkenntnis ist, dass graphische Erzählungen neben den gemeinhin mit Comics assoziierten Superheldengeschichten genuin jugendliterarische Themen anzubieten haben. Dabei gelingt ihnen, wie in Pssst! oder auch Blankets, oftmals eine Visualisierung von inneren Prozessen, wie man sie in der traditionellen Adoleszenzliteratur nicht kennt. Dabei sind zahlreiche dieser Comics, wie etwa Raina Teglemeiers Kindheitserzählungen wie Smile (engl. 2010; dt. 2013), auch auf Deutsch erschienen, wurden bisher jedoch noch nicht im Umfeld von Kinder- und Jugendliteratur rezipiert. Digitale Comics Ein in der Forschung zu Jugendcomics bisher kaum betrachtetes Segment stellen digitale Comics bzw. Webcomics dar. Dabei findet sich in digitalen Comics
eine ähnliche Themenvielfalt wie in Printcomics. Ein Schwerpunkt liegt jedoch in autofiktionalen und Alltagserzählungen. Für die Rezeption digitaler Comics stehen neben Onlineplattformen wie http://www. animexx.de oder http://www.mycomics.de, die über den Browser angesteuert werden, auch mobile E-Comic-Reader wie comiXology zur Verfügung. Die Comics werden dabei wie in vergleichbaren E-Readern über eine Menüleiste ausgewählt und können dann mobil gelesen werden. Das Leseverhalten wird dabei allerdings grundsätzlich verändert: Überblicksartig steht lediglich eine Seite zur Verfügung, die automatische gleitende Lektüre erfolgt dann Panel für Panel (vgl. Hammel 2014, 76–78). Im Unterschied dazu stehen Webcomics: Ihrem unklaren Status neben zahlreichen Fancomicproduktionen, vor allem auch aus dem Manga-Bereich, dürfte geschuldet sein, dass Webcomics bisher noch wenig akademische Aufmerksamkeit erhalten haben. Doch finden Jugendliche in etwa in Blogs publizierten Comics genau die Möglichkeiten der Aneignung und Teilhabe, die Manga im Vergleich zu westlichen Comics interessanter erscheinen lassen und die insbesondere auch den großen Reiz des Internets in seiner Gesamtheit ausmachen. Neben zumeist the matisch orientierten Webcomics, z. B. der Technologie-Humor-Strip XKCD, stellen autobiographische Comicblogs einen großen Teil der Webcomics dar. Stilprägend war hier James Kochalkas American Elf, der 14 Jahre lang (1998–2012) einen täglichen Comicstrip über seine Erlebnisse führte. Kochalka konnte mit seinen Strips eine umfangreiche internationale
Abb. 25.3 Wormworld Saga
25 Comic, Manga und Graphic Novel
Lesendenschaft aktivieren, die sich auch immer wieder an Diskussionen in den Kommentarspalten beteiligte und das Comicblog so zu einem sozialen Handlungsraum werden ließ. Auch deutschsprachige Zeichner versuchten sich an diesem Format. Neben Flixens Heldentage (2007) ist besonders Sarah Burrinis Das Leben ist kein Ponyhof (2006) umfangreicher rezipiert worden. Wie auch bei Kochalka hat sich jeweils eine kleine Community um die Blogs gebildet, wodurch diese teils stark mit der Blogosphäre vernetzt werden. Während diese Geschichten an ein unspezifisches (post-)adoleszentes Publikum adressiert sind, handelt es sich etwa bei der Wormworld Saga (ab 2010) von Daniel Lieske thematisch um einen klassischen Zwei-Welten-Fantasy-Abenteuer-Comic mit einer kindlichen Hauptfigur. Formal-ästhetisch stellt sich Lieskes Webcomic auch anders als die zumeist eher einem klassischen Stripformat angelehnten Comics dar: Die jeweiligen Kapitel werden nicht panelund seitenweise präsentiert, sondern auf einer ›unendlichen Leinwand‹ (vgl. McCloud 2001, 204–208). Durch kontinuierliches Scrollen folgt man der Handlung von oben nach unten, bis das Ende des Kapitels erreicht ist und für das nächste Kapitel eine neue Seite geladen werden muss.
25.5 Narratoästhetik Neben der offensichtlichen Tatsache, dass Comics aus Bildern und Schrift bestehen, gibt es einige Elemente, die einen Comic als solchen klassifizierbar machen. Die zentrale Bildeinheit auf der Seite ist das zumeist mit einem Rahmen versehene Panel, darin der Blocktext als Ort der Erzählerrede sowie die Sprechblase als Ort der Figurenrede. Während Blocktext und Sprechblase optional sind, ist das Panel Bestandteil aller Comics; von künstlerisch-abstrakten Formen abgesehen, die dies bewusst umgehen. Das Panel ist im Comic die kleinste zeitliche Einheit, in der Folge mehrerer Panels ergibt sich eine Handlung. Dabei muss im Rezeptionsprozess der sogenannte Rinnstein – die Lücke zwischen den Panels – geschlossen und zur Handlung verknüpft werden. Dass diese Vorgänge weitestgehend tatsächlich in dieser Form ablaufen, hat zuletzt ausführlich Lars C. Grabbe gezeigt, der darauf hinweist, »dass sich Zeichenstrukturen und Zuordnungsvorschriften explizit im Akt der Wahrnehmung konstituieren können« (Grabbe 2016, 71). Gemeinhin wird in Bezug auf Comics davon gesprochen, man lese diese. Dies wirft jedoch die Frage
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nach der Rezeption der Bilder in den Comics auf. Zumindest diese müssten ja doch betrachtet werden. Tatsächlich ist die Verknüpfung von Bild und Text in den Comics so geartet, dass Bilder auch ›gelesen‹ und Schrift auch ›betrachtet‹ werden muss. Neil Cohn spricht in diesem Zusammenhang von einer ›visuellen Sprache‹, der sich Comics bedienten (vgl. Cohn 2013, 2). Die Modalitäten dieser Sprache dienten der Bedeutungserzeugung und verwendeten dabei eine Art eigener Grammatik (vgl. ebd.), wie jegliche andere Sprache auch. Die Verwendung dieser Sprache, also die Möglichkeiten, eine Comicseite durch die Gestaltung der Seitenarchitektur zu planen, hat Einfluss auf den Rezeptionsprozess und trägt damit auch zur Ästhetik der Comics bei. Zur Analyse der daraus resultierenden umfangreichen Darstellungsmöglichkeiten (Ebene des ›Wie‹) in den Comics ergeben sich einige medienspezifische Parameter, während für die Untersuchung des Dargestellten (Ebene des ›Was‹) auf bestehende kulturtheoretische Verfahren zurückgegriffen werden kann. Neben dem Zeichenstil, stellen sich Fragen nach dem Seitenlayout, etwa auch im Zusammenhang mit der Zeitstruktur und der Raumgestaltung. Die Konstitution der Bild-Text-Verknüpfung hat eine große Relevanz für die Anlage der Erzählhaltung (vgl. Giesa 2014; Abel/Klein 2016).
25.6 Inter- und transmediale Aspekte Neben den bereits angesprochenen Literaturadaptionen finden sich bisher nur wenige mediale Verstrickungen zwischen Comics und Kinderliteratur, Gleiches lässt sich für den Bereich des Digitalen festhalten. Während insbesondere im Bereich des Superheldengenres der Comic sich transmedial verselbstständigt hat – hier sei nur verwiesen auf die Blockbusterfilme, die zunehmende Zahl an Serienadaptionen sowie zahlreiche erfolgreiche Computerspieladaptionen – sind solche Beobachtungen im Bereich der Kinderund Jugendcomics eher selten; quasi nicht existent, wenn man nur deutschsprachige Comics betrachtet. Dennoch finden sich mit den Adaptionen von The End of the F***ing World (2013), Hilda (engl. seit 2010; dt. seit 2013) und I Kill Giants (2008–2009) Serien bzw. Filme, die auf Comics für eine jugendliche Lesendenschaft basieren. Auch in Deutschland teilweise erfolgreich war darüber hinaus die Filmadaption von Brian Lee O’Malleys mangaesker Comicserie Scott Pilgrim (2010). Generell kann man für die Mangas festhalten,
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IV Medien – A Buch
dass hier eine Rezeption sehr häufig im Medienverbund erfolgt. Damit ist gemeint, dass bei einer Vielzahl Manga-Reihen gleichzeitig eine Veröffentlichung als Trickfilmserie (Anime) erfolgt, so sie denn vorliegen. Für den Medienverbund im Umfeld von Kinder- und Jugendcomics ist somit der Bereich der audio-visuellen Medien der wichtigste, wobei im Bereich der Lizenzprodukte in den Kinderzeitschriften bereits auch schon Erzählstoffe finden, die ebenfalls als Games vorliegen. Literatur
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Felix Giesa
B Film, Fernsehen, Computerspiel 26 Film 26.1 Einleitung Der Kinder- und Jugendfilm ist nicht nur der neben dem Bilderbuch wohl wichtigste intermediale Bezugspartner der Kinder- und Jugendliteratur im 20. Jahrhundert, sondern hat sich längst als eigenständige Erzählform für Kinder und Jugendliche etabliert. Auf eine Begriffsdefinition, die sich aus sowohl außertextlichen wie innertextlichen Perspektiven (vgl. Maiwald/Meyer 2016, 2–4) einer definitorischen Bestimmung des Kinder- und Jugendfilms nähert, folgt eine Darstellung seiner Entwicklung in Schlaglichtern seit 1945. Ein typologischer Überblick beschreibt Gattungen und Genres des Kinder- und Jugendfilms und bestimmt diesen als Hypergenre des Allgemeinfilms. Hierauf folgt eine kurze Darstellung der narratoästhetischen Erzählmuster des Mediums, dabei steht insbesondere die Auralität, die Verschränkung von Bild und Ton, im Fokus. Abschließend werden inter- und transmediale Aspekte des Kinder- und Jugendfilms exemplarisch skizziert.
26.2 Begriffsdefinitionen Einen definitorischen Konsens darüber, was Kinderfilme oder Jugendfilme sind, gibt es bisher nicht. Dies liegt darin begründet, dass es nicht die eine Definition gibt, je nach Perspektive und Definitionskriterien fällt diese anders aus. Eines ist allen Definitionen jedoch gemein: Kinder- und Jugendfilme werden in der Regel von Erwachsenen für Kinder und Jugendliche produziert; nur bei wenigen Filmen unterstützen Kinder und Jugendliche die erwachsenen Filmschaffenden oder nehmen Funktionen hinter der Kamera ein.
Handlungsorientierte Perspektive Bei dem Set der Definitionen unter dieser Perspektive fungieren jeweils kommunikative, filmbezogene Handlungen als Ausgangspunkt: Unter Rückgriff auf die an der Systemtheorie orientierten Kinder- und Jugendliteraturforschung (vgl. Ewers 2012, 2011) dienen diese Handlungen als korpusbildende Merkmale. Die erste dieser Definitionen versteht unter Kinder- und Jugendfilmen »die Gesamtheit der von Kindern und Jugendlichen rezipierten Filme« (Kümmerling-Meibauer/Kloebner 2010, 12). Die Entscheidung, einen bestimmten Film zu rezipieren, gilt dabei als korpusbildendes Merkmal. Entsprechend werden als ›faktische Kinder- und Jugendfilme‹ diejenigen Filme bestimmt, die von Kindern und Jugendlichen freiwillig außerhalb des Schulunterrichts und auch nicht in Begleitung zu diesem tatsächlich konsumiert werden (vgl. Ewers 2012, 15). Beispiele für Filme dieses Korpus sind Werke, die gemeinhin als Kinder- und Jugendfilm identifiziert werden, etwa ENTE GUT! Mädchen allein zu Haus (Lechner 2016) oder der »erste Western-Autorenfilm« (Hembus 1977, 630) Tschetan, der Indianerjunge (Bohm 1972), Adaptionen von Bilderbüchern wie Jumanji: Willkommen im Dschungel (Jumanji: Welcome to the Jungle, Kasdan engl.; dt. 2017) und Kinderbüchern wie Hände weg von Mississippi (Buck 2007) oder Animationsfilme wie Ralph reicht’s 2: Chaos im Netz (Ralph Breaks the Internet, Moore engl. 2019; dt. 2018). Zu dem Korpus gehören aber auch Filme, die sich an ein erwachsenes Publikum richten und von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) nicht für Kinder und Jugendliche freigegeben sind, von diesen aber trotzdem konsumiert werden. Einen weiteren Korpus bilden diejenigen Filme, die für Kinder und Jugendliche empfohlen werden – zum ›intendierten Kinder- und Jugendfilm‹ zählen demnach die Filme, die von Erwachsenen als für Kinder und Jugendliche geeignet angesehen werden. Es handelt sich teils um empfohlene, teils um für Kinder und
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_26
26 Film
Jugendliche eigens produzierte Filme (vgl. Ewers 2012, 15). Das korpusbildende Merkmal ist hierbei die Empfehlung, die Verfügung bezüglich der potentiellen Filmverwendung. Im Gegensatz zu den ersten beiden Definitionen, bei denen die Merkmale zielgruppenorientierte Verwendungen (Rezeption, Empfehlung) bereits existenter Filme darstellen, geht die filmbezogene Handlung beim ›originären‹ oder ›spezifischen Kinder- und Jugendfilm‹ der Hervorbringung des Films voraus: Unter dieser Definition werden eigens für Kinder und Jugendliche produzierte Filme verstanden; diese umfassen all die Filme, die seitens der Filmschaffenden als potentielle Kinder- und Jugendfilme gedacht waren (vgl. ebd., 19). Die Filme dieser Definition können unterschieden werden in Filme, die sowohl eigens für Kinder und Jugendliche als auch eigens für das Medium Film entwickelt wurden – und in Filme, die sich zwar gleichfalls an Kinder und Jugendliche richten, deren Grundlage aber Prätexte in anderen Medien darstellen. Zwar gehören zu diesen auch Adaptionen von Computerspielen wie zuletzt Angry Birds – Der Film (The Angry Birds Movie, Keitis/Reilly engl.; dt. 2016) oder Ratchet & Clank (Munroe engl.; dt. 2016), zu den »umsatzstärksten Einnahmequellen in der Branche« (Hoffmann 2012, 29) in den letzten Jahren gehören aber vor allem Filmadaptionen von Kinder- und Jugendbüchern. Normative Perspektive Im Gegensatz zu den ersten Definitionen steht bei den normativen Definitionen nicht die kommunikative Handlung, sondern die Beschaffenheit eines Filmes in formaler und inhaltlicher Hinsicht im Mittelpunkt: Kinder- und Jugendfilme, so schreibt Steffen Wolf, nehmen »besondere Rücksicht« auf »Verständnis, Auffassungsvermögen und Bedürfnisse« (Wolf 1984, 176) ihrer Rezipienten. Kriterium für die Bestimmung eines Kinder- und Jugendfilms ist damit die Kinderund Jugendgemäßheit, die Frage also, ob sich ein Film für Kinder und Jugendliche eignet. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, warum die meisten Kinder- und Jugendfilme einem ähnlichen dramaturgischen Grundmuster folgen und Motive, Stoffe und Themen behandeln, die der Welt der Rezipienten entstammen. So finden sich in vielen Kinder- und Jugendfilmen Motive wie z. B. der Protagonist als Außenseiter; ein Motiv, das oftmals mit der Elternferne des Protagonisten und/oder dem Mo-
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tiv des fremden Kindes einhergeht. Werden auch viele Themen und Motive des Kinderfilms im Jugendfilm aufgegriffen, behandelt Letzterer vor allem solche, die in der Adoleszenz von Bedeutung sind: Ausbildung der (geschlechtlichen) Identität, erste Liebe, Sexualität, Ablösung von den Eltern. Altersstufenbezogene Perspektive Ein anderes Kriterium für die Bildung von Kinderund Jugendfilmkorpora stellt das jeweilige Alter der Adressaten dar. Was für Kinder- und Jugendbücher gilt, gilt auch für Kinder- und Jugendfilme: So werden im deutschsprachigen Raum Altersstufengliederungen verwendet, die zumeist einen Abstand von zwei Jahren nutzen. Teilweise werden die Altersstufen nach den jeweils besuchten Bildungsinstitutionen definiert (Kindergarten-, Vorschul- und Grundschulfilm). Kombiniert werden die Altersangaben oft mit Angaben des Geschlechts der Adressaten, was in besonderer Weise für Mädchen gilt. Im Fokus des Folgenden steht als Gegenstand der originäre Kinder- und Jugendfilm – hierbei wird zwischen Kinderfilm und Jugendfilm unterschieden; ausschlaggebend für die Zuordnung ist dabei das Alter der impliziten Rezipienten, der Rezipienten also, die Filmschaffende bei der Produktion des Filmtextes in ihrer Rolle als solche mitgedacht und berücksichtigt haben. Für den Kinderfilm veranschlagen wir ein Alter bis etwa zwölf Jahren, für den Jugendfilm ab etwa zwölf Jahren. Ausschlaggebend für diese Differenzierung ist entwicklungspsychologisch die Adoleszenz, jene maßgeblich soziokulturelle Phase, die den langwierigen Prozess der Integration in die Welt der Erwachsenen meint. Die besondere Komplexität dieses Prozesses liegt sowohl im »Mit- und Gegeneinander« (Gansel 2005, 360) von physischen, psychischen und sozialen Abläufen als auch darin begründet, dass er unter postmodernen Bedingungen zu einer »Lebensphase eigener Form und eigener selbsterlebbarer Qualität« (Hurrelmann 1995, 50) wird. Inhaltlich unterscheidet sich der Kinder- vom Jugendfilm durch die bereits skizzierten Themen und Motive, die sich im Kontext von Entwicklungsaufgaben bewegen, wie sie z. B. u. a. Robert J. Havighurst für die Adoleszenz benannt hat. Auch der Family Entertainment Film zählt zum Gegenstand. Als All-Age-Phänomen nimmt er zwar eine Sonderstellung ein, richtet sich aber nichtsdestotrotz maßgeblich an sowohl Kinder als auch Jugendliche.
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IV Medien – B Film, Fernsehen, Computerspiel
Family Entertainment Film Über Kinder und Jugendliche hinaus spricht der Family Entertainment Film auch Erwachsene an: Für den Kinder- und Jugendfilm sind Letztere Vermittler oder ›Mitseher‹, welche die filmischen Bedürfnisse der Kinder als Zielpublikum erkennen und in eine entsprechende Filmauswahl umsetzen; für den Family Entertainment Film sind Erwachsene hingegen nicht nur auch, sondern im Besonderen Rezipienten. In Anlehnung an Ulf C. Knoepflmachers und Mitzi Myers’ Begriff des Crosswriting (vgl. Knoepflmacher/ Myers 1997, VII–XVI), der das Überschreiten der Grenze zwischen Kinderliteratur auf der einen und Erwachsenenliteratur auf der anderen Seite markiert, kann in diesem Kontext von Crossfilming (vgl. Kümmerling-Meibauer 2010, 14) gesprochen werden: Family Entertainment Filme sind mehrfachadressiert, sprechen neben den Kindern und Jugendlichen also weitere Adressaten wie Erwachsene an und sind zugleich doppelsinnig. Letzterer Begriff meint, Ewers folgend und hier von der Literatur auf das Medium Film übertragen, das Angebot unterschiedlicher Rezeptionsarten, einer exoterischen für Kinder und Jugendliche und einer esoterischen für Erwachsene: »Während sich den ›Alten‹ die Textbotschaft in ihrer ganzen Bedeutung erschließt, bleibt für die kindlichen Leser so manches unverständlich. Der Text ist jedoch so geschaffen, daß es dem kindlichen Rezipienten möglich ist, über das ihm Unbegreifliche hinwegzugleiten, so daß es zu keinem Abbruch der kindlichen Lektüre kommt. Die betreffenden Signale sind so gestaltet, daß sie der kindlichen Aufmerksamkeit entgehen oder ohne Beeinträchtigung des kindlichen Leseerlebnisses übersprungen werden können. Einem Text, der die kindliche Fassungskraft übersteigt, muß dennoch die Möglichkeit einer kindlichen Lektüre eingeschrieben sein, wenn Kinder zu seinen Lesern zählen sollen.« (Ewers 2000, 123; s. Kap. 1)
Verwirklicht werden diese Lesarten vor allem über intra- und intermediale Codierungen, über die der Filmtext im Schnittpunkt anderer Texte, zu denen er in Beziehung steht, positioniert ist (vgl. hierzu Mikos 2015, 264–275): So finden sich in vielen Family Entertainment Filmen Verweise auf andere Texte, deren Realisierung dem zumeist erwachsenen Rezipienten neue Bedeutungshorizonte eröffnet, mit denen ein Vergnügen am Filmtext einhergeht. Diese Verweise werden über den Filmtext moti-
viert, aber »in der Interaktion zwischen Text und Leser, seinen Kenntnismengen und Rezeptionserwartungen« (Holthuis 1993, 31) vollzogen. Die (kindlichen) Rezipienten, denen die entsprechende ›Enzyklopädie‹ Ecoscher Prägung fehlt, um die Verweise aufzulösen, können dem Filmtext aber trotzdem Bedeutung zuweisen. Unterscheiden lassen sich diese Verweise, Ulrich Broich und Manfred Pfister folgend, in Einzeltext- und Systemreferenzen: Einzeltextreferenzen sind entweder intra- oder intermedial. Sie nehmen entweder auf einen anderen Filmtext oder auf einen Text in einem anderen Medium Bezug: Das kann ein narrativer Text wie ein Roman oder ein Comic, das kann aber ebenso ein Computerspiel oder ein Gemälde sein. Systemreferenzen sind hingegen Bezugnahmen auf andere semiotische Systeme wie z. B. auf Konventionen filmischer Gattungen, auf Mythen, auf philosophische Systeme oder auch auf Stilrichtungen in der bildenden Kunst (vgl. Broich 1985, 48–52). Dass Texte nicht in einem Vakuum existent sind, ist bereits der klassischen Rhetorik bekannt: Begriffe wie Quelle und Einfluss, Zitat und Anspielung, Parodie und Travestie oder die Adaption entstammen diesem Kontext und beschreiben, erklären oder systematisieren die Relationen zwischen Texten. Seit den späten 1960er Jahren und dem Nachhall dieser Zeit in den 1980er und 1990er Jahren wird das Mosaik der Zitate textkonstitutives Merkmal, werden intra- und intermediale Bezugnahmen zum postmodernen Stilprinzip – was auch für den Family Entertainment Film in und seit den 1990er Jahren gilt. In eben diese Zeit fällt auch die Etablierung und der Ausbau des Genres aus ökonomischer Perspektive: 1992 gründet Warner Brothers, eines der sechs größten Filmunternehmen der Vereinigten Staaten, die Abteilung »Family Entertainment«. Das Resultat sind unzählige Filme wie Dennis (Dennis the Menace, Castle engl.; dt. 1993) oder Space Jam (Pytka engl.; dt. 1996), sind Filmreihen wie Pokémon (1998–2016) und Free Willy (1993–2010). Diese Filme weisen vier ästhetische Merkmale oder Merkmalsbereiche auf, die für den Family Entertainment Film seit den 1990er Jahren charakteristisch sind: Abgesehen von der Intra- und Intermedialität handelt es sich dabei um Selbstreferentialität, Ästhetisierung und Auralität. Durch die spezifische Ausprägung, Kombination und Vernetzung der Merkmalsbereiche lässt sich der Family Entertainment Film bestimmen und von anderen Genres, von anderen Formen filmischen Erzählens, abgrenzen (vgl. Kurwinkel 2017a).
26 Film
26.3 Historische Entwicklungen Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs liegt auch die deutsche Filmproduktion in Trümmern – und damit eine Kinder- und Jugendfilmbranche, die sich mit Filmen wie Hitlerjunge Quex (Steinhoff 1933) oder nur vordergründig harmlosen Heimat- und Unterhaltungsfilmen in den Dienst der nationalsozialistischen Propagandamaschine gestellt hatte. In den Besatzungszonen etablieren die Alliierten nun grundlegend unterschiedliche filmindustrielle Modelle, wobei vor dem Mauerbau 1961 zumindest zwischen den Filmschaffenden beider deutscher Staaten ein regelmäßiger Austausch stattfindet (vgl. Hake 2004, 162 und 185). Während westdeutsche Kinderfilmproduzenten sich den kapitalistischen Wettbewerbsbedingungen der freien Marktwirtschaft anpassen, fast ausschließlich als rentabel geltende Märchenfilme oder familientaugliche Massenware produzieren und zudem viele US-amerikanische Produktionen importieren, etabliert sich in der sowjetischen Besatzungszone innerhalb der 1946 neu gegründeten Deutsche Film AG (DEFA) eine eigene Produktionsstätte, die anfänglich ebenfalls Märchen und Volkssagen adaptiert, sich jedoch auch realistischen Gegenwartsfilmen zuwendet. Beide Filmindustrien knüpfen inhaltlich an Entwicklungen der Vorkriegszeit an, ist der Kinder- und Jugendfilm vor 1945 doch weitgehend gleichbedeutend mit dem Märchen- oder Familienfilm und bietet die Kästner-Adaption Emil und die Detektive (Lamprecht 1931), einer der ersten spezifischen Kinderfilme überhaupt, ein Modell für realistisches kinderfilmisches Erzählen. Die Kinder- und Jugendfilme der DEFA 1950er Jahre
Während der Kinder- und Jugendfilm in der Bundesrepublik zeitweise eine marginale Rolle spielt, stellt er von Beginn an einen integralen Teil des ostdeutschen Filmschaffens, das wiederum den politischen Zielen der sowjetischen Besatzer bzw. ab 1949 des Politbüros der SED verpflichtet ist. Dementsprechend richtet die DEFA im Dezember 1953 eine eigene Produktionsgruppe ›Kinderfilm‹ ein, die für ein Fünftel der jährlichen Gesamtfilmproduktion der DDR zuständig ist (150 von ca. 700 bis 1992 produzierten Kino-Spielfilmen sind Kinder- und Jugendfilme, vgl. Heinke/Rabe 2011, 425). Diese Produktionsgruppe wird erst ab 1970 wieder aufgelöst, Kinderfilme werden fortan bei
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gleichbleibendem Anteil in den anderen Produktionsgruppen realisiert (vgl. Hobsch 1985, 9). Insbesondere zwei Adaptionen von Märchen Wilhelm Hauffs sind auch international erfolgreich: zum einen Das kalte Herz (Verhoeven 1950), zum anderen Die Geschichte vom kleinen Muck (Staudte 1953), der mit weltweit elf Millionen Zuschauern der international erfolgreichste DEFA-Film überhaupt ist und neben der deutsch-tschechischen Ko-Produktion Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (Vorliček 1974) als einziger DEFA-Film in die Kinderfilmkanons des Bundesverbands Jugend und Film sowie der Zeitschrift Kinder und Jugendfilm-Korrespondenz aufgenommen wird. Zudem reflektieren bereits die frühen Kinder- und Jugendfilme der DEFA unter den Vorzeichen des DDRSozialismus die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen, darunter Irgendwo in Berlin (Lamprecht 1946), Die Störenfriede (Schleif 1953), Alarm im Zirkus (Klein 1954) oder Sheriff Teddy (Carow 1957). 1960er und 1970er Jahre
Die Filme der 1960er Jahre bemühen sich vor wie nach dem Mauerbau weitgehend darum, die kollektivistischen Ideale des Sozialismus in den Alltagsge schichten ihrer kindlichen und jugendlichen Hauptfiguren positiv darzustellen. Die DEFA-Filme reflektieren zunehmend offener die gesellschaftliche Wirklichkeit des ›realen Sozialismus‹, ohne dabei die DDR grundsätzlich in Frage zu stellen (vgl. Schenk 1995, 25–26). Dieser Offenheit steuert das Zentralkomitee jedoch ab Mitte der 1960er Jahre entgegen, sodass die Filmemacher in entpolitisierten Alltagsgeschichten Zuflucht suchen, die auch den Kinder- und Jugendfilm der 1970er Jahre dominieren, etwa Männer ohne Bart (Simon 1971), Susanne und der Zauberring (Stranka 1973) oder Blumen für den Mann im Mond (Losansky 1975). 1980er Jahre
Die Kinder- und Jugendfilme der 1980er Jahre wirken teils wie Vorboten der Wendezeit, wie »Roadmovies vor der Mauer« (ebd., 28): Geschichten mit Figuren, die sich auf verschiedene Weise auf einer Reise befinden und ihre Pläne und Träume umsetzen wollen – dabei jedoch scheitern, zugrunde gehen oder irgendwann aufgeben. Prägend für diese Periode sind die Filme des Regisseurs und Drehbuchautors Helmut Dziuba, der neben Adaptionen von DDR-Kinder- und Jugendbüchern auch eigene Stoffe wie das Sozialdrama Sabine Kleist, 7 Jahre... (1982) dreht. Dziuba gerät aufgrund seiner kritischen Gesellschaftsfilme wiederholt
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IV Medien – B Film, Fernsehen, Computerspiel
mit der Zensur in Konflikt, z. B. mit Erscheinen Pflicht (1984), ein Sozialdrama um ein 16-jähriges Mädchen, das nach dem Tod ihres Vaters beginnt, sich kritisch mit den Lebensverhältnissen auseinanderzusetzten. Mit einem Dziuba-Film endet auch die Geschichte des DEFA-Kinder- und Jugendfilms. Unter den kapitalistischen Marktbedingungen nach dem Fall der Mauer ist die DEFA nicht mehr überlebensfähig und wird bis 1992 abgewickelt. Der bereits vor der Wende konzipierte Jugendfilm Jana und Jan (Dziuba 1992) um die Liebesgeschichte zweier in einem Jugendwerkhof internierter Teenager wird 1992 in Ko-Produktion mit dem ZDF veröffentlicht (vgl. ebd., 30 und Röske 2006, 116–118). Der bundesrepublikanische Kinder- und Jugendfilm 1950er und 1960er Jahre
Während die DEFA den Charakter eines Staatskinos annimmt, dafür aber einen stabilen Filmoutput garantiert, müssen sich die westdeutschen Filmemacher unter den Wettbewerbsbedingungen der freien Marktwirtschaft behaupten. Da die Alliierten der westlichen Besatzungszonen sich nicht unmittelbar um den Wiederaufbau der Filmindustrie kümmern, beginnt die Filmproduktion hier verzögert. In der Bundesrepublik entstehen »zwischen 1948 und 1961 [...] 45 lange oder halblange Kinderfilme. 42 dieser Filme waren Verfilmungen von Märchen oder märchenähnlichen Stoffen.« (Pleyer 2006, 3) Die in diesen Zahlen augenscheinliche Dominanz des Märchenfilms im westdeutschen Kinder- und Jugendfilm spiegelt die »restaurative[..] Gesellschaftspolitik« (Heidtmann 2002, 410) der Bundesrepublik der 1950er Jahre ebenso wie die »konservativ-idyllische Filmproduktion« (ebd.). Während das Durchschnittsalter der Märchenfilmbesucher Mitte der 1950er Jahre unter sechs Jahren liegt (vgl. Möbius 2008, 452), wenden sich die bundesdeutschen Jugendlichen lieber anderen Stoffen zu. Fatal ist die Novellierung des Jugendschutzgesetzes: Mit dem Erlass der Neufassung am 27.7.1957 wird Kindern unter sechs Jahren der Kinobesuch generell verboten. Erst 1985 wird das Verbot wieder aufgehoben (s. Kap. 28). Damit werden originäre Kinderfilme unrentabel; der Fokus verlagert sich auf die Produktion von mehrfachadressierten Familienfilmen. Zugleich konkurriert die Filmindustrie mit dem neu eingeführten öffentlich-rechtlichen Fernsehen, was zu einem Zusammenbruch des Kinomarkts führt: Im Zuge der ›Kinokrise‹ schrumpfen die verkauften
Kinokarten von 817 Mio. (1956) auf 442 Mio. (1962) (vgl. Hake 2004, 189). Auch der globale Siegeszug der US-amerikanischen Jugendkultur, verkörpert durch Stars wie Elvis Presley, Marlon Brando oder James Dean, hinterlässt Spuren: Nachgeahmt werden diese in Halbstarkenfilmen wie Endstation Liebe (Tressler 1958) und Die Halbstarken (Tressler 1956) mit Horst Buchholz, Die junge Sünderin (Jugert 1960) oder in Schlagerfilmen wie Wenn die Conny mit dem Peter (Umgelter 1958). Zudem werden die »Kinos [...] die ersten kommerziellen Freizeitorte, die den Jugendlichen [der Nachkriegsjahre] außer Haus Treffpunkte anbieten.« (Schäfer 1995, 33) Nur vereinzelt fällt der Blick auf die NS-Zeit, etwa in Bernhard Wickis preisgekröntem Antikriegsfilm Die Brücke (1959), der das Schicksal von sieben Jungen erzählt, die in den letzten Kriegstagen als Kindersoldaten in Hitlers ›Volkssturm‹ verheizt werden (vgl. ebd., 34). In der Rückschau haben, wie Horst Schäfer schreibt, »die Themen, die sich in den 1960er Jahren verdichteten, [...] ihr Wetterleuchten in den Filmen der 50er: Die unverkrampfte, freie, sinnlich natürliche Erotik [...| und der Protest gegen die Autoritäten [...]. Ein nicht geringer Teil der Rebellion war kommerzialisierbar und damit zähmbar oder korrumpierbar.« (Schäfer 2001, 1) Innerhalb der Filmbranche findet der erste ›revolutionäre‹ Schlag gegen das noch im Nationalsozialismus sozialisierte Establishment bei den Oberhausener Filmfestspielen 1962 statt: Mit dem Oberhausener Manifest leiten junge Filmemacher wie Harro Senft, Alexander Kluge und Edgar Reitz die programmatische Erneuerung des bis dato thematisch wie ästhetisch biederen deutschen Nachkriegskinos ein. Dem Kinder- und Jugendkino schenken die Filmrevolutionäre jedoch keine besondere Beachtung. Dementsprechend behaupten sich Klamauk-Komödien wie die Paukerfilme um die von Franz Seitz produzierten und geschriebenen Lümmel von der ersten Bank (1967– 1972) und Familienprodukte wie die Winnetou-Filme mit Pierre Brice und Lex Barker (1962–1968). 1970er und 1980er Jahre
Hark Bohm, ein Assistent Kluges, initiiert mit Tschetan, der Indianerjunge den ›Neuen Deutschen Kinderfilm‹, der Kinder als Rezipienten ernst nimmt und mit den dramaturgischen Mitteln des Erwachsenenfilms inszeniert. Es folgen Filme wie die Nöstlinger-Adaption Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (Bohm 1974), Nordsee ist Mordsee (Bohm 1976) und die Milieustudie Yasemin (Bohm 1988), einer der ersten Filme, der sich anhand
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einer Liebesgeschichte mit dem Wandel der Bundesrepublik in ein Einwanderungsland beschäftigt. Ansonsten werden vor allem US-amerikanische Hollywood-Produktionen etwa aus dem Hause Disney importiert. Letztere werden so zum eigentlichen Kinderfilm der Nachkriegszeit, darunter auch die in regelmäßigen Abständen wieder gezeigten Klassiker wie Schneewittchen und die sieben Zwerge (Snow White and the Seven Dwarfs, Cottrell/Hand/Jackson u. a. engl.; dt. 1937) oder Das Dschungelbuch (The Jungle Book, Reitherman engl.; dt. 1967) – Letzterer mit über 27 Mio. Zuschauern seit 1967 mit Abstand der erfolgreichste Kinospielfilm überhaupt in Deutschland. Zudem ziehen die bereits Ende der 1960er Jahre gedrehten Adaptionen der Geschichten Astrid Lindgrens die kindlichen Zuschauer an. Das Fernsehen trägt durch die Einführung von Kinderprogrammschienen zunehmend zur Stabilisierung der Kinder- und Jugendfilmindustrie bei und koproduziert bspw. auch Der Räuber Hotzenplotz (Ehmck 1974) oder Die Vorstadtkrokodile (Becker 1977). Derweil benachteiligt die staatliche Filmförderung durch unflexible Förderungsrichtlinien Kinderfilmproduktionen (vgl. Möbius 2008, 455). Als Reaktion darauf bauen Aktivisten wie Horst Schäfer vom Kinder- und Jugendfilmzentrum in Deutschland ein nichtkommerzielles Vertriebssystem auf, das Kinder- und Jugendfilmemachern durch Vorführungen in Jugendzentren und Schulen oder im Rahmen von Filmfestivals und Workshops alternative Einnahmequellen erschließt. Mit den Regie-›Wunderkindern‹ George Lucas und Steven Spielberg beginnt der Siegeszug des Blockbuster-Kinos, der auch Konsequenzen für die deutsche Filmbranche hat. Lucas erkennt mit seiner ersten Star Wars-Trilogie (1977–1983) das Potential der horizontalen Vernetzung von Filmstoffen. Damit ist der Weg zum aktuellen Kinder- und Jugendfilm vorgezeichnet, der von Filmreihen und Medienverbundprodukten wie Bibi & Tina geprägt ist (s. Kap. 3). Der Trend zur Auswertung von Filmprojekten im Medienverbund verstärkt sich in Deutschland zu Beginn der 1980er Jahre – zum einen durch den Start des Privatfernsehens (Sat.1: 1.1.1984, RTL Plus: 2.1.1984), zum anderen durch den Siegeszug der Computerspielkultur, durch den sich mediale Sozialisation, Medienkompetenz, Wahrnehmungsgewohnheiten und Unterhaltungsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nachhaltig verändern. Deutsche Filmemacher wie Bernd Eichinger folgen dem Blockbuster-Trend mit eigenen familientauglichen Großproduktionen. So wird die von Ei-
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chinger produzierte Michael-Ende-Adaption Die unendliche Geschichte (Petersen 1984) zum umstrittensten deutschen Kinder- und Jugendfilm der 1980er Jahre, der Endes philosophisch-mystischen Selbstfindungsroman in ein bildgewaltiges, vergnügungsparkkompatibles Abenteuer-Epos transformiert (vgl. Kurwinkel 2016). Die deutsche Variante des Blockbuster-Modells wird am erfolgreichsten von dem ›Blödelbarden‹ Otto Waalkes verkörpert: Otto – Der Film (Schwarzenberger/Waalkes, 1985) ist mit 14 Mio. Zuschauern in West- und Ostdeutschland auch heute noch der meistbesuchte deutschsprachige Film seit dem offiziellen Beginn der Zuschauerzählung im Jahr 1980. Während die Otto-Filme mit ihrem eher pubertären Humor das Muster für die späteren Klamauk-Komödien von Michael Bully Herbig, Til Schweiger oder Bora Dağtekin liefern, reüssieren die Filme von Arend Agthe eher auf Filmfestivals. Agthe, der in den 1960er Jahren als Regisseur, Autor und Kameramann für Fernsehsendungen wie Sesamstraße und Löwenzahn arbeitet, dreht mit den Abenteuerfilmen Flussfahrt mit Huhn (1983) und Der Sommer des Falken (1988) Klassiker des deutschen Kinder- und Jugendfilms. 1990er und 2000er Jahre
Infolge der Wiedervereinigung verschwindet mit der DEFA eines der im Kinder- und Jugendfilm aktivsten deutschen Studios. Dennoch blüht der deutsche Kinder- und Jugendfilm mittelfristig auf, auch weil sich zunehmend weibliche Filmemacherinnen etablieren: Hermine Huntgeburth dreht Bibi Blocksberg (2002) oder Tom Sawyer (2012), Franziska Buch adaptiert Erich Kästners Emil und die Detektive (2001) neu, wirkt an der Drehbuchfassung von Das fliegende Klassenzimmer (Wigand 2003) mit und widmet sich mit Hier kommt Lola (Buch 2010) der Leinwandadaption von Isabel Abedis Lola-Kinderbuchreihe (seit 2004). Auch Vivian Naefe dreht regelmäßig Familienfilme und Filme für Kinder und Jugendliche, u. a. die Adaptionen der erfolgreichen Buchreihe Cornelia Funkes, Die Wilden Hühner (2006–2009). Die von Uschi Reich produzierte Erich-Kästner-Adaption Pünktchen und Anton (Link 1999) lockt 1,7 Mio. Zuschauer in die Kinos (vgl. Exner 2009, 157), ein Erfolg, der auch aufwändige, wiederum oft auf literarischen Vorlagen beruhende Filme und Filmreihen wie Das Sams (2001–2012) oder Die wilden Kerle (Masannek 2003–2008) ermöglicht. Die Adaptionslastigkeit der Kinder- und Jugendkinolandschaft verstärkt sich gegen Ende der 1990er Jahre im Gefolge internationaler Filmreihen und Me-
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dien-Franchises wie Harry Potter (engl.; dt. 2001– 2011), Twilight (engl.; dt. 2008–2012) oder Die Chroniken von Narnia (The Chronicles of Narnia, engl.; dt. 2005–2010). Zudem erlebt der Animationsfilm durch innovative Studios wie Aardman, DreamWorks, Pixar und Blue Sky ein Revival – und zwar mit überwiegend originären Stoffen wie Ice Age (engl.; dt. 2002–2016), Toy Story (engl. 1995–2019; dt. 1996–2019) oder The LEGO Movie (engl.; dt. 2014, 2019). Parallel dazu beginnt ein vor allem von Tochterfilmen des Disney-Konzerns vorangetriebener Siegeszug von Comicsuperheldenfilmreihen, die als Teil eines transmedialen Erzähluniversums angelegt sind. So besteht das Erzähluniversum der Marvel Film Studios sowohl aus Filmreihen zu einzelnen Superheldenfiguren wie Iron-Man (engl.; dt. 2008–2013) oder Captain America (engl.; dt. 2011– 2016) als auch aus einer Filmreihe um das Superheldenensemble Avengers (engl.; dt. 2012–2019), das den Kern des Franchise bildet (s. Kap. 12). Parallel dazu kauft Disney zum einen die Rechte an George Lucas’ Star Wars-Universum auf, zudem belebt der Erfolg der Hans-Christian-Andersen-Adaption Die Eiskönigin (Frozen, Buck/Lee engl.; dt. 2013) die Animationsfilmabteilung des Konzerns. Der Film löst mit seinen modernisierten Prinzessinnenfiguren einen Medienhype beim kindlichen Kernpublikum aus: die Hauptfiguren Elsa und Anna werden zu Rollenmodellen der Grundschulgeneration (vgl. Schmerheim 2015). Auch die deutsche Kinder- und Jugendfilmindustrie versucht, im Medien- und Produktverbund vermarktbare Filmreihen aufzubauen. Am erfolgreichsten sind sicherlich die Bibi & Tina-Filme von Detlev Buck (2014–2017), die auf Elfie Donnellys Erfolgshörspielen basieren und vor allem ein Mädchenpublikum begeistern (vgl. Kurwinkel 2017b). Auch andere Filme und Filmreihen sind genderspezifisch adressiert, beispielsweise Prinzessin Lillifee (Niebuhr/Simpson/Xu 2009), Liliane Susewind (Masannek 2018) oder die Hexe Lilli-Filme (2009–2017). Kinderfilme, die auf literarischen Prätexten beruhen, sind weiterhin so erfolgreich, dass sie die besucherstärksten deutschsprachigen Filmproduktionen des Jahres 2018 stellen: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (Gansel 2018) mit 1,8 Mio. Zuschauern und Die kleine Hexe (Schaerer 2018) mit 1,5 Mio. Zuschauern (vgl. FFA info 2019). Seit 2012 versucht die Initiative »Der besondere Kinderfilm«, der Dominanz des Adaptionsfilms entgegenzuwirken, indem sie originäre, eigens für das Kino geschriebene Stoffe för-
dert. Aus der Initiative sind preisgekrönte Werke wie ENTE GUT! Mädchen allein zu Haus, Auf Augenhöhe (Goldbrunner/Dollhopf 2016) und Winnetous Sohn (Erkau 2015) hervorgegangen. Seine exponierte Stellung als sozialer Treffpunkt hat das Kinder- und Jugendkino schon längst verloren, doch das audiovisuelle Erzählen ist weiterhin eine der bedeutendsten Mediensozialisationsinstanzen von Kindern wie Jugendlichen. Sie verlagert sich nur zunehmend ins Internet, wo Mediatheken, StreamingDienste und Videoportale wie YouTube um die Gunst der jungen Publikumsgruppen buhlen. Als Reaktion darauf experimentieren Filmproduzenten vermehrt mit Verfahren der »horizontale[n] Vernetzung« (Möbius 2008, 479) des Medienverbunds, wodurch die Grenzen zwischen Kino, Fernsehen und Internet zunehmend verschwimmen.
26.4 Typologien Gattungen Filmgattungen lassen sich als filmische Großformen über »Mod[i] des Erzählens und Darstellens« (Hickethier 2012, 208) bestimmen; grundsätzlich wird dabei zwischen Spielfilm, Dokumentarfilm, Animationsfilm und Mischfilm unterschieden. Kriterium der Differenzierung ist zum einen der Modus des Erzählens, genauer: die Unterscheidung zwischen dem Wirklichkeitsbezug der Filme. Fiktionale Filme wie der Spielfilm erheben keinen Anspruch, an der außersprachlichen Wirklichkeit überprüfbar zu sein – anders bei faktualen Filmen wie dem Dokumentarfilm. Die Grenze zwischen fiktionalen und faktualen Filmen ist dabei nicht absolut (vgl. Hißnauer 2011, 58–60). Hybride Fernsehformate, etwa Scripted Reality-Serien wie Die Super Nanny (RTL 2004–2011) oder PseudoDokumentarfilme wie die Mockumentary Fraktus (Jessen 2012) legen dies nahe: Sie erzählen z. B. mit den narrativen und ästhetischen Mitteln des Dokumentarfilms fiktionale Geschichten, sodass nicht unmittelbar ersichtlich ist, ob es sich um erfundene oder faktische Vorgänge handelt (für eine Übersicht über die zahlreichen Mischformen zwischen faktualen und fiktionalen Filmen s. Kammerer/Kepser 2014, 26). Auch Kinderprogramme wie Die Sendung mit der Maus (seit 1971) oder Sesamstraße (seit 1968) kombinieren fiktionale mit faktualen Elementen. Zum anderen wird der Darstellungsmodus als Kriterium der Differenzierung herangezogen: Realspielfilme wie Ronja Räubertochter (Danielsson 1984), die
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auf tatsächlich mit der Kamera gedrehtes Filmmaterial zurückgreifen, unterscheiden sich in ihrer Darstellung von Animationsfilmen wie Pettersson und Findus – Findus zieht um (Samadi Ahadi 2018) oder Schneewittchen und die sieben Zwerge. Infolge der Digitalisierung des Kinos spielen Mischfilme aus Real- und Animationsfilm eine immer wichtigere Rolle (vgl. Glaubitz 2007): War Falsches Spiel mit Roger Rabbit (Who Framed Roger Rabbit, Ze meckis engl.; dt. 1988) mit seiner deutlich markierten Mischung aus Realfilm- und Zeichentrickelementen noch eine Ausnahme, verschwimmen die (wahrnehmbaren) Grenzen zwischen Real- und Animationsfilm in digital produzierten Filmen wie Der Polarexpress (The Polar Express, Zemeckis engl.; dt. 2004) oder Die Abenteuer von Tim und Struppi (The Adventures of Tintin, Spielberg engl.; dt. 2011), bei denen Realfilmaufnahmen nachträglich animiert und durch visuelle Effekte ergänzt wurden. Genres Filmgattungen bilden wiederum Genres. Diese sind als »inhaltlich-strukturelle Bestimmungen von Filmgruppen [...] Geschichten generierende Systeme« (Hickethier 2012, 205–206), die Filmemachern wie Rezipienten formale, ästhetische und narrative Grundmuster bereitstellen. Die Genrezuordnung kann sich dabei nach unterschiedlichen Kriterien richten: So definiert sich das Musical über die sich singend durch die Filmhandlung bewegenden Figuren. Western oder Sandalenfilme spielen in einem bestimmten historischen und geographischen Umfeld. Genres wie der Kindheitsfilm, der seinen »Fokus auf die Darstellung von Kindheit« (Stewen 2016) legt, der Kriminalfilm oder der Liebesfilm folgen wiederum spezifischen inhaltlichen Schwerpunkten, während Komödien oder Horrorfilme bestimmte emotionale Reaktionen im Publikum – Lachen oder Erschrecken – hervorrufen sollen. Genres prägen wiederum Subgenres aus, die meistens ihre primären generischen Merkmale mit weiteren Gruppierungsaspekten kombinieren. So gibt es als Sonderformen des Komödien-Genres z. B. Parodien wie Der Schuh des Manitu (Herbig 2001) oder Scary Movie (Wayans engl.; dt. 2000), Satiren wie Der große Diktator (The Great Dictator, Chaplin engl. 1940; dt. 1958), oder Teenager-Komödien wie American Pie (Weitz engl.; dt. 1999). Anne liebt Philipp (Jørgen + Anne = sant, Sewitsky norw. 2011; dt. 2012) ist wiederum eine romantische Komödie, die sich um die erste, kindliche Liebe der zehnjährigen Protagonistin dreht
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und Elemente des Liebesfilms (Sujet) mit denen der Komödie (Wirkungskonzept) kombiniert. Filmgenres lassen sich zwar mit Rekurs auf prototypische Vertreter beschreiben, jedoch nicht im Rahmen einer (im naturwissenschaftlichen Sinne) präzisen Typologie klassifizieren. Dafür sind die Grenzen zwischen Genres zu fließend, zu abhängig von dynamischen kulturellen, historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, denen sie sich fortwährend anpassen. Filmgenres sind eher pragmatisch zu definierende, offene »intertextuelle Systeme von Stereotypen« (Mikos 2015, 256), die sich fortwährend durch Anpassung an gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse verändern. Für Kinder und Jugendliche übernehmen Genre konventionen mit ihren typisierten Figuren, vorhersehbaren Handlungsmustern und vertrauten ästhetischen Strategien eine wertvolle Orientierungsfunktion: Gerade Kindern im Grundschulalter können sich dadurch mit filmischen Codes vertraut machen und Filme in einem kognitiv kontrollierten Rahmen rezipieren. Zudem erleichtert die Vertrautheit mit den generischen Codes des Kinos die Rezeption von Filmen, die inhaltlich zunächst nicht an das eigene Weltwissen anknüpfen. Prototypische Genrevertreter prägen die Erwartungshaltung des Publikums. Filmemachern eröffnen sich dadurch Spielräume für Experimente, entweder durch den expliziten Bruch mit etablierten Konventionen und den damit verknüpften Erwartungen, oder durch deren behutsame Weiterentwicklung bzw. Modifikation. Durch das fortwährende Wechselspiel zwischen Anpassung an und Bruch mit Zuschauererwartungen und Konventionen entwickeln sich Genres in einer »reziproken Beziehung zwischen Produzenten und Publikum« (Mikos 2015, 255–256) ständig weiter. Kinder- und Jugendfilm als Hypergenre Der Kinder- und Jugendfilm konstituiert eine eigene Kategorie zwischen Gattung und Genre. So ist seine Popularität und Genese in geringerem Maße von spezifischen filmhistorischen Epochen abhängig als dies bei Filmgenres wie z. B. dem Western der Fall ist, dessen Produktion ab 1977 einbricht und mit Ausnahme verschiedener Zwischenhochs zu Beginn der 1990er Jahre oder Ende der 2000er Jahre nicht wieder ansteigt (vgl. Weidinger 2006, 150). Der Kinder- und Jugendfilm ist jedoch auch keine Gattung, die rein formal definierbar ist: Vielmehr greift er auf eine Mischung spe-
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zifischer Merkmale zurück: Inhaltlich-erzählerische Merkmale (z. B. Darstellung von Kindheit, Rückgriff auf episodische Erzählweisen, Einbeziehung musikalischer Elemente), ästhetische Merkmale (z. B. Einbeziehung der kindlichen Perspektive in der Kameraarbeit) sowie auch formale Merkmale (z. B. durchschnittliche Filmdauer). Um angesichts dieser Differenzen eine Abgrenzung zu Filmen für Erwachsene zu gewährleisten, die nicht auf die Begriffe der Gattung und des Genres zurückgreift, wird der Kinder- und Jugendfilm im vorliegenden Beitrag als Hypergenre aufgefasst, das wiederum eigene Genres ausbildet. Eine solche Definition hat zwei Vorteile: Zum einen lässt sich weiterhin in Anlehnung an übliche altersspezifische Definitionen aufzeigen, dass ein und derselbe Filmstoff hinsichtlich verschiedener Zielgruppen unterschiedlich gestaltet werden kann, da z. B. originäre Kinder- und Jugendfilme »auf den kognitiven, emotionalen und sprachlichen Entwicklungsstand von Kindern Rücksicht« (Kümmerling-Meibauer/Exner 2012, 14) nehmen. Zum anderen lässt sich begründen, dass vornehmlich für Kinder und Jugendliche produzierte Filme üblicherweise bestimmte Genres, etwa den Thriller oder den Erotikfilm auslassen. So finden sich als Genres des Kinder- und Jugendfilms Spielformen von Abenteuerfilmen, Fantasyfilmen, Liebesfilmen, Roadmovies, Science-Fiction-Filmen, Kriminalfilmen etc., die wiederum eigene Subgenres ausbilden. Diese Genres und Subgenres greifen zwar oft Merkmale vergleichbarer Genres des Erwachsenenfilms auf, rekombinieren diese jedoch mit eigenen Themenund Motivkonstellationen. Die kindlich-jugendlichen Hauptfiguren in den Harry Potter-Filmen müssen sich beispielsweise nicht nur der Bedrohung durch ihren Antagonisten Lord Voldemorts stellen, sondern sich auch gegen die Widerstände der Erwachsenenwelt durchsetzen. Die Fokussierung auf die kindliche bzw. jugendliche Weltsicht kennzeichnet die Harry PotterReihe als Kinder- und Jugendfilme.
26.5 Narratoästhetik Die eben genannte Fokussierung auf kindlich-jugendliche Figuren und Lebensbereiche exemplifiziert typische kinder- und jugendfilmische Erzählstrategien. Neben solchen dramaturgischen Aspekten (die sich der ›histoire‹-Ebene zuordnen lassen) beeinflussen auch Ausdrucksdimensionen auf der ›discours‹-Ebene die Adressatenorientierung: die visuelle sowie akustische Inszenierung des Filmraums und dessen Arrangement
zu einer übergeordneten räumlich-zeitlichen Abfolge über die Montage. Im Folgenden werden die Analysedimensionen Dramaturgie, Bild und Montage schlaglichtartig skizziert, der Fokus liegt anschließend auf Ton und Auralität als besonderen narratoästhetischen Ausdrucksdimensionen des Kinder- und Jugendfilms. Dramaturgie Geschichten für Kinder müssen konsequent erzählt sein, sie dürfen sich z. B. nicht in komplizierten Zeitsprüngen verlieren, weil sie damit ihre Rezipienten überfordern würden (vgl. Kurwinkel/Schmerheim 2013, 91). Dementsprechend folgen Kinder- und auch Jugendfilme zumeist einem einfachen dramaturgischen Schema: Am Anfang steht in der Regel die Gefährdung einer Ordnung – eine Bedrohungssituation, der sich die Protagonisten im Verlauf der Geschichte stellen müssen, um die Ordnung ohne erwachsene Hilfe wieder herzustellen. Die Lösung des Konflikts, der sich häufig in einer klaren Gut- und Böse-Konstellation darbietet, führt meist zum Happy End (vgl. ausführlicher Heinke/Rabe 2011, 422). Diese Gliederung in drei funktional und inhaltlich verschiedene Teile – Exposition, Konfrontation und schließlich Auflösung – stellt das »canonic format« (Bordwell 1985, 157) der Geschichtenerzählung dar, das sich bis zur Poetik des Aristoteles (335 v. Chr.) als Prototyp der geschlossenen Form des Dramas zurückverfolgen lässt. Es stellt ein strukturelles Muster bereit, an dem sich das Mainstreamkino orientiert, das erst die Grundlage für abweichende Erzählformen bildet und das – ähnlich wie Genres – Erwartungshaltungen generiert, die auch Kindern und Jugendlichen die Filmrezeption erleichtern. Bild Auch visuell passen sich Kinder- und Jugendfilme oft an die vermuteten Rezeptionsbedürfnisse und -muster ihrer Zielgruppe an. Grundsätzlich unterscheiden lassen sich Mise-en-cadre und Mise-en-scène – jene die Kameraarbeit betreffend, diese die Inszenierung des Raums vor der Kamera. So positioniert sich die Kamera im Kinder- und Jugendfilm oft auf Augenhöhe mit den kindlichen bzw. jugendlichen Protagonisten, um eine spezifisch kindliche bzw. jugendliche Weltsicht und Lebenserfahrung zu betonen, etwa in E. T. – Der Außerirdische (E. T. the Extra-Terrestrial, Spielberg engl.; dt. 1982), wo zudem die Erwachsenen teils in extremer Untersicht als bedrohliche Umwelt-
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einflüsse dargestellt werden. Im Kontrast hierzu präsentiert etwa das Drama Ist das Leben nicht schön? (It’s a Wonderful Life, Capra engl. 1946; dt. 1961) über die Kameraeinstellungen eine erwachsene Weltsicht, in der Kindern nur eine untergeordnete Rolle zukommt. Auch Kamerabewegungen lassen sich nutzen, um die Orientierung in der Filmwelt zu erleichtern. So sind statische Kameraeinstellungen mit nur sporadischen Veränderungen von Standort oder Objektivbrennweite gerade für Kinder im Vor- und Grundschulalter hilfreich, weshalb sie in Kindersendungen wie Peppa Wutz (KiKa seit 2005) oder Teletubbies (KiKa seit 1999) eingesetzt werden. Ein dynamischer Kameragebrauch mit Schwenks, Fahrten und Zooms hingegen kann zumindest Kinder bis zu acht Jahren kognitiv überfordern, wie empirische Untersuchungen nahelegen (vgl. Pittorf/Huckauf/Lehmann 2010, 94–105). Aber natürlich nutzen nicht nur Jugendfilme, sondern auch viele Kinderfilme die Formensprache des dynamischen Kameraeinsatzes: Ermöglichen z. B. Kamerafahrten mit Steadicam oder Drohnen ›schwebende‹ Bewegungen, generieren Handkameras wiederum ein verwackeltes Bild, das oft für einen dokumentarischen Filmstil genutzt wird, aber auch Gefühlszustände der Figuren suggerieren kann. So verwendet Spike Jonzes Bilderbuchadaption von Wo die Wilden Kerle wohnen (Where the Wild Things Are, engl.; dt. 2009) einen subtilen Handkamerastil, um die instabile Psyche des kindlichen Protagonisten Max zu verdeutlichen. Zudem ermöglichen dynamische Kamerabewegungen den reduzierten Einsatz von Schnitte und verstärken den Eindruck eines einheitlichen Filmraums, was die Orientierung vor allem für kindliche Rezipienten erleichtert. Montage Statische wie dynamische Einstellungen bilden die Grundlage für die Montage, das erzählerische Verfahren, das als eigentlicher nucleus der filmischen Erzählkunst gilt. Sie bemüht sich um »die Herstellung narrativer und ästhetischer Strukturen durch [den] technischen Vorgang [des Schnitts]« (Mikos 2015, 205), sie steuert beispielsweise das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit, ermöglicht den Wechsel zwischen verschiedenen Handlungssträngen sowie generell das Aufbrechen linearer Erzählstränge. David Bordwell und Kristin Thompson unterscheiden grundlegend vier Dimensionen der Montage als Beziehungen zwischen Einstellungen: graphische Beziehungen, rhythmische Beziehungen, zeitliche Bezie-
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hungen und räumliche Beziehungen (vgl. Bordwell/ Thompson 2013, 221–232): Bei graphischen Beziehungen werden einzelne Einstellungen als »graphic configurations« (ebd., 221) betrachtet, die sich über Ähnlichkeits- und Kontrastrelationen verbinden lassen. Rhythmische Beziehungen spielen mit dem Verhältnis der Dauer sowie mit der Abfolge von Einstellungslängen, um ihrem Film einen unverkennbaren Rhythmus zu verschaffen. Dies geschieht besonders häufig in Verbindung mit Musikeinsatz, woraus sich zahlreiche Möglichkeiten ergeben, einen Film über das Zusammenspiel zwischen Bild- und Tonspur aural zu strukturieren, was im folgenden Teilkapitel exemplarisch dargelegt wird. Zeitliche Beziehungen arrangieren die zeitliche Abfolge der Filmereignisse um und erschaffen z. B. Rückblenden (Analepsen), Vorblenden (Prolepsen) oder auch Ellipsen, die den Ereignisablauf verkürzen. Räumliche Beziehungen zwischen Einstellungen herrschen viertens, wenn bspw. durch die Kombination einzelner Einstellungen ein einheitlicher Raum (Schauplatz) geschaffen bzw. suggeriert wird. So präsentiert das klassische Mainstream-Kino üblicherweise zu Beginn einer Subsequenz mithilfe eines ›establishing shot‹ zuerst den Schauplatz, bevor die eigentliche Handlung beginnt, die über Einzeleinstellungen konstruiert wird. Ton und Auralität Der Film als solches ist nicht nur ein visuelles, sondern auch ein auditives Medium; gerade das zeitgenössische Kino, und mit ihm der Kinder- und Jugendfilm, kann ohne die Berücksichtigung der vielfältigen Weisen, Bild und Ton zu kombinieren nicht verstanden werden. Erst die Tonspur synthetisiert den Film zu einem »Gesamtkunstwerk« (Borstnar/Pabst/Wulff 2008, 138). Unterschieden wird der Ton nach verschiedenen Sorten – gesprochene Sprache, Musik und Geräusche – deren Synthese die Soundscape, die Klangwelt, des Films ergibt. Alle drei Elemente können in verschiedenen räumlichen und zeitlichen Relationen zur Welt des Films stehen. Diese Unterschiede spielen für die Funktionalisierung der Tonsorten eine wichtige Rolle. Sprache Die Sprache im Film dient nicht allein der Übermittlung von Informationen und der Kommunikation zwischen den Handelnden im Rahmen von Dialogen
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bzw. Figurenrede, sondern kann durch Stimmlage und Sprechweise Figuren charakterisieren oder Aussagen weitere Bewertung zukommen lassen. Typische Beispiele im Märchenfilm sind die üblicherweise schrille Stimme der bösen Stiefmutter oder bösen Hexe bzw. die weichen, bestens zum Singen geeigneten Stimmen weiblicher Protagonistinnen. Grundsätzlich wird unterschieden, ob die Quelle der Sprache im Bild zu sehen ist oder nicht. Dabei geht es weniger darum, ob bei zwei Akteuren, die sich in einem Raum befinden und miteinander sprechen, immer die jeweils sprechende oder zuhörende Person im Bild zu sehen ist. Bedeutsamer ist, wenn es eine Stimme außerhalb des Bildes oder der Filmwelt gibt, über die in Form eines gesprochenen Erzählermonologs Zeiträume oder Ereignisse komprimiert oder kommentiert werden: »Wie im [literarischen] Erzähltext kann in den Spielfilm ein Erzähler integriert sein, dessen Überblick über das Geschehen bis zur Allwissenheit reicht. Im Unterschied zum literarischen Erzähler aber ist der filmische nicht die dominante und ursächliche Quelle der Erzählung, sondern er befindet sich, als informationsspendende Stimme aus dem Off, an der Peripherie der Erzählung. Aufgrund dieser Distanz wird ihm ein hohes Maß an Objektivität zuerkannt.« (Schwab 2006, 168)
Der filmische Erzähler wird gerne in Märchenfilmen verwendet, steht jedoch nicht immer gänzlich außerhalb der eigentlichen Filmwelt: So besteht Die Braut des Prinzen (The Princess Bride, Reiner engl.; dt. 1987) aus einer Rahmenhandlung, in der ein von Peter Falk gespielter Großvater seinem kranken Enkel die in der Binnenhandlung dargestellte, titelgebende Geschichte vorliest. In dem Prolog von Shrek – Der tollkühne Held (Shrek, Adamson/Jenson engl.; dt. 2001) hingegen entpuppt sich der scheinbar nicht-diegetische Erzähler aus dem Off, der aus einem Märchenbuch vorliest, als der Protagonist Shrek selbst, dessen Stimme lediglich zu Beginn aus dem Off zu hören ist. Musik Hat die Sprache im Film noch überwiegend narrative Aufgaben, zielt Filmmusik vorrangig auf die »emotionale[...] Ebene der Filmwahrnehmung« (Borstnar/ Pabst/Wulff 2008, 141). Musik im Film beschreibt, kommentiert, betont oder konterkariert das visuell präsentierte Geschehen, wirkt zugleich aber auch »af-
fektiv-evokativ« (ebd.), indem sie im Zuschauer bestimmte Gefühle hervorruft, etwa durch romantische Streichermusik in Liebesszenen. Filmmusik kann auf bereits komponierte Stücke zurückgreifen oder aber als score eigens für den Film komponiert sein. Zu den wichtigsten Musikstücken, die für einen Film komponiert werden bzw. verwendet werden, gehört die Titelmusik, die üblicherweise während der Titelsequenz ertönt und die Stimmung sowie musikalischen Motive des Films vorwegnimmt. Die Titelmusik fungiert zudem häufig leitmotivisch – die verwendeten Melodien und Rhythmen werden in variierter Form im Verlaufe des Films immer wieder auftauchen. Grundsätzlich kann Filmmusik »zumeist als funktionale Musik klassifiziert werden, d. h., sie bezieht ihren Sinn [...] hauptsächlich aus ihrer Funktion als einer der Gestaltungsfaktoren« (Bullerjahn 2007, 59). Claudia Bullerjahn unterscheidet zwischen rezeptionspsychologischen und ökonomischen Metafunktionen der Filmmusik – etwa das Übertönen störender Grundgeräusche im Kinosaal oder die bessere Vermarktbarkeit eines Films durch die Verwendung populärer Musikstücke – und den »Funktionen im engeren Sinn« (ebd., 65), die in die folgenden vier verschiedenen Funktionskategorien eingeteilt werden: • Dramaturgische Funktion • Narrative Funktion • Strukturelle Funktion • Persuasive Funktion Auch im Falle der Filmmusik ist es für den Plot und die Erzählung von Bedeutung, ob die Quelle dieser im Bild zu sehen ist oder nicht, ob sie Bestandteil der Filmwelt ist (und somit von den Figuren im Film wahrgenommen werden kann) oder nicht. Nicht-diegetische Filmmusik ist in der Regel instrumental und dient beispielsweise dem Underscoring, wenn die Zuschauer z. B. bereits in der Exposition eines Filmes einer bestimmten Figur ein bestimmtes musikalisches Leitmotiv zuordnen können: »In diesem Fall wird der Zuschauer aktiviert oder in Erregung versetzt und bringt seinen Gefühlszustand mit dem optischen Geschehen in Verbindung. [...] Soll die Musik eine spezifische Wirkung erzielen [...] sind nicht nur Thema oder Leitmotiv, sondern auch Melodik und Klangfarbe bedeutsam.« (Schwab 2006, 178) Durch den Einsatz instrumentaler Musik werden auch unerwünschte Interferenzen zwischen gesungenen Liedtexten und der eigentlichen Figurenrede des Films vermieden. Da gesprochene Sprache die bewusste Aufmerksamkeit der Rezipienten provoziert, lenken gesungene Lieder zudem leichter von anderen
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Handlungselementen ab und werden eher als nichtdiegetische Bestandteile eines Films identifiziert. Als diegetische Musik werden gesungene Lieder gerade im Kinder- und Jugendfilm gerne verwendet: Das gilt für das Pippi Langstrumpf-Lied wie für aktuelle Produktionen, etwa die Tetralogie um Bibi und Tina. Wie im amerikanischen Genre des Musicals bildet im »Pop-Drama« (Greune 2014, 6) Detlev Bucks das gesungene Musikstück »den dramaturgischen und ästhetischen Höhepunkt einer Szene. Die Nummern erwachsen aus dem Geschehen. Sie führen den Dialog fort, vertiefen den Charakter der Figuren und unterbrechen die Handlungsdynamik und Erzähllogik des Filmes nicht.« (Ott 2011, 462)
Lieder können zudem als auslösende Ereignisse fungieren: Nachdem Miguel in Lee Unkrichs Animationsfilm Coco – Lebendiger als das Leben! (Coco, Unkrich engl.; dt. 2017) das Lied seines Vaters auf der Gitarre anstimmt, erwacht Coco aus ihrem Dämmerzustand und erinnert sich an Héctor. Remember me heißt dieses Lied von Kristen Anderson-Lopez und Robert Lopez, das 2018 einen Oscar gewinnt. Geräusche Die in der technischen Herstellung aufwändigste Tonsorte ist zugleich diejenige, die von den Rezipienten am wenigsten bewusst registriert wird, obwohl sie entscheidend zu dem Wirklichkeitseindruck des Films beiträgt: Geräusche im Film, die grundsätzlich alle Klangquellen der Filmwelt umfasst, die nicht der Musik oder der Sprache zugerechnet werden können. Filmgeräusche können sowohl im ›On‹ als auch im ›Off‹ lokalisiert sein und sind überwiegend diegetischer Natur, interagieren letztendlich jedoch in einem hohen Maße mit den visuellen Elementen des Films. Unterscheiden lassen sich drei Arten von Geräuschen: ›Natürliche Geräusche‹, ›Hintergrund-Geräusche‹ sowie ›künstliche Soundeffekte‹ (vgl. Beil/Kühnel/Neuhaus 2016, 164). Geräusche werden vom Rezipienten zumeist als selbstverständlicher Bestandteil der Diegese eingeschätzt und ebenso wie die Umgebungsgeräusche des Alltagslebens nicht bewusst registriert – außer, sie fordern aufgrund der Ereignisse im Film besondere Aufmerksamkeit ein. Keine andere Tonsorte hat sich dabei seit den 1970er Jahren so rapide weiterentwickelt wie das Sounddesign im Bereich der Filmgeräusche. Bordwell und Thompson prägen
Abb. 26.1
für die entscheidende Rolle des Tons im modernen Kino die Formel: »Many modern films lead us by the ear« (Bordwell/Thompson 2013, 267). Auralität Wenn auditive Signale wie Sprache, Musik und Geräusche im Rahmen der Montage ihres Zusammenspiels mit visuellen Elementen eine derartige rezeptionsleitende Wirkung übernehmen, sprechen wir von Auralität. Aurale Elemente meinen »rhythmische Verschränkungen von Bild und Ton, von Kamera- und Figurenbewegung, die Metrik der Montage [...], ›musikalisierte‹ Montagestrukturen sowie narrative Strukturen, die sich am Aufbau von Musikstücken orientieren« (Kurwinkel/Schmerheim 2013, 99). Gerade in Kinder- und Jugendfilmen ist dies häufig der Fall, weil Kinder und auch Jugendliche Filme nicht nur erlebnisorientiert und emotional wahrnehmen, sonders besonders intensiv auf Reize, die ihren Gehörsinn ansprechen, reagieren (vgl. ausführlicher Tatsch 2012 sowie Kurwinkel/Schmerheim 2013, 94–96). Dementsprechend lassen sich Intensitätsgrade der Auralität festlegen, die von schwacher hin zu starker Auralität reichen. Wird die Tonspur (oder Aspekte der Tonspur) mit einer ›Bewegungskategorie‹ der Bildspur wie die Bewegung der (tatsächlichen oder implizierten) Kamera im Filmraum, die Bewegungen von Figuren und Gegenständen, die Eigenbewegung des Filmraums oder die Schnitte zwischen einzelnen Bildeinstellungen synchronisiert, handelt es sich um schwache Auralität. Wird die Tonspur (oder Aspekte der Tonspur) hingegen mit mehr als einer Bewegungskategorie synchronisiert, etwa mit Figuren- und Kamerabewegungen, wird dies als starke Auralität bezeichnet.
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Abb. 26.2
Aurale Verschränkungen von Bild- und Tonspur haben dabei nicht den Charakter eines bloßen »cinematic excess« (vgl. Thompson 1977). In Anlehnung an die genannten Funktionen der Filmmusik kann Auralität verschiedene narrative, strukturelle, dramaturgische oder immersive Funktionen einnehmen. Grundlegend sind sowohl die immersive als auch die strukturelle Funktion von Auralität (vgl. Abb. 26.1). Unter Immersion wird dabei das Eintauchen des Rezipienten in die filmische Diegese verstanden, wozu die aurale Gestaltung eines Filmtexts beiträgt. Strukturelle Funktionen der Auralität verweisen hingegen darauf, dass bereits das bloße Zusammenspiel von Bildspur und Tonspur eines Films bestimmte Strukturen bzw. Muster herausbildet, die sich systematisch beschreiben lassen. Übernimmt bei diesem Zusammenspiel die Tonspur die dominante Rolle, so kann man von strukturellen Funktionen der Auralität sprechen. Beispielsweise übernimmt Filmmusik strukturelle Funktionen, indem sie etwa mittels Titel- und Nachspannmusik eine Art »Formskelett« (Schneider 1986, 95) für den Film als Ganzes bereitstellt. Ebenso können Musikstücke oder Geräusche verwendet werden, um disparate Einstellungen als zusammengehörig zu markieren oder um Schnitte zu maskieren. Auf die strukturelle Funktion bauen die narrative und dramaturgische Funktion auf: Narrative Funktionen betreffen den Einsatz von Auralität in einzelnen Filmszenen, etwa um Erzählperspektiven voneinander zu unterscheiden oder sie zu akzentuieren. Dramaturgische Funktionen betreffen den Einsatz von Auralität, um beispielsweise den Spannungsbogen des Films als Ganzen zu akzentuieren – etwa, wenn ein neuer Akt, eine neue Sequenz durch aural inszenierte Einstellungen eingeleitet wer-
den, oder wenn ein dramaturgischer Höhe- oder Wendepunkt inszeniert werden soll. Sowohl die immersive und die strukturelle als auch die narrative Funktion der Auralität werden bereits in den ersten Minuten der Exposition von Alles steht Kopf (Inside Out, Docter engl.; dt. 2015) deutlich. In dem Film geht es um die Frage, wie der Mensch seinen Emotionen im Denken, Fühlen und Tun unterliegt. Die Antwort darauf liefert der Film mit einer Reise in die Psyche der elfjährigen Riley. Hinter ihrer Stirn befindet sich eine Art Kommandobrücke, an der eine Auswahl von Basisemotionen (Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel) in Gestalt von koboldähnlichen Figuren im wahrsten Sinne des Wortes an den Schalthebeln sitzt – und so mit der Außenwelt, mit der Umwelt Rileys, interagiert. Eine besondere Rolle kommt dabei Erinnerungen zu: Wenn Riley in den ersten Filmminuten als Säugling zum ersten Mal ihre Eltern wahrnimmt und der Vater ihr sagt, dass sie das Wunderbarste auf der Welt sei (00:01:53), wird eine solche in Form einer gold-bunten Kugel erzeugt Die Entstehung dieser ersten positiven Erinnerung ist aural gestaltet: Abgesehen von der immersiven und strukturellen Funktion dient die Auralität hier vor allem dazu, die zwei Handlungsebenen – die realistische, äußere und die phantastische, innere – narrativ zu differieren. So wird nicht nur die Passage zwischen den Ebenen auralisiert, sondern auch den Ebenen selbst sind verschiedene Verschränkungen von Bild und Ton zugewiesen. Nachdem die Erinnerung erzeugt ist, wird sie auf der phantastischen, inneren Ebene von Freude, so Name und Funktion dieser Emotionsfigur, auf ihren Weg ins Langzeitgedächtnis geschickt. Ein Vorgang, der
26 Film
wiederum stark aural inszeniert ist: So ist der Formverlauf der Kugelbahn dem Melodieverlauf nach Tonhöhe nachgebildet, so folgt die Kamera dem mit der Dynamik der nicht-diegetischen Musik abgestimmten Kugellauf und so drehen sich die Räder (Abb. 26.2) entsprechend rhythmisch verschränkt.
26.6 Inter- und transmediale Aspekte Im filmhistorischen Überblick wurde deutlich, wie zentral literarische Prätexte für den Kinder- und Jugendfilm sind. Gibt Wolf für das Hypergenre in der BRD von 1945–1965 noch ein Verhältnis von 87 % Adaptionen, 13 % originäre Stoffe an (Wolf 1969, 63), wird heute der Anteil von Adaptionen an der gesamten Kinder- und Jugendfilmproduktion in der Literatur mit »über zwei Drittel« (Heinke/Rabe 2011, 434) benannt. Diese Angaben entsprechen in etwa der Entwicklung der letzten Jahre: Von den 237 Filmen, die von 2016 bis Ende 2018 in deutschen Kinos angelaufen sind, basieren 146 auf einer Vorlage, damit sind 62 % Adaptionen, 38 % der Filme liegt ein originär entwickelter Stoff zugrunde (vgl. detaillierter Kurwinkel 2019). Kinder- und Jugendfilme eignen sich ihre Prätexte allerdings unterschiedlich an: So orientieren sich traditionelle Märchenfilme wie die ZDF-Filmreihe Märchenperlen (seit 2005) an Märchensammlungen etwa der Brüder Grimm, während es spätestens seit der Jahrtausendwende vermehrt auch Märchenparodien wie Die Rotkäppchen-Verschwörung (Hoodwinked, Edward/Edwards/Leech engl.; dt. 2006) oder Shrek – Der tollkühne Held gibt, die selbstreflexiv und selbstironisch Geschichten aus dem Märchenwald erzählen (vgl. Dettmar/Pecher/Schlesinger 2018, Kurwinkel 2018; s. auch Kap. 15). Ein eher junges Intermedialitätsphänomen des Kinder- und Jugendfilms findet sich in der Wechselwirkung mit dem Computerspiel. Insbesondere »narrative Computerspiele« (s. Kap. 29) wie Dear Esther (The Chinese Room 2012), Myst (Cyan World 1993) oder The Whispered World (Daedalic Entertainment 2009) suggerieren neue Möglichkeiten, Merkmale des Spielens und Erzählens zu verschmelzen. So greift das Gegenwartskino die zunehmende Verschmelzung von Spielraum und Spielerraum (vgl. Kepser 2014) in Virtual-Reality- oder AugmentedReality-Spielen auf. In den Science-Fiction-Filmen TRON (Lisberger engl.; dt. 1982) und TRON: Legacy (Kosinski engl.; dt. 2010) werden die Hauptfiguren in
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die Welt eines Computerspiels versetzt und müssen dort Queste wie Motorradrennen und tödliche Diskuswerf-Wettbewerbe meistern, deren Darstellung wiederum der Formensprache der Computerspielästhetik entlehnt ist. In TRON wird die digitale Spielwelt in toto zur Diegese und somit zum Handlungsraum des Films. Auch Spy Kids 3-D: Game Over (Rodriguez engl.; dt. 2003) ist in einer Computerspielwelt angesiedelt: Hier müssen sich die kindlichen Geheimagenten in einer 3D-Spielumgebung behaupten, in der verschiedene Queste den Fortgang der Handlung strukturieren. Inhaltlich auf die Spitze getrieben wird diese gamifizierte Intermedialität in Ralph reichts (Wreck-It Ralph, Moore engl.; dt. 2012): Hier entflieht die Computerspielfigur Ralph ihrem Dasein als Antagonist eines Arcade-Spiels, um in anderen Spielewelten wenigstens einmal ein Held zu sein. Bald muss er aber gegen eine außer Kontrolle geratene Spielfigur kämpfen, die mit ihrem Wunsch, aus dem Spieluniversum in die wirkliche Welt zu gelangen, die Existenz von Ersterem gefährdet (vgl. Schmerheim 2016, 15–17). Der deutsche Abenteuerfilm Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel (Schnell 2016) radikalisiert das narrative Spiel mit Gamifizierungsphänomenen. In Offline begeben sich die Protagonisten auf einen road trip durch die Voralpen, um ihren Gegenspieler aus dem online-adventure-Rollenspiel Schlacht um Utgard zu finden. Dieser hat ihre digitale Identität gehackt und sie aus der Online-Welt ausgesperrt, um sie als mögliche Konkurrenten auszuschalten. Offline experimentiert mit der »Ludonarratoästhetik« (s. Kap. 29) digitaler Spiele: Die Figuren wandeln zwischen dem virtuellen Welt-Raum digitaler Spiele und demjenigen der physischen Wirklichkeit; Entscheidungsprozesse werden – wie in Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt (Scott Pilgrim vs. the World, Wright engl.; dt. 2010) – paratextuell mithilfe von Multiple-Choice-Tafeln und Inventarien audiovisualisiert; und die Figuren imaginieren sich inmitten der innerfiktional realen Welt als Avatar ihres Lieblingsspiels. Auch entstehungsgeschichtlich ist Offline ein Hybrid: ein Realfilm mit Schauspielern aus Fleisch und Blut, dessen Hauptfiguren mittels ihrer computergenerierten Avatare bevorzugt in der Spielumgebung des digitalen Spiels Schlacht um Utgard interagieren, die dem tatsächlich existierenden Fantasy-Rollenspiel Risen 3: Titan Lords (Piranha Bytes 2014) entstammt. Die Spielewelt wird in einer weiteren intermedialen Referenz zudem wie ein ›walkthrough‹- oder ›let’s-play‹Video präsentiert.
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An dieser experimentierfreudigen Einbettung von narratoästhetisch relevanten textuellen Elementen aus der Gaming-Kultur zeigt sich der ästhetische Einfluss von digitalen Spielen auf das filmische Erzählen, sind doch im Bildrahmen eingeblendete Spielstände, Lebensbäume und weitere audiovisuelle Elemente, die sich auf ihre Ursprünge im digitalen Spiel rückbeziehen lassen, mittlerweile fester Bestandteil des filmästhetischen Arsenals. Dies zeigt, was für ein selbstverständlicher Bestandteil der Populärkultur digitale Spiele geworden sind. Ein in der Jugendkultur verwurzelter Film wie Offline offenbart somit eine Veränderung von Rezeptionsweisen und ästhetischen Muster, die auf zukünftige Entwicklungen des Kinderund Jugendfilms deuten. (Dieser Beitrag basiert einerseits auf der Monographie Kinder- und Jugendfilmanalyse (Kurwinkel/Schmerheim 2013), andererseits auf verschiedenen Artikeln der Verfasser zum Kinder- und Jugendfilm in Sammelbänden und Zeitschriften, die im Medienverzeichnis aufgeführt sind.) Primärmedien
Docter, Pete: Inside Out (USA 2015). Schnell, Florian: Offline. Das Leben ist kein Bonuslevel (Deutschland 2017).
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Tobias Kurwinkel / Philipp Schmerheim
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27 Exkurs: Immersive Filme 27.1 Einleitung Der Exkurs bezieht sich auf jene Filme, die durch ihre spezifische Ästhetik und (technische) Umsetzung als immersiv zu kennzeichnen sind und deren Rezeption im Kino ebenso wie über die Nutzung entsprechender Abspielgeräte, wie z. B. dem 3D-TV oder diverser Formen von VR-Interfaces, im Heimgebrauch ermöglicht wird. Im Folgenden werden der Begriff und die damit im Zusammenhang stehenden medientheoretischen Konzepte vorgestellt. Nach einer Darstellung der Entwicklung des Mediums und seiner technologischen sowie ästhetischen Voraussetzungen folgen ausgewählte Analyseansätze, bevor der Beitrag mit einem Blick auf Forschungsperspektiven abschließt.
27.2 Begriffsdefinitionen Der Begriff des immersiven Films zielt ab auf Filme, die durch verschiedene Verfahren (z. B. Stereoskopie, binaural sound und weitere sensorisch orientierte Strategien) Erlebnisse der medialen Grenzüberschreitung eröffnen. Diese Filme lassen sich hinsichtlich ihrer Ästhetik und der daraus resultierenden Zuschauerwirkung als Medien beschreiben, die Phänomene der Immersion und des Präsenzerlebens ermöglichen. Im Beitrag stehen aus heuristischen Gründen vorrangig stereoskopische, also visuelle Verfahren im Zentrum, wie sie etwa im 3D-Film oder im Medium des Virtual-Reality (VR)-Films (vgl. Reden 2016) zur Anwendung kommen und auf diese Weise die beschriebenen Phänomene ermöglichen. Mit der Immersion und dem damit in Verbindung stehenden Präsenzerleben sind für den immersiven Film zwei Konzepte darzulegen, die konstitutiv für das Erleben digital dreidimensionaler Medienformate sind (vgl. Wegener/Jockenhövel 2011, 202): Interdisziplinär verschiedenartige Versuche, das Konzept der Immersion durch Wortübersetzung, metaphorische oder theoretische Annäherung zu schärfen und einer allgemeinen Definition zu unterziehen, lassen sich zentral auf die Überschreitung einer Grenze zwischen zwei Zuständen zusammenfassen (vgl. u. a. Huhtamo 2008; Curtis 2008; Ryan 2001). Im Kontext der Medienwissenschaft bezeichnet Immersion den Vorgang des ›Eintauchens‹ (lat. immergere) in das Medium (vgl. Bilandzic 2014, 273).
Dabei lassen sich verschiedene Perspektiven beschreiben, welche die Immersion prägen und auch aus intermedialer Perspektive geltend gemacht werden können: Zum einen richtet sich Immersion auf narrative und ästhetische Eigenschaften des jeweiligen Mediums. Diese Eigenschaften werden auch bezüglich Fragen der Aufmerksamkeit seitens rezeptiver Prozesse zentral. Zum anderen spielen die Inhalte, die vom immersiven Film transportiert werden, eine Rolle, ebenso wie die Erwartungen, Bedürfnisse und Voraussetzungen, mit denen das Publikum dem Film gegenübertritt. Für den immersiven Film ist als Ergebnis zunächst eine Intensivierung des Erlebten herauszustellen, das auch mit dem Konzept des Involvement zu beschreiben ist (vgl. Wegener/Jockenhövel 2011, 205). Am Grad der Immersion lässt sich zum anderen der mit dem Medienerlebnis verbundene Rezeptionsmodus charakterisieren (vgl. ebd., 202), der sich im Präsenzerleben ausdifferenziert. In diesem Zusammenhang beschreibt die bei den Rezipierenden entstehende Illusion der Non-Mediation den konzeptuellen Kern eines Präsenzerlebens (vgl. Lombard/Ditton 1997). Dieser Zustand ist bestimmt von dem Eindruck, es sei der Wahrnehmung eines Mediums keine apparativ vermittelnde Instanz zwischengeschaltet. Das empfundene Aufheben von eindeutigen medienvermittelnden Grenzen ist spezifisch für Formen der Rezeption von 3D-Medien und fügt dem räumlichen Erleben im Wortsinn eine dritte Dimension hinzu (vgl. Wegener/Jockenhövel 2011, 212). Für den immersiven Film gilt, dass sowohl das räumliche als auch das emotionale Präsenzerleben als intensiviertes Erleben zu beschreiben ist. Dabei lässt sich das räumliche Präsenzerleben in die Ebene der Handlung und des Raums differenzieren (vgl. ebd.). Die Teilnehmenden empfinden sich sodann als am Ort der Filmhandlung zugegen, wenn auch nicht tatsächlich eingebunden in die aktive Filmhandlung. Dieser Eindruck stellt sich neben die wahrgenommene Präsenz der Filmbilder im Projektionsraum. Emotionales Präsenzerleben hat zur Folge, dass bei intensiver Identifikation mit den Figuren der Handlung auch das Empfinden ansteigt, in die Handlung des Films eingebunden zu sein (vgl. ebd.).
27.3 Historische Entwicklungen Versuche, die Effekte stereoskopischer Bewegtbilder im Kinosaal zu etablieren, lassen sich bis in die Anfänge des Films zurückverfolgen (vgl. Jockenhövel
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_27
27 Exkurs: Immersive Filme
2014, 47–60). Eine Hochphase des 3D-Kinos folgt jedoch erst zu Beginn der 1950er Jahre. Den Durchbruch in Hollywood markiert 1952 Bwana Devil (Oboler). Wenngleich die Produktionen jener Zeit vornehmlich geprägt sind vom Spektakel (vgl. Gunning 1986) der negativen Parallaxe, deuten sich mit Alfred Hitchcocks Bei Anruf Mord (1954) narrativdramaturgische Potentiale des 3D-Films bereits im vordigitalen Zeitalter an (vgl. Jockenhövel 2014, 60– 67). Behaupten kann sich der stereoskopische Film trotz wiederholter Bestrebungen in den 1980er und 1990er Jahren in den Kinosälen jedoch nicht dauerhaft (ausführlicher vgl. ebd., 47–60). Erst als in den 2000er Jahren mit den Möglichkeiten neuer Projektionssysteme das digitale Zeitalter des 3D-Films einsetzt (vgl. u. a. Spöhrer 2016), folgt eine bis heute anhaltende Periode erfolgreicher Produktionen. Der Anteil der 3D-Kinobesucher steigt bis 2016 stetig, rund 25 % des Kinopublikums schauen in dem Jahr Filme in 3D, seitdem ist dieser Anteil allerdings rückläufig (vgl. Filmförderungsanstalt 2018). Während in den frühen 2000er Jahren mit Filmen wie Mission 3D (Rodriguez 2003) und Die Abenteuer von Sharkboy und Lavagirl in 3D (Rodriguez 2005) explizit das Kinder- und Jugendpublikum adressiert wird, gilt das Erscheinen von Avatar (Cameron) im Jahr 2009 als Meilenstein für den bis heute (moderat) anhaltenden Erfolg des zeitgenössischen 3D-Kinos. Bei Avatar werden die digitalen Möglichkeiten kombiniert mit dem Motiontracking-Verfahren (vgl. Maier 2012), was zu einer Steigerung des perzeptiven Realismus führt und verstärkt immersive Prozesse initiiert (vgl. Lombard/Ditton 1997). Diese Strategie nutzt zuvor bereits Robert Zemeckis für Der Polarexpress (2004), dessen 3D-Version allerdings nur in IMAXKinos anläuft. Wenngleich mit Avatar ein 3D-Film mit realistischen Elementen kommerziellen Erfolg verbuchen kann, bestimmt in den folgenden Jahren zunächst der Animationsfilm das immersive Kino. Dies mag nicht zuletzt einem ökonomischen Umstand geschuldet sein, da im computeranimierten 3D-Film auf eine für die Stereoskopie notwendige zweite Kamera verzichtet und eine zweite Perspektive in der Postproduktion digital berechnet und hinzugefügt werden kann (vgl. Wegener/Jockenhövel 2011, 41). Neben digitalen 3D-Nachbearbeitungen erfolgreicher Kinder- und Jugendfilme (z. B. Der König der Löwen [Allers/Minkoff 1994, 3D 2011], Toy Story [Lasseter 1995, 3D 2009], Findet Nemo [Stanton 2003, 2013 3D]) entstehen in den späten 2000er Jahren vermehrt auch Produktionen direkt in 3D (z. B. Bolt – Ein Hund
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für alle Fälle [Howard/Williams 2008]; Coraline [Selick 2009], Wolkig mit Aussicht auf Fleischbällchen [Lord/Miller 2009]). Auf Seite deutscher 3D-Kinderfilmproduktionen sind Janosch – Komm, wir finden einen Schatz! (Probost 2012) sowie Konferenz der Tiere (Klooss 2010) zu nennen. 2010 erscheint ebenfalls aus deutscher Produktion mit dem Realfilm Iron Doors (Manuel) ein Psychothriller in 3D unter der FSK 16-Freigabe. Während auch in den 2010er Jahren vornehmlich das Genre des Animationsfilms dominiert, liefern Wim Wenders mit Pina – tanzt, tanzt sonst sind wir verloren (2010) und Werner Herzog mit Höhle der vergessenen Träume (2010) wegweisende Beispiele für den dokumentarischen 3D-Film. In diesem Jahrzehnt adressiert das immersive Kino neben den genannten Genres vornehmlich den Science-Fiction- (z. B. Prometheus – Dunkle Zeichen [Scott 2012]), Horror- (z. B. Final Destination 5 [Quale 2011]) und Fantasy-Film (z. B. Der Hobbit – Eine unerwartete Reise [Jackson 2012]). Potenziert wird das Erleben von Immersion und Präsenz schließlich im Medium der Virtual Reality: Aktuelle VR-Filme erweitern die dreidimensionale Bildqualität u. a. um 360 °-Aufnahmen, die es mittels Head- bzw. räumlichem Tracking ermöglichen, den Film begeh- und erlebbar werden zu lassen. Bereits zu Beginn der VR-Historie in den 1950er Jahren steht der Film im Fokus dieses Mediums (vgl. Tietjen 2019): Während der Präsentation von fünf Kurzfilmen werden im Sensorama, einer Art VirtualReality-Automaten (vgl. Heilig 1962), mechanische, olfaktorische und visuelle Prozesse in Gang gesetzt, während das Publikum 3D-Filme über eine VR-Apparatur sieht. Während in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überwiegend graphische Realisierungen von Gegenständen und (naturwissenschaftlichen) Modellen, Simulationen, aber auch Spielen (s. Kap. 29) die Entwicklung bestimmen, lässt sich die Umsetzung von in der VR realisierten Filmen wieder seit Mitte der 2010er Jahre beobachten (z. B. Allumette [Chung 2016], Dear Angelica [Unseld 2017], Pearl [Osborne 2017]; vgl. Reden 2016). Ebenfalls Anfang des 21. Jahrhunderts eröffnen als Nachkömmlinge des Sensorama 4D- und 5D-Kinos. Die Immersion und das Präsenz erleben im 3D-Film sollen hier mittels Sensory Seats durch mechanische und sensorische Stimulationen intensiviert werden. Wenngleich sich der gegenwärtige VR-Film mit ähnlichen Startbedingungen auseinandersetzen muss wie der frühe Film (vgl. Reden 2016, 2), lassen sich ers-
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IV Medien – B Film, Fernsehen, Computerspiel
te Entwicklungen beobachten, das Medium als hybride und erfahrbare storyworld zu modellieren (vgl. u. a. Bastian 2016). Der Hybridstatus (s. Kap. 29) des VRFilms bringt differente Interaktionsmodi mit sich, die durch explizite Bezugnahme somatischer Rezeptionsund Handlungsmodi das Immersions- und Präsenzerleben intensivieren. Ein Umstand, den Jesko Jockenhövel mit Bezug auf Maurice Merleau-Ponty aufgrund einer »Restrukturierung des Verhältnisses von Zuschauer(-körper) und filmischem Ausdruck« (Jockenhövel 2014, 87) auch für den 3D-Film konstatiert. Darüber hinausgehend eröffnet der gegenwärtige Stand der Tracking-Technologie dem Publikum von VR-Filmen die Möglichkeit, den Blick- oder Standpunkt auf graduell unterschiedliche Weise individuell zu wählen, Objekte rundherum zu betrachten und interaktiv in den Verlauf einer Geschichte involviert zu werden. Diese Möglichkeiten sind indes durch das jeweilige Design ebenso vorbestimmt wie durch die bereitgestellten Hardware und User Interfaces, welche die Rezeption der verschiedenen Erfahrungen ermöglichen. Grob unterscheiden lässt sich der 360 °-VR-Film, der u. a. Einschränkungen hinsichtlich der Interaktion beinhaltet, vom interaktiven VR-Film mit voller räumlicher Bewegungsfreiheit (vgl. Tietjen 2020).
27.4 Narratoästhetik Im Kontext immersiver Medien lassen sich technologische und ästhetische Rahmenbedingungen beschreiben, die zu den vorgestellten Rezeptionsmodi und Erlebnisqualitäten führen können (vgl. Wegener/ Jockenhövel 2011, 202). Eine zentrale Rolle spielt der räumliche Tiefeneindruck, den eine dreidimensionale Projektion vermittelt: »Die Gestalter eines dreidimensionalen Films haben also die Möglichkeit, Objekte und Figuren in dem neu zur Verfügung stehenden Raum zu platzieren. Damit können sie über das übliche Spektrum von Close-Up, Halb-Totale und Totale mit den jeweiligen Abstufungen hinausgehen, die zwar weiter gültig bleiben, aber durch die Platzierung auf der z-Achse im Raum erweitert werden.« (Jockenhövel 2014, 98)
Dieser Tiefeneindruck wird möglich durch Verfahren der Stereoskopie. Das Grundprinzip stereoskopischer Verfahren rekurriert dabei auf das natürliche räumliche Sehen und nutzt zur Vermittlung binokularer Tiefeninformationen für die Filmaufnahmen zwei Kame-
ras, die den menschlichen Augenabstand und damit die Wahrnehmung aus zwei unterschiedlichen Perspektiven imitieren. Im Zuge der Filmprojektion sehen Rezipierende jeweils die Bilder, die für das rechte oder linke Auge bestimmt sind und es werden Apparaturen zur Entschlüsselung benötigt. Prozesse im Gehirn fügen beide Bilder dann zu einem Gesamtbild zusammen (vgl. ebd., 81–82). Der immersive Film ist in diesem Zusammenhang auf visueller Ebene von einem bidirektionalen Überschreitungsphänomen geprägt: Der räumliche Tiefeneindruck hinterlässt mit dem Phänomen der negativen Parallaxe den Eindruck einer Ausdehnung »virtueller Bild- und Simulationsräume« (Hochscherf/ Kjär/Rupert-Kruse 2011, 9) in den physischen Raum hinein. Es lässt sich das Phänomen eines »quasi-haptische[n] Eindruck[s] des Dargestellten« (Wegener/Jockenhövel 2011, 207) beobachten. Zugleich entsteht auf Seite der Rezeption der Eindruck, in die Projektion einzutauchen bzw. von ihr »umschlungen« (Hochscherf/Kjär/Rupert-Kruse 2011, 9) zu werden. Durch die Verschränkung der virtuellen und bzw. oder dreidimensionalen Bild- und Simulationsräume mit dem physischen Raum der Rezeptionssituierung übertrifft der immersive Film den Effekt zweidimensionaler Bewegtbilder, deren »Separierung der Bildräume« (ebd.) ein höheres Maß an räumlicher Distanz und materieller Grenzziehung auszeichnet. Dies trifft insbesondere auch auf Medien der Augmented Reality zu. Der räumliche Tiefeneindruck und die daraus resultierende virtuelle Plastizität der Bewegtbilder ermöglichen es den Zuschauern, während der Rezeption in einen »Mechanismus des Erforschens« (Linseisen 2014, 20) zu treten. Der Rezeptionskörper ist versetzt inmitten der als dreidimensional wahrgenommenen Projektion des Filmraums (vgl. ebd., 22). Nicht zuletzt kann dies auch symbolische Funktion haben, wie Jockenhövel in seinen Analysen von Coraline und Alice im Wunderland (Burton 2010) konstatiert (vgl. Jockenhövel 2010), oder an mediale Selbstreflexionen gekoppelt sein, wie es ebenfalls exemplarisch für Coraline Markus Spöhrer aufzeigt (vgl. Spöhrer 2016). Ein integrales Analysemodell für den 3D-Film, das neoformalistische und phänomenologische Ansätze miteinander verbindet, legt Jockenhövel vor und führt Kategorien für das 3D-Verfahren als Mittel des Filmstils aus: Durch die vielfältige Gestaltung von Parallaxen, Plastizität, Ebenen, Schärfentiefe, Schnittkomposition, Kamerabewegung und Einstellungsgröße nehmen die bildgebenden Verfahren der Stereoskopie
27 Exkurs: Immersive Filme
im 3D-Film so spezifisch Einfluss auf Filmstil, Repräsentation, Zuschauerposition und Narration (vgl. Jockenhövel 2014). Weitere Kategorien der Analyse immersiver Filme beziehen sich u. a. auf Strategien der Ludonarratoästhetik (s. Kap. 29). Für den VR-Film und seinen Hybridstatus gilt, dass dieser u. a. hinsichtlich seiner bild- und tonbezogenen Eigenschaften der digitalen Dreidimensionalität sowie seiner Möglichkeiten der Interaktion und Bewegung in der Zeit und durch den Raum (s. Kap. 39) nach weiteren Modellierungen verlangt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem immersiven Film in der Realisierung des 3D-Films ist insbesondere im Hinblick auf seine Ästhetik bereits fortgeschritten, wenn auch, gerade im Hinblick auf die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen, nicht erschöpft. Letzteres betrifft vor allen Dingen Fragen der Rezeption, Wahrnehmung und Wirkung, die auch die spezifischen Entwicklungsvoraussetzungen von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen vermögen (vgl. Bulla/Goetz 2012; Kurwinkel/Schmerheim 2013). Diesbezüglich stellen beispielsweise Christine Bulla und Maya Götz in Anlehnung an Hertha Sturm die verstärkte Bedeutung der fehlenden Halbsekunde im 3D-Film heraus: Bei schneller Schnittfolge wird es insbesondere im Fall der 3D-Nachbearbeitung zur Herausforderung für Kinder, das Gesehene verarbeiten zu können, wenn die Orientierung in der räumlichen Projektion zur Rezeptionsleistung hinzukommt (vgl. Bulla/Goetz 2012, 45). Dies wäre für den VR-Film zu differenzieren, da sich hier verschiedene Optionen der Verweildauer innerhalb einzelner Sequenzen bieten können. Erkenntnisse zur Virtual Reality sind derzeit vor allen Dingen von informationstechnologischen, medientheoretischen und neurologischen Forschungsperspektiven geprägt (vgl. Dörner/Broll/Grimm u. a. 2013). Offene Fragen lassen sich dagegen generell zur Ästhetik und zum Erfahrungspotential des Mediums, aber auch im Hinblick auf didaktische Fragestellungen verzeichnen. So konzentrieren sich entsprechende Studien bislang vorrangig auf kognitive oder soziale Perspektiven, wie etwa zu grundsätzlichen didaktischen Fragen des immersiven Lernens oder auch im Hinblick auf den Fremdsprachenerwerb sowie das Lernen in den Naturwissenschaften (vgl. u. a. Domingo/Gates Bradley 2018; Roy 2014; Cai 2013). Fragestellungen der Empathieförderung werden etwa in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern erörtert. Potentiale immersiver Medien allgemein und immersiver Filme insbesondere, die sich für die ästhetischen
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und kulturellen Fächer ergeben, werden hingegen zwar breitgefächert ausgelobt (vgl. Stiftung Lesen 2018), sind wissenschaftlich bisher jedoch wenig erschlossen (vgl. Kleemann 2017). Literatur
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IV Medien – B Film, Fernsehen, Computerspiel
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Sabrina Tietjen
28 Kinderfernsehen
28 Kinderfernsehen 28.1 Einleitung »Wer, wie, was ...« oder »In einem unbekannten Land ...« sind Titelsongs, die bei den meisten in Deutschland aufgewachsenen Erwachsenen sofort ein nostalgisch-wohliges Gefühl hervorrufen. Kinderfernsehen ist in der Biographie von Menschen ein zwar oft vergessener, aber dennoch prägender Teil der Sozialisation und meist tief in der jeweiligen zeitlich gebundenen Kultur verwurzelt. Um diesem nachzuspüren, wird im Anschluss an eine kurze Begriffsdefinition zunächst die Geschichte des Kinderfernsehens in der BRD und DDR knapp nachgezeichnet. Ein sich daran anschließender Abschnitt zur Typologie umreißt dominante Formate und Genres, gefolgt von einem Abschnitt zu gängigen Erzählmustern sowie intermedialen Wechselwirkungen des Kinderfernsehens.
28.2 Begriffsdefinitionen »Kinderfernsehen ist, wenn Kinder fernsehen« verkündete Gert Müntefering (Müntefering 1972, 128), was eine provokative, aber wenig zielgenaue Definition des Kinderfernsehens wäre. Kinderfernsehen ist das Fernsehprogramm, welches gezielt für die Altersgruppe der Kinder konzipiert und produziert ist. In Deutschland darf es nicht durch Werbung unterbrochen werden und muss, wie alle Fernsehsendungen, die Jugendschutzbestimmungen einhalten (vgl. Stötzel 1997, 154 und 160). In Anlehnung an die Alterseinteilung der Gesellschaft für Konsumforschung in Nürnberg haben sich dabei in Deutschland die Altersgruppen Vorschulkinder (3–5 Jahre), Kinder (6–9 Jahre) und Preteens (10–13 Jahre) etabliert. Der größte Anteil an Kindersendungen wird auf den Kindersendern ausgestrahlt (z. B. KiKA und SuperRTL) sowie auf Streaming-Plattformen angeboten (z. B. KiKA App). Hinzu kommen Sendeplätze für Kindersendungen in den Vollprogrammen.
28.3 Historische Entwicklungen 1950er und 1960er Jahre Kinderfernsehen in der BRD, wie es ab dem 11.4.1951 gesendet wurde, war vor allem von Kinderstunden wie der Kinderstunde mit Dr. Ilse Obrig (NWDR/NDR 1951–1972) geprägt. Obrig hatte bereits zu Zeiten des
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Nationalsozialismus Kinderstunden im Radio geleitet, deren Grundkonzept nun ins Fernsehen übertragen wurde. In live gesendeter Studioproduktion sollten Bastel- und Singspiele sowie vorgelesene Bücher Kindern, die ohne ihre Eltern daheim waren, eine pädagogisch angeleitete Freizeit mit Vertrauensperson bieten (vgl. Hickethier 1991, 97–99). Das Fernsehprogramm wurde ergänzt durch vereinzelte Kinderspielfilme wie Das Doppelte Lottchen (21.5.1951 von Báky 1950) oder erste Zeichentrickfilme wie Kalif Storch (Diehl/Diehl/ Dreyer/Reininger 1950). Ab 1953 folgten Aufzeichnungen des Hohensteiner Puppentheaters und der Augsburger Puppenkiste (vgl. Hickethier 1991, 103). Mit der Verschärfung des Gesetzes zum Schutze der Jugend, in dem Kinobesuche für Kinder unter sechs Jahren verboten wurden (27.7.1957), verschlechterten sich die Bedingungen auch für das Kinderfernsehen, sodass auch die ARD nur noch Sendungen für 8- bis 12-Jährige sendete (vgl. Schmidbauer/Löhr 1988, 12). Eine der bekanntesten war Schlager für Schlappohren mit Hase Cäsar (ab 1966). In den späten 1960er Jahren bahnen sich durch Koproduktionen neue Wege für das Kinderfernsehen an, die zu Sendungen wie den Pan Tau-Filmen (1971/72, 1975) und schließlich zur bis heute erfolgreichen Sendung mit der Maus (ARD ab 1971) führten (vgl. Stötzel 1995, 194–197). In der DDR entwickelte sich die Diskussion gänzlich anders. Kinder galten als »Hoffnungsträger« der neuen Gesellschaft und es wurde nicht ernsthaft erwogen, Kindern das Fernsehen zu verbieten (vgl. Wiedemann 2015, 4–5). Produziert wurden Sendungen wie Meister Nadelöhr (DFF/Fernsehen der DDR seit 1957) oder Flax und Krümel (Fernsehen der DDR 1955–1970), in denen Puppen als Stellvertreterfiguren für Kinder die Lebenswelt erforschen (vgl. Steinmetz/Viehoff 2008, 143). Das erste medienpädagogische Programm kam mit der Sendung Zu Besuch bei Prof. Flimmrich (DFF/Fernsehen der DDR 1959– 1991), in der Film- und Fernsehschaffende interviewt oder z. B. Schulen besucht wurden, die selber kleine Filme produzierten. Mit dem Mauerbau 1961 wurde das Kinderfernsehen dann nicht mehr als gesamtdeutsch gedacht, sondern als Abgrenzung zum ›Klassenfeind‹. Hierfür standen dann Sendungen wie Mach mit, mach’s nach, mach’s besser (DFF 1964–1991) oder Sing Pionier sing mit (DFF, Sendebeginn und -ende nicht dokumentiert) (vgl. Wiedemann 2015, 6). Ab dem 1.4.1963 beginnt in der BRD das ZDF zu senden, strahlt aber in der Anfangszeit nur unregelmäßig Kindersendungen im Nachmittagsprogramm
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_28
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IV Medien – B Film, Fernsehen, Computerspiel
aus. Eingekaufte Serien aus den USA wie Bronco (dt. Erstausstrahlung 1967–1968), Flipper (dt. Erstausstrahlung 1966–1969) oder Fury (dt. Erstausstrahlung 1958) werden im Vorabendprogramm gezeigt und erfreuen sich deutlichen Zuspruchs aufseiten des Kinderpublikums (vgl. Schmidbauer/Löhr 1988, 51–52). 1970er und 1980er Jahre Mit Beginn der 1970er Jahre wird der faktisch nie wirksame Ausschluss von Vorschulkindern vom Fernsehprogramm offiziell aufgehoben. Es entstehen Magazine für Kinder bis sechs Jahre wie Maxifant und Minifant (NDR seit 1971). Als die Sesamstraße 1970 auf dem Prix Jeunesse International in München zum besten Vorschulprogramm gewählt wird, beginnt ein bis dahin nie dagewesener globaler Erfolgszug. In Deutschland wird die Sendung mit dem NDR koproduziert und zunächst werden 30 % (später 50 %) der Segmente im Studio Hamburg neu gedreht (vgl. Kübler 2001). Als eigener – nicht US-amerikanischer ‒ Weg in der Vorschulbildung werden im BR Die Spielschule (ab 1969), Das feuerrote Spielmobil (ab 1972) und im ZDF die Rappelkiste (ab 1973) entwickelt. Neben Formen des sozialen Lernens spiegeln die Ansätze den Geist der 68er-Generation wider und Kinder sollen zum Hinterfragen von Werten und Handlungen der Erwachsenen angeregt werden (vgl. Lutz-Saal 1995, 143). Nach den zum Teil heftig geführten Auseinandersetzungen, sowohl im öffentlichen Diskurs als auch innerhalb des öffentlich-rechtlichen Systems, werden die Programme der späten 1970er und beginnenden 1980er Jahre dann deutlich weniger politisch und konzentrieren sich nun auf die ›Innenwelt des Kindes‹ wie in den ZDF-Sendungen Neues aus Uhlenbusch (seit 1977) oder Bettkantengeschichten (ab 1983). Mit Pusteblume, später Löwenzahn (seit 1981) etabliert sich im ZDF eine Wissenssendung im ökologischen Bereich. Auch in der DDR zeigten sich Spuren des Zeitgeistes. In den fiktionalen Geschichten traten Kinder in den Mittelpunkt der Geschichten und emanzipierten sich aus der Welt der Erwachsenen (vgl. Steinmetz/ Viehoff 2008, 338). Mit der Möglichkeit, das Kinderfernsehen nun auch bei der DEFA produzieren zu lassen, kamen neue künstlerische Wege hinzu, die u. a. zu diversen Märchenfilmen führten, aber auch zu Fernsehspielen wie Spuk unterm Riesenrad (Fernsehen der DDR ab 1979). Kennzeichnend für diese Zeit: phantastische und märchenhafte Stoffe wurden mit
Alltagsthemen verwoben. Die 1980er Jahre waren u. a. geprägt vom Politbüro der SED für Agitation und Propaganda, das den zunehmenden Konsum von Westmedien für Kinder der DDR als sehr problematisch einschätzte. Inhaltlich wurden im Fiktionalen, ähnlich wie im Westen, nun vermehrt Gegenwartsgeschichten gezeigt. Geschichten aus dem familiären Alltag wurden mit Kindern als zentrale Figuren erzählt und Erwachsene fungierten immer als Partner im »gesellschaftlichen Entwicklungsprozess« (Wiedemann 2015, 9). Zur deutlichen Veränderung der gesamten Fernsehlandschaft in der BRD kam es Mitte der 1980er Jahre, als privat-kommerzielle Sender zugelassen wurden. Sender wie RTL, Tele5 und Kabel1 sendeten Programmflächen mit international produzierten Zeichentrickserien wie Captain Future (dt. Erstausstrahlung ZDF 1980), die schnell an Marktanteil gewannen. 1990er und 2000er Jahre In den beginnenden 1990er Jahren ist das Kinderfernsehen der BRD durch diverse Club-Konzepte (Tigerenten Club, ARD ab 1996; Disney Club, ARD 1991– 1995; Schlawiner Club, BR 1996–2007) gekennzeichnet, die aus Studiospielen mit Kindern und Sendungsteilen von u. a. den Duck Tales (dt. Erstausstrahlung 1989 ARD) bestanden. Die eindeutige Rahmung versuchte so der postmodernen Auflösung von Formaten entgegenzuwirken und Zuschauende durch z. T. persönliche Club-Mitgliedschaften für sich zu gewinnen. Das ZDF setzte zudem auf eingekaufte Serien, die bereits in anderen Ländern mit großem Erfolg gelaufen waren, etwa Die Schlümpfe (dt. Erstausstrahlung 1983), Sailor Moon (dt. Erstausstrahlung 1995) oder Die Fraggles (dt. Erstausstrahlung 1989) (vgl. Hollstein 1997, 50). Ab Mitte der 1990er Jahre kamen dann die Spartenkanäle für Kinder hinzu, zunächst Super RTL (April 1995) mit vor allem international vermarkteten Zeichentrickproduktionen. Im Juli 1995 folgte der kommerzielle Sender Nickelodeon Deutschland (zunächst bis Ende Mai 1998), der u. a. innovative Formate wie Clarissa (dt. Erstausstrahlung 1995) oder Pete & Pete (dt. Erstausstrahlung 1995) sendete. Am 1.1.1997 ging dann der öffentlich-rechtliche Kinderkanal (KiKA) auf Sendung, der neben zahlreichen Zeichentrickprogrammen u. a. Live-action-Serien, diverse Wissensund Ratgeberformate und die täglichen Kindernachrichten logo! (seit 1988) anbietet. Neben SuperRTL und KiKA sendet seit September
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2005 auch Nickelodeon (NICK) wieder ein deutschsprachiges Programm. Mittlerweile strahlt der internationale Konzern sein Programm, das vor allem aus selbst produzierten Zeichentricksendungen wie SpongeBob Schwammkopf (dt. Erstausstrahlung 2002) sowie Sitcoms, einigen Realserien (Zoey 101 2005–2008) und vereinzelten Shows besteht, in ca. 179 Länder aus. 2014 kam dann noch der Disney Channel im Free-TV hinzu. Neben den aktuellen und klassischen DisneyAngeboten produzierte der Disney Channel einzelne Live-Action-Serien in Europa sowie einige Shows in Deutschland. Kinderfernsehen heute Kindern stehen heute in Deutschland wöchentlich rund 470 Stunden frei empfangbares Kinderfernsehen zur Verfügung. Hinzu kommen noch weitere rund 1500 Stunden im Bezahlfernsehen (sky). Durch die Verspartung des Kinderfernsehens findet mittlerweile gut 96 % der Nutzung von Kinderprogrammen bei KiKA, SuperRTL, NICK oder im Disney Channel statt (vgl. Hofmann 2015). Neben der analogen Ausstrahlung werden nahezu alle Sendungen für einige Zeit oder dauerhaft, je nach Rechtelage, online auf den Senderplattformen (z. B. http://kika.de, http://toggo. de), Streamingdiensten (Amazon Prime, Netflix etc.), sowie Mediatheken, die meist über Apps zugänglich sind (KiKA App, Elefanten App), angeboten. Hinzu kommen gezielte Angebote einzelner Sendungen wie http://Sandmännchen.de und http://wdrmaus.de sowie YouTube Channel z. B. von der Sendung Checker Tobi (BR seit 2013). Inhaltlich besteht das Kinderfernsehen aus den Kindersendern in Deutschland zu 87 % aus fiktionalen Sendungen, zu 4 % aus Informations- und Wissensendungen und zu 9 % aus Mischformaten wie der Sesamstraße (dt. Erstausstrahlung NDR/RB/SFB III seit 1972) oder der Sendung mit der Maus. Nickelodeon und der Disney Channel bieten mit 99 % fast ausschließlich – SuperRTL mit 92 % nahezu ausschließlich – fiktionale Programme an. Von der Machart her sind die fiktionalen Sendungen vor allem für den internationalen Markt produzierter Zeichentrick (Animation), hinzu kommen Live-Action-Programme und in wenigen Fällen Puppenfilme. Das Kinderfernsehen in Deutschland sendet vor allem internationale Produktionen, hauptsächlich aus den Vereinigten Staaten. Deutsche oder deutsch-koproduzierte Sendungen machen ein Viertel der Angebote aus (vgl. Prommer/Linke/Stüwe 2017, 7).
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28.4 Typologien Klar definierte Genres gibt es im Kinderfernsehen nicht. Programmanalysen unterscheiden zwischen Programmsparten wie »fiktional«, »Non-Fiction« und »Hybridformate« (ebd., 5). Fiktionale Programme machen etwa 85 % des hiesigen Kinderprogramms aus, non-fiktionale ca. 9 % und die restlichen 7 % werden als Hybridformate zusammengefasst (vgl. Götz/ Hofmann/Mendel u. a. 2019, 2). Im Bereich Fiktion werden alle Formate gefasst, die erdacht sind und in allen Details einem Drehbuch folgen. Sie haben meist Bezüge zur Realität, interpretieren und erzählen diese aber phantasievoll. Das größte Genre in diesem Bereich sind die Serien, d. h. Sendungen mit diversen Episoden, einem konstanten Set an Protagonisten und Nebenfiguren in einem wiederkehrenden Setting. Manchmal werden sie nach ihrer Machart (Animation, Live-Action, Puppe) unterteilt, was aber nicht mit einem Genre gleichzusetzen ist. Kinderserien wie Schloss Einstein (MDR/KiKA seit 1998), Die Pfefferkörner (NDR/ARD seit 1999) oder auch Spotlight (dt. Erstausstrahlung NICK 2016) erzählen mit einer – zumindest für bestimmte Staffeln – konstanten Personengruppe (Cast), zu der dann je nach Geschichte weitere Charaktere hinzukommen. Weitere populäre Genres sind Comedy wie SpongeBob Schwammkopf oder Sitcoms wie Henry Danger (dt. Erstausstrahlung NICK 2014). Die Genregrenzen verwischen dabei zwischen den einzelnen Formaten von Slapstick-Comedy wie Tom und Jerry (z. Z. SuperRTL; dt. Erstausstrahlung ZDF 1976), zu Abenteuergeschichten wie Yakari (dt. Erstausstrahlung KiKA 2008) oder Peter Pan (dt. Erstausstrahlung KiKA 2013), und Highschool-Geschichten mit Krimicharakter, wie Sally Bollywood (dt. Erstausstrahlung im Free-TV, SuperRTL 2010) etc. Hinzu kommen einige Kinderfilme (unter 1 % des Angebots). Etwas besser abgrenzbar sind dagegen die als ›NonFiction‹, ›factual‹ oder ›Kinderpublizistik‹ bezeichneten Programme. Sie beruhen auf Fakten oder faktisch Geschehenem, dokumentieren und/oder setzen sich konkret mit der Realität auseinander. Hierzu gehört zum Beispiel die Kindernachrichtensendung logo! oder auch Neuneinhalb, das wöchentliche Informationsmagazin zu aktuellen Themen (WDR/ARD seit 2004). Auch die diversen Wissensendungen wie Wissen macht Ah! (WDR/KiKA ab 2001), Pur + (ZDF/KiKA ab 2006) und Checker Can/Tobi/Julian (BR/KiKA seit 2011) sind non-fiktionale Sendungen. Hinzu kommen Dokumentationsreihen wie Schau in meine Welt (HR, KiKA, MDR, rbb, SWR seit 2012) oder Do-
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ku-Soaps wie Die Mädchen-WG (ZDF/KiKA ab 2010), sowie Shows, z. B. Dein Song (ZDF/KiKA ab 2008), Spielshows (1, 2 oder 3, ZDF/KiKA ab 1977; Tigerenten Club, SWR/ARD ab 1996), und Talkshows (z. B. Let’s talk. Weil Meinung zählt!, ZDF/KiKA ab 2015). Diese Formate ähneln entsprechenden Formaten aus dem Erwachsenenfernsehen, sie stellen jedoch Kinder und deren Kompetenzen in den Mittelpunkt. In den sogenannten ›Hybridformaten‹ oder der ›Hybridunterhaltung‹ stehen meist fiktionale und non-fiktionale Teile nebeneinander; so z. B. in der Magazinsendung Die Sendung mit dem Elefanten (WDR/ KiKA seit 2007) oder Sesamstraße.
28.5 Narratoästhetik Inhaltlich bieten die Serien meist Abenteuergeschichten, bei denen ein Held oder eine Heldin mit Freunden (meist sogenannten ›Stupid Sidekicks‹ und Best Friends) die kleinen und großen Abenteuer des Lebens erlebt, auf Reisen geht oder Kriminalfälle löst. Meist werden diese Sendungen in hoher Folgenzahl hergestellt (selten unter 56 Folgen, meist über 120 Episoden). Die Texte sind meist so angelegt, dass eine Identifikation mit der Hauptfigur oder Figurengruppe (Anschlussfigur/en) nahegelegt wird und die Kinder imaginär mit ihnen ein Abenteuer erleben. Dies ermöglicht die Etablierung einer Marke und den Aufbau parasozialer Beziehungen bei Zuschauenden (vgl. Götz 2014, 77–81). Anders als in der Anfangszeit des Kinderfernsehens, als wöchentlich wiederkehrende Ausstrahlungen üblich waren, wird heute fast ausschließlich ›gestripped‹, d. h. über fünf bzw. sieben Tage werden zur jeweils selben Sendezeit verschiedene Folgen derselben Serie gesendet. Die Folgen werden meist mit vier bis fünf Folgen nacheinander gesendet, jeden Tag um dieselbe Zeit. Beispielsweise wurden an einem Donnerstag im Dezember 2017 zweimal täglich vier Folgen der siebenminütigen Trickfilmsendung Bugs Bunny & Looney Toons (dt. Erstausstrahlung 2005), von der es mehr als 1000 Episoden gibt, auf SuperRTL gesendet. Kinder können so, ohne den genauen Anfang zu kennen, irgendwann in diesem Zeitraum den Sender einschalten und wissen, was sie erwartet. Für diese Nutzung braucht es ein spezielles dramaturgisches Grundkonzept, das vertikale Erzählen. Die immer gleichen Figuren können sich innerhalb einer Folge entwickeln, fangen aber in der nächsten Folge quasi
unberührt davon wieder von Neuem an. Dies sichert die Möglichkeit vielfacher Wiederholung ohne auf bestimmte Reihenfolgen beim Senden oder Ansehen achten zu müssen. Anders bei Serien, die neben dem Abschluss einer Handlung in einer Episode (vertikal erzählt) auch Entwicklungen über einen längeren Zeitraum berichten (horizontales Erzählen) (s. Kap. 17). Dies findet sich bei einigen Zeichentrickserien wie den deutschen Koproduktionen Der Kleine Prinz (2011–2016), Die Abenteuer des jungen Marco Polo (seit 2013) oder auch Mia and Me (ab 2012; alle KiKA). Horizontales Erzählen findet sich im Kinderfernsehen aber auch in genretypischen Formen, zum Beispiel in Serien, die an Soap Operas bzw. Telenovelas angelehnt sind. Die Kinderserie Schloss Einstein (KIKA) beispielsweise erzählt in mittlerweile über 900 Folgen seit 1998 Geschichten um Schüler der Klassen 6 bis 10 des Schloss-EinsteinGymnasiums. In für Soap Operas typischer Zopfdramaturgie werden zwei bis drei Handlungsstränge ineinander verwoben. Jede Episode ist dabei in sich abgeschlossen, einzelne Handlungsstränge ziehen sich aber über mehrere Folgen, zum Teil werden Soap-typische Elemente wie Cliffhanger eingesetzt und die Figuren entwickeln sich über einen längeren Zeitraum, bis sie schließlich aus Altersgründen ausscheiden. Sitcoms Eine weitere besondere Erzählform, die aus dem USamerikanischen Rundfunk Einzug ins Kinderfernsehen weltweit hielt, ist die Sitcom (Kurzform für Situation Comedy). Aus dem Radio der 1930er Jahre kommend, dreht sich in der Sitcom alles um ein festes Ensemble von Charakteren mit viel komischem Potential. Die Schauspieler agieren meist vor Publikum, das jedoch nur durch sein Lachen zu hören ist. Bei Außenaufnahmen (und weniger kostenaufwendigen Produktionen) werden entsprechende Lacher später eingespielt (vgl. Mills 2009, 102–106). Die Drehbücher sind bis zum maximal Möglichen mit Gags angereichert. Eine der erfolgreichsten Sitcoms im deutschen Kinderfernsehen ist Disneys Hannah Montana (dt. Erstausstrahlung Disney Channel 2006–2011) mit durchschnittlich alle acht Sekunden einem Gag bzw. Lacher. Die Handlung dreht sich um Hannah Montana, die tagsüber das ›normale‹ Mädchen Miley ist, das im Bungalow am Strand von Malibu Beach mit ihrem Vater lebt, und des Nachts der Pop-Superstar Hannah Montana. Durch ihre geheime Identität ergeben sich viele komische Situationen (vgl. Götz/Bulla 2013,
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728). Die hohe Schlagzahl in dem seriellen Produkt wird dabei durch das sogenannte Writers’-RoomPrinzip möglich, bei dem eben nicht mehr ein oder zwei Kreative die Drehbücher schreiben, sondern eine Gruppe aus mindestens sechs Personen nach festen kreativen Regeln ein Maximum an komischen Situationen und Sprachgags in für die Zielgruppe attraktiven Handlungsabläufen produziert (vgl. u. a. Weiß/ Gößler 2014). Interaktive Formate Einige fiktionale Sendungen weisen eine Besonderheit in der narratoästhetischen Struktur auf, indem die Zeit für Interaktion direkt in die Dramaturgie eingebaut ist. In Sendungen wie Blues Clues (z. Z. NICK, dt. Erstausstrahlung SuperRTL 2003), Dora (dt. Erstausstrahlung NICK 2005) oder auch JoNaLu (ZDF/ KiKA ab 2010) sprechen die Figuren die Kinder direkt an und warten anschließend ein bis zwei Sekunden, damit diese antworten können. Ähnliche Einschreibungen der Kinder in den Text finden sich auch oft in den Comedystücken von Anke Engelke für die Sendung mit dem Elefanten. Insbesondere Vorschulkinder nehmen diese Art der Einbindung oft begeistert auf. Nicht-fiktionale Programme Ein minimaler Teil des Programmangebots kommerzieller Anbieter (2–3 %) und ein knappes Fünftel (17 %) des öffentlich-rechtlichen KiKA sind faktenbasiert (factual), ein weiteres knappes Fünftel (19 %) Hybridformate (vgl. Götz et al 2019, 2). Sie dienen vor allem der Information und Bildung. Diverse Wissenssendungen kann der KiKA rund ums Jahr auf der 19.30-Uhr-Zeitschiene senden. Hierzu gehört z. B. die Magazinsendung Wissen macht Ah!, bei der Sachverhalte, Wörter oder Phänomene anschaulich erklärt werden, umrahmt von der Studiomoderation von Ralf Caspers und Shary Reeves. Wissen macht Ah! wurde als Spin Off der Sendung mit der Maus entwickelt, die Wissen in verschiedenen Bereichen vermittelt. Meist sind die heutigen Wissenssendungen des hiesigen Kinderfernsehens monothematisch angelegt, d. h. es wird ein Thema oder ein Themenfeld pro Sendung behandelt. Im CheckerFormat, historisch die Nachfolgeserie zu Willi wills wissen (KiKA 2002–2010), gehen Checker Can (2011– 2013), Checker Tobi (seit 2013) und Checker Julian (seit 2018) jeweils einer Frage nach, z. B. im Flüchtlings-Check, Leben-und-Sterben-Check etc. Je nach
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Anlage des Formats kann dies über einen Forschungsweg erreicht werden oder mehrere Untergenres beinhalten, wie bei Pur +, wo es neben einer Expertenbefragung ein Experiment und meist eine Betroffenendokumentation gibt. Eine wichtige Möglichkeit, um sich altersangemessen zu informieren, sind Kindernachrichtensendungen wie logo! In der Sendung finden sich zum einen Themen, die sich auch in den Hauptnachrichten wiederfinden, die aber durch Erklärstücke ergänzt werden, die in einfacher Sprache komplexe Zusammenhänge in drei, höchstens vier Argumente oder Sachverhalte zerlegen (vgl. Mörchen 2016, 15). Dies ermöglicht, die Verschiedenheit der Argumente zu verstehen und sich eine Meinung zu bilden. Die kurze Wiederholung der drei Argumente am Ende unterstützt das Memorieren des Inhalts. Hinzu kommen kindernahe Nachrichten mit hohem Nachrichtenwert für Kinder (vgl. u. a. Krüger/Müller 2014), ergänzt durch Unterhaltsames, ein Promi-Interview und nach dem Wetter Humor mit dem Wettertier. Insbesondere zu Krisenzeiten ist logo! für viele Kinder und Familien ein Anlaufort, um sich altersangemessen über aktuelle Geschehnisse zu informieren, was zu emotionaler Entlastung führt (vgl. Götz 2011, 30). Ein nicht besonders marktanteilstarkes nicht-fiktionales Genre sind Dokumentationen wie das Format Schau in meine Welt, das vielfach ausgezeichnet wurde und seit 2012 in mittlerweile über 170 Folgen Einzelporträts von Kindern in besonderen Lebenslagen (z. B. Armut, Leben mit Behinderung) oder an besonderen Orten der Welt porträtiert. Ziel ist es hier, aus der Perspektive eines Kindes einen dokumentarischen, also möglichst unbeeinflussten Einblick in die Lebenswelt dieses Kindes zu geben. In sogenannten Doku-Soaps werden meist ältere Kinder dabei begleitet, wie sie besondere Herausforderung meistern, sich z. B. sechs Wochen in der Wildnis zurechtfinden und Aufgaben lösen (Durch die Wildnis, KiKA ab 2011), ihr Talent mit Profis weiter fortbilden (Dein Song) oder ohne Eltern sechs Wochen Ferien machen (Die Mädchen- bzw. Jungs-WG, ZDF ab 2010 bzw. 2009). In diesem Genre-Mix werden die Stärken der Dokumentation genutzt, indem z. B. die Gespräche der Jugendlichen aufgezeichnet und zusammengeschnitten werden und so ein zwar situativ beeinflusstes Setting hergestellt wird, die Gespräche an sich aber nicht durch Erwachsene oder ein Drehbuch vorgegeben werden und in diesem Sinne ›natürlich‹ sind. Gleichzeitig wird die Realität mit Herausforderungen spannungsreich angereichert und dokumentiert, wie
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die Mädchen und Jungen mit den Challenges umgehen. Die dramaturgische Aufbereitung des aufgezeichneten Materials im Schnittraum lehnt sich dann an die Inszenierungsmuster der Soap-Opera an, schafft Charaktere, arbeitet mit einer Zopfdramaturgie und beispielsweise Cliffhangern. Dies schafft eine höhere Bindung der Zuschauenden an die Sendung und legt Miterleben, Mitfiebern und Beobachten von Alltagsge sprächen der Teilnehmenden im Text an. Die fast ausschließlich vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk selbst produzierten non-fiktionalen Formate werden oft durch ein Online-Angebot erweitert, das mit weiteren Szenen und diversen Zusatzinformationen die Sendung ergänzt, sowie in Apps z. T. durch Spiele ergänzt wird. So lässt sich festhalten, dass das Kinderfernsehen in Deutschland sich vom Beginn der einzelnen Kinderstunde im Studio zu einem weit ausdifferenzierten, meist global vermarkteten und hoch kommerzialisierten Programmangebot für Kinder entwickelt hat. Die Inhalte standen stets im Kontext der institutionellen Einbindung von Staatsfernsehen in der DDR, öffentlich-rechtlichem Fernsehen in der BRD bis hin zu kommerziellen internationalen Konzernen. Die institutionelle Einbindung hat dabei immer auch entscheidende Konsequenzen für die Inhalte. So kommen privat kommerzielle Anbieter mit wenigen, internationalen fiktionalen Programmen aus, während das öffentlich-rechtliche Fernsehen eine große Bandbreite auch an non-fiktionalen und in Deutschland produzierten Sendungen aufweist. Dabei sind die Inhalte nicht mehr auf ein Medium beschränkt, sondern bilden oftmals Medien- und Ereignisarrangements, bei denen ein Inhalt (Brand) über diverse mediale Plattformen in der jeweils entsprechenden dramaturgischen Form angeboten wird. Selbst die Kindersendungen selber werden nicht nur über das analoge Fernsehen genutzt, sondern zunehmend über weitere Plattformen, von Streaming-Diensten über Tablets zu Mobiltelefonen. War Kinderfernsehen in den ersten Jahrzehnten von einem engagierten, meist sehr kritischen öffentlichen Diskurs begleitet, flammt im neuen Jahrtausend nur noch sehr vereinzelt eine öffentliche Diskussion auf ‒ und wenn dann meist in Bezug auf Kritik zu einer Sendung oder einem Film. Auch der wissenschaftliche Diskurs, der in den 1980er und 1990er Jahren breit und kritisch geführt wurde, ebbte in Deutschland immer mehr ab. Es entsteht der Eindruck, dass mit den Spartenkanälen auch ein Verschwinden des Kinderfernsehens aus der öffentlichen Wahrnehmung einherging. Parallel dazu nahm die Reichweite des expliziten
Kinderfernsehens bei den jüngeren Kindern mit der Vermehrung des Angebots deutlich zu. Lag der Anteil des expliziten Kinderfernsehens an der Gesamtfernsehnutzung 1993 bei den Vorschulkindern noch bei 34 % und bei den 6- bis 9-Jährigen bei 31 %, verbrachten 2015 die 3- bis 5-Jährigen 72 % und die 6- bis 9-Jährigen noch 63 % ihrer Fernsehzeit mit Kinderfernsehen (vgl. Hofmann 2015). Insgesamt ist dabei die Nutzung des analogen Fernsehens mit einem TV-Gerät deutlich zurückgegangen; im Vergleich von 2010 zu 2017 bei Vorschulkindern um etwa 20 Minuten, bei Preteens um 30 Minuten (vgl. Feierabend/Scolari 2018, 165). Parallel ist die Nutzung von anderen Zugängen wie YouTube-Channels (z. B. Checker-Formate), Internet- und App-Angeboten (z. B. Sendung mit dem Elefanten) deutlich gestiegen. Die meisten Sendungen stehen zudem auf Streaming-Plattformen (z. B. Amazon Prime) zur Verfügung. Kinderfernsehen ist heute nicht mehr an ein TV-Gerät gebunden, sondern wird über diverse Zugänge genutzt. Und wenn Vor- und Grundschulkinder in Deutschland die Wahl haben, nutzen sie die Sendungen, die für sie gemacht sind, womit letztendlich das eingetreten ist, was Müntefering 1972 so provokant verkündete: Mittlerweile ist das, was Kinder gucken, wirklich zu einem großen Teil Kinderfernsehen. Literatur
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28 Kinderfernsehen und Nutzung des Kinderfernsehens in Deutschland. Ein Kooperationsprojekt von SuperRTL und IZI. IZI: Unveröffentlichter Forschungsbericht. 2015. Hollstein, Birgit: Mit Clubkonzepten Kinder fesseln. In: Hans Dieter Erlinger (Hg.): Kinder und der Medienmarkt der 90er Jahre. Aktuelle Trends, Strategien und Perspektiven. Opladen 1997, 49–63. Kübler, Hans-Dieter: Vom Fernsehkindergarten zum multimedialen Kinderportal. 50 Jahre Kinderfernsehen in der Bundesrepublik Deutschland. In: TelevIZIon 14/2 (2001), 4–18. Krüger, Udo Michael/Müller, Christiane: »logo!«: Fernsehnachrichten für Kinder – Inhaltsanalyse. Themenstruktur und Sendungsformen 2010 bis 2012. In: Media Perspektiven 1 (2001), 2–20. Lutz-Saal, Bärbel: Vom Vorschulprogramm zu den kleinen Reihen. 20 Jahre Programmgeschichte im ZDF. In: Hans Dieter Erlinger/Uwe Mattusch/Kerstin Eßer/Bettina Klein/Birgit Hollstein (Hg.): Handbuch des Kinderfernsehens. Konstanz 1995, 142–158. Mills, Brett: The Sitcom. Edinburgh 2009. Mörchen, Markus: logo! und das Flüchtlingsthema: »Keine Angstmacherei, aber auch keine rosarote Welt«. In: TelevIZIon 29/2 (2016), 14–16. Müntefering, Gert K.: Wir brauchen viele schlechte Filme..., um zu besseren zu kommen. In: Theo von Alst (Hg.): Millionenspiele – Fernsehbetrieb in Deutschland. München 1972, 128–136.
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29 Computerspiel 29.1 Einleitung Als Computerspiele bzw. digitale Spiele werden zunächst alle Arten von Spielen verstanden, die auf elektronischen Geräten gespielt werden. Hierzu zählen neben Personal Computern, Laptops sowie stationären und portablen Konsolen auch Tablets oder Smartphones. Das Computerspiel stellt in Hinblick auf Ludizität, Medialität und Narrativität eine Hybridkonstruktion dar (vgl. GamesCoop 2012, 10). Dieser Umstand muss Berücksichtigung finden, wenn das digitale Spiel als narratives Medium untersucht wird. Im Folgenden werden das Computerspiel als eine solche Hybridkonstruktion modelliert, seine Entstehung und Entwicklung seit den 1950er Jahren nachvollzogen sowie prototypische Regelstrukturen und Spielgenres skizziert. Es folgt ein Überblick zu ausgewählten narrativen und darstellerischen Aspekten wie Handlung, Figur, Bild und Ton sowie ein Abriss zu intermedialen System- und Einzelreferenzen.
29.2 Begriffsdefinitionen Darüber, was sich ›narratives Computerspiel‹ nennen darf und ob das digitale Spiel überhaupt ein erzählendes – gar literarisches – Medium sein kann, sind sich Narratologie, Ludologie, Literatur- und Medienwissenschaften uneinig: Das Computerspiel scheint sich aufgrund der schwierigen Unterscheidbarkeit spielerisch-simulativer und narrativer Elemente einer einheitlichen Definition zu entziehen. Weder können die ohnehin mühsam zu differenzierenden Spielgenres in erzählende und nicht-erzählende kategorisiert werden, noch kann innerhalb eines Spiels eine derartige Dichotomie sinnvoll zur Anwendung kommen. Das binäre Denken, welches sich um die Jahrtausendwende in behaupteten Widersprüchen von ›Spielen vs. Erzählen‹ oder ›Simulation vs. Narration‹ (vgl. Frasca 2003) und damit »als Auseinandersetzung zwischen einer ludologischen und einer narratologischen Schule« (Thon 2015, 110) artikulierte, führte »zum Auftreten einiger bedauerlicher blinder Flecken bezüglich der Narrativität von Computerspielen« (ebd.). Mittlerweile spricht Jan-Noël Thon jedoch von einer »›Ludologisierung‹ narratologischer Ansätze zu Computerspielen« (ebd., 110–111), die sich u. a. in der Dissertationsschrift von Markus Engelns zeigt. Dieser definiert Computerspiele als »technologisch erzeugte
Programme, die Spielwelten hervorbringen, die wiederum spielerische Realisierungsebenen aufweisen müssen und narrative Realisierungsebenen aufweisen können« (Engelns 2015, 25–26). Narrativität stellt somit kein konstituierendes Merkmal digitaler Spiele dar. Wenn also im Rahmen kinder- und jugendliterarischer Fragestellungen Computerspiele zu untersuchen sind, werden Modelle gebraucht, die speziell narrative Computerspiele beschreibbar machen. Um der Hybridität des Mediums gerecht zu werden, wird hier für narrative Computerspiele der Begriff der Ludonarration verwendet. Die Ludonarration wird in Anlehnung an Jochen Vogts Definition eines narrativen Minimums (vgl. Vogt 2008, 117), der transmedialen Erzähltheorie (vgl. Wolf 2002; Ryan 2005, 2006; Thon 2016) sowie Engelns’ Definition des Computerspiels (s. o.) wie folgt modelliert: Die Ludonarration lässt sich als Hybrid aus spielerischen und narrativen Elementen in vier Level differenzieren, welche jeweils als Betrachtungsperspektiven für Figur, Handlung, Ort und Zeit dienen (s. Abb. 29.1). Level 1 (realer Kontext) beschreibt mindestens eine reale Person in ihrem konkreten Umfeld, welche die auf Level 2 (Darstellung) verorteten audiovisuellen und evtl. haptischen Outputs des Programms rezipiert. Durch verschiedene Inputs greift die Person im Rahmen festgelegter Regelsysteme auf Objekte einer Spielwelt zu (Level 3, Spielregeln und Simulation). Diese ist wiederum als fiktive Welt gestaltet (Level 4, fiktive Welt und Narration) und bietet Schauplatz und narrativen Kontext, um das Entstehen von Ereignisfolgen zuzulassen. Diese Ereignisfolgen setzen eine Zeitdauer voraus und entstehen durch Zustandsveränderungen, die auf das Handeln einer oder mehrerer Figur(en) zurückzuführen sind (vgl. Vogt 2008, 117). Zwischen Immersion und Interaktion (vgl. Murray 2017, 124; Ryan 2001) ist die spielende Person auf Level 1 in diesen Prozess aktiv involviert und führt – übersetzt durch die Level – Handlungen innerhalb der fiktiven Welt (Level 4) aus.
29.3 Historische Entwicklungen Während sich die ersten Brett- und Gesellschaftsspiele (Königliches Spiel von Ur, Mesopotamien; Go, China; Senet, Ägypten) auf etwa 2600 v. Chr. datieren lassen, ist das elektronische Spiel – das Computerspiel – ein vergleichsweise junges Medium. Es nimmt in den 1950er Jahren an Universitäten seinen Anfang und ist seitdem in seiner Entwicklung eng mit der Entstehung
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_29
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Abb. 29.1 Modellierung der Ludonarration
von Trägermedien und Spielgeräten bzw. mit dem Fortschritt von Computertechnologien verwoben. Neben den ersten Universitätsrechnern (1950er und 1960er Jahre) sind Meilensteine hier die öffentlich zugänglichen Arcade-Automaten in Spielhallen (1970er und 1980er), die stationären Heimkonsolen und Personal Computer (1980er), die Entwicklung mobiler Handheld-Konsolen, die Etablierung lokaler Netzwerktechnologien sowie die Entstehung des World Wide Webs (1990er). Letztere ermöglicht in den 2010er Jahren u. a. eine Distributionsrevolution (vgl. Egenfeldt-Nielsen/Smith/Tosca 2016, 111). Die 2010er Jahre sind weiter geprägt durch die zunehmende Nutzung des Körpers als Interface – beginnend mit Nintendo Wii (2006), Kinect für Xbox 360 (2010) sowie Move für die PlayStation 3 – und schließlich durch die Entwicklung von Virtual-Reality-Technologien wie Oculus Rift (Entwickler-Version seit 2013) und HTC Vive (2016). Bereits 1952 gibt es eine digitale Umsetzung des klassischen Spiels Tic-Tac-Toe (OXO, auch Noughts and Crosses), ihm folgt 1958 Tennis for Two. Es wird häufig als erstes Computerspiel bezeichnet (vgl. Beil 2013, 7), obwohl es mit einem Analogcomputer und einem Oszilloskop betrieben wird. Einige Jahre später nutzt Spacewar! (1962) die damaligen Programmierstandards (vgl. Egenfeldt-Nielsen/Smith/Tosca 2016, 68) und ist zudem rudimentär in ein narratives, von Science-Fiction-Literatur inspiriertes Szenario eingebettet. In den 1970ern und 1980ern werden Computerspiele durch Spielhallen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Während an den ArcadeAutomaten audiovisuell vermittelte Geschicklichkeitsspiele wie Space Invaders (1978) und Pac-Man (1980) vorherrschen (vgl. Beil 2013, 9), entstehen – in-
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spiriert durch Pen-and-Paper-Rollenspiele wie Dungeons & Dragons (1974) – die ersten textbasierten Adventures Adventure (1976) und Zork (1980). Es folgen weitere Spiele wie Mystery House (1980), die einen stärken narrativen Fokus setzen und zusätzlich einfache grafische Darstellungen anbieten (vgl. Egenfeldt-Nielsen/Smith/Tosca 2016, 74). 1983 führen »überhöhte Gewinnerwartungen und eine Flut zweitklassiger Spiele [...] auf dem US-amerikanischen Markt zu einem massiven Einbruch in der Erfolgsgeschichte der Computerspielindustrie« (Beil 2013, 9). Aus diesem sogenannten ›Video Game Crash‹ geht Nintendo mit der Erfindung des Universums rund um die Computerspielfigur Mario – z. B. in Donkey Kong (1981), Mario Bros. (1983) und Super Mario Bros. (1985) – und der Entwicklung ihres Nintendo Entertainment Systems (NES, 1986/87) als Sieger hervor. Die Spiele um Mario sind narrativ durch das Spielziel gerahmt, eine Prinzessin aus den Klauen eines Bösewichts zu befreien und bedienen sich damit der »rescue-the-damsel-in-distress storyline« (Egenfeldt-Nielsen/Smith/Tosca 2016, 82), welche in Actionspielen der 1980er weit verbreitet ist. Dem setzen Text- und Grafikadventures wie Deadline (1982), Maniac Mansion (1987) oder Indiana Jones and the Last Crusade: Das Graphic Adventure (1989), Dungeon-, Detektiv- und Science-Fiction-Szenarien entgegen. Um für kulturelle Akzeptanz dieses Genres zu sorgen, werden besonders Textadventures als interaktive Erzählungen vermarktet und als solche sogar in der New York Times besprochen (vgl. Rothstein 1983). Mit den 1990er Jahren wird deutlich, dass sich Computerspiele »als transmediale Ausweitungen seriellen Erzählens« (Grampp 2017) etablieren: The Secret of Monkey Island markiert 1990 den Beginn einer Adventure-Erfolgsserie, deren fünfter Teil 2009 erscheint (Tales of Monkey Island). Parallel wird das First-Person-Adventure Myst (1993) dank seiner »strong narrative and atmospheric world« zu einem der »most famous and best-selling home computer games ever« (Egenfeldt-Nielsen/Smith/Tosca 2016, 98). Es wird ebenfalls als fünfteilige Serie weitergeführt, die 2005 mit Myst V: End of Ages ihr Ende nimmt. Während 2D-Beat-’em-up Actionspiele wie Mortal Kombat (1992) und die ersten 3D-Shooter wie Doom (1993) für Empörungen bei Eltern und in der Presse sorgen, gibt Myst Kritikern Grund zu der Annahme, Computerspiele könnten sich zu einer Kunstform entwickeln (vgl. Rothstein 1994). Weiter erlaubt die steigende Kapazität der damaligen CD-ROMs, Spiele durch die Nutzung von Filmszenen in digitale,
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interaktive Filme zu verwandeln. Von dieser Möglichkeit macht z. B. The Beast Within: A Gabriel Knight Mystery (1995) Gebrauch. Durch die Etablierung des World Wide Webs werden außerdem Massively Multiplayer Online Role Playing Games (MMORPGs) wie Ultima Online (1997) breiter zugänglich und erlauben Spielenden »to create characters and explore a universe of adventure housed in servers around the globe« (Egenfeldt-Nielsen/Smith/Tosca 2016, 100). Weiter erscheinen in den 1990er Jahren zunehmend originäre Computerspiele bzw. -serien für Kinder und Jugendliche. So erweitert Tivola den TKKG-Medienverbund zwischen 1997 (TKKG: Katjas Geheimnis) und 2008 (TKKG: Das unheimliche Zimmer) um insgesamt 16 Point-and-Click-Adventures. Für das jüngere Publikum wird eine Lernspielserie rund um den Protagonisten Max entwickelt, die 1995 mit Max und die Geheimformel ihren Anfang nimmt. Kinderbuchschreibende beteiligen sich nun selbst an der Entwicklung von Spieladaptionen ihrer Werke, wie z. B. – im Falle von Paul Maar – bei Eine Woche voller Samstage (1998). Bezeichnend für solche Adaptionen dieses Zeitraumes ist, dass weder die narrativen noch die ludischen Aspekte dieser Produkte überzeugen können. Während die Erzählungen teilweise auf Banalitäten reduziert sind, bleiben Spielaktivitäten belanglos und haben wenig sinnhaften Bezug zur narrativen Ebene. Die 2000er Jahre sind geprägt durch das Aufkommen von Casual und Mobile Games, sodass sich digitale Spiele spätestens mit Nintendos Wii Play und Wii Sports (2006) auch als niederschwellige Unterhaltungsmedien für die ganze Familie etablieren. Parallel entwickeln sich die Genres der vorangegangenen Jahre weiter und Genrehybride stellen bereits gegen Ende der 1990er Jahre eher die Regel, denn die Ausnahme dar (vgl. ebd., 93). Ein für die Betrachtung von Kinder- und Jugendmedien wichtiges Phänomen dieses Jahrzehnts sind außerdem die LEGO-Spieleserien, welche u. a. LEGO Star Wars: The Complete Saga (2007) und LEGO Harry Potter: Years 1–4 (2010) umfassen. Sie erlauben das Erspielen der entsprechenden Erzählungen und stützen sich vor allem auf die Filminszenierungen der jeweiligen Stoffe. Während mit der Weiterentwicklung von Computertechnologien der Umfang, das Sounddesign und die Graphik aktueller Spiele in den 2000er Jahren immer beeindruckender werden, kommt mit Spielen wie Minecraft (2009) auch ein Trend zur pixeligen ›RetroGrafik‹ auf, der sich besonders im Bereich sogenannter Indie-Games zeigt. Diese erlangen Bekanntheit, da Independent-Entwickelnde ihre Spiele nun un-
abhängig von großen Verlagen über Onlineplattformen wie Steam oder GOG vertreiben können. So setzt sich die Computerspielwelt der 2010er Jahre aus Genres und Spieltechnologien zusammen, die von Indie-Games im Stil von 8- oder 16-bit-Grafik und -Sound über 300-stündige Rollenspielabenteuer in realistisch animierten Spiel- und Erzählwelten bis hin zur Nutzung von Augmented- (Pokémon Go, 2016) und Virtual-Reality-Technologien reicht. Dies wird begleitet von einer Spieleszene, welche die Welt der Computerspiele in Form von Let’s Plays, Streams, Rezensionen und Podcasts auf Plattformen wie http:// Youtube.com oder http://Twitch.tv zelebriert, kritisiert und reflektiert.
29.4 Typologien In dem relativ kurzen Entwicklungszeitraum der Computerspiele haben sich populäre Spielgenres herausgebildet, die Produzierenden sowie Rezipierenden gleichermaßen Orientierung bieten, Erwartungshaltungen kommunizieren und somit als »middle-man in a complex ecosystem of functional considerations and aesthetic ideas« (Arsenault 2009, 150) fungieren. Die Systematisierung der Computerspielgenres ist jedoch alles andere als einheitlich, was schon an den unterschiedlichen Zuordnungsstrategien ersichtlich wird, die sich u. a. in die Bereiche Spielmechanik, Raum/ Perspektive sowie Narration/Stil differenzieren lassen (vgl. Beil 2015, 38). So kommen Bezeichnungen wie z. B. Third-Person-Fantasy-Roleplaying-Game zustande, die Computerspielenden zwar einen genaueren Eindruck davon vermitteln, was ihnen das Spiel zu bieten hat, die Erarbeitung einer handhabbaren Genresystematik jedoch erschwert. Benjamin Beil spricht diesbezüglich von einer »notorischen Unschärfe« (Beil 2013, 40) der Genreklassifikationen, trotzdem können einige Hauptkategorien ausgemacht werden, die zumindest Prototypen beschreibbar machen. Auf eine umfangreiche Auflistung verschiedener Genretypologien wird im Folgenden verzichtet. Stattdessen seien Haupttypen aufgeführt, die als gemeinsame Nenner in den Ausführungen von Matthis Kepser (vgl. 1999, 189–190), Britta Neitzel (vgl. 2000, 229), Kirsten Zierold (vgl. 2011, 21), Jan Boelmann (vgl. 2015, 103–105) sowie der USK (Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle, ohne Jahr) zu finden sind und welche Aspekte der Spielregeln (Level 3) als dominante Zuordnungskriterien aufweisen: Adventure, Action, Rollenspiel, Simulation, Sport und Strategie.
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Abb. 29.2 Skalierung von Computerspielgenres
Um diese Typen genauer zu beschreiben, sei zunächst nach der Regelstruktur unterschieden; »that of emergence (a number of simple rules combining to form interesting variations) and that of progression (separate challenges presented serially)« (Juul 2011, 5). Emergenz stellt hier die ursprünglichere Spielstruktur dar und ist in vielen Karten- und Brett-, Sport- und Strategiespielen zu finden, während progressiv strukturierte Spiele durch die ersten Adventures Teil der Computerspielfamilie wurden. Um zum Ziel zu gelangen, müssen Spielende hier »a predefined set of actions« (ebd.) durchführen, wodurch die Spielentwickelnden ein hohes Maß an Kontrolle über den Spielverlauf besitzen und sich narrative Handlungsverläufe leicht umsetzen lassen. Zwischen den Polen von emergenten und progressiven Strukturen verortet Jesper Juul einerseits »[p]rogression games with emergent components: The singleplayer action game is usually a hybrid in that the player has to traverse a number of areas each of which can be negotiated in a number of ways« (ebd., 71–72). Andererseits finden sich emergente Spiele mit progressiven Komponenten, wie z. B. Rollenspiele. Ihre »overall game structure is emergent but contains a number of small quests where the player has to perform a sequence of events to complete the quest« (ebd., 72). Abb. 29.2 zeigt häufig genutzte Genrebezeichnungen des Computerspiels, skaliert durch die beschriebenen dominanten Regelstrukturen nach Juul und erweitert um die von Zierold entwickelten Parameter Geschicklichkeit (impliziert Zeitdruck) und Kontem-
plation (impliziert zeitliche Entlastung) (vgl. Zierold 2011, 21). Diese Differenzierung kann die Computerspielgenres nicht trennscharf voneinander unterscheiden, macht aber ihre prototypischen Unterschiede deutlicher: So besitzt das typische Adventure eine kleinere Anzahl an narrativ eingebetteten Lösungswegen und ist – wie die meisten Strategiespiele – zeitlich entlastet, während Actionspiele (Action-Adventures, Shooter) und die meisten Sportspiele einen höheren Grad an Geschicklichkeit verlangen. Letztere wiederum zeichnen sich primär durch ihr festes Regelwerk ohne die Vorgabe von Lösungswegen aus. Weiter werden Genrehybride gerade dadurch beschreibbar, dass sie bestehende Genrekonzepte herausfordern, neu erfinden oder Mischformen bilden.
29.5 Narratoästhetik Unter Bezug auf die Modellierung der Ludonarration (s. Abb. 29.2) werden im Folgenden mit Handlung und Figur (Level 1, 3, 4) sowie Bild und Ton (Level 2) ausgewählte Aspekte des narrativen Computerspiels näher beschrieben. Handlung Zunächst sei die Handlung als eine Übersetzung der Aktion einer spielenden Person von Level 1 (realer Kontext) und Level 3 (Spielregeln & Simulation) auf die Erzählung als Abfolge von Handlungen auf Level 4
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(fiktive Welt & Narration) erläutert. Im Anschluss wird mit der Beschreibung des Point of Action Level 3 deutlicher in den Blick genommen. Durch die Möglichkeit der Interaktion erhalten Rezipierende – respektive Spielende – Einfluss auf die Narration in Spielwelten. »Dabei führt Interaktivität [...] zu einer neuen medialen Kontextualisierung und Konstruierbarkeit von story events« (Kuhn 2012, 214). Was in einem Spiel ein mögliches oder unmögliches Ereignis (und damit mögliche Handlungsverläufe) darstellt, ist im Programm festgelegt. Auch wird hier entschieden, wie stark segmentiert der Spielverlauf sein wird und wie eng die Führung der spielenden Person gehalten ist. Erst durch die spielende Person wird eine bestimmte Handlungsabfolge aktualisiert (vgl. Neitzel 2012, 123). Erzählungen in Spielwelten sind als Ereignisketten konstruiert (Level 4, fiktive Welt und Erzählung), die oft als Aufgaben konzipiert sind (Level 3, Spielregeln und Simulation). Diese Aufgaben können als narrativ geschlossene Segmente verstanden werden, »welche erst nach deren Lösung zur Gesamtnarration beitragen« (Kuhn 2012, 215–216). Dabei sind unter Ereignisketten nicht nur die schrittweise Aktualisierung einer stark linearen Handlung, sondern auch die Auswahl einer Handlungsabfolge aus einem komplexen Netz an Möglichkeiten zu verstehen, wie es bspw. Life Is Strange (2015), Detroit: Become Human (2018) und (wenngleich in anderer Weise) die meisten Open-World-Rollenspiele erlauben. Für eine Systematik solcher mehr oder weniger komplexen Erzählstrukturen s. z. B. Marie-Laure Ryan (2001, 246–258). Außerhalb von Aufgaben können rahmende Geschichten oder Erzählabschnitte präsentiert werden, z. B. in vorangegangenen Spielen, »verbal zu Beginn des Spiels [...], durch Monologe von Non-Player-Characters (NPCs), durch Bücher, die im Spiel zu finden sind, oder paratextuell über Beihefte oder Packungsbeschreibungen, ggf. über zum Spiel erschienene Romane, aber auch durch die Spieler untereinander« (Neitzel 2012, 121). Ein weiteres und für die Handlung im Computerspiel wichtiges Analysekriterium ist die Handlungsposition, die Point of Action (PoA) genannt wird und vor allem die Übersetzung der Handlung bzw. Aktion einer spielenden Person von Level 1 (realer Kontext) auf Level 3 (Spielregeln und Simulation) beschreibt und somit die Aktion in der Spielwelt (Level 3) und nicht die Handlung in der erzählten Welt (Level 4) fokussiert. Mit Neitzel können drei Differenzierungsmerkale unterschieden werden: 1. Der Ausgangs-
punkt der Aktion (intradiegetisch/extradiegetisch), 2. der Zielpunkt der Aktion, also der »Bereich innerhalb der Spielwelt, in dem die Spielhandlungen ausgeführt werden« (zentriert/dezentriert) und 3. der »Modus der Ausführung« (direkt/indirekt) (Neitzel 2007, 24). Wird im Spiel eine Figur, ein Avatar dargestellt (s. nächster Abschnitt), »der innerhalb der Diegese als Urheber der fiktionalen Spielhandlungen erkannt werden kann« (ebd.), so liegt ein intradiegetischer PoA vor. Dies gilt auch für Teildarstellungen eines Avatars bzw. für die Abbildung einer Waffe. Weiterhin existiert ein intradiegetischer PoA, »wenn dem Spieler eine Rolle in der Diegese zugesprochen wird, die nicht durch einen Avatar visualisiert wird« (ebd.). Ein extradiegetischer PoA liegt hingegen vor, wenn keine Rollenzuschreibung vorgenommen wird und die Aktion in der Spielwelt ohne Bindung an einen Avatar ausgeführt wird, indem bspw. nur mit Hilfe eines Mauszeigers navigiert wird. Der dezentrierte PoA »erlaubt es, die Handlungen an verschiedenen Positionen in der virtuellen Welt auszuführen« (ebd., 25), wie es z. B. in Aufbaustrategiespielen der Fall ist, in denen Spielende Aktionen an mehreren Punkten einer virtuellen Stadt ausführen, um Gebäude bauen zu lassen oder Waren zu transportieren. Bei einem zentrierten PoA gehen die Aktionen hingegen »von einem Zentrum in der Diegese aus. Dies ist entweder ein abgebildeter Avatar oder die Visualisierung einer Hand (mit Waffe)« (ebd., 26). Die Unterscheidung zwischen direktem und indirektem PoA trifft Neitzel hinsichtlich des Erkennens einer Befehlsstruktur. So kann die Handlung mit dem Eingabebefehl entweder sofort (direkt) oder verzögert bzw. über einen längeren Zeitraum hinweg (indirekt) ausgeführt werden (vgl. ebd.). Diese Unterscheidung zeigt sich z. B. zwischen dem nahezu direkten Schießen in einem Actionspiel und dem minutenlangen Aufbau eines Gebäudes durch NPCs in einem Strategiespiel, nachdem die spielende Person einen entsprechenden Befehl gegeben hat. Figur Computerspielende benötigen eine Repräsentation in der Spielwelt, um Handlungen in dieser ausführen zu können (vgl. Neitzel 2005, 196). Die Verortung der Handlungsrepräsentation wird meist durch die vorhandene oder nicht vorhandene Kopplung an eine Figur, einen Avatar beschrieben, der als audiovisueller Stellvertreter der spielenden Person in der Spielwelt dient und »als Fusion aus Interface-Element und fik-
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tionaler Instanz ein besonders prägnantes Charakteristikum des Computerspiels« (Beil 2012, 9) markiert. Die direkt oder indirekt steuerbare Figur ist somit »sowohl ein Werkzeug zur Manipulation der Spielwelt, aber auch eine in diese Spielwelt integrierte Figur« (ebd.). Als fiktives Wesen repräsentiert der Avatar ihm zugeschriebene Eigenschaften und bietet Computerspielenden zudem die Möglichkeit zur Rollenübernahme sowie zur Identifikation (vgl. Neitzel 2005, 199–204). Bezogen auf die Modellierung der Ludonarration ist der Avatar sowohl eine Spielfigur auf Level 3 (Spielregeln und Simulation) als auch ein fiktives Wesen auf Level 4 (fiktive Welt und Erzählung) und wird wiederum durch eine reale Person auf Level 1 (realer Kontext) gesteuert. Felix Schröter und Thon unterscheiden bezüglich der Computerspielfigur drei Modi, die sich den Levels 4, 3 und 1 zuordnen lassen: »[T]he mode of narration is primarily used to represent characters as fictional beings« (Schröter/Thon 2014, 48). Die Figurenmodellierung Jens Eders adaptierend weisen diese fiktiven Wesen (Level 4) jeweils Körperlichkeit, Verhalten, Sozialität und Psyche auf (vgl. Eder 2008, 711). Der zweite Modus – der »mode of simulation« – ist entsprechend auf dem Level der Spielregeln und Simulation zu verorten. Dieser Modus »primarily focuses on these characters’ function as game pieces, which is connected to specific ludic abilities [...] and characteristics [...] as well as to the game goals and the possibilities of interaction that the game provides« (Schröter/Thon 2014, 48). Viele der hier genannten ludischen Fähigkeiten und Charakteristika sind wiederum auf dem Level der fiktiven Welt interpretierbar, wenn z. B. das Verlieren von Lebenspunkten in einem Kampf Rückschlüsse auf das Wohlbefinden der Figur als fiktives Wesen zulässt. Der dritte Modus bezieht sich auf Level 1 (realer Kontext) des Ludonarrationsmodells und beschreibt als »mode of communication« die Möglichkeit der Selbstpräsentation der spielenden Personen durch ihre Avatare, wodurch die Spielwelt auch als sozialer Raum fungiert, in dem die Spielenden miteinander kommunizieren (vgl. ebd.). Die Level 4 (fiktive Welt und Erzählung), 3 (Spielregeln und Simulation) und 1 (realer Kontext) können hier miteinander verschmelzen, je mehr sich die Spielenden mit ihrer Spielfigur als fiktives Wesen identifizieren, aus ihrer Perspektive handeln und mit anderen kommunizieren. Neben den von Spielenden gesteuerten Figuren werden Erzähl- und Spielwelten von NPCs bewohnt, die wiederum Körperlichkeit, Verhalten, Sozialität und Psyche (Level 4, fiktive Welt & Narration) sowie
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spielmechanische Eigenschaften (Level 3, Spielregeln und Simulation) besitzen und audiovisuell oder allein durch Schrifttext dargestellt werden (Level 2, Darstellung). Eine besondere Form der Figur stellt im Computerspiel die Erzählerfigur dar. Anders als Erzählinstanzen sind Erzählerfiguren »nicht notwendigerweise für die Konstruktion und die Vermittlung aller dargestellten Ereignisse zuständig, sondern übernehmen nur teilweise deren Funktionen« (Engelns 2014, 169). Erzählerfiguren sind in Computerspielen wie The whispered World (2009, 2014) und King’s Quest (2015) als »übergeordnete sinnstiftende Figuren« (ebd.) vorhanden, »um einen den tradierten Erzählungen nachempfundenen Erzählprozess rezeptiv erfahrbar zu machen« (ebd., 28). In The Stanley Parable (2013) wird die Erzählerfigur gar als metareferentieller Erzähler eingesetzt, der durch den Einsatz einer narrativen Metalepse den Protagonisten (respektive die spielende Person) direkt anspricht und mit ihm um die Kontrolle des Spielgeschehens ringt (vgl. Thon 2015, 151). Bild Obwohl das Computerspiel ein audiovisuelles Medium ist, wird seine Bildlichkeit besonders hervorgehoben (vgl. Günzel 2013, 382). Zu den durch den visuellen Kanal zugänglichen Darstellungsmitteln des Computerspiels gehört neben dem Bild (bewegt und/oder nicht bewegt) auch der Schrifttext, der von der Nutzung als Untertitel in Dialogen über die Zusammenfassung in Quest-Tagebüchern bis hin zur einzigen Darstellungsform in rein textbasierten Adventures reichen kann. Begründet durch die Bildlichkeit des Mediums stellen die Kategorien Raum und Perspektive in der Computerspielforschung die »grundlegenden Beschreibungskriterien des Computerspielbildes« (Beil 2013, 47) dar, die auch im Folgenden beschrieben werden. Stephan Schwingeler unterscheidet für das Computerspiel verschiedene Raumrelationen: Die reale Relation lässt sich im Ludonarrationsmodell auf Level 1 (realer Kontext) verorten und beschreibt die leibliche Anwesenheit der Spielenden samt Apparat, während die diegetische Relation den dargestellten Raum der fiktiven Welt (Level 4) samt ihrer Regeln (Level 3) subsumiert (s. auch »Spielerraum« und »Spielraum« in Kepser 2014). Weiter werden eine extradiegetische und eine intradiegetische Relation unterschieden. Erstere ist »Teil des rezipierten Bildes – aber der Fiktion der Spielwelt ausgelagert« (z. B. Interface, Mauszei-
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ger, Punktestände, Menü), Letztere beschreibt »das Verhältnis des Spielers zur diegetischen Welt des Spiels« (Schwingeler 2008, 104). »Das zentrale Kriterium bei der Unterscheidung verschiedener Raumkonzepte ist der Wechsel zwischen zwei- und dreidimensionalen Darstellungen« (Beil 2013, 47), welche zudem »gattungsbildend für das Computerspiel« (Beil 2012, 58) sind. Bezüglich der 2D-Darstellungsformen werden der Bildschirmcontainer sowie Multiscreen-Darstellungen unterschieden. Bei Ersterem wird die »dargestellte Räumlichkeit [...] von den Grenzen des Bildschirms definiert« (Schwingeler 2008, 107), die Spiel- und Erzählwelt mit Multiscreen-Darstellung erstreckt sich hingegen über die Bildschirmgrenzen hinweg und kann durch Umschalten oder Scrolling gesichtet werden (vgl. ebd., 114). Weiterhin gibt es sogenannte ›Fake-3D-Techniken‹, welche »mittels 2D-Grafiken einen räumlichen Eindruck« (Beil 2012, 59) erzeugen, indem sich z. B. beim Parallax-Scrolling eine Abbildung im Hintergrund langsamer bewegt, als jene im Vordergrund. Die Isometrie stellt schließlich eine »Sonderform der Abbildung dreidimensionaler Objekte auf zweidimensionaler Fläche« (Schwingeler 2008, 119) dar. Obwohl es sich hier um eine Parallelprojektion mit gleichen Streckenverhältnissen handelt, erzeugt die isometrische Darstellung »einen starken räumlichen Eindruck, da sie die Objekte der Spielwelt von drei Seiten zeigt und den Eindruck von Höhenstufen vermitteln kann« (Beil 2013, 51). Alle genannten Darstellungskonzepte führen bereits zu verschiedenen Perspektivierungen des intradiegetischen Raums. Sie können durch den Point of View (PoV) weiter differenziert werden. Der Point of View beschreibt im Computerspiel die »Übernahme einer bestimmten [visuellen] Perspektive auf das fiktionale Spielgeschehen« (Neitzel 2007, 13). Neitzel differenziert den objektiven, semi-subjektiven und subjektiven PoV, über die sich jeweils unterschiedliches Wissen über die Spiel- und erzählte Welt einstellt (vgl. ebd., 14). Durch den objektiven PoV werden Spielhandlungen von außen dargestellt. Typisch ist die Verwendung dieser Perspektivierung in Strategiespielen, Side-Scrollern und Adventures (vgl. ebd., 15). Spiele mit semisubjektivem PoV organisieren ihre Darstellung um einen Avatar herum und nutzen somit eine Third-Person-Perspektive. Der PoV ist dabei an den Avatar und dessen Bewegungen gekoppelt, ersetzt aber nicht seinen Blickpunkt, sodass von einem »Mitsehen« (ebd., 19) gesprochen werden kann. Der subjektive PoV versucht schließlich mit einer First-Per-
son-Perspektive »die Diegese über den Monitor und die Augen des Spielers in den Körper des Spielers und damit in den Realraum auszudehnen« (ebd., 22), Spielende scheinen somit durch die Augen des Avatars zu sehen. Kritisch ist anzumerken, dass Neitzel die Begriffe subjektiv, semi-subjektiv und objektiv hier rein durch die jeweilige Positionierung der virtuellen Kamera beschreibt. Neitzel nimmt den Begriff der Perspektive somit wörtlich und bezieht ihn »nur auf den visuellen Blickwinkel, den PoV in einem rein räumlichen Sinn« (ebd., 14). Offen bleibt, wie z. B. eine Adaption von Genettes Typologie der Fokalisierung für das narrative Computerspiel aussehen würde, denn die Frage nach einer wahrnehmenden Instanz (Level 4, fiktive Welt & Narration) kann für dieses Medium nicht allein mit der Beschreibung einer (virtuellen) Kameraperspektive beantwortet werden. Ton Während die Auseinandersetzung mit der Bildlichkeit des Computerspiels im wissenschaftlichen Diskurs bereits fortgeschritten ist, blieb der Ton lange »eine weitgehend unbeachtete Größe« (Süß 2006, 2), inzwischen gibt es jedoch vereinzelt Arbeiten, die sich mit Computerspielton im Allgemeinen oder -musik im Speziellen auseinandersetzen sowie Soundfunktionen und die Besonderheit des Tons im Kontext der Interaktivität untersuchen. Grundlegend gehören zum Ton im Computerspiel Musik, Geräusch und (Figuren-)Rede, die – in Anlehnung an bestehende Systematiken aus der Filmwissenschaft – zunächst in intradiegetischen (diegetic) und extradiegetischen (nondiegetic) Ton unterschieden werden. Da sich das Computerspiel jedoch vom Film u. a. durch seine Interaktivität unterscheidet, bildet Karen Collins jeweils Unterkategorien, die der Tatsache gerecht werden, dass Spielende Aktionen bzw. Handlungen in Spiel- und erzählter Welt ausführen und somit einen direkten oder indirekten Einfluss auf den Ton ausüben. Collins beschreibt somit acht Arten von Computerspielton, indem sie die übergeordneten Kategorien des intra- und extradiegetischen Tons jeweils in nicht-dynamischen (nondynamic), adaptiven (adaptive), interaktiven (interactive) und kinetischgestisch steuerbaren (kinetic-gestural interaction) Ton differenziert (vgl. Collins 2008, 125–126). Über lineare intra- und extradiegetische, nicht-dynamische Sounds, die z. B. Teil einer Cutscene sind, hat die spielende Person keine Kontrolle. Mit jeder der weiteren Kategorien haben Spielende durch ihre Aktionen zu-
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Abb. 29.3 Skalierung der Funktionen von Computerspielton
nehmend größeren Einfluss auf die akustische Darstellung des digitalen Spiels. So beschreibt adaptiver Ton »sound events occuring in reaction to gameplay, but which are unaffected by the player’s direct movements« (ebd., 126). Dies kann eine Geräuschkulisse des aktuellen Spiel- und Erzählraums (intradiegetisch) samt Verwendung eines charakteristischen Leitmotivs für diesen Spiel- und Erzählraum (extradiegetisch) sein, oder auch die Veränderung der Geräuschkulisse bei einem Tag-Nacht-Wechsel. Interaktiv ist auf extradiegetischer Ebene hingegen der Musikwechsel, wenn sich die Figur in eine Kampfsituation begibt und – verortet auf intradiegetischer Ebene – jeder ausgeführte Schlag oder Schuss zu hören ist. Interaktiver Ton subsumiert somit »sound events occurring in reaction to gameplay [...]. The player instigates the audio cue, but does not necessarily affect the sound of the event once the cue is triggered« (ebd., 126–127). Kinetisch-gestische Interaktion beschreibt schließlich – auf intra- wie extradiegetischer Ebene – die direkteste und stark körperliche Einflussnahme der Spielenden auf die Tongestaltung. Prototypisch bezieht sich Collins hier auf »those times when a player may physically, gesturally mimic the action of a character, dancer, musician, etc. in order to trigger the sound event, most commonly seen in rhythm-action games« (ebd., 127). Der Computerspielton in seinen unterschiedlichen Formen besitzt verschiedene Funktionen, die sich mit Zach Whalen zunächst binär unterscheiden lassen als
»to expand the concept of a game’s fictional world or to draw the player forward through the sequence of gameplay« (Whalen 2004). Diese Hauptfunktionen, die sich kurz als ›Immersion‹ und ›Engagement‹ fassen lassen, fungieren als Pole für Gunter Süß’ Anordnung untergeordneter Soundfunktionen. Hierbei sind ›Immersion‹ und ›Engagement‹ nicht als sich gegenseitig ausschließende Kategorien, sondern als zwei Perspektiven zu verstehen, die es erlauben, Computerspielton im Rahmen der ludonarrativen Hybridität differenziert zu betrachten. Abbildung 29.3 zeigt die Funktionsskala des Computerspieltons und erweitert die von Süß genutzten Pole um die von Level 3 (fiktive Welt und Narration) und 4 (Spielregeln und Simulation) des Ludonarrationsmodells. Beispielhaft angeordnet und angepasst finden sich hier sechs Tonfunktionen nach Süß (vgl. 2006, 103), ergänzt um weitere nach Collins (vgl. 2008, 128–133) und Leenders (vgl. 2012, 65–68). Ausgewählte Funktionen werden im Folgenden exemplarisch beschrieben. Das Schaffen von Kontinuität ist – wie im Film – eine wichtige Funktion von Ton im Allgemeinen und Musik im Besonderen: Computerspielton überbrückt Ladepausen, bietet Übergänge zwischen stark interaktiven Abschnitten und Cutscenes, kaschiert Probleme bei der grafischen Umsetzung und verbindet allgemein Spielerisches und Narratives zu einem kohärenten Ganzen. Funktionen, die eher für Level 4 (fiktive Welt & Narration) und das übergeordnete Ziel der Immersion von Bedeutung sind, umfassen erstens
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IV Medien – B Film, Fernsehen, Computerspiel
akustische Realismuseffekte, wie z. B. die o. g. intradiegetische Geräuschkulisse für ein bestimmtes Gebiet und zweitens Dialoge, die explizit Informationen über Orte und Figuren verbalisieren. Solche Dialoge haben jedoch nicht nur eine Funktion auf Level 4 (fiktive Welt und Narration) sondern können gleichzeitig der Zielidentifizierung auf Level 3 (Spielregeln und Simulation) mit der übergeordneten Funktion von Immersion und Engagement dienen, wenn im Dialog bspw. eine anstehende Aufgabe kommuniziert wird. Annahme und Abschluss von Aufgaben werden wiederum mit dem Ziel der Strukturierung durch den Einsatz von Computerspielton markiert, meist durch extradiegetische akustische Signale.
29.6 Inter- und transmediale Aspekte Intermedialität (s. Kap. 35) ist dem Computerspiel schon aufgrund seiner Konstitution als Medienkombination inhärent. Zudem ist es »capable of ›reproducing‹ or ›remediating‹ the multimodal configurations characteristic for most of the more established narrative media« (Thon 2016, 108). Digitale Spiele sind heute fest in Medien- und Produktverbünde (s. Kap. 4) integriert, durch die insbesondere Einzelreferenzen zu Film (s. Kap. 26), Comic (s. Kap. 25) und Printliteratur (s. Kap. IV.A) alltäglich geworden sind. Dabei ist das Computerspiel nicht allein bezugnehmendes Objektmedium, das Stoffe anderer Medien adaptiert und transformiert (wie z. B. die Titel der LEGO-Spieleserien), sondern es fungiert auch als Referenzmedium für Adaptionen wie Lara Croft: Tomb Raider (2001) oder Warcraft: The Beginning (2016). Neben diesen Einzelreferenzen können mediale Systemreferenzen (vgl. Pfister 1985) spätestens seit der Entstehung des frühen Textadventures identifiziert werden, das die Nutzung desselben Zeichensystems mit Printliteratur gemein hat und nicht unbegründet als interaktive Literatur vermarktet wurde. Weitere dominante Referenzen finden sich als Teil der textual actual worlds (vgl. Ryan 2001, 100) vieler Rollenspiele und anderer Open-World-Szenarien durch die Integration fiktionaler und faktualer Literatur auf Level 4 (fiktive Welt und Erzählung), die Spielende finden, lesen und sammeln können. Auch werden für die Printliteratur konstitutive Elemente wie die Erzählinstanz als narrativer Ursprung von Computerspielen referiert, indem sie z. B. Erzählerfiguren (s. o.) einsetzen. So fungiert z. B. ein Barde in The Witcher 3: Wild Hunt (2015) neben seiner Rolle als NPC auch als
homodiegetische Erzählerfigur, die in Cutscenes als Voice-Over-Erzähler rückblickend von den Abenteuern des Protagonisten berichtet. Systemreferenzen lassen sich weiter in der Strukturierung des Spielerlebnisses finden: So sind die Handlungsabläufe vieler Adventures, aber auch die von Rollenspielen wie Gothic (2001) explizit in Kapitel mit eigenen Überschriften segmentiert. Eine funktional ähnliche Referenz zu Serien treiben Spiele wie Life is Strange (2015) oder Hitman (2016) auf die Spitze: Sie erscheinen in einzelnen Episoden, die später entsprechend als ›Complete Season‹ zu erwerben sind. Systemreferenzen zum Film finden sich darüber hinaus in Full-Motion-Videound In-Engine-Cutscenes sowie dem Einsatz der virtuellen Kamera in geskripteten Ereignissen. Umgekehrt nehmen andere Medien auf die Darstellungs- und Erzählweisen digitaler Spiele Bezug. Philipp Schmerheim (2016) unterscheidet für intermediale Bezugnahmen zwischen Film und Computerspiel vier Facetten: Erstens können Computer(spiele), zweitens Computerspielwelten und drittens Computerspielfiguren im Film verarbeitet werden, wenn z. B. die Lebenswelt des Helden in Scott Pilgrim vs. the World (2010) »zu einer physikalisch manifestierten Umgebung [wird], die den Regeln von Computerspielen folgt« (ebd., 11), oder der Protagonist in Wreck-It Ralph (2012) selbst eine Computerspielfigur ist. Viertens können »Paratexte des Computerspiels als Element der Filmgestaltung« (ebd., 18) Verwendung finden: The Hunger Games (2012) experimentiert mit »Handlungsverläufen, die eher an Spiel- bzw. Rundenstrukturen von Wettkämpfen erinnern« (ebd., 19) und nutzt Paratexte wie die Präsentation der Kämpfenden samt ihrer Fähigkeiten bzw. Eigenschaften im Vorfeld der Kämpfe (vgl. ebd., 18). Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel (2017) setzt schließlich Anzeigen von Lebenspunkten oder Inventarbeständen ein, referiert u. a. die Point-and-Click-Mechanik vieler Adventures und expliziert seine eigene Level- und Quest-Struktur, indem es die jeweils zu bewältigende Aufgabe in neuen Situationen oder Gebieten einblendet. Literatur
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Katharina Düerkop
C Weitere Medien 30 Theater 30.1 Einleitung Mehr noch als die Kinder- und Jugendliteratur steht das Kinder- und Jugendtheater (KJT) im Spannungsverhältnis zwischen pädagogischer Inanspruchnahme und künstlerischem Selbstverständnis. Aus dieser Ambivalenz hat sich im 20. Jahrhundert eine vielfältige Theaterlandschaft entwickelt. Der folgende Beitrag definiert begriffliche Grundlagen, skizziert – mit Fokus auf institutionelle Aspekte – die Entwicklung des KJT im deutschsprachigen Bereich, stellt Typologien und Erzählverfahren des KJT vor und schließt mit einem Ausblick auf aktuelle intermediale Entwicklungen.
30.2 Begriffsdefinitionen Drama und Theater Während es sich bei dem »virtuelle[n] Kunstwerk« (Jeßing/Köhnen 2017, 154) Drama um eine Textgattung handelt, ist ›Theater‹ ein Sammelbegriff für szenische, performative Inszenierungs- und Aufführungspraktiken, die oft, aber nicht immer Dramentexte in den Erarbeitungsprozess integrieren (s. Kap. 22). Nimmt sich die Dramatik eines vergleichsweise fixierten literarischen Produkts an, untersucht die Theaterwissenschaft die Prozesse des Theaters. Sie trägt der Einsicht Rechnung, dass das Theater eine »transitorische Kunst [ist]. Jede Aufführung ist anders, und keine ist wiederholbar.« (Heinz 2007, 764) Theater ist dementsprechend nicht ausschließlich »Literaturtheater« (Balme/von Brincken 2013, 166) oder performative »Versinnlichung« (Lazarowicz 1991, 21) von Dramentexten. Ein bedeutender Teil gerade der kinder- und jugendtheatralen Praxis greift nicht auf Prätexte zurück (s. Kap. 22). In Minimaldefinition ist Theater ein sich in Echtzeit abspielender Kommunikationsprozess im Modus des Als-ob zwischen Auffüh-
renden und Rezipierenden: »The theatrical situation, reduced to a minimum, is that A impersonates B while C looks on.« (Bentley 1964, 150) Auch in etymologischer Hinsicht ist das, was Theater genannt wird, komplex: Im Altgriechischen bezeichnet ›théatron‹ den Schauplatz bzw. Zuschauerraum; der Begriff ist wiederum ein Kompositum aus dem Substantiv ›thea‹ (die Schau) und dem Verb ›theâsthai‹ (schauen). Aktuell bezeichnet der Theaterbegriff verschiedenste Gegenstände und Vorgänge: Gebäude, etwa Schauspielhäuser, werden ebenso ›Theater‹ genannt wie eine Bühne oder ein wirtschaftlicher Betrieb zur Aufführung von Schauspielen. Die Aufführung eines Schauspiels selbst kann ebenso als ›Theater‹ bezeichnet werden wie die gesamte Darstellungskunst eines Kulturraums bzw. einer Epoche. Vom barocken ›theatrum mundi‹ bis hin zu dem ›Theater‹, das Politiker tagtäglich aufführen, werden verschiedenste Gesellschaftsbereiche mit einem entgrenzten Theaterbegriff bedacht (vgl. Fischer-Lichte 2009, 1–4). Grundformen des Kinder- und Jugendtheaters Was für das Theater im Allgemeinen gilt, gilt umso mehr für das KJT, das historisch durch das Laien- und Schultheater geprägt ist. So lösen insbesondere Kindertheaterproduktionen gerne die Grenzen zwischen Bühnen- und Zuschauerraum durch direkte Publikumsansprache auf, zudem gibt es mit dem Schultheater eine Theaterform, die von der aktiven Beteiligung kindlicher und jugendlicher Akteure am Produktionsprozess geprägt ist. Diese Zuschauergruppen konstituieren das KJT definitorisch, denn es ist als Zielgruppentheater »immer durch die Spezifik seines Publikums gekennzeichnet« (Heinemann 2016, 12). Wolfgang Schneider formuliert noch schärfer, dass sich das KJT »einzig und allein über sein Publikum [definiert]. [...] Das Besondere am Kinder- und Jugendtheater sind die Kinder und Jugendlichen. Mit ihnen entstehen die ästhetischen und inhaltlichen Rahmenbedingungen. Gegen
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IV Medien – C Weitere Medien
sie geht nichts.« (Schneider 2005, 81–2) Insofern ist das KJT nicht nur ein Symbol-, sondern vor allem Handlungssystem; nicht so sehr eine zu rezipierende Kunstform, sondern ein Bereich, in dem Kinder und Jugendliche unterschiedliche Handlungsrollen besetzen und austesten können. Deshalb lässt sich das KJT nicht nur thematologisch (Themen, Stoffe, Motive) oder altersstufenorientiert definieren, sondern vor allem handlungsorientiert, mit Blick auf die Handlungen der Beteiligten. Gerd Taube unterscheidet dementsprechend ein Theater für Kinder und Jugendliche von einem Theater der Kinder und Jugendlichen, je nachdem, in welchem Maße Kinder bzw. Jugendliche »selbst zu Akteuren« (Taube 2016, 290) werden. Dies verweist »auf die historische Praxis des Kinder- und Jugendtheaters im 20. Jahrhundert als eine Theaterform mit erwachsenen Schauspielern und Kindern und Jugendlichen als Laiendarstellern« (ebd.). Dazwischen angesiedelt ist die Theaterpädagogik, die im Spannungsfeld kreativer Kunstproduktion und Kompetenzvermittlung »die vielfältigen Formen, Ausdrucks- und Wirkungsweisen des Theaters für soziale und künstlerische Bildungsprozesse nutzbar« (ebd., 299) macht. Taubes Unterscheidungen lassen sich erweitern und handlungsorientiert drei Grundformen des KJT differenzieren. In Anlehnung an Ingrid Hentschel (vgl. Hentschel 2016, 8) kann man differenzieren: ein Theater für Kinder bzw. Jugendliche, ein Theater mit Kindern bzw. Jugendlichen sowie ein Theater von Kindern bzw. Jugendlichen. KJT für Kinder bzw. Jugendliche wird in der Regel von im professionellen Rahmen agierenden Erwachsenen produziert und von diesen auch umgesetzt, wobei sich die Stücke an den angenommenen Bedürfnissen und Vorlieben des Zielpublikums ausrichten. Das KJT von Kindern bzw. Jugendlichen steht am anderen Ende des Spektrums: Dessen Stücke werden von Kindern/Jugendlichen entwickelt, geprobt und aufgeführt, etwa im Schultheater, wenngleich eine schulische Theater-AG in der Regel von Lehrkräften begleitet wird. Eine Reinform des KJT von Kindern und Jugendlichen bietet das Jugendtheater Martinszell, das es einzelnen Spielgruppen mit älteren Jugendlichen ermöglicht, den gesamten Produktionsprozess eigenverantwortlich umzusetzen. Beim KJT mit Kindern bzw. Jugendlichen handelt es sich um eine Mischform: Kinder und Jugendliche erarbeiten gemeinsam mit Erwachsenen ein Stück, sind somit Bestandteil, aber nicht treibende Kraft einer Inszenierung. Auf diese Weise arbeiten die Ju-
gendtheater-Abteilungen größerer Schauspielhäuser, aber auch freie Einrichtungen wie das Hamburger FUNDUS THEATER. Ein weiteres Spezifikum des KJTs ist die im Vergleich zum Allgemeintheater ungleich höhere Relevanz (theater-)pädagogischer Überlegungen für Entwicklung, Aufführung und Rezeption bzw. Vermittlung kinder- und jugendtheatraler Inszenierungen. Auch deshalb ist das KJT bis heute eher eine Sache der theaterpädagogischen Forschung, während die Allgemeine Theaterwissenschaft das Theater für ein junges Publikum bisher weitgehend ignoriert hat. Als Sammelbegriff für die Erscheinungsformen des Kinder- und vor allem Jugendtheaters im 21. Jahrhundert hat sich das »Junge Theater« etabliert, mit dem sich »die Programmatik eines gesellschaftlich kritischen Theaters« (Taube 2016, 290) verbindet: »Die sprichwörtliche Widerständigkeit und Unangepasstheit der Jugend wird damit zur Programmatik des Jungen Theaters, das gewissermaßen ein dialektischer Gegenentwurf zum Kinder- und Jugendtheater in der Tradition des emanzipatorischen Kinder- und Jugendtheaters ist. Das Junge Theater will heute auf der Bühne Alternativen zu den Konventionen und Anforderungen der Gesellschaft zeigen und in der eigenen und der künstlerischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen solche Alternativen auch leben.« (Ebd.)
30.3 Historische Entwicklungen Taubes Ausführungen deuten es an: Das KJT durchläuft fortwährend programmatische Wandlungen, die von gesellschaftlichen und pädagogischen Entwicklungen sowie sich wandelnden Kindheitsbildern geprägt werden. Seit der frühen Neuzeit wirkmächtig ist die Differenzierung in professionelles Theater und Laientheater (mit dem Schultheater als noch spezifischerer Subform); für das KJT der Nachkriegszeit direkt relevant sind die durch Jugendbewegung und Reformpädagogik geprägten Laientheater-Ansätze der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die das Gemeinschaftserlebnis (Rudolf Mirbt), künstlerisch-ästhetische Schaffungsprozesse (Martin Luserke) oder Möglichkeiten der Professionalisierung (Ignaz Gentges) betonen (s. hierzu Klepacki 2005, 17–24). Radikal ist Bertolt Brechts Spielform des Lehrstücks als Mittel der Selbsterziehung der Schauspielenden, das nicht einmal die Präsenz eines Publikums erfordert (vgl. Brecht 2005, 115–116). In diesem Spannungsfeld zwischen (didaktisch moti-
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viertem) Gemeinschaftserleben, künstlerischem Ausdruck, Professionalisierungstendenzen und der Frage der Publikumseinbindung bewegt sich auch das KJT seit Ende des Zweiten Weltkriegs. BRD und DDR Wie alle Lebensbereiche teilt sich auch die Theaterlandschaft der Nachkriegszeit in ein west- und ein ostdeutsches System. Während das KJT in der Bundesrepublik in der Anfangsphase eher stiefmütterlich behandelt wird, fördert der ostdeutsche Machtapparat bereits früh nach sowjetischem Vorbild die Einrichtung von Theaterhäusern, die ostdeutschen Theaterschaffenden eine dauerhafte Heimat auch im KJT geben sollen – etwa das Theater der Jungen Welt in Leipzig (1946) oder das Theater der Freundschaft in Berlin (1950) (vgl. Schneider 1994a, 16). Das KJT der DDR nimmt seine Zuschauenden als souveräne Individuen ernst und setzt sich »künstlerisch mit Themen der Zeit auseinander[..]« (Taube 2016, 291). Bevorzugt wird in den 1950er Jahren die »Praxis der Dramatisierung von Kinderbüchern für das DDR-Kindertheater« (Schneider 1994a, 17). In der Bundesrepublik hat das KJT einen im Vergleich schweren Stand; eigene (staatlich finanzierte) Spielstätten werden nur vereinzelt eingerichtet. Prägend ist eine »symbiotische Verbindung von Theater und Schule« (Taube 2016, 293) sowie das bisweilen angespannte Wechselspiel zwischen freien bzw. privaten und staatlichen Theatern. Für die Großstadtbühnen des westdeutschen KJT setzen Klaus Doderer und Kerstin Uhlig zwischen 1945 und 1970 »drei Phasen mit gleitenden Übergängen« (Doderer/Uhlig 1994, 15) an: eine erste Phase bis Beginn der 1950er Jahre mit Märchenbearbeitungen, Geschichten um kindliche Protagonisten sowie Ansätzen eines Jugendliteraturtheaters; eine zweite Phase bis Mitte der 1960er Jahre mit wachsendem Fokus auf aufwendig und unterhaltsam inszenierte Märchentheater- und Jugendliteraturtheaterproduktionen, auch in Ermangelung originärer Stoffe. Weihnachtsmärchen bessern die insgesamt eher bescheidenen Zuschauerzahlen auf. Die dritte Phase leitet über »in das neorealistische, sozialkritische und emanzipatorische Kinderund Jugendtheater der Zeit der Studentenbewegung« (ebd., 30), das gekennzeichnet ist durch die Hinwendung zu originären Stoffen und »zu Darstellungen sozialer Probleme, realistischerem Stil und zu einer aktiveren Rolle des jugendlichen Publikums.« (Ebd., 29) Das KJT der DDR operiert in dieser Zeit weiterhin
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im Spannungsfeld zwischen langfristiger Absicherung als subventioniertes Kultursystem und einem im Zweifelsfall restriktiv eingreifenden Zensurapparat. Während das westdeutsche KJT jedoch ein Nischendasein fristet, ist sein ostdeutsches Pendant »eine gleichberechtigte Sparte im Theatersystem« (Taube 2016, 291). Im Westen sorgt erst das emanzipatorische KJT ab den frühen 1970er Jahren für mehr Aufmerksamkeit, dessen Aushängeschilder die von Volker Ludwig gegründete Berliner Theatergruppe GRIPS und die von Holger Franke gegründete Rote Grütze sind. Es nimmt Kinder als Akteure ernst, mutet ihnen in »Hinwendung zum Politischen« (Mayer/Kretzschmar 2019, 71) und unter Berücksichtigung didaktischer Überlegungen gesellschaftliche bzw. zeitaktuelle Themen zu. Im Gefolge der 68er-Revolution experimentieren Theaterschaffende mit »neue[n] Spielformen« wie dem Mitmach- oder Mitspieltheater (vgl. Schneider 1984, 18– 20), verstehen »Theaterarbeit [als] politische Arbeit und Kindertheater [als] ›ein Mittel, auf gesellschaftliche Zustände einzuwirken‹« (Ludwig zit. nach Mayer/ Kretzschmar 2018, 71). Dementsprechend steht in Variation von Brechts Lehrtheater oft weniger die Aufführung als solche im Fokus, sondern »die Emanzipation der Akteure, zu denen Schauspieler und Zuschauer gleichermaßen rechnen« (Paul 1971, 48). Ähnliche Tendenzen gibt es auch im KJT der DDR, das ja immer schon sein (kindliches) Publikum ernstgenommen hat, sich aber nun in den 1980er Jahren zudem »zunehmend nicht mehr als Teil des staatlichen Bildungs- und Erziehungssystems, sondern als künstlerischer Partner von Volksbildung und Schule« (Taube 2016, 292) versteht. Im westdeutschen KJT der 1980er Jahre erweitern Dramaturgen wie Wilfrid Grote oder die bereits in den 1970er Jahren als Vertreter eines poetischen Theaters präsenten Friedrich K. Waechter und Paul Maar den emanzipatorischen Anspruch in Stücken wie Kikerikiste (1972) oder Schule mit Clowns (1975) um eine »phantasievollere[..] Ästhetik« (Schneider 1994a, 20). Dazu trägt auch die verstärkte Rezeption der Arbeitsweisen und des Repertoires internationaler Kindertheater etwa aus Italien, Schweden oder den Niederlanden bei (vgl. Taube 2016, 294). In den 1980er Jahren beginnt eine »Gründungswelle von Kinder- und Jugendtheater-Sparten an Stadtund Landestheatern der Bundesrepublik« (ebd., 291), begleitet »von einer heftigen ästhetischen Auseinandersetzung um die augenscheinliche Didaktik des emanzipatorischen Kinder- und Jugendtheaters.« (Ebd., 295) Auch als Alternative zu der wahrgenommenen didaktischen Überpolitisierung nähert sich
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IV Medien – C Weitere Medien
das westdeutsche KJT zunehmend den Ausdrucksmöglichkeiten des postdramatischen Theaters an. Mit der Wiedervereinigung muss sich auch die nun gesamtdeutsche KJT-Landschaft neu ordnen und zwei bisher unterschiedlich operierende Theatersysteme zusammenführen. Da u. a. das 1989 gegründete Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland Förderprogramme für Autoren auflegt, etabliert sich in den 1990er Jahren zunehmend »eine eigenständige Dramatik für junge Zuschauer« (ebd., 296). Zugleich steigt der Fokus auf eine »Ästhetik des Theaters selbst« (Mayer/Kretzschmar 2018, 82), in der sich die »Grenze zwischen Vermittlung und Kunstproduktion« (ebd., 83) auflöst. Dieser neue Fokus führt auch zu einer Erweiterung des Ausdrucksspektrums; Körpertheater und Tanztheater gewinnen ebenso an Bedeutung wie der expressive Einbezug intermedialer Aspekte (vgl. Taube 2016, 296). Im 21. Jahrhundert hat sich das deutschsprachige KJT endgültig als eigenständiger Bestandteil der deutschsprachigen Theaterlandschaft etabliert. Fast alle größeren Theaterhäuser unterhalten eigene Junge Theater, womit das KJT fest institutionell verankert ist. Daneben hat sich eine unter nicht immer leichten Bedingungen arbeitende freie KJT-Szene entwickelt, die nicht nur bekannte Prätexte, sondern auch eigene Stücke mit experimentellem Impetus inszeniert. Neben theaterpädagogischen Abteilungen an fast allen deutschen Theaterhäusern und der Integration des KJT als vierter Sparte an gut 50 Stadttheatern gibt es derzeit »fünf große und eigenständige Theater für das junge Publikum in Berlin, Dresden, Leipzig, Halle und München.« (Ebd., 297) Besonders viel Aufmerksamkeit erfahren derzeit Varianten des Forschungstheaters als Theater mit Kindern (vgl. Deck/Primavesi 2014), wie es beispielsweise vom Hamburger FUNDUS THEATER und dem belgischen Theater Campo geprägt wird und das an Walter Benjamins bereits 1925 entwickeltes Programm des proletarischen Kindertheaters anknüpft (vgl. Benjamin 1991). Österreich und Schweiz Das österreichische KJT spielt in der dortigen, an der Hochkultur orientierten Kulturszene lange Zeit eine eher marginale Rolle (dieser Abschnitt folgt Bischof 1997; Royc 2009 und Schneider 2000). In den 1950er und 1960er Jahren entwickelt das 1932 gegründete Wiener Theater der Jugend Angebote für einzelne Altersgruppen. Erst in den 1970er Jahren gewinnt das KJT durch die vor allem in Wien beheimatete Freie
Theaterszene an Bedeutung, die im Gefolge des emanzipatorischen KJT Formen des Mitspieltheaters, das Theater als Mittel zum sozialen Lernen und das Benjaminsche proletarische Kindertheater entwickelt. Wie in der Bundesrepublik werden die neorealistischen Schwerpunkte des österreichischen KJT um phantastische Elemente sowie um zeithistorische Stücke erweitert. Zugleich leidet die Szene unter unzureichenden Arbeitsbedingungen. Diese verbessern sich erst in den 1990er Jahren, u. a. aufgrund der Bemühungen der ASSITEJ Austria um bessere kulturpolitische Rahmenbedingungen. Mittlerweile federn intensivere Kooperationen innerhalb der Theaterszene und eine sichtbare Infrastruktur, zu der auch Kindertheaterfestivals wie das Frischwind Festival gehören, die schwierigen Produktionsbedingungen des österreichischen KJT ab. Ähnlich wie sein österreichisches Pendant ist das Schweizer KJT lange Zeit chronisch unterfinanziert. (Dieser Abschnitt folgt Schneider 1994b, insbes. Bleiker 1994.) Das liegt u. a. an der Sprachenvielfalt und an der föderalistischen Struktur des zwar reichen, aber kleinen Landes. So orientieren sich etwa die deutsch- und französischsprachigen Landesteile an unterschiedlichen Theatertraditionen, was internationalen Kooperationen förderlich ist, allerdings Kooperationen auf nationaler Ebene erschwert. Sprache schlägt hier nationale Zugehörigkeit (vgl. Bleiker 1994, 20–24), wenngleich Theatergruppen wie das Théâtre de la Grenouille in Biel ihre Stücke explizit mehrsprachig in mindestens zwei Sprachversionen einstudieren. Bis in die 1990er Jahre hinein ist das KJT der Schweiz nur vereinzelt als ›vierte Sparte‹ an Stadttheatern verankert, es dominieren unterschiedlich gut subventionierte Freie Theater. Aus der Subventionsabhängigkeit generieren gerade kleinere freie Theatergruppen künstlerische Innovationen; als ›Armes Theater‹ wird es insbesondere von der Theaterkritik wertgeschätzt. Zu den wichtigsten KJT-Häusern im deutschsprachigen Raum zählt das 1974 gegründete Vorstadt-Theater Basel (zuvor: Theater Spilkischte), im französischsprachigen Raum spielen das Théâtre Am Stram Gram in Genf sowie das Lausanner Petit Théâtre eine bedeutende Rolle.
30.4 Typologien Wie bereits gezeigt, konstituiert sich das Theater im Zusammenspiel von künstlerischem Ensemble, Rezipierenden und Bühnenraum: Erstere kommunizieren miteinander im Modus des Als-ob im Sinne eines »contrat théâtral«, der die »gemeinsame Produktion
30 Theater
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Als traditionelle Sparten des Theaters gelten Sprechtheater, Musiktheater, Tanztheater und Figurentheater – jeweils auf unterschiedliche Ausdrucksdimensionen des theatralen Spiels bzw. der theatralen Kommunikation verweisend. Abhängig von der Organisationsstruktur der Theaterhäuser wird auch das KJT als eigene Sparte geführt. Eine solche – institutionell begründbare – Abspaltung verdeckt jedoch zum einen die gerade im Jugendtheater fließenden Grenzen zum Allgemeintheater, zum anderen die Ausdrucksvielfalt des KJT, das sich seinerseits in Sprech-, Musik-, Tanzund Figurentheater differenziert. Dementsprechend empfiehlt sich eine Unterscheidung von Theatersparten nach den jeweils genutzten (materiellen wie semiotischen) Ausdrucksmitteln wie Sprache, Musik oder Körperbewegungen. So verkörpern im Sprechtheater menschliche Darstellende mittels Mono-, Dia- und Trialogen in gesprochener Sprache ihre Rollen. Im Unterschied dazu mischt das Musiktheater Sprechanteile mit musikalischen Elementen, die instrumental und/oder mit Gesang die Handlung transportieren. Musical und Oper wiederum verzichten zu großen Teilen auf Sprechanteile und nutzen ausschließlich Musik und Gesang (s. im Detail Plank-Baldauf 2019). Tanztheater und Figurentheater hingegen zeichnen sich hinsichtlich ihres Körpereinsatzes aus: Das Tanztheater (inkl. Ballett) nutzt den menschlichen Körper explizit als Ausdrucksmittel; Tanzbewegungen und Choreographien erhalten Zeichencharakter. Das Figurentheater hingegen präsentiert anstelle von menschlichen Darstellenden Puppen, Marionetten, Masken oder Materialien verschiedener Couleur. Wiederum umfasst das KJT all diese Sparten, gerade das Kindertheater gibt aber beispielsweise dem Figurentheater ein vergleichsweise höheres Gewicht, etwa im Rahmen des Kasperletheaters (vgl. Minuth 1996, Kratochwil 2015).
grenzter Aufführungsraum wie etwa im traditionellen Bühnentheater; stattdessen wird die städtische oder natürliche Umgebung, etwa unter freiem Himmel, genutzt, was gerade beim Straßentheater dynamischere Interaktionen zwischen Publikum und Schauspielenden ermöglicht. Wie das Allgemeintheater kennt das KJT sowohl die Sukzessionsbühne – auf der die Schauplätze zeitlich aufeinander folgen und zwischen Szenen der Bühnenraum umgebaut wird – als auch die Simultanbühne, die relevante Schauplätze des Stücks nebeneinander in einem Bühnenraum versammelt (vgl. Balme 2014, 158). Differenziert wird gängigerweise zwischen fünf Formen von Aufführungsräumen, die sich aus dem jeweiligen Zusammenspiel zwischen Publikum und Bühne ergeben (vgl. Carlson 1987, 67; vgl. alternativ Kotte 2012, 70–79): • Konfrontations- bzw. Guckkastenbühne (Proszenium): Zuschauer- und Bühnenraum nehmen (oft qua Konvention) getrennte Bereiche eines gemeinsamen Aufführungsraums ein; • Vorbühne: Der Bühnenraum ist in den Zuschauerraum hinein erweitert, etwa über Laufstege; • Arena: Der Zuschauerraum umschließt vollständig den Bühnenraum; • environmental: Zuschauer- und Bühnenraum vermischen sich und sind weder räumlich noch qua Konvention klar voneinander abgegrenzt; • Kino: Zuschauer- und ›Bühnenraum‹ sind ontologisch wie zeitlich voneinander getrennt (vgl. Cavell 1979, 24–5 sowie Schmerheim 2016, 97–99). Auf diese Aufführungsräume greift auch das KJT zurück, nutzt sie allerdings in anderer Intensität: So ist das KJT seltener in den großen (Proszeniums-)Sälen der Schauspielhäuser beheimatet, stattdessen dominieren kleinere, intimere Räume, die auch mehr Möglichkeiten bieten, das Publikum direkt zu adressieren bzw. einzubinden. Zudem wird gerne mit den räumlichen Möglichkeiten experimentiert, die sich insbesondere aus dem environmental theatre ergeben. Beispielsweise ermuntert Benoît Sicats Rauminszenierung Le jardin du possible (2002) ihre Besucher dazu, den vorgefundenen Spiel-Raum gärtnerisch zu bearbeiten, wodurch das Publikum selbst zum Gegenstand des Theaterstücks wird (vgl. Heinemann 2016, 9–11).
Räume
Produktionsmodi des Theaters
Eine weitere mögliche Differenzierung fokussiert die Nutzung des Bühnenraums. So dient dem Straßentheater als Bühne kein abgeschlossener, eigens abge-
Während die Einteilung von Theatersparten sich aus der jeweils unterschiedlichen Materialität bzw. Medialität ableitet, differenziert eine weitere mögliche
einer aus Zeichen errichteten Welt« (Lazarowicz 1991, 24) zum Ziel hat. Die Zeichenhaftigkeit dieser Welt kann sich im theatralen Raum aus unterschiedlichen Dimensionen speisen, aus denen sich wiederum eine Typologie von Theatersparten entwickeln lässt. Sparten
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IV Medien – C Weitere Medien
Typologie die Produktionsmodi des KJT: Professionelles Theater, Laientheater und Schultheater unterstehen jeweils graduell verschiedenen Entstehungsbzw. Erarbeitungsbedingungen. Produktionen des professionellen Theaters werden von haupt- oder nebenberuflich in der Theaterbranche arbeitenden Menschen erarbeitet und umgesetzt, Laientheaterstücke wiederum von Menschen, die ehrenamtlich bzw. in ihrer Freizeit Theaterstücke erarbeiten und aufführen. Das Schultheater steht wiederum in didaktischen Zusammenhängen: Hier werden selten Stücke ohne eine direkte oder indirekte pädagogische Zielsetzung inszeniert, wobei die Zielsetzung inhaltlich (etwa als Instrument der Missbrauchssensibilisierung) oder kompetenzorientiert motiviert sein kann.
30.5 Narratoästhetik Aus dem Zielgruppenbezug des KJT resultieren auch bestimmte Erzählmuster. Beispielsweise dauern Aufführungen im Kindertheater selten länger als 40 bis 60 Minuten, da sie an die Aufmerksamkeitsspanne von Vorschul- und auch Grundschulkindern angepasst sind und zudem häufig vormittags zu Schulzeiten angeboten werden. Daraus resultiert eine oftmals reduzierte dramaturgische Struktur in Form von Einaktern oder grundsätzlich einfachen Handlungsverläufen, wie sie beispielsweise Grimmsche Märchen ermöglichen, die dementsprechend auch zu den am häufigsten adaptierten literarischen Prätexten des Kindertheaters zählen (s. Kap. 22). Theatermärchen verdanken ihre Beliebtheit auch dem Umstand, dass Kindern im Vorschulalter Märchenerzählungen zumindest in Grundzügen vertraut sind. Dementsprechend haben sich Varianten des Märchentheaters entwickelt, vom klassischen Weihnachtsmärchen mit oder ohne kindlichen Darstellenden über Figurentheaterinszenierungen bis hin zum Erzähltheater in der Tradition Waechters, das an das Lesedrama grenzt (vgl. Waechter 1997, detaillierter hierzu s Kap. 22). Neben relativer dramaturgischer Einfachheit und Aufführungszeit gehört die direkte Publikumsansprache zu den Standarderzählverfahren des Kindertheaters. Das plakativste Beispiel stellt wiederum das (Hohnsteiner) Kasperle-Theater mit seinem sprichwörtlichem »Kinder, seid Ihr alle da?«-Einstieg zu Vorführungsbeginn (vgl. Brunken 2004, 259). Derlei ›call & response‹-Verfahren sind allerdings nur partiell interaktiv, hat das Publikum hier doch keinen Einfluss auf den Handlungsverlauf, anders als etwa in
Forschungstheater-Aufführungen wie Da Gefahr! (2017) des Hamburger FUNDUS THEATER, in dem die Kinder zu aktiven Teilnehmenden am Theaterstück werden. Zeitbezug des Jugendtheaters und Theaterpädagogik Das Jugendtheater hat eine höhere Affinität zum Allgemeintheater, veranschaulicht in Bearbeitungen klassischer Stoffe für ein jugendliches Publikum oder Inszenierungen wie Tschick (2011), die auf literarischen Vorlagen beruhen und zugleich für Jugendliche wie Erwachsene gleichermaßen interessant sind. Es orientiert sich an der vermuteten Lebenswelt des jugendlichen Zielpublikums und ist dadurch zeitge schichtlicher bzw. aktueller als das Kindertheater. Auf inhaltlicher wie auf Ausdrucksebene beeinflussen gerade in Häusern mit theaterpädagogischen Abteilungen entsprechende Überlegungen die Auswahl und Ausgestaltung der Stücke. Dementsprechend verortet die Theaterpädagogik das KJT im Spannungsfeld kreativer Kunstproduktion und Kompetenzvermittlung: »Theaterpädagogik macht [...] die vielfältigen Formen, Ausdrucks- und Wirkungsweisen des Theaters für soziale und künstlerische Bildungsprozesse nutzbar.« (Taube 2016, 299)
30.6 Inter- und transmediale Aspekte Als plurimediale Erzähl- und Darstellungsform kombiniert und synthetisiert Theater immer schon Ausdrucksformen wie Sprache, Gestik, Mimik, Musik oder Tanz. Dementsprechend nutzen viele Inszenierungen Medienkombinationen (im Sinne Rajewskys, s. Kap. 3), beispielsweise mittels der Verbindung von Sprech- und Musiktheaterelementen, oder durch die materielle Präsenz von anderen Träger- bzw. Ausdrucksmedien im Bühnenraum (Tonträger, VideoEinspielungen oder Instrumente). Ebenfalls als intermedial bezeichnen lässt sich das bereits im Begriffskapitel skizzierte Verhältnis zwischen Inszenierung bzw. Aufführung und einem zugrunde liegenden Dramentext. Manfred Pfister spricht vom Drama als plurimedialer Darstellungsform, vom aufgeführten dramatischen Text als »synästhetische[m] Text« (Pfister 2001, 25), der sich »im Gegensatz zu rein literarischen Texten[..] nicht nur sprachlicher, sondern auch außersprachlich-akustischer Codes« (ebd., 24–25) bediene. Adaptionen literarischer Vorlagen konstituieren
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das dominante intermediale Phänomen des Theaters, wobei die Bühnenfassungen literarischer Vorlagen in fast allen Fällen über den Zwischenschritt eines Skripts, eines Dramentexts also, zustande kommen. Zu den gerade im Kindertheater beliebten Prätexten zählen Märchensammlungen wie die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, die Märchen Hans Christian Andersens oder Wilhelm Hauffs ebenso wie Kinderliteraturklassiker, die sich auch aus narratoästhetischen Gründen zur Adaption anbieten (s. Kap. 15). Auffällig ist die Präsenz des (Figuren-)Kindertheaters im Fernsehen und im Kino: Einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind einzelne KJT-Stücke durch ihre Transformationen im Fernsehen bzw. überhaupt nur in Form von »Sekundärerfahrungen« (Franz 2007, 28) als televisierte oder filmische Theaterstücke. Seit Gründung der Bundesrepublik gibt es – in Rückgriff auf den bereits zur Stummfilmzeit entwickelten Puppenfilm etwa der Brüder Diehl oder Lotte Reinigers – Fernseh- und Kinofassungen von (Figuren-)Theaterstücken. Bis heute präsent sind die ursprünglich westund ostdeutschen Puppentheater-Produktionen des Sandmännchen (seit 1959) sowie die erstmals in den 1960er Jahren eigens für die serielle Fernsehauswertung produzierten Stücke der Augsburger Puppenkiste, etwa Urmel aus dem Eis (1969) oder Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1961/62 sowie 1976 nach dem Buch von Michael Ende [1960]). Aus inszenierungsanalytischer Sicht interessant ist hier die Verknüpfung des theatralen Rahmens mit den Ausdrucksmitteln des audiovisuellen Erzählens. Beispielsweise können Film und Fernsehen den im Theater eng umgrenzten Bühnenraum mit Hilfe von Montage und dem dadurch ermöglichten raschen Wechsel zwischen (ansonsten räumlich beschränkten) Schauplätzen aufheben. Bisher wenig erforscht ist der Medienwechsel vom Bilderbuch zum Kindertheater, dessen Reiz in der Aneignung der räumlich komplexen Bild-Text-Korrelationen des Bilderbuchs für den theatralen Raum liegt – zum Beispiel in der Adaption von Miriam Kochs Bilderbuch Fiete Anders (2007) durch das Bremer Figurentheater Mensch, Puppe!. Kochs Tierabenteuer um ein rot-weiß gestreiftes Außenseiter-Schaf, das erst an der Nordseeküste in Gestalt eines identisch gestreiften Leuchtturms eine Ersatzfamilie findet, spielt mit den (Raum-)Gestaltungsmöglichkeiten eines extremen Breitbildformats von 30,5 × 11,5 cm, indem die Doppelseiten die flachen Küstenlinie des Nordseehorizonts nachbilden. Regisseur Rainer Schicktanz und Ausstatterin Eva Swoboda greifen diese Raumästhetik
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des Prätextes durch korrespondierend gestaltete Hintergrundbilder und Bühnengegenstände auf. Das Nationaltheater Mannheim inszeniert unter der Regie von Carlos Manuel das Bilderbuch Hier kommt keiner durch! von Isabel Minhós Martins (Text) und Bernardo P. Carvalho (Illustration) (Daqui ninguém passa, port. 2014; dt. 2016), indem die besondere Seitenarchitektur der Wimmelbuch-Vorlage in eine interaktive theatrale Raumästhetik überführt wird: Im Prätext verhindert der Aufpasser eines Generals, dass die Figuren des Buchs auf die rechte Bildseite gelangen, weil der General »in die Geschichte hineinkommen [können will], wann immer er es möchte.« (Minhós Martins 2016, 12; Zählung ab Titelseite) Das hat zur Folge, dass sich der linke Seitenbereich von Doppelseite zu Doppelseite immer weiter füllt. In Manuels Inszenierung wird daraus ein interaktives Musiktheaterstück für Kinder ab vier Jahren, in dem sich die Zuschauenden frei im Raum bewegen und mit den Darstellern auf der Bühne interagieren können. Primärliteratur
Minhós Martins, Isabel (Text)/Carvalho, Bernardo P. (Ill.): Hier kommt keiner durch! Leipzig 2016. Koch, Miriam: Fiete Anders. Hildesheim 2007.
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Philipp Schmerheim
31 Hörbuch und Hörspiel
31 Hörbuch und Hörspiel 31.1 Einleitung Das Hörspiel galt lange als altmodisches und vergessenes Relikt der Nachkriegszeit oder der Kassetten-Ära (vgl. Haas 1991), doch aktuell scheint es zu einer Renaissance zu kommen, bisweilen ist auch von einem »Hörbuch-Boom« die Rede (vgl. Kegel 2014). Das Moment des Akustischen ist jedenfalls im beginnenden 21. Jahrhundert so bedeutsam, dass 2008 ein interdisziplinärer Tagungsband erscheint, der bereits im Titel einen »acoustic turn« ausruft (vgl. Meyer 2008). Erfolgreich sind vor allem jene Hörmedien, die sich an Kinder und Jugendliche richten, was sich etwa an steigenden Verkaufszahlen ablesen lässt: Lagen die Umsatzanteile von Hörspielen und Hörbüchern innerhalb der Warengruppe Kinder- und Jugendbuch 2005 noch bei 22,6 %, so ist bis 2015 eine Verdopplung auf 45,8 % zu verzeichnen (vgl. Börsenverein 2007, 9 sowie 2016, 15). Der vorliegende Beitrag versucht zunächst eine definitorische, historische und typologische Annäherung an Hörspiele und Hörbücher für Kinder und Jugendliche, anschließend geht es um narrative Grundmuster sowie ästhetische Experimente im Bereich der aktuellen Produktion.
31.2 Begriffsdefinitionen Das Hörspiel ist ein »[e]lektroakustisch erzeugtes und an das Medium Rundfunk bzw. an Tonträger gebundenes Genre« (Würffel 2000, 77), das in den 1920er Jahren aufkommt und die Elemente Sprache, Stimme, Geräusch und Musik verbindet. Es hat in der Regel eine dialogische Form und geht von einer inszenierten Gestaltung aus. Standen zunächst Schallplatten, später dann Kassetten als Tonträger im Vordergrund, werden die Produkte heute vorwiegend auf CD, als Dateien zum Download oder über Streamingdienste verbreitet. Der Vortrag eines Texts durch eine Sprecherin oder einen Sprecher wird dagegen als Hörbuch bezeichnet, allerdings ist diese Terminologie nicht einheitlich: »Das Hörbuch im engeren Sinne ist die Lesung, das Hörbuch im weiteren Sinne schließt auch Hörspiele mit ein. Im weitesten Sinne werden [...] sämtliche Produktionen mit vornehmlich gesprochenem Wortinhalt als Hörbücher bezeichnet« (Häusermann/Janz-Peschke/Rühr 2010, 14). Im Folgenden wird der Terminus Hörbuch als Synonym für die Lesung verwendet, da
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dies am ehesten dem allgemeinen oder intuitiven Gebrauch entspricht.
31.3 Historische Entwicklungen Hans Fleschs Zauberei auf dem Sender (SÜWRAG), das erste deutschsprachige Hörspiel, das im Oktober 1924 ausgestrahlt wird, richtet sich zwar nicht an Kinder, dennoch weist die plötzlich auftretende Märchentante darauf hin, dass das Radioprogramm zu erwachsen sei und die Kinder vergessen werden. In der Tat besteht das Kinderhörspielprogramm der Weimarer Republik hauptsächlich aus Märchenhörspielen und Adaptionen von Kasperltheaterstücken, aber auch Autoren wie Bertolt Brecht (Der Flug der Lindberghs, Berliner Funkstunde 1929) und Walter Benjamin (Radau um Kasperl, SWR 1932) gehören zu den Pionieren des Kinderhörspiels. Nach dem Zweiten Weltkrieg dominieren neben Märchen vor allem Adaptionen von Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur die Hörspielszene, etwa von Karl May (z. B. Winnetou, WDR 1956) oder Mark Twain (z. B. Tom Sawyers Abenteuer, WDR 1958). Außerdem werden aktuelle Kinderromane zu Hörspielen verarbeitet, hier dienen beispielsweise die Texte Erich Kästners (z. B. Die Konferenz der Tiere, BR 1950), Astrid Lindgrens (z. B. Meisterdetektiv Kalle Blomquist, NWDR 1954) oder Otfried Preußlers (z. B. Räuber Hotzenplotz, SDR 1963) als Vorlagen (vgl. Weber 1997, 28–32 sowie Böckelmann 2002). In den 1970er Jahren emanzipiert sich nicht nur die Kinder- und Jugendliteratur, sondern auch das Hörspiel. Zumindest haben sich die Erzähltechniken merklich geändert, sodass zum Beispiel das auktoriale Erzählen häufiger durch »erlebte Rede, personale Erzählweise, Rückblenden, intrapersonale Dialoge, Sprachspielereien, Montage und multipersonales Erzählen« (Weber 2000, 139) ersetzt wird. Um 1980 starten jene Serien, die den Erfolg des Kinderhörspiels massiv bestimmen und bis heute fortgesetzt werden: Benjamin Blümchen (Kiosk/Kiddinx seit 1977), Die drei ??? (Europa seit 1979), Bibi Blocksberg (Kiosk/Kiddinx seit 1980) sowie TKKG (Europa seit 1981). Annette Bastian (2003) bezeichnet die um 1970 Geborenen dementsprechend als Generation der »Kassettenkinder«. Die historische Entwicklung des Kinder- und Jugendhörbuchs ist kaum dokumentiert. Folgt man Sandra Rührs Darstellung, wird seit den späten 1920er Jahren zunächst eine geringe Zahl an Märchenschall-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_31
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platten produziert. Oft sind es berühmte Schauspieler, welche die Märchen Hans Christian Andersens oder der Brüder Grimm vorlesen (vgl. Rühr 2008, 54 und 76). Ein frühes Beispiel einer Autorenlesung sind die Kindergeschichten Peter Bichsels, die bereits in den 1970er Jahren auf Schallplatte erscheinen. Insgesamt werden Hörbücher zunächst eher zu solchen Titeln produziert, die sich auf dem Buchmarkt etabliert haben. »Reine Lesungen«, kommentiert Karla Müller, seien zu Zeiten der Vinylschallplatte »weniger populär, vermutlich weil das relativ teure Medium Platte nicht verkauft worden wäre, wenn es nicht mehr, Anderes und Attraktiveres geboten hätte als das, was man auch einfach selbst tun konnte, nämlich etwas vorzulesen« (Müller 2007, 96). Im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert hat sich das Kinder- und Jugendhörbuch parallel zu den Produktionen für ein erwachsenes Publikum etabliert. Erfolgreich sind außer klassischen Stoffen vor allem prominente und markante Stimmen wie die von Harry Rowohlt (z. B. Winnie-der-Pu und einige Bienen, Kein & Aber Records 1988), Rufus Beck (z. B. Harry Potter und der Stein der Weisen, Der Hörverlag 1999), Jens Wawrczeck (z. B. Nennt mich nicht Ismael, Hörcompany 2008), Sandra Hüller (z. B. Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt, Hörcompany 2013) und Mechthild Großmann (z. B. Tagebuch einer Killerkatze, Oetinger Audio 2015), aber auch Autorinnen und Autoren, die ihre eigenen Werke lesen, wie Cornelia Funke (z. B. Igraine Ohnefurcht, Jumbo Neue Medien 2004) oder Finn-Ole Heinrich (z. B. Frerk, du Zwerg!, Hörcompany 2011). In der gegenwärtigen Kinder- und Jugendhörmedienszene stehen ganz unterschiedliche Formen von Hörbüchern und Hörspielen erfolgreich nebeneinander: »53 Prozent der Sechs- bis 13-Jährigen hören zumindest selten Hörspiele oder Hörbücher an, jeder Vierte lauscht den Geschichten regelmäßig«, heißt es in der KIM-Studie 2016 (mpfs 2017, 24). Diejenigen, die ein Lieblingshörspiel bzw. -hörbuch nennen, geben auf den ersten drei Plätzen Die drei ???, Bibi und Tina sowie Bibi Blocksberg an, auf Platz 9 folgt mit Harry Potter eine Lesung (vgl. ebd., 25). Neben den Hörspielserien bestimmen Medienverbünde (s. Kap. 4) zu erfolgreichen Titeln der Kinderund Jugendliteratur das aktuelle Angebot, auch hier haben die Hörmedien einen wesentlichen Anteil. Andreas Steinhöfels Rico, Oskar und die Tieferschatten beispielsweise erscheint 2008 als Roman gleichzeitig mit der ungekürzten Autorenlesung als Hörbuch. Des Weiteren umfasst der Medienverbund ein Hörspiel in
der Bearbeitung von Judith Lorentz (WDR 2012), die filmische Adaption unter der Regie von Neele Vollmar (2014), nach der wiederum ein Filmhörspiel produziert wird, und die Bühnenfassung von Felicitas Loewe, die 2009 in Dresden uraufgeführt wird. Außerdem spielen die Figuren in zwei weiteren Bänden mit, die ebenfalls filmisch und als Hörspiele adaptiert werden, es gibt Kindercomics, Zeichentrickclips, Kalender, ein Musical mit Songs der Bananafishbones, den Weihnachtsband Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch (2017) etc.
31.4 Typologien und Narratoästhetik Nimmt man die Typologie des Hörspiels in den Blick, so lassen sich Originalhörspiele und Adaptionen unterscheiden. Während ein Originalhörspiel ausschließlich – oder wenigstens zuerst – für diese mediale Form konzipiert wird, transponieren Adaptionen einen bereits existierenden Stoff in das neue Medium. Hier lässt sich unterscheiden, ob es sich eher um eine Übertragung handelt, die inhaltlich und strukturell kaum eingreift, oder ob eine mediale Transformation vorliegt, bei der die narrativen Potentiale des Zielmediums angemessen genutzt werden und die Adaption prägen (vgl. Huwiler 2005, 91–94 sowie 265). Häufig werden darüber hinaus Filmhörspiele produziert, in denen der Soundtrack des Films meist durch eine Erzählinstanz ergänzt wird, die die fehlenden Bildinformationen kompensiert. Auch Hörbücher sind, wie Adaptionen, mit einem Medienwechsel von der printmedialen in die akustische Form – und damit automatisch mit einer Interpretation des Textes – verbunden. Unterscheiden lassen sich hinsichtlich der Art und Weise des Vortrags distanziertes, engagiertes und spielendes Erzählen (vgl. Häusermann/Janz-Peschke/Rühr 2010, 210). Neben der reinen Lesung liegen Mischformen zwischen Hörbuch und Hörspiel vor, in denen der von einer Stimme gelesene Text durch Musik untermalt oder durch Geräusche belebt wird, hier findet sich die Bezeichnung inszenierte Lesung (vgl. Müller 2007, 100).
31.5 Narratoästhetik Auditive Medien sind darauf angewiesen, sämtliche Informationen über akustische Signale zu vermitteln. Doch während das Hörbuch in seiner prototypischen Form als Lesung eines literarischen Textes an die Mit-
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tel Sprache und Stimme gebunden ist, lässt sich das Hörspiel als Mixtur aus ganz verschiedenen semiotischen Ebenen beschreiben. Götz Schmedes unterscheidet zwischen allgemeinen Codes, also Sprache, Stimme, Geräusch, Musik, Stille und Originalton, sowie audiophonen Codes, die die Verfahren der Studiotechnik betreffen (vgl. Schmedes 2002, 59–122; vgl. auch Weber 1997, 41–61; Böckelmann 2002, 46–125; Huwiler 2005, 54–70). An der Produktion von Hörspielen ist somit neben der Autorin bzw. dem Autor ein ganzes Team von Künstlern und Technikern beteiligt. Sprache und Stimme sind im Hörspiel direkt aneinandergekoppelt, da Sprache nur über Stimme transportiert werden kann, etwa als dialogische oder monologische Figurenrede sowie als Erzählerkommentar. Außer dem verbalen Code, also dem gesprochenen Text bzw. der Sprache, verfügt die Stimme zusätzlich über paraverbale bzw. prosodische (Klang, Intonation, Lautstärke, Sprechtempo etc.) sowie nonverbale (Räuspern, Husten, Lachen etc.) Faktoren, die die Charakterisierung der Figuren bzw. die Emotionslenkung und die Glaubwürdigkeit maßgeblich unterstützen. An der Stimme erkennt man in der Regel, ob es sich um einen Mann oder eine Frau, ein Kind oder einen Erwachsenen handelt, darüber hinaus tragen soziolektale und dialektale Färbungen zur Verortung der Figuren bei. Erzählt wird allerdings im Hörspiel nicht nur auf verbaler Ebene, auch Geräusche und Musik haben eine narrative Funktion. Aus semiotischer Perspektive kann man zwischen einem ikonischen oder indexikalischen Zeichenmodus auf der einen und einem symbolischen Zeichenmodus auf der anderen Seite differenzieren (vgl. Schmedes 2002, 64). Es wird also unterschieden zwischen natürlichen Geräuschen, die sich konkret auf ein Denotat beziehen lassen (Türklopfen, Straßenverkehr etc.), und symbolischen Geräuschen, bei denen es keine direkte Übersetzung gibt. Außerdem kommt in fast jedem Hörspiel Musik vor, dabei wird die extradiegetische Musik nur von den Hörerinnen und Hörern, nicht aber von den Figuren wahrgenommen. Als typisches Beispiel wären hier alle Titelmusiken zu nennen, aber auch die meisten Formen von Hintergrundmusik. Daneben gibt es die (intra)diegetische Musik, die Teil der Handlung ist, etwa wenn im Hörspiel gesungen, musiziert oder Musik gehört wird. Hörspielmusik hat insgesamt sehr unterschiedliche Funktionen, die sich als syntaktische – also gliedernde – und semantische – also bedeutungsgenerierende – Dimensionen fassen lassen (vgl. Huwiler 2005, 61). Sie kann zur Szenentrennung bzw. Markie-
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rung zeitlicher und räumlicher Wechsel sowie zum Unterstreichen der Atmosphäre oder bestimmter Emotionen, zur Charakterisierung der Figuren etc. dienen. Strukturell bedarf das Hörspiel keiner Erzählinstanz, dennoch ist sie häufig anzutreffen, entweder als heterodiegetischer Erzähler wie in vielen traditionellen Märchenhörspielen oder der Serie Die drei ???, oft aber auch – analog zu den Entwicklungen im Kinderroman – als kindlicher Ich-Erzähler, etwa in Milena Baischs Anton taucht ab (SWR/WDR 2012) oder Sally Nicholls’ Wie man unsterblich wird (WDR 2009). Zusätzlich gibt es nicht-menschliche Erzählinstanzen, so lässt Thilo Reffert in seinem Hörspiel Fünf Gramm Glück (DLR 2015) eine Brotdose erzählen, während in Australien, ich komme (DLR 2010) ein Wombat zum Erzähler seiner eigenen Geschichte wird.
31.6 Inter- und transmediale Aspekte Interessant wird die Analyse dort, wo in Hörspielen und Hörbüchern mit den spezifischen Möglichkeiten des Mediums experimentiert wird. Dies soll an einigen aktuellen Beispielen gezeigt werden: Ein erzähltheoretisch raffiniertes Phänomen, das im Hörspiel wirkungsvoller ist als im Roman, ist die narrative Metalepse, also das Durchbrechen erzähllogischer Grenzen. Während in Torben Kuhlmanns Bilderbuch Lindbergh – Die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus (2014) eine nullfokalisierte Instanz erzählt, lässt die Hörspieladaption (HR 2015) Gudrun Hartmanns unter der Regie von Marlene Breuer sowohl den Dichter als auch den Zeichner zu Figuren werden und zu Wort kommen. Die oft gestellte Frage, ob eine Erzählinstanz im Hörspiel nötig bzw. qualitativ überzeugend ist, bekommt hier eine neue, lustvoll-spielerische Dimension. Erzähler und Illustrator verständigen sich zunächst über den Plot, aber auch über die Gestaltung der Illustrationen. So entsteht die Maus Charly, um deren Abenteuer es in Lindbergh geht, gleichsam vor den Ohren der Rezipientinnen und Rezipienten, sowohl durch den Dialog der beiden Erzähler als auch durch die Geräusche, die hörbar machen, dass hier gerade gezeichnet wird. Sowie die Maus zum Leben erweckt ist, beginnt sie nicht nur zu sprechen, sondern sich mit ihren Schöpfern zu unterhalten und aktiv in die Narration einzugreifen, etwa, wenn sie sich noch mehr Bücher wünscht oder sich beim Illustrator bedankt, dass er ihr eine Rampe zeichnet, die ihr den Einstieg ins Flugzeug erleichtert. Dieses metaleptische Überschreiten der Grenze zwi-
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schen intra- und extradiegetischer Ebene erzeugt nicht nur Komik, es wird vor allem der fiktionale bzw. phantastische Charakter der Geschichte hervorgehoben. Zusätzlich wird der Experimentcharakter dadurch gesteigert, dass alle Rollen von nur einem Sprecher, Bastian Pastewka, gesprochen werden. Klassische Stoffe können durch eine hörspielspezifische Adaption eine neue Perspektive bekommen. In Faustinchen (SWR 2017) lassen Autor Thilo Reffert und Regisseur Robert Schoen die Geschichte Fausts von Mephisto erzählen, der dazu extra in ein Hörspielstudio kommt. Da er allerdings die Ausdrucksformen des Films für wirkungsvoller hält, müssen ihn Regisseur und Studiotechniker zunächst von den Möglichkeiten des Hörspiels überzeugen. Das gelingt ihnen schließlich durch das Ausprobieren unterschiedlicher Sounddesigns. Faustinchen changiert zwischen diesem Erzählrahmen, der mit radiophonen Klangwirkungen experimentiert und so die medialen Besonderheiten der Gattung Hörspiel gleichermaßen nutzt und thematisiert, sowie – stark modifizierten – Szenen aus Goethes Faust (1808). Neben den metafiktionalen Reflexionen schlägt Reffert dabei eine Brücke zum kindlichen Publikum, indem Faust in dieser Adaption eine Tochter hat, die der klassischen Tragödie eine durchaus eigenwillige und mitunter komische Wendung verleiht. Ähnlich komplex ist die narrative Faktur in der Hörspieladaption von Michel Endes Die unendliche Geschichte (WDR 2014) – in der Bearbeitung von Ulla Illerhaus und unter der Regie von Petra Feldhoff. Hier fungiert eine weibliche Stimme als extradiegetische und eine männliche Stimme als intradiegetische Erzählinstanz. Das Buch im Buch (bzw. im Hörspiel) wird also von einer anderen Stimme erzählt als die Rahmenhandlung. Die phantastische Struktur zweier Welten, die im Roman durch rote und grüne Schrift voneinander getrennt sind, erfährt im Hörspiel eine medienspezifische Inszenierung, die sich vor allem an den Schwellenübergängen in die sekundäre Welt zeigen lässt. Neben der weiblichen Erzählinstanz ist die primäre Welt durch weitgehend realistische Geräusche geprägt, Musik spielt eine untergeordnete Rolle und die entsprechenden Szenen sind in Stereoqualität aufgenommen. Die sekundäre Welt hingegen wird durch eine männliche Erzählerstimme repräsentiert, die stilisierten Geräusche haben hier atmosphärischen Charakter und mischen sich mit der Musik, die für die Ausgestaltung Phantásiens wesentlich ist. Diese Sequenzen sind in Surround-Technik produziert, sodass man sich von der sekundären Welt stärker um-
geben fühlt. Wenn sich Bastian Balthasar Bux auf den Dachboden verzieht und zu lesen beginnt, vernimmt man zunächst Regen, Donner, den Ruf eines Käuzchens sowie das Blättern von Buchseiten, dann hört man Bastians Stimme, die laut aus einem Buch vorliest. Allmählich wird in diese realistische Klangkulisse jene sphärische Musik geblendet, die Phantásien charakterisiert. Schließlich übertönt der intradiegetische Erzähler Bastians Stimme, wodurch sowohl Bastian als auch die Hörerinnen und Hörer immer stärker in die phantastische Welt hineingezogen werden. Eine Besonderheit auf dem Hörspielmarkt sind die Orchesterhörspiele des Komponisten Henrik Albrecht, hier geht die Funktion der Musik deutlich über den punktuellen Einsatz zur atmosphärischen Verdichtung oder zur Markierung räumlicher und zeitlicher Grenzen hinaus, vielmehr kann man von der Musik als einem zentralen Element der Narration sprechen. In den Partituren zu seinen Orchesterhörspielen arbeitet Albrecht mit einer ausgeprägten Leitmotivtechnik, in Alice im Wunderland (NDR 2010) beispielsweise wird das immer wieder modifizierte Alice-Thema von der Querflöte gespielt. Zu diesen Leitmotiven kommen musikalische Zitate, etwa wenn das Wachsen von Alice mit dem Anfangsthema aus Richard Strauss’ Sinfonischer Dichtung Also sprach Zarathustra (1896) begleitet wird. »Dieses Zitat ermöglichte es mir also, das Wachstum von Alice mit quasi außermusikalischen Anspielungen zu zeigen und zu steigern«, sagt Albrecht im Interview. »Alice wächst durch die Verwendung dieses Zitates auf fast kosmische Größe« (Wicke 2016b). Wenn die wieder geschrumpfte Alice in ihren eigenen Tränen zu ertrinken droht, »formen die musikalischen Tränen-Tropfen eine kunstvolle Schichtung von verschiedenen Seemannsliedern« (ebd.). Die Musik erzählt in Albrechts Orchesterhörspielen zwar keine andere Geschichte als die Sprache, vielmehr entsteht die Handlung aus einer »enge[n] Verzahnung« (ebd.) der beiden Zeichensysteme. Der intermediale Status des Hörspiels als Medienkombination (vgl. Rajewsky 2002, 18–20) wird hier besonders deutlich. Auch im Hörbuch wird bisweilen mit den Mitteln des Hörspiels gearbeitet, wenn der gelesene Text durch Geräusch und Musik unterstützt wird oder das Lesen beinahe ins Spielen übergeht. Ein solches engagiertes Erzählen liegt vor, wenn Martin Baltscheit Simon van der Geests Roman Krasshüpfer (Igel Records 2016) liest. Zumal hier keine anonyme Erzählinstanz berichtet, sondern der Bruderzwist aus der Ich-Perspektive des jüngeren Bruders Hidde wiedergegeben wird, der
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im Keller Insekten züchtet, während der ältere Bruder Jeppe dort Schlagzeug üben will. Hat der Einsatz von Musik zunächst gliedernde Funktion, wird im Laufe der Handlung Jeppes »Schlagzeugbombardierung« auch musikalisch hörbar, des Weiteren unterstützen wenige Geräusche die Lesung. In den Dialogen zwischen den Figuren spielt Baltscheit die einzelnen Rollen aus, er schreit, flüstert und verhöhnt. Vor allem eine narratologische Besonderheit zeichnet den Roman aus: Der Rezipient wird in die Diegese hineingezogen, wenn Hidde ihn direkt anspricht, ihn in sein Geheimnis einweiht und seinem Bruder später davon berichtet. Solche zum Teil eindringlich geflüsterten oder drohenden Ansprachen wirken im Hörbuch sehr viel direkter und unausweichlicher als im Roman. Natürlich richtet sich der analytische Blick nicht ausschließlich auf die medienspezifische Inszenierung, es liegen auch Forschungsansätze vor, die sich Hörspielen aus gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Perspektive nähern und dabei zu durchaus kontroversen Ergebnissen kommen. Gerd Strohmeier konstatiert, dass die von Elfie Donnelly initiierten Serien Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg »aus politikwissenschaftlicher Sicht keineswegs das Prädikat ›wertvoll‹« verdienen, weil Politiker »grundsätzlich [als] lächerliche und inkompetente Figuren [dargestellt werden], die faul, reich, geld- und machtgierig, verschlagen, am eigenen Wohl orientiert sowie unfreundlich, unmenschlich und unbeliebt sind« (Strohmeier 2005). »Äußerst bedenklich« sei außerdem, dass »sich die ›richtigen‹ politischen Positionen grundsätzlich ›links‹ der politischen Mitte befinden« (ebd.). Oliver Emde hingegen hebt die in den Benjamin Blümchen-Hörspielen demonstrierten Formen politischer Partizipation und zivilen Ungehorsams positiv hervor, etwa wenn Benjamin einen Baum besetzt, damit dieser nicht gefällt werden kann. Die Hörspiele, so folgert er in Abgrenzung zu Strohmeier, seien »ein Appell an die Zivilgesellschaft und die mündigen Bürger*innen: es wird dazu aufgefordert, konstituierte Macht und Regierungspraktiken kritisch zu hinterfragen, soziale Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse abzubauen und selbst politisch aktiv zu werden« (Emde 2016, 33). Insgesamt kann man den aktuellen Kinder- und Jugendhörspiel- und -hörbuchmarkt als bunt, vielfältig und qualitativ anspruchsvoll bezeichnen. Auszeichnungen wie der Deutsche Kinderhörspielpreis, das Auditorix Hörbuchsiegel, der Deutsche Kinderhörbuchpreis BEO, der HÖRkulino u. v. a. können Jahr für Jahr aus einer Fülle an hochwertigen Produktio-
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nen auswählen. Allerdings folgt das Innovationspotential weitgehend den jeweiligen Entwicklungen in der Kinder- und Jugendliteratur, die neue Themen, Stile und narrative Strukturen prägt. Wünschenswert wäre, dass auch der Mut zu medialen Experimenten, zu ungewöhnlichen hörspielspezifischen Formen, genuin auditiven Narrationen sowie eigenständigen Adaptionen und Transformationen über die gezeigten Beispiele hinauswüchse. (Dieser Beitrag erweitert einen Lexikonartikel zum Kinderhörspiel auf http://KinderundJugendmedien.de (vgl. Wicke 2016a).) Literatur
Bastian, Annette: Das Erbe der Kassettenkinder. ... ein spezialgelagerter Sonderfall. Brühl 2003. Böckelmann, Angelika: Hörspiele für Kinder. Kinderliteratur als Vorlage für Hörspiele – Otfried Preußler als Autor – Bewertungskriterien. Oberhausen 2002. Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. (Hg.): Buch und Buchhandel in Zahlen. Frankfurt a. M. 2007 sowie 2016. Emde, Oliver: Ziviler Ungehorsam im entpolitisierten Neustadt? Politische Partizipation bei »Benjamin Blümchen«. In: Ders./Lukas Möller/Andreas Wicke (Hg.): Von »Bibi Blocksberg« bis »TKKG«. Kinderhörspiele aus gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Opladen/Berlin/Toronto 2016, 16–35. Haas, Gerhard: Das Hörspiel – die vergessene Gattung? In: Praxis Deutsch 18/109 (1991), 13–19. Häusermann, Jürg/Janz-Peschke, Korinna/Rühr, Sandra: Das Hörbuch. Medium – Geschichte – Formen. Konstanz 2010. Huwiler, Elke: Erzähl-Ströme im Hörspiel. Zur Narratologie der elektroakustischen Kunst. Paderborn 2005. Kegel, Sandra: Hörbuch-Boom. Hier ist er, der Ort für unsere Phantasie (2014). In: http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/hoerbuch-boom-hier-ist-er-der-ort-fuerunsere-phantasie-13067183.html (1.7.2020). Meyer, Petra Maria (Hg.): acoustic turn. München 2008. mpfs (Hg.): KIM-Studie 2016. Kindheit, Internet, Medien. Basisstudie zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland. Stuttgart 2017. In: https://www.mpfs.de/ fileadmin/files/Studien/KIM/2016/KIM_2016_Web-PDF. pdf (1.7.2020). Müller, Karla: Hörbücher. In: Petra Josting/Klaus Maiwald (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund. Grundlagen, Beispiele und Ansätze für den Deutschunterricht. München 2007, 96–107. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Tübingen/Basel 2002. Rühr, Sandra: Tondokumente von der Walze zum Hörbuch. Geschichte – Medienspezifik – Rezeption. Göttingen 2008. Schmedes, Götz: Medientext Hörspiel. Ansätze einer Hörspielsemiotik am Beispiel der Radioarbeiten von Alfred Behrens. Münster 2002.
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Strohmeier, Gerd: Politik bei Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg (2005). In: http://www.bpb.de/apuz/28782/ politik-bei-benjamin-bluemchen-und-bibiblocksberg?p=all (1.7.2020). Weber, Wibke: Strukturtypen des Hörspiels – erläutert am Kinderhörspiel des öffentlich-rechtlichen Rundfunks seit 1970. Frankfurt a. M. 1997. Weber, Wibke: Neue Entwicklungen und traditionelle Formen: Das Kinderhörspiel. In: Karin Richter/Sabine Riemann (Hg.): Kinder – Literatur – »neue« Medien. Hohengehren 2000, 133–142.
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Andreas Wicke
32 Zeitschriften
32 Zeitschriften 32.1 Einleitung Dieser Beitrag skizziert exemplarisch die Entwicklung des Markts für Kinder- und Jugendzeitschriften nach 1945 in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Angesichts der Fülle an Titeln, die häufig nur sehr kurzlebig waren und zum Teil lediglich lokal bekannt wurden, können nur einige Beispiele herausgegriffen werden. Andere Zeitschriften waren bzw. sind hingegen über Jahrzehnte am Markt und nutzen teils Fernsehen und Internet, um neue Vertriebskanäle zu erschließen. Kinder- und Jugendzeitschriften spiegeln gesellschaftliche Entwicklungen wider und sind dementsprechend in Inhalt und Form abhängig von zeitgeschichtlichen Trends, zumal sie immer wieder auch genutzt werden, um politischen Einfluss zu nehmen. Nach einer Begriffsdefinition folgt ein historischer Abriss der Entwicklung des Kinder- und Jugendzeitschriftenmarkts. Darauf folgen Abschnitte zur Typologie, zu narratoästhetischen Mustern sowie zu intermedialen Aspekten von Kinder- und Jugendzeitschriften.
32.2 Begriffsdefinitionen Die Kinder- und Jugendmedienforschung hat Zeitschriften für Kinder und Jugendliche bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt, was daran liegen mag, dass »Kinder- und Jugendzeitschriften [...] einen ausgesprochen inhomogenen medialen Bereich dar[stellen].« (Haller 2015, 2) Definitorisch ist eine Zeitschrift ein »Medienprodukt aus der Gruppe der Printmedien. Wesensmerkmale von Zeitschriften sind die Periodizität (regelmäßige, fortgesetzte Erscheinungsweise), die Publizität (öffentlicher Zugang zum Medium) und die Disponibilität (freie Verfügbarkeit nach Ort und Zeit). Das Merkmal der Aktualität (Gegenwartsbezug) ist bei Zeitschriften nur unter bes. Bedingungen nachweisbar; grundsätzlich sind Zeitschriften nicht primär auf Aktualität ausgerichtet.« (Sjurts 2018)
Die Zeitschrift hat eine Verfasservielheit, welche u. a. die Abhandlung mehrerer, wenn auch verwandter Themen in Form von Aufsätzen (Artikel) gewährleistet. Die Zeitschrift wendet sich, je nach der Besonderheit ihres Sachgebietes, an einen größeren oder klei-
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neren, aber von vornherein begrenzten Leserkreis (vgl. Strauch/Rehm 2007, 464). Kinder- und Jugendzeitschriften richten sich an bestimmte Altersgruppen, die sehr eng gefasst sein können, unter Umständen aber auch junge Erwachsene mitadressieren. Kinderzeitschriften richten sich an ein Publikum vom Vorschulalter bis ungefähr zwölf Jahren, wobei auch hier eine Verschiebung möglich ist. Jugendzeitschriften werden ungefähr ab dem zwölften Lebensjahr konsumiert. Zusammenfassend meint hier Bernhard Meier: »›Kinder- und Jugendzeitschrift‹ ist definiert durch Kriterien des Mediums (wie sie auch für die Zeitschriftenwelt der Erwachsenen gelten) sowie die (z. T. differenzierenden) Ansichten der Alterszuordnung Kind/Jugendlicher« (Meier 2016, 265). Eine Trennung zwischen Kinder- und Jugendzeitschrift ist oft schwierig: »Kinderzeitschriften sind vorwiegend illustrierte Zeitschriften zur Belehrung und Unterhaltung. Sie wenden sich meist an Kinder zwischen dem 5. und 10. Lebensjahr; manche beziehen das frühe Jugendalter (etwa bis zum 13. Lebensjahr) mit ein.« (Strauch/Rehm 2007, 254) Für Kinderzeitschriften charakteristisch sind der vermehrte Einsatz von Graphik und fiktionalen Elementen. Differenziert werden kann auch in kommerzielle oder nichtkommerzielle, religiöse, weltanschauliche oder parteipolitische Zeitschriften, in Zeitschriften, die bestimmte Themen fokussieren sowie solche, die entweder für die Schule oder die Freizeit konzipiert sind. Die Schwierigkeit der Differenzierung von Kinderund Jugendzeitschriften verschärft sich durch die zunehmende Präsenz von Zeitschriften für Kinder und Jugendliche im Internet. Dort verschwimmen die Grenzen zwischen der Adressierung an Kinder, Jugendliche und sogar Erwachsene immer mehr, beispielsweise werden Zeitschriften mit spielerischen Elementen (sog. Gimmicks) versehen und mit anderen Inhalten verknüpft.
32.3 Historische Entwicklungen Der deutschsprachige Raum kann auf eine lange Tradition an Kinder- und Jugendzeitschriften zurückblicken. Ein Beispiel dafür ist die Flohkiste, bereits 1876 unter dem Titel Jugendlust gegründet, die bis zum 31. Dezember 2018 erschien. Im zweigeteilten Deutschland nach 1945 unterscheidet sich die Entwicklung der KJ-Zeitschriften aufgrund der unterschiedlichen politischen Bedingungen grundlegend
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_32
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von jener der Schweiz und Österreich. Die Aufteilung des Landes in verschiedene Besatzungszonen machte die deutschlandweite Gründung neuer Zeitschriften unmöglich; bestehenden Zeitschriften kam dadurch zumindest anfänglich eher regionale Bedeutung zu. BRD Nach 1945 kam es rasch zu zahlreichen und meist kurzlebigen Neugründungen. So startete beispielsweise am 1. Januar 1946 die anspruchsvolle, zeitweise von Erich Kästner mitherausgegebene Jugendzeitschrift Pinguin, die allerdings 1951 eingestellt wurde. Hier wurde erstmals versucht, die nationalsozialistische Vergangenheit aufzuarbeiten, etwa mit der Rubrik »Verlorene Kinder suchen ihre Eltern«, die dazu beitragen sollte, in den Kriegswirren auseinandergerissene Familien wieder zu vereinen. Schon bald eroberten Comics den Markt, die zunächst großen Widerstand hervorriefen, man fürchtete die Verrohung der Kinder und Jugendlichen. Diese vergleichsweise neue Form der Bilderzählung setzte sich jedoch rasch durch und war bald in fast jeder Zeitschrift zu finden. So erschien zwischen 1947 und 1955 im französischen Sektor die Kinderpost, die als erste Zeitschrift ab 1950 Werke von Walt Disney abdruckte. Bereits ein Jahr später erhielt Micky Maus ein eigenes Comicheft, das auch in Österreich ein großer Erfolg wurde. 1952 startete als Gegenspieler das wöchentliche Comicmagazin Fix und Foxi (bis 2010; Zielgruppe ab 8 Jahren). Den Trend zum Comicheft verstärkten Publikationen wie Der heitere Fridolin. Zeitschrift der Jugend (1958–1961) oder Bessy (1965–1985; ab 8). Ab 1974 erschien Donald Duck (8–12) in deutscher Sprache; das monatlich erscheinende Comic-Heft Yps (7–13) integrierte ab 1975 (1975–2000; 2005–2006) Geschichten, Bastelanleitungen und -material. Auch traditionelle Zeitschriften waren weiterhin erfolgreich, etwa die Rasselbande, die von 1953 bis 1966 mit Berichten über Länder, Sport, Technik, Bastelanleitungen, Rätsel, Fortsetzungsromanen und Vorabdrucke von Kinderbüchern, Werbung für Schallplatten und Fernsehprogrammhinweisen erschien. Ab 1965 hieß die Zeitschrift Wir Rasselbande, ab 1966 nur noch Wir. Schließlich ging sie in Wir Ok, ein Konkurrenzprodukt zu Bravo auf und wurde 1967 von Bravo übernommen. Die Bravo (12–18) erschien erstmals 1956 als Reaktion auf eine sich neu entwickelnde Jugendkultur und ist noch heute die beliebteste, mittlerweile auch als e-Paper erhältliche deutschsprachige Jugendzeit-
schrift mit Berichten über Musik, Filme, Mode und Kosmetik. Der Erfolg der Bravo löste eine Welle weiterer Jugendtitel Twen (1959–1971) und Musik Express (seit 1969; ab 14) aus. Eine weitere Ausdifferenzierung erfuhr der Kinderund Jugendzeitschriftenmarkt in den 1960er und 1970er Jahren mit genderorientierten Zeitschriften. So erscheint die bis heute verlegte Mädchen bereits seit 1976; auf dem heutigen Markt ist die Auswahl an Mädchenzeitschriften recht groß: Für Jüngere sind Barbie (seit 1995), Bibi Blocksberg (seit 1997), Disneys Prinzessin (seit 1998) oder Wendy (seit 1986) zu nennen, für Teenager Bravo Girl (seit 1988), Girlfriends (2005– 2014), Brigitte Young Miss (1990–2006) usw. Für Jungen erschienen beispielsweise Western-Comics bzw. -zeitschriften wie Lasso (1965–1985), Buffalo Bill (1975–1984; ab 8) und Silberpfeil – Der junge Häuptling (1970–1988; 8–12) sowie Superheldencomics wie diejenigen um Superman (seit 1966; ab 12). Das Angebot an Zeitschriften für unterschiedliche Lesealter hat sich vor allem seit den 1970er Jahren stark erweitert. Zum Vorlesen und für Erstleser gibt es eine große Produktpalette wie Bussi Bär (seit 1966; bis 6), die Biene Maja (mit Unterbrechungen und Verlagswechseln seit 1981; ab 4) und Heidi (seit 2015); ab den 1970er Jahren erscheinen Schweinchen Dick (1972–1980), Der rosarote Panther (ab 1977) und viele andere, später ergänzt um Manga-Serien wie Sailor Moon (1998–200). Die Simpsons (seit 1993) wurden von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gelesen. An jugendliche Leser war die satirische Zeitschrift Mad (ab 14) gerichtet, sie erschien von 1967 bis 1995 monatlich mit Parodien und frechen Sprüchen. Eine lange Tradition haben wissenschaftlich orientierte Zeitschriften. Beispielsweise erschien von 1946 bis 1954 die Wissenschaftszeitschrift Lux-JugendLesebogen (ab Heft 45 Lux Lesebogen), die in Themenheften natur- und geisteswissenschaftliche Themen für Jugendliche aufbereitete, dabei aber auch erwachsene Leser ansprach. Auf dieses Vorbild greifen aktuelle Zeitschriften zurück, etwa Benni. Das Mitmach-Magazin für junge Entdecker (ab 7), das seit 1984 erscheint. National Geographic Kids (bis Mitte 2012 National Geographic World), das deutsch-englische Kinder- und Jugendmagazin von National Geographic (bis 14) existiert seit 2003. 1996 startete Geolino (8–14) mit mittlerweile Editionen in 17 Ländern. Ergänzt wird die Zeitschrift mit der Website https://www.geo.de/geolino. 2007 wurde die Zeitschrift Gecko ins Leben gerufen, um die Lesekompetenz von Kindern zu fördern, während Hefte wie I love English junior (seit 2006; 8–11) die
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kindliche Sprachkompetenz verbessern sollen. Für das Grundschulalter ist O!KAY! (seit 1977) auf dem Markt. Auch Kundenzeitschriften prägen und prägten die Zeitschriftenlandschaft. Für verschiedene Branchen erscheint junior (bis 16) seit 1951 monatlich dreisprachig in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden und zählt mit rund 1,1 Millionen Exemplaren monatlich zu den auflagenstärksten Publikationen für Kinder in Europa. Heute ist der Junior-Club ein Netzwerk für Kinder unter 16 Jahren, das u. a. Chats bietet. Der westdeutsche Zeitschriftenmarkt für Kinder und Jugendliche war stets in Bewegung. Viele Zeitschriften erlebten mehrere Verlags-, Namenswechsel oder wurden zusammengeführt, wie das Beispiel Liliput (ab 10) veranschaulicht: Diese monatlich erscheinende Zeitschrift wurde erstmals 1946 veröffentlicht; später kam die Stafette (seit 1967) dazu. Erschienen beide zunächst noch parallel, wurden sie ab 1967 als Liliput/Neue Stafette (8–13) gemeinsam herausgegeben. 2011 erschien das letzte eigenständige Heft der Zeitschrift Treff (seit 1974). Bis Ende 2013 wurde sie unter dem Titel Treff Stafette herausgegeben, danach erschien nur noch die Stafette. 1994 wurde erstmals das Schülermagazin SPIESSER (14–24) herausgegeben. Die Zeitschrift, die sich inhaltlich mit Themen von jungen Leuten, wie erste Wohnung, Führerschein usw. beschäftigt, finanziert sich ausschließlich durch Anzeigen und wird kostenlos in Schulen, Universitäten und Bibliotheken ausgelegt. Seit 2009 gibt es auch eine Onlineausgabe unter https://www.spiesser.de/. DDR Kinder- und Jugendzeitschriften in der DDR dienten vor allem der politisch-ideologischen Erziehung. Die ABC-Zeitung, die älteste Kinderzeitschrift der DDR, bekannt durch die zwei Kugelmännchen namens Rolli und Flitzi, erschien von 1946 bis 1996. Sie war das Pendant zur ab Juli 1946 unter Lizenz der Sowjetischen Militärverwaltung erscheinenden Schulpost, die für Schüler der 5. bis 8. Klasse konzipiert war, viel Literatur und Berichte und weniger Bildgeschichten (wie die Comics in der DDR genannt wurden) enthielt. Mit dem Erscheinen der FRÖSI (Fröhlich sein und singen, 6–14) 1953 übernahm diese den Unterhaltungspart, die Schulpost wurde ab 1958 in Rakete umgewandelt, bevor aus dieser 1963 der technikus wurde, der das Ende der DDR nicht überlebte. Die Monatsschrift FRÖSI richtete sich an Angehörige der Pionierorganisation Ernst Thälmann. 1990
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wurde sie in tandem umbenannt und bis 1991 herausgegeben. Mosaik, die älteste und auflagenstärkste Comiczeitschrift deutscher Produktion, 1955 erstmals vom Zentralrat der FDJ herausgegeben, enthielt bekannte Comics wie die Abrafaxe (Abrax, Brabax und Califax), wobei Letztere später auch in eigenen Comicbänden und Hörspielkassetten im Medienverbund ausgewertet wurden. Fanclubs geben auch heute noch eigene Fanzines heraus, über die Hälfte der Leser ist älter als 30 Jahre. Erstmals 1955 erschien die Monatszeitschrift Atze (bis 1991), die die Oktoberrevolution, den kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und Partisanengeschichten in Bildgeschichten verpackte. Beliebt war aber auch der seit 1958 und bis 1991 erscheinende unpolitische Mäusecomic Fix und Fax. Bummi (3–6) mit dem titelgebenden Teddybären und seinem sowjetischen Freund Mischka erschien erstmals 1957. Nach dem Ende der DDR wurde die Zeitschrift bei der Pabel-Moewig Verlag KG herausgegeben, seit 2017 bei Blue Ocean Entertainment AG. In Kooperation mit dem Kinderkanal von ARD/ZDF wurde eine kurze Zeichentrickserie produziert, welche seit 2011 innerhalb der Sendung KiKANiNCHEN zu sehen ist. neues leben bzw. nl, erschien erstmals 1954 mit Berichten aus Politik, Freizeit, Musik, Literatur und Film sowie einer Aufklärungsseite – kurz nach der Wende wurde allerdings auch diese Zeitschrift 1992 eingestellt. Österreich Die österreichischen Kinderzeitungen nach 1945 griffen zwar auf Vorbilder der Zwischenkriegszeit zurück, übernahmen in der Nachkriegszeit aber vor allem eine Unterhaltungsfunktion, denn das zerstörte Verlagswesen konnte nicht genügend Bücher liefern. Durchsetzen konnten sich nur Kinderpost, Unsere Zeitung und Die Wunderwelt, die miteinander konkurrierten und sich durch eine österreichisch-patriotische Haltung auszeichneten. Die erste Kinderpost erschien im Dezember 1945, enthielt Informatives, Bild- und Fortsetzungsgeschichten und Bastelbögen. Sie erreichte zunächst hohe Auflagenzahlen, die erst mit der Gründung von Unsere Zeitung und Wunderwelt sanken. Micky Maus, die eigentlich in der Kinderpost abgedruckt hätte werden sollen, erschien mit großem Erfolg ab 1951 als eigenständige Publikation. Ab 1950 gab es auch in der Kinderpost Bildgeschichten. Gegen die zunehmende Konkurrenz konnte die Zeitschrift sich aber nicht mehr
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durchsetzen, sodass sie 1959 eingestellt wurde. Ein Neustart 1984 scheiterte. Unsere Zeitung (UZ) war eine 1946 bis 1960 im kommunistischen Wiener Globus-Verlag erscheinende KJ-Zeitschrift, an der profilierte Autoren und Illustratoren, wie Friedl Hofbauer, Mira Lobe und Susi Weigel mitwirkten. Sie war günstig, unterhaltsam und innovativ und dadurch auch über politische Grenzen beliebt, vor allem wegen der österreichspezifischen Themen. In den 1950er Jahren reduzierte sich der Marktanteil, da die Wunderwelt populärer wurde und sich gleichzeitig die politische Stimmung änderte. 1960 wurde die UZ als selbstständige Kinderzeitschrift eingestellt, aber bis 1964 als Beilage der KPÖZeitschrift Stimme der Frau weitergeführt. 1948 wurde erstmals Die Wunderwelt. Die Zeitung für unsere Kinder herausgegeben, sie erschien bis 1986. Danach wurde sie mit der deutschen Zeitschrift Treff vereinigt und erschien noch bis 1994 unter dem Titel treff Wunderwelt. Neben Märchen, Sagen, Bastelanleitungen Bild- und Fortsetzungsgeschichten war die Figur des Zwerg Bumsti, der bis 1976 in 465 Folgen dargestellt wurde, für den Erfolg ausschlaggebend. An parteipolitischen Zeitschriften ist unter anderem die Monatszeitschrift Freundschaft zu nennen, 1947 bis 1955 von den Kinderfreunden der Sozialistischen Partei Österreichs herausgegeben. Daneben gab es zahlreiche kostenlose Werbezeitschriften, wie etwa die Kleine Sparerzeitung (1938–1966), die Goldi Zeitung, Das fröhliche Heft der CA (1974–1997) und Sumsi (seit 1978), die mittlerweile auch online verfügbar ist. Die Zeitschriften des Roten Kreuzes hatten von Beginn an die Intention, pädagogisch und weltanschaulich wertvolles Unterrichtsmaterial für Schulen bereitzustellen. So erschien ab 1946 Kleines Volk, 1948 kam Junges Volk als Nachfolger der 1938 erschienenen Schülerzeitschrift Ich diene auf den Markt. Für die erste Schulstufe ist die Mini Spatzenpost (1998–2002) gedacht, für die zweite die Spatzenpost (1973–2002, seit 2009 mit dem Untertitel »mit Spaß zu mehr Wissen«), für die dritte und vierte Schulstufe erscheint seit 2014 Lux. JÖ (Jung Österreich) (seit 1934) ist für Kinder ab der fünften Schulstufe gedacht, die Topic (1989–2014) adressierte Schüler ab der siebten Schulstufe. Unter http://www.mytopic.at werden mittlerweile auch online Informationen über Stars, Events, Bücher, Games, Schule, Job usw. angeboten. Über einen langen Zeitraum hinweg konnte so ein didaktisch fein abgestufter Zeitschriftenverbund geschaffen werden, der das Zeitschriftenpublikum seit den 1940er Jahren begleitet.
1977 bis 1982 erschien die Fernsehzeitschrift am dam des, deren Name sich von einer beliebten Kindersendung ableitet, die von 1975 bis 1992 in ORF 1 lief und sich an Vorschulkinder richtete. All diese Zeitschriften für Schüler ergänzen sich und werden zum Teil auch gemeinsam beworben. Durch die Etablierung der deutschen Verlage, das breite Angebot an Zeitschriften und die Neuproduktion von Kinderbüchern war in den Nachkriegsjahren kaum eine österreichische Zeitschriftenproduktion möglich. Eine Ausnahme war der 1968 in Salzburg als Schülermagazin gegründete Rennbahnex press, der inhaltlich stark an Bravo angelehnt war, bis 2013 unter dem Titel Xpress herausgegeben wurde, eine Zeit lang noch online erschien und schließlich eingestellt wurde. Schweiz Da Zeitschriften in der Schweiz nicht nur, wie in den Nachbarländern, verschiedene Altersgruppen adressieren, sondern auch die verschiedenen Sprachräume dieses mehrsprachigen Landes berücksichtigen müssen, ist das Schweizer Zeitschriftenwesen sehr vielfältig. Seit 1927 wird die anspruchsvolle Wochenzeitschrift Schweizer Jugend (10–16, ursprünglicher Titel: Schweizer Schüler, seit 2002 4-Teens) herausgegeben, 1944 bis 1982 erschien Jugend Woche, in der Westschweiz unter dem Titel Jeunesse, die dem gegenseitigen Kennenlernen der Leser dient und informative Beiträge enthält. Tut/Weite Welt (10–14), ursprünglich vom Schweizerischen Jungwachtbund herausgegeben, startete 1960. Zwischen 1966 und 1979 veröffentlichte das Züricher Magazin Pop (ab 12) Reportagen über Popstars, auch einige konfessionelle Zeitschriften waren am Markt. Zu den katholischen Zeitschriften zählt u. a. die seit 1967 erscheinende Jugend-Missionszeitschrift Jumi (Jugend und Mission). Bei der zwischen 1968 und 1977 erscheinenden Monatszeitschrift Team (ab 16) standen gesellschaftliche Probleme, Außenseiter und Menschen mit Behinderungen im Fokus. Zwischen 1973 und 1994 gaben der Schweizerische Zwinglibund und die Junge Kirche Schweiz in Bern die protestantische Jugendzeitschrift Spot (15–25) heraus. Die wichtigsten französischsprachigen Zeitschriften der Schweiz sind, bzw. waren, um nur exemplarisch einige zu nennen, ab 1981 bis 1985 das Monatsmagazin Chabottin (4–6), herausgegeben von Pro Juventute. Fripounet (8–12), zwischen 1945 und 1993 von der Fleurus Presse Paris herausgegeben, wollte un-
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terhalten, aber auch zum kritischen Denken anregen. Die Féderation Nationale des Francs et Franches Camerades in Paris gab ab 1953 das Jeunes Années Magazine (9–14) heraus, das vorrangig bilden wollte. Vor allem an Mädchen richtet sich die seit 1976 erscheinende Zeitschrift OK! (14–20) mit Themen wie Feminismus und Politik. Seit 1973 erscheint die Comiczeitschrift Yakari (6–9), ein monatliches auch auf Französisch herausgegebenes Spiel- und Unterhaltungsheft. 1976 startete die in Genf herausgegebene Monatszeitschrift Maky (5–7) für die französischsprachige Schweiz unter dem Titel Rataplan, 1977 Salut! Quinze ans (12–18), mit Themen wie Musik und Filme. Ebenso werden zahlreiche Comics herausgegeben, z. B. seit 1938 die Wochenzeitschrift Spirou (10–15) oder Pif Gadget (seit 1945; 8–14), aber auch französischsprachige Versionen von Disney-Magazinen wie Picsou Magazine (seit 1972; 7–14) oder Mickey Poche (seit 1974; 8–14). Auch die italienischsprachige Schweiz kann mit einer Fülle an Zeitschriften aufwarten. 1921 startete die Fondazione Opera Ticinese di Assistenza per la Fanciullezza mit Semi di Bene eine Zeitschrift, die heute noch existiert und sich unter anderem für die Integration von behinderten Kindern einsetzt. Zwischen 1933 und 1990 ist Il Monello (10–30) – eine Zeitschrift über Kino – am Markt, seit 1972 Boy Music (12–25). Dolly (15–20) richtete sich ab 1978 an Mädchen. Seit 1978 wird Ragazza In (7–16) mit Fokus auf Film und Musik angeboten. An Comiczeitschriften sind unter anderem Topolino (seit 1932; 7–16) mit Figuren von Walt Disney, Intrepido (1935–1998; 15–30), die Westernzeitschrift Tex (seit 1945; 10–25), Diabolik (seit 1962; 12–20) und Zagor (seit 1961; 8–16) zu nennen. Bei den Schweizer Zeitschriften fällt nicht nur die Langlebigkeit und Sprachenvielfalt, sondern vor allem auch die Adressierung bis ins Erwachsenenalter auf. Außerdem gibt es thematisch zahlreiche Unterschiede, einige Zeitschriften dienen ausschließlich der Unterhaltung, während andere sich kritisch mit aktuellen Themen befassen. Beim Ländervergleich werden Unterschiede deutlich, beispielsweise, dass sich in Deutschland die Trennung zwischen Ost und West auch in unterschiedlich konzipierten Zeitschriften niederschlug, die Zeitschriften in Österreich zunächst politisch geprägt waren und später durch den Einfluss aus Deutschland an Bedeutung verloren. Es sind aber auch Gemeinsamkeiten erkennbar. In allen drei Ländern konnten sich nur wenige Produkte am Markt behaupten, es lassen sich in etwa die gleichen Entwicklungen nachweisen, wie das
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Streben nach Kindheitsautonomie in den 1950er und 1960er Jahren, beispielsweise im Pinguin oder Unsere Zeitung in Österreich. In den 1970er und 1980er Jahren entstanden in der BRD, in der Schweiz und in Österreich sehr viele Jugendzeitschriften. Seit einiger Zeit offerieren etablierte Zeitschriften oder Magazine, die eigentlich ein eher erwachsenes Publikum adressieren, jungen Lesern eigene Angebote, wie beispielsweise Yuno, der Ableger der Illustrierten Stern, die Kinderzeitschrift Leo der Wochenzeitung Die Zeit oder Dein Spiegel als Ableger von Der Spiegel mit einer monatlichen Auflage von ca. 60.000 Exemplaren.
32.4 Typologien und Narratoästhetik Zeitschriften sind das Resultat kollaborativer Anstrengungen. Ihre Inhalte werden von Redaktionsbzw. Herausgeberteams zusammengestellt, die zu diesem Zweck auch verschiedene Autoren und Illustratoren mit der Erstellung beauftragen. Das hat zur Folge, dass die Textgestaltung in Zeitschriften grundsätzlich recht unterschiedlich ist, leben diese doch von der Vielfältigkeit der in ihnen versammelten Textsorten: Kurzgeschichten, Fortsetzungsromane, Leserbriefe, Rätsel, Bastelanleitungen, Bildgeschichten und Illustrationen. Die meisten der hier beschriebenen Zeitschriften vereinen mehrere Textsorten, sie sind von fiktionalen und faktualen Elementen geprägt. Je jünger die adressierten Kinder sind, desto mehr Erzählgattungen treten meist in den Zeitschriften auf. Jede Zeitschrift folgt in der Regel einer über mehrere Ausgaben hinweg festgelegten Struktur: Zu Beginn sprechen (oft fingierte) Herausgeber oder aber die Figur, die die jeweilige Zeitschrift prägt, die Leser direkt an, in der Mitte des Heftes werden oft Bastelanleitungen abgedruckt, am Ende findet man Leserbriefe, Preisausschreiben und Rätsel sowie einen Ausblick auf das nächste Heft. In der Leserbriefsektion kommen in der Regel die kindlichen Leser selbst zu Wort und berichten über eigene Erlebnisse. Damit erfüllen Kinder- und Jugendzeitschriften auch weiterhin eine ihrer ursprünglichen Aufgaben, nämlich es Kindern zu ermöglichen, Kontakte zu anderen Kindern herzustellen, Spielzeug, Bücher und Briefmarken zum Tausch anzubieten, Brieffreundschaften zu suchen. Der Kontakt zu Kindern wird auch über Preisausschreiben hergestellt, Gedichte, kurze Geschichten und Fotos von Kindern werden abgebildet. Während viele Kinderzeitschriften auf eine vergleichsweise hohe Textsortenvielfalt zurückgreifen,
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sind zumindest Comiczeitschriften gattungsmäßig einheitlicher konzipiert, da sie von den in ihnen versammelten graphischen Erzählungen dominiert werden, die zudem auf ein festes Figurenarsenal zurückgreifen. Da Zeitschriften periodisch publiziert werden, nutzen sie auch das Prinzip des seriellen Erzählens, um ihr Lesepublikum an sich zu binden. Zugleich können sie aufgrund ihrer relativen Aktualität recht schnell auf mediale Veränderungen reagieren. Beispielsweise erschien die Micky Maus in den 1980er Jahren regelmäßig mit Schallplattenfolien, während National Geographic Kids zeitweise mit CD-Beilage veröffentlicht wurde. Damit sprechen Zeitschriften auch den Sammeltrieb der Kinder an, der durch weitere Gestaltungsmerkmale gefördert wird. So werden Rätsel in Folgeausgaben aufgelöst oder Fortsetzungsgeschichten so angelegt, dass sie nach dem Lesen nicht weggeworfen werden sollen, sondern durch ergänzend angebotene Schuber angeregt wird, die Ausgaben jahrgangsweise zu sammeln und zu archivieren. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich auch Bastelanleitungen, die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg dem Mangel an Geld und Rohstoffen angepasst waren. Für Mädchen wurden beispielsweise Papierpuppen zum Ausschneiden angeboten, deren Accessoires und Garderobe in Folgeausgaben enthalten waren. Kennzeichnend insbesondere für über einen längeren Zeitraum publizierte Zeitschriften ist zudem, dass sie auf Figuren wie Micky Maus oder Bumsti in der Wunderwelt zurückgreifen, die den Wiedererkennungswert der Zeitschrift erhöhen. Relevant in diesem Kontext ist auch, dass derlei Zeitschriften gerne auf einen festen Stamm an Autoren und Illustratoren zurückgreifen, die ihnen einen unverwechselbaren Stil verschaffen. Eine eminent wichtige Rolle spielen in Zeitschriften für Kinder und Jugendliche die Illustrationen, die im Laufe der Zeit immer häufiger und farbenfroher eingesetzt werden und deren Gestaltung auf den ersten Blick auf eine Kinder- bzw. Jugendzeitung verweist. Illustriert werden nicht nur die Figuren, die in der Regel das Erkennungsmerkmal einer Kinderzeitschrift sind, sondern auch die Geschichten, die erzählt werden. Einige Zeitschriften wie Unsere Zeitung oder die Fotoromane von Jugendzeitschriften setzten auch Fotografien ein. Grundsätzlich relevant ist auch die Farbgestaltung, die auch zwecks Zielgruppenabgrenzung genutzt wird. So sind Mädchenzeitschriften tendenziell eher von der Farbe Pink dominiert, während Zeitschriften
für eher technisch interessierte Leser in dunklen Farben gestaltet werden. Auch Internetzeitschriften nutzen unterschiedliche Gestaltungsformate. So präsentieren sich manche nicht mehr als klassische Zeitschrift, sondern eher als Webseiten, andere wiederum, wie beispielsweise Floh, präsentieren sich wie eine gedruckte Zeitschrift, die im Netz zu lesen ist. Letztlich entziehen sich Zeitschriften für Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer Formvielfalt einer eindeutigen Kategorisierung: So gibt es neben altersgruppenspezifischen Produkten auch geschlechterspezifische Zeitschriften; Comiczeitschriften existieren neben themenspezifischen Heften und solchen mit didaktischer Komponente, die vorwiegend im Unterricht eingesetzt werden. Im 21. Jahrhundert kommen Zeitschriften hinzu, die auch oder ausschließlich im Internet angeboten werden und mit den sich daraus ergebenden Ausdrucksmöglichkeiten experimentieren. Als »Alltagsmedien«, »Gebrauchsmedien« oder »literarisches fastfood« (Kaminski 2014, 450) sind Zeitschriften oft eher kurzlebig, spiegeln gerade deshalb aber recht unmittelbar den jeweiligen Zeitgeist.
32.5 Inter- und transmediale Aspekte Die jeweils neuen oder dominanten Medienformen beeinflussten den Zeitschriftenmarkt stark. Während beim Aufkommen des Fernsehens noch Zeichentrickserien als Zeitschriften abgedruckt wurden, wie 1994 bis 1996 Die Tiere aus dem Talerwald, die auf der Zeichentrick- und Buchserie Als die Tiere den Wald verließen (Zeichentrickserie: ARD, 1993–1995; Buchreihe: Colin Dann The Animals of Farthing Wood, engl. 1979–1994; dt. 1980–1994) basiert, wirkte sich das Internet besonders stark auf die Printzeitschriften aus, viele mussten in der Printform eingestellt werden. Einige bislang gedruckte Zeitschriften erscheinen nur noch im Internet, von anderen, beispielsweise seit 2008 von der anspruchsvollen Literaturzeitschrift für Kinder Der Bunte Hund: das Geschichten- und Bildermagazin existiert nur noch eine Internetseite, auf der die Einstellung der Zeitschrift verkündet wird. Allerdings werden nicht nur Zeitschriften von anderen Medien beeinflusst – sie wirken umgekehrt auch auf diese, sind Zeitschriften doch per se intermedial, da sie verschiedene Gattungen, Ausdrucksformen und Erzählformen integrieren. Dementsprechend greifen Hörfunk, Fernsehen, Schallplatten, Musikkassetten, CDs und später auch das Internet Inhalte
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aus Zeitschriften auf, bzw. bildeten sich Sendungen in Zeitschriften ab. Literatur
Blumesberger, Susanne: Ihr aber müsst, wenn’s gilt, auch streiten... Unsere Zeitung – eine bunte Welt mit Tiefgang. Ein Plädoyer für die Erforschung von Kinder- und Jugendzeitschriften. In: Gunda Mairbäurl/Dies./HansHeino Ewers/Michael Rohrwasser (Hg.): Kindheit. Kindheitsliteratur. Kinderliteratur. Studien zur Geschichte der österreichischen Literatur. Festschrift für Ernst Seibert. Wien 2010, 146–154. Chowanetz, Rudolf: Die Kinderzeitschriften in der DDR von 1946 bis 1960 (Studien zur Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur; 13). Berlin 1983. Gärtner, Hans/Kleedorfer, Jutta: Kinderzeitschriften. In: Lucia Binder/Internationales Institut für Jugendliteratur und Leseforschung (Hg.): Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Wien 1992, 153–157. Haller, Karin: Geschlechterbilder in Kinderzeitschriften. Dargestellt anhand einer Stichprobe von 25 Zeitschriften aus der Herbstproduktion 2014. Institut für Jugendlitera-
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tur (2015). In: http://traex.fhstp.ac.at/wp-content/ uploads/2017/01/Geschlechterbilder-inKinderzeitschriften.pdf (1.7.2020). Kaminski, Winfred: Zeitschriften für Kinder. In: Angela Tillmann/Sandra Fleischer/Kai-Uwe Hugger (Hg.): Handbuch Kinder und Medien. Wiesbaden 2014, 441–456 Lüth, Christoph (Hg.): Kinderzeitschriften in der DDR. Bad Heilbrunn 2007. Lukasch, Peter: Unsere Zeitung – Eine kommunistische Kinderzeitung. In: Eckart Sackmann (Hg.): Deutsche Comicforschung 2007. Hildesheim 2006, 64–74. Meier, Bernhard: Zeitschriften für Kinder- und Jugendliche. In: Günther Lange (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler 32016, 465– 481. Sjurts, Insa: Zeitschrift (2018). In: https://wirtschaftslexikon. gabler.de/definition/zeitschrift-52657/version-275775 (1.7.2020). Strauch, Dietmar/Rehm, Margarete: Lexikon Buch – Bibliothek – Neue Medien. Berlin/Boston 2007.
Susanne Blumesberger
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33 Digitales Erzählen 33.1 Einleitung In der folgenden Darstellung wird zunächst eine Lesart des Begriffs »digitale Erzählung« vorgeschlagen, die den Vorteil hat, nicht nur im literaturwissenschaftlichen Diskurs anschlussfähig zu sein. Sie weist allerdings den Nachteil auf, dass der Gegenstandsbereich des digitalen Erzählens sehr weit gefasst wird, was eine thematische Fokussierung notwendig macht: Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen daher eBooks, Apps, Netzliteratur und Social Media. Andere Ausprägungen des digitalen Erzählens im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur (wie z. B. Webserien) bleiben unberücksichtigt.
33.2 Begriffsdefinitionen Um aktuelle Phänomene angemessen zu beschreiben, ist es nicht sinnvoll, das Erzählen als digital zu bezeichnen. Der Ausdruck »digitales Erzählen« muss vielmehr – ähnlich wie »digitale Literatur« oder »digitale Bildung« – als Abkürzung verstanden werden. Gemeint ist: Erzählen unter den Bedingungen der Digitalität. Diese Bedingungen der Digitalität, die prägend sind für die aktuelle Phase der Leitmedientransformation, haben u. a. Luciano Floridi (2014) und Felix Stalder (2016) aus sozio-kultureller bzw. philosophischer Sicht analysiert. Sie stellen differenziert dar, wie durch die Erweiterung der sozialen Basis der Kultur, die Kulturalisierung der Welt und die Technologisierung der Kultur grundlegende Konzepte wie Zeit, Raum, Identität, Privatheit, Umwelt etc. neu definiert werden. Speziell aus literaturwissenschaftlicher Sicht hat Simone Winko darauf hingewiesen, dass Literatur nicht länger »eine in Bücher gegossene kulturelle Praktik, [sondern] [...] ein extrem vielfältiges, dynamisches Ensemble unterschiedlicher medialer Formate und Kommunikationsformen, eine lebendige Praktik [...] und Teil der aktuellen Partizipationskultur ist« (Winko 2016, 2). Aus der hier vorgeschlagenen Begriffsbestimmung folgt, dass der Gegenstandsbereich des digitalen Erzählens sehr weit ist und dass nicht nur Formen des Erzählens darunter fallen, die durch eine spezifisch digitale Ästhetik geprägt sind (z. B. Netzliteratur), sondern auch solche, für die Digitalisierung lediglich eine notwendige Voraussetzung etwa zur Produktion oder Distribution darstellt (z. B. eBooks im Selbstverlag).
Da gleichzeitig die Geschichte des digitalen Erzählens noch recht kurz ist, gerät der folgende Abschnitt fast zwangsläufig zu einer Mischung aus mediengeschichtlicher Retrospektive und (unvollständiger) Typologie.
33.3 Historische Entwicklungen Zu den wesentlichen Merkmalen der Kultur der Digitalität zählt die Vernetzung digital repräsentierter Daten durch Hyperlinks. Die Idee einer Maschine, die als Erweiterung unseres Gehirns Informationen speichert, verknüpft und rasch wieder auffindbar macht, hat Vannevar Bush bereits 1945 in seinem berühmten Aufsatz As we may think mit visionärer Klarheit formuliert. Die technischen Begriffe Link und Hypertext gehen auf Ted Nelson (1965) zurück, Tim Berners-Lee schuf mit dem World Wide Web Anfang der 1990er Jahre schließlich die hypertextuellen Strukturen, die für uns heute selbstverständlich geworden sind, wenn wir online bzw. ›im Netz‹ sind (vgl. Frederking/Krommer/Maiwald 2018, 243–244). Zum Gegenstand narrativer Experimente wurde der Hypertext vor allem wegen zweier charakteristischer Eigenschaften: der Nichtlinearität als Strukturmerkmal und der Interaktivität als Rezeptionsmerkmal. Eine hypertextuelle Erzählung (hyperfiction) schien den passiven Leser, der einem linearen Erzählfaden folgt, in den aktiven Wreader (writer und reader) zu verwandeln, der sich selbst narrative Schneisen in das Hypertext-Geflecht schlägt, indem er aus einem hinreichend redundanten Angebot individuell Links auswählt (vgl. hierzu Winko 2016, 4). Eine der ersten fiktionalen Erzählungen, die für hypertextuelle Rezeptionsbedingungen konzipiert wurde, war afternoon, a story von Michael Joyce (1990). Das Werk wurde auf Diskette ausgeliefert und ist bis heute verfügbar. Im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur kann Das Buch von Lulu (Victor-Pujebet 1996) als Klassiker der interaktiv-hypertextuellen Spielgeschichte gelten (vgl. Kepser 1999, 284), einer Form der digitalen Erzählung, die »zwischen elektronischem Bilderbuch und genuinem Computerspiel steht« (Kepser 2013, 574), vor allem auf CD-ROM verbreitet wurde und in der Regel auch offline funktionierte. Als CD-ROM ist die interaktive Spielgeschichte allerdings nur noch von medienhistorischem Interesse, da es seit 2006 keine neuen Angebote dieses Typs gibt (vgl. ebd., 575). Als konzeptionelle Nachfolger der interaktiven Spielgeschichte auf CD-ROM (und natürlich der gedruckten Spielund Mitmachbücher) können inzwischen aus tech-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_33
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nischer Sicht die (enhanced) eBooks und Apps gelten. Insbesondere im Bereich der Kinderbuch-Apps wird häufig zwischen Spielgeschichten und interaktiven Bilderbüchern (living books) unterschieden, je nachdem, ob die ludischen oder narrativen Aspekte im Vordergrund stehen (vgl. hierzu Ritter 2013, 10–12; Wanzek 2017, 22). Das Enhancement von eBooks besteht darin, dass auf zwei Ebenen über die schiere Digitalisierung eines gedruckten Textes hinausgegangen wird. Zum einen erlaubt das User-Interface eines eBooks z. B. die Suche nach Begriffen im Volltext, bietet eine Anbindung an Online-Lexika oder visualisiert Passagen, die von anderen Lesern häufig markiert wurden (popular highlights). Zum anderen können prinzipiell alle digitalisierten medialen Formen (Text, Ton, Bild, Video) und über Mikrofon, Kamera, diverse Bewegungssensoren oder die GPS-Ortung zahlreiche weitere Daten integriert bzw. verarbeitet werden. Je komplexer das mediale Enhancement wird, desto eher geraten StandardeBook-Reader (z. B. Kindle oder iBooks) an ihre Grenzen. Spätestens dann greifen die Anbieter auf spezielle Apps zurück, die eine optimale Präsentationsform garantieren (vgl. Krommer 2016, 62). Da auch eBook-Reader technisch gesehen nur spezielle Apps sind, die z. B. auf einem mobilen Endgerät installiert werden, ist die Grenze zwischen enhanced eBooks und Apps fließend. Ein Jahr nach der Einführung des ersten iPads (2010) wurde die eBook-Version von Al Gores Our Choice, die viele innovative Interaktionsformen erstmals implementierte, durch einen TED-Talk von Mike Matas (2011) einem Millionenpublikum bekannt. Zu den populären Angeboten für Kinder- und Jugendliche zählt die eBook-Adaption des Kurzfilms The Fantastic Flying Books of Mr. Morris Lessmore (Joyce 2011), die es dem Nutzer erlaubt, durch das Neigen des Bildschirms oder lautes Pusten in das Mikrofon Handlungen innerhalb der Geschichte zu initiieren. Die erste BilderbuchApp, die in Deutschland 2010 von der Verlagsgruppe Oetinger veröffentlicht wurde, war eine iPad-Adaption der Olchis aus Schmuddelfing (Dietl 2004).
33.4 Typologien Aktuell ist das Angebot im Bereich der Kinderliteratur breit gefächert: Von Bilderbüchern, die über QRCodes Verlinkungen zu Videosequenzen herstellen über Kinderbuch-Adaptionen für interaktive Whiteboards bis zu Augmented Reality-Angeboten, bei de-
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nen Buchseiten, die man mit der Smartphone-Kamera betrachtet, dreidimensional animiert werden (vgl. Krommer 2016, 62–63). Ganz anders sieht es auf dem Markt für digitale Jugendliteratur aus. Denn auf manchen Verlagsseiten fehlen (enhanced) eBooks in der Kategorie Jugendbuch völlig. Die Interaktivität des digitalen Erzählens muss sich nicht auf die Auswahl narrativer Optionen durch Hyperlinks beschränken, sondern kann vielfältige Formen aktiver Teilhabe einschließen. Claudia Klingers literarisches Experiment Beim Bäcker (1996–2000) zählt zu den ersten Versuchen des partizipativen Schreibens im Netz, in dessen Rahmen eine Geschichte online von mehreren Autoren fortgesetzt wird. Der Ausgang dieser narrativen Versuchsanordnung ist typisch für viele solcher hypertextuellen Erzählungen: Mit zunehmender Entfernung vom Ursprungstext und mit steigender Autorenzahl verliert die Geschichte an Kohärenz, Widersprüche tauchen auf, Erzählfäden werden nicht mehr verknüpft etc. Kurz: Aus dem Versuch einer Erzählung wird ein unstrukturiertes Text-Konglomerat (vgl. Frederking/Krommer/Maiwald 2018, 258). Es ist daher wenig verwunderlich, dass sich in den knapp drei Jahrzehnten des Bestehens hypertextueller Erzählungen »kaum Leser, dafür aber umso mehr Wissenschaftler gefunden haben, die sich mit dem Phänomen beschäftigen« (Heibach 2002, 186). Dass Kinder und Jugendliche in der Regel weder zum intendierten noch zum tatsächlichen Adressatenkreis dieser avantgardistischen Projekte zählen, ist daher ebenfalls nicht überraschend. Dass sich die Partizipations-Optionen des Internets sehr viel pragmatischer nutzen lassen, zeigen Literaturplattformen wie z. B. http://leselupe.de oder http://wattpad.com: Sie bieten »einen Raum für gemeinsames literarisches Handeln« (Boesken 2016, 47), d. h. für die Veröffentlichung und die Diskussion über eigene und fremde literarische Texte, die in der Regel keine netzspezifischen Merkmale aufweisen, d. h. selten auf hypertextuellen Strukturen basieren und/oder kaum multimediale Elemente beinhalten. Wenn sich die Texte, die auf der Plattform veröffentlicht werden, explizit auf bekannte Werke (insbesondere Bücher und Filme) beziehen, die um- bzw. weitergeschrieben werden, spricht man von fan fiction (vgl. Jenkins 1994; Busse 2017; http://www.fanfiktion. de). Erst durch die Einbettung in den kommunikativen Rahmen einer Literaturplattform erhalten die Texte ihre spezifische Netz-Qualität, da sie Autoren und Lesern u. a. in Foren und Chats auf vielfältige Weise Anschlusskommunikationen ermöglichen (vgl.
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Frederking/Krommer/Maiwald 2018, 261). Sorgsam gestaltete Nutzerprofile auf Literaturplattformen lassen auch deutlich werden, welche Bedeutung dem empirischen Autor in diesem Bereich zugesprochen wird, sodass durchaus von einer Rückkehr des Autors gesprochen werden kann, der durch Formen des kollaborativ-vernetzten Schreibens gerade erst in seinem Existenzrecht bedroht schien. Zu nennen sind in diesem Kontext auch literarische Blogs (z. B. http://wrangelstrasse-blog.de), die man mit einigem Recht als Mikro-Literaturplattformen bezeichnen könnte. Sie werden im Netz genutzt, um literarische Texte (zumeist) seriell zu veröffentlichen (vgl. Berghofer 2010). Diese Blogs geben »den Lesern einen mehr oder weniger großen Spielraum der Mitwirkung, der von ›nur lesen‹ über Kommentare bis zu der Möglichkeit reicht, den Fortgang des Textes zu beeinflussen« (Winko 2016, 7). Interessanterweise gibt es mit http://lectory.de inzwischen eine kommerzielle Literaturplattform, die eigens für den Bildungsbereich konzipiert ist und die Formen des Social Reading in einem geschützten Raum anbietet. So können beispielsweise einzelne Klassen auf der Plattform über einen Text diskutieren, der gerade im Unterricht thematisiert wird. Ob diese Angebote die Dynamik ›authentischer‹ Literaturplattformen entwickeln können, bleibt abzuwarten. Sehr erfolgreich sind hingegen Apps wie Hooked oder Tap, die den Community-Gedanken einer Literaturplattform mit Erzählungen im WhatsApp-Stil kombinieren und um interaktive (z. B. die Auswahl zwischen verschiedenen Fortsetzungen eines Plots) sowie multimediale Elemente (z. B. Videos) ergänzen (vgl. Krommer 2016, 64–65). Auch Social Media-Dienste werden genutzt, um unter den Bedingungen der Digitalität verschiedenartig zu erzählen. Es gibt beispielsweise bekannte Werke der Kinder- und Jugendliteratur im TwitterFormat (vgl. Aciman/Rensin 2011, 30), Kürzestgeschichten, die in einen einzigen Tweet (einst 140, aktuell 280 Zeichen) passen (vgl. Meimberg 2011) und Print-Texte, die sukzessive via Twitter verbreitet werden (vgl. Gerold 2010). Mit Zwirbler liegt ein 2010 von Gergely Teglasy initiierter Facebook-Roman vor, der in Form von Statusmeldungen erschien und dessen Handlung die Rezipienten über die Kommentarfunktion mitbestimmen konnten. Jenseits narrativer Experimente und technischer Finessen hat die Kultur der Digitalität auch neue Produktion- und Distributionskanäle (nicht nur) für Kinder- und Jugendliteratur hervorgebracht: Denn durch
die Möglichkeiten, eBooks im Selbstverlag zu veröffentlichen oder Texte über Apps wie Hooked oder Tap (auch kommerziell) zu verbreiten, verlieren die Verlage zunehmend ihre Funktion als Türhüter des literarischen Marktes.
33.5 Narratoästhetik Nicht-lineares Erzählen stellt ein lange bekanntes Phänomen dar: Vom Talmud über Codices des Mittelalters, Samuel Johnsons Tristram Shandy (engl. 1759– 1767, dt. 1769), Max Frischs Mein Name sei Gantenbein (1964) und Arno Schmidts Roman Zettels Traum (1970) gibt es zahlreiche Beispiele aus dem Bereich der Buchkultur, in denen das lineare Erzählen zugunsten netzartiger Strukturen suspendiert wird (vgl. Heibach 2003, 48; Frederking/Krommer/Maiwald 2018, 244–245). Auch die Interaktivität digitaler Erzählungen bedarf einer kritischen Relativierung: Mit Lev Manovich kann man die These vertreten, dass die Behauptung, Hypertexte seien im Vergleich zu klassischen PrintTexten interaktiv, entweder trivial oder falsch ist (vgl. Manovich 2001, 55). Trivial ist sie auf der technischen Ebene, weil Interaktivität zu den definitorischen Merkmalen eines Human-Computer-Interfaces zählt, das man zur Navigation im Hypertext benötigt. Falsch ist sie auf der semantisch-pragmatischen Ebene, weil echte Interaktivität zwischen A und B voraussetzt, dass sich A und B verstehen und z. B. gemeinsam Ziele festlegen können. Dass der Nutzer einer Bilderbuch-App oder eines eBooks in dieser Weise von der Software verstanden wird, sodass echte Interaktion stattfindet, ist jedoch sehr unwahrscheinlich bis unmöglich (vgl. zum letzten Punkt Searle 1980). Aus narratologischer Sicht wird man die Begriffe der Nicht-Linearität und der Interaktivität daher präzisieren müssen. Ein viel beachteter Versuch, verschiedene Arten der Interaktivität digitaler Erzählungen zu kategorisieren, stammt von Marie-Laure Ryan. In Abhängigkeit davon, ob sich Nutzer als Teil der fiktionalen Welt sehen oder vergleichbar mit einem auktorialen Erzähler einen extramundanen Standpunkt einnehmen, unterscheidet sie zunächst zwischen interner und externer Interaktivität. Hinzu kommt die Differenzierung zwischen explorativer und ontologischer Interaktivität, je nachdem, ob die Handlungen des Nutzers innerhalb der fiktionalen Welt den Fortgang der Geschichte verändern (ontologisch) oder narrativ folgenlos bleiben (explorativ). Die Kombination aus diesen Beschrei-
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bungsebenen (z. B. intern-explorativ oder extern-ontologisch) erlaubt dann eine elaborierte Sicht auf die Interaktivität digitaler Erzählungen (vgl. hierzu Ryan 2001). Die Kinderbuch-Reihe Choose your own Adventure (Packard, 1979–1988) kann vor diesem Hintergrund als klassisches Beispiel für extern-ontologische Interaktivität gelten. Diese Beschreibungsebene kann durch Strukturmuster interaktiv-hypertextueller Literatur ergänzt werden (vgl. Leubner/Saupe 2009 263–268), die den Grad der Interaktivität und die Nähe/Ferne zu herkömmlichen literarischen Texten bestimmen: Basiert eine Geschichte beispielsweise auf einer starren Achse als Grundstruktur, von der nur durch vereinzelte Seitenzweige abgewichen werden kann, wird vergleichsweise konventionell erzählt. Ein labyrinthartiges Rhizom, das nur einen festen Startpunkt aufweist, auf obligatorische Pfade jedoch vollkommen verzichtet, bietet zwar »maximale Freiheit auf Produktions- wie Rezeptionsseite« (Leubner 2014, 199), führt jedoch oft zum völligen Verlust narrativer Kohärenz. Ontologische Interaktivität scheint nur auf Kosten echter Nicht-Linearität möglich zu sein; explorative Formen begünstigen zwar Nicht-Linearität, müssen aber Abstriche beim Erzählen machen. Die Unvereinbarkeit zwischen Interaktivität und Partizipation auf der einen und Narration auf der anderen Seite gilt daher seit Jahrzehnten in der Forschung als die große konzeptionelle Schwäche des digitalen Erzählens (vgl. exemplarisch Abraham/Kepser 2000 und Seidler 2016). Dass im Bereich der digitalen Kinder- und Jugendliteratur der Schwerpunkt auf dem Konzept des traditionellen Erzählens liegt, lässt sich daran ablesen, dass digitale Elemente häufig nur als Substitution oder Anreicherung des Print-Textes genutzt werden. Das mag im Bereich der Kinderliteratur noch gerechtfertigt sein, jugendlichen Rezipienten könnte man hingegen anspruchsvollere Konzepte zumuten. In Madlen Ottenschlägers eBook-Reihe So verliebt, so verwirrt, so schön (2012) werden beispielsweise Traumpassagen als Video präsentiert oder Telefongespräche als Tondatei eingespielt. Eine neue Form des Erzählens ist das nicht und der ständige Medienwechsel verhindert zudem, dass man in die Geschichte eintauchen kann. Aufgrund dieser Defizite verwundert es nicht, dass – sehr zugespitzt formuliert – »Computerspiele inzwischen die eigentliche Form digitaler Jugendliteratur sind. Heranwachsende, die an ansprechend inszenierten interaktiven Geschichten interessiert sind, greifen daher eher zur Konsole als zum enhanced eBook« (Krommer 2016, 63. s. auch Kap. 29).
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Die Defizite des digitalen Erzählens in den Social Media lassen sich stellvertretend an drei literarischen Twitter-Experimenten verdeutlichen: Einen Jugendroman (vgl. Philipp 2012) bzw. Weltliteratur (vgl. Aciman/Rensinin 2011) in Tweets zu transformieren oder Kürzestgeschichten auf Twitter zu veröffentlichen (vgl. Meimberg 2011), hat mit Twitter als sozialem Netzwerk bis auf die Beschränkung der Zeichenzahl keine Gemeinsamkeit. Solche Projekte lassen sich auch auf Paper-Pencil-Basis realisieren oder sind bezeichnenderweise in Buchform veröffentlicht worden (Aciman/Rensin 2011; Meimberg 2011). Dass der oben erwähnte Facebook-Roman Zwirbler im Anschluss an die Online-Genese nicht nur als Buch, sondern auch als Toilettenpapier vermarktet wird, passt in dieses Bild.
33.6 Inter- und transmediale Aspekte Intermediale Bezüge gehören als spezifische Variante der Referentialität zum Kern der Kultur der Digitalität sensu Stalder (2016, 96–101). Selbst Formen der Retrodigitalisierung (d. h. der schieren Übertragung ›klassischer‹ Textfassungen in ein digitales Format) stellen den Bezug zwischen Print- und Digitalmedien her und verändern neben der medialen Präsentationsform auch Lektüremodi und -präferenzen (vgl. Kuhn/ Bläsi 2011, 591). Apps als »medienkonvergente Übergangsphänomene« (Ritter 2016, 31) oder enhanced eBooks, die auf einer Print- oder Filmvorlage beruhen, sind Beispiele für einen Medienwechsel, der »eine Veränderung der semiotischen, ästhetischen, technischen und organisatorischen Strukturen und Konventionen [bedingt]« (Bönninghausen 2013, 525). Interessante und mehrdimensionale intermediale Bezüge ergeben sich auch bei der filmischen Darstellung digitaler Kommunikationsprozesse: So werden z. B. in der Jugendroman-Adaption von John Greens Das Schicksal ist ein mieser Verräter (Josh Boone 2014) Chat-Nachrichten, die intradiegetisch nur für die Protagonisten sichtbar sind, in Form von Texteinblendungen auch für den Zuschauer visualisiert. Die Erzählweise in literarischen Apps wie Hooked oder Tap orientiert sich an der Sequenzierung und Ästhetik von Chat-Dialogen, die wiederum als rudimentäre Form der dramatischen Figurenrede bzw. der virtuellen Theatralik interpretiert werden kann (vgl. Frederking/Krommer/Maiwald 2018, 260). Augmented Reality Apps machen das ›wirkliche Leben‹ zur Bühne für das Inventar virtueller bzw. fiktionaler Welten, als Anlass für online verfüg-
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IV Medien – C Weitere Medien
bare Fan Fiction dienen nicht nur Bücher, sondern auch Filme und Computerspiele. Und wann immer digitales Erzählen im Online-Modus stattfindet, ist der nächste intermediale Referenzpunkt nur einen Link entfernt. Kurz: Erzählen unter Bedingungen der Digitalität ist ohne intermediale Bezüge kaum denkbar. Literatur
Abraham, Ulf/Kepser, Matthis: living books zwischen Computermedien und Buchliteratur: medientheoretische und fachdidaktische Überlegungen. In: Der Deutschunterricht 52/1 (2000), 45–53. Berghofer, Simon: Dialogizität und (Inter)textualität im Internet. Zur kommunikativen Textgenese in literarischen Blogs. Eine theoretische Annäherung mit Bezug auf Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst. 2010. In: dx.doi.org/10.13140/2.1.3943.5049 (22.6.2020). Boesken, Gesine: »Ich würde mich freuen, wenn ihr einen Kommentar hinterlasst, denn ich weiß nicht, ob ich gut bin.« Literarisches Handeln im Internet – Literaturplattformen, Fan Fiction & Co. In: Der Deutschunterricht 68/5 (2016), 46–55. Bönnighausen, Marion: Intermedialer Literaturunterricht. In: Volker Frederking/Axel Krommer/Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2. Baltmannsweiler 22013, 523–534. Bush, Vannevar: As we may think. In: Noah Wardrip-Fruin/ Nick Montfort (Hg.): The New Media Reader. Cambridge MA u. a. 2003, 37–47. Busse, Kristina: Fan Fiction Tropes as Literary and Cultural Practices. In: Sebastian Böck/Julian Ingelmann/Kai Ma tuszkiewicz/Friederike Schruhl (Hg.): Lesen X.0. Rezeptionsprozesse in der digitalen Gegenwart. Göttingen 2017, 127–144. Floridi, Luciano: The 4th revolution. How the infosphere is reshaping human reality. Oxford 2014. Frederking, Volker/Krommer, Axel/Maiwald, Klaus: Mediendidaktik Deutsch. Berlin 32018. Gerold, Gunnar: Erster Twitter-Roman kommt aus Hannover (2010). In: http://www.neuepresse.de/Hannover/ Meine-Stadt/Erster-Twitter-Roman-kommt-ausHannover (22.6.2020). Heibach, Christiane: Schreiben im World Wide Web – eine neue literarische Praxis. In: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Praxis Internet. Kulturtechniken der vernetzten Welt. Frankfurt a. M. 2002, 182–207. Jenkins, Henry: Textual Poachers: Televison Fans and Participatory Culture. New York 1994. Kepser, Matthis: Massenmedium Computer. Ein Handbuch für Theorie und Praxis des Deutschunterrichts. Bad Krozingen 1999.
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Axel Krommer
V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
34 Thematologie: Motive, Stoffe und Themen 34.1 Einleitung Thematologie hat sich inzwischen weitgehend als Bezeichnung für eine komparatistische Forschungsrichtung durchgesetzt, die als Stoff- und Motivgeschichte eine traditionelle Teildisziplin der Germanistik bildet. Da weder diese Bezeichnung noch die zentrale Begrifflichkeit thematologischer Forschung unumstritten ist, wird es in diesem Beitrag zunächst um eine terminologische Klärung und eine kurze forschungsgeschichtliche Einführung gehen, hiernach werden zentrale Themen und Motive der KJL seit 1945 exemplarisch vorgestellt.
34.2 Begriffsdefinitionen Die Thematologie untersucht in diachroner, synchroner und interkultureller Perspektive die Gegenstände literarischer Texte und betrachtet diese in einem pluriperspektivischen, oftmals interdisziplinär ausgreifenden Kontext, der die Inhalts- und die Gestaltungsebene der Texte sowie deren literarhistorische und gattungsspezifische Ausprägungen mit verschiedenen kulturwissenschaftlichen Aspekten zusammenführt. Enge Verbindungen bestehen damit zur Rezeptionsästhetik und zur Intertextualitätsforschung. Motive, Stoffe und Themen bezeichnen in uneinheitlicher Begriffsverwendung inhaltliche Elemente der Literatur, die sinnbildend Handlungen organisieren und vor allem (synchrone und diachrone) intertextuelle Bezüge herstellen. Diese Elemente stehen bei der vergleichenden Textanalyse in einem Spannungsfeld von Konstanz und Dynamik, Wiedererkennbarkeit und Variation. Der Begriff ›Stoff‹ vermittelt bereits etymologisch eine außerliterarische Dimension, die von der älteren, ideologisch teilweise problematischen Forschung herrührt und auch bei Elisabeth Frenzels Definition als »eine durch Handlungskomponenten verknüpfte, schon außerhalb der Dichtung vorgeprägte Fabel« (Frenzel 2005, V) anklingt. Ein – allerdings nicht au-
ßerliterarisch, sondern in literarischen Texten – vorstrukturierter Stoff stellt also ein profiliertes Muster konstitutiver Elemente bereit, dessen sich ein neuer Text bedient. De facto sind zahlreiche Stoffe an Figuren (wie Faust, Don Juan oder Salome) geknüpft. Horst und Ingrid Daemmrich lehnen den Begriff einerseits als widersprüchlich ab, erweitern seine Bedeutung andererseits ins Indefinite (vgl. Daemmrich 1995, XIII). Das Motiv ist die kleinste semantische Einheit, die intra- und intertextuell strukturbildend und bedeutungstragend wirkt (vgl. auch Lubkoll 2009, 750). Im Vergleich zum Stoff weniger komplex, hat es, schon etymologisch, primär handlungsauslösende Funktion und konstituiert als variables Element größere Einheiten. Frenzels Umschreibung »Der Stoff bietet eine ganze Melodie, das Motiv schlägt nur einen Akkord an« (Frenzel 2008, VI) spiegelt, wenn auch unpräzise, die etablierte Bedeutung des Begriffs in der Musik wider. Die Verwendung von ›Motiv‹ bei Daemmrich ist durch die Verbindung mit heterogenen Termini enorm erweitert und definitorisch auch nicht vom ›Thema‹ abgegrenzt (vgl. Daemmrich 1995, XIV–XX). Thema schließlich bezeichnet nach verbreiteter Lesart einerseits den Gehalt, die Grundidee eines Textes, andererseits abstrakte Vorstellungen, vor allem allgemein-menschliche Erfahrungen wie Liebe und Tod. Vollends entgrenzt ist der Gebrauch des zentralen Begriffs bei Daemmrich (vgl. 1995, XXI–XXV), die schlechterdings alles als Thema ansprechen, den Begriff nicht von Motiv und Figurenkonstellation abzugrenzen vermögen und damit der Beliebigkeit preisgeben. Problematisch an dieser überbordenden Unkonkretheit und Universalisierung ist nicht zuletzt der Verlust an Identifizierbarkeit, die für intertextuelle Untersuchungen fundamental ist. Eine Liste von Werken, die dem Thema Liebe zugeordnet werden können, wäre beispielsweise unergiebig und beliebig groß – und gemahnte wohl mehr an einen Rückfall in lediglich postmodern aufpolierte Stoffsammlungen denn an komparatistische Forschung. In diesem Rahmen kann weder eine erschöpfende Darstellung der anhaltenden literaturwissenschaftlichen Diskussion (vgl. Beller 2004; Daemmrich 1995; Dahms 2013; Frenzel 2005, 2008; Lubkoll 2009, 2013; Müller-Kampel 2001; Scherer 2001, 27–36) noch eine
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_34
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
abschließende umfassende Begriffsdefinition angestrebt sein. Gleichwohl ist es möglich, eine funktionale Basisdefinition der hier verwendeten Begriffe ›Thema‹ und ›Motiv‹ vorzuschlagen: Ein Thema ist in diesem Sinne also eine komplexe, aber spezifische rekurrente literarische Einheit, die Produktion und Rezeption von Texten strukturiert, indem sie diese an die kulturelle Tradition anbindet. Motive sind kleinere themenkonstitutive Einheiten, Elemente, die ein bestimmtes Thema eher nach dem Prinzip der Familienähnlichkeit als exakt definitorisch charakterisieren. In der Kinder- und Jugendliteraturforschung wird diese Begrifflichkeit, wie im Weiteren angesprochen wird, uneinheitlich und teilweise unreflektiert benutzt, was auch damit zusammenhängt, dass Themen und Motive verbreitet wie Schlagworte in Bibliothekskatalogen behandelt werden. Deshalb wird an dieser Stelle auch ein erweiterter, abstrakterer Themenbegriff Verwendung finden, der fallweise präzisiert und dadurch operationalisiert wird.
34.3 Historische Entwicklungen Die Bezeichnung ›Thematologie‹ geht auf die französische ›thématologie‹ (englisch ›thematics‹) zurück und findet seit den 1970er Jahren auch in der deutschsprachigen Forschung zunehmend Verwendung, um sich von der älteren, mit dem Geruch positivistischer Stoffhuberei belasteten Stoff- und Motivforschung abzugrenzen (vgl. Beller 1970; Bisanz 1973, 1975). Diese traditionelle und auch renommierte germanistische Forschungsdisziplin (vgl. Werlen 2009, der die bloß nominelle Umtaufe kritisiert) rekurriert auf die deutschen Begriffe ›Stoff‹ und ›Motiv‹, für die es international, zumal in der französisch- und englischsprachigen Forschung, keine eindeutigen Entsprechungen gibt (vgl. Lubkoll 2013, 718). Die Analyse literarischer Stoffe und Motive ist mit der Entstehung der Germanistik aus dem Geist der Romantik, insbesondere der Märchenforschung eng verbunden und wurde im literaturwissenschaftlichen Positivismus als systematische Erfassung und überlieferungsgeschichtliche Rekonstruktion minutiös betrieben, was die folgende geistesgeschichtlich dominierte Forschung als kunstferne Materialsammlung kritisierte. In Fortsetzung der Pendelbewegung abwechselnd zustimmender und ablehnender Forschungsparadigmen propagierte der russische Formalismus eine synchron ausgerichtete strukturale Motivforschung, während die werkimmanente Germanistik der Nachkriegszeit und der New
Criticism alle nicht ästhetischen Faktoren aus der Interpretation literarischer Texte ausschlossen. Die französische Komparatistik (Raymond Trousson) regte in den 1960er Jahren den problemorientierten Umgang mit Stoffen und Motiven wieder an, den in Deutschland Frenzel mit ihren Lexika (Stoffe der Weltliteratur 102005 [1962] und Motive der Weltliteratur 62008 [1976]) systematisch etablierte. Die seit den 1970er Jahren verstärkt geforderte und praktizierte Neuausrichtung der Forschungsdisziplin und die Präferierung des Begriffs ›Thema‹ führten zu den erwähnten Umbenennungsbemühungen, deren Umsetzung und terminologische Implikationen jedoch noch in der Diskussion sind (vgl. Frenzel 1993; Lubkoll 2009, 753–756, 2013; Scherer 2001, 9–26).
34.4 Forschungsstand Entsprechend der skizzierten uneinheitlich verwendeten Terminologie und nicht vollständig etablierten Bezeichnung der Forschungsdisziplin ist die Vielfalt der Begriffsverwendung zumal in kinder- und jugendliteraturwissenschaftlichen Forschungen (vgl. Kurwinkel/Schmerheim 2013, 31–34; Kurwinkel/Jakobi 2019) nicht verwunderlich. Wohldefinierte Stoffe im Sinne Frenzels sind hier von untergeordneter Bedeutung im Vergleich zu einem sehr weit gefassten Themenbegriff, der, so er nicht als Gehalt eines Einzelwerks verstanden wird, in der Regel universale anthropologisch-psychische Konstanten und intersubjektiv wirksame Kategorien wie Familie und Freundschaft umfasst. Es gibt auch nominell einschlägige Titel, die keinerlei systematisch-thematologischen Zugang bieten (vgl. Seibert 2008). Dieser forschungsgeschichtlich interessante, heuristisch womöglich unbefriedigende Stand der Forschungsdisziplin steht einem thematologischen Zugang zur KJL bei entsprechender Präzisierung jedoch nicht im Wege. In diesem Sinne versteht sich die folgende exemplarische Entfaltung charakteristischer Motiv- und Themenfelder der seit 1945 erschienenen KJL als Vorschlag einer möglichen Typologie.
34.5 Exemplarische Motiv- und Themenfelder In der KJL seit 1945 in der Bundesrepublik (s. Kap. 7), der DDR (s. Kap. 8) und im vereinten Deutschland sind dominante Themenfelder und Motivkonstellatio-
34 Thematologie: Motive, Stoffe und Themen
nen auszumachen, die im Folgenden exemplarisch angesprochen und vorgestellt werden. Wie bereits erwähnt, können ausufernde allgemein-menschliche Themen wie Liebe nur als durch präzisere Motive genauer bestimmte Themenfelder intertextuell untersucht werden. Deshalb werden unter ein abstrakteres Oberthema operationalisierte spezifischere Themen und Motive rubriziert, wobei grundsätzlich zu bedenken ist, dass sich Themen überschneiden und Motive verschiedenen Themen zugeordnet sind, eine klare Abgrenzung demnach nicht immer möglich ist. Angesichts des Wandels, dem die Kultur generell zu jeder Zeit unterworfen ist, steht auch die KJL in einem permanenten Entwicklungsprozess. Gleichwohl lassen sich in Werken der KJL seit 1945 verschiedene rekurrente Gegenstandsbereiche identifizieren, die, im historischen Verlauf in unterschiedlicher Frequenz aufgerufen, einander bedingen und sich in der Regel überlagern, komplementieren oder ergänzen und so zu Motiv- und Themenfeldern verschiedener Größe verdichten. Hinsichtlich der wechselnden Altersgruppen ihrer Adressatenkreise werden seit der Emanzipation der KJL in den 1970er Jahren Motive und Themen in unterschiedlicher Intensität oder Ausdehnung auch zunehmend problemorientiert behandelt und aufbereitet (vgl. Ewers 1995, 262–268). In der Nachkriegszeit leitete Astrid Lindgren mit Pippi Langstrumpf (Pippi Långstrump, schwed. 1945; dt. 1949) einen Wandel der Kindheitsauffassung ein, in dessen Folge die Vorstellung von einer moralisch-belehrenden KJL hinter kindgemäße und kindheitsautonome Konzepte zurücktritt (vgl. Weinmann 2012, 18), die wiederum in den 1970er Jahren von einer problemorientierten und sozialkritischen KJL abgelöst werden (vgl. ebd., 34). Diese Ansätze werden in der seit den 1980er und 1990er Jahren zunehmend von neuen, mit dem Buch konkurrierenden Medien geprägten KJL aufgenommen und fortgesetzt. Durch die Rasanz medialer Evolution und medienästhetischer Entwicklung befördert, treten kinderund jugendliterarische Motive und Themen, zunehmend auch einzelne Figuren der KJL, aus ihrem ursprünglichen Genre heraus und erlangen in verschiedenen Medien Popularität, etwa in Roman, Bilderbuch oder Hörspiel, Zeitschrift, Comic, Manga oder Graphic Novel, Theater, Puppentheater oder Musical, Real- oder Animationsfilm, Fernsehen, E-Book oder Computerspiel (s. Kap. IV) bzw. Spielgeschichten im Medienverbund (vgl. Josting 2012, 391–420), Smartphone-App, Fanfiction oder Groß- bzw. Kleinformen der Handyliteratur. Nicht selten begegnet indessen
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das Phänomen, dass beliebte kinder- und jugendliterarische Werke neue mediale Gattungsmuster aus Fernsehen, Computerspiel und Internet imitieren und so »in die Rolle des Sekundärverwerters von Filmund Fernsehangeboten geraten« (Ewers 2000, 14) oder grundsätzlich mediale Festschreibungen transgrediert werden, um den »Schein eines multimedialen Kontinuums« zu erzeugen (ebd., 12). Indem vor allem die erzählende KJL vielfach auf traditionelle Formen zurückgreift, erwachsen diverse Themenfelder aus ihrer jeweiligen gattungsspezifischen Bindung, noch bevor sie sich mit anderen überschneiden und amalgamieren. So geben verschiedene Genres motivische bzw. thematische Grundelemente vor: Abenteuer, Seefahrt (John Boyne Der Schiffsjunge – Die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty [Mutiny on the Bounty, engl. 2008; dt. 2011]) und Piraten (Buch- und Hörspielreihe Käpt’n Sharky [seit 2006], Filmreihe Fluch der Karibik [Pirates of the Caribbean, seit 2003]); Reise, Wildwest bzw. Indianer (von Karl May über Adaptationen, Parodien und Fortentwicklungen, etwa der realistischen Entzauberung der May-Romantik durch Liselotte Welskopf-Henrich und Käthe Recheis, bis hin zu Michael Herbigs Filmparodie Der Schuh des Manitu [2001]); Räubergeschichten (Tomi Ungerer Die drei Räuber [1961], Otfried Preußler Der Räuber Hotzenplotz [1962–1973], Gudrun Pausewang Wer hat Angst vor Räuber Grapsch [1984–2008]); Kriminal- und Spionagegeschichten (Robert Muchamore Top Secret [CHERUB, engl.; dt. 2004–2011], Ally Carter Gallagher Girls [engl. seit 2006; dt. seit 2007]) sowie Detektivromane (Lindgren Kalle Blomquist [Kalle Blomkvist, schwed.; dt. 1946– 1953]); Ratekrimis mit Wunderfolie (Ursel Scheffler Kommissar Kugelblitz [1982–2012]); Schauer-, Spuk-, Kobold- (Ellis Kaut Pumuckl [seit 1962 als Radiound Fernsehserie, 2000 als Musical, 2003 als Spielfilm]) oder Gespenstergeschichten mit »Gruselspaß« (Freund 1987, 30; vgl. Angela Sommer-Bodenburg Der kleine Vampir [1979–2015 als Buchreihe, Fernsehserie, Filme, Theater, Musical u. a.], Maria Gripe Sonntagskinder hören das Gras wachsen [Agnes Cecilia – en sällsam historia, schwed. 1981; dt. 1984], Brigitte Endres Der letzte Werwolf [2011]); Tiererzählungen mit Spaß- und Unterhaltungscharakter (Shaun das Schaf [dt. Erstausstrahlung KiKa 2007]). Dabei variiert die Darstellung der fiktionalen Welt und ihrer Figuren gemäß der Gattungszugehörigkeit zwischen Realitätsnähe und phantastischer Verfremdung und Erweiterung. Als beispielhaft mögen die folgenden Motiv- und
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
Themenfelder gelten, die einen orientierenden Überblick über inhaltliche Aspekte der KJL nach 1945 ermöglichen: Familie, Kindheit, Heranwachsen, Körpererfahrung, Identitätssuche, Krankheit, Alter, Tod und Trauer, Freundschaft, Liebe, Schule, Internat, Kindergarten, Freizeit, Motive und Themen aus Märchen und Mythen, Natur, Umwelt, Gesellschaft, Geschichte und Zeitgeschichte, Krieg, Flucht, Vertreibung, Sachthemen, Philosophie, Ethik und Religion. Alternative Ordnungen sind selbstverständlich ebenso legitim, für den Bereich der ›Klassiker‹ beispielsweise hat Heidi Lexe die vier Motivkonstellationen »Elternferne«, »Bewährung in unbekannter Umgebung«, »Naturnähe« und »Verweigerung« beschrieben (vgl. Lexe 2003, 78–147). Wie im Folgenden anhand einer exemplarischen Werkauswahl gezeigt wird, überschneiden sich Fragen der Themenkreise Familie und Kindheit vielfach nicht nur mit dem Themenkomplex von Krankheit, Alter und Tod, sondern können zugleich in größere gesellschaftliche Problemfelder eingelagert und als solche auch unter historischen oder zeitgeschichtlichen bzw. philosophischen Gesichtspunkten zu verhandeln sein bzw. von ihnen bedingt werden; ähnlich begegnen die vom thematischen Feld der Identitätsfindung nur schwer trennbaren Themen Freundschaft und Liebe oftmals in enger Verknüpfung mit dem Kontext von Schule, Freizeit oder diversen Sachthemen und werden je nach ihrer Verknüpfung mit den Problemkreisen Krieg und Migration, Religion oder Umwelt ganz unterschiedliche inhaltliche Ausrichtungen generieren. Die thematische und motivische Vielfalt wird durch die Verlagerung realistischer Problemstellungen (s. Kap. 13) in phantastische Erzählwelten (s. Kap. 14) und metasprachliche Reflexionen noch potenziert. Familie Da die KJL inhaltlich zumeist die Lebenswelt ihrer Adressaten umkreist und Konflikte oftmals kindlicher oder heranwachsender Protagonisten variantenreich darstellt, entspringen zentrale Themenfelder den sozialen Strukturen, in welche sich junge Leser und Rezipienten von KJ-Medien aller Art eingebunden sehen. Folgerichtig nimmt der thematische Komplex der Familie einen beträchtlichen Raum ein. Konkrete Themen sind dabei das Verhältnis des Kindes zur Mutter, zum Vater (The Lego Movie [Phil Lord/Chris Miller 2014]) bzw. der Eltern untereinander, aber auch die Beziehung des Kindes zu einzelnen
oder mehreren Geschwistern (Bart Moeyaert Brüder [Broere, niederl. 1999, dt. 2006], Dagmar H. Mueller Ich, meine vier Brüder und andere Ungerechtigkeiten [2008], Niccolò Ammaniti Du und Ich [lo e te, ital.; dt. 2010]). Das gelingende familiäre Zusammenleben ebenso wie aus diesem resultierende Konflikte (gewohnt skurril Roald Dahl Matilda [engl. 1988; dt. 1989], im phantastischen Gewand Holly Black Die Spiderwick-Geheimnisse [The Spiderwick Chronicles, engl. 2003–2009, dt. 2004–2007; Mark Waters 2008]) wie »Beziehungsprobleme der Eltern, Scheidung, Emanzipationsstreben und Berufstätigkeit der Mutter, Arbeitslosigkeit und Alkoholismus des Vaters« (Ewers 1995, 265) (Kirsten Boie Ich ganz cool [1992], Regina Dürig Katertag [2011]) repräsentieren einen der rekurrenten Themenkomplexe der KJL, der sich mit anderen thematischen und motivischen Einheiten verbindet. Entsprechend dem jeweiligen soziokulturellen und zeitgeschichtlichen Hintergrund sind bestimmte Fragen der Familienkonzeption einschließlich ihrer Krise und Erosion (vgl. Freund 1987, 33–37) zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlich hoher Relevanz (vgl. Daubert 2002). Paradigmatisch ist hier Erich Kästners Roman Das doppelte Lottchen (1948) zu nennen, der auf einem Gipfelpunkt der Scheidungswelle im Deutschland der Nachkriegszeit zugunsten einer glücklichen Kindheit im Schoße einer intakten Familienstruktur Partei ergreift (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012, 7), so auch in der Waisen-Geschichte Sonntagskind von Gudrun Mebs (1983), während sich die KJL in jüngerer Zeit offeneren Familienkonzeptionen gegenüber aufge schlossen zeigt. Neben die traditionelle treten die Pflege-, Adoptiv- (Sun-Mi Hwang Das Huhn, das vom Fliegen träumte [The Hen Who Dreamed She Could Fly, engl. 2000; dt. 2014], auf die Tierwelt übertragen) und die Stief- oder sogenannte Patchworkfamilie. Zudem nimmt die Präsenz alleinerziehender Mütter und Väter in der KJL ebenso zu wie die unehelicher, in jüngerer Zeit auch gleichgeschlechtlicher Partnerschaften (Christophe Léon Väterland [Embardée, franz. 2015; dt. 2017], auch Auseinandersetzung mit Homophobie) oder das Phänomen durch Samenspende gezeugter Kinder und deren Sehnsucht nach der Begegnung mit dem Vater (Sarah N. Harvey Empfindliches Gleichgewicht [Spirit Level, engl. 2016; dt. 2017]). Auch Konflikte des Zusammenlebens, wie sie etwa infolge häuslicher Gewalt, Missbrauchs oder Verwahrlosung entstehen, bleiben nicht ausgespart (Beate Teresa Hanika Rotkäppchen muss weinen [2009], Kevin Brooks Killing God [engl. 2009; dt.
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2011], Mats Wahl Du musst die Wahrheit sagen [2011]). Neben der Auseinandersetzung mit (Geschlechter-)Rollen und Fragen der Aushandlung von Autorität findet das Verhältnis zwischen Generationen (James Krüss Mein Urgroßvater und ich [1959], Silvana Gandolfi Die Schildkröte, die Shakespeare liebte [Aldabra. La tartaruga che amava Shakespeare, ital.; dt. 2001], Per Olov Enquist Großvater und die Wölfe [De Tre Grottornas Berg, schwed.; dt. 2003]) einen thematischen Niederschlag in der KJL, auch wenn das soziokulturelle Modell der unter einem Dach lebenden Großfamilie historisch geworden ist. Trotz der breiten Verankerung der KJL in familiäre Gefüge begegnen gleichwohl auch Protagonisten, die sich in von ihrem Elternhaus unabhängigen Räumen und Situationen bewähren. Kindheit, Heranwachsen, Körpererfahrung, Identitätssuche Einen großen Stellenwert nimmt in der KJL das Heranwachsen und Erwachsenwerden ein, das mit elementaren und unterschiedlich komplexen kognitiven wie emotionalen Lern- und Entwicklungsprozessen aller Art einhergeht, z. B. Angst/Mut, Streit/Versöhnung, Schuld/schlechtes Gewissen (schon für die Jüngsten in Maurice Sendak Wo die wilden Kerle wohnen [Where the Wild Things Are, engl. 1963; dt. 1967], Gunilla Bergström Willi Wiberg und das Ungeheuer [Alfons och odjuret, schwed. 1978; dt. 1988], Julia Donaldson/Axel Scheffler Der Grüffelo [The Gruffalo, engl.; dt. 1999]). »Ablöse- und Autoritätskonflikte« (Ewers 2000, 223), pubertätsbedingte Spannungen und Identitätskrisen, die Wahrnehmung von Kindheit als eines »problematische[n] Lebensabschnitt[s]« (Weinmann 2012, 35) verbinden sich mit Fragen der Identitätsfindung (für die Kleinsten: Mira Lobe Das kleine Ich bin Ich [1972], gepaart mit einer phantastischen Zeitreise: Penelope Farmer Charlotte durch alle Zeiten [Charlotte Sometimes, engl. 1969; dt. 2014]). Dafür eignen sich kindliche und heranwachsende Protagonisten als identifikationsstiftende Figuren der KJL besonders (als drastisches Insel-Abenteuer bei William Golding Herr der Fliegen [Lord of the Flies, engl.; dt. 1954], mit provokanter Komik bei Raymond Queneau Zazie in der Metro [Zazie dans le métro, franz. 1959; dt. 1960; Malle 1960], rätselhaft erotisch vor historischer Kulisse bei Joan Lindsay Picknick am Valentinstag [Picnic at Hanging Rock, engl. 1967; dt. 1987]). Thematisiert werden je nach Lesealter die Selbst- und Fremdwahrnehmung und Erfahrung des eigenen Körpers vom ›Trockenwer-
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den‹, dem Milch- und Wechselgebiss über Pubertät und Sexualaufklärung bis hin zu Fragen der geschlechtlichen Orientierung (Sonwabiso Ngcowa Nanas Liebe [In Search of Happiness, engl. 2010; dt. 2014], David Levithan Two Boys Kissing [engl. 2013; dt. 2015]) bzw. Transgenderthematik (Alex Gino George [engl. 2015; dt. 2016]). Verbindungen zu Themen wie Familienkonflikte und Angstbewältigung sind frequent (Niccolò Ammaniti Ich habe keine Angst [Io non ho paura, ital. 2001; dt. 2004]), zahlreiche Adoleszenzromane nach 1945 sind von Jerome Salingers Schulklassiker Der Fänger im Roggen (The Catcher in the Rye, engl. 1951; dt. 1954) beeinflusst. Am Beispiel körperlicher oder sprachlicher Auffälligkeiten und Erkrankungen, Behinderungen (Max von der Grün Vorstadtkrokodile [1976; Fernsehfilm von Wolfgang Becker 1977; Filmreihe 2009–2011], Grégoire Solotareff Rollstiefelchen [Le lapin à roulettes, franz.; dt. 2000], Marie-Aude Murail Simple [franz. 2004; dt. 2007; Markus Goller 2017]) oder Entwicklungsstörungen wie Adipositas, Bulimie, Anorexie, Autoaggression (Paolo Giordano Die Einsamkeit der Primzahlen [La solitudine dei numeri primi, ital. 2008; dt. 2009]) oder Sprechstörungen, Stummbzw. Blindheit (Christoph Wortberg Dieser eine Moment [2010]), Gehörlosigkeit (Kathrin Schrocke Freak City [2010]), Epilepsie oder Autismus und damit verbundener Inselbegabung, Hochbegabung etc. wendet sich die KJL vor allem in jüngerer Zeit nicht mehr allein der daraus erwachsenden Außenseiterproblematik mit Vorurteils- und Diskriminierungsszenarien zu, sondern diskutiert zunehmend auch den gesellschaftlichen (bzw. speziell schulischen) Umgang mit entsprechenden Alteritätserscheinungen und Modellen ihrer Inklusion. Krankheit, Alter, Tod und Trauer Nicht selten eng verbunden mit dem Themenkreis der Familie sind die thematischen Felder von Krankheit, Alter und Tod. Die Begegnung von Kindern mit diesen Erfahrungsbereichen geht häufig mit dem Erleben des Erkrankens bzw. Ablebens geliebter Haustiere oder ihnen nahestehender Menschen einher, oftmals eines Großelternteils (Peter Härtling Oma [1975], Elfie Donnelly Servus Opa, sagte ich leise [1977], Roberto Piumini Matti und der Großvater [Mattia e il nonno, ital. 1993; dt. 1994], Flávia Lins e Silva Pina reist nach Griechenland [Diário de Pilar na Grécia, port. 2010; dt. 2013]), mit dem Unfalltod der Eltern oder dem plötzlichen Tod eines Mitschülers (John Green Eine wie Alaska [Looking for Alaska, engl. 2005; dt. 2007]). Ne-
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ben physischen Schwächen und körperlicher Gebrechlichkeit werden lebensbedrohliche Krebserkrankungen, zunehmend auch häufig auftretende neurologische Erkrankungen wie Alzheimer-Demenz thematisiert (Françoise Robert Papi Lou oublie tout [2013], Uticha Marmon Als Opapi das Denken vergaß [2014]). Das Themenfeld um Krankheit und Tod hat grundsätzlich Anteil an allen Gattungen der KJL, neben der Erzählliteratur ist die Kinderlyrik hervorzuheben (vgl. Franz 2016, 157–198). Wie bei der Familie spielt auch der kulturspezifische Umgang mit dem Sterben eine wichtige Rolle bei seiner Darstellung in altersspezifischen Medien. Haben kinder- und jugendliterarische Werke den Tod lange Zeit tabuisiert und verdrängt, in phantastische Erzählkontexte ausgelagert (Antoine de Saint-Exupéry Der kleine Prinz [Le Petit Prince, franz. 1946; dt. 1950]) oder als christliche Legende überhöht (José María SánchezSilva Marcelino [Marcelino Pan y Vino, span. 1952; dt. 1962]), so lässt sich ab den 1960er Jahren in der skandinavischen (z. B. Lindgren Die Brüder Löwenherz [Bröderna Lejonhjärta, schwed. 1973; dt. 1974]), ab etwa 1970 auch in der deutschen KJL eine altersgerechte Auseinandersetzung mit dem Abschiednehmen verzeichnen (vgl. Mattenklott 1994, 230–256) – in realistischen (Gudrun Mebs Birgit. Eine Geschichte vom Sterben [1982]) (vgl. O’Sullivan 2000, 71–75), aber auch in stilisierten Erzählkontexten (Wolf Erlbruch Ente, Tod und Tulpe [2007]; Matthias Bruhn 2010, auch Theaterfassung) oder im Bilderbuch (Stian Hole Annas Himmel [Annas himmel, norw. 2013; dt. 2014]). Diese schließt auch die ethische Beschäftigung mit dem Selbstmord ein (Lygia Bojunga-Nunes Mein Freund der Maler [O meu amigo pintor, port. 1982; dt. 1986]), aktuell auch mit Cybermobbing in sozialen Netzwerken in Zusammenhang gebracht (Tom Leveen Ich hätte es wissen müssen [Random, engl. 2014; dt. 2015). Krankheit und Vereinsamung nach dem Tod von Eltern (Martín Blasco Ist das Leben eine Abfolge einzelner Punkte? [En la línea recta, span. 2007; dt. 2010]), Geschwistern oder Freunden als seelische Konflikte und Grenzsituationen werden in der psychologisierten KJL nach 1945 wiederholt zum auslösenden Faktor für phantastische Veränderungen der erzählten Welt (vgl. Weinmann 2012, 27–28). In Verbindung mit Todesmotiven ist auch die Ausdehnung der Kindheit kinderliterarischer Figuren ins Unendliche in der Nachfolge von James Matthew Barries Peter Pan (Peter Pan, Or The Boy Who Wouldn’t Grow Up, engl. 1904; dt. 1952) zu sehen (vgl. O’Sullivan 2000, 73).
Freundschaft Im Rahmen der motivisch und thematisch relevanten sozialen Beziehungen, die in die KJL Eingang gefunden haben, kommt der Freundschaft ein zentraler Stellenwert zu, sei es zwischen Menschen, zwischen Tieren oder zwischen Menschen und Tieren, etwa in Sven Nordqvists Pettersson und Findus-Büchern (Pettson och Findus, schwed.; dt. seit 1984), die auch verfilmt wurden, oder in Kate DiCamillos Winn-Dixie (Because of Winn-Dixie, engl. 2000; dt. 2001). Nicht selten bildet dabei die Freundschaft zweier kindlicher bzw. jugendlicher, oft komplementärer Charaktere (Andreas Steinhöfel Rico, Oskar und die Tieferschatten [seit 2008 mehrere Fortsetzungen und Verfilmungen]) oder gesellschaftlicher Außenseiterfiguren (Mirjam Pressler Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen [1994]) eine handlungstragende Grundierung, in welche sich die Auseinandersetzung mit anderen thematischen Feldern einflicht (z. B. Freundschaft im Konflikt mit Homosexualität bei Benjamin Alire Sáenz Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums [Aristotle and Dante Discover the Secrets of the Universe, engl. 2013; dt. 2014], in milderer Form schon im Film Die wilden Hühner und die Liebe von 2007 nach dem Buch von Cornelia Funke); die Freundschaft muss sich angesichts krisenhafter Erfahrungen bis hin zu existentieller Bedrohung bewähren. Vorzugsweise in Verbindung mit Detektivgeschichten wird dabei der Teamgeist von Freundesgruppen beschworen, wie es anhaltend erfolgreiche Jugendbuchklassiker (Enid Blyton Fünf Freunde [The Famous Five, engl. 1942–1963; dt. 1953–1967], auch Hörspiel, TVSerie und Verfilmungen, Robert Arthur Die drei ??? [The Three Investigators, engl. 1963–1969; dt. seit 1968], auch Hörspiele, Computerspiele, Verfilmungen, Theateradaptionen), ihre Fortsetzungen sowie von ihnen inspirierte Buchreihen (Paul-Jacques Bonzon Les Six Compagnons [1961–1980], auch Comic und TV, Die drei !!! Detektivgeschichten für clevere Mädchen, Buchreihe [seit 2006]) demonstrieren. Freundschaft wird für ein junges Lesepublikum schon in früher Kindheit thematisiert (Daniela Kunkel Das kleine WIR [2014]), im Bilderbuch mit Vorliebe als Freundschaft zwischen personifizierten Tieren präsentiert (Helme Heine Freunde [1982], Luis Sepúlveda Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte [Historia de una gaviota y del gato que le enseñó a volar, span. 1996; dt. 1997]). Die Geborgenheit freundschaftlicher Bindung und wechselseitiger Unterstützung formuliert hier paradigmatisch Janosch in
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Oh, wie schön ist Panama: »wenn man einen Freund hat, [...] dann braucht man sich vor nichts zu fürchten« (1978, unpaginiert). Auch die freundschaftsähnliche Beziehung zu Tieren spielt eine große Rolle in der KJL (z. B. Mensch und Pinguin bzw. Gans in Carmen Kurtz’ Buchreihe Óscar [1962–1984], Bernardo Atxaga Memoiren einer baskischen Kuh [Behi euskaldun baten memoriak, bask. 1991; dt. 2003]). Freundschaft kann jedoch auch umschlagen in Rivalität (Susan Hill Wieviel Schritte gibst du mir? [I’m the King of the Castle, engl. 1970; dt. 1999]), phantastische Zeitreisen überdauern (Philippa Pearce Als die Uhr dreizehn schlug [Tom’s Midnight Garden, engl. 1958; dt. 2016]) oder zur Überwindung von Feindschaft führen (Lindgren Ronja Räubertochter [Ronja Rövardotter, schwed. 1981; dt. 1982]). Liebe Der Lebenswelt von Heranwachsenden entspricht auch die vertiefte Auseinandersetzung mit Verliebtheit und Schwärmerei, der Anbahnung und Gestaltung einer Beziehung, sei es vor realistischer (wiederum einschlägig Funke Die wilden Hühner und die Liebe [2003]), phantastischer (Kerstin Gier Rubinrot [2009]) oder historischer Kulisse (Adèle Geras Xanthe – Eine Liebe in Troja [Troy, engl. 2000; dt. 2004]). Zuneigung und erwachende Liebe bleiben dabei nicht etwa auf die Pubertät beschränkt, sondern spielen im Grundschulalter längst eine nennenswerte Rolle (Härtling Ben liebt Anna [1979], Anne Sewitskys Film Anne liebt Philipp [Jørgen + Anne = sant, 2011 nach Vigdis Hjorth]), zum Teil im verharmlosenden Gewand einer Tier- oder Puppenerzählung (Binette Schroeder Lupinchen [1969]) (vgl. Tabbert 1990, 154). Die Reflexion der Liebe als eines mächtigen Gefühls findet sich schon für Kleinkinder im Bilderbuch aufbereitet (Daniela Kulot Woher kommt die Liebe? [2017]). In Verknüpfung mit dem übergreifenden Thema Liebe werden in der KJL oftmals verwandte Themenkreise wie Treue (Sabine Both Ein Sommer ohne uns [2016]), Verlustangst, Rivalität und Eifersucht aufgerufen oder das Ende einer Beziehung und damit verbundene Emotionen wie Liebeskummer oder schlechtes Gewissen thematisiert. Mit wachsendem Alter des Lesepublikums finden sich erste erotische Erfahrungen bzw. sexuelle Kontakte und in diesem Zusammenhang auftretende Fragen (Christine Nöstlinger Pfui Spinne! [1980], Paul Kropp Ein Coach fürs erste Mal [2009]) und Konflikte wie ungewollte Schwangerschaft (Gun Jacobson Peters Baby [Peters
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baby, schwed. 1971; dt. 1976], Karin Bolte Ulla, 16, schwanger [1979]), sexuelle Identität (Deborah Hautzig Hallo, Engelchen [Hey, Dollface, engl. 1978; dt. 1984]) oder die soziale Bewährung einer Beziehung (Bernard Beckett Stechzeit [Malcolm and Juliet, engl. 2004; dt. 2010]) mit der Liebesthematik verbunden. In jüngerer Zeit figurieren in Werken der Jugendliteratur in diesem Zusammenhang auch problematische, exzessive bis kriminelle Erfahrungen mit Sexualität, etwa im Rahmen von Vergewaltigung (Annika Thor Entscheide dich! [2010]) und sexuellem Missbrauch (Ann Dee Ellis Es.Tut.Mir.So.Leid. [2009], Agnes Hammer Bewegliche Ziele [2008]). Schule, Internat, Kindergarten Der schulische Alltag, der einen beträchtlichen Stellenwert in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen einnimmt, findet in vielen Werken der KJL schon früh einen entsprechend großen Niederschlag, zunächst vermehrt in traditionellen Geschichtenanthologien (vgl. Payrhuber 2002, 709–710). Zumeist bildet das gemeinsame Lernen nur die Kulisse für Problemfelder, die das soziale Miteinander von Schülern und Lehrern zu verschiedenen Zeiten betreffen (z. B. im historischen Rückblick auf die 1950er Jahre: Bianca Pitzorno Ascolta il mio cuore [1991]). Dabei ist zu beobachten, dass sich Veränderungen des schulischen Alltags und jeweils aktuelle gesellschaftliche Debatten in der KJL widerspiegeln. Klassische schulische Themenfelder wie Außenseiter (Louis Sachar Bradley – letzte Reihe, letzter Platz [There’s a Boy in the Girl’s Bathroom, engl. 1987; dt. 2008]) (vgl. Schulz 2002), schulische Gewalt (Boie Nicht Chicago. Nicht hier [1999], Michael Borlik Wehr’ dich doch, Ivo! [2008]) oder Drogenkonsum (Film Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo [1981] von Ulrich Edel nach dem Buch von Kai Hermann und Horst Rieck [1978]) bleiben von andauernder Brisanz, werden in jüngerer Zeit jedoch flankiert von Konflikten, in deren Zentrum z. B. Mobbing (Luca Bloom Schlachtfeld [2010]), digitale Medien und soziale Netzwerke stehen. Dabei werden auch Fragen der Überwachung kritisch in den Blick gerückt oder Hackerangriffe auf das Sicherheitssystem einer Schule thematisiert (Cory Doctorow Little Brother [2010]). Im Themenkreis Schule siedeln sich zudem Pensionats- und Internatsgeschichten an, wie Kästners Das fliegende Klassenzimmer (1954, Verfilmungen 1973, 2003), Blytons Hanni und Nanni (St. Clare’s, engl. 1941–1945; deutsche Fassungen, Fortsetzungen und Hörspiele seit 1965 [Europa], vier
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deutsche Filme 2010–2017), Oliver Hassencamps anhaltend beliebte Buchserie Burg Schreckenstein (1959– 1988), deren zwei Verfilmungen (2016–2017) ihre Realisierung womöglich auch dem Erfolg des prominentesten neuen Genrebeispiels, J. K. Rowlings Harry Potter-Serie (engl. 1997–2007; dt. 1998–2007), verdanken. Das ältere Schema der Lausbubengeschichten, von der gleichnamigen Filmreihe der 1960er Jahre nach Ludwig Thoma und der nachfolgenden Lümmel-Filmreihe (1967–1972) bis zu René Goscinnys und Jean-Jacques Sempés Der kleine Nick (Le petit Nicolas, franz. 1959–1964; dt. seit 1974; Buch- und Comic-, auch Fernsehserie und Spielfilme), erfuhr einen erfolgreichen Reboot in Bora Dagtekins Fack ju Göhte-Filmreihe (2013–2017), die darüber hinaus zahlreiche mit der Schule verknüpfte soziale Themen satirisch und politisch unkorrekt aufgreift. Das thematische Feld eignet sich hervorragend, überkommene Erziehungsstile oder das gegenwärtige Bildungssystem zu hinterfragen und mit jüngeren pädagogischen Konzepten zu kontrastieren bzw. Bildungsfragen zu thematisieren. Freizeit Ähnlich dem schulischen Alltag prägen unterschiedlichste Kontexte der Freizeitgestaltung die Alltagserfahrungen Heranwachsender. Zahlreiche Hobbies im sportlichen oder musischen Bereich bilden folgerichtig den Hintergrund auch kinder- und jugendliterarischer Werke. Oftmals ist hier in diesem Zusammenhang eine Separierung der Zielgruppen nach Geschlechtszugehörigkeit zu verzeichnen, die jedoch, je nach zeitaktueller Rollenzuschreibung und Mode, nicht selten auch aufgebrochen wird. Während Mädchen häufig Reitsport (Nele Neuhaus Elena [2011– 2017]), Ballett (Patrick Modiano Catherine die kleine Tänzerin [Catherine Certitude, franz. 1988; dt. 1991]) und Tanz (Lola Renn Drei Songs später [2010]) betreiben, konzentrieren sich die Interessen von Jungen oft auf Fußball (Mal Peet Keeper [2003], Joachim Masannek Die wilden Fußballkerle [als Kinderbuchserie 2002–2005 und in sechs Filmen 2003–2016]), Kampfsport (Chris Bradford Samurai [Young Samurai, engl. seit 2008; dt. seit 2001], Todd Tarpley Meine Oma ist ein Ninja [My Grandma’s a Ninja, engl. 2015; dt. 2016]) sowie Computer- und Videospiele (zur Geschlechtsspezifik der KJL vgl. Böhm 2017). Jüngere Kinderbuchheldinnen wie Pippa Pepperkorn (Charlotte Habersack, seit 2013) oder Cornelia Funkes Der geheimnisvolle Ritter Namenlos (2001) und (in einer phantastischen
Welt) Igraine Ohnefurcht (1998) glänzen aber auch, wie früher bereits Pippi Langstrumpf, in scheinbar Jungen vorbehaltenen Domänen (so schon Die rote Zora in Kurt Helds gesellschaftskritischem Roman von 1941, verfilmt 2008 von Peter Kahane), woraus nicht selten ihr besonderer Witz und Humor resultieren. Größeren Raum nimmt die Musik ein, in deren Kontext oftmals ein gemeinschaftsstiftendes, bisweilen utopisches Potential zur Entfaltung kommt (Xavier-Laurent Petit Maestro! [2005]) (vgl. Amend-Söchting, 67–84). Motive und Themen aus Märchen und Mythen Märchen (s. Kap. 15) stellen eine anhaltend erfolgreiche kinderliterarische Gattung dar, deren orale Erzähltradition nach ersten Verschriftlichungen in der Romania (Straparola, Basile, Perrault) vor allem durch die Sammlung der Brüder Grimm fixiert und damit für die folgende internationale Rezeption und multimediale Transformation wirksam gemacht wurde. Das Personal und zentrale Motive bekannter Buchmärchen wie Aschenputtel, Dornröschen, Rotkäppchen oder Schneewittchen gehören zum weltweiten kulturellen Erbe und erfahren deshalb bis in jüngste Zeit als modernisierende oder parodierende ›Réécriture‹ und als Märchenfilm aktualisierende Neubearbeitungen. Literarische Versionen rekurrieren dabei auf einzelne Märchenfiguren wie die Hexe: Preußlers Die kleine Hexe (1957), Jill Murphys Alle Hexen fangen klein an (The Worst Witch, engl. 1974; dt. 1982), Dahls Hexen hexen (The Witches, engl. 1983; dt. 1986) (zum Motiv der Hexe vgl. Planka/Mikota 2013 und González de la Llana 2014 zu Maite Carranzas La guerra de la brujas [2005–2007]). Oder sie hinterfragen bekannte Märchenschemata: Jules Feiffers Der Fluch des Lachens (A Barrel of Laughs, A Vale of Tears, engl. 1995; dt. 2000), Paul Maars In einem tiefen dunklen Wald (1999), Kate DiCamillos Despereaux. Von einem der auszog, das Fürchten zu verlernen (The Tale of Despereaux, engl. 2003; dt. 2005). Zahlreiche Werke spielen mit Motiven und Figuren aus bekannten Märchen, wie bereits Gianni Rodari in seinen Gutenachtgeschichten am Telefon (Favole al telefono, ital. 1962; dt. 1964) (zum Nachwirken seiner phantasievollen Verfahren vgl. Bravi 2014). Die märchenmodifizierenden Abenteuer der Drillinge in Roser Capdevilas Büchern Les tres bessones/Las tres mellizas (1983) wurden auch als Zeichentrickserie produziert, feministische Werke aktivieren die passiven Märchenprotagonistinnen (Carmen Martín Gaite Rotkäppchen in Manhattan [Caperucita en Manhattan, span. 1989; dt. 1990]). Die kanonischen Versionen der
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Brüder Grimm und die ehrwürdigen Autoren selbst erfahren radikale Neuinterpretationen (Christoph Marzi Grimm [2010], Funkes Reckless-Trilogie [2012– 2015], Karen Duve Grrrimm [2012]) oder illustr(iert)e Reimporte (Philip Pullman Grimms Märchen [Grimm Tales. For young and old, engl. 2012; dt. 2013]). In den 1960er und 1970er Jahren erschienen zahlreiche sozialkritische Märchenparodien (Hans Traxler Die Wahrheit über Hänsel und Gretel [1963], Iring Fetscher Wer hat Dornröschen wachgeküßt? [1972]). Italo Calvinos vielschichtige Trilogie Unsere Vorfahren (I nostri antenati, ital. 1952–1959; dt. 1957–1985) verbindet Märchenelemente mit philosophischen Überlegungen, moderner Mythenrevision und Gesellschaftskritik. Märchenelemente finden schließlich Eingang in die Fantasyliteratur (Michael Ende Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer [1960], bekannt auch als FernsehMarionettentheater der Augsburger Puppenkiste und verfilmt von Dennis Gansel [2018], Die unendliche Geschichte [1979], Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch [1989], Krüss Timm Thaler oder das verkaufte Lachen [1962], Hans Bemmann Stein und Flöte [1983], Rowlings ›unendliche‹ Harry Potter-Serie, Eoin Colfers wilde Genremix-Serie Artemis Fowl [engl.; dt. 2001–2012], Funkes Tinten-Trilogie [2003– 2007] und nicht zuletzt die Zamonien-Welt von Walter Moers in Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär [1999]). Die seit 2008 von der ARD produzierte Reihe Sechs auf einen Streich und die in loserer Folge seit 2005 im Auftrag des ZDF gedrehten Märchenperlen stellen, neben parodierenden Formaten der Privatsender, ein umfangreiches deutsches Korpus neuer Märchenfilme bereit, das an die reiche DDR-Tradition der DEFAMärchenfilme anknüpft, während Hollywood in letzter Zeit Disney-Zeichentrickklassiker neu als Realfilme produziert (Cinderella [Branagh 2015], Beauty and the Beast [Condon 2017], ähnlich CGI-lastig auch die deutsch-französische Produktion La belle et la bête [Gans 2014]), dabei teilweise neu perspektiviert (Mirror Mirror [Singh 2012], Maleficent [Stromberg 2014]), ins Serienformat überführt (Grimm [2011– 2015] und Once upon a time [2011–2014]) oder dem Actiongenre assimiliert (Snow White and the Huntsman [Sanders 2012], Hansel & Gretel: Witch Hunters [Wirkola 2013]). Die Transformationen verschonen auch nicht die romantischen Märchenbrüder Grimm (The Brothers Grimm [Gilliam 2005]), deren Versionen ja überwiegend die Grundlage heutiger Bearbeitungen bilden, während Rückgriffe auf andere Märchensammlungen seltener sind (Matteo Garrone Il racconto dei racconti – Tale of Tales [2015] nach Basi-
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le). Ein interessantes Phänomen ist die ›Disneyfikation‹ alter europäischer Märchenfiguren, -themen und -motive, die dazu führt, dass weltweit zahlreiche Kinder und Erwachsene die Märchenklassiker zuerst als Disneyfilm kennengelernt haben und die älteren, zum Teil bekanntlich deutlich archaischeren Fassungen allenfalls sekundär rezipieren, was sogar auf Regisseure innovativer Märchenfilme zutrifft (Blancanieves [Berger 2012]). Die rezeptionslenkende Wirkung derart globaler Homologisierungen ist jedenfalls nicht zu unterschätzen, auch wenn es selbst in den USA natürlich auch parodistische Gegenentwürfe gibt (die Shrek-Filmreihe [2001–2010], Die Rotkäppchenverschwörung [Hoodwinked! Edwards 2009]). Aus Märchen werden in neueren Filmen auch einzelne Motive isoliert und mit Mythenelementen zu Fantasyfilmen kombiniert (Pans Labyrinth, El laberinto del fauno [Toro 2006]). Analog fungieren nationale Mythen (vgl. Tabbert 1991, 117–129) sowie Mythen der Antike als Steinbruch für neuere mythenhaltige Jugendbücher und -filme (Rick Riordans Percy Jackson-Reihe [engl. 2005– 2009; dt. 2006–2011, Verfilmungen 2010 und 2012], ferner Helden des Olymp [The Heroes of Olympus, engl. 2010–2014; dt. 2012–2015] und die ägyptisch inspirierten Kane-Chronicles [engl. 2010–2012; dt. 2011– 2013]), in denen männliche Helden wie Herkules und Perseus dominieren, während die Adaption weiblicher Figuren wie Helena (beispielsweise in Josephine Angelinis Starcrossed-Trilogie [engl.; dt. 2011–2013]) seltener zu verzeichnen ist (vgl. zur Mythenrezeption in der KJL Janka/Stierstorfer 2017). Die antike Mythologie findet sich ebenfalls in Sachbüchern altersgemäß präsentiert sowie in moderner Bearbeitung als Radioprogramm und erfolgreiches Hörbuch umgesetzt (Dimiter Inkiow Griechische Sagen und Fabeln [Igel Records 2001–2002]). In literarischen Werken und in Filmen wird sie auch verbreitet mit anderen Elementen, z. B. mittelalterlichen Kolorits, zum Fantasygenre eingeschmolzen (wie die nordische Mythologie in den – auch erfolgreich verfilmten – Romanen J. R. R. Tolkiens Der Hobbit [The Hobbit or There and Back Again, engl. 1937; dt. 1998], Der Herr der Ringe [The Lord of the Rings, engl. 1954–1955; dt. 1991]). Natur, Umwelt Mit Themen wie Natur und Umwelt korrelieren Problemkomplexe, die oft über die zwischenmenschliche Dimension hinausweisen und auf aktuelle ökologische Fragestellungen und Krisen zwischen Mensch
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bzw. Tier und unbelebter Umwelt rekurrieren. Kinderliterarische Werke gerade für jüngere Leser leisten hierzu einen Beitrag, indem sie alltagsnahe Themenfelder wie Haus- bzw. Nutztiere (z. B. Tiere und Leben auf dem Bauernhof, Pferde, Hunde, Katzen), Tiere im Zoo, Tiere und Pflanzen des Waldes oder des Gartens, Insekten, die Flora und Fauna des Meeres und Strandes etc. umkreisen; ein permanentes Faszinosum bieten zudem Rekonstruktionen urzeitlichen Lebens am Beispiel von Dinosauriern (In einem Land vor unserer Zeit [1988–2016, Zeichentrickfilm mit zahlreichen Fortsetzungen und Fernsehserie, dt. Erstausstrahlung KiKa 2008], die Filmreihe Jurassic Park [1993–2018]). Vorwiegend rezipiert von Mädchen, florieren Pferdeabenteuer (Lena Schmidbauer/Kristina Magdalena Henn Ostwind, zuerst als Drehbuch 2013, Fortsetzungen als Roman 2014 und Filme 2015, 2017, 2019). Auch der Zyklus der Jahreszeiten wird mit Vorliebe präsentiert und stattet Vorschulkinder mit biologischen Sachinformationen zum Wachstum von Pflanzen und Tieren, zur saisonalen Ernte und zum vielfältigen Wandel der Natur im Jahreskreis aus (Frédéric Clément Metamorphosen. Verwandlungskünstler in der Natur [Métamorphoses, franz. 2015; dt. 2016]). Unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung von Heimat ergeben sich in der KJL seit 1945 zudem zahlreiche Überschneidungen mit regionalen GroßstadtLand-Erfahrungen, mit Flucht und Vertreibung, Heimweh etc. (vgl. Launer 2000). Im Laufe der Zeit kristallisieren sich neben der ökologischen Aufklärung auch realistische »Texte zur ethischen Fundierung umweltschonenden Verhaltens« (Lindenpütz 2002, 732) heraus, die problemorientierte Fragestellungen zu Natur-, Tier- und Umweltschutz aufwerfen, z. B. in Form von Umwelt-Krimis (Carl Hiaasen Eulen [Hoot, engl. 2002; dt. 2003]), oder die »problematische Lage von Kindern in der modernen (großstädtischen) Gesellschaft« thematisieren (vgl. Weinmann 2012, 29). Eine Konjunktur erlebt die »ökologische KJL« in Westdeutschland in den 1980er Jahren in allen Gattungen (vgl. Lindenpütz 2002, 728–730), zusätzlich befeuert durch die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, in deren Folge die Debatte um Atomindustrie und Energiegewinnung, zum Teil mit drastischen Weltuntergangsszenarien, kritisch Einzug in die KJL hält (Raymond Briggs Strahlende Zeiten [When the Wind Blows, engl. 1982; dt. 1983], Pausewang Die Wolke [1987; Schnitzler 2006]). Umweltethische Werke weichen mittlerweile zunehmend einer postmodernen Skepsis, Resignation oder Ironie angesichts der ökologischen Krise (vgl. Lindenpütz 2002, 732).
Gesellschaft Wie sich exemplarisch anhand der Atomkraft-Debatte im Kontext mit politischen Konflikten wie dem Wettrüsten im Kalten Krieg ablesen lässt, bilden ökologische Themen oftmals eine Schnittmenge mit gesellschaftlichen Diskussionsfeldern. Problemorientierte Motive und Themen halten insbesondere nach dem sozialpolitischen Umbruch infolge der 1968er-Bewegung Einzug in die KJL (vgl. Weinmann 2012, 31), wo sie einer dauerhaften Revision unterzogen werden. Hierzu gehören u. v. a. die Arbeits- und Berufswelt sowie Arbeitslosigkeit, der Umgang mit Zeit und Geld (Ende Momo [1973]), Armut und Obdachlosigkeit, Kriminalität und politisch motivierter Terrorismus, Migration und Identitätsfindung (Azouz Begag Aber die Erde ist rund [La Force du berger, franz. 1991; dt. 1993]) sowie Integration (Hans-Georg Noack Benvenuto heißt willkommen [1973], mehrsprachige KJL im Allgemeinen) bzw. Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit in modernen plurikulturellen Gesellschaften (Harper Lee Wer die Nachtigall stört [To Kill A Mockingbird, engl. 1960; dt. 1962], Renate Welsh Ülkü, das fremde Mädchen [1970], Nasrin Siege Shirin [1996]); weiterhin globale Herausforderungen im Zusammenhang mit der sogenannten Dritten Welt (vgl. Schär 2002; Weinkauff 2006, 232–256), mit Hunger und Konsumkritik, Krieg und Rassismus bzw. Apartheid (Pausewang Frieden kommt nicht von allein [1983], Linzi Glass Im Jahr des Honigkuckucks [The Year The Gypsies Came, engl. 2006; dt. 2010]), Mädchenhandel und Prostitution (Patricia McCormick Verkauft [Sold, engl. 2006; dt. 2008]). Thematisiert wird schließlich das Internet sowie vielfältige durch mediale Kommunikation und virtuelle Realität aufgeworfene Fragestellungen (Computerkrimis von Andreas Schlüter Level 4 [1994–2006], Chris Westwood Endstation Alphazone [Virtual World, engl. 1997; dt. 1999], Mariah Fredericks Alles nur ein Spiel? [2008], Daniel Höra Auf dich abgesehen [2015]). Geschichte und Zeitgeschichte Geschichtliche Themen haben ihre Konjunkturen. Gerade in politisch brisanten Zeiten weichen Autoren auf historische Sujets aus, wie die frühen Romane von Hans Baumann zeigen (Der Sohn des Columbus [1951], Ich zog mit Hannibal [1960]). Historische Erzählliteratur umkreist bevorzugt geschichtlich entferntere Kulturen und Epochen, in welche entweder charakteristische Abenteuer und biographisch über-
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lieferte wie fiktive Figurenschicksale eingebettet sind oder um deren archäologische Aufspürung und Erforschung sich die erzählte Welt dreht. Als beliebte Hintergrundmotive bzw. Schauplätze des Geschehens dienen nicht nur das Alte Ägypten, das Griechische Altertum und die Römische Antike (vgl. Weinkauff 2006, 533–547) mit ihren jeweiligen Götter- und Heldensagen, sondern auch die Religions- und Kirchengeschichte (vgl. ebd., 547–550), ferner die Zeit der Wikinger, das Ritter- und Königtum im Mittelalter, oft sagenhaft kontaminiert (Auguste Lechner König Artus [1987], Willi Fährmann König Artus und sein Zauberer [2004], diverse Adaptationen der Figur Robin Hood, die auf Howard Pyles klassische illustrierte Fassung von 1883 rekurrieren); auch das Goldene Zeitalter der Seeräuber und Freibeuter (Till Lenecke Auf Kaperfahrt mit Störtebeker [2016]), die Hanse und Handelsstraßen in den Orient (Adaptationen der Figur Marco Polo, Martín Blasco Der Weg nach al-Andalus [2014]), der Dreißigjährige Krieg (Tilman Röhrig In dreihundert Jahren vielleicht [1983]), die Entdeckung und Kolonisierung der ›Neuen Welt‹ mit Cowboy-, Goldgräber- und Indianerabenteuern aller Art (vgl. ebd., 169–231) einschließlich der Auseinandersetzung mit bedrohten indigenen Völkern. Historische Themen werden nicht selten durch phantastische Zeitreisen angebahnt (Boie Alhambra [2007]) oder durch Glossare mit Sachinformationen ergänzt, wie diverse Buchreihen für Leseanfänger belegen (z. B. Mary Pope Osborne Das magische Baumhaus [Magic Tree House, engl. seit 1992; dt. seit 2000], Fabian Lenk Die Zeitdetektive [seit 2006]). Hingewiesen sei auch auf Ernst Gombrichs in erster Fassung bereits 1935 erschienene Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser, eine der letzten Auflagen (2005) des unterhaltsamen Sachbuchs wurde auch als Hörbuch eingesprochen. Dass historisches Geschehen durch seine gleichzeitige Distanz von der Gegenwart und seine Nähe zu ihr als erzählenswertes »Abenteuer« (ebd., 31) ebenso wie auch als Lehrstück aufgefasst werden kann, trägt wesentlich dazu bei, dass Geschichte und Zeitgeschichte mächtige Themenkomplexe bilden, deren sich die KJL nach 1945 kontinuierlich bedient. Eine herausragende Rolle spielt dabei die Bewältigung der deutschen Geschichte im Umkreis des Nationalsozialismus. Sie bleibt nicht etwa auf die Nachkriegsjahre beschränkt, sondern hält in der KJL im Zuge der kollektiven Erinnerungskultur mindestens so lange an, wie Autoren selbst noch als »Zeitzeugen der schwersten Verbrechen und Katastrophen in den Annalen der Mensch-
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heitsgeschichte [aufzutreten vermögen und die erlebte,] lebendige Erinnerung [noch nicht, wie es derzeit geschieht, dem] Untergang« preisgegeben ist (Assmann 2005, 11). Die Verarbeitung traumatischer Geschichtserfahrungen umfasst mithin nicht allein den vordergründigen Rückblick auf Kriegsalltag, Zerstörung und Wiederaufbau, sondern setzt sich schon kurz nach Kriegsende intensiv mit moralisch-ethischen Gewissensfragen im Dritten Reich auseinander. Mit der Zugänglichmachung des erschütternden Tagebuchs der Anne Frank (Het Achterhuis, niederl. 1947; dt. 1950) durch ihren Vater findet die authentische Darstellung von Antisemitismus, Judenverfolgung und Holocaust explizit Eingang in die Kinder- und Jugendlektüre. Wie verdrängungsgefährdet und tabubehaftet sich die kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Herrschaftsideologie jedoch auch im folgenden Jahrzehnt noch darstellt, erweist Heinrich Maria Denneborgs Roman Jan und das Wildpferd (1957) über das Recht des Stärkeren, den die Jury des Deutschen Jugendbuchpreises 1958 lediglich als humorvolles Tierbuch wahrnahm (vgl. Weinmann 2012, 29). Dem entspricht auch eine zum Teil bewusste Politikabstinenz der deutschen KJL zwischen 1945 und 1949 (vgl. Steinlein 2008, 316–319). Weder die unmittelbar betroffene noch die jüngere bzw. nachgeborene Schriftstellergeneration lässt jedoch letztendlich vollständig davon ab, die Erinnerung an die tiefe historische Krise wachzuhalten, deren schwere moralische Verfehlungen zu hinterfragen und so neuen sozialen und politischen Radikalisierungen vorzubeugen (Hans Peter Richter Damals war es Friedrich [1961], Judith Kerr Als Hitler das rosa Kaninchen stahl [When Hitler Stole Pink Rabbit, engl. 1971; dt. 1973], (Verfilmung 1978 von Ilse Hofmann), Warten bis der Frieden kommt [The Other Way Round, engl.; dt. 1975], Eine Art Familientreffen [A Small Person Far Away, engl. 1978; dt. 1979], Pausewang Die Meute [2006], Boyne Der Junge im gestreiften Pyjama [The Boy in the Striped Pyjamas, engl. 2006; dt. 2007]). Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wird auch die jüngere Zeitgeschichte von der KJL thematisiert und als gesellschaftliche Kulisse verwendet. Nationalpolitische Phänomene und Zäsuren wie Mauerbau, Mauerfall und Deutsche Einheit stehen neben realistischen Darstellungen des Alltags, Westfluchtszenarien und politischen Konflikten im sozialistischen Regime der DDR (Grit Poppe Weggesperrt [2009]) bzw. im Zuge von Linksradikalisierung und RAF-Terrorismus (Werner J. Egli Kämpfe oder stirb auf Raten [2008])
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
oder Neofaschismus (Paul Zelik Friß und stirb trotzdem [1997]). Die Geschichtsdarstellung in der KJL der DDR selbst hebt sich von westdeutschen historischen Werken vor allem durch ihre oftmals regimeaffirmative, teleologische Tendenz ab (vgl. Richter 2012, 75). In jüngerer Zeit nehmen unter den zeitgeschichtlichen Themen brisante Fragen der Gegenwart zu, wie Menschenrechte und Nationalerziehung (Peter Zolling Das Grundgesetz [2009]), Migration (vgl. am Beispiel der jüngeren italienischen KJL Wölfel 2014), Multikulturalität (vgl. ausführlich Weinkauff 2002, 2006) und islamistischer Terrorismus (Matt Whyman Inside the Cage [engl. 2007; dt. 2009], Anna Kuschnarowa Djihad Paradise [2013]). Krieg, Flucht, Vertreibung Die Themenfelder Krieg, Flucht und Vertreibung, in Zusammenhang mit Ressourcenknappheit, Armut und Wiederaufbau, spielen zunächst im geteilten Deutschland der Nachkriegsjahre eine nicht unbedeutende Rolle, wobei zwischen der Bundesrepublik und der DDR erhebliche Unterschiede bestehen. Sie finden jedoch auch in jüngerer Zeit wachsenden Niederschlag, proportional zur differenzierten Wahrnehmung einer internationalen, europäischen oder globalen Perspektive, in der die geschilderte Umgebung immer wieder mit anderen Lebens- und Sichtweisen kontrastiert wird. Nach Kriegsende stehen erfahrungsbasiert zunächst zwei motivische Felder im Zentrum der Kriegsthematik: Geht es zum einen um Vertreibung bzw. Flucht (Fährmann Das Jahr der Wölfe [1962]) und Ankunft in einer neuen Heimat (Margot Benary-Isbert Die Arche Noah [1948], Lise Gast Die Haimonskinder [1950]), in der DDR verschärft durch die Problematik des Systemwandels (Erwin Strittmatter Tinko [1954]), so wird zum anderen in der kinderliterarisch kurzen Phase der sogenannten Trümmerliteratur das (Über-) Leben und die Kriegskindheit in Trümmerstädten geschildert (Wolfgang Borchert Nachts schlafen die Ratten doch [1947], Robert Neumann Die Kinder von Wien [1948], Ilse Aichinger Die größere Hoffnung [1948], Willi Reschke Die Trümmerkolonne [1949]). Die Aufbaubande nach dem gleichnamigen Roman (1948) von Walther Pollatschek birgt dabei den Keim einer neuen, besseren Nachkriegsgesellschaft (vgl. Weinmann 2012, 16; Steinlein 2008, 319), wie sie fortan als Garant für den Weltfrieden benötigt wird (Kästner Die Konferenz der Tiere [1949]). Die Kindheit im oder nach dem Krieg bzw. vor dessen Hintergrund be-
schäftigt viele Autoren der Zeit und bleibt bis in die Gegenwart ein produktives Themenfeld – wie die anhaltende Aktualität von Louis Pergauds Roman Krieg der Knöpfe (La guerre des boutons) von 1912 in den vier Nachkriegs-Verfilmungen 1962, 1994 und zweimal 2011 zeigt. Mit dem Generationswechsel rund drei Jahrzehnte später hat die Schilderung von Krieg Anteil an einer literarischen Erinnerungskultur (Nöstlinger Maikäfer, flieg! [1973], Klaus Kordon Ein Trümmersommer [1982], Maar Kartoffelkäferzeiten [1990], Dagmar Chidolue Zuckerbrot und Maggisuppe [2002]) oder erscheint in historisierter Weise (Welsh Johanna [1979], Dieda oder Das fremde Kind [2002], Michael Morpurgo Warten auf Anya [2010]). Zugleich rücken auch jüngere Kriege der Weltgeschichte ins Blickfeld, immer häufiger in kausaler Verschränkung mit der Auseinandersetzung mit Flucht, Heimatverlust und Migration (Gill Lewis Der Klang der Freiheit [A Story Like the Wind, engl. 2017; dt. 2018]). Sachthemen Eine ganze Reihe konstanter und sich mit dem jeweiligen Forschungsstand weiterentwickelnder Sachthemen ist in der KJL für alle Altersgruppen präsent. Sie werden in unterschiedlichem Maße mit bildungsrelevanten Inhalten und Sachinformationen in Form naturwissenschaftlicher oder kulturgeschichtlicher Erläuterungen verknüpft. Die Bandbreite ihrer medialen Präsentation reicht dabei von Bilderbüchern ohne oder mit Text für die jüngste Altersklasse (ein Klassiker ist Eric Carles Die kleine Raupe Nimmersatt [The Very Hungry Caterpillar, engl. 1969; dt. 1981]) über detailreich entfaltete und reich illustrierte Kinderund Jugendsachbücher (Buchreihen Wieso? Weshalb? Warum?, Kinder-Brockhaus, WAS ist WAS? u. v. a.), die z. T. interaktiv konzipiert sind (Buchreihe tiptoi seit 2015 mit Digitalstift, auch Lernspiele) bis zu Hörspiel, Fernsehsendung (Die Sendung mit der Maus, WDR/ARD seit 1971) oder Film. Rekurrente Themenschwerpunkte bilden vor allem (Natur)-Wissenschaft und Technik, Natur-, Erd- und Länderkunde. Sie überschneiden sich je nach Adressatenkreis oftmals mit dem schulischen Fächerkanon, so insbesondere in Form von biologischen, historischen und geographischen Werken der Wissensvermittlung, weniger im musischen Bereich. Behandelt werden je nach Rezipienteninteresse Fahrzeuge aller Art, z. B. Eisenbahn (Krüss Henriette Bimmelbahn [1958]), Schiff, Flugzeug und Raumschiff, Berufsfelder und -stätten wie Feuerwehr, Polizei, Baustelle (Bob der Baumeister
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[dt. Erstausstrahlung 1999]) und Bauernhof, bestimmte empirische oder imaginäre Forscher, Erfinder und Entdecker sowie Fragen rund um Wetter, Klima und Weltraum (Lucy und Stephen Hawking Die unglaubliche Reise ins Universum [George’s Cosmic Treasure Hunt, engl.; dt. 2009]). Neben archäologischen (C. W. Ceram Götter, Gräber und Gelehrte [1949]) oder astronautischen Ereignissen, etwa der Landung auf dem Mond, oder realen wie fiktiven technischen Errungenschaften, z. B. künstlicher Intelligenz (Bernard Beckett Das neue Buch Genesis [Genesis, engl. 2006; dt. 2009]), finden sich Viten besonderer Wissenschaftlerpersönlichkeiten (z. B. Leonardo da Vinci, Galileo Galilei, Albert Einstein), denen im Sachbereich von Musik, Kunst und Literatur Künstlerbiographien exzeptioneller Erscheinungen der Kulturgeschichte (z. B. Mozart, Beethoven, Monet, Dalí, Goethe, Shakespeare) sowie altersgemäße Darstellungen entsprechen (Christina Björk Linnea im Garten des Malers [Linnea i Målarens Trãdgård, schwed. 1985; dt. 1987]). Philosophie, Ethik und Religion Auch philosophische und ethische Fragen können in kinder- und jugendliterarischen Werken und Sachbüchern vertieft werden, die ihrem Lesepublikum gesellschaftliche Missstände und humanitäre Probleme sowie globale Überlegungen zur Zukunftsgestaltung altersgerecht und anhand exemplarischer Figurenschicksale nahebringen (Umberto Eco Geschichten für aufgeweckte Kinder [Tre Racconti, ital. 2004; dt. 2012], Jostein Gaarder 2084. Noras Welt [Anna – En fabel om klodens klima og miljø, norw.; dt. 2013]). Dafür bilden Science-Fiction-Visionen (Mary E. Pearson ZweiundDieselbe [The Adoration of Jenna Fox, engl. 2008; dt. 2009]) und Abenteuer in Fantasy- oder utopischen Welten (beispielsweise Yves Grevets dystopische Jugendromantrilogie Méto [franz. 2008– 2010; dt. 2012–2013]) mit übernatürlichen, magischen Elementen (im Dialog zwischen Kind und Tier bei Jutta Richter Die Katze [2006]) ebenso eine Kulisse wie die Verortung in einer ›realen‹ geschichtlichen oder gegenwärtigen Welt (vgl. Rank 2002). Der bekannteste Text in diesem Themenfeld ist sicherlich Gaarders Roman Sophies Welt (Sofies verden, norw. 1991; dt. 1993, Verfilmung 1999 von Erik Gustavson), der international zum Bestseller wurde und weitere ähnliche Werke angeregt hat (Karl-Josef Durwen Im Spiegel der Möglichkeiten [2001], Nora K. & Vittorio Hösle Das Café der toten Philosophen [2001], die
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Buchreihe Les petits Platons des gleichnamigen Verlags seit 2010, deren mittlerweile 27 Bände seit 2014 auch auf Deutsch bei Diaphanes unter dem Titel Platon & Co. erscheinen; vgl. Schmerheim 2018). Als dessen Pendant im Themenbereich der Religion kann Catherine Cléments erfolgreicher Jugendroman Theos Reise (Le Voyage de Théo, franz. 1997; dt. 1998, Fortsetzung mit Umweltschutzthematik franz. 2004; dt. 2006) gelten, der unterhaltsam in die Weltreligionen einführt, ferner Eric-Emmanuel Schmitts Religionenzyklus (Milarepa [franz. 1997; dt. 2006], Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran [Monsieur Ibrahim et les Fleurs du Coran, franz. 2001; dt. 2002, 2003 verfilmt von François Dupeyron], Oskar und die Dame in Rosa [Oscar et la Dame rose, franz. 2002; dt. 2003, 2009 von Schmitt verfilmt], Das Kind von Noah [L ’enfant de Noë, franz.; dt. 2004], Vom Sumo, der nicht dick werden konnte [Le Sumo qui ne pouvait pas grossir, franz.; dt. 2009], Die zehn Kinder, die Frau Ming nie hatte [Les Dix Enfants que madame Ming n’a jamais eus, franz. 2012; dt. 2014]). Religiöse Grundfragen können auch in phantastischen Welten verhandelt werden, wie die Romanserie Die Chroniken von Narnia (The Chronicles of Narnia, engl. 1950– 1956; dt. 1977) von C. S. Lewis zeigt (Verfilmungen 2005–2010). Kinderliteratur mit unaufdringlichen religiösen Botschaften schreibt auch Lene Mayer-Skumanz (z. B. Die kleine Eule [1998]). Problematische Aspekte von Religion werden dabei nicht ausgespart, beispielsweise Sektenproblematik (Fleur Beale Scherbenparadies [I am not Esther, engl. 1998; dt. 2008]) oder religiöser Fanatismus. Damit einher geht das Interesse der KJL an fremden Kulturen, an bi- oder plurikulturellen Begegnungen, an Tradition, Brauchtum und religiöser Praxis, interkultureller und interreligiöser Erziehung (vgl. Ossowski 2000, 175–195). Derlei Fragen haben nicht erst die Migrationsbewegungen der letzten Jahre aufgeworfen; sie spielen u. a. in der Auseinandersetzung mit der Dritten Welt und den daraus resultierenden Aufgaben vermehrt eine Rolle und beeinflussen auch die kinder- und jugendliterarische Vermittlungs- und Übersetzungsdiskussion (vgl. Seifert/Weinkauff 2006, 794–804, 1006– 1014). Im Kontext von Friedenserziehung und Völkerverständigung nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und den damit zusammenhängenden ethischen Grundfragen (vgl. Weinkauff/Glasenapp 2010, 192–195) ist auch die Gründung der Internationalen Jugendbibliothek in München (1949) und des International Board on Books for Young People in Basel (1953) zu sehen.
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
Primärliteratur
Janosch: Oh, wie schön ist Panama! Weinheim 1978.
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Roland Ißler / Ludger Scherer
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
35 Intertextualität, Intermedialität, Transmedialität 35.1 Einleitung Im Fokus dieses Artikels steht die definitorische Bestimmung der drei Konzepte Intertextualität, Intermedialität und Transmedialität für den Bereich der Kinder- und Jugendmedien. Was sich an dieser Stelle als (scheinbar) geradliniges Unterfangen präsentiert, wird durch einen Aspekt erschwert, den Werner Wolf folgendermaßen markiert: »Begriffe tendieren in den Geisteswissenschaften zur Instabilität und unterliegen weit mehr einer von aktuellen Trends und Moden diktierten Neigung zur Neu- und Umbildung als in den Naturwissenschaften« (Wolf 2014, 11). Der Forschungsdiskurs zum Themenkomplex Intertextualität, Intermedialität und Transmedialität lässt sich dabei nicht nur als durch die hier zitierten »Neu- und Umbildung[en]« (ebd.) geprägt beschreiben, sondern zudem durch das wiederholte Ausstellen eben dieser: Sei es Graham Allen, der in seinem Band zur Intertextualität moniert, dass Intertextualität »one of the most commonly used and misused terms in contemporary critical vocabulary« (Allen 2011, 2) sei oder Ulrich Broich und Manfred Pfister, die postulieren, dass »[j]e mehr ein Begriff kursiert, desto schillernder wird meist sein Inhalt« (Broich/Pfister 1985a, IX). Besagtes ›Schillern‹ sucht dieser Beitrag für den Bereich der Kinder- und Jugendmedien einzudämmen. Dazu werden zunächst die Begriffe ›Intertextualität‹, ›Intermedialität‹ und ›Transmedialität‹ jeweils kurz definiert, bevor ein Überblick über die forschungsgeschichtliche Entwicklung und den Forschungsstand die theoretische Einführung abschließt. Anschließend werden die drei Konzepte anhand von exemplarischen Analysen des Harry Potter-Universums jeweils zur Anwendung gebracht.
35.2 Intertextualität Begriffsdefinitionen Trotz der definitorischen Schwierigkeiten lässt sich Intertextualität zunächst mit Pfister als »die Theorie der Beziehungen zwischen Texten« deklarieren (Pfister 1985, 11). Diese Setzung ist für Pfister »unumstritten; umstritten jedoch ist, welche Arten von Beziehungen darunter subsumiert werden sollen. Und je nachdem, wie viel man darunter subsumiert, erscheint Inter-
textualität entweder als eine Eigenschaft von Texten allgemein oder als eine spezifische Eigenschaft bestimmter Texte oder Textklassen.« (Ebd.) Diese Aussage verweist nicht allein auf ein unterschiedliches Verständnis von Intertextualität, sondern impliziert auch unterschiedliche Textverständnisse, in deren Kontext intertextuelle Beziehungen wiederum eine unterschiedliche Bedeutung annehmen. So konstituiert sich für Jacques Derrida ein Text überhaupt erst über die Verbindungen zu anderen Texten: »Das, was ich also Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere.« (Derrida 1990, 20–21) Derridas Textverständnis kann als kennzeichnend für das von Pfister ausgemachte weite Verständnis von Intertex tualität etabliert werden. Gleichsam macht die Weite dieses Textbegriffes es schwierig, sich analytisch mit den Beziehungen zwischen Texten auseinanderzusetzen. Dem gegenüber lässt sich ein anderer, genuin literarischer Textbegriff etablieren, der ebenfalls intertextuelle Beziehungen und ihre Bedeutungen ausstellt, Texte dennoch als abgrenzbare Phänomene bestimmt bzw. als »explizite, begrenzte, strukturierte und fixierte Zeichenmenge, bestehend aus externen und internen Beziehungen.« (Knobloch 1990, 76) Historische Entwicklungen Entlang dieser beiden Richtungen soll der Forschungsdiskurs chronologisch nachgezeichnet werden. Die Intertextualitätstheorie hat zwar ihren Ursprung in der linguistischen Theorie des 20. Jahrhunderts, stellt jedoch kein modernes Phänomen dar, sondern findet sich bereits in der antiken Rhetorik: Sichtbar machen diesen Umstand bspw. Frauke Berndt und Lily TongerErk mit ihrer Begriffssammlung zum Komplex Intertextualität, in welchem sich auch Begriffe der Rhetorik oder Ästhetik finden wie bspw.: »Zitat, Anspielung (Allusion), Reminiszenz, Anagramm, Syllepse, Repetitio, Replik, Hyperbel« (Berndt/Tonger-Erk 2013, 7). Im 20. Jahrhundert bestimmt vor allem Julia Kristeva, die den Begriff 1967 in ihrer Arbeit Wort, Dialog und Roman bei Bachtin etablierte, die Entwicklung. Kristevas Verständnis von Intertextualität lässt sich als Verbindung von Michael Bachtins Theorie der Dialogizität und Ferdinand de Saussures bi-codalem Zeichenbegriff verstehen (vgl. Allen 2011, 11). Bachtin gründet das Konzept der Dialogizität auf der Verankerung sprachlicher Äußerungen in einen jeweils spezifischen Verbund aus den Aspekten »Sprecher«, »Redesi-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_35
35 Intertextualität, Intermedialität, Transmedialität
tuation«, »sozialer Kontext« und »ideologische Grundhaltungen« (Berndt/Tonger-Erk 2013, 19), die in dialogischer Wechselbeziehung zueinander stehen und das jeweilige Verständnis von sprachlichen Äußerungen oder Worten beeinflussen (vgl. ebd.). Mit dieser Bestimmung des »dialogischen Wortes« (ebd., 34), entwickelt Bachtin ein Modell, »in dem die literarische Struktur nicht ist, sondern sich erst aus der Beziehung zu einer anderen Struktur herstellt« (Kristeva 1996, 335). Kristeva wiederum weitet das Konzept des »dialogischen Wortes« (Berndt/Tonger-Erk 2013, 34) auf den Umgang mit Texten aus und gründet darauf das Konzept der Intertextualität (vgl. ebd.). Diese Übernahme und Weiterentwicklung lässt sich als intertextuelle Spur in Kristevas Ausführungen nachlesen. So schreibt sie: »[D]as Wort (der Text) ist Überschneidung von Wörtern (von Texten), in der sich zumindest ein anderes Wort (ein anderer Text) lesen läßt [sic]« (Kristeva 1996, 337). Kristeva rückt damit »den Produktionsprozeß [sic] literarischer Werke bzw. sprachlicher Produkte überhaupt« (Schmitz 1998, 39) in den Fokus, »ungeachtet der einzelnen wirksam werdenden Quellen« (ebd.). Im Blickpunkt stehen demzufolge weniger die einzelnen und aufzuspürenden Quellen, sondern die Tatsache, dass der »poetische Text [...] nur in Reaktion auf andere Texte [entstehe], die er jedoch verändere« (ebd., 40). Daraus ergibt sich das theoretische Potential von Kristevas Konzept, welches dieses »von der klassischen Zitat-, Allusions- oder Motivforschung [...] unterscheidet« (Ternès 2016, 18). Dieses Potential nimmt wiederum auf weitere poststrukturalistische Theorien und Verständnisse Einfluss, wie bspw. Roland Barthes’ Aussagen zum Tod des Autors deutlich machen, in denen er ebenfalls den Text als »ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur« (Barthes 2000, 190) bestimmt. Gerade in diesem veränderten Verständnis von Text, Werk, der Rolle des Autors und des Lesenden offenbart sich für Allen die Bedeutung eines kultursemiotischen Intertextualitätsbegriffs: »Without a working knowledge of intertextual theory and practice, readers are likely to retain traditional notions of writing and reading, notions which have been radically challenged since the 1960s« (Allen 2011, 7). Entgegen steht diesem Einfluss des Intertextualitätsbegriffs Kristevas, dass er im Forschungsdiskurs als »[e]ntgrenz[t]« (Rajewsky 2002, 48) beschrieben wird. Als Antwort auf diese Kritik finden sich in den 1980er Jahren eine Vielzahl von Intertextualitätstheorien, die sich als »anwendungsorientiert« (Berndt/ Tonger-Erk 2013, 99) beschreiben lassen und es erlau-
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ben, intertextuelle Bezüge für die konkrete Analyse nutzbar zu machen (vgl. Rajewsky 2002, 48). Als wichtige Vertreter dieser Richtung können Michael Riffaterre, Renate Lachmann, Gérard Genette, Broich und Pfister genannt werden. Im Rahmen ihrer Arbeiten reichern die genannten Literaturtheoretiker den Intertextualitätsbegriff zum einen unterschiedlich methodisch an (vgl. Berndt/Tonger-Erk 2013, 99) und grenzen dessen Zugriff zum anderen ein. Im Fokus soll an dieser Stelle jedoch weniger eine detaillierte Nachzeichnung dieser unterschiedlichen Systematisierungen und Erweiterungen stehen, sondern sich vielmehr Broichs und Pfisters Ansinnen zu eigen gemacht werden, »eine anwendbare Typologie der TextText-Beziehungen [zu] entwickeln, die [...] Literaturwissenschaftler/innen bei der textanalytischen Arbeit hilfreich sein soll.« (Ebd., 145) Als erstes praktisches Unterscheidungskriterium bestimmen Broich und Pfister die Einzel- und Systemreferenz (vgl. Broich/ Pfister 1985b), also die Unterscheidung zwischen »Bezügen zu einem konkreten literarischen Werk und solchen zu Systemen, wie sie Gattungen, Mythen oder Diskurstypen darstellen [...]« (Wicke 2014, 2). Neben dieser zentralen Unterscheidung führen Broich und Pfister zudem die Markiertheit bzw. NichtMarkiertheit (vgl. Broich 1985, 31) und die »qualitative« und »quantitative Intensität« (Pfister 1985, 25) intertextueller Bezüge ein, für die sich wiederum weitere Unterkategorien bestimmen lassen. Zu den qualitativen Kriterien gehören »Referentialität« (ebd., 26), »Kommunikativität« (ebd., 27), »Autoreflexivität« (ebd.), »Strukturalität« (ebd., 28), »Selektivität« (ebd.) und »Dialogizität« (ebd., 29). Auf quantitativer Ebene führen Broich und Pfister »Dichte und Häufigkeit« (ebd., 30) einerseits und »Zahl und Streubreite« (ebd.) andererseits ein. Forschungsstand Die »anwendungsorientiert[en]« (Berndt/Tonger-Erk 2013, 99) Intertextualitätstheorien markieren nach Berndt und Tonger-Erk einen Schlusspunkt im Forschungsdiskurs, da nachfolgende Theorien nicht »wirklich Neues« (ebd.) böten. Allen betont hingegen den Einfluss postmoderner Kulturtheorien (vgl. Allen 2011, 203), aber auch der neuen und digitalen Medien auf das Verständnis von Intertextualität (vgl. ebd., 210). Wenngleich er damit eine terminologische Zusammenführung von Intertextualität und Intermedialität impliziert, hebt er dennoch die fortwährende Forschungsdebatte und ihre Situierung in der aktuellen
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
Medienlandschaft hervor: »Perpetually remodelled and renamed, intertextuality continues to lay its core role in the production and reception of meaning.« (Ebd., 216) Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die Bedeutung intertextueller Bezüge für die Kinder- und Jugendliteratur und die Kinder- und Jugendliteraturforschung bestimmen? Emer O’Sullivan postuliert in diesem Zusammenhang: »In der Kinderliteratur sind die Bezüge zwischen den Texten in der Regel eher oberflächlich, das Spielerische in den Vordergrund stellend; anzutreffen ist eher eine breite, extensive, viele Prätexte verwendende als eine intensive, das Sinnpotential des jeweiligen Bezuges ausschöpfende Intertextualität.« (O’Sullivan 2000, 80)
Darauf bezugnehmend hebt Andreas Wicke zum einen die Bedeutung des intertextuellen Spiels hervor und unterstreicht zum anderen die Vielschichtigkeit intertextueller Bezüge im Kontext des kinder- und jugendliterarischen Erzählens (vgl. Wicke 2014, 3). Er betont darüber hinaus, dass die »Relevanz von Intertextualität in der Kinder- und Jugendliteratur signifikant zugenommen« habe (ebd.). Als zeitliche Zäsur markiert Wicke diesbezüglich das »späte[..] 20. und frühe[..] 21. Jahrhundert« (Wicke 2016), wobei sich diese Zunahme auch im Diskurs der Kinder- und Jugendmedienforschung deutlich niederschlägt. So finden sich in der an der Universität Bielefeld beheimateten KiLiMM-Datenbank zur Kinder- und Jugendliteraturforschung und -didaktik sowie zur Medienforschung und Mediendidaktik seit Ende der 1990er Jahre zahlreiche Arbeiten zu intertextuellen Fragestellungen in den Kinder- und Jugendmedien. Neben Einzelstudien zu aktuellen Werken oder Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur (s. bspw. Heber 2010; Oppermann 2012; Mikota/Pecher 2017) gehören dazu auch Arbeiten, die bestimmte Gattungen (s. bspw. Franz 2016 für die Kinderlyrik) oder Medien (s. bspw. Weinkauff 2006 für das Bilderbuch) gezielt in den Fokus rücken. J. K. Rowlings Heptalogie stellt dabei eine wichtige Bezugsgröße im Forschungsdiskurs dar und soll deshalb für die exemplarische Analyse genutzt werden. Exemplarische Analyse Der von O’Sullivan vorgebrachte Verweis auf die Vielzahl – oder »Dichte« und »Streubreite« (Pfister 1985, 30) von intertextuellen Bezügen lässt sich zunächst auch für Harry Potter (engl. 1997–2007; dt. 1998–
2007) nachweisen (vgl. O’Sullivan 2000, 80). Dafür sprechen bspw. die zahlreichen Publikationen zu diesem Thema. Julia Eccleshare bemüht sich in ihren Ausführungen zu (intertextuellen) Einflüssen in Bezug auf Harry Potter bspw. darum, zahlreiche Quellen aufzuzählen, die Harry Potter als »school story« (Eccle share 2002, 37) markieren – von Enid Blytons Dolly (Malory Towers, engl. 1946–1951; dt. 1966–1967) und Hanni und Nanni (St. Clare’s, engl. 1941–1945; dt. 1965–1967) zu Thomas Hughes’ Tom Browns Schuljahre (Tom Brown’s Schooldays, engl. 1857; dt. 1892) (vgl. ebd., 38) – und geht so weit, Madame Maxime aus Harry Potter und der Feuerkelch (engl.; dt. 2000) als intertextuelle Verkörperung der »ma’m’selles« der Schulgeschichtentradition zu bestimmen (vgl. ebd., 40). Neben diesem ausschließlich figuralen Bezug lässt sich der Einfluss der Schulgeschichte auf Harry Potter jedoch auch strukturell nachweisen und stellt somit eine Systemreferenz im Sinne Broichs und Pfisters dar (vgl. Broich/Pfister 1985b). So ist die Schulgeschichte häufig durch einen festen zeitlichen Rahmen geprägt, der Blytons Dolly als prototypischen Vertreter mit den Harry Potter-Bänden eint. Die einzelnen Bände beginnen jeweils – und dies sogar paratextuell markiert – mit der Rückkehr zur Schule: »Rückkehr nach Möwenfels // ›Die Ferien waren einfach großartig‹, sagte Dolly, als sie in den Wagen ihres Vaters einstieg, der sie in die Burg Möwenfels zurückbringen sollte. ›Aber ich bin froh, dass die Schule wieder beginnt. Acht Wochen war ich nicht mehr dort.‹« (Blyton 2014, Pos. 5) Ähnlich genretypisch ist auch jeweils das Ende der Bände gestaltet, welches mit dem Verlassen der Schule und der Rückkehr ins Elternhaus einhergeht (vgl. ebd., Pos. 1582). Diese zeitliche Struktur und die daran geknüpften inszenierten unterschiedlichen Handlungsräume finden sich ebenso – mit Ausnahme des siebten Bandes – in Harry Potter. Verbunden ist das jährliche Verlassen des Elternhauses oder Tanten- und Onkelhauses im Kontext der Schulgeschichte zudem jeweils mit Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben, die unterschiedlich gefüllt sind und bspw. vom-Freunde-Finden, Sich-in-ungewohnter-Umgebung-Bewähren bis zur ersten Liebe reichen und bei Harry Potter zudem den Kampf gegen Lord Voldemort beinhalten. Über die zeitliche Durchstrukturierung in Verbindung mit der daran geknüpften räumlichen Veränderung werden die unterschiedlichen Herausforderungen als »Folie« (Pfister 1985, 28) – wie Pfister für das qualitative Kriterium »Strukturalität« (ebd.) definiert – in das Genre eingeschrieben und intertextuell unterschied-
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lich inszeniert – ob phantastisch oder psychologisch. Dass sich Harry Potter über diese Referenz zudem selbst wiederum in einen Prätext verwandelt, macht Rainbow Rowells Fangirl (engl. 2013; dt. 2017) deutlich. In diesem Roman begleitet der Lesende die Protagonistin Cather durch ihr erstes Jahr im College und vollzieht nach, wie sie diese Herausforderung vor dem Hintergrund einer sozialen Phobie meistert. Auch Cather ist anders, auserwählt und zudem mit Harry Potter vertraut, womit die Texte nicht nur strukturell als Bezugsquelle dienen, sondern auch explizit als Einzeltext referenziert werden: »It’s like hearing that Harry Potter is gay« (Rowell 2014, 132).
35.3 Intermedialität Begriffsdefinitionen Die begriffliche und forschungsgeschichtliche Einordnung von Intermedialität lässt sich in vielerlei Hinsicht analog zur Beschäftigung mit dem Phänomen Intertextualität fassen. So besteht auch in diesem Kontext nicht immer Einigkeit (vgl. Schmerheim 2012). Für die folgende Auseinandersetzung wird zunächst auf Wolfs »Arbeitsbegriff von ›Intermedialität‹ als Wechselbeziehung und Interaktion zwischen Medien« (Wolf 2014, 12) zurückgegriffen, der an Wolfs Verständnis von Medium als »ein konventionell als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv« (Wolf 2002, 39) anknüpft und ein Medium somit »nicht vorrangig [als] einen bloß technisch-materiell definierten Übertragungska nal von Informationen« (ebd.) definiert. Historische Entwicklungen Ebenso wie für den Bereich der Intertextualität kann zudem auch für Intermedialität geltend gemacht werden, dass der Begriff zwar jüngeren Datums ist, intermediale Phänomene selbst jedoch eine lange Tradition haben, wie Wolf mit Verweis auf das Drama oder die Gesangskunst konstatiert (vgl. Wolf 2005, 256). Klaus Maiwald bestimmt im Kontext eines sehr weiten Intermedialitätsbegriffs sogar bereits Homers Ilias als erstes Beispiel für den Einsatz intermedialer Bezüge (vgl. Maiwald 2019, 3). Joachim Paech markiert die 1990er Jahre als Anfangspunkt, als Beginn des wissenschaftlichen Diskurses zur Intermedialität und die »Beziehung zwischen traditionell künstlerischen und neuen technisch-apparativen Darstellungsformen« (Paech 2014, 46) als wesentlich. Er sieht über den Fokus auf intermediale Fragestellungen eine Leerstelle im litera-
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turwissenschaftlichen Diskurs adressiert: »Die Literaturwissenschaft hat lange erfolgreich ignoriert, daß [sic] ihre Texte gedruckt und in Büchern verkauft und nun auch noch statt gelesen in Filmen, im Fernsehen, Video und auf CD-ROM gesehen (und technisch neu gelesen) werden können. Überlegungen zur Intertextualität und zur Transformation zwischen Typen von Texten und anderen Medien haben auch die Literaturwissenschaft an den Rand der Intermedialität gebracht« (Paech 1998, 14). Paech adressiert die Bedeutung des Mediums für die ästhetische Inszenierung und Formulierung (vgl. ebd., 9), die insbesondere dann sichtbar werde, wenn unterschiedliche Medien zueinander in Differenz gesetzt werden (vgl. ebd.). Deutlich wird daran zudem der interdisziplinäre Charakter intermedialer Fragestellungen. Dem stimmt auch Irina Rajewsky zu, die Intermedialität im Rahmen medientheoretischer, -philosophischer oder -historischer Auseinandersetzungen verortet und das Konzept zudem für die interdisziplinäre Analyse nutzbar zu machen sucht (vgl. Rajewsky 2008, 47–48). Aufgrund dieses Forschungsinteresses finden sich sowohl bei Rajewsky als auch bei Wolf Kategorien (vgl. Wolf 2008, 237–238) intermedialer Phänomene. So benennt Rajewsky zunächst drei »Subkategorien des Intermedialen« (Rajewsky 2008, 53): den »Medienwechsel«, die »Medienkombination« und »intermediale Bezugnahmen« (ebd.). Ein Beispiel für den Medienwechsel als »Transformation eines medienspezifisch fixierten Produkts bzw. Produkt-Substrats in ein anderes, konventionell als distinkt wahrgenommenes Medium; nur letzteres ist materiell präsent« (Rajewsky 2002, 157) ist die filmische Adaption. Als zweite Kategorie bestimmt Rajewsky die Medienkombination als »[p]unktuelle oder durchgehende Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, die sämtlich im entstehenden Produkt materiell präsent sind« (ebd.) und führt den Film als Beispiel an (vgl. ebd.). Die Subkategorie der intermedialen Bezugnahmen unterteilt Rajewsky analog zu Broichs und Pfisters Skalierung intertextueller Bezüge und definiert sie als: »Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (= Einzelreferenz) oder das semiotische System (= Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit den dem kontaktnehmenden Medium eigenen Mitteln; nur letzteres ist materiell präsent« (ebd.). Zusammengebracht werden sollen Rajewskys »Subkategorien des Intermedialen« (Rajewsky 2008, 53) mit Wolfs Analysekriterien: »beteiligte[..] Medi-
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en«, klare vs. unklare »Dominanzbildung«, »partielle« vs. »totale Quantität«, »primäre« vs. »sekundäre Genese« und »manifeste« vs. »verdeckte Qualität des intermedialen Bezugs« (Wolf 2009, 237). Kombiniert ermöglichen die beiden Kategoriensysteme die Analyse intermedialer Phänomene, aber vor allen Dingen ihrer Inszenierungsformen und der Beziehungen der beteiligten Medien zueinander, wie anschließend an den Forschungsstand anhand der Auseinandersetzung mit dem Harry Potter-Universum gezeigt werden soll. Forschungsstand Trotz Kritik an Rajewskys »Subkategorien des Intermedialen« (Rajewsky 2008, 53) eignen sich diese zur Strukturierung der Forschungsliteratur zu Intermedialität in den Kinder- und Jugendmedien. So überwiegen Arbeiten, die sich im Kontext der Adaptionsforschung mit intermedialen Fragestellungen auseinandersetzen und dabei insbesondere den »Medienwechsel« (ebd.) thematisieren. Verwiesen sei diesbezüglich auf den von Gina Weinkauff, Ute Dettmar, Thomas Möbius und Ingrid Tomkowiak herausgegebenen Sammelband Kinder- und Jugendliteratur in Medienkontexten: Adaption – Hybridisierung – Intermedialität – Konvergenz, in dem sich zahlreiche Beiträge bspw. den unterschiedlichen medialen Adaptionen von Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur widmen. Auch die von Tobias Kurwinkel, Annika Sevi und Philipp Schmerheim begründete Buchreihe Kinder- und Jugendliteratur Intermedial setzt unter anderem einen deutlichen Fokus auf den »Medienwechsel« (Rajewsky 2008, 53) als intermediales Phänomen. Ebenfalls unter einer intermedialen Forschungsperspektive lassen sich die zahlreichen Arbeiten und Analysen zum Erzählen im Medienverbund (s. Kap. 3) fassen, die jedoch gleichsam den »Medienwechsel« (Rajewsky 2008, 53) als auch »intermediale Bezugnahmen« (ebd.) thematisieren (s. bspw. Kurwinkel 2017a). Letztere sind zudem auch explizit Gegenstand einzelner Studien zu ihrer narrativen Funktion (s. bspw. Lötscher/Tomkowiak 2014) oder zu narratologischen Strategien der Sichtbarmachung medialer Bezüge (s. bspw. Stemmann 2014). Die »Medienkombination« (Rajewsky 2008, 53) als Erscheinungsform von Intermedialität findet z. B. Einzug in Arbeiten zum Bilderbuch (s. bspw. Kurwinkel 2017b) oder zu Illustrationen (s. Kap. 40). Auch im literatur- und mediendidaktischen Bereich finden intermediale Fragestellungen zuneh-
mend Berücksichtigung, wie zum einen Iris Kruses Konzept der »intermedialen Lektüre(n)« (Kruse 2014, s. Kap. 45) und zum anderen der 2019 von Maiwald herausgegebene Sammelband Intermedialität. Formen – Diskurse – Didaktik zeigen. In diesem machen sowohl Wolf als auch Rajewsky in Einzelbeträgen ihr Verständnis von Intermedialität für die didaktische Auseinandersetzung nutzbar. Exemplarische Analyse Das (intermediale) Verhältnis von Harry Potter and the Deathly Hallows (engl.; dt. 2007) und seiner Adaptionen offenbart sich zunächst als Medienwechsel im Sinne Rajewskys, bei dem die Erzählung aus dem analogen Medium Buch »als medienspezifisch fixierte[s] Produkt« (ebd.) in das Medium Film transformiert wird. Beteiligt sind in diesem Fall die Medien Buch und Film; die Genese der Intermedialität ist im Fall der filmischen Adaption nach Wolf als sekundär zu bestimmen (vgl. Wolf 2009, 237). Zudem ist für den Zuschauenden das Ursprungsmedium, die Buchvorlage nach dem Medienwechsel im Medium Film, nicht mehr »materiell präsent« (Rajewsky 2002, 157). Anhand der filmischen Adaption von Harry Potter and the Deathly Hallows Part I (Yates 2010) lässt sich auch Rajewskys zweite Kategorie – die Medienkombination – illustrieren. Dass Rajewsky dabei zwischen »[p]unktuell[..]« und »durchgehend[..]« (ebd.) unterscheidet, impliziert bereits Wolfs Kriterium der »partiellen« oder »totalen Quantität« (Wolf 2009, 237) von Intermedialität. In Harry Potter and the Deathly Hallows Part I werden Musik/Ton und Bild einerseits gleichwertig miteinander kombiniert. Eine klare Dominanzbildung liegt somit nicht vor (vgl. ebd.). Andererseits können sie dennoch unabhängig voneinander wahrgenommen werden und dies nicht allein über die mediale Auslagerung als Soundtrack. Fraglich ist somit noch die Realisierung der intermedialen Bezugnahmen. Im Fokus steht diesbezüglich eine Bezugnahme, die sich als eine Verbindung von Einzelreferenz und Systemreferenz darstellt und über diese Verbindung den intermedialen Bezug – im Rahmen des Mediums Films – sichtbar macht. Gemeint ist der Bezug zu The Tales of Beedle the Bard (engl; dt. 2008), das als gleichsam fiktives und (nachträglich) real existierendes Buch in die Handlung inkorporiert wird. Eingeleitet durch und begleitet von Hermione Grangers Stimme, die zunächst für den Zuschauenden sichtbar aus einem Buch, das in der filmischen Welt als materielles Objekt präsent ist (vgl. Abb. 35.1), die Ge-
35 Intertextualität, Intermedialität, Transmedialität
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Abb. 35.1 Yates 2010 [00:01:50:13]
schichte The Tale of The Three Brothers (= Einzelreferenz) vorliest, präsentiert sich die eigentliche Geschichte schließlich als animierter Kurzfilm (und somit als »partielle« [Wolf 2009, 237] Systemreferenz) (vgl. Abb. 35.2). Zudem ließe sich auch dafür argumentieren, dass über das Voice-Over, als das sich Hermione Grangers Stimme im Film präsentiert, auf das Medium Buch (= Systemreferenz) referiert wird, indem eine klar hörbare Erzählinstanz inszeniert wird. Gleichsam finden sich in der medialen Formensprache des Films-im-Film wiederum intermediale Einzel- und Systemreferenzen, welche die von Hermione vorgelesene Geschichte materiell präsent machen. So ist es nicht allein der Unterschied zwischen Real- und Animationsfilm, welcher die Grenze zwischen Film und Film-im-Film markiert, sondern der Bezug auf den Silhouettenfilm (= Systemreferenz) »im Stile Lotte Reiningers« (Gierke 2014, 114), wobei als konkrete Einzelreferenz der 1926 erschienene Film Die Abenteuer des Prinzen Achmed benannt werden kann. Alina Gierke zeichnet die sich über den Bezug verändernde mediale Formensprache explizit nach und verweist auf deren Rolle im Rahmen der Bedeutungskonstitution: »Aus Lotte Reinigers Werk übernehmen sie die Schlichtheit und den Charme für ihren
Animationsfilm. Dabei ist die Theatralität der Figuren von zentraler Bedeutung für die Adaption: [...]« (ebd.). Der intermediale Bezug auf The Tale of The Three Brothers gestaltet sich in Harry Potter and the Deathly Hallows Part I somit über verschiedene Einzel- und Systemreferenzen, die mit unterschiedlichen medialen Mitteln inszeniert werden.
35.4 Transmedialität Begriffsdefinitionen Übrig bleibt nach der Beschäftigung mit den Begriffen Intertextualität und Intermedialität noch ein dritter Begriff, welcher in enger Verwandtschaft und gleichzeitiger Abgrenzung zu diesen steht. So betont Rajewsky, dass wenn »man eine solche grundlegende Differenzierung zwischen inter- und intramedialen Erscheinungen an[setzt], [...] allerdings auch einer dritten Gruppe von Phänomenen Rechnung zu tragen [ist], denen mit den Kategorien ›Intra-‹ und ›Intermedialität‹ nicht beizukommen ist« (Rajewsky 2002, 12). Gemeint sind transmediale Phänomene, die Rajewsky als »medienunspezifische Phänomene – Phänomene also, die sich jenseits von Mediengrenzen
Abb. 35.2 Yates 2010 [00:01:51:01]
318
V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
bzw. ›über Mediengrenzen hinweg‹ manifestieren« (ebd., 13) definiert. Historische Entwicklungen Die Auseinandersetzung mit transmedialen Phänomenen im Kontext der Intermedialitätsforschung – als intertextuelle Spur – findet sich nicht allein bei Rajewsky, sondern bspw. auch bei Wolf, der diese als Form der »extracompositional« (Wolf 2005, 253) Intermedialität einordnet (vgl. ebd.). Jan-Noël Thon problematisiert hingegen die Subsumierung transmedialer Phänomene unter das Schlagwort Intermedialität (vgl. Thon 2016, 13). Inwiefern gleichsam Wolfs und Thons jeweilige Verortung Geltung besitzt, soll die diskursive Beschäftigung mit Rajewskys Definition zeigen. Ein wesentlicher Aspekt dieser Definition ist die Rolle des Mediums. »[M]edienunspezifisch« (Rajewsky 2002, 13) bedeutet an dieser Stelle nicht die Abwesenheit eines Mediums, sondern vielmehr die Loslösung von einem wie auch immer zu bestimmenden Ursprungsmedium; gleichzeitig jedoch wiederum die medienspezifische Inszenierung im Kontext des jeweiligen Mediums (vgl. ebd.). Diese scheinbar paradoxe Eigenschaft medialer Umgebungen betont auch Karl Nikolaus Renner, wenn er ausführt: »Hätten die Medien überhaupt keinen Einfluss auf das Erzählen, dann wäre die Medienkonvergenz für das Erzählen bedeutungslos. Würde dagegen jedes Medium völlig eigene Formen des Erzählens entwickeln, gäbe es kein medienübergreifendes Erzählen.« (Renner 2013, 3) Deutlich wird an Renners Ausführungen zudem der Zusammenhang von Jenkins’ Verständnis von Medienkonvergenz und transmedialem Erzählen. Jenkins definiert Medienkonvergenz als »flow of content across multiple media platforms« (Jenkins 2006, 2) und bezieht darüber hinaus auch die Lesenden, Zuhörenden und Zuschauenden als Akteure der Konvergenz mit ein (vgl. ebd.). Einmal mehr steht somit das Wandern von Inhalten über mediale Grenzen hinweg im Fokus. Ähnlich argumentieren zudem Gabriele Rippl und Lukas Etter bezugnehmend auf Marie-Laure Ryans Ausführungen zur Transmedialität, wobei sie gleichsam die Möglichkeit des medienübergreifenden Erzählens und die Medienspezifik der jeweiligen Inszenierung ausstellen: »In that sense, transmedial means that a story told in one medium can later be retold in a different medium, but due to medium-specificities, the result will never be the same« (Rippl/Etter 2013, 203).
Das von Rajewsky benannte Kriterium der Medienunspezifik (vgl. Rajewsky 2002, 13) kann und soll demzufolge als definitorische Grundlage etabliert werden. Weiterhin bestimmt werden soll zudem, welche konkreten Phänomene sich als transmedial ausweisen lassen. Sandra Poppe benennt in diesem Zusammenhang »Themen, Motive, [...], Strukturen« (Poppe 2013, 38) als mögliche transmediale Elemente und fügt zudem noch Stoffe und Figuren als Inszenierungsmöglichkeiten an (vgl. ebd.). Dieser Fokus auf Themen, Stoffe, Motive und weitere ästhetische Repräsentationsstrukturen kennzeichnet zudem sowohl Rajewskys (vgl. Rajewsky 2002, 13) als auch Thons Äußerungen: Transmedialität »usually focus[ses] primarily on representational or, more generally, aesthetic strategies« (Thon 2016, 12). Thon fokussiert jedoch vorrangig ästhetische Strategien oder Konzepte wie die Erzählinstanz (vgl. ebd., 125), die »Storyworld« (ebd., 35) oder auch Subjektivität (vgl. ebd., 223), wohingegen Motive, Themen oder Stoffe bei ihm eher einen Nachtrag darzustellen scheinen (vgl. ebd., 13). Ein transmediales Verständnis, das dabei die genannten Phänomene adressiert, bestimmt Thon als genuin literaturtheoretisch (vgl. ebd., 12), wohingegen sich ein medientheoretisches Verständnis von Transmedialität weniger mit den Repräsentationsstrategien beschäftigt, sondern mit den tatsächlich repräsentierten Figuren, Welten und Erzählungen, die transmedial inszeniert und intertextuell und intermedial gestreut würden (vgl. ebd.). In diesem Kontext lässt sich transmediales Erzählen als Erzählstrategie bestimmen, bei der »integral elements of a fiction get dispersed systematically across multiple delivery channels for the purpose of creating a unified and coordinated entertainment experience. Ideally, each medium makes its own unique contribution to the unfolding of the story.« (Jenkins 2007) Der Begriff der Strategie ist nicht zufällig gewählt, sondern besitzt definitorische Qualität, und weist transmedialen Erzähluniversen ökonomisches Kalkül zu. Ein Kalkül, welches Henry Jenkins mitunter durchaus kritisch konnotiert: »Pessimistisch gesagt macht Transmedia aus Geschichtenerzählern Werbeleute.« (Jenkins 2015, 242) Als Beispiel lässt sich Pottermore verstehen, eine Plattform, die Rowling nicht nur als Marktplatz für die E-Book-Variante ihrer Bücher nutzt, sondern auch als Werbefläche, mit Hilfe derer sie ihr Universum über Hintergrundgeschichten bereichert und gleichsam das Interesse steigert oder zumindest konstant hält. So erfährt der Lesende auf Pottermore bspw. mehr über
35 Intertextualität, Intermedialität, Transmedialität
Minerva McGonagalls Herkunft und ihre unglückliche Liebe zu einem Muggel: »These months were to prove some of the most difficult of Minerva’s life, for it was then, aged only eighteen, that she proved herself truly her mother’s daughter, by falling head-over-heels in love with a Muggle boy« (Rowling 2017). Gebunden sind transmediale Erzählstrategien für Jenkins jedoch weniger an die Figuren selbst oder den thematischen, stofflichen oder motivischen Gehalt einer Erzählung, sondern vielmehr an die Welt, aus der diese entstammen und die Platz für die Erzählungen vieler Figuren bietet (vgl. Jenkins 2007). Die Welt, – oder von Jenkins abweichend – der Stoff, das Motiv, die Figur, die ästhetischen Strukturen sind transmedial zu verstehen und können wiederum über intertextuelle und intermediale Beziehungen weiter- und auserzählt werden. Forschungsstand Gerade die Zusammenführung des medien- und literaturtheoretischen Verständnisses (vgl. Thon 2016, 12) ermöglicht die Untersuchung der zahlreichen transmedialen Erzählphänomene und -welten der vergangenen Jahre: Neben dem Harry Potter-Universum sei auf das Star Wars- oder Marvel-Franchise verwiesen. Die starke Präsenz transmedialer Erzählwelten erklärt zudem die zunehmende theoretische Auseinandersetzung, in der neben Jenkins insbesondere Thon und Ryan eine zentrale Position einnehmen. Da, wie der Überblick über die Entwicklung des Forschungsfeldes gezeigt hat, ›Transmedialität‹ erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts im literatur- und medienwissenschaftlichen Diskurs deutlich in Erscheinung tritt, ist auch Forschungsliteratur im Bereich der Kinder- und Jugendmedienforschung, die einen dezidiert transmedialen Zugriff hat, noch vergleichsweise gering vertreten. Vermehrt wird jedoch insbesondere in den letzten zehn Jahren im Bereich der Motivforschung (s. bspw. Lappe 2004; Jakobi 2017), der Narratologie (s. bspw. Brössel 2010; Stemmann 2016; Giesa 2016) oder der Medienverbundsforschung (s. bspw. Gast 2009, Meier 2015) mit einer transmedialen Perspektive gearbeitet. Diese soll abschließend auf das Harry Potter-Storyverse angewendet werden. Exemplarische Analyse Im Kontext eines transmedialen Verständnisses ist es demzufolge das Harry Potter-Storyverse selbst, das trotz des Leitmediums Buch als medienunspezifisch
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verstanden werden kann. Weiter- und auserzählt wird es über seine transmedialen Erweiterungen wie das Drama The Cursed Child (engl.; dt. 2016), die Webseite Pottermore oder das Film-Franchise Fantastic Beasts and Where to Find Them (Yates ab 2016). Diese transmediale Kennzeichnung des Harry Potter-Medienverbunds entspricht dabei der Medienverbundstypologie von Tobias Kurwinkel, die diesbezüglich ebenfalls auf die Bedeutung der Storyworld verweist (s. Kap. 3). Sichtbar wird die Priorität der Welt bspw. auch anhand des Verlusts der Protagonistenstellung Harry Potters in diesen Erweiterungen, etwa die Verschiebung zu Albus Severus Potter und Scorpius Malfoy in The Cursed Child oder zu Newt Scamander in Fantastic Beasts and Where to Find Them. Eine Verschiebung, die im letztgenannten Beispiel zudem auch Handlungsraum und -zeit umfasst und vom England der 1990er und 2000er Jahre zum New York oder Paris der 1920er Jahre wechselt. Für den Film Fantastic Beasts and Where to Find Them lässt sich zudem nur schwer ein Leitmedium definieren, stellt der Film doch keine simple Adaption des gleichnamigen Buches dar. Während das Buch als veröffentlichte Fassung des im ersten Harry-PotterBandes erwähnten Schulbuches fungiert (vgl. Rowling 1998, 76) und neben einem Vorwort von Albus Dumbledore und Newt Scamander vornehmlich einen Einblick in die Fabeltierwelt von Harry Potter liefert (vgl. Rowling 2001), beschäftigt sich der Film mit der Publikationsgeschichte des Schulbuches und dem Kampf gegen Gellert Grindelwald (vgl. Yates 2016). Zwar spoilert die veröffentliche Schulbuchfassung die Handlung des Franchises insofern, als dass deutlich wird, dass Tina Goldstein mehr als nur ein scheinbares ›love interest‹ des Protagonisten ist (vgl. Rowling 2001, 88), dennoch stehen die beiden unterschiedlichen Medien gleichberechtigt nebeneinander und leisten ihren eigenen Beitrag zur (Weiter-)Entwicklung des Universums (vgl. Jenkins 2007). Primärliteratur
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Film
Yates, David: Harry Potter and the Deathly Hallows – Part 1 (USA 2010).
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
Yates, David: Fantastic Beasts and Where to Find Them (USA 2016).
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Stefanie Jakobi
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
36 Interkulturalität 36.1 Einleitung Der vorliegende Beitrag befasst sich mit Interkulturalität in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Ausgehend von einer Begriffsdefinition, die Perspektiven und Paradigmen im Umgang mit der Interkulturalität in der Kinder- und Jugendliteratur einschließt, steht die Systematisierung der als interkulturell bezeichneten Kinder- und Jugendliteratur im Zentrum. Fokussiert werden an dieser Stelle zum einen ein historischer Abriss der Darstellung des Fremden in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur und zum anderen Formen, Themen und Motive der interkulturellen Kinder- und Jugendliteratur. Es folgt weiter eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung und dem Stand der kinderund jugendliterarischen Interkulturalitätsforschung, die auch Analysekriterien für den Umgang mit (kultureller) Alterität in der Kinder- und Jugendliteratur einschließt. Anschließende exemplarische Analysen greifen schließlich die bereits bei der Begriffsdefinition erläuterten Paradigmen und Perspektiven auf und konkretisieren diese. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick. In diesem Rahmen wird für eine interkulturelle Kinder- und Jugendliteratur plädiert, die konstruierte Grenzen überwindet und den gesellschaftlichen Masterdiskurs im Umgang mit kultureller Alterität nicht reproduziert, sondern ihm neue Perspektiven entgegensetzt.
36.2 Begriffsdefinitionen Der Begriff der ›Interkulturalität‹ betrifft, so HansJürgen Lüsebrink, alle Phänomene, »die aus dem Kontakt zwischen unterschiedlichen Kulturen entstehen« (Lüsebrink 2016, 17). Hierzu gehören u. a.: »Phänomene der Sprachmischung [...]; Formen der Kulturmischung bzw. des kulturellen Synkretismus, beispielsweise in der Kleidung [...], der Architektur [...] oder der Musik [...]; Prozesse der kreativen Integration von Elementen [unterschiedlicher] Kulturen, die sich in zahlreichen kulturellen Bereichen, wie beispielsweise in der Literatur [...], im Theater [...] oder in der bildenden Kunst [...] zeigen.« (Ebd., 17–18)
Interkulturalität betrifft somit »schwerpunktmäßig Resultate und Konsequenzen interkultureller Kom-
munikationsvorgänge« (ebd., 18). Als gleichbedeutend verwendet Lüsebrink in seiner Definition auch jene Termini, die »unterschiedliche Formen der Kulturmischung« (ebd.) bezeichnen, z. B. ›Hybridität‹ und ›Hybridisierung‹. Während die oben genannte Begriffsklärung Prozesse kultureller Vermischung in den Mittelpunkt stellt, ist das Attribut ›interkulturell‹ als pädagogische Kategorie anders konnotiert. Vor dem Hintergrund zunehmender gesellschaftlicher Heterogenität und der daraus hervorgehenden Spannungen ist die leitende Perspektive der Interkulturellen Pädagogik, so Georg Auernheimer, »die Idee einer multikulturellen Gesellschaft, die auf zwei Grundsätzen basiert: dem Prinzip der Gleichheit und dem Prinzip der Anerkennung« (Auernheimer 2016, 19). Abhängig von der jeweiligen Disziplin bestimmen somit unterschiedliche Paradigmen die Diskussion um die Interkulturalität. Für die Auseinandersetzung mit der Interkulturalität in der Kinder- und Jugendliteratur gilt es dies insofern zu berücksichtigen, als Kinder- und Jugendliteratur in der Regel als ein heteronomes Phänomen verstanden wird, bei dem neben literaturwissenschaftlichen Aspekten u. a. auch pädagogische Fragestellungen Relevanz erweisen (vgl. Ewers 2012, 138–165). So finden sich im Umgang mit (kultureller) Alterität in der Kinder- und Jugendliteratur Anklänge einer sich an die Maximen der interkulturellen Pädagogik anlehnenden Interkulturalität, die häufig die Kultur zur zentralen Differenzkategorie erklärt. Dieser Perspektive steht ein Paradigma gegenüber, das seinen Ursprung in der postkolonialen Literaturwissenschaft hat und dementsprechend binäre Zuschreibungen dekonstruiert und auf die Dynamik kultureller Phänomene setzt. Diese beiden Perspektiven werden im Folgenden näher erläutert. Kultur als zentrale Differenzdimension: Interkulturalität und Differenzorientierung Der pädagogisch konnotierte Begriff der Interkulturalität ist seit den 1990er Jahren einer anhaltenden Kritik ausgesetzt. Grund dafür ist den Kritikern zufolge das dem Begriff zugrundeliegende Kulturverständnis, das suggeriert, dass Kulturen, verstanden als in sich geschlossene Gebilde, zwar miteinander in Berührung kommen, sich jedoch nicht vermischen oder verflechten. Allein der Kulturbegriff – so bei Kritikern der Konsens – entspricht nicht (mehr) der aktuellen,
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_36
36 Interkulturalität
aber auch historisch nachweisbaren, »Verfasstheit« (Welsch 1995, 1) von Kulturen, deren Verhältnis von Verflechtungen und Durchmischungen geprägt ist und war. Dementsprechend sieht sich das Konzept mit dem Vorwurf konfrontiert, • Kultur als zentrale Differenz- und Zugehörigkeitsdimension wahrzunehmen, • kulturelle Unterschiede zu bejahen, vorauszusetzen und erfassen zu wollen, • zur Festlegung auf eine Identität und Vernachlässigung von Mehrfachzugehörigkeiten zu tendieren, und • intrakulturelle Differenzen und Alteritäten auszublenden (vgl. Mecheril 2011, 40–41). Diese berechtigte Kritik konnte jedoch die beachtliche Karriere, die der Begriff und das Konzept der Interkulturalität seit den 1980er Jahren hatte, nicht aufhalten. Im allgemeinen Verständnis gilt Interkulturalität – und ihre verwandten Formen: interkulturelle Kommunikation, interkulturelle Kompetenz, interkulturelle Verständigung o. Ä. – als eine Art Allheilmittel in Integrationsfragen. In einschlägigen bildungsinstitutionellen Dokumenten wird der Interkulturalität ein prominenter Platz eingeräumt (vgl. z. B. »Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule«: Berichte der Länder über die Umsetzung des Beschlusses 2017). Lehrkräfte und Pädagogen werden angehalten, ihre Schützlinge hinsichtlich interkultureller Kompetenz zu fördern. Dafür wurden und werden Konzepte und Materialien entwickelt, Methoden und Verfahren vorgeschlagen und einschlägige Kinder- und Jugendliteratur eingesetzt. Kinder- und Jugendliteratur gilt, sofern sie relevante Themen und Motive bedient, nach allgemeiner, oft auch in pädagogischen Kontexten anzutreffender Auffassung als ein geeignetes Vehikel, interkulturelle Kompetenz zu fördern und somit zum friedlichen Miteinander im Zeichen kultureller Vielfalt beizutragen (vgl. Riemhofer 2015; Wrobel/Mikota 2017). Relevante Themen für als interkulturell bezeichnete Kinder- oder Jugendbücher sind bei realistischen Werkbeispielen in der Regel kulturelle Vielfalt, kulturell motivierte Missverständnisse, kulturelle Verständigung, Freundschaft zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen, Umgang mit Sprache(n) etc. – kurzum: Themen, die um (Flucht-)Migration und kulturelle Begegnung kreisen. Es ist dabei möglich – und bei Texten älteren Erscheinungsdatums sogar häufig –, dass für die Handlungskonstruktion kulturell motivierte Differenzen vorausgesetzt werden, mit denen es im Zuge der
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Handlung umzugehen gilt. Dafür wird dann – nicht selten bei einem statischen Kulturverständnis – textimmanent für Maximen interkultureller Verständigung plädiert: für eine unvoreingenommene Fremdwahrnehmung, Selbstreflexion hinsichtlich eigener Stereotypen und Vorurteile, Empathiefähigkeit, Ambiguitätstoleranz sowie Anerkennung des Rechts anderer auf Anderssein (vgl. Auernheimer 2016, 20). Beispiele hierfür sind in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur zahlreich (für konkrete Beispiele s. exemplarische Analysen). Dynamisch, individuell, hybrid: Interkulturalität als Paradigma der interkulturellen Literaturwissenschaft Die vorangehende Auffassung der Interkulturalität in der Kinder- und Jugendliteratur ist insofern fragwürdig, als sie kulturalistische Tendenzen aufweist. Mit Kulturalismus ist in diesem Zusammenhang »eine dem Essentialismus nahe stehende [sic!] und ebenso problematische Konstruktion [gemeint], bei der bestimmten Kulturen feste Eigenschaften zugewiesen werden und diese zur Abgrenzung gegenüber anderen Kulturen verwendet werden« (Hofmann 2006, 11). Im Gegensatz dazu entwirft die interkulturelle Literaturwissenschaft in Anlehnung an die Postcolonial Studies ein anderes Verständnis der Interkulturalität, dem ein interaktiver und dynamischer Kulturbegriff zugrunde liegt. Sie denkt Kultur »nicht als fest umgrenzte Entität, sondern geht von den Interaktionsprozessen aus, bei denen die kulturelle Differenz zwischen eben diesen Werten, Sitten, Gebräuchen und Praktiken als kulturkonstruktiv verhandelt wird« (ebd.). Dementsprechend legt die interkulturelle Literaturwissenschaft in ihrem Konzept der Interkulturalität den Akzent darauf, »dass kulturelle Identität nicht in einem starren Zustand einer Gleichheit mit sich selbst besteht, dass vielmehr die kulturelle Identität einer Gemeinschaft und erst recht die eines Individuums das jeweils nur provisorische und zeitweilige Ergebnis eines unab schließbaren Prozesses darstellt. Kulturelle Differenz ist in diesem Verständnis kein Zustand, der als objektiv bestehende Unterscheidung statischer Gebilde mit klar benennbaren Eigenschaften beschreibbar ist, sondern gerade das Ergebnis einer Zuschreibung, die sich in einem Prozess der Begegnung vollzieht.« (Ebd.)
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
Interkulturalität meint dementsprechend nicht »Interaktion zwischen Kulturen im Sinne eines Austauschs von je kulturell Eignem«, sie zielt vielmehr auf »ein intermediäres Feld, das sich im Austausch der Kulturen als Gebiet eines neuen Wissens herausbildet und erst dadurch wechselseitige Differenzidentifikation ermöglicht« (ebd.). Vor diesem Hintergrund definiert sich die interkulturelle Literatur als eine Literatur, die »Spielräume des Auch-Anders-Denkbaren, Auch-Anders-Möglichen oder Noch-Fremden verhandelt. Dadurch scheint ein Moment der Differenz gegenüber dem in der Sprache und im kulturellen Wissen bereits Verfügbaren auf, und dieses Moment der Differenz ermöglicht es, das Gegebene zu befragen, zu analysieren und zu deskonstruieren [...].« (Hofmann/Patrut 2015, 15)
Interkultureller Literatur »wohnt also ein besonderes Potential der Beobachtung und Dekonstruktion epistemisch geronnener Formationen von Wissen und Macht inne« (ebd.). Sie legt »Absurdes und Unhaltbares an den Grenzziehungen zwischen Kulturen und Nationen« offen und reformuliert »Identitäten als Spur einer nicht abschließbaren Suche« (ebd.). Für interkulturelle Kinder- und Jugendliteratur sollte dementsprechend der Versuch charakteristisch sein, aus der »Ordnung des Denkbaren« (ebd., 14) auszutreten. Konkret würde dies bedeuten, kulturell begründete Zuschreibungen und Differenzdimensionen als Konstrukte zu entlarven, Machtphänomene als solche erkennen und reflektieren zu lassen und kulturalistisch-binären Alteritäts- und Identitätskonzepten durch entsprechende Handlungskonstruktion und Figurenkonstellation entgegenzuwirken – eine Aussage, die für viele als interkulturell bezeichnete kinder- und jugendliterarischen Werke nicht zutrifft (für diesbezüglich gelungene Beispiele s. exemplarische Analysen).
36.3 Historische Entwicklungen Der vorangehenden Begriffsbestimmung folgt nun eine Systematisierung des Feldes interkultureller Kinder- und Jugendliteratur. Sie beginnt mit einem historischen Abriss und befasst sich weiter mit den Formen der Interkulturalität in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur.
»Konfiguration des Fremden« (Nassen/Wein kauff 2000) in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur – ein historischer Abriss Für die Auseinandersetzung mit der Interkulturalität in der Kinder- und Jugendliteratur sind Konzepte von Fremdheit und Alterität elementar, »um die Begegnung mit dem Anderen und Fremden theoretisch zu erfassen« (Hofmann/Patrut 2015, 12). Alterität und Fremdheit gehören seit jeher zu Grundthemen der Literatur. Davon ist Kinder- und Jugendliteratur nicht auszunehmen. Hinsichtlich der Wahrnehmung und der Darstellung des Fremden sind in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur unterschiedliche Phasen festzustellen, die im Folgenden näher erläutert werden: In der Literatur war die/das Fremde lange exotisch konnotiert. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts diente die Fremde zunächst als Spielraum abenteuerlichen Erzählens, bevor gegen Ende des Jahrhunderts eine intensive Übertragung imperialistisch-kolonialistischer Ideologien augenfällig wurde: »Im Gewand des Abenteuers transportierte das Jugendbuch jetzt sehr intensiv imperialistisch-kolonialistische Vorstellungen [...]. Die zahlreichen Kolonialerzählungen zeichnen in aller Regel ein Bild, in dem der Weiße als Herr und der Schwarze als das häufig faule, träge, hinterlistige und den schuldigen Gehorsam verweigernde Subjekt erscheint [...].« (Haas 1998, 213)
Beispiele dieses Darstellungsmusters sind bis in die 1960er Jahre – und darüber hinaus – noch aufzufinden. Eine entscheidende Veränderung vollzieht sich erst Ende der 1960er Jahre, als zunehmend die Forderung nach einer neuen Kinder- und Jugendliteratur zum Thema ›Dritte Welt‹ gestellt wurde. Gefordert wurde in diesem Zusammenhang Folgendes: »– Ethnologische, soziologische, historische und länderkundliche Studien und Quellen sind in breiterem Umfang als bisher vom Autor zu berücksichtigen. – In der Darstellung der Dritten Welt und ihrer Bewohner muß die prinzipielle Andersartigkeit im Vergleich zu den uns bekannten Lebensformen deutlich werden. Diese Andersartigkeit soll funktional erklärt und als Ausdruck (positiv zu wertender) menschlicher Vielfältigkeit verstanden und wiedergegeben werden. – Die Begegnung zwischen Europäern und Menschen der Dritten Welt hat sich an einem Dialogmodell zu orientieren, das wechselseitige Lernprozesse vermittelt.
36 Interkulturalität – Übersetzungen von Kinder- und Jugendbüchern aus verschiedenen Ländern der Dritten Welt sollen speziell gefördert werden.« (Becker/Rauter 1978, 13–14; zit. nach Haas 1998, 215)
Trotz ihrer guten Absicht führten die – teilweise bis in die Gegenwart hineinwirkenden – Bestrebungen dieser Zeit insgesamt zur Ablösung des ›Überlegenheitssyndroms‹ zugunsten eines sogenannten ›Helfersyndroms‹ (ebd., 216), das zwar keine kolonialistischen, dafür jedoch paternalistische Wahrnehmungsmuster aufwies und somit das abzuschaffende Machtgefälle doch bestehen ließ. Als literarische Reaktion auf Zuwanderung wurde Migration seit den 1970er Jahren immer häufiger zum Thema kinder- und jugendliterarischer Werke, wobei sich zunächst lediglich autochthone Autoren mit dieser Thematik befassten. Zentral dafür war die Auseinandersetzung mit den durch die Migration offenkundig gewordenen vermeintlichen kulturellen Unterschieden, die leitende Maxime der literarischen Darstellung waren dabei Gleichwertigkeit, Toleranz, Empathie und Verständnis für den Fremden. Trotz der unbestritten guten Absichten der Autoren wurde ihr Werk aufgrund immanent paternalistischer und stereotyper Darstellungsweise von kritischen Stimmen als »Didaktiken des guten Willens« (Kaminski 2001, 382) erfasst. Kritisiert wurde außerdem hinsichtlich der Figurenkonstellation und -charakterisierung sowie der handlungsleitenden Motive das Vorhandensein bestimmter Handlungsklischees (vgl. Brunner 2004; Kaminski 2001) sowie der Widerspruch der postulierten Maxime und der »implizierte[n] Ideologie« (Tebutt 1997, 168). Dieser Umstand veranlasste zu Beginn der 1980er Jahre zugewanderte Autoren dazu, für eine Kinder- und Jugendliteratur der Minderheit zu plädieren. Die Initialzündung dafür erfolgte durch Rafik Schamis und Eleni Torossis Plädoyer für eine Kinderliteratur in der Fremde (1985/86): »Die Zugehörigkeit eines Autors zur Minderheit ist eine unentbehrliche Voraussetzung einer glaubwürdigen Literatur der Minderheit. [...] Das technische Handwerk ist nicht im Stande, die fehlende Zugehörigkeit zur Minderheit zu ersetzen.« (Schami/ Torossi 1985/86, 26) Als relevante Themen für eine solche Literatur schlugen Schami und Torossi Konflikte mit der Kultur der Ursprungsheimat und Identitätssuche vor (vgl. ebd.). Migration und seit kurzem auch Flucht sind seitdem feste Bestandteile interkultureller und als interkulturell bezeichneter Kinder- und Jugendliteratur.
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Zahlreiche zugewanderte und nicht zugewanderte Autoren befassen sich in ihren Werken mehr oder weniger anspruchsvoll mit dieser Thematik und deren unterschiedlichsten Facetten. Nicht selten treten dabei paternalistische und/oder kulturalistische Darstellungen zutage, so z. B. in Annelies Schwarz’ bis 2006 mehrfach neu aufgelegtem Kinderroman Hamide spielt Hamide (1986). Auch Vertreter kolonialistischimperialistischer Ideologien sind nach wie vor auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt vorzufinden; hierzu gehört u. a. Karl Mays Orient-Zyklus (1881– 1888), der zwar keinen interkulturellen Anspruch erhebt, jedoch in der Orientkonstruktion seiner Zeit und darüber hinaus eine entscheidende Rolle spielte (vgl. Hodaie 2008). Trotzdem findet sich auf dem jüngeren Kinder- und Jugendbuchmarkt eine Fülle an Titeln, die sich tatsächlich von kulturalistischen, paternalistischen, aber auch differenzorientierten und somit binären Darstellungsmustern gelöst haben und in ihrer Figurenkonstellation immer mehr auf Individualität und intrakulturelle Diversität setzen. Ghazi Abdel-Qadirs Kinderromane u. a. gehören dazu (s. auch die Beispiele unter exemplarischen Analysen). Formen des Umgangs mit Alterität in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur Alterität und Umgang damit findet sich in der Kinderund Jugendliteratur sowohl auf inhaltlicher als auch auf sprachlicher Ebene. Wie oben skizziert sind es auf der inhaltlichen Ebene vor allem Themen, die um kulturelle Begegnung und die daraus hervorgehenden Konflikte, Animositäten und Affinitäten im Kontext von Migration, Flucht oder Reisen kreisen. Die Handlung kann in diesem Rahmen realistische, z. B. in Kirsten Boies und Jan Bircks Bilderbuch Bestimmt wird alles gut (2016), oder phantastische Züge, z. B. in Shaun Tans Graphic Novel Ein neues Land (The Arrival, engl. 2006; dt. 2008) aufweisen. Eine Sonderstellung nehmen dabei Werke mit abstrakten oder auch Tierfiguren ein, die sich die Freundschaft zwischen Unterschiedlichen zum Thema machen, z. B. Leo Lionnis abstraktes Bilderbuch Das kleine Blau und das kleine Gelb (Little Blue and Little Yellow, engl.; dt. 1959), Eric Carles Bilderbuch Die kleine Maus sucht einen Freund (Do You Want to Be My Friend?, engl.; dt. 1971) oder Schamis und Erika Rapps Bilderbuch Bobo und Susu (1986). Auch das Thema Außenseiter spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle, wie in Kathryn Caves und Chris Riddells Bilderbuch Irgendwie Anders (Something Else, engl.; dt. 1994) oder Schamis und Rapps
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
Der Löwe Benilo (1989) u. a. Je nachdem, welches Alteritätskonzept dem jeweiligen Werk zugrunde liegt, wird auch hier klar differenziert, z. B. im oben zitierten Die kleine Maus sucht einen Freund, in dem andere Tiere aufgrund ihrer Andersartigkeit der Maus ihre Freundschaft verwehren, weshalb sie sich schließlich mit einer anderen Maus anfreundet. Dem gegenüber steht ein Werk wie Bobo und Susu, das die Liebe zwischen einer Maus und einem Elefanten zum Handlungsthema hat. Aus dieser Liebe gehen wiederum Kinder (Elemäuse) hervor, die insofern Mehrfachzugehörigkeiten aufweisen, als sie zwischen festen Entitäten und Identitäten – Maus vs. Elefant – changieren können. Auf der sprachlichen Ebene stellt sich Alterität in der Einbindung innerer oder äußerer Mehrsprachigkeit auf der Text- bzw. Bildebene dar. Derlei Werke werden in der Regel unter der Bezeichnung mehrsprachige Kinder- und Jugendliteratur zusammengefasst. Die kinder- und jugendliterarische Mehrsprachigkeit manifestiert sich auf unterschiedliche Art und Weise. Neben parallel zwei- oder mehrsprachigen Texten existieren auch Beispiele integrierter Mehrsprachigkeit, die Sprachmischungen enthalten. Außerdem gehören sowohl Übersetzungen als auch diejenigen Werke, deren Inhalt um den Umgang mit der Mehrsprachigkeit und dessen Reflexion kreist, im erweiterten Sinne zu mehrsprachigen Kinder- und Jugendbüchern (vgl. hierfür z. B. Schamis und Wolf Erlbruchs 1994 erschienenes Bilderbuch Das ist kein Papagei). Kinder- und jugendliterarische Mehrsprachigkeit zielt, was ihre Funktion betrifft, oft auf »stilistische und ästhetische Intentionen« bzw. »(kultur- sowie sprachen-)politische Absichten« (vgl. Eder 2009, 31–32) ab, wobei es nicht selten zu Überschneidungen kommt. Eine dritte, eher pragmatisch-utilitaristisch orientierte Funktion fokussiert den Nutzen, der aus der mehrsprachigen Gestaltung eines Werkes hervorgeht. Für die Auseinandersetzung mit kinder- und jugendliterarischer Mehrsprachigkeit ist es von Relevanz zu untersuchen, welche Formen der Mehrsprachigkeit in aktuellen mehrsprachigen Kinder- und Jugendbüchern dominieren und welche Funktionen Mehrsprachigkeit hierbei erfüllt. Darüber kann die prominenteste Gruppe auf dem Feld mehrsprachiger Kinder- und Jugendliteratur Aufschluss geben: zweioder mehrsprachige Bilderbücher. An sich ist Mehrsprachigkeit ein durch sprachliche Übergänge und uneindeutige bzw. hybride Erscheinungen gekennzeichnetes Phänomen. Dies gilt nicht nur für den alltäglichen mehrsprachigen Sprach-
gebrauch, sondern auch für das ästhetisch-literarische Feld. Beispiele hierfür finden sich sowohl in der Erwachsenenliteratur – z. B. Emine S. Özdamars Erzählung Mutterzunge (1990) – als auch in der Kinder- und Jugendliteratur, z. B. in Bilder- sowie Kinderbüchern von Andrea Karimé oder Emer O’Sullivans und Dietmar Röslers Roman I like you – und du? (1983). Auch Carson Ellis’ 2018 für den Jugendliteraturpreis nominiertes Bilderbuch Wazn Teez? (2017) ist hierfür ein gutes Beispiel. Setzt man sich intensiver mit Mehrsprachigkeit im zeitgenössischen Bilderbuch auseinander, fällt allerdings auf, dass – von monolingualen Übersetzungen abgesehen – parallel mehrsprachige Bücher dominieren. Ihre Legitimation schöpfen diese Bücher oft aus ihrem Nutzen, sei es hinsichtlich des Fremd- bzw. Erstspracherwerbs, sei es aus der Perspektive interkultureller Erziehung. Dementsprechend werden sie häufig mit Blick auf ›Fremdsprachenlernende‹ sowie ›Kinder mit Deutsch als Zweitsprache‹ oder ›Migrationshintergrund‹ – bzw. ihre Eltern, Erziehungsberechtigten etc. – produziert und vermarktet. Mehrsprachigkeit in ihrer kommunikativen oder ästhetisch-stilistischen Funktion – wie z. B. in Karimés Kinderbuch Der Wörterhimmel des Fräulein Dill (2013) der Fall – wird selten Beachtung geschenkt. Problematisch scheint zudem die hiermit präsentierte Auffassung von Mehrsprachigkeit, nämlich die Vorstellung von Sprachen als abgrenzbaren Einheiten. Denn die reale gesellschaftliche Mehrsprachigkeit hat mehr Facetten als das bloße Nebeneinander vieler Sprachen. Sie ist vielmehr von einem kreativen Umgang mit Sprachen geprägt, die sich u. a. auch in Sprachmischungen und Sprachwechseln zeigen. Diesem Umstand werden mehrsprachige Bilderbücher nur in Ausnahmefällen gerecht. Einem reifizierenden Mehrsprachigkeitsdiskurs (vgl. Riehl 2014, 75) folgend bleiben sie in der Regel einer binären Wahrnehmung der Mehrsprachigkeit verpflichtet, die Sprachen vergleichend gegenüberstellt und das kreative sowie kommunikative Potential von Mehrsprachigkeit nicht einbindet (vgl. Hodaie 2018) und somit wenig Möglichkeiten bereithält, aus der oben zitierten »Ordnung des Denkbaren« (Hofmann/Patrut 2015, 14) auszutreten. Gemäß den medialen Entwicklungen der Zeit ist auch das Thema Interkulturalität mittlerweile intermedial geprägt. Von vielen einschlägigen kinder- und jugendliterarischen Titeln existieren bereits Audioversionen, teilweise auch audiovisuelle Adaptionen, Verfilmungen oder Theaterinszenierungen. Dabei er-
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hält die Darstellung der Alterität eine weitere – auditive bzw. visuelle – Ebene, die über die handlungsbezogenen Besonderheiten und Darstellungsmuster hinausgeht und einer gesonderten Analyse bedarf. Dies gilt selbstverständlich auch für die (audiovisuellen) Darbietungen mit einem interkulturell einschlägigen Thema, die ihren Ursprung nicht in einem Printmedium haben. Was die kinder- und jugendliterarische Mehrsprachigkeit betrifft, bergen digitale Medien in der Regel Chancen, die weit über die printmedialen Möglichkeiten hinausgehen. Häufig werden bi- (bzw. multi-)linguale Bilderbücher mit mehrsprachigen Audio-CDs versehen – eine Erweiterung, die die im Text angelegte Bi- bzw. Multilingualität zu einem klanglichen Erlebnis werden lässt. Entsprechend funktionieren auch die sogenannten Boardstories, die sich als animierte Bilderbücher zum Ziel setzen, die Arbeit mit dem Printmedium intermedial zu unterstützen (vgl. https:// onilo.de). Beispiele hierfür sind die Boardstories zu Babak Saberis und Mehrdad Zaeris Ein großer Freund (2015) bzw. zu Boies oben zitiertem, als Boardstory von Nina Safar illustriertem Bilderbuch Bestimmt wird alles gut, das hier eine – je deutsche oder arabische – audiovisuelle Ebene hinzugewinnt. Intermedialität spielt auch bei Lernspielen (häufig zum Themenfeld Migration) eine Rolle, wie z. B. beim Online-Spiel Last Exit Flucht. In dem mehrfach ausgezeichneten, für Jugendliche ab 13 Jahren geeigneten Lernspiel können »Jugendliche den Weg eines jungen Menschen nachvollziehen, der vor Unterdrückung aus seinem Heimatland flüchtet und in einem anderen Land neu anfängt« (Last Exit Flucht). Das Spiel ist zusätzlich mit vielen Hintergrundinformationen sowie einem Lehrerleitfaden versehen. Ein weiteres Beispiel liefert das sogenannte Serious-Game auf und davon, das mit Hilfe von ›Migrationsgeschichten‹ darzustellen versucht, »wie schwierig es für Menschen ist, die ihr eigenes Land verlassen möchten oder müssen« (auf und davon, für weitere Beispiele vgl. Bildungszentrale für politische Bildung).
36.4 Forschungsstand An dieser Stelle folgt nun eine Skizze der Entwicklung der kinder- und jugendliterarischen Interkulturalitätsforschung. In diesem Rahmen werden auch die Kriterien der Analyse interkultureller Kinder- und Jugendliteratur näher diskutiert, die diesbezüglich einen relevanten Forschungsaspekt darstellen.
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Kinder- und jugendliterarische Interkulturalitätsforschung Die Entwicklung kinder- und jugendliterarischer Interkulturalitätsforschung steht im direkten Zusammenhang zu den vorangehend erläuterten Paradigmenwechseln in der Konfiguration von (kultureller) Alterität. Der kinder- und jugendliterarischen Entdeckung der ›Dritten Welt‹ widmete sich auf der 30. Frankfurter Buchmesse 1978 eine Ausstellung des Titels Die Dritte Welt im deutschen Kinderbuch 1967–1977. In diesem Rahmen gaben Jörg Becker und Rosmarie Rauter die gleichnamige Publikation (1978) heraus, aus der die oben zitierte Forderung nach anderen kinderliterarischen Darstellungsweisen zum Thema ›Dritte Welt‹ stammen. Neben dem ›Dritte-Welt‹-bezogenen Perspektivenwechsel war es das Aufkommen des erziehungswissenschaftlich motivierten interkulturellen Paradigmas in den 1980er Jahren, das nicht nur die Produktion einschlägiger kinder- und jugendliterarischer Werke beflügelte, sondern auch der diesbezüglichen Forschung einen neuen Auftrieb gab. So erschienen ab den 1990er Jahren verstärkt Publikationen, die sich aus einer kritisch-interkulturellen Perspektive – häufig auch unter Berücksichtigung (literatur-)didaktisch relevanter Aspekte – dem kinder- und jugendliterarischen Geschehen der Zeit widmeten und dabei auf kulturalistische, paternalistische, kolonialistische oder auch (kultur-) rassistische Tendenzen aufmerksam machten. An dieser Stelle sei exemplarisch auf Heidi Röschs Studien Bilderbücher zum interkulturellen Lernen (1996), Jim Knopf ist nicht schwarz (2000) und Entschlüsselungsversuche: Kinder- und Jugendliteratur und ihre Didaktik im globalen Kontext (2000) hingewiesen. Angeregt durch das interkulturelle Paradigma fokussierten viele Werke explizit das Fremde in der Kinder- und Jugendliteratur aus einer teils historischsystematischen, teils kulturwissenschaftlich-hermeneutischen oder didaktischen Perspektive, wobei Erscheinungsformen des Fremden untersucht und die kinder- und jugendliterarische Entwicklung des Fremdheitsmotivs aufgezeigt wurde. Bettina Hurrelmanns und Karin Richters 1998 herausgegebenes Werk Das Fremde in der Kinder- und Jugendliteratur. Interkulturelle Perspektiven (mit drei Schwerpunkten: Aneignung des Fremden, Kommunikationsraum für das Fremde, Vermittlung des Fremden, vgl. Luchtenberg 1999, 219) oder Gina Weinkauffs und Martina Seiferts zweibändige und aus dem Forschungsprojekt Interkul-
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turelle Aspekte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur seit 1945 hervorgegangene Studie EntFernungen: Fremdwahrnehmung und Kulturtransfer in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur seit 1945 (2006) sind Beispiele hierfür, ebenso das von Ulrich Nassen und Weinkauff herausgegebene Werk Konfigurationen des Fremden in der Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 (2000), das die Perspektive der Auseinandersetzung auf verschiedene Länder ausweitet. Andere Studien widmeten sich wiederum dem kinder- und jugendliterarischen Schaffen allochthoner Autoren ab den 1980er Jahren, das u. a. auf den oben zitierten Appell von Schami und Torossi (1985/86) nach neuen Autorschaften zurückging. Nicht selten setzten sie sich vergleichend – und somit häufig dichotom – mit der Alteritätsdarstellung im Werk allochthoner und autochthoner Autoren auseinander (vgl. hierfür z. B. Tebutt 1997; Brunner 2004; 2005), was, wie oben erwähnt, autochthonen Autoren hinsichtlich ihrer Alteritätsdarstellung den Vorwurf diverser ›Syndrome‹ und Handlungsklischees einbrachte (vgl. Rösch 2000, 31–32). Die vorangehenden Schwerpunktsetzungen wurden häufig verbunden. So fokussiert Nazli Hodaie in ihrer Studie Der Orient in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur – Fallstudien aus drei Jahrhunderten (2008) das Fremdheitsmotiv am Beispiel des Orientbildes in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, wobei sie neben 1001 Nacht-Erzählungen und Mays sogenanntem Orient-Zyklus auch das kinder- und jugendliterarische Schaffen deutscher Autoren ›orientalischer‹ Herkunft in den Blick nimmt. Außerdem spielte im Zusammenhang zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Alterität in der Kinder- und Jugendliteratur der Aspekt der (literarischen) Mehrsprachigkeit von Beginn an ebenfalls eine bedeutende Rolle. Hierzu sei neben Röschs bereits genannten Studien (vgl. Rösch 1997 u. a.) exemplarisch auf Ulrike Eders Mehrsprachige Kinder- und Jugendliteratur für mehrsprachige Lernkontexte (2009) oder Ira Gawlitzeks und Bettina Kümmerling-Meibauers Mehrsprachigkeit und Kinderliteratur (2013) hingewiesen. Dem heteronomen Charakter der Kinder- und Jugendliteratur entsprechend bestimmten Aspekte der Vermittlung sowie didaktische Fragestellungen und Zielsetzungen von Anfang an die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der als interkulturell bezeichneten Kinder- und Jugendliteratur; so z. B. Förderung interkultureller Kompetenz, der Empathie oder des Fremdverstehens, Abbau von Vorurteilen, Einbindung der Mehrsprachigkeit, aber auch unterrichtsbezogene
Analyse- und Auswahlkriterien. Gerade das Letztgenannte geriet relativ früh in den Fokus der Auseinandersetzung mit der kinder- und jugendliterarischen Interkulturalität (vgl. dazu den Abschnitt zu Analysekriterien) und begleitet sie bis heute. Diesbezüglich nimmt Andrea Riemhofer in ihrer 2015 erschienenen Studie Interkulturelle Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland – Lesen auf eigene Gefahr eine kritische Perspektive ein. Getragen von der Frage, was genau interkulturelle Literatur für eine jüngere Zielgruppe auszeichne, nimmt sie eine kritische Sichtung der als interkulturell bezeichneten Literatur für Kinder und Jugendliche in der Zeitspanne 1989–2014 vor, womit sie auf eine Orientierungshilfe bei der Beurteilung einschlägiger Kinder- und Jugendliteratur abzielt. Mit Aspekten der Vermittlung rück(t)en auch Rezipienten und ihre Perspektive verstärkt in den Mittelpunkt der Untersuchung, was analytisch oder auch empirisch erfolgen kann. Jeanette Hoffmann z. B. untersucht in ihrer qualitativen Studie Literarische Gespräche im interkulturellen Kontext (2011) »die Rezeption des zeitgeschichtlichen Jugendromans Malka Mai von Mirjam Pressler (2001)« in deutschen sowie polnischen Schüler(innen)gruppen (Hoffmann 2018, 96). Relevant werden mit Blick auf Vermittlung und Rezeption auch Stimmen, die vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Heterogenität und globaler Entwicklungen dem Konzept der Interkulturalität für die Behandlung didaktisch einschlägiger Aspekte kritisch gegenüberstehen. Hierbei sei auf Werner Wintersteiner hingewiesen, der mit seinem an Wolfgang Welsch angelehnten Konzept der transkulturellen Literaturdidaktik den Blick auf die Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Verflechtungen in Entwicklung und Vermittlung kultureller Phänomene lenkt (vgl. Wintersteiner 2006). Ebenso kritisch monieren Inci Dirim, Ulrike Eder und Birgit Springsits in ihrem Beitrag Subjektivierungskritischer Umgang mit Literatur in migrationsbedingt multilingual-multikulturellen Klassen der Sekundarstufe (2013) die »›technizistische Suggestion‹ [...], es genüge, Mehrsprachigkeit und Multikulturalität beliebig zu thematisieren, um Benachteiligung zu reduzieren« (Dirim/Eder/Springsits 2013, 122). Die Autorinnen fordern unter Rückgriff auf das Subjektivierungskonzept in der Diskursforschung die Entwicklung eines subjektivierungstheoretisch reflexiven Paradigmas, was sie als zentrales und notwendiges pädagogisches Prinzip für den Umgang mit der Literatur im Deutschunterricht der Migrationsgesellschaft verstehen (vgl. ebd.). Zusätzlich zu vorangehenden Motiven, Schwerpunkten und Konzepten und analog zu aktuellen ge-
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sellschaftlichen Debatten findet im Moment das Motiv der Fluchtmigration auch in der kinder- und jugendliterarischen Forschung verstärkt Berücksichtigung. So setzt sich Jana Mikotas und Dieter Wrobels Fluchtliteratur (2017) mit einer Auswahl kinder- und jugendliterarischer Texte zum Thema Flucht auseinander, die jeweils mit Blick auf den Literaturunterricht analysiert und kommentiert werden. In ihrem Beitrag Alles wird gut!? – Flucht als Thema in aktuellen Bilderbüchern für den Elementar- und Primarbereich (2018) nimmt Rösch die aktuellen Bilderbücher zum Thema Flucht kritisch unter die Lupe und fokussiert neben der Analyse der Bilderbücher auch »didaktische Überlegungen für den Elementar- und Primarbereich, die unter anderem die Frage nach dem Umgang mit zweisprachigen Werken aufgreifen« (Rösch 2018, 1). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der kinderund jugendliterarischen Interkulturalität von Beginn an eine – jedoch mal mehr, mal weniger zum Vorschein kommende – kritische Betrachtung und Reflexion immanent war. Dies zeigt sich aktuell vor allem in der konzeptuellen Weiterentwicklung weg von dichotomen Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Vermittlungsmustern hin zur Fokussierung von Subjektperspektiven und Berücksichtigung von Zusammenhängen und Hybridisierungsprozessen. Kriterien zur Analyse der interkulturellen Kinderund Jugendliteratur Wie deutlich geworden sein dürfte, können sich in der Kinder- und Jugendliteratur je nach Alteritätsund Fremdheitskonzept unterschiedliche Selbst- und Fremdwahrnehmungsmuster manifestieren. In ihr finden paternalistische und kulturalistische Darstellungen genauso ihren Platz wie ästhetisch-literarische Strategien zur Dekonstruktion von Wissen und Macht (vgl. exemplarische Analysen). Der gesellschaftliche Masterdiskurs zu Migration, Mehrsprachigkeit, Fremdheit etc. wird genauso reproduziert wie ihm Gegendiskurse entgegengesetzt werden. In dieser Gemengelage ist es vor allem für das ungeübte Auge nicht leicht, den interkulturellen Anspruch des jeweiligen Werks zuverlässig festzustellen. Vor allem mit Blick auf Vermittlungsprozesse sollen Analyse- und Auswahlkriterien dabei behilflich sein. Insgesamt zuverlässige Analysekriterien enthält der Fragenkatalog der Leseempfehlungsliste von Baobab Books Kolibri – Kulturelle Vielfalt in Kinder- und Jugendliteratur. Seinen Ursprung hat der Fragenkata-
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log in den oben erläuterten Bestrebungen der frühen 1970er Jahre, deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur hinsichtlich ihres Ethnozentrismus und ihrer Fremdwahrnehmungsmuster kritisch zu hinterfragen. In seiner aktuellen Fassung dient er hauptsächlich der Unterstützung von Kolibri-Rezensenten, um »in Zweifelsfällen Klarheit zu schaffen und den eigenen Standpunkt zu reflektieren« (Baobab Books 2017, 6). Er ist dementsprechend auch in vergleichbaren Tätigkeitsfeldern einsetzbar. Folgende sechs übergeordnete Schwerpunkte geben die Struktur des Fragenkatalogs vor: die handelnden Personen, die Beziehung zwischen den Menschen, vielfältige Lebensformen, Wertschätzung des anderen, die illustrierte Welt und Sprache, Stil und Aktualität. Der Fokus liegt darauf, durch gezielte Fragen zur sprachlichen, narrativen und illustrativen Gestaltung des Werkes die Aufmerksamkeit auf Mechanismen zu lenken, die kulturalisieren, stereotypisieren, pauschalisieren oder zur Erzeugung von Hierarchien und Machtgefällen dienen und somit möglicherweise paternalisieren. Es wird z. B. nach »handelnden Personen einer Geschichte« gefragt oder danach, wie »differenziert [...] der Einblick in einen Kulturraum« (ebd.) sei bzw. wie »Angehörige von Minderheiten ihre Probleme [lösen] (eigenständig, gemäss [sic!] Ratschlägen)« (ebd., 7). Dem recht ausführlichen und 1997 von Rösch effektiv zusammengefassten Fragenkatalog (vgl. Rösch 1997, 25–26) liegt hinsichtlich kultureller Vielfalt ein egalitärer, wertschätzender und anerkennender Impetus zugrunde. Gemäß seinem Ursprung in der 1970er Jahren erhebt er nicht den Anspruch, nach den theoretischen Grundsätzen der oben erläuterten interkulturellen Literaturwissenschaft zu agieren, in seiner teilweise dekonstruktiven Art trägt er jedoch dazu bei, relevante Erscheinungen wie die Erzeugung von Macht und Ohnmacht oder die Herstellung konstruierter und kulturalisierender Differenzen verlässlich aufzuspüren und zu reflektieren. Zu ergänzen ist der Katalog (und seine oben genannte Kurzfassung ebenfalls) allerdings um Fragen, die den Aspekt der Hybridität und der kulturellen Durchmischung sowie der damit zusammenhängenden Entstehung neuer Identitätskonstruktionen ebenso berücksichtigen.
36.5 Exemplarische Analysen Anhand konkreter Werkbeispiele werden nachfolgend nun die unter der Begriffsdefinition diskutierten Positionen und Perspektiven im Umgang mit (kul-
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
tureller) Alterität in der Kinder- und Jugendliteratur konkretisiert. Paradigma der Differenzorientierung Selim und Susanne (Ursula Kirchberg): Ursula Kirchbergs viel beachtetes, teilweise textloses Bilderbuch Selim und Susanne (1978) ist eines der ersten deutschen Kinderbücher, das sich mit dem Thema Migration – hier in Gestalt von Gastarbeitern – auseinandersetzt. Das Buch, das im Online-Archiv des Deutschen Jugendliteraturpreises u. a. anhand des Schlagwortes ›Interkulturalität‹ zu finden ist, handelt von der Freundschaft zwischen dem türkischen ›Gastarbeiterkind‹ Selim und dem Hamburger Mädchen Susanne. Der einsame und des Deutschen nicht mächtige Selim verwickelt sich in einen Streit mit deutschen Kindern, dabei wird Susannes Puppe beschädigt. Die eigene Sprachlosigkeit reflektierend erinnert sich Susanne einige Zeit später im Italienurlaub an Selim, versetzt sich in seine Lage hinein und entwickelt Empathie für ihn. Aus dem Urlaub zurück bietet sie Selim ihre Freundschaft an. Selim und Susanne wurde 1979 in der Kategorie Bilderbuch in die Auswahlliste des Deutschen Jugendliteraturpreises aufgenommen. Die Jurybegründung lautete: »Wer fremd ist in einem Land, hat es nicht leicht, Freunde dort zu finden. Das muss ein türkischer Junge in Deutschland erfahren. Ein deutsches Mädchen versteht nach einer Auslandsreise den Türkenjungen erst richtig.« (Deutscher Jugendliteraturpreis: Selim und Susanne) Aufgrund der Darstellungsweise seiner Protagonisten wurde Kirchbergs Bilderbuch aber auch stark kritisiert (vgl. Rösch 1997, 9–14). Moniert wurde neben den z. T. stereotyp anmutenden Illustrationen auch das hohe Reflexionsvermögen der fünfjährigen Susanne und ihre Aktivität im Gegensatz zur Passivität, Sprachlosigkeit, Hilfsbedürftigkeit und – je nach Perspektive – Aggressivität der türkischen Figur. Nach der Ansicht der Kritiker schuf das Bilderbuch somit ein Machtgefälle zwischen Einheimischen und Migranten zugunsten der Erstgenannten. Neben mir ist noch Platz (Paul Maar): 1993 erschien als Reaktion auf Angriffe auf Asylheime Paul Maars Kinderroman Neben mir ist noch Platz. Der Roman, der im Online-Archiv des Deutschen Jugendliteraturpreises ebenfalls dem Schlagwort ›Interkulturalität‹ zugeordnet ist, handelt von der Freundschaft zwischen dem deutschen Mädchen Steffi und der geflüchteten Libanesin Aischa. Kulturell bedingte Missverständnisse überschatten – ja gefährden sogar – die Beziehung
beider Schülerinnen zwar immer wieder, die Freundschaft siegt jedoch am Ende, wenngleich Aischas Familie aufgrund fremdenfeindlicher Übergriffe auf ihr Heim in den Libanon zurückkehrt. Dem Roman ist insgesamt ein kulturrelativistisches Grundmuster immanent, flankiert von einem Plädoyer für Unvoreingenommenheit im Umgang mit und Anerkennung von kultureller Alterität. Das kulturelle Anderssein wird im Text vorausgesetzt und die Fiktion dient im Wesentlichen dazu, den jungen Rezipienten den (gelungenen) Umgang damit beispielhaft vor Augen zu führen sowie die Empathiefähigkeit der Zielgruppe zu fördern. Somit gilt der Roman als Manifestation der oben genannten Maximen interkultureller Kompetenz auf der Ebene der literarischen Fiktion. Der Roman, der 2016 in 15. und etwas veränderter Auflage erschienen ist (Aischa stammt nun aus Syrien und ihre Familie zieht, statt in ihr Herkunftsland zurückzukehren, nach Bielefeld, weil das »Amt« dies so entschieden hat), rief wohlwollende, aber auch kritische Kommentare hervor (vgl. Hodaie 2010, 9–10). Der Gegenstand der Kritik war neben der stereotypen Darstellung der deutschen sowie der libanesischen (in der aktuellen Auflage der syrischen) Kultur vor allem das im Roman enthaltene Machtgefälle: hier das sprachkundige, beliebte, gut situierte und hilfsbereite deutsche Mädchen, da das hilfs- sowie sprachförderbedürftige, arme und teilweise einsame Flüchtlingskind – eine Darstellungsweise, die – interkulturellen Maximen zum Trotz – zur Dekonstruktion mehrheitsgesellschaftlicher Machtphänomene und Migrationsdiskurse nicht wesentlich beiträgt. Sowohl Selim und Susanne als auch Neben mir ist noch Platz setzen eine Binarität voraus, die sich in kulturell begründeten Differenzen darstellt. Diese bildet auch den Ausgangspunkt der Handlung, die dann textimmanent nach den Maximen interkultureller Kompetenz gestaltet wird. Entsprechend der Differenzperspektive erfolgt eine klare Zuordnung zu der einen oder anderen Kultur, wobei hybride Phänomene, kulturelle Verflechtungen und Mehrfachzugehörigkeiten nicht bedacht werden. Als Kontrast folgt nun ein Beispiel, das die Hybridität der Identitätsentwürfe literarisch aufgreift und somit kulturell motivierte Binaritäten überwindet. Dynamisch-hybride Identitätsentwürfe Nuri und der Geschichtenteppich (Andrea Karimé und Annette von Bodecker-Büttner): Andrea Karimés 2006 erschienenes Kinderbuch Nuri und der Ge-
36 Interkulturalität
schichtenteppich (illustriert von Annette von Bodecker-Büttner) handelt von Nuri, einem zusammen mit seinen Eltern aus dem Irak nach Deutschland geflüchteten Mädchen im Grundschulalter. Wie ihre Eltern ist Nuri des Deutschen mächtig und somit ohne Sprachförderbedarf. Als sie von zwei Schülern auf dem Heimweg angefeindet wird, erzählt sie ihnen in Scheherezades Manier eine Geschichte, die sie jeden Tag, an der Haustür angekommen, abbricht. Gespannt auf den weiteren Lauf der Geschichte teilen sich die Jungen nach einiger Zeit freiwillig den Heimweg mit Nuri und so entwickelt sich allmählich eine Freundschaft. Der Roman verschweigt keineswegs den irakischen Hintergrund der Familie oder die Herausforderungen, mit denen (Flucht-)Migration verbunden sein kann. Nur wird Nuris Familie nicht lediglich über ihre Migrationserfahrung oder ihrer Zugehörigkeit zum irakischen Kulturkreis definiert. Sie ist in der Darstellung des Romans vielschichtig, individuell, auch hybrid. In der Figur von Nuri konstruiert Karimé außerdem ein Mädchen, das entgegen den üblichen Klischees geflüchteter Kinder autark, selbstbestimmt, aktiv und sprachmächtig ist und in dem Sinne in jeder Hinsicht das Gegenmodell der oben erwähnten Figuren Selim und Aischa. Ähnliche Darstellungsmuster, die die vorhandene »Ordnung des Denkbaren« (Hofmann/Patrut 2015, 14) dekonstruieren, sind auch in Die Flucht (2016), Francesca Sannas mit phantastischen Elementen versehenem Bilderbuch, anzutreffen – ein Bilderbuch, das die Schrecken des Krieges und der Flucht ebenfalls nicht verheimlicht und trotzdem nicht an das Mitleid der Rezipienten appelliert, sondern die Stärke der Mutterfigur in den Mittelpunkt rückt und dessen Handlung »in einem Zuhause beginnt, das auch unseres sein könnte – Bücherregale, eine Stadt am Meer, ein Ausflug mit den Eltern an den Strand. Also ein ganz normales Leben von dem am Ende nur noch die Umarmung der Mutter bleibt« (Die Flucht: Jurybegründung 2017). Weitere einschlägige Beispiele sind Anja Tuckermanns von Uli Krappen und Zaeri illustriertes Bilderbuch Nusret und die Kuh (2016), das anders – phantasievoll, facettenreich, vielschichtig – auf die Arbeitsmigration blickt, oder Karimés oben genannter Kinderroman Der Wörterhimmel des Fräulein Dill, dessen Handlung im Wesentlichen von deutsch-türkischen Sprachmischungen getragen wird, die sprachliche Binaritäten und somit eindeutige Zugehörigkeiten überwinden.
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Ausblick In den Mittelpunkt ihrer Rede im Rahmen des TEDGlobal 2009 stellt die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie den Topos der Gefahr einer einzigen Geschichte – the danger of a single story. In ihren Ausführungen stellt sie heraus, wie eine Geschichte, bliebe sie die einzige Perspektive der Auseinandersetzung, die Deutungshoheit an sich reißen würde, weshalb es unmöglich sei, »über die einzige Geschichte zu sprechen, ohne über Macht zu sprechen« (Adichie 2009): »Macht ist die Fähigkeit, die Geschichte einer anderen Person nicht nur zu erzählen, sondern sie zur maßgeblichen Geschichte dieser Person zu machen. Der palästinensische Dichter Mourid Barghouti schreibt, dass der einfachste Weg, ein Volk zu enteignen, darin besteht, seine Geschichte zu erzählen und mit ›zweitens‹ zu beginnen. Beginnt man die Geschichte der nordamerikanischen Ureinwohner mit den Pfeilen und nicht mit der Ankunft der Briten, erzählt man eine ganz andere Geschichte. Beginnt man die Geschichte mit dem Scheitern des afrikanischen Staates und nicht mit der Errichtung des afrikanischen Staates durch Kolonisierung, erzählt man eine völlig andere Geschichte. [...] Die einzige Geschichte formt Klischees. Und das Problem mit Klischees ist nicht, dass sie unwahr sind, sondern dass sie unvollständig sind. Sie machen eine Geschichte zur einzigen Geschichte.« (Ebd.)
Adichies Worte bilden einen geeigneten Schluss für die Auseinandersetzung mit der Interkulturalität in der Kinder- und Jugendliteratur. Denn die als interkulturell bezeichnete Kinder- und Jugendliteratur läuft häufig Gefahr, unter dem Bann einer einzigen Geschichte zu stehen. Diese Geschichte ist meist geprägt von konstruierten Differenzen und erregt nicht selten gut gemeintes Mitleid. Interkulturell ist hingegen nur die Literatur, die imstande ist, dieser einzigen Geschichte neue entgegenzusetzen, welche, die Binaritäten überwinden und Möglichkeiten für vielschichtigere Gefühle als Mitleid bereithalten, solche, die demonstrieren, was noch denkbar, was noch möglich wäre. Primärliteratur
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
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Sekundärliteratur
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
37 Komparatistik 37.1 Einleitung Die Komparatistik oder Vergleichende Literaturwissenschaft, deren Untersuchungsgegenstand mehreren Sprachen oder Kulturen angehört, befasst sich mit dem Gemeinsamen und den Spezifika der jeweiligen Literaturen. Während sich die Komparatistik bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts an den Universitäten etablierte, fand eine systematische Verbindung dieser Disziplin mit der Kinder- und Jugendliteraturforschung erst Anfang des 21. Jahrhunderts statt. Diese Verbindung ist Gegenstand des Beitrags. Er stellt zunächst die allgemeine Komparatistik vor, bevor er sich der Entwicklung der kinder- und jugendliterarischen Komparatistik widmet. Um kurz zu verdeutlichen, wie die Kinder- und Jugendliteraturforschung durch eine komparatistische Herangehensweise bereichert wird, werden zwei kurze Fallbeispiele angeführt. Danach werden die Forschungsgegenstände und Arbeitsfelder der kinder- und jugendliterarischen Komparatistik vorgestellt.
37.2 Begriffsdefinitionen Die Komparatistik oder Vergleichende Literaturwissenschaft gilt heute als eine »allgemein kulturwissenschaftliche Grenzüberschreitungs- und Beziehungswissenschaft« (Zymner 2013, 8). Sie erforscht das, was die Grenzen einer Literatur überschreitet: das Gemeinsame und die Ähnlichkeiten in den Erscheinungen ebenso wie die Besonderheiten und Eigentümlichkeiten der jeweiligen Literaturen, die sich erst im Vergleich zeigen. Sie befasst sich »übergreifend, transkulturell, transgenerisch« (Hölter 2013, 4) mit literarischen Phänomenen und thematisiert diejenigen Fragen und Prozesse, die in einer innerhalb von Sprachoder nationalen Grenzen bleibenden Analyse zu kurz kommen. Auch Prozesse, die Grenzen zwischen Literatur und anderen Künsten (Musik, Tanz, bildende Kunst, Film usw.) oder zwischen Disziplinen wie Literatur und Psychologie, Literatur und Naturwissenschaft usw. überschreiten, sind Gegenstand der Komparatistik. Als Fach etablierte sich die Komparatistik während des 19. Jahrhunderts als Gegendisziplin zu den nationalen Philologien; sie begriff sich als Korrektur zu einer sich damals mit streng nach politischen Grenzen beschränkten Literatur beschäftigenden ›Nationalistik‹
als eine international ausgerichtete Disziplin, die sich u. a. mit der sogenannten ›Weltliteratur‹ befasste. Seit der ab den 1980er Jahren zunehmend kulturwissenschaftlichen Orientierung der Philologien mit poststrukturalistischen und interdisziplinären Neudisziplinen und Ansätzen wie translation studies, gender studies, New Historicism, Alteritätsforschung und postcolonial studies beschäftigen sich diese mit Gegenstandsbereichen, die traditionellerweise in der Komparatistik angesiedelt waren. In der heutigen Welt mit ihrer international verflochtenen Wirtschaft und grenzüberschreitenden Kommunikation durch die Digitalisierung sowie der Zunahme an multikulturellen und -ethnischen Räumen – etwa durch erzwungene Flucht oder freiwillige Migration – ist die Komparatistik zu einer »Wissenschaft der diskursiven Praktiken im Zeitalter der Globalisierung« geworden (Zymner 2013, 8).
37.3 Historische Entwicklungen Die Kinder- und Jugendliteraturforschung war selten eine streng einzelphilologische Disziplin; der in ihr vorherrschende Literaturbegriff schließt in der Regel die übersetzte Literatur mit ein. Wegen ihrer internationalen Vernetzung – »children’s literature evolves from international, rather than national, paradigms« (Bouckaert-Ghesquière 1992, 93) – ist die Kinderund Jugendliteratur seit jeher ein genuin komparatistischer Forschungsgegenstand. Wie international verzahnt die zeitgenössische (deutschsprachige) Kinderund Jugendliteratur ist, zeigt z. B. die Einleitung zu der Programmvorschau des Moritz Verlags zum Frühjahr 2018: »Mit der aus Holland stammenden Pariserin Gerda Muller und dem in Indonesien aufgewachsenen Niederländer Thé Tjong-Khing erscheinen Granden der europäischen Illustration bei Moritz. Von den Schwedinnen Eva Eriksson und Rose Lagercrantz, welche wiederum einen deutschen Vater und eine rumänische Mutter hat, kommen die wunderbaren Geschichten von Dunne und Ella-Frida. Ulf Nilsson (Stockholm) hat mit Gitte Spee (Amsterdam, aufgewachsen in Indonesien) Kommissar Gordon zum beliebtesten Krötenermittler werden lassen. [...] Viele Grüße, Deine Giraffe ist das gemeinsame Werk einer Japanerin und eines Frankfurters.« (Weber 2017)
Gerade diese Formen von globalen Verquickungen der Kinder- und Jugendliteratur, die in den letzten
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_37
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Jahrzehnten sehr zugenommen haben, verlangen eine dem Gegenstand angemessene komparatistische Herangehensweise. Allerdings fliegt Kinder- und Jugendliteratur – trotz der neueren Öffnung der Komparatistik für periphere Literaturen und Phänomene – immer noch weitestgehend unter ihrem Radar; sie hat diese als Zweig der Unterhaltungs- bzw. Trivialliteratur weitgehend aus ihrem Untersuchungsfeld ausgeschlossen. Und in der internationalen Kinder- und Jugendliteraturforschung mangelt es vielerorts noch an einem ausgesprochenen Bewusstsein für und einer angemessenen methodischen Herangehensweise an den ausgeprägt grenzüberschreitenden Charakter ihres Gegenstands. Die kulturwissenschaftliche Wende in der Literaturwissenschaft hat zu einer zunehmenden Interdisziplinarität auch in der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft geführt; das spiegelt sich u. a. in einigen Kapiteln in Sektion V dieses Handbuchs. Sie manifestiert sich z. B. in Studien wie der von Clare Bradford aus dem Jahr 2007, die unter Verwendung postkolonialer Theorien Narrative über indigene Völker in den englischsprachigen Literaturen Australiens, Neuseelands, Kanadas und den Vereinigten Staaten untersucht. In Deutschland wird das Thema Interkulturalität ebenfalls in diesem Sinne untersucht (s. Kap. 36), auch wenn die Mehrzahl der Arbeiten dazu nur einem Sprach- oder Kulturraum gewidmet ist. Eine systematische Verbindung der Disziplinen Komparatistik und Kinder- und Jugendliteraturforschung fand zum ersten Mal in Kinderliterarische Komparatistik (O’Sullivan 2000) statt, bei der zentrale Forschungsinteressen und Theorieansätze der vergleichenden Literaturwissenschaft unter kinderliteraturspezifischen Aspekten modifiziert und weitergedacht wurden. Bevor in Anlehnung daran die Arbeitsfelder der kinder- und jugendliterarischen Komparatistik kurz vorgestellt werden, sollen zuerst zwei Beispiele angeführt werden, um kurz zu verdeutlichen, wie die Kinder- und Jugendliteraturforschung durch eine komparatistische Herangehensweise bereichert werden kann. Kurzbeispiel 1: Gern wird z. B. in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteraturforschung auf die aus anderen Sprachen ins Deutsche übersetzten Texte rekurriert – eben als ›internationale‹ Texte – aber ohne ein Bewusstsein dafür, dass die Übersetzungen nicht einfach mit den Ausgangstexten gleichgestellt werden können. Eine komparatistische Studie wie
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Agnes Blümers Mehrdeutigkeit übersetzen (2016) erkundet, wie Klassiker der kinder- und jugendliterarischen Phantastik in der Nachkriegszeit ins Deutsche übersetzt wurden (z. B. Philippa Pearces Tom’s Midnight Garden/Als die Uhr dreizehn schlug, engl. 1958; dt. 1999, Maurice Sendaks Where the Wild Things Are/Wo die wilden Kerle wohnen, engl. 1963; dt. 1967 oder Conte numéro 1/Geschichte Nummer 1, franz. 1957; dt. 1969 von Eugène Ionesco). Beeinflusst vom zeitgenössischen deutschen Theoriediskurs über ›das gute Jugendbuch‹ wurden diese im Original an Erwachsene und Kinder zugleich gerichtete Texte im Sinne des Zielsystems – also des deutschsprachigen Systems – übersetzt und dabei, wie Blümer überzeugend nachweist, an Komplexität reduziert und letztendlich um ihre Mehrdeutigkeit gebracht. Kurzbeispiel 2: Lucy Maud Montgomerys Roman Anne of Green Gables (Anne auf Green Gables, engl. 1908; dt. 1986), eine literarische Ikone Kanadas, wurde sehr bald nach der Veröffentlichung in eine Vielzahl europäischer und außereuropäischer Sprachen übersetzt. Es dauerte aber 76 Jahre, bis er 1986 ins Deutsche übersetzt wurde, und zwar in einer stark gekürzten, sich an der Fernsehadaption orientierenden Fassung. Martina Seifert rekonstruiert dieses frappierende Fallbeispiel der Nicht-Wahrnehmung bzw. der sehr verspäteten (und unbefriedigenden) Übersetzung des berühmtesten kanadischen Kinderromans und stellt fest, dass sie der fehlenden Passung zum deutschen Kanada-Image zuzuschreiben ist. Dieses Image ist eng an die Gattung der Abenteuerliteratur mit ihren fast ausschließlich männlichen Figuren, mit Wildnis als ihrem bevorzugten Schauplatz und mit ihrem Abstand zur Alltagswirklichkeit gebunden. Die idyllische Kleinstadt als Handlungsraum in Anne of Green Gables, die weibliche Protagonistin sowie die zentralen Themen von Ge meinschaft und Heimat standen diesen einschlägig tradierten Konventionen des Abenteuerromans so diametral entgegen, dass der Roman nicht zu der unter Einfluss dieser Heterostereotypen als kanadisch identifizierten Literatur passte und daher nicht wahrgenommen wurde (vgl. Seifert 2016, 559–569). Das Beispiel zeigt, wie Heteroimages als Filter bei der Selektion dessen, was übersetzt wird, fungieren und sogar verhindern können, dass ein international höchst erfolgreicher Roman in eine bestimmte Sprache übersetzt wird.
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
37.4 Forschungsstand Bedingt durch die Besonderheiten des kinderliterarischen Systems lassen sich Methoden und Gegenstände der allgemeinliterarischen Komparatistik nicht einfach auf die Kinder- bzw. Jugendliteratur übertragen; um diesem spezifischen Gegenstandsbereich gerecht zu werden, müssen sie modifiziert werden. Dennoch können in Analogie dazu, da es dort einen weitreichenden Konsens über zentrale Arbeitsfelder gibt (vgl. z. B. Hölter 2013), auch die Felder einer kinder- und jugendliterarischen Komparatistik bestimmt werden, in der grundlegende Fragestellungen und Konzepte der Komparatistik unter kinder- und jugendliteraturspezifischen Aspekten behandelt werden. Im Folgenden sollen in Anlehnung an Emer O’Sullivan 2000 acht Arbeitsfelder der kinder- und jugendliterarischen Komparatistik kurz vorgestellt werden. Diese sind selbstredend nicht hermetisch abgeschlossen; viele Themen und Fragestellungen verlangen ein mehrperspektivisch komparatistisches Vorgehen.
37.5 Allgemeine Kinder- und Jugendliteraturtheorie Ebenso wie es zum Selbstverständnis der Komparatistik gehört, neben der Vergleichenden auch die Allgemeine Literaturwissenschaft als Teilgebiet der Komparatistik zu betrachten, so muss auch eine allgemeine Theorie der Kinder- und Jugendliteratur als Grundpfeiler jeder kinder- und jugendliterarischen Komparatistik gelten, die der Analyse dieser in ihren globalen Verstrickungen gerecht wird. Im Zentrum dieser Theorie stehen zwei miteinander verbundene zentrale Aspekte, durch die sich Kinder- und Jugendliteratur von der Allgemeinliteratur unterschiedet. Der erste ist die Bestimmung ihres Gegenstands als Texte, die einer speziellen Lesergruppe, also Kinder oder Jugendliche, von verschiedenen Instanzen wie Erziehungssystem, Kirche, literarischer Markt usw. zugeteilt werden (vgl. Ewers 2012, 15–16). Dadurch, dass Kinder- und Jugendliteratur eine durch ihren Adressatenbezug bestimmte Literatur ist, ermöglicht sie in besonderer Weise Aufschlüsse über die jeweils kultur- und epochenspezifischen Kindheitsbilder einer Gesellschaft, über die erwachsene Vorstellungen über und Projektionen von Kindheit und die damit indirekt zum Ausdruck gebrachten Ängste, Hoffnungen, Idealisierungen und Verdrängungen. Allein dieser Aspekt macht Kinder- und Jugendliteratur
zu einem besonders ergiebigen kulturwissenschaftlich ausgerichteten komparatistischen Gegenstand. Das zweite für die Kinder- und Jugendliteratur konstituierende Merkmal ist die Asymmetrie der kinderliterarischen Kommunikation, die mit der Textzuteilung von Erwachsenen an Kinder und Jugendliche einhergeht. Sie lässt sich auf allen Ebenen des kinder- und jugendliterarischen Systems finden: In Produktion, Vertrieb und Vermittlung handeln erwachsene Autoren und Verleger, Buchhändler, Lehrer usw. für Kinder und Jugendliche (s. Kap. 4). Auf der Ebene des Textes führt die Ungleichheit der Voraussetzung für die Kommunikation zwischen erwachsenem Autor und kindlichem oder jugendlichen Leser dazu, dass Kinder- und Jugendliteratur sich an die Fähigkeiten und Bedürfnisse ihrer Leser anpassen muss, sie muss dem noch begrenzten Erfahrungs- und Wissenshorizont und dem sich ständig weiterentwickelnden Sprach- und Literaturerwerb ihrer Leser Rechnung tragen und den Abstand zwischen den ungleichen Partnern durch die Auswahl dessen, was auf sprachlich-stilistischer, stofflicher, formaler und thematischer Ebene dem kindlichen Entwicklungsstand entspricht, verringern. Die Berücksichtigung dieser konstituierenden Unterschiede zwischen der Kinder- und Jugend- und der Allgemeinliteratur ist unabdingbar für sämtliche komparatistische Fragestellungen, die an die Kinder- und Jugendliteratur herangetragen werden. Translation Studies oder Kontakt- und Transferforschung Mit Kontakt- und Transferforschung gemeint sind alle Formen des kulturellen Austauschs wie Rezeption, Vermittlung, Übersetzung und multilaterale Einflüsse zwischen Literaturen über Sprach- und Kulturgrenzen. Von allen Bereichen der transkulturellen Kinderliteraturforschung ist dieser im Hinblick auf Theorieentwicklung und Umfang der Forschungsergebnisse am weitesten entwickelt (vgl. z. B. van Coillie/Verschueren 2006, Lathey 2006, O’Sullivan 2013, Alvstad 2018). Die bereits erwähnte Asymmetrie auf den Ebenen Produktion, Vertrieb und Vermittlung wird bei der Übersetzung eines kinderliterarischen Textes verdoppelt. Der nach den Normen und Kindheitsvorstellungen der Ausgangskultur produzierte und zugelassene Text wird erneut von Erwachsenen übersetzt, lektoriert usw. und an die Normen und Vorstellungen der Zielkultur angepasst. Die Analyse von kinder- und jugendliterarischen Übersetzungen zeigt, wie die dominanten Kindheits-
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bilder einer Kultur bei Grenzüberschreitungen eine ebenso große Rolle für das Zustandekommen des übersetzten Textes spielen wie pädagogische Konzepte – beide waren im oben zitierten Kurzbeispiel aus Blümer 2016 ausschlaggebend – oder auch politische Faktoren, wie Gaby Thomson-Wohlgemuth 2009 mit ihrer Untersuchung zur Übersetzung unter staatlicher Kontrolle in der DDR zeigt. Die Analyse von übersetzten Texten offenbart, wie zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Sprachraum die Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen eingeschätzt werden und welche politischen, ideologischen, religiösen, pädagogischen, sprachlichen oder literarischen Faktoren die Art und Weise, wie übersetzt wird, beeinflussen. Die kinderund jugendliterarische Kontakt- und Transferforschung beschäftigt sich mit den Spezifika des literarischen Übersetzens allgemein und mit der Analyse einzelner übersetzter Texte, mit der internationalen Rezeption einzelner Autoren oder Werke, z. B. von Pippi Långstrump (Pippi Langstrumpf, schwed. 1945; dt. 1949) in Deutschland (vgl. Surmatz 2015), oder etwa mit der Analyse übersetzter Gattungen, z. B. mit der englischsprachigen Lyrik ins Deutsche (vgl. Kreller 2007). Vergleichende Poetik Die vergleichende Poetik der Kinder- und Jugendliteratur befasst sich mit Erscheinungsformen der Kinder- und Jugendliteratur, sie erforscht ihre literarischen Gestaltungsmittel und Gattungen. Zu ihren Gegenständen gehören ästhetische Kategorien wie z. B. das Komische oder die Einfachheit, Gestaltungsweisen und Erzähltechniken wie etwa die nichtlinearen Erzählformen und metafiktionalen Elemente des postmodernen Bilderbuchs oder die Erfassung der ästhetischen Entwicklung der Kinderliteratur und ihres Formen- und Funktionswandels in unterschiedlichen Kulturen. Sie setzt sich mit sprach- und kulturspezifischen Vorkommen von und Umgangsweisen mit Strukturelementen wie Themen, Topoi und Motiven – beispielsweise mit dem Motiv des fremden Kindes oder dem Todesmotiv in der Kinder- und Jugendliteratur – auseinander (vgl. z. B. zur Motivkonstellation in den Klassikern der Kinderliteratur Lexe 2003). Zur vergleichenden Poetik gehört ebenfalls die vergleichende Gattungsforschung, die sich mit Veränderungen innerhalb der einzelnen Gattungen auseinandersetzt – etwa mit dem allmählichen Wandel der kin-
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derliterarischen Phantastik von einer Literatur des Wunderbaren zu einer, in der die Undurchschaubarkeit der Welt und der Verlust individuellen Orientierungsvermögens stärker in den Vordergrund treten (s. Kap. 14); sie vergleicht Erscheinungsformen von Gattungen in verschiedenen Sprachen bzw. Kulturen (vgl. z. B. Stichnothe 2017 zum Initiationsroman in der deutsch- und englischsprachigen Jugendliteratur). Weitere Beispiele für die vergleichende Gattungsforschung sind z. B. die Studie von Susanne Barth 1998 über die Entwicklung der Puppengeschichte, einer Frühform der Mädchenliteratur, die ihren Ausgang in Frankreich fand und ab Mitte der 1830er Jahre in Deutschland in ›germanifizierter‹ Form Nachahmungen fand, die vergleichende Untersuchung der Mädchenliteratur der DDR, der Bundesrepublik und Ungarn von Katalin Nun 2001, oder Gillian Lathey 1999, die den Umgang mit Fragen der Identität in der Konstruktion von Kriegskindheiten in deutsch- und englischsprachigen autobiographischen Schriften gegenüberstellt. Auch die Auseinandersetzung mit der Verwischung der Gattungsgrenzen gehört zu diesem komparatistischen Arbeitsfeld, z. B. in tragikomischen Erzählungen von Autoren wie Anne Fine, Kirsten Boie und Frida Nilsson oder in neueren multimodalen Erzählungen, verkörpert etwa durch The Invention of Hugo Cabret von Brian Selznick (Die Entdeckung des Hugo Cabret, engl. 2007; dt. 2008), einem historischen Roman, auf dessen 533 Seiten 284 Bilder integriert sind. Imagologie Die Imagologie beschäftigt sich mit Darstellungen von nationalen oder ethnischen Gruppen in der Literatur und mit den Annahmen und Bedingungen, die den Darstellungen zugrunde liegen. Eine imagologische Untersuchung widmet sich »the complex links between literary discourse on the one hand and national identity-constructs on the other« (Leerssen 2000, 268). Bisherige Forschungsschwerpunkte der kinderund jugendliterarischen Imagologie liegen bei der Konfiguration spezifischer ›Fremde‹, hier reichen Studien von traditionellen Stoff- und Motivgeschichten bis zu Untersuchungen, die kulturgeschichtliche, poetologische und ideologische Aspekte behandeln wie die frühe kulturgeschichtliche Studie von Marieluise Christadler 1978, in der die Instrumentalisierung der jeweiligen Bilder des Anderen in der Jugendliteratur Frankreichs und Deutschlands zu kriegspropädeutischen Zwecken herausgearbeitet wird, oder die Untersuchung von O’Sullivan 1989 zum ästhetischen Po-
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tential nationaler Stereotypen. Weitere Schwerpunkte sind etwa kulturspezifische Topographien oder die Rolle, die Images bei der Übersetzung spielen (vgl. als Überblick O’Sullivan 2011). Das bisher umfangreichste imagologische Projekt im deutschsprachigen Raum war die systematische Erfassung und exemplarische Untersuchung der Repräsentation des Fremden in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur von 1945 bis 2000 (vgl. Weinkauff/Seifert 2006). Ihr äußerst anspruchsvolles Forschungsdesign verschränkt imagologische und übersetzungswissenschaftliche mit literatursystematischen Fragestellungen (s. Kap. 11). Auch die von der International Research Society for Children’s Literature (IRSCL) preisgekrönte Studie von Seifert 2016, auf die das zweite Kurzbeispiel bezogen war, beschäftigt sich mit der Verschränkung der komparatistischen Imagologie mit der historischen Kulturtransferforschung. Imagologischen Studien, die das Visuelle der Bilderbücher und Illustrationen mit einbeziehen, sind noch selten; angesichts der spannenden Frage der Verknüpfung von imaginären und materiellen Bildern oder der nach dem Verhältnis von Text und Bild ist dies ein Bereich, der viel Zukunftspotential aufweist (vgl. z. B. die Beiträge von Meyer 2017, Rutschmann 2017 oder O’Sullivan 2017). Sung-Ae Lee 2018 widmet sich dem Thema Diaspora und Bilderbuch, ein unter imagologischen Gesichtspunkten ergiebiges Thema. Koreanische Kinder der nordamerikanischen Diaspora nehmen eine zwiespältige Position ein: sie werden in den USA häufig als koreanisch stereotypisiert, sind aber kulturell nordamerikanisch (vgl. Lee 2018, 179). Lee vergleicht Bilderbücher von Autoren aus Südkorea mit denen aus der koreanischen Diaspora, Letztere vorwiegend Migrationsnarrative, um zu zeigen, wie unterschiedlich bei gleicher Thematik Fragen der kulturellen, nationalen und ethnischen Identität dargeboten werden. Das besondere Spannungsfeld von Migration und Diaspora verleiht den traditionellen Vorstellungen von Auto- und Heteroimages eine neue Dimension. Vergleichende Geschichtsschreibung Zu einer (vergleichenden) Geschichtsschreibung der Kinder- und Jugendliteratur gehört zunächst einmal eine grundsätzliche Erörterung der kulturellen, sozialen, ökonomischen und pädagogischen Bedingungen der Entwicklungen von Kinder- und Jugendliteratur überhaupt. Als Voraussetzung für eine vergleichende
Geschichtsschreibung gilt, dass die jeweiligen Kinderund Jugendliteraturgeschichten von einzelnen Ländern, Regionen bzw. Sprachräumen ausreichend dokumentiert worden sind und auch, dass die Literaturen nicht-westlicher Länder nicht ausschließlich aus einer globalisierten oder westlichen Perspektive dokumentiert werden, da sonst die Gefahr besteht, dass Forschungsmethoden und -fragen und ästhetische und ideologische Vorstellungen auf Literaturen angewandt werden, die über ganz andere »Ethnopoetiken« verfügen (Stephens/Belmiro/Curry u. a. 2018, 2). Diese Praxis wird in der eben zitierten Einleitung zu The Routledge Companion to International Children’s Liter ature thematisiert und kritisiert; dabei handelt sich um die erste umfangreiche Publikation, die die Kinder- und Jugendliteratur der sogenannten ›Majority World‹ – vornehmlich Afrikas, Asiens, der Karibik und Lateinamerikas – aus der Perspektive von und mit den Methodiken der ›Insider‹-Wissenschaftler dokumentiert. (vgl. ferner als deutschsprachigen Beitrag, der die im Vergleich zu europäischen Kinderliteraturen ganz anders gelagerten Funktionen der postkolonialen afrikanischen Kinder- und Jugendliteratur benennt, Attikpoé 2014). Vergleichende Wissenschaftsgeschichte Dieses zur metakritischen Dimension der komparatistischen Kinder- und Jugendliteraturforschung gehörende Arbeitsfeld hat die kulturspezifische institutionelle Verankerung dieser Literatur, die Intensität der Forschung und die internationale Verzahnung ebenso zum Thema wie den jeweiligen Status der Kinder- und Jugendliteraturforschung. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit der Kulturspezifik der Beschäftigung mit Kinder- und Jugendliteratur, die sehr stark von der jeweiligen institutionellen Verankerung des Fachs geprägt wird. Dazu gehört ebenfalls eine Beschäftigung mit den sich daraus entwickelnden im vorherigen Abschnitt erwähnten Ethnopoetiken. Es muss ein Bestreben der kinder- und jugendliterarischen Komparatistik sein, neben »the well-worn path of Anglophone and European scholarship« (Stephens/ Belmiro/Curry u. a. 2018, 1) die Kinder- und Jugendliteraturforschung der Majority World mit ihren »local concepts of childhood and of the purposes underpinning children’s literature, and [...] local genres, styles, registers and applications« (ebd.) ebenso zu berücksichtigen wie die etablierten und in der internationalen Forschung präsenteren Kinder- und Jugendliteraturen.
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Weltliteratur, Kanon und Globalisierung Die kinder- und jugendliterarische Komparatistik hat die Konzepte ›Klassiker‹ und ›Kanon‹ im Zeitalter der Globalisierung kritisch zu hinterfragen. Es ist ihr ebenfalls ein Anliegen, den Begriff der ›Weltliteratur‹ auch unter historisch-soziologischer Perspektive als postkoloniale Kritik der Beziehung zwischen den lange modellbildenden und immer noch den Markt dominierenden Kinder- und Jugendliteraturen Nordwesteuropas und der USA und der bisher eher marginalisierten Majority World zu reperspektivieren und die Auswirkungen der globalisierten Kinder- und Jugendkultur kritisch zu hinterfragen. Sie muss sich auch vor dem neueren Hype der »world literature industry« (Ipshita Chanda, zit. nach Sturm-Trigonakis 2017, 42) hüten, der es vornehmlich um englischsprachige Literatur von profilierten Migranten geht. Zu den für die Kinder- und Jugendliteraturforschung fruchtbar zu machenden neueren Ansätzen gehören die Erforschung der Zusammenhänge zwischen Globalisierung, Migration und Weltliteratur sowie eine Auseinandersetzung mit der Neuen Weltliteratur, einer durch Mehrsprachigkeit gekennzeichneten hybriden Literatur der letzten drei Jahrzehnte (vgl. ebd.; vgl. zur mehrsprachigen Kinder- und Jugendliteratur die Beiträge in interjuli 1, 2016). Wenn Wanderung im Sinne von literarischer Migration eine zentrale Herausforderung der Komparatistik des 21. Jahrhunderts darstellt (vgl. Zipfel 2017), dann gehört sie ins Zentrum der Diskussion um die (auch kinder- und jugendliterarische) Weltliteratur. Nicht nur in der Form von migrierten Autoren, »die schwer an einer Bindestrich-Identität tragen (›türkischdeutsch‹, ›russisch-deutsch‹, ›äthiopisch-deutsch‹)« (Trojanow 2017) und von transkultureller Literatur, die aus zwei oder mehr Ländern kommt, sondern auch in Form von welthaltiger Literatur, die sich mit diesen Themen beschäftigt. Das Migrationserfahrung aus Kindersicht erzählende Buch Meine liebsten Dinge müssen mit (Sarihi/Völk 2018) ist hierfür ein gutes Beispiel. Über dieses Bilderbuch der im Iran geborenen und aufgewachsenen Künstlerin Sepideh Sarihi mit Bildern der in Österreich geborenen und in Deutschland aufgewachsenen Juli Völk, das das richtige Maß aus Vertrautem und Ungewohntem für Kinder mit oder ohne Migrationserfahrung gefunden hat, schrieb die Rezensentin Manuela Kalbermatten zu Recht: »Auf die richtige Mischung also kommt es an: dem Kind so viel Vertrautes zu bieten, dass es an eigene Er-
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fahrungen anknüpfen kann, es aber auch mit Ungewohntem zu konfrontieren, das herausfordert und neugierig macht. Nur so werden kulturelle Unterschiede wie Gemeinsamkeiten überhaupt verständlich und wahrnehmbar.« (Kalbermatten 2018)
Intertextualitäts- und Intermedialitätsforschung Bei Intertextualität und Intermedialität (s. Kap. 35), dem letzten der hier angeführten Arbeitsfelder der komparatistischen Kinder- und Jugendliteraturforschung, handelt es sich um dynamische Beziehungen zwischen Texten und zwischen Medien; die Grenzen zwischen ihnen sind vielerorts fließend, da es bei beiden in der Regel um adaptive Verfahren geht (vgl. Hutcheon/O’Flynn 2013, 268). In der neueren kulturwissenschaftlich ausgerichtet Intertextualitätsforschung schließt die Intertextualität im weitesten Sinn Spielarten der Intermedialität und Interdiskursivität mit ein (vgl. Neumann/Nünning 2006, 15). Die Bezugnahme auf einzelne Prätexte oder Gattungen in Form von Zitaten, Parodien, Adaptionen und vielem anderen mehr ist seit jeher eine zentrale Vorgehensweise der Kinder- und Jugendliteratur: jede Nacherzählung eines klassischen Textes und jede Märchenparodie beruht auf intertextuellen Verfahren. Intensive Auseinandersetzungen mit literarischen bzw. kulturellen Prätexten bieten z. B. der in seiner Handlung und seinen Figuren von der griechischen Mythologie nachhaltig geprägte Roman Die Mitte der Welt (1998) von Andreas Steinhöfel oder Christoph Heins Das Wildpferd unterm Kachelofen. Ein schönes dickes Buch von Jakob Borg und seinen Freunden (1984), das eine ungewöhnlich produktive Rezeption von A. A. Milnes Winnie-the-Pooh (Pu der Bär, engl. 1926; dt. 1928) darstellt. Das Wildpferd unterm Kachelofen ist ein literarischer Austausch zwischen einem bürgerlichen englischen Kinderklassiker und einem Autor in der DDR, der diesen fast 60 Jahre zuvor erschienenen Roman aufnimmt und kreativ transformiert (vgl. dazu O’Sullivan 2000, 81–84). Spielarten der Intertextualität und der Intermedialität prägen auch die an Erwachsene adressierte US-amerikanische mash up-Fernsehserie Once upon a Time (ABC 2011–2018); diese nimmt nicht nur auf die europäische Märchentradition von Charles Perrault bis Grimm in ihren verschiedenen medialen Gestaltungen intensiv Bezug, sondern baut auch Figuren und Elemente aus Lyman Frank Baums The Wonderful Wizard of Oz (Der Zauberer von Oz, engl. 1900; dt. 1940), Carlo Collodis Pinocchio (ital. 1883; dt. 1905)
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
sowie aus den Harry Potter-Filmen (2001–2011) in ihren Kosmos ein (s. Kap. 17). Kinder- und jugendliterarische Intermedialitätsforschung untersucht die dynamischen Wechselbeziehungen zwischen ursprünglich in printmedialer Form veröffentlichter Kinderliteratur und ihren verschiedenen medialen Erscheinungsformen in Filmadaptionen, als Hörbücher, als Spielzeuge, Gebrauchsgegenstände, Computerspiele oder als (elektronische) Spielgefährten in den sogenannten Erlebnisparks, einschließlich der Frage, wie Geschichten und Figuren über die Mediengrenzen hinweg überarbeitet, umgesetzt und rezipiert werden. Auch in den Fokus gehört das Wechselspiel zwischen Medien wie das zwischen Computerspiel und Film usw. sowie die Art und Weise, wie verschiedene transmediale Erzählverfahren in jugendliterarischen Texten fruchtbar gemacht werden können (vgl. Stemmann 2016, 72). Laut Heidi Lexe (2003, 10) übersteigt heute »[d]ie Zahl derer, die Baloo den Bären für einen singenden Superkumpel halten, [...] die Zahl derer, die um seine Funktion als strenger Lehrmeister der Dschungelgesetze wissen, bei weitem«. Das medienübergreifende Erzählen, das im 21. Jahrhundert zu einer dominanten Form geworden ist, zeigt sich geradezu paradigmatisch im sogenannten Harry Potter-Phänomen. In der ursprünglichen Romanheptalogie (engl. 1997–2007; dt. 1998–2007) borgt, zitiert und kombiniert J. K. Rowling intertextuell Situationen, Motive, Elemente und Strategien aus Texten und Gattungen und verarbeitet die zu ihrer Zeit (in ihrer Kultur) zirkulierenden Stereotype, Topoi, narrative Schemata und Wertehierarchien zu einem neuen fiktionalen Ganzen. Mit den Filmadaptionen der Romane erfolgten die ersten medialen Übersetzungen, die bereits gut erforscht und dokumentiert wurden (vgl. z. B. Kurwinkel/Schmerheim/Kurwinkel 2014). Rezipienten können als Konsumenten im offiziellen Harry Potter-Shop im Londoner Kings Cross-Bahnhof Fanartikel von Zauberstäben über Schlüsselanhänger, Schals und Stofftiere bis hin zu Schokoladenfröschen kaufen und lange anstehen, um sich mit Kofferwagen und Hedwig fotografieren zu lassen, wie sie mit einem Gepäckwagen durch die Wand an der daneben aufgestellten Plattform 9 3/4 verschwinden. Echte Partizipation im Sinne der »convergence culture« (Jenkins 2006) spiegelt sich in den von Fans produzierten Erzählungen (das Harry Potter fanfiction-Archiv enthielt im Januar 2019 knapp 800.000 Einträge) oder in den durch »Potterphile« kollaborativ verfassten Rauboder inoffiziellen Übersetzungen in zahlreichen verschiedenen Sprachen.
Das Feld der weiteren Verarbeitung ihres Kosmos wollte Rowling ihren Fans nicht überlassen (die Unternehmungen, diese zu unterbinden, sind legendär). Stets versichernd, dass Harry Potters Geschichte mit der Heptalogie zu Ende erzählt sei und es nie eine Fortsetzung geben würde, gelingt es ihr dennoch, den Kosmos in verschiedensten medialen und literarischen Formen weiter auszubauen. Signifikant war die Einrichtung der Webseite Pottermore (2011), auf der interaktive und neue (Hintergrund-)Inhalte über die Welt um Harry Potter veröffentlicht werden; die Seite fungiert auch als Verkaufsplattform für E-Books und Audiobooks der Harry-Potter-Romane. Ein von Jack Thorne verfasstes, aber auf Ideen von Thorne, Rowling und John Tiffany basierendes zweiteiliges Theaterstück Harry Potter and the Cursed Child erschien 2016. Es greift den in Fan Fiction weit verbreiteten Topos der alternate history auf (»was wäre gewesen, wenn ...«) und war der mediale Aufbruch in den Bereich der Performativität. Das bisher letzte Kapitel der intermedialen Ausbreitung des Potter-Kosmos stellen die Filme um die Fantastic Beasts (Phantastische Tierwesen, seit 2016) dar. Ursprünglich eines von drei für einen wohltätigen Zweck verfassten Spin-off-Büchern, ist Fantastic Beasts and Where to Find Them (Phantastische Tierwesen & wo sie zu finden sind, 2001) ein fiktives Lehrbuch des fiktiven Autors Newt Scamander, das in den Harry Potter-Romanen kurz erwähnt wird. Eine Filmreihe mit Scamander als Protagonist wurde von Warner Brothers angeregt; der erste von fünf geplanten Filmen erschien 2016, der zweite 2018, jeweils mit Drehbüchern von Rowling. Diese Fort- und Weiterentwicklung einer fiktiven Randfigur ist nicht zuletzt deshalb spannend, da die USA, die sonst keine Rolle in den Romanen spielte, dadurch in Rowlings magischem Kosmos einen Platz bekommt. In den Filmen taucht MACUSA auf, der Magical Congress of the United States of America (die amerikanische Entsprechung zum britischen Zauberministerium). Diese mediale Ausweitung des Harry PotterUniversums bezieht sich also nicht nur auf den Bereich der Phantastik, sondern auch auf den der Geographie und zwar nicht nur werkimmanent, sondern auch bezogen auf das Lesepublikum. Rowling beteuerte, ihr sei eine Auseinandersetzung mit dem Leben der Zauberer in den USA ein Herzensanliegen: »After the Potter books, this was always where I was interested in going. [...] If I ever did anything, this is what I wanted to do.« (Rowling 2016) Wenn es weiter oben hieß, dass Wanderung im Sinne von literarischer Migration eine zentrale Heraus-
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forderung der Komparatistik des 21. Jahrhunderts darstellt, dann kann hier abschließend die Migrationsmetapher nicht nur auf migrierte Autoren oder transkulturelle Literatur und auf welthaltige Literatur, die sich mit dem Thema Migration befassen, bezogen werden, sondern auch auf das Konzept der (Hin- und Her-)Wanderungen über Mediengrenzen hinweg. Auch diese Grenzüberschreitungen sowie der durch elektronische Raumüberwindung erfolgende andersartige Transfer von Kinder- und Jugendliteratur über Kultur- und Mediengrenzen und dessen Auswirkungen im Kontext der Kommerzialisierung und der Globalisierung der Kinder- und Jugendkultur gehören zu den Gegenständen der kinder- und jugendliterarischen Komparatistik; sie müssen von ihr beschreibend und erklärend begleitet werden. Literatur
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
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Emer O’Sullivan
38 Gender Studies
38 Gender Studies 38.1 Einleitung Im Bereich der Kinder- und Jugendliteraturforschung stellen Gender Studies einen wichtigen Zugang dar, da Entwürfe von geschlechtlicher Identität, deren Entwicklung in unterschiedlichen Phasen von Kindheit, Jugend und Adoleszenz sowie die in diesen Zusammenhängen wirksamen Faktoren, Institutionen und Akteure der Sozialisation vor allem in der Kinderund Jugendliteratur anschaulich werden (vgl. Schilcher/Müller 2016, 15–44). Das Spektrum der ästhetisch-medialen Realisierung von ›Geschlecht‹ und der damit verknüpften Diskurse und Normen in der Kinder- und Jugendliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts ist weit gespannt. Es reicht von der Vermittlung geschlechterstereotyper Rollenbilder (z. B. Marie-Luise Fischers Ulrike [1963/65]) über die diversitätssensible Dekonstruktion binärer Geschlechterkonstellationen und -identitäten (z. B. Elisabeth Etz’ Alles nach Plan [2015]) bis zur populärkulturellen Inszenierung des Erwachsenwerdens kindlicher Kunstfiguren wie Miley Cyrus (vgl. Benner 2019, Götz 2013b). Im Folgenden werden zunächst Grundbegriffe, konzeptuelle Abgrenzungen und Methoden vorge stellt, wie sie in einschlägigen Beiträgen der genderorientierten Kinder- und Jugendliteraturforschung verhandelt werden und zur Anwendung kommen. Anschließend wird mit Blick auf die Darstellung von Geschlechterrollen und -identitäten die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur sowie ihre gender-bezogene Erforschung nach 1945 schlaglichtartig skizziert. Abschließend werden aktuelle Trends und Ergebnisse der gender-orientierten Kinder- und Jugendliteraturforschung dargestellt.
38.2 Begriffsdefinitionen Gender Studies bezeichnen interdisziplinäre und theoretisch-methodisch heterogene Forschungsansätze und -richtungen, die Fragen feministischer Diskurse aufgreifen und theoretisch weiterentwickeln. Solche Ansätze fragen kritisch nach gesellschaftlich, politisch und kulturell wirksamen Differenzkonstruktionen von Geschlechteridentitäten und untersuchen, wie diese Konstrukte stabilisiert oder verändert werden. Dieser kritischen Perspektive auf die Kategorie ›Geschlecht‹ liegt vor allem die in den 1940er Jahren
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von Simone de Beauvoir formulierte Einsicht zugrunde, dass Geschlechteridentitäten erst durch soziokulturelle Prozesse hervorgebracht und befestigt werden: »Man ist nicht als Frau geboren, man wird es.« (de Beauvoir 1968, 265) Judith Butler entwickelt in den 1990er Jahren diese Position weiter, indem sie auch die Kategorie des biologischen Geschlechts (sex) als sprachliches Konstrukt analysiert. Nicht nur das soziokulturelle Geschlecht (gender), sondern auch die biologische Bedingtheit von Geschlecht (sex) wird erst durch performative, sprachlich-differentielle Prozesse hervorgebracht und unterliegt damit historisch wandelbaren Konstellationen gesellschaftlicher Macht (vgl. Butler 1991). Gender Studies können in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, z. B. Soziologie, Geschichtswissenschaft oder Literaturwissenschaft, verortet sein und mit Blick auf die spezifischen Gegenstände der jeweiligen Disziplin, z. B. literarische Texte und Medien, nach den biologischen, sozialen und kulturellen Konstruktionsweisen, Inszenierungen und Wirkmechanismen von Geschlecht, Identität und Begehren fragen (vgl. z. B. von Braun/Stephan 2000, 290–299). In letzter Zeit werden Konstruktionsweisen von Geschlecht verstärkt im intersektionalen Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren, wie z. B. »class«, »race« oder »age«, untersucht (vgl. Benner 2016). Neben der Verankerung in unterschiedlichen wissenschaftlichen Fächern haben sich Gender Studies zusätzlich als zunehmend eigenständige ›Integrationsdisziplin‹ mit eigenen Studiengängen, Professuren und Publikationsorganen etabliert (vgl. z. B. Funk 2018). Die Diskussion um die Konstruktions- und Wirkweisen von Geschlecht in verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten hat sich in den zurückliegenden Jahren weiter ausdifferenziert. Im Bereich der wissenschaftlichen Reflexion wird dies etwa in der Aufgliederung der Geschlechterforschung in unterschiedlich fokussierte Forschungsbereiche deutlich. Hier sind u. a. die Queer Studies (vgl. z. B. Kraß 2003) zu nennen, die sich kulturwissenschaftlich orientiert vor allem mit Fragen der Herausbildung, Normierung und Diversifizierung sexueller Identitäten beschäftigen. Solche disziplinären Untergliederungen sind jedoch nicht unumstritten (zur akademischen Institutionalisierung der Queer Theorie vgl. Hark 2008). So lehnt etwa Nina Degele eine scharfe Abgrenzung zwischen Gender- und Queer Studies ab (vgl. Degele 2008, 11–14). Stattdessen stellt sie die fruchtbare Komplementarität beider Strömungen heraus und benennt unter Hinweis auf die Fortschreibung fe-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_38
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ministischer Theoriebildung drei gemeinsame Forschungsinteressen von Queer- und Gender Studies: »strukturorientierte Gesellschaftskritik (Geschlecht als sozialstrukturelles Phänomen), interaktionisti scher Konstruktivismus (Geschlecht als interaktiv hergestellt) und diskurstheoretischer Dekonstruktivismus (Geschlecht als Ordnungsprinzip auf der Ebene von Bedeutungen)« (ebd., 14). In methodischer Hinsicht integrieren die Gender Studies unterschiedliche Verfahrensweisen der Analyse, Interpretation und Kontextualisierung. In der Literaturwissenschaft wird beispielsweise untersucht, wie kulturelle Entwürfe von Weiblichkeit oder Männlichkeit in der Literatur oder im Prozess der Lektüre hergestellt, stabilisiert, unterlaufen oder aufgelöst werden: »Dies impliziert u. a., dass der literarische Text in seiner historischen und kulturellen Spezifität, in seinen intertextuellen Bezügen z. B. zu religiösen, politischen, medizinischen oder juristischen Diskursen gelesen wird« (Feldmann/Schülting 2013, 262). Herangezogen werden in gender-orientierten Untersuchungen literarischer Texte u. a. verschiedene erzähltextanalytische Positionen (vgl. z. B. Nünning/ Nünning 2004), dekonstruktive Verfahren (vgl. z. B. Babka/Posselt 2016), Diskursanalyse (vgl. Schößler 2008, 91–104) oder Ansätze zur Herstellung intertextueller Bezüge (vgl. z. B. Baisch/Kappert/Schuller u. a. 2002). Der Frage nach dem historischen, soziokulturell aufgeladenen literarischen und theatralen Spiel mit Geschlechteridentitäten gehen auch kulturwissenschaftliche Arbeiten nach, die im Umfeld des New Historicism anzusiedeln sind (vgl. Schößler 2009; Pailer/Schößler 2011). Einen wichtigen Einfluss haben darüber hinaus vor allem in queertheoretischer Sicht Ansätze aus dem Bereich der Postcolonial Studies, die mit der von Homi K. Bhabha geprägten Denkfigur »dritter Räume« binären Konstellationen in Texten und Lektüren ihre Eindeutigkeit entziehen und Unbestimmtheit erzeugen (s. Babka 2017; 2019). Es haben sich somit in den zurückliegenden Jahren zwei wesentliche Perspektiven etabliert, von deren Standpunkt aus Kinder- und Jugendliteratur unter Genderaspekten erforscht wird: Sie ist einerseits Untersuchungsgegenstand für Forschungen, die der eigenständigen ›Integrationsdisziplin‹ Gender Studies zuzuordnen sind. Andererseits bezieht in den letzten Jahren aber auch die literaturwissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendliteratur im Rahmen der Kinder- und Jugendliteraturforschung wichtige theoretische Impulse und empirische Befunde aus den Gender Studies, die u. a. durch das ge-
stiegene Interesse der Literaturdidaktik an der Förderung von »Genderkompetenz« als Teilaspekt des literarischen Lernens zusätzlich an Bedeutung gewinnen (vgl. Schilcher/Müller 2016). Aufgrund der nicht durchgehend klaren disziplinären Abgrenzung der Gender Studies kann in manchen Fällen nicht trennscharf unterschieden werden, welche Perspektiven und Fragestellungen eher den Gender Studies zuzuordnen sind (vgl. hierzu z. B. Wulf: Mädchenliteratur und weibliche Sozialisation [1996] oder Böhm: Archaisierung und Pinkifizierung. Mythen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Kinder- und Jugendliteratur [2017]) und welche zur Kinder- und Jugendliteraturforschung im engeren Sinne zählen (s. beispielsweise Dahrendorf Das Mädchenbuch und seine Leserin. Jugendlektüre als Instrument der Sozialisation [1970] oder das 2016 von Petra Josting, Caroline Roeder und Ute Dettmar herausgegebene Themenheft Immer Trouble mit Gender? der Zeitschrift kjl&m). Um eine an Fragestellungen und Theorien der Gender Studies interessierte Forschung zur Kinder- und Jugendliteratur von solchen Untersuchungen abzugrenzen, die – im Sinne der Integrationsdisziplin Gender Studies – Texte und Medien der Kinder- und Jugendliteratur hauptsächlich zur Illustration gesellschaftlicher Mechanismen und Konstruktionsweisen von Geschlecht heranziehen, kann jeweils nach der literaturwissenschaftlichen bzw. ästhetisch-formalen oder literaturdidaktischen Fundierung bzw. Rahmung der jeweiligen Untersuchung gefragt werden.
38.3 Historische Entwicklungen Kinder- und Jugendliteratur ist bereits relativ früh, beginnend in den 1970er Jahren, unter Gender-Gesichtspunkten untersucht worden (zu den Anfängen der modernen Kinder- und Jugendliteraturforschung vgl. Doderer 2015). Eine erste einschlägige Studie legte Malte Dahrendorf 1970 vor, wobei sich etwa mit Anneliese Hölders Arbeit Das Abenteuerbuch im Spiegel der männlichen Reifezeit. Die Entwicklung des literarischen Interesses beim männlichen Jugendlichen aus dem Jahr 1967 auch schon vorher wissenschaftliche Untersuchungen zu geschlechterspezifischen Umgangsformen mit Kinder- und Jugendliteratur nachweisen lassen. Die sich damals abzeichnende Fokussierung der Forschung vor allem auf das erzählende Genre des Kinder- und Jugendromans sowie – später – auf das Bilderbuch ist bis in die Gegenwart weitgehend erhalten geblieben (s. hierzu die Gegenstands-
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auswahl bei Josting/Roeder/Dettmar 2016). Zu Gender-Aspekten der Kinder- und Jugendlyrik oder dramatischen Texten liegen kaum einschlägige Forschungsbeiträge vor. Dieser Befund lässt sich auch auf die stärker literaturdidaktisch orientierte Forschung zur Kinder- und Jugendliteratur übertragen. In neueren Studien rückt der literarische Medienverbund zwar verstärkt in den Fokus (vgl. z. B. Weinkauff/Dettmar/Möbius u. a. 2013), nichtgedruckte Texte sind aber nach wie vor weniger gut erforscht. Von wenigen Beiträgen abgesehen, bleibt auch eine systematische gender-orientierte Auseinandersetzung mit den expandierenden Genres des Kinderfilms (vgl. Zhang 2018) bzw. der populären Kinderserien (vgl. Kurwinkel/Kumschlies 2016; Götz 2013a), serieller Hörspiele oder Comics und Computerspielen ein Desiderat, das von der Forschung erst seit kurzem bearbeitet wird (vgl. die Beiträge in Dettmar/Tomkowiak 2019). Die genderspezifische Forschung zur Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 untersuchte zunächst das Handlungspotential vor allem weiblicher Figuren und orientierte sich später auch an Verfahren des ›queer reading‹. Diese Herangehensweise an Kinder- und Jugendliteratur gewann mit dem vermehrten Erscheinen von Texten, die eingespielte Geschlechteridentitäten kritisch hinterfragen, an Bedeutung. In den meisten historischen Abrissen zur Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur liegt der genderbezogene Fokus auf der sogenannten Mädchenliteratur und ihren genremäßigen Ausformungen (z. B. ›Backfischliteratur‹, vgl. z. B. Stichnothe 2016). Wiewohl die Auseinandersetzung mit fiktionalisierter Männlichkeit in der Erwachsenenliteratur in den letzten Jahren an Relevanz gewonnen hat (vgl. Tholen 2015, Krammer 2018), ist die Kinder- und Jugendliteratur mit diesem spezifischen Schwerpunkt bislang wenig beforscht (s. Hölder 1967; Weißenburger 2009). Männliche Geschlechtsidentität und ihre Konstruktionsweisen wurden zunächst kaum explizit behandelt. In den letzten Jahren hat sich zumindest das Interesse der Leseforschung für geschlechterspezifische Lektüreweisen erhöht (vgl. z. B. Plath/Richter 2010). Annette Kliewer erkennt (vgl. 2016, 97) diesbezüglich einen »boy turn«, der aufgrund der Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Bereich der Leseforschung stattfand und auch dazu führte, dass den Darstellungen von Geschlechteridentitäten in literarischen Texten und Medien sowie der geschlechterspezifischen Leseförderung, z. B. im Rahmen der Initiative »boys&books«, mehr Aufmerksamkeit zukam. Sie weist jedoch zu-
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gleich auf problematische Verkürzungen hin, die aus der neuen Aufmerksamkeit für die Geschlechterspezifik des Lesens hervorgegangen sind und auch für die gender-orientierte Auseinandersetzung mit Kinderund Jugendliteratur Konsequenzen haben: In aller Regel werden Jungen und Mädchen lesebezogen als typische Vertreter ihres Geschlechts angesehen. Ein Nachdenken beispielsweise über queere Leseidentitäten und -bedürfnisse (vgl. Woltjen 2019) findet kaum statt. Die wichtige, von Judith Butler formulierte Einsicht, dass auch das biologische Geschlecht konstruiert ist, wird in der Untersuchung geschlechterspezifischen Lesens somit nicht hinreichend berücksichtigt (vgl. Kliewer 2016, 98). Im Weiteren werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, wichtige genderspezifische Entwicklungstendenzen der Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 skizziert. In diesem Zusammenhang wird auf einschlägige Forschungsbeiträge verwiesen, die sich genderorientiert mit den genannten literarischen Texten und Zeiträumen befassen. Der Artikel konzentriert sich, der Forschungslage entsprechend, auf erzählende Texte, die nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland erschienen sind. Für die Kinder- und Jugendliteratur der DDR finden sich bislang kaum gender-orientierte Studien, weshalb dieser wichtige Forschungsbereich im Weiteren nicht berücksichtigt wird (vgl. zur Kinderund Jugendliteratur der DDR Richter 2016). Andrea Weinmann grenzt für die Kinder- und Jugendliteratur der unmittelbaren Nachkriegszeit in den westlichen Besatzungszonen zwei »Themengruppen« voneinander ab (Weinmann 2012, 16), die sich in ihrer geschlechterbezogenen Rezeptionsintention unterscheiden. Zum einen nennt sie die Vertreibungsund Fluchtliteratur, die sich gezielt an Mädchen richtet. Dieses Genre erscheint in den späten 1940er Jahren und wird in den 1950er Jahren noch produktiver (vgl. ebd.). Zum anderen weist sie auf jene Literatur hin, die sich meist an Jungen wendet und der »Trümmerliteratur« bzw. dem Thema des »Aufbaus« zuzuordnen ist. Die in diesen Texten verhandelten Themen verlieren nach wenigen Jahren an Bedeutung. Erst in den späten 1970er Jahren wird die Erfahrungswelt zerbombter Städte als Thema in Texten wieder aufgegriffen, die nun aber nicht mehr ausschließlich an Jungen adressiert sind. Gegen Ende der 1940er Jahre handeln diese Bücher von Banden meist männlicher Jugendlicher, die entweder Abenteuer in den vom Krieg zerstörten Städten erleben (z. B. Klaus Brünes Die schwarze Fahne [1948]; Robert Neumanns Die Kinder von Wien [1948] oder Walther Pollatscheks Die
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Aufbaubande [1948]) oder fußballspielend in den Trümmern der zerstörten Städte (Karl Bruckners Die Spatzenelf [1949]) ›kameradschaftlich‹ Zeit miteinander verbringen. Rüdiger Steinlein liest diese Romane als eine »Enthistorisierung der Schauplätze und der Handlungszusammenhänge« (Steinlein 2008, 317), weil gerade Kameradschaft unter Jungen ein zentrales Thema in früheren NS-Romanen war. 1949 erschien mit Erich Kästners bis heute populärem Roman Das doppelte Lottchen ein literarischer Text der Nachkriegszeit, der für die gender-orientierte Kinder- und Jugendliteraturforschung nach wie vor ein wichtiger Referenztext ist. Der Roman stellt nicht nur eine alleinerziehende, arbeitende Frau vor, sondern präsentiert auch mutige und unerschrockene Mädchenfiguren. Die Überschreitungen bekannter Geschlechterrollen in der Literatur deutet Weinmann mit Blick auf die gesellschaftlichen Kontexte der Nachkriegszeit und weist vor allem auf die hohe Scheidungsrate der damaligen Zeit hin (vgl. Weinmann 2012, 18). Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Veränderungen liest Weinmann Das doppelte Lottchen als ein Plädoyer für das Recht der Kinder auf eine intakte Familie, in der, wie sie resümiert, die Eltern »ihre persönlichen Interessen zurückzustellen« (ebd.) hätten. Diese Leseweise, die die Ansprüche der Kinder und die Emanzipation der Mutterfigur miteinander kontrastiert, führt an eine wichtige Frage heran: Ist Das doppelte Lottchen bezüglich des literarisch vermittelten Frauenbildes reaktionär oder fortschrittlich? Mit Blick auf die im Roman vorgestellte Repräsentation einer selbstständigen Frau und alleinerziehenden Mutter könnte durchaus von einem ›fortschrittlichen Frauenbild‹ gesprochen werden. Da der Roman aber eben dieses Bild abschließend auflöst, indem die getrennte Familie wieder zusammengeführt und somit ein wichtiger Teil der gesellschaftlich fest verankerten, normativen ›Grundordnung‹ wiederhergestellt wird, könnte auch eine gegenteilige Deutung formuliert werden. Ebenfalls 1949 erschien die deutsche Übersetzung des unter Gender-Gesichtspunkten wohl nachhaltigsten Werkes der Kinder- und Jugendliteratur: Astrid Lindgrens 1945 erstmals publizierte Geschichte der Pippi Langstrumpf (schwed. Pippi Långstrump), der in Deutschland bis 1951 zwei weitere Romane folgten. Das in den Romanen dargestellte Mädchen unterscheidet sich deutlich von den bislang bekannten Figuren, weshalb Pippi rasch als die subversive Mädchengestalt schlechthin galt (für eine kritischere Auseinandersetzung mit Pippi Langstrumpf vgl. Lexe
2003; Stichnothe 2018). Als eine Ursache für die paradigmatische Stellung der Figur im Bereich der Kinderund Jugendliteratur führt Astrid Surmatz in diesem Zusammenhang an, dass Pippi Langstrumpf seit dem Erscheinen der Romane standardmäßig für Vergleiche mit anderen literarischen Figurenkonzeptionen herangezogen wurde (vgl. Surmatz 2005, 15). Die Sonderstellung der Figur resultiert u. a. aus der Abwesenheit bzw. Substitution traditioneller gesellschaftlicher Instanzen im Roman: Pippi Langstrumpf lebt ohne Eltern und ist dennoch glücklich. Für das Erleben einer erfüllten Kindheit ist in Lindgrens literarischer Welt die intakte Familie keine notwendige Voraussetzung mehr. In den Pippi Langstrumpf-Romanen spiegelt sich die in den 1950er Jahren stattfindende Transformation der gängigen Auffassungen von Kindheit, die mit einer schrittweisen Überwindung des moralisch-didaktischen Erzählens hin zu einer »kindgemäßen Literatur« verbunden war (Weinmann 2012, 18). Als starkes, lustvoll fabulierendes, unabhängiges Mädchen verkörpert Pippi nicht nur einen neuen Mädchentypus. Erstmalig in der Geschichte der Kinderund Jugendliteratur, und dies ist unter Gender-Gesichtspunkten entscheidend, repräsentiert eine Mädchen- und keine Jungenfigur ein neues Kindheitsbild, das für weibliche und männliche Leser gleichermaßen Identifikationspotential bereithält. Die Hervorhebung des besonderen Falls der Lindgren-Romane darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mädchenliteratur der Nachkriegszeit zunächst weiterhin noch maßgeblich den literarischen Konventionen der ›Backfischliteratur‹ des frühen 20. Jahrhunderts verbunden blieb. Erst in den 1970er Jahre löste sich die Mädchenliteratur von den traditionellen Vorgaben des literarischen Erzählens (vgl. Grenz 2008, 380). Zumindest einige Arbeiten zur Literatur der 1950er Jahre thematisieren die in den Texten vermittelten Handlungsspielräume weiblicher Figuren und die damit verbundenen normativen Tabuisierungen, die das Verhalten von Mädchenfiguren normieren und regulieren (vgl. bspw. Wulf 1996, 49–53). Die Kinder- und Jugendliteratur der 1950er Jahre zeichnet sich weiterhin durch eine Hinwendung zur phantastischen Literatur aus, die bereits in den Pippi Langstrumpf-Romanen anklingt (vgl. Ballis 2016, 235), in Otfried Preußlers Die kleine Hexe (1957) dann deutlich sichtbar wird. Steinlein beschreibt die kleine Hexe als subversive Gestalt und Ausdruck einer »radikal antiautoritären Entmachtungsfantasie« (Steinlein 2008, 329), ohne aber näher darauf ein-
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zugehen, dass es sich um eine weibliche Figur handelt. Heinke Kilian (2015) setzt sich kritisch mit den literarischen Nachfolge-Figuren von Preußlers Kleiner Hexe auseinander, Nadine Heiduk ordnet die Hexendarstellung in das Gesamtspektrum der Hexenliteratur ein und resümiert, dass die kleine Hexe ein »magisches Wertesystem erschaffen« (Heiduk 2015, 251) hätte, das prägend für die nachfolgenden Hexennarrative sei. Geschlechterbezogen liest Heiduk die kleine Hexe als Figur, die im weiblichen Geschlecht »verhaftet« (ebd., 243) bleibt, als »komödiantische, nicht außerordentlich attraktive Gestalt« (ebd.). Mit Blick auf die 1960er Jahre hat sich die Kinderund Jugendliteraturforschung umfassender mit Genderaspekten beschäftigt. Ute Dettmar rückt für dieses Jahrzehnt eine Frauenfigur in den Fokus, die allerdings vor allem in ihrem Medienverbund zu lesen ist: Barbie. Im Gegensatz zu anderen Forschern, die Ergebnisse und Erfolge emanzipatorischer Bewegungen erst für die 1970er Jahre verzeichnen, erkennt Dettmar bereits in den Barbie-Romanen erste Anzeichen eines sich verändernden Frauenbilds (vgl. Dettmar 2016, 57). Am Beispiel der Geschichten, in denen »weder Mutterschaft als Ideal noch familiäre Abhängigkeit propagiert würden« (ebd., 60), arbeitet sie heraus, wie sich die literarische Verknüpfung feministischer Überlegungen mit Aspekten der Konsumkultur von den realgesellschaftlichen Verhältnissen der 1960er Jahre in Deutschland unterscheiden. Auch Wurzenberger (2012) hebt die Bedeutung der BarbieRomane unter Gender-Gesichtspunkten hervor: Anhand des aktuellen Medienkomplexes Prinzessin Lillifee erläutert sie, dass sich seit den 1970er Jahren und der damaligen Diskussion um das in den Barbie-Romanen vermittelte Frauenbild die Welt der Mädchen an die der Erwachsenen angenähert habe (vgl. ebd., 46–47) und zwar über das Konsumieren als Akt der Selbstbestimmung (vgl. ebd., 47). 1968 erschien in Deutschland außerdem der erste Band der Jugendbuchreihe Die drei ???, die gezielt Jungenfiguren ins Zentrum seriellen Erzählens stellte. Ende der 1970er Jahre startete die zugehörige Hörspielreihe. Der erste Band der an Mädchen adressierten Serie Die drei !!! erschien hingegen erst 2006. In den 1970er Jahren kommt es zu weitreichenden Entwicklungen, die vor allem aus Sicht der gender-orientierten Kinder- und Jugendliteraturforschung von Interesse sind: Nach den politischen und gesellschaftlichen Debatten, die um das Jahr 1968 stattfanden, entwickelt sich im darauffolgenden Jahrzehnt eine emanzipatorische Mädchenliteratur. Diese neue Entwick-
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lung lässt sich vor allem daran erkennen, dass nun auch Mädchenfiguren das Genre des Adoleszenzromans erobern. Auch wenn Hadassah Stichnothe genregeschichtlich darauf hinweist, dass sich weibliche Figuren schon in der Frühphase des Adoleszenzromans zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden (vgl. Stichnothe 2016, 14), bleibt diese Form des Jugendromans, anders als im Bereich der Kinderliteratur, doch bis in die 1970er Jahre hinein vor allem Jungenfiguren vorbehalten. Ab der Mitte der 1970er Jahre verhandelt die emanzipatorische Mädchenliteratur vor allem auf kritische Weise das Bild der Frau in der Gesellschaft und thematisiert Fragen nach weiblicher sexueller Freiheit (vgl. Grenz 2008, 380–381). Die Texte dieser Zeit verknüpfen emanzipatorische Diskurse aber auch mit anderen sozialen, ökologischen und historischen Themen. Einschlägige literarische Texte sind hierbei Christine Nöstlingers Stundenplan (1975) und Pfui Spinne (1980), Dagmar Chidolues Aber ich werde alles anders machen (1981), Irina Korschunows Anruf von Sebastian (1981) und Renate Welshs Johanna (1979). Dagmar Grenz fasst die Entwicklungen und Tendenzen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur dieser Zeit, analog zu dem allgemeinliterarischen Konzept der »litterature engagée«, als »Problemliteratur« zusammen. Problemliteratur will aufklären, zur Überwindung überkommener gesellschaftlicher Rollenbildern ermutigen und Empathie für sozial benachteiligte Menschen wecken (vgl. ebd., 383). Ab der Mitte der 1980er Jahre bildet sich der psychologische Mädchenroman heraus, eine Entwicklung, die Grenz im Zusammenhang mit dem sogenannten ›Differenzfeminismus‹ betrachtet. Im Unterschied zum Gleichheitsfeminismus will die Bewegung des Differenzfeminismus spezifisch weibliche Eigenschaften und Verhaltensweisen positiv besetzen (vgl. als Hauptvertreterin dieser Position Luce Irigaray 1987). Dabei stehen in diesen literarischen Texten, z. B. in Rudolf Herfurthners Rita, Rita (1984) und Dagmar Chidolues Lady Punk (1985), im Unterschied zur emanzipatorischen Mädchenliteratur weniger die sozialen Zusammenhänge, sondern das weibliche Innenleben und Gefühlsambivalenzen im Zentrum. Solche Geschichten verfolgen die Absicht, Leserinnen bei der weiblichen Identitätsfindung zu unterstützen (vgl. Grenz 2008, 385). Dass dieses Genre bis heute produktiv ist, vor allem in Texten, die weibliche Magersucht verhandeln, diskutiert Susanne Hochreiter (2012) am Beispiel von Alexa Hennig von Langes Leute, ich fühle mich leicht (2008). Dabei liest sie in ihrer Betrachtung der »Hungerkünstlerinnen« den weibli-
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chen Körper als letztes unbesetztes Gebiet, also als Handlungsspielraum für weibliche »agency«. Gerade im Kontext der 1980er Jahre zeigt sich jedoch auch, dass die ästhetisch-mediale Darstellung von Frauenfiguren das Projekt der weiblichen Emanzipation nicht durchgehend konsequent weiterführt. Darauf weist beispielsweise Bettina Wild in ihrer Untersuchung dreier Fernsehserien aus den frühen 1980er Jahren hin (z. B. die beliebte Serie Anne of Green Ga bles [Erstausstrahlung ZDF 1986]). In diesen Formaten werden in »der Hochzeit des kämpferischen Feminismus [...] den Zuschauerinnen aufmüpfige Mädchen vorgeführt, die sich trotzig gegen ihre Umwelt behaupten, die aber [...] zugleich als Repräsentantinnen traditioneller weiblicher Tugenden gesehen werden können« (Wild 2015, 48). Mit Beginn der 1990er Jahre etablieren sich im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur einerseits Formen des seriellen Erzählens (s. Kap. 17), andererseits beginnt der Einzug von nichtheteronormen Lebensweisen in die Kinder- und Jugendliteratur. Als lesbisches Beispiel lässt sich hier Jenny Pausackers Was bist du? (1990) nennen, als schwuler Text ist etwa auf Aidan Chambers Tanz auf meinem Grab (1994) hinzuweisen. Elisabeth Buchholtz verweist darauf, dass in den Texten der 1990er Jahre homosexuelle Protagonistinnen und Protagonisten mit schwierigen Reaktionen ihres Umfeldes konfrontiert sind (vgl. Buchholtz 2004, 60–61). Beispielgebend hierfür ist Timothy Irelands Martins Coming Out (1996). Grundsätzlich ist in diesen Texten zwischen innerem und äußerem Coming-out zu unterscheiden. In den 1990er Jahren, so Buchholtz, stehe jedoch der erste Teilprozess, das Selbsterkennen der eigenen Sexualität, im Vordergrund (vgl. ebd., 61). Ein Forschungsthema, das zuvor an Bedeutung verloren hat, wird in diesem Kontext wieder relevant: die in den literarischen Texten vermittelten Bilder der Eltern. Wie Eltern auf die nichtheteronormative Sexualität ihrer Kinder reagieren, ist ein wesentliches Thema der Homosexualität verhandelnden Literatur der 1990er Jahre. Dabei fällt auf, dass Väterfiguren häufig abwesend sind, z. B. in Andreas Steinhöfels Die Mitte der Welt (1998), oder negativ gezeichnet werden, z. B. in Irelands Martins Coming Out oder in Rodger Larsons Schmetterlingssommer (1998). Einen wichtigen Forschungsbeitrag zur Geschlechterrollenspezifik der Kinderliteratur der 1990er Jahre hat Anita Schilcher 2004 vorgelegt. Anhand der Untersuchung von 82 Romanen zeigt sie, dass sich die Kinderbücher von geschlechterspezifischen Normie-
rungen tendenziell abwenden und einer »Universalisierung und Pluralisierung der Geschlechterverhältnisse« (Schilcher 2004, 17) zuarbeiten. Die Ergebnisse ihrer Figurenanalysen verdichtet Schilcher zu einer Typologie von Mädchen- und Jungenfiguren in der Kinderliteratur des Untersuchungszeitraums. Erstere sind zumeist »moderne starke Mädchen« (ebd., 8), Letztere sind »in der Regel sensibel und einfühlsam, verantwortungsbewusst und phantasievoll« (ebd., 15). Sie stellt außerdem fest, dass die Rollenmuster bei den Mädchenfiguren zu dieser Zeit schon weniger statisch sind als die der Jungenfiguren. Dass dies allerdings für eine bestimmte, nämlich die männliche Leserschaft, ein Problem darstellt, zeigt Kliewer (2004) und dann ausführlich Christian Weißenburger (2009). Kliewer verweist darauf, dass das gesellschaftliche Bild vom neuen Mann noch nicht geprägt sei und dies u. a. dazu führe, dass männliche Jugendliche sich in den Büchern nicht mehr wiederfänden. Weißenburger plädiert deshalb aus einer didaktischen Perspektive dafür, im Unterricht wieder mehr ›Heldenliteratur‹ einzusetzen. Diese Kompensation einer männlichen Leerstelle in der Kinder- und Jugendliteratur deklariert Kerstin Böhm (2017) als archaisierenden Akt. Böhm beschreibt in diesem Zusammenhang eine generelle Tendenz hin zu Reinszenierungen traditioneller Heldenmotivik in einigen neueren Verlagsreihen, die sich ausschließlich an eine männliche Leserschaft wenden. Mit dieser Neuetablierung einer männlichen Leserschaft auf der einen Seite, so Böhm, gehe auf der anderen Seite die »Pinkifizierung« von Literatur einher (vgl. Böhm 2017). Böhm konstatiert somit eine neuerliche Zweiteilung der Kinder- und Jugendliteratur (vgl. ebd., 157), in der die Binarität der Geschlechter festgeschrieben sei zwischen der »Revitalisierung archaischer Heldenmythen« (ebd.) (Archaisierung) und der »Objektifizierung weiblicher Körper mit Tendenzen zur Sexualisierung« (ebd.) (Pinkifizierung). Dass dieses ernüchternde Bild nicht nur für die von Böhm untersuchten geschlechterspezifischen Reihen gilt, zeigt sich bei einer Betrachtung der Figur der Abenteurerin, wie Manuela Kalbermatten (2012) sie anhand der Hermine aus Harry Potter (engl. 1997– 2007; dt. 1998–2007) und anderen zeitgenössischen Figuren der Fantasy-Literatur vornimmt. Die Nullerjahre des 21. Jahrhunderts sind aus Gender-Perspektive bislang erst in Ansätzen beforscht. Dieter Wrobel (2010) betont mit Blick auf die Kinderund Jugendliteratur dieser Jahre einerseits die stark marktorientierte Mädchenadressierung vieler Texte, die zum Teil bereits in den 1990er Jahren entstanden
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sind, nach 2000 durch den sich ausweitenden Medienverbund aber zunehmend an Beliebtheit gewannen (z. B. Cornelia Funkes Die Wilden Hühner [1993– 2009] oder Bibi und Tina [Kiddinx seit 1991]). Andererseits erkennt Wrobel aber am Beispiel der männlichen Protagonisten in Steinhöfels Roman Rico, Oskar und die Tieferschatten (2008) auch ein zunehmendes Interesse der Kinder- und Jugendliteratur am Hinterfragen geltender Kriterien von Normalität (Wrobel 2010, 7). Der Einfluss inklusions-orientierter Überlegungen in Bildung und Forschung führte dazu, dass Kinder- und Jugendliteratur vermehrt mit Blick auf intersektionale Aspekte betrachtet wurde. Begreift man Intersektionalität als Teil von queer reading, so lassen sich solche Lektüren literarischer Texte bereits dem Bereich der Queer Studies zuordnen. Zugleich sind diese Beobachtungen aber auch für Fragestellungen der Männlichkeitsforschung anschlussfähig. Mit Beginn der 2010er Jahre setzt ein neuer Trend hin zu Kinder- und Jugendtexten ein, die Geschlechteridentitäten gezielt hinterfragen: Zu nennen sind in diesem Zusammenhang beispielsweise Alex Ginos George (engl. 2015; dt. 2016), Lilly Axsters Atalanta Läufer_in (2014), Sarah Barczyks Nenn mich Kai (2016) und David Levithans Letztendlich sind wir dem Universum egal (Every Day, engl. 2012; dt. 2014). Diese und andere Texte thematisieren kritisch die unterschiedlichen Dimensionen von Geschlecht und die mit ihnen verbundenen Repressionen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. Zumeist spielt die Frage nach der sexuellen Identität in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Häufig geht es in den Romanen um Transpersonen und ihren Kampf um Anerkennung, wie in Ginos George oder Barczyks Nenn mich Kai. Levithan hingegen entwirft eine körperlose, weil täglich körperwechselnde Protagonist*innen-Instanz, die es Lesern ermöglicht, in mehrere Geschlechtsidentitäten hineinzuspüren. Schilcher deutet diese erzählerische Anlage als Dekonstruktion von Gender und erkennt darin ein Merkmal neuerer Jugendliteratur (vgl. Schilcher 2016, 190). Ähnlich angelegt, wenn auch weniger dynamisch konzipiert als bei Levithan, ist die von T. Cooper und Allison Glock-Cooper verfasste vierteilige Changers-Serie (engl. 2014–2018; dt. 2015–2018), in der manche Jugendliche in jedem Schuljahr einmal das Geschlecht wandeln, bis sie eine feste (Geschlechts-) Identität erlangen. Vermehrt erscheinen in diesem Zeitraum nun auch Texte, die nichtheteronormatives Begehrensverhalten in den Fokus rücken und in diesem Zusammenhang vor allem Probleme der Anpassung an gesellschaftli-
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che Erwartungen und Fragen individueller Zugehörigkeit thematisieren. Verdeutlichen lässt sich dies beispielsweise an ausgewählten Texten des Autors Levithan. Sein Roman Two Boys Kissing (engl. 2013; dt. 2015) erzählt vom Kussweltrekordversuch zweier schwuler Jungen und zugleich von der Geschichte der Homosexualität in neuerer Zeit. Anhand zahlreicher historischer Bezugnahmen zeigt Levithan, wie sich die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexualität gewandelt hat. Völlig unproblematisch, jedoch noch nicht als Nebenthema, ist nichtheteronormatives Begehrensverhalten auch schon in Levithans Noahs Kuss und plötzlich ist alles anders... (Boy Meets Boy, engl. 2003; dt. 2011) dargestellt. Auch in Steinhöfels Adoleszenzroman Die Mitte der Welt aus dem Jahr 1998 (verfilmt 2016 von Jakob M. Erwa) wird die Homosexualität des Protagonisten Phil nicht normativ problematisiert (vgl. für einen Überblick Müller/Olsen 2016, 374), sondern unvoreingenommen erzählt. Phils unkonventionelle Familie akzeptiert sein Bekenntnis zur Homosexualität ohne Vorbehalte, sodass das Comingout in Steinhöfels Roman nicht mehr als einschneidende Befreiung dargestellt wird. Die genretypische Loslösung vom Elternhaus erfolgt in Die Mitte der Welt auf andere Weise. Ein weiblicher Paralleltext zu Steinhöfels Roman ist beispielsweise der österreichische Film Siebzehn (Monja Art 2017), in dem die erste große Liebe thematisiert wird, ohne dabei das bisexuelle Begehrensverhalten der Protagonistin in problematisierender Weise zu schildern.
38.4 Forschungsstand Im Folgenden werden einige neuere, bislang nur am Rande erwähnte gender-orientierte Ansätze der Kinder- und Jugendliteraturforschung, die sich in den letzten Jahrzehnten etabliert haben, schlaglichtartig vorgestellt. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Kinderund Jugendliteraturforschung im Wesentlichen textbasierter Forschung nachgeht. Eine große Anzahl an Forschungsbeiträgen konzentriert sich dementsprechend auf die literatur- und medienwissenschaftlich fundierte Analyse von geschlechterbezogenen Rollen- und Körperbildern, die in Texten und Medien der Kinder- und Jugendliteratur vermittelt werden. Verknüpft werden solche Untersuchungen oftmals mit Fragen nach der Bedeutung der untersuchten Texte für die literarische Sozialisation. In diesem Zusammenhang finden sich auch Studien, die sich im An-
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
schluss an die Forschung der 1970er Jahre kritisch mit der Zielgruppenspezifik literarischer Texte befassen (vgl. z. B. Böhm 2017). Hans Krah legt ein Analysemodell vor, das die Repräsentation von Geschlecht in literarischen Texten und Medien möglichst mehrdimensional erschließt. Untersucht werden Texte hierbei unter den Gesichtspunkten von Gender-Trägern (den Figuren), dem Gender-Setting, (dem Umfeld, in dem diese Figuren agieren), den Gender-Aktionen (den unter GenderGesichtspunkten relevanten Handlungen, die diese Figuren ausüben), den Gender-Diskursen (die Präsenz, Relevanz oder Abwesenheit des Themas Gender in den Texten) und der Gender-Rhetorik (vgl. Krah 2016a, 55–60). Zur Bedeutung weiblicher oder männlicher Autorschaft im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur bzw. den hierbei wirksamen textuellen und außertextuellen Prozessen der Inszenierung und Darstellung finden sich bislang kaum einschlägige Untersuchungen (vgl. für den literaturwissenschaftlichen Bereich z. B. John-Wenndorf 2014). Größer ist das Interesse hingegen an Aspekten des ›gender marketing‹, der gerade im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur wiederentdeckt wird (vgl. Böhm 2017, 7). Krah beispielsweise weist in seiner Betrachtung der Reihe freche Mädchen – freche Bücher darauf hin, dass die literarischen Weiblichkeitsbilder häufig nur an der Oberfläche von tradierten Geschlechtskonzeptionen abweichen, die grundierenden Geschlechterverhältnisse aber in der Tiefe mehr oder weniger traditionell sind (vgl. Krah 2016b). Ein weiterer neuerer Forschungszweig befasst sich mit Übersetzungen und Neuauflagen und den dabei aufzufindenden Veränderungen in der Repräsentation von vergeschlechtlichten Figuren: So behandelt bereits Surmatz das Problem der Übersetzung Pippi Langstrumpfs (vgl. Surmatz 2005), wobei Stichnothe 2018 noch einmal auf die neueren Übersetzungen eingeht, Monika Plath und Karin Richter untersuchen das völlig veränderte Mädchenbild der Figur Pony Hütchen in der Neuverfilmung Emil und die Detektive von 2000 (vgl. Plath/Richter 2010) und Peter Rinnerthaler setzt sich vor allem mit veränderter Bildästhetik bei einer Neuausgabe von Pippi Langstrumpf (hin zu einer Verharmlosung dieser Figur) auseinander (vgl. Rinnerthaler 2019). Schließlich finden sich im Bereich aktueller Untersuchungen zum Zusammenhang von Kinder- und Jugendliteratur und Populärkultur (vgl. Dettmar 2019) Beiträge, die nach der Konstruktion bzw. Inszenierung von Geschlechterrollen in ak-
tuellen medialen Kontext fragen (vgl. z. B. Götz 2015). So setzen sich Felix Giesa und Andre Kagelmann beispielsweise mit audio-visuellen (Re-)Präsentationen von Johanna Spyris Kinderbuchklassiker Heidi (1880/81) auseinander (vgl. Giesa/Kagelmann 2019) und Schenker liest Bibi Blocksberg (Kiddinx seit 1980) als erzählerische Form aus gender- und postkolonialer Perspektive (vgl. Schenker 2019). Literatur
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38 Gender Studies Populärkultur. Kinder- und Jugendliteratur und -medien im Feld des Populären. Berlin 2019. Doderer, Klaus: Die Kinder- und Jugendliteraturforschung in den 1970er-Jahren. In: kjl&m 15.1 (2015), 3–7. Feldmann, Doris/Schülting, Sabine: Gender Studies. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Weimar 52013, 260–263. Funk, Wolfgang: Gender Studies. Paderborn 2018. Giesa, Felix/Kagelmann, Andre: ›Mediale Wahlverwandtschaften‹? Aktuelle audio-visuelle (Re-)Präsentationen von Johanna Spyris Heidi. In: Ute Dettmar/Ingrid Tomkowiak (Hg.): Spielarten der Populärkultur. Kinder- und Jugendliteratur und -medien im Feld des Populären. Berlin 2019, 171–196. Götz, Maya: Die Fernsehheld(inn)en der Mädchen und Jungen. Geschlechterspezifische Studien zum Kinderfernsehen. München 2013a. Götz, Maya: Von Prinzessin Lillifee über Hannah Montana zu Germany’s Next Topmodel. Verstehen, was Mädchen begeistert. In: Computer + Unterricht 92 (2013b), 16–20. Götz, Maya: Barbie vs. SpongeBob. Unterschiedliche Welten bei den Lieblingsfernsehfiguren der Mädchen und Jungen? In: Gender – Medien – Screens (2015), 83–99. Hark, Sabine: Total normal? Queer Theorie in der Akademie. In: Anna Babka/Susanne Hochreiter (Hg.): Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen. Wien 2008. Grenz, Dagmar: Mädchenliteratur. In: Reiner Wild (Hg.) Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart 32008, 379–393. Heiduk, Nadine: Zwischen Innovation und Tradition. Vom reflexiven Umgang mit Preußlers Kleiner Hexe. In: Kurt Franz/Günter Lange (Hg.): Der Stoff, aus dem die Geschichten sind. Intertextualität im Werk Otfried Preußlers. Baltmannsweiler 2015, 221–252. Hochreiter, Susanne: Mein Körper – das letzte unbesetzte Gebiet. Hungerkünstlerinnen in Texten von Alexa Henning von Lange. In: kjl&m 12.4 (2012), 27–33. Hölder, Anneliese: Das Abenteuerbuch im Spiegel der männlichen Reifezeit. Die Entwicklung des literarischen Interesses beim männlichen Jugendlichen. Ratingen 1967. Irigaray, Luce: Zur Geschlechterdifferenz. Wien 1987. John-Wenndorf, Carolin: Der öffentliche Autor. Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern. Bielefeld 2014. Josting, Petra/Roeder, Caroline/Dettmar, Ute (Hg.): Immer Trouble mit Gender? Genderperspektiven. In: kjl&m 16. extra (2016). Kalbermatten, Manuela: Wie junge Abenteurerinnen Erfolgsgeschichte(n) schreiben. Ermächtigungsfantasien und Leistungsimperative im Fantasy-Abenteuer. In: kjl&m 12.4 (2012), 53–63. Kilian, Heinke: Die kleine Hexe und die Folgen. In: Kurt Franz/Günter Lange (Hg.): Der Stoff, aus dem die Geschichten sind. Intertextualität im Werk Otfried Preußlers. Baltmannsweiler 2015, 153–161. Kliewer, Annette: Gender Trouble im Klassenzimmer. Stand der Diskussion zu einer gendersensiblen KJL-Vermittlung. In: kjl&m 16.extra (2016), 97–104. Krah, Hans: Gender, Kinder- und Jugendliteratur und ana-
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
entwickeln. Grundlagen – Analyse – Modelle. Baltmannsweiler 2016, 175–194. Schilcher, Anita/Müller, Karla: Gender, Kinder- und Jugendliteratur und Deutschunterricht. Grundlagen und Didaktik. In: Dies./Jan-Oliver Decker/Hans Krah (Hg.): Genderkompetenz mit Kinder- und Jugendliteratur entwickeln. Grundlagen – Analyse – Modelle. Baltmannsweiler 2016, 15–44. Schößler, Franziska: Einführung in die Gender Studies. Berlin 2008. Schößler, Franziska: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola. Bielefeld 2009. Steinlein, Rüdiger: Neubeginn, Restauration, autoritäre Wende. In: Reiner Wild (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart 32008, 312–342. Stichnothe, Hadassah: Liebe, Krieg und Sommerferien. Der weibliche Adoleszenzroman im historischen Überblick. In: Der Deutschunterricht 2 (2016), 14–24. Stichnothe, Hadassah: Was tun mit schwierigen Mädchen? Zur Rezeption deutscher Übersetzungen von Kinderbuchklassikern. In: JuLit 2 (2018), 16–21. Surmatz, Astrid: Pippi Lânstrump als Paradigma. Die deutsche Rezeption Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext. Tübingen/Basel 2005. Tholen, Toni: Männlichkeiten in der Literatur. Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Beharrung. Bielefeld 2015. Weinkauff, Gina/Dettmar, Ute/Möbius, Thomas/Tomkowiak, Ingrid (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur in Medienkontexten: Adaption – Hybridisierung – Intermedialität – Konvergenz. Frankfurt a. M. 2013.
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Jan Standke / Thomas Kronschläger
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39 Spatial Studies 39.1 Einleitung Raum und Zeit zählen als wesentliche Konstitutionsmerkmale der Literatur (und Kinder- und Jugendliteratur ist hier wesentlich miteinzubeziehen) zu den zentralen Komponenten fiktionaler Wirklichkeitsdarstellung. Blickt man auf die Forschungsliteratur so sieht man einen Turn seit der Jahrtausendwende: Dominierte in vergangenen Jahren der Fokus auf zeitliche Aspekte, so stehen Orte und Räume zunehmend im Interessensfeld der Forschung. Bedeutsam erscheint, dass der Raum-Begriff in seiner kulturwissenschaftlichen Ausrichtung ein Spektrum an innovativen Zugängen eröffnet und konstruktive Verschränkungen mit anderen Fachdisziplinen und ihren Forschungsfragen erlaubt. Für das Korpus von kinder- und jugendliterarischen Texten (mediale Formate sind hier einbezogen) werden neue Sichtweisen und Forschungsfelder möglich. Der Beitrag fokussiert im Anschluss an eine Begriffsdefinition die historische Entwicklung der Raumforschung und den aktuellen Forschungsstand. Hierauf folgt eine Erörterung inter- und transmedialer Forschungsperspektiven.
39.2 Begriffsdefinitionen Seit der Jahrtausendwende avanciert der Raum-Begriff infolge der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Theoriediskussion zur zentralen Kategorie. Dem (kulturwissenschaftlich ausgerichteten) Lexikon von Ansgar Nünning ist eine allgemeine Begriffsbestimmung zu entnehmen. Raum wird definiert als »Konzeption, Struktur und Präsentation der Gesamtheit von Objekten wie Schauplätzen, Landschaft, Naturerscheinungen und Gegenständen in verschiedenen Gattungen.« (Nünning 2001, 536) Im Historischen Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe (Ott 2003, 113–148) wird der Raum-Begriff als relationaler Begriff definiert, der historisch und philosophisch bereits in der griechischen Antike grundiert ist. Zugleich werden zur Bestimmung des Begriffs Raum-Dimensionen in den verschiedenen Disziplinen aufgezeigt und in einer chronologischen Systematisierung mit den kulturellen Kodierungen der verschiedenen Epochen verschränkt. Darüber wird erkennbar, dass Raum-Vorstellungen von dem Bewusstsein der jeweiligen Epoche abhängen. Ver-
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wandte Begriffe dienen der weiteren Spezifizierung von Raum. So ist der Begriff des Ortes von dem des Raums zu unterscheiden: »Wer über ›Raum‹ nachdenkt, spricht von etwas, das es zu konstruieren, gestalten, [...] besetzen gilt.« (Weigel 2002, 16) Dagegen wird der Ort-Begriff gesetzt: »Orte sind demgegenüber dadurch bestimmt, dass an ihnen bereits gehandelt bzw. etwas erlebt und erlitten wurde. Hier hat Geschichte immer schon stattgefunden und ihre Zeichen in Form von Spuren, Relikten, Resten, Kerben, Narben, Wunden zurückgelassen. Orte haben Namen und Geschichte bzw. Geschichten, sie bergen Vergangenheit; Räume hingegen öffnen Dimensionen des Planens und weisen in die Zukunft.« (Ebd.)
Wesentlich erscheint auch, die Begriffe Topographie und Topologie hinzuzuziehen. Etymologisch lassen diese sich von den griechischen Begriffen topos (Ort), graphein (schreiben) und logos (Wort, Rede, Vernunft) herleiten (vgl. Günzel 2007). Die Auseinandersetzung mit dem literarisch gestalteten Raum als einer besonderen Dimension des Raumbegriffs erfährt durch die Verschränkung mit kulturwissenschaftlich ausgerichteten theoretischen Ansätzen methodisch vielfältige Anregungen. Der literarische Raum stellt dabei nur eine der in allen Fachrichtungen ausgeloteten Raumvorstellungen dar.
39.3 Historische Entwicklungen Die Raumforschung entwickelte sich seit der Jahrtausendwende zu einem Leitdiskurs innerhalb der Kulturwissenschaften; Raumwenden werden im Rahmen des ›spatial turn‹ und ›topographical turn‹ diagnostiziert (vgl. Weigel 2002; Bachmann-Medick 2006; Günzel 2017). Wesentlich für diese Turns ist der Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften, der zu einer Abkehr von einer physisch-territorialen (Container-) Raumverortung führte. Die Theoriebildung der Topographieforschung entwickelte sich ausgehend von Arbeiten aus den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts etwa von Georg Simmel und Ernst Cassirer, die soziologisch und philosophisch erste Vermessungen vornahmen. Die Grundannahme aktueller raumtheoretischer Betrachtung geht, Bezug nehmend auf Henri Lefèbvres zum Klassiker avancierten Studie La production de l’espace (1974), von der kulturellen Konstruktion und Konstitution von Räumen aus und legt einen relationalen Raumbegriff zugrunde, der im 21. Jahrhundert
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_39
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eine transkulturelle Ausrichtung erfährt (vgl. Ott 2003, 118; Löw 2011). Charakteristisch für das Feld der aktuellen Raumforschung sind Methodenpluralismus und Begriffsheterogenität; zugleich lässt sich eine Vervielfältigung der Raumkonzepte ablesen: Verschränkt finden sich in diesem Raumbegriff soziale Raumstrukturen und -praktiken (Émile Durkheim, Georg Simmel, Pierre Bourdieu), sozialgeographische Sichtweisen (Edward Soja) und Macht- und Ordnungsdispositive (Michel Foucault; ternäre Raummodelle, Edward W. Said); wesentlich eingeschrieben haben sich postkoloniale Theorien, so z. B. das Denken von Figuren der Zwischen-Räumlichkeit (Homi K. Bhabha, Ottmar Ette). Der Historiker Karl Schlögel weist mit seiner Untersuchung Im Raume lesen wir die Zeit (2003) auf die Verschränkung von Raum und Geschichtsdiskurs und ›aktualisiert‹ Walter Benjamins Geschichtsphilosophie unter historischer Perspektive; Nils Werber lotet geopolitische Aspekte aus. Die Medialität des Raumes wird in philosophischer wie ästhetischer Hinsicht virulent (vgl. Dünne 2010; Günzel 2006, 2012) oder auch unter dem Aspekt der Geopoetik diskutiert (Piatti 2009, 2014; Sasse 2010). Raum dient somit »als Methode zur Analyse von kulturgeschichtlichen Problemstellungen« (Günzel 2017, 23). Stephan Günzel hebt drei Antinomien hervor, »an denen die Verwerfungslinien im Raumdiskurs deutlich werden [...] zum ersten die Behauptung eines Verschwindens von Raum im Gegensatz zu dessen Erstarken, zweitens die deterministische im Gegensatz zur possibilistischen Raumauffassung, und drittens der Gegensatz von ›Raum‹ und ›Ort‹.« (Ebd., 25)
39.4 Forschungsstand Raum und Text: Literatur und ihre Räume Raum und Zeit als wesentliche Konstitutionsmerkmale der Literatur zählen zu den zentralen Komponenten fiktionaler Wirklichkeitsdarstellung. Dennoch findet man in der Literaturtheorie wenige systematische Kategorien für die (literaturwissenschaftliche) Analyse der Raumdarstellung, vergleicht man sie mit denen der Darstellung von Zeit. Als Bestandteil eines fiktionalen Wirklichkeitsmodells ist der literarische vom außerliterarischen Raum zu unterschieden, wenngleich der literarische Raum Bezüge und vielfältige Referenzen zu außerliterarischen Orten und Räumen aufweist oder aufweisen kann. Unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten wird der Raum als Konstruktion an-
gesehen, die im Prozess der Textwahrnehmung, d. h. bei der ästhetischen Illusionsbildung, entwickelt wird. Als wichtige literarische Darstellungsmittel, die in einem Werk bestimmte Funktionen erfüllen, werden Landschaft, Natur und gegenständliche Welt erkannt. Die Raum- und Bauformen der Werke sind dabei bedeutsam geprägt von der jeweiligen Literaturepoche. Entscheidend für die Interpretation von Texten ist es, den Raum und seine Darstellung nicht nur als Schauplatz anzusehen, sondern zu berücksichtigen, dass Räume selbst Erzählfunktion haben (vgl. Preisendanz 1966; Wenzel 2004). Bis in die 1980er Jahre hinein dominierten strukturalistische Analysen der (semiotisch-topologischen) Raumdarstellung (Lotman 1972, Bachtin 1973 – hier insbesondere sein Begriff des Chronotopos). In Abkehr von diesen Herangehensweisen ist die aktuelle Theoriediskussion kulturwissenschaftlich ausgerichtet (vgl. Nünning 2008; Günzel 2010). Neue Leitbegriffe und Raumdimensionen werden einbezogen: So hat sich neben Kartographie cognitive mapping herausgebildet (Hess-Lütich 1999; Reif-Hülser 1999). Fragestellungen, die Liminalität und Grenzüberschreitung beleuchten (Koschorke 1990), waren der Ausgangspunkt; später erweiterten sich diese Ansätze und verschränken die Raum-Studien mit immer weiter gefassten Forschungsgebieten, so zum Beispiel zu Untersuchungen zu Geo-Politik oder Raum und Emotionsforschung (vgl. Werber 2007; Lehnert 2011). Paradigmatisch für die Raumdebatte sind die Studien zu Erinnerung und Gedächtnis zu werten, die sich ab Mitte der 1990er Jahre in die Diskurse eingeschrieben haben (J. Assmann 1992; A. Assmann 1999, 2009). Wichtige Impulse für Raum und Landschaft generieren sich aus den ›Gender Studies‹ (gender spaces) ebenso wie der Ökokritik/ecocriticism (vgl. Ott 2003, 148). Einen bedeutsamen Impuls bedeutete in der germanistischen Literaturwissenschaft das DFG-Symposion Topographien der Literatur (Böhme 2005), das eine Wende zum Raum markierte. Die Etablierung der Raumfrage lässt sich nicht nur an der Vielzahl der Publikationen zum Gegenstand ablesen, als Kanonisierungsmerkmal sind vor allem Publikationen zu werten wie die Herausgabe von klassischen Raumtexten (Dünne/Günzel 2006; Heuner 2008; Günzel 2017), inzwischen liegt auch ein erstes umfängliches philosophisch-lexikalisches Kompendium zum Raum vor (vgl. Günzel 2010). Die Auseinandersetzung mit dem literarisch gestalteten Raum erfuhr durch die unterschiedlichen theoretischen Ansätze methodisch vielfältige Anregungen. So werden beispielsweise narra-
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tologische ebenso wie genderrelevante Fragestellungen gestellt (Würzbach 2001; Lahn/Meister 2008; Dennerlein 2009). Sylvia Sasse differenziert in ihrer Darstellung des poetischen Raums vier zentrale Ansätze (Sasse 2010). Zum einen wären hier Theorien zu nennen, die der Toposforschung zuzurechnen sind, ein zweiter ist topographisch und ein dritter ist topologisch angelegt. Die topologischen Ansätze »konzeptionalisieren eher die Struktur, Architektur, Form oder Figurativität des Textes, während topographische sich sowohl mit Beschriftungsprozessen als auch mit Fragen der Darstellbarkeit von konkreten und imaginären Räumen befassen.« (Ebd., 304) Der vierte Ansatz stellt ästhetische Wahrnehmung und künstlerische Erfahrungsprozesse, die an Raum gebunden sind, in den Mittelpunkt. Wenngleich Raumfragen fast schon inflationäre Züge annahmen, wurde der Kindheits-Raum in diesem ertragreichen Forschungskontext bisher kaum erschlossen, eine systematische Bestimmung dieses Feldes steht bisher aus (vgl. Roeder 2014, 2015). Kinderliteratur als Kindheitsliteratur Insbesondere für das Textkorpus der Kinder- und Jugendliteratur lässt sich festhalten, dass Orte und Räume eine dominante Rolle einnehmen. Diese Ortsverbundenheit der Kinder- und Jugendliteratur korrespondiert mit dem hohen Stellenwert, den Raum-Erfahrungen im Entwicklungsprozess von Kindern und Jugendlichen haben. Kindliches Erleben wird geprägt von emotional gestimmten Räumen, seien sie mit Geborgenheit oder Furcht verknüpft, seien es wirkliche oder imaginierte Räume. Spiel-Räume und Rückzugsorte, Verstecke und ferne Welten, wie sie Kindheitsleben figurieren, findet man in der Literatur kartiert. Für die literaturwissenschaftliche Analyse ist wesentlich, dass in literarischer Konstruktion Orte und Räume symbolische Bedeutung haben, man neben psychologischen und kulturellen Gestimmtheiten anthropologische Grunderfahrungen daran ablesen kann (vgl. Abraham 2014). Raum-Erfahrungen von Kindern werden an (literarischen) Architekturen ablesbar oder verweisen auf pädagogische Implikationen (so das Regelwerk von Kindergarten oder Schule; Freizeitsorte und deren Raumordnungen). Das Forschungsfeld Kindheitsräume bezieht sich mit seiner theoretischen topographischen Fundierung auf aktuelle kulturwissenschaftliche Diskurse und schließt an erste, grundlegende Untersuchungen an, die sich in dem Symposium Topographien der
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Kindheit. Orte und Räume in Kinder- und Jugendliteratur und Medien spiegeln, das 2013 an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg durchgeführt wurde. Das Symposium bezog in der Gesamtkonzeption neben literaturwissenschaftlichen Fragestellungen Wissensdiskurse mit ein, die das breite Spektrum der Geisteswissenschaften sowie der sozial- und naturwissenschaftlichen Forschung aufzeigten; ebenso wurden ästhetisch-künstlerische Raumdimensionen berücksichtigt. Systematisch wurde das Feld der Kindheits-Landschaften hinsichtlich dieser Zielführung in seinen sprachlichen, künstlerischen und kulturellen, aber ebenso historischen wie geographischen, politischen wie transnationalen, sozialen wie pädagogischen und psychologischen Dimensionen untersucht. Die Beiträge und Ergebnisse des Symposiums mündeten in zwei Publikationen, die in ihrem Facettenreichtum die interdisziplinäre Relevanz des Themas unterstreichen (Roeder 2014, 2015). Die dargelegte Kindheitskartographie kann in die drei Raum-Dominanten gefasst werden, die weitere differenzierte Forschungsfragen bündeln. Diese Raum-Dominanten sind: Erinnerung, Handlung und Imagination. Sie lassen sich als Achsen benennen, die für weitere Untersuchungen grundlegend erscheinen und an denen sich Schnittstellen aufzeigen lassen, die differenzierte Zugänge zu Kindheits-Räumen und ihre kinder- und jugendliteraturwissenschaftliche Erschließung eröffnen. Erinnerungsräume Für die Reflexion von Kindheit ist Erinnerung konstitutiv. Versteht man Kinder- und Jugendliteratur als Roman der Kindheit (vgl. Richter 1996), d. h. dass kinder- und jugendliterarische Texte als Korpus verstanden werden, an dem sich Kindheitsbilder sowohl in pädagogischer als auch in romantisch überformter, utopischer Hinsicht (re)konstruieren lassen, ebenso auch Fragen der Rezeption und Distribution ablesen lassen, so lassen sich diese Werke als Erinnerungs-, weniger als Gedächtnisliteratur werten (vgl. Gansel 2009). Das heißt, substantielle Fragen der kulturwissenschaftlichen Reflexion von Erinnerung schließen sich an die Erforschung von Kinder- und Jugendliteratur an. Zu differenzieren sind dabei verschiedene Erinnerungsmodi und narratologische Formen. Während Gedächtnisliteratur mehr als Archiv der Erinnerung fungiert, problematisiert der Erinnerungsroman das Erinnern selbst (ebd., 32). Seit den 1990er Jahren kann man eine Vielzahl von erinnerungskulturell be-
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stimmten Texten in der Gegenwartsliteratur verzeichnen. Dieses Phänomen führte zu dem Befund des ›Memory Booms‹ in der deutschsprachigen Erzählliteratur. Exemplarisch genannt seien hierfür z. B. die Jugenderinnerungen des bekannten Element of CrimeMusikers Sven Regener (Neue Vahr Süd, 2004) oder Georg Kleins Roman unserer Kindheit (2010). Beide Romane vermessen periphere und zugleich eng austarierte Orte der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der 1950er und 1960er Jahre. Carsten Gansel weist auf unterschiedliche Erzählmodelle hin, mit denen über Kindheit erzählt wird. Er weist mit seinen Überlegungen auf eine diesbezügliche Differenzierung Marcel Beyers hin und verortet hier eine bedeutsame narratologische Unterscheidung, die zwischen dem ›Was‹ und dem ›Wie‹, zwischen ›histoire‹ und ›discourse‹ zu ziehen ist (vgl. Gansel 2014, 64). Folgt man dieser kategorialen Unterscheidung und überträgt sie auf autobiographisches Schreiben, so lassen sich zwei Gruppen benennen, die wiederum unterschiedliche Schattierungen aufweisen. Erich Kästner dokumentiert beispielsweise in seiner Autobiographie Als ich ein kleiner Junge war (1957) eine Kindheit Ende des 19. Jahrhunderts und setzt darin der (in den letzten Kriegsjahren unwiderruflich zerstörten) vergangenen (Kindheits-)Stadt Dresden ein Denkmal; gleichzeitig richtet er sich dezidiert an ein junges Publikum. Die Kindheitserzählung erweist sich hier der ›histoire‹ zugehörig. Reflexionen über die »Expeditionen in die unterseeischen Tiefen der Kinderstuben« (Benjamin 1972, 334) bieten ebenfalls Rückblicke auf DDR-Kindheit(en) bzw. Jugendjahre. Insofern bedeutet diese erst genannte Raum-Dimension eine Erinnerungs-Partitur, die die Kindheit als eine vergangene Landschaft kartographiert. Entgegen diesen Entwürfen beschwört hingegen Florian Illies’ Generation Golf (2000) ein generationelles Ich. Während der ehemalige FAZ-Autor und heutige Rowohlt-Geschäftsführer die bundesrepublikanische Kinderwelt mit ihren alltäglichen Abläufen und Konsumgütern inspiziert und archiviert (vgl. Baßler 2002), folgte bald eine literarische Erwiderung aus DDR-Sicht auf diese Vermessung der westlichen Welt. Jana Hensels Zonenkinder (2002) oder Sabine Rennefanz Eisenkinder (2013), die die Gefühlslagen einer Generation aufrufen, wären hierfür exemplarisch zu nennen (vgl. hierzu Hacker/Maiwald/Staemmer u. a. 2013). Ablesbar wird an diesen erinnerungskulturell interessanten Texten die Tendenz zu einer starken Verräumlichung von Kindheit und Jugend: Wie auf dem Reißbrett aufgezogen, werden diese
Kindheiten präsentiert; ihre Spielplätze und Verstecke, ihre Schulwege und geheimen Liebesecken werden in den Texten kartographiert und zu einer Kindheitstopographie archiviert, an der wiederum Praktiken und soziale Markierungen, sozio-ökonomische Bedingungen wie popkulturelle Phänomene ablesbar werden und sich Kindheiten im 21. Jahrhundert hieran entfalten lassen. Ein Vergleich dieser Erinnerungs-Erzählungen mit Benjamins berühmten Werk Berliner Kindheit im neunzehnten Jahrhundert (1972) bietet sinnvolle Verschränkungen (vgl. Lindner 2014). Kinder- und Jugendliteratur als Repräsentation von Erinnerungsräumen wirft darüber hinaus auf der Ebene des ›discourse‹ narratologische Fragen auf. In Peter Härtlings Reise gegen den Wind (2000), Jutta Richters Der Tag, als ich lernte die Spinnen zu zähmen (2000) und in ihrem Roman Hechtsommer (2004) werden erinnerte Kindheiten sprachlich thematisiert und das Erinnern zum Inhalt gemacht. Auffällig erscheint bei den genannten Texten ebenfalls die räumlich markante Ausgestaltung der Kindheitstopographie. Während bei Härtling Flucht und Vertreibung eingeschrieben erscheint und der Raum der Kindheit mit einer Reise durch eine (kriegszerstörte) Landschaft skizziert wird, fasst Richter den Kindheitsraum als einen psychologisch ausgeleuchteten Raum, der von kindlichen Gefühlswelten bestimmt wird. Ebenso erkenntnisförderlich erweisen sich Untersuchungen zur Raum-Geographie für den Komplex autobiographischen Schreibens und die Entwicklungsgeschichte der Erinnerungsliteratur (eng verzahnt mit dem Kindheitsbild), ebenso wie für die Entschlüsselung historischer wie aktueller literarischer (Generations-)Phänomene unter erinnerungskulturellen Gesichtspunkten (Beispiel NS oder Nachkriegskindheiten). Auch werden ab dem 20. Jahrhundert populärkulturelle Artefakte bedeutsam und spiegeln sich in medialisierten (Denk-)Bildern von Kindheit. Zu nennen wären hier auch komisches und unzuverlässiges Erzählen wie Thomas Brussigs Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999), ein Text, der nach der erfolgreichen Verfilmung verfasst wurde. Handlungsräume Kindheit ist wesentlich von Handlung (vgl. Böhme 2005, XX) bestimmt, die sich wiederum an Raumdispositiven aufzeigen lässt. Verschiedenste Handlungsräume lassen sich in dieser Raum-Dominante ausloten. Insbesondere die Kategorien der sozialwissenschaftlichen Forschung erlauben diese Raumformatio-
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nen – gesellschaftlich-kulturelle, institutionelle oder alltagsbezogene Handlungsräume von Kindheit und Jugend – auszuloten und zu dynamisieren. So sind im Blickfeld der Kindheitsforschung ›Räume institutioneller Ordnung‹ wie Kindergarten oder Schule zentral (vgl. Zeiher 1994). Wesentlich zeigt sich hier der Bezug auf unterrichtliches Handeln, aber ebenso fungieren die Institutionen als Transitraum oder als heterotope Raumfiguration. Auf literarischer Ebene erweisen sich Schulgeschichten als ergiebige Textfundstellen, die sich zudem als genderrelevante Raumkonstellationen in historischer Perspektive ausweisen lassen, etwa in Pensionatsgeschichten wie Emmy von Rhodens Trotzkopf (1885). Gut ein Jahrhundert später bietet sich z. B. Tamara Bachs Marsmädchen (2003) für einen Vergleich an, ebenso Jerry Spinellis Stargirl (engl. 2000; dt. 2001) oder John Greens Eine wie Alaska (Looking for Alaska, engl. 2005; dt. 2007): Geschichten, die Highschool-Wirklichkeiten widerspiegeln und weiblich konnotierte Räume bzw. deren Bedeutung als Übergangsraum markieren (vgl. Roeder 2008). Schule bedeutet (nicht nur literarisch) einen Raum repressiver Gewaltausübung – sei es im erzieherisch-pädagogischen Rahmen, sei es im kommunikativen Miteinander. Diese Problematik spannt einen Bogen zwischen den Texten Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß oder Hermann Hesses Unterm Rad (beide 1906) bis zu aktuellen Adoleszenzromanen. So lässt sich die Thematik gewaltbesetzter Räume bei Jan Guillous Evil – Das Böse (Ondskan, schwed. 2002; dt. 2007) ausmessen, ebenso (und hier wiederum auch in historischer Perspektive) bei Grit Poppes semidokumentarischen Romanen über die DDR-Jugendwerkhöfe (Weggesperrt, 2009; Abgehauen, 2012). Besondere Bedeutung erfährt dabei die Raumkonstellation, da die jugendlichen Protagonisten nicht nur den unmenschlichen Erziehungsmaßnahmen ausgesetzt sind, sondern auch im DDR-System gefangen bleiben. Die doppelte Geschlossenheit dieser Raum-Konstellation erlaubt interessante Blickwinkel auf geschlossene politische Systeme und ihre Wirkmächtigkeit gegenüber dem Individuum. Neben diesen aufgeladenen Orten bestimmen ebenso ›Räume alltäglicher Routine‹ die territoriale Umgebung von Kindheit; zu nennen wären hier exemplarisch das Lebensfeld Stadt, Land oder Suburbia; enger gefasst: die familiale Welt. Blickt man beispielsweise auf die Untersuchung des sozialen Raumgefüges der Suburbia, so stehen jugendliche Handlungsfelder im Fokus, die vorzugsweise in Jugendliteratur streunend durchstreift werden und Transiträume darstel-
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len (vgl. Merkel 2014). Exemplarisch genannt seien die Romane Zoran Drvenkars Niemand so stark wie wir (1999), Tamara Bachs Busfahrt mit Kuhn (2004) oder Nils Mohls Es war einmal Indianerland (2011). Als ›Road novels‹ ausgewiesen (vgl. Kaulen 2015), sind diese Romane durch vielfältige mediale Bezugnahmen, Intertexte bzw. metatextuelle Reflexionen charakterisiert. Der Blick auf Raumdispositive, die als Handlungs- und Aktionsraum innerhalb familialer Ordnung fungieren, führt beispielsweise ins ›Kinderzimmer‹ und weist dieses als komplexe Raumdimension auf, die neue Perspektiven auf die Architektur(en) von Kindheit eröffnet (vgl. Lexe 2014; verwiesen sei auf die Romane Jutta Richters, Susan Krellers, Andreas Steinhöfels). Zwischen alltagsbezogenen und medial-fiktionalen Räumen oszillieren hingegen Spieler- und Para-Spielräume, wie sie Computer- und Videospiele bedeuten (Andreas Schlüter: Level 4-Reihe (ab 1994), Ursula Poznanski: Erebos, 2010). Diese fungieren als Kommunikationsraum der Peer-Gespräche, der Spiel und Spieler global zusammenbindet (vgl. Kepser 2014). ›Räume gesellschaftlich-kultureller Prägung‹ schließlich stellen bedeutsam Sprachlandschaften bzw. kulturelle Identitätsräume dar, die spiegelbildlich zu gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungen auch auf dem aktuellen Buchmarkt mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Die Topographie(n) von ›race‹, ›class‹, ›gender‹ werden in den Romanen jüngerer Autorinnen, die selbst familiär auf Migrationserfahrungen zurückblicken, aufgezeigt. In ihren Romanen stehen starke Protagonistinnen im Mittelpunkt, die ihre Identitätssuche als ›Inbetween‹ ausweisen, als schmerzliche Suche nach z. T. nicht Erinnerlichem (vgl. Kanjo 2015). Räume, von denen hier erzählt wird, bedeuten somit oftmals mehr eine Matrix der eigenen Herkunft und kulturellen Identität, während die Romane selbst an neuen, fremden Orten in Szene gesetzt werden, die die Lebenswirklichkeit der Protagonistinnen bedeuten und die sie zu erforschen und sich anzueignen beginnen (vgl. Alina Bronskys Scherbenpark, 2008; Stephanie de Velascos Tigermilch, 2013; Que Du Luus Im Jahr der Affen, 2016 oder Julya Rabinowichs Dazwischen: Ich, 2016). Die bereits genannte Suburbia verweist nicht nur auf den Schwellenort jugendlicher Aufbrüche, sondern ebenso auf veränderte Raum-Kategorien einer globalisierten Welt-Gesellschaft. Diese führt zu komplexen Fragestellungen und Aufgaben, die trans- und interkulturell austariert werden müssen. Hier eröffnen sich Fragen der kindlichen Welterfahrung im interkulturellen Vergleich (z. B. als Rezeptionserfahrung hete-
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rotopischer Alterität.) Auch in den neuen medialen Formaten der Graphic Novels werden solche RaumErfahrungen umgesetzt: Marjane Satrapis Persepolis (fr. 2000; dt. 2004), Shaun Tan Geschichten aus der Vorstadt des Universums, Ein neues Land oder Die Fundsache (Tales from Outer Suburbia, dt.; engl. 2008; The Arrival, engl. 2006; dt. 2008; The Lost Thing, engl. 1999; dt. 2009), Reinhard Kleists Der Traum von Olympia (2015), Birgit Weyes Madgermanes, (2016) (vgl. hierzu Stemman 2016; Rinnerthaler 2018). Imaginationsräume Die dritte Raumdimension zitiert einen ersonnenen Ort kindlicher Imaginationen; er lässt sich ebenfalls unter drei Zugangsweisen resümieren. Reflektieren lassen sich hier ›Fragen von Elementar-Erfahrungen‹, die im kindlichen (alltäglichen) Spiel ebenso wie in romantisch verwobenen Kindheitsszenen benannt werden (vgl. Staege 2014; von Merveldt 2014; Mattenklott 2014). Dabei ergeben sich interessante Koinzidenzen, die aus den Spielarten anthropologischer Fragestellungen hervorgehen und Bausteine liefern, die zwischen romantischen Imaginations-Welten des Kleinen und der Idee eines ›Imaginaire der Kindheit‹ oszillieren. Als Beispiel wäre hier das Werk Jean Pauls bzw. die Räume und Orte der Märchen-Welten zu nennen (vgl. Schmitz-Emans 2014) Aber auch die Ausgestaltungs-Flut phantastischer Räume und ihrer unterschiedlichsten Funktionen lässt sich in dieser Raum-Dimension erschließen (vgl. Abraham 2014; Lexe 2016). Als Projektionsflächen psychischer Entwicklungen ebenso wie träumerischer Fluchten stellen sich diese hier entworfenen Landschaften und Anderswelten dar, die in dichotomen und oftmals antagonistisch wirkenden Gut-Böse-Konstellationen präsentiert werden. Besondere Aufmerksamkeit kommt im Rahmen phantastischen Erzählens Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979) zu. Unter Raumaspekten ist hier insbesondere interessant, dass Ende im besonderen Maß das Motiv Buch und Bibliothek in den Mittelpunkt seiner phantastischen Welt stellt. Buch und Bibliothek fungieren als Schauplätze, diegetische Welt und Schleuse und bedeuten zugleich eine mediale Reflexion und Referenz zur Gutenberg-Galaxis. Die Wirkungsmächtigkeit des Motivs Buch und Bibliothek (und diese als Handlungs- und Imaginationsräume verstanden) werden insbesondere in Texten nach der Jahrtausendwende bedeutsam. Im Textkorpus des kinderliterarisch bedeutsamen Genres Bilderbuch (vgl. zu dem komplexen Erzählgefüge Stai-
ger 2012; Rinnerthaler 2017) findet man eine Vielzahl an metareflexiven Bild-Erzählungen, die beispielsweise mit dem Buch (im Buch) und seinen Erzählstrategien des ›mise-en-abyme‹ spielen (vgl. Roeder 2019). Im Kinder- und Jugendbuch fungieren Buch und Bibliothek als zentrale phantastische Raum-Intarsien. Cornelia Funkes Tintenwelt (2003–2007) sei hier nur exemplarisch genannt, ebenso die Megaseller eines Walter Moers Die Stadt der träumenden Bücher (2004) oder Kai Meyers Die Seiten der Welt (2014). Dieses Phänomen wird von einer Vielzahl an Forschungsliteratur flankiert (vgl. exemplarisch hierzu Gemmel/Vogt 2013; Schmitz-Emans 2019). Topographie und Utopia: Als besonders wirkungsmächtig erweisen sich Utopien im Bereich der Kindheitsforschung. An diesen Nicht-Orten (Augé 1994) werden bedeutsame Ideen von Kindheit angesiedelt: sei es in den eben skizzierten phantastischen Konstellationen, sei es in Schlaraffenländern verschiedenster Couleur. Diese utopischen Modelle erweisen sich aber auch als Reservate verordneten Kinderglücks. Das utopische Potential tritt auch in Topographien der Ferne und der Kindheitsautonomie zu Tage. Seit der Jahrtausendwende ist indes der Hype um die Dystopie als ›beliebtester‹ Nicht-Ort zu verzeichnen. Medial und in Medienverbünden organisiert, dienen dystopische Imaginationsräume vielfältigen Genrevarianten (vgl. Stemmann 2017). Topographie und Gender: Die hier zuletzt genannte Schnittstelle verweist auf die Bedeutsamkeit von Räumen und Geschlechterkonstellationen. Der Blickpunkt führt zur Untersuchung von gegenwartsspezifischen Topographien der Geschlechter (Weigel 1990). Die Auseinandersetzung mit Orten, Räumen als Passagen ist für die Adoleszenzliteratur charakteristisch, für phantastisches Erzählen ebenso deren Situierung in (literarischen) Pop-Figurationen. Und auch hier reicht die Spannbreite vom Bilderbuch (beispielsweise einer Manuela Olten und ihren Echte[n] Kerle[n] [2004] im nächtlichen Kinderzimmer, über All-AgeRomane von Andreas Steinhöfel [Die Mitte der Welt, 1998], zu transsexuell-performativ inszenierten Geschichten wie George von Alex Gino [2016] oder neuen Heldinnenformaten und ihren Wirkstätten [vgl. Kalbermatten (2010)]). Inter- und transmediale Forschungsperspektiven Der kulturwissenschaftliche Ansatz der Raumforschung erlaubt neue Blickwinkel auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen. Mediale Fragen werden
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bei diesem Raum-Parcours wesentlich mitgedacht. Inter- und transmediale Perspektiven eröffnen weitere Raum-Dimensionen, die Kinder- und Jugendmedien verortbar machen. Vor allem Bild-Dimensionen, die in den innovativen Formaten des Bereichs Bilderbuch, Graphic Novels (aber auch im deutschsprachigen Raum wenig erforschten Bereich der Mangas) anzusiedeln sind, wären hier zu nennen (vgl. Kagelmann 2015); ebenso sind Fragen der Materialität wesentlich (Stichwort: Pop up oder anverwandte KünstlerbuchFormate vgl. hierzu Bachmann/Emans/SchmitzEmans 2016; Müller-Wille 2017 sowie das SNF-Forschungsprojekt Poetik des Materiellen. Neuerfindungen des ›Buchmediums‹ in der Kinderliteratur [https:// www.pdm.uzh.ch/de.html]). Schließlich wird der komplexe Bereich der Virtualität von Buch-Räumen, sei es in Computerspielen (vgl. Kepser 2014) oder Symmedien (vgl. Frederking 2012) hoch relevant. Der Bereich der filmischen Adaptionen bzw. des Kinderfilms eröffnet sowohl für die Untersuchung von Realwie für den Bereich des Animationsfilms ein umfängliches und bedeutsames Untersuchungsgebiet (vgl. z. B. zum Märchenfilm Dettmar/Pecher 2018). Neben kinder- und jugendliterarischen Raum-Forschungsfragen eröffnen sich in der Verschränkung mit kunstund medienwissenschaftlichen Theorien der Imaginationsbildung neue Räume, die beispielsweise körperbezogene Wahrnehmungsdimensionen einbeziehen (vgl. Sowa/Miller/Fröhlich 2017) oder körperbezogene Aneignungen von Büchern bedeuten (Stichwort »Bücher-Fresser« vgl. Ott 2011). Ebenso ertragreich und bedeutsam erscheint, Aspekte des Handlungssystems Kinder- und Jugendliteratur auszuleuchten, Fragen des Medienverbunds (vgl. Josting 2007) als distributiven Raum einzubeziehen. Die inter- und transmediale Perspektive eröffnet sowohl in historischer als auch in aktueller Forschungsperspektive neue Raumdimensionen. Der theoretische Rahmen der Raumwissenschaft weist die Poetik des Raums (Bachelard 1987) mit seiner kulturwissenschaftlich transmedialen Ausrichtung und seinen konstruktiven Vernetzungen zu benachbarten Fachgebieten (vgl. Brenne/Gaedtke-Eckardt/Mohr u. a. 2011; Roeder 2015) als literarisches Universum aus. Die Frage nach dem Raum erlaubt somit neue Perspektiven und Dimensionen zu eröffnen, um Kindheits- und Jugendliteratur und ihre Medien unter aktuellen Blickwinkeln zu kartographieren und auszuloten.
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Caroline Roeder
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
40 Illustration Studies
40.2 Begriffsdefinitionen
40.1 Einleitung
Unter ›Illustrationen‹ werden im heutigen Sprachgebrauch allgemein zusätzliche visuelle Informationen zu Texten verstanden. Der Begriff leitet sich vom lat. illustrare (= erhellen, erklären, verschönern) ab. Auch bezogen auf KJL wird Illustration als »ein spezifisches Bild, textbezogen und [...] fakultativ, d. h. eine Dreingabe und zum Verständnis der erzählten Geschichte nicht notwendig« (Grünewald 1991, 49) definiert. Entsprechend bestimmt die KJL-Forschung das illustrierte Kinder- und Jugendbuch in Abgrenzung vom Bilderbuch überwiegend durch die Fakultativität der darin enthaltenen Bilder. So heißt es bei Kümmerling-Meibauer (2012, 148), beim illustrierten Buch werde »in der Regel ein bereits vorliegender Text illustriert, wobei die Bilder gegenüber dem Text eine untergeordnete Funktion« hätten, die, neben Momenten der Textinterpretation, vorwiegend dekorativ sei: »die Geschichte kann weiterhin auch ohne Bilder gelesen und verstanden werden« (ebd.). Damit hängt zusammen, dass die Bilder im illustrierten Kinder- und Jugendbuch nach gängiger Auffassung in Abgrenzung vom Bilderbuch zumeist kein narratives Kontinuum darbieten und somit keine eigenständigen Bedeutungsträger sind (vgl. Kurwinkel 2017, 14). Bezüglich des Produktionsprozesses lässt sich in der illustrierten KJL unterscheiden, ob die Illustrationen nach der Entstehung des Textes durch eine andere Person geschaffen wurden oder ob sie vom Textautor selbst stammen. So steuerte etwa Peter Schössow die Graphiken zu Andreas Steinhöfels Texten der Rico, Oskar-Serie (seit 2008) bei, während Cornelia Funke ihre Tintenherz-Trilogie (2003–2007) selbst illustrierte.
Im Folgenden geht es um Illustrationen als Sonderfall der Bild-Text-Interdependenz im Verständnis der Illustration Studies. Der Begriff der Illustration wird hier auf das Kinder- und Jugendbuch bezogen. Das Bilderbuch (s. Kap. 24) sowie Comic und Graphic Novel (s. Kap. 25) als bilddominierte Buchgattungen werden an dieser Stelle nur gestreift, da der Illustrationsbegriff hinsichtlich der komplexen Wechselwirkung von Text und Bild dort zu kurz greift. Im ersten Abschnitt dieses Beitrags werden zunächst die Begriffe ›Illustration‹ und ›illustriertes Kinder- und Jugendbuch‹ definiert. Anschließend werden vier wesentliche kinder- und jugendliterarische Buchgattungen, die »durch Aufmachung und Illustration ein besonderes Gepräge aufweisen und über eine eigene Geschichte verfügen« (Ewers 2005, 10), kurz hinsichtlich ihrer Illustrationen und deren hauptsächlicher Funktion dargestellt. Abschließend wird ein knapper Überblick über die Geschichte der illustrierten KJL gegeben. Im zweiten Teil wird zuerst auf die Forschungsliteratur zu Illustrationen in der KJL nach 1945 eingegangen. Unterschieden wird dabei in Publikationen der Literatur- und Kunstdidaktik sowie in historisch ausgerichtete, gegenwartsorientierte und der Rezeptionsforschung verhaftete Studien der deutschsprachigen KJL-Forschung. Danach werden vier Aspekte behandelt, die in diesem Zeitraum bezogen auf Illustrationen in der KJL-Forschung eine wesentliche Rolle spielten. Es geht dabei um ›Formen‹ und ›Techniken‹, den ›Einsatz von Farbe‹ sowie ›Stile und Darstellungsweisen‹ (vgl. dazu Ries 1984). Im dritten Abschnitt zum Forschungsstand wird dafür plädiert, Erkenntnisse der erstarkenden Bilderbuchforschung vermehrt auf die noch rudimentäre Auseinandersetzung mit dem illustrierten Kinderbuch zu übertragen. Als Indikator für die Desiderate der KJL-Forschung im Hinblick auf Illustration wird dann die Rolle des Illustrators von KJL zum Thema. Im letzten Teil findet sich schließlich eine exemplarische Analyse zu Finn Ole Heinrichs und Rán Flygenrings Maulina-Schmitt-Trilogie (2013–2014). Dieses Werk wird hier als beispielhaft für aktuelle Kinderund Jugendbücher betrachtet, in denen die Text-BildInterdependenz eine wesentliche Rolle spielt, wobei der Illustrationsbegriff bisweilen an seine Grenzen stößt.
Funktionen von Illustrationen in kinder- und jugendliterarischen Buchgattungen Illustrationen sind in der KJL auch jenseits des Bilderbuches in allen entsprechenden Buchgattungen präsent. Erzählende KJL ist – in jeweils unterschiedlicher Ausprägung – ebenso illustriert wie Sachbücher und Anthologien. Diese Tatsache ist dem Alter und damit einhergehend den vorausgesetzten Fähigkeiten sowie Vorlieben der avisierten Adressaten geschuldet. Zwar sind auch in der Allgemein- oder Erwachsenenliteratur Illustrationen vorhanden, in der KJL sind sie aber aufgrund ihrer motivierenden, entlastenden und ergänzenden Möglichkeiten für die Rezipienten weitaus relevanter. Mit steigendem Alter und entsprechend fortschreitender Literalisierung der – im Sinne der
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_40
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Mehrfachadressiertheit nicht ausschließlich kindlichen – Leser von KJL, also etwa zwischen Erstlesebuch und Jugendroman, nimmt die Bildhäufigkeit allerdings auch hier tendenziell ab und ihre Funktionen verschieben sich. Die Auswahl der folgend kurz hinsichtlich ihrer Illustrationen behandelten Buchgattungen Erstlesebuch, Kinderbuch und Jugendbuch orientiert sich grob am Alter der avisierten Adressaten, wohingegen thematische Aspekte bei der Kategorisierung keine Rolle spielen. Hinzu kommt die kinderund jugendliterarische Anthologie, die lyrische, erzählende oder Sachtexte enthalten kann (vgl. zu dieser Systematik Ballis/Burkard 2014, 9–21). Aus pragmatischen Gründen werden nachfolgend das Sachbuch und seine Illustration ausgeklammert, obgleich sie ein interessantes Forschungsgebiet darstellen (vgl. hierzu Fassbind-Eigenheer/Fassbind-Eigenheer 1990; für die DDR Bode 2017). In kinder- und jugendliterarischen Anthologien werden den lyrischen und bzw. oder erzählenden Texten zumeist Bilder gegenübergestellt, die der Homogenisierung des heterogenen Textkorpus dienen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn – wie üblich – ein einzelner Illustrator die Gestaltung übernimmt, wie etwa Philipp Waechter in der von Paul Maar herausgegebenen Geschichtensammlung Östlich der Sonne und westlich vom Mond (2006). In anderen Beispielen dieser Gattung liegt ein Fokus des Bildangebots auf der Ergänzung der Schrifttext-Ebene. Dies gilt, wenn den Texten solche Bilder gegenübergestellt werden, die ursprünglich gar nicht zu diesem Zweck angefertigt wurden. So ergänzen Bilder verschiedener Künstler in der von Hans-Joachim Gelberg herausgegebenen Anthologie Oder die Entdeckung der Welt (1997) die ohnehin schon äußerst heterogenen Texte. Im Erstlesebuch (s. Kap. 45) als relativ junger Buchgattung, die seit den 1970er Jahren gezielt für Kinder in den ersten Lesejahren in gesonderten Reihen erscheint, haben die Illustrationen eine zentrale Funktion als strukturierendes und entlastendes Element: »Sie sollen das Lesenlernen erleichtern, indem sie das Buch verschönern, die Textmenge pro Seite verringern und das schwarze Gittergestrüpp aus Buchstaben auflockern.« (Wildeisen 2015, 18) Sie werden hier – wie auch die typographischen Gegebenheiten – nach ganz bestimmten Prinzipien eingesetzt und über die Seiten verteilt. Ihre Zahl und Größe nimmt innerhalb der von den Verlagen als Orientierungshilfe für die Käufer entwickelten steigenden Lesestufen, die auf die verschiedenen Lesefähigkeiten ausgerichtet sind, sich aber häufig in Alters- oder Klassenangaben erschöp-
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fen, ab. Nicht immer wird dabei das visuelle Potential von Illustrationen ausgeschöpft (vgl. ebd.). Verlage wie Moritz und Tulipan, die erst nach 2000 mit Erstlesereihen begannen, verleihen den Illustrationen in diesen Büchern aber zunehmend einen ästhetischen Anspruch. Im (erzählenden) Kinderbuch (s. Kap. 19) setzt sich die strukturierende Tendenz in abgeschwächter Form fort, die Illustrationen haben hier aber mehr Freiräume und können vielfältige Funktionen einnehmen. Beim Vorlesen fungieren sie überwiegend als Blickpunkt und Gedankenanstoß für das noch nicht literalisierte Kind und können zwischen Vorleser und Zuhörer zum Gesprächsanlass werden. Im Jugendbuch (s. Kap. 20) schließlich beschränkt sich die Illustration konventionell vorwiegend auf den Bereich des visuellen Paratextes (Umschlag- und Einbandillustrationen, Vorsatzpapiere), der in allen Buchgattungen zu berücksichtigen ist. Im Buchinneren wird sie zumeist sehr zurückhaltend eingesetzt. Dafür gewinnen in den letzten Jahren bilddominierte Buchgattungen wie die Graphic Novel (s. Kap. 25) in der Jugendliteratur an Bedeutung und es finden – wie in allen Bereichen der KJL – vielfache Entgrenzungen hinsichtlich der Bildebene statt. Die Bilder nehmen auch im illustrierten Kinder- und Jugendbuch insgesamt immer mehr Raum ein und beschränken sich nicht mehr ausschließlich auf eine dem Text untergeordnete Position.
40.3 Historische Entwicklungen Unter der Voraussetzung, dass man unter Illustrationen lediglich solche Bilder fasst, die in Vervielfältigungsverfahren entstanden, beginnt die Illustrationsgeschichte nicht mit den frühen Buchmalereien, sondern erst mit der Erfindung des Holzschnittes im 8. Jahrhundert in China (vgl. Burdorf/Fasbender/ Moenninghoff 2007, 342). In Europa wurde dieses Verfahren ab ca. 1460 bekannt. Folgt man Wilfried Dörstels Ausführungen zum Bildgebrauch in der frühen KJL, so gibt es von Beginn des Buchdrucks an bis etwa 1750/1800 »keine eigentümliche oder besondere Illustration« in Büchern für diese Zielgruppe (vgl. Dörstel 1987, 120). Illustrationen wurden in jenem Zeitraum noch unter den unspezifischen Gemäldebegriff gefasst, der sämtliche Bildwerke jeglicher Gattung und Funktion bezeichnete (vgl. ebd., 129). Sie waren zumeist für die geistig Schlecht-Ausgerüsteten, also Kinder und Ungebildete bzw. nicht Literalisierte, gedacht. Neben religiösen Schriften erschienen von
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Erfindung des Buchdruckes an vor allem ABC-Bücher zum Lesenlernen, ab Mitte des 17. Jahrhunderts auch illustrierte Sachbücher. Drucktechnisch wurden Illustrationen ab der Reformationszeit neben dem Holzschnitt auch als Kupferstiche gearbeitet. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verhalfen neue Techniken wie Stahlstich, Holzstich und Lithographie der Illustration zu neuer Blüte und enormer Auflagensteigerung. Bebilderte Bücher wurden breiteren Gesellschaftsschichten und somit auch Kindern und Jugendlichen vermehrt zugänglich. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Illustrationsbegriff »als Bezeichnung für eine bildliche Bezugnahme auf einen Text« (Kreidt 1998, 131–132) gebräuchlich. Im 19. Jahrhundert begann sich die Illustration für Kinder- und Jugendliche stärker an der Zielgruppe zu orientieren und als spezifische Form herauszubilden. Hierzu gehörten eine motivische Reduktion ebenso wie eine leuchtende Farbigkeit und die Verwandlung von Büchern in Spielobjekte. Verbunden mit der Annahme, dass schlichtere Bilder eine größere Wirkung auf Kinder ausübten als korrekte Naturwiedergabe (vgl. ebd., 155), begannen sich zudem auch nicht professionelle Künstler, häufig als Dichter-Illustratoren, in der Kinder- und Jugendbuchillustration zu etablieren. Maßgeblich waren zu dieser Zeit etwa die Illustrationen von Otto Speckter, Ludwig Richter und Oscar Pletsch sowie als Sonderfälle diejenigen von Wilhelm Busch und Heinrich Hoffmann. Um 1860 wurde die fotografische Reproduktion möglich. Jugendstil und Expressionismus fanden jeweils neue künstlerische Formen der Buchgestaltung. Für die Kinderbuchillustration dieser Zeit waren in Deutschland vor allem die Impulse aus der Kunsterziehungsbewegung als Strömung der Reformpädagogik maßgeblich. Diese leitete ihre Ansprüche an Illustrationen für Kinder aus Beobachtungen zur kindlichen Bildaneignung ab und wollte zur künstlerischen Genussfähigkeit erziehen. Auch die Jugendschriftenbewegung hatte mit dem Grundsatz der Kindgemäßheit bis weit in das 20. Jahrhundert hinein großen Einfluss auf die visuelle Gestaltung von Kinderbüchern. Ab den 1920er Jahren setzte sich schließlich der Offsetdruck als überwiegendes Reproduktionsverfahren in der KJL durch. Technisch sind der Illustration als Kunstform heute somit kaum noch Grenzen gesetzt. Dem entspricht eine große formale und künstlerische Vielfalt in der gegenwärtigen Illustration von KJL. Mit Illustrationen in Kinder- und Jugendbüchern befassen sich verschiedene Disziplinen, neben der KJL-Forschung etwa auch die Literatur- und Kunst-
didaktik. Vonseiten der Kunstgeschichte, die Illustrationen im Allgemeinen trotz ihrer dem Text dienenden Funktion schon immer als Kunstwerke anerkennt und die Illustrationsgeschichte als wesentlichen Teilbereich behandelt (vgl. Schmitz-Emans 2007, 376), ist die spezifische Geschichte der Kinderund Jugendbuchillustration noch immer weitgehend unerforscht. Ansätze zu einer Erforschung dieses Gebietes vor 1945 zeigen Studien einzelner Sammler von Kinderbüchern (vgl. z. B. Hobrecker 1924, Rümann 1937). In der Literatur- und Kunstdidaktik wurden Illustrationen lange als eher motivatorische Elemente angesehen. Die Kunstdidaktik lieferte allerdings hilfreiche Beiträge zur kindlichen Bildwahrnehmung. In den letzten Jahrzehnten wurden zudem verschiedentlich Beiträge veröffentlicht, die zur Beschäftigung mit Illustrationen im Kunst- und Deutschunterricht anregen: In der Kunstdidaktik sind unter anderem Dietrich Grünewald (2010) und Gabriele Lieber (2009) wesentliche Akteure der Beschäftigung mit Text-BildKombinationen. In der Literaturdidaktik setzen sich z. B. Michael Baum (2010) und Beate Laudenberg (2006) mit bildhaften Paratexten bzw. dem Lesen und Verstehen piktoraler Texte im Deutschunterricht auseinander (vgl. Baum/Laudenberg 2012). Nicht nur in der Kunstwissenschaft und den Didaktiken, sondern auch in der KJL-Forschung selbst war die Auseinandersetzung mit Illustrationen vor allem bezogen auf das illustrierte Kinder- und Jugendbuch bislang eher marginal. Lange fand hier keine explizite Abgrenzung der Forschung zu Bilderbüchern und anderen illustrierten Buchgattungen statt. Erst ab den 1980er Jahren begann sich international eine eigenständige Bilderbuchtheorie zu entwickeln. Die Bilderbuchforschung bildet sich seitdem immer stärker zur eigenständigen Forschungsrichtung aus (vgl. international etwa Nodelman 1988, Doonan 1993, Schwarcz/Schwarcz 1991, Nikolajeva/Scott 2006, Colomer/Kümmerling-Meibauer/Silva-Díaz 2010; als Arbeiten deutschsprachiger Forscher z. B. Thiele 2001/07, Oetken 2017 und Kurwinkel 2017, aber auch die Publikationen des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien = SIKJM und die Ergebnisse der österreichischen Bilderbuchforschung, hier etwa Zöhrer 2010). Einen Überblick über den Stand der internationalen Forschung zum Bilderbuch gibt das 2018 von Bettina Kümmerling-Meibauer herausgegebene umfangreiche Handbuch The Routledge Companion to Picturebooks. Darin versammeln sich unter den Rubriken Concepts and Topics, Picturebook
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Categories, Interfaces, Domains und Adaptations and Remediation Forschungsergebnisse insbesondere aus dem europäischen und angloamerikanischen Raum. Während die Bilderbuchforschung sich hier als mittlerweile recht breit aufgestellt zeigt, werden Illustrationen zu erzählenden, erklärenden und lyrischen Texten in anderen kinder- und jugendliterarischen Buchformaten noch heute eher in deren Schlepptau bzw. nur am Rande besprochen. Dennoch lassen sich in den letzten 30 Jahren einige Veröffentlichungen nennen, die sich mit Geschichte, Entwicklung und Position von Illustrationen auch jenseits des Bilderbuches beschäftigen. Dabei sind historisch ausgerichtete Veröffentlichungen von gegenwartsorientierten und der Rezeptionsforschung verhafteten Publikationen zu unterscheiden, von denen hier jeweils einige genannt werden sollen: Einen chronologisch angelegten historischen Überblick über Illustrationen seit dem Beginn des Buchdrucks aus Sicht der KJL-Forschung bietet das mehrbändige Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur (Brüggemann [Hg.] 1987–2008). Aus kunsthistorischer Perspektive werden darin Illustrationen in Kinder- und Jugendbüchern von Beginn des Buchdrucks bis 1570 (Dörstel 1987) sowie von 1800 bis 1850 (Kreidt 1998) betrachtet. Dem Bildangebot der Wilhelminischen Zeit widmet sich Hans Ries (1992) und fokussiert dabei die Geschichte und Ästhetik der Original- und Drucktechniken von 1871 bis 1914. Mit dem künstlerisch illustrierten Kinderbuch in Wien von 1890 bis 1938 beschäftigt sich Friedrich C. Heller (2008). Aiga Klotz (2013) führt in der fünfbändigen Bibliographie Illustrierte Kinder- und Jugendliteratur im deutschsprachigen Raum 1820–1965 6000 Illustratoren mit den von ihnen publizierten Bilderbüchern und illustrierten Textbüchern auf. Regina Freyberger (2009) befasst sich mit Illustrationen zu Grimms Märchen aus den Jahren 1819–1945. Zu den gegenwartsorientierten Veröffentlichungen zählt ein Sammelband von Lucia Binder (1985), der sich aus praxisbezogener Perspektive dem »Illustrieren, Bearbeiten und Übersetzen« kinderliterarischer Texte widmet. 1991 erschien der von Alfred Baumgärtner und Max Schmidt herausgegebene Sammelband Text und Illustration im Kinder- und Jugendbuch, in dem sich ebenfalls sowohl Forscher als auch Akteure des Buchmarktes mit der zeitgenössischen Situation von Illustrationen befassen. Weiterhin stellt Ina Nefzer (2002) in ihrer Dissertation anhand von kinderliterarischen Werken seit 1968 die Anschaulichkeit illustrierter Dichtkunst dar. Ein von Kurt Franz und
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Günter Lange (2006) herausgegebener Sammelband setzt sich neben dem Bilderbuch auch mit der Illustration in der KJL auseinander. 2011 erschien ein weiterer Band zu Märchen in Illustration, Theater und Film (Franz/Janning/Pecher u. a.), in dem sich mehrere illustrationsbezogene Aufsätze sowie Werkstattgespräche mit Illustratoren befinden. Im angelsächsischen Sprachraum sind als gegenwartsorientierte Publikationen etwa Ways of the Illustrator von Joseph H. Schwarcz (1982), das sich mit (künstlerischer) Kinderbuchillustration befasst, sowie die beiden praxisbezogenen Bände Writing with Pictures (1985) von Uri Shulevitz und Martin Salisburys Illustrating Children’s Books (2004) zu nennen. In Werken der Rezeptionsforschung findet eine Auseinandersetzung mit der (kindlichen bzw. jugendlichen) Bildwahrnehmung als wesentliche Bezugsgröße der Kinder- und Jugendbuchillustration statt. Während es in der KJL-Forschung nach 1945 lange überwiegend um die Frage ging, ob Bilder in Büchern die Vorstellungskraft der jungen Rezipienten einengen oder stimulieren, stehen aktuell das Wie der Wahrnehmung und die unterschiedliche Wirkung verschiedener Bilder im Vordergrund. In einzelnen frühen Studien – so etwa bei Richard Bamberger, Gunter Otto und Hermann Hinkel – wurde versucht, herauszufinden, welche Illustrationen Kinder ablehnen oder besonders ansprechen. In jüngerer Zeit steht die Wahrnehmung von Bildern in Kinderbüchern z. B. im Fokus eines Sammelbandes des Schweizerischen Jugendbuch-Instituts (1997), der sich mit visual literacy als visueller Lesefähigkeit und damit als Voraussetzung der kompetenten Auseinandersetzung mit Bildern beschäftigt. Mit der Bildwahrnehmung von Kindern im Allgemeinen befassen sich seit einiger Zeit Constanze Kirchner (1999) und Bettina Uhlig (2005). Zumeist wird auch in der gegenwärtigen Rezeptionsforschung insbesondere bezogen auf KJL allerdings vorwiegend das Bilderbuch und damit tendenziell eine jüngere Zielgruppe fokussiert (vgl. Scherer/Volz 2016). Die Frage, wie Jugendliche konkret mit Bildern in Büchern umgehen, interessiert bislang weniger. Bei der Beschäftigung mit Illustrationen wurden von der KJL-Forschung nach 1945 insgesamt vor allem die Aspekte ›Formen‹, ›Techniken‹, ›Einsatz von Farbe‹ sowie ›Stile und Darstellungsweisen‹ berücksichtigt (vgl. Ries 1984). Zur besseren Orientierung werden die entsprechenden Begrifflichkeiten und Entwicklungen in den weiteren Ausführungen an Beispielen aus der KJL nach 1945 veranschaulicht.
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Formen Als ›Formen‹ der Illustration, die eng mit der Funktion der jeweiligen Bilder zusammenhängen und sich auf das Format sowie die Ausrichtung des Bildes auf der Seite gegenüber dem Textblock beziehen, wurden traditionell zahlreiche Unterkategorien differenziert (vgl. dazu ausführlich ebd., 296–298): So unterscheidet man bei den Innentextillustrationen in kleinere Streubilder, die direkt in den Text gedruckt sind, ganz- und doppelseitige Illustrationen (Vollbild) und – heutzutage im Kinder- und Jugendbuch allerdings kaum noch gebräuchliche – Tafelbilder, die auf Spezialpapier in aufwändiger Drucktechnik eingefügt werden. Ein Beispiel für den späten Einsatz solcher Tafelbilder ist Reinhard Michls Version der Jim Knopf-Romane (1983) von Michael Ende. Außerdem werden kleinere Formen z. B. als Vignetten (insbesondere auf Innentiteln), Kopf- und Randleisten und Initial-Illustrationen bezeichnet. Ein Beispiel für Vignettenzeichnungen geben die kleinen Illustrationen von Alice Hoogstad in Guus Kuijers Polleke-Serie (niederl. 1999–2001; dt. 2001–2005), die häufig in Verbindung mit kurzen Gedichten der Protagonistin stehen. Kopf- und Randleisten illustriert etwa Jutta Bauer in Kirsten Boies Man darf mit dem Glück nicht drängelig sein (1997) in Form von handgeschnitzten Stempel-Reihen. Prominente Initial-Illustrationen steuert Roswitha Quadflieg zu Endes Die unendliche Geschichte (1979) bei. Die angeführte Begrifflichkeit kann bis heute bei der Beschreibung von Illustrationen verwendet werden. Aktuell finden aber auch zahlreiche formale Entgrenzungen statt, für die das begrenzte Formenrepertoire nicht mehr ausreicht. Seit den 1980er Jahren wurden daher in der Bilderbuchforschung mehrere Typologien zu Bild-Text-Interdependenzen entwickelt, die bei der Analyse auch von illustrierten Kinder- und Jugendbüchern zur Anwendung kommen können. Nach Schwarcz (1982) wurde insbesondere die Typologie von Nikolajeva/ Scott (2006) viel rezipiert, die zwischen den beiden Polen »bilderloses Buch« und »textloses Bilderbuch« eine Unterscheidung in Symmetry (Vermittlung ungefähr der gleichen Information durch Text und Bild), Complementary (gegenseitige Ergänzung von Leerstellen durch Text und Bild), Expanding or enhancing (Anreicherung der einen durch die andere Ebene), Counterpoint (Widerspruch zwischen Text und Bild) und Sylleptic (verschiedene, unabhängig voneinander bestehende Erzählungen in Text und Bild) vornehmen. Im deutschsprachigen Raum sind auch die Ausführungen
von Jens Thiele (2011) weit verbreitet, der die Kategorien ›Parallelität von Bild und Text‹, ›geflochtener Zopf aus Bild- und Textsträngen‹ und ›kontrapunktische Spannung von Bild und Text‹ unterscheidet. Techniken Illustrationen können im Original weiterhin in den verschiedensten künstlerischen ›Techniken‹ ausge führt werden: Obwohl aktuell viele Illustratoren zumindest in einzelnen Arbeitsschritten auf die Möglichkeiten der computergestützten Illustration zurückgreifen, werden im illustrierten Kinder- und Jugendbuch weiterhin traditionelle Techniken angewandt. Dazu zählen Zeichnungen, z. B. in Tusche wie diejenigen von David Roberts in Philip Ardaghs Eddie DickensTrilogie (engl. 2000–2002; dt. 2002–2004), aber auch Acrylfarbenmalerei, wie sie etwa Katrin Engelking in ihrer Neuillustration der Pippi Langstrumpf (seit 2004) anwendet. Weiterhin gehören Aquarelle und gelegentlich Fotografien zu den traditionellen Illustrationstechniken in der aktuellen KJL. Für Ersteres steht z. B. Daniel Napps Version der Latte Igel-Serie (Latte Igelkott, schwed. 1956–2010; dt. 1958–2012) von Sebastian Lybeck, für Letzteres stehen die vierfarbigen Fotografien in Der unvergessene Mantel (The unforgotten coat, engl. 2011; dt. 2012) von Frank Cottrell Boyce. Auch künstlerische Druckverfahren kommen nach 1945 zum Einsatz. Hier sind etwa die Holzschnitte Herbert Holzings, unter anderem zu Preußlers Krabat (1971) zu nennen. Daneben gibt es zahlreiche weitere Techniken, die gelegentlich angewendet werden, so Aquatinta, Collage oder Fotografien modellierter Figuren. Neben dem Verfahren, das zur Originalvorlage führt, ist auch die ›Drucktechnik‹ zu berücksichtigen, die für die Reproduktion gewählt wurde. Einsatz von Farbe Während das illustrierte Kinder- und Jugendbuch im Gegensatz zum Bilderbuch von 1945 bis in die 1990er Jahre überwiegend mit schwarzen Illustrationen auskam, wird aktuell vor allem im Kinderbuch fast ausschließlich farbig illustriert. Wie wesentlich farbige Illustrationen auf dem gegenwärtigen Kinderbuchmarkt sind, sieht man unter anderem daran, dass z. B. die bislang als sakrosankt erscheinenden Illustrationen Franz Josef Tripps und Winnie Gebhardt-Gaylers zu Otfried Preußlers Kinderklassikern in der Hotzenplotz- (1962–1973) und der Der-die-das-Trilogie (Der kleine Wassermann 1965, Die kleine Hexe 1957, Das
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kleine Gespenst 1966) in den letzten Jahren sukzessive koloriert wurden. Ein weiteres Beispiel sind farbige Neuillustrationen anderer Künstler, welche die von den Autoren stammenden Originalillustrationen moderner Kinderklassiker ersetzen, so z. B. Paul Maars Zeichnungen zur Sams-Serie (1973–2015) und Otfried Preußlers Zeichnungen zu den Hörbe-Bänden (1981, 1983). Gerade in Büchern für eine jüngere Zielgruppe geht die farbige Ausgestaltung derzeit oft so weit, dass komplette Doppelseiten durchillustriert werden und auch der Textblock illustrativ unterlegt ist. So nehmen etwa die Illustrationen von Barbara Scholz in Oliver Scherz’ Kinderbuch Wir sind nachher wieder da, wir müssen kurz nach Afrika (2014) sehr viel Raum ein. Auch die Erstlesereihen, die noch in den 1990er Jahren mit Schwarz-weiß-Illustrationen auskamen, sind aktuell sämtlich farbig angelegt. Im Jugendbuch sind Illustrationen in Farbe hingegen weiterhin selten. Stile und Darstellungsweisen Hinsichtlich der Stile und Darstellungsweisen in der Kinderbuchillustration wurde von der Illustrationsforschung einerseits versucht, die Orientierung an kunsthistorischen Stilen und Phasen aufzuzeigen, anderseits wurden auch eigenständige und gegenläufige, am Aspekt der Kindgemäßheit ausgerichtete Stilformen gefunden. Ries ordnet die Kinderbuch-Illustration insgesamt zwischen »Hochkunst« und »Trivialkunst« ein (vgl. Ries 1984, 307), eine Trennung, die heute nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Der Versuch, kinderliterarische Illustrationen bestimmten Stilrichtungen zuzuordnen, wurde auch in den Folgejahren verschiedentlich unternommen. So benennt etwa Thiele (2003a, 73–77) für das Bilderbuch sechs Stile, die – wenngleich in anderer Verteilung – überwiegend auch im illustrierten Kinderbuch vorzufinden sind: Graphischer und malerischer Stil, Karikatur, Fotorealismus, Abstraktion und Collage. Hollstein und Sonnenmoser (2010) führen ergänzend die Stilrichtungen surrealistisch, impressiv, expressiv, poetisch-realistisch und realistisch mit Karikaturelementen an. In der Kinderbuchillustration nach 1945 herrscht – wenn man sich an Thieles Stilrichtungen orientiert – der graphische Stil vor, bei dem die Zeichnung (etwa mit Bleistift, Feder oder Buntstift) dominiert und die Linie als Stilmittel im Vordergrund steht. Prominente Beispiele für graphisch illustrierte Kinderbücher liefern etwa Winnie Gebhardt-Gaylers Illustrationen zu Otfried Preußlers Die kleine Hexe (1957) und diejenigen von Rolf
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Rettich zu Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf (ab 1967). Daneben wird auch im malerischen Stil, bei dem die Farbfläche dominiert, gearbeitet. Hierfür stehen z. B. Susanne Janssens Bilder zu Jutta Richters An einem großen stillen See (2003). Die mit Mitteln der Zuspitzung und Reduzierung arbeitende Karikatur findet sich in jüngster Zeit etwa bei Zapf (alias Falk Holzapfel), so in seinen Zeichnungen zu Jochen Tills Jugendroman Charlie und Leo (2010). Die auf einen hohen Illusionsgrad ausgerichtete fotorealistische Darstellung wählt für das Kinderbuch unter anderem Dieter Wiesmüller, so in seinen Zeichnungen zu Ute Andresens Im Mondlicht wächst das Gras (1991), worin die realistische Darstellung auch auf phantastische Gegenstände angewendet wird. Collagen kommen ebenfalls auch jenseits des Bilderbuches gelegentlich vor, wie man aktuell z. B. an den Arbeiten von Britta Teckentrup, so Worauf wartest du? Das Buch der Fragen (2016) oder den Illustrationen von Sune Ehlers zum Jugendbuch Wenn Worte meine Waffen wären (2018, Text von Kristina Aamand), sehen kann. Abstraktion ist hingegen im Kinderbuch wie auch im Bilderbuch weiterhin ein absoluter Sonderfall.
40.4 Forschungsstand Neben der Kunstgeschichte erkennen auch Philosophie und Philologie mittlerweile überwiegend den ästhetischen Eigenwert von Illustrationen an (vgl. z. B. von Criegern 1996). Andererseits wird Illustration weiterhin zumeist als dem Text untergeordnet angesehen: Mit der Reihenfolge im Produktionsprozess geht die Annahme einher, der Gehalt des Werks liege im sprachlich-schriftlich vorliegenden Text und nicht in den später hinzugekommenen Bildern. Auch findet – im Rahmen einer Tradition der Innerlichkeit – noch immer eine Abwertung der materialen Bilder in Büchern gegenüber den visuellen Vorstellungen im Kopf des Rezipienten statt. Innerhalb der deutschsprachigen Bilderbuchforschung hat es sich daher – insbesondere als Reaktion auf die verschiedenen Entgrenzungen und den zunehmend hohen bildkünstlerischen Anspruch dieser Buchgattung – in den letzten zwanzig Jahren weitgehend durchgesetzt, den Illustrationsbegriff durch den offeneren und wertneutralen Begriff des Bildes zu ersetzen (vgl. hierzu z. B. das Plädoyer von Thiele 2003b, 44–46). Die weitaus weniger umfangreiche Forschung zum illustrierten Kinderbuch verwendet den Illustrationsbegriff hingegen weiterhin eher unbefangen.
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
Ungeachtet der Frage der Wertigkeit und narrativen Bedeutung der Bilder im Bilderbuch bzw. im illustrierten Kinder- und Jugendbuch lassen sich zahlreiche Erkenntnisse der Bilderbuchforschung auch auf das illustrierte Kinder- und Jugendbuch übertragen. So können die bezogen auf das Bilderbuch entwickelten Analysemodelle etwa von Thiele (2003b), Michael Staiger (2014), Margarete Hopp (2015) und Tobias Kurwinkel (2017) auch auf das illustrierte Kinder- und Jugendbuch angewendet werden. Dies gilt insbesondere deshalb, weil aktuell weniger von einer dichotomen Unterscheidbarkeit zwischen Bilder-, Kinder- und Jugendbuch gesprochen werden kann, sondern vielmehr von graduellen Unterschieden hinsichtlich der Bildbedeutung in den einzelnen Buchgattungen auszugehen ist. Zur Rolle des Illustrators Als Indikator für die aktuell noch bestehenden Desiderate innerhalb der KJL-Forschung in Bezug auf Illustrationen kann die Rolle des Illustrators von Kinder- und Jugendbüchern gelten. Da Illustration als angewandte Kunst lange keinen guten Stand hatte, blieben Illustratoren bis ins 19. Jahrhundert hinein überwiegend anonym. Noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden sie in Kinderbüchern weitaus weniger prominent erwähnt als die Text-Autoren und bis heute findet – im Gegensatz zum aktuellen Bilderbuch – in der paratextuellen Darstellung von Autor und Illustrator zumeist eine Abstufung statt. Immerhin gibt es vermehrt Beispiele, in denen die Hierarchie von Text- und Bildschaffendem auch in diesem Bereich aufgehoben wird. Allerdings sind Illustratoren weiterhin, wenn sie nicht zu den wenigen populären Ausnahmen gehören, eher schwierigen Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Häufig müssen sie große Auftragsmengen erfüllen, um ihr Auskommen zu sichern. Hinsichtlich der Ausbildung von Illustratoren, die sich lange zwischen akademisch-künstlerischem Studium, gebrauchsgraphischer Ausbildung und autodidaktischer Herangehensweise bewegte, hat in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Professionalisierung und Spezialisierung stattgefunden. Dies spiegelt sich in der Möglichkeit wider, Illustration als eigenständigen Studiengang oder Studienschwerpunkt zu belegen, aber auch in der zunehmenden Organisation der Berufsgruppe, etwa im eigenen Berufsverband, der Illustratoren Organisation. Ein Zeichen für die wachsende Anerkennung von Illustratoren im deutschsprachigen Raum ist die Gründung spezifischer Institutionen, die sich der
Sammlung und Bewahrung von Kinder- und Jugendbuchillustrationen sowie deren Erforschung und Zugänglichmachung widmen. Zu nennen sind hier vor allem die Stiftung Illustration (gegründet 2005) und das damit verbundene Bilderbuchmuseum Burg Wissem in Troisdorf (bereits seit 1982). Daneben widmen sich schon länger bestehende Einrichtungen wie die Internationale Jugendbibliothek in München (seit 1949), aber etwa auch das Wilhelm Busch Museum für Karikatur und Zeichenkunst in Hannover (seit 1937) und die Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Sammlung von Originalillustrationen seit 1978) der Kinderbuchillustration. Durch Ausstellungen, entsprechende Publikationen und Veranstaltungen werden hier Illustrationen einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert. Wertschätzung erhalten Illustratoren weiterhin durch spezifische Preise. In Deutschland wird seit 1991 alle drei Jahre ein Sonderpreis für das Gesamtwerk eines Illustrators im Rahmen des Deutschen Jugendliteraturpreise (DJLP) verliehen, so 2019 an Volker Pfüller. Ebenfalls in dreijährigem Turnus, erstmals 2019 mit Iris Anemone Paul, werden neue Talente aus dem Bereich Illustration mit einem Sonderpreis im Rahmen des DJLP ausgezeichnet. International wird die Hans Christian Andersen-Medaille seit 1966 alle zwei Jahre für das Gesamtwerk eines Kinderbuchautors und eines Illustrators verliehen. Auch mit dem 2003 begründeten Astrid Lindgren Memorial Award (ALMA) werden neben Autoren auch Illustratoren von KJL ausgezeichnet. Die weltweit wichtigste Übersichtsschau für Kinderbuchillustration ist die Biennale der Illustration in Bratislava. Die untergeordnete Rolle, die der Illustration im Bereich der KJL-Forschung bislang zuteilwird, lässt sich am Umgang mit deren Urhebern, den Illustratoren, ablesen. So gilt heute weitestgehend noch immer, was Ries vor über 30 Jahren zur Rolle des Illustrators schreibt: »Biographische, bibliographische und andere grundlegende Daten fehlen besonders von jenen Künstlern, die überwiegend als Illustratoren von Kinder- und Jugendbüchern tätig waren.« (Ries 1984, 296) Zumindest lassen sich einige Ansätze erkennen, diesen Zustand aufzuheben. Mittlerweile befassen sich mehrere Standardwerke im Bereich der KJL-Forschung mit der Biographie und dem Werk einzelner Illustratoren. Genannt werden können hier das Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur (1975–1982) sowie Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon (1986– 2017). Das von Klaus Doderer herausgegebene Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur enthält u. a.
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Artikel zu zahlreichen Illustratoren, die auf deren Biographie sowie Werk und Wirkung eingehen. Kinderund Jugendliteratur. Ein Lexikon, das im Auftrag der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur zuletzt von Franz Lange und Franz-Josef Payrhuber herausgegeben wurde, bietet u. a. biographische und werkgeschichtliche Informationen zu knapp über 30 Illustratoren von KJL (allerdings gegenüber rund 270 Autorenartikeln). Ein weiteres Grundlagenwerk ist das ebenfalls als Loseblattsammlung angelegte Lexikon der Illustration im deutschsprachigen Raum nach 1945 (seit 2009), das von der Stiftung Illustration herausgegeben wird. Es handelt sich dabei um das erste deutschsprachige Lexikon, das sich ausschließlich der Kunst der Illustration bzw. der Würdigung herausragender Illustratoren der Gegenwart widmet. Darin befinden sich Artikel zu bislang 100 Künstlern, darunter auch zahlreiche Illustratoren von KJL. Weiterhin existieren zu einzelnen Illustratoren Ausstellungskataloge (vgl. z. B. die Publikationen der Internationalen Jugendbibliothek zu Shaun Tan, Binette Schröder oder Ole Könneke). Wissenschaftliche Monographien (z. B. über Franz Josef Tripp von Steinhauser 2018) oder Sammelbände (z. B. über Martin Baltscheit, Vach/Weinkauff 2015), die sich einzelnen Künstlern widmen, sind bislang rar. Insgesamt ergeben sich gerade in diesem Bereich noch große Forschungslücken.
40.5 Exemplarische Analyse Als Beispiel für ein aktuelles Buchprojekt, in dem die Bild-Text-Interdependenz wesentlich ist, wird hier die Maulina-Schmitt-Trilogie des Autors Finn-Ole Heinrich und der Illustratorin Rán Flygenring analysiert. Darin geht es um das elf- bis dreizehnjährige Mädchen Paulina, genannt Maulina Schmitt, das mit der Trennung der Eltern, der Krankheit und schließlich dem Verlust der Mutter konfrontiert wird. Bei aller Ernsthaftigkeit und Tiefe sowie der Traurigkeit und Wut der Protagonistin bleibt die Erzählung auch humorvoll, lebt von ihrem Sprachwitz und der Kreativität der Bildebene. Um das Verhältnis zwischen Text und Bild in dieser Jugendromantrilogie zu beschreiben, wird hier zunächst der Entstehungskontext besprochen, bevor einzelne Besonderheiten von Text, Bild und Typographie dargestellt werden. Heinrich, der zu diesem Zeitpunkt schon den erfolgreichen Adoleszenzroman Räuberhände (2007) sowie zwei Bände mit Erzählungen vorgelegt hatte,
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nahm bereits anlässlich des Kinderbuchs Frerk, du Zwerg (2011, im Folgejahr ausgezeichnet mit dem DJLP) Kontakt mit der isländischen Illustratorin und studierten Graphikdesignerin Flygenring auf. Schon hier wurde die von beiden erarbeitete »durchdachte und layouttechnisch sehr gekonnte Einheit« (Becker 2012, 16) aus Text, Typographie und Illustration wahrgenommen. Begünstigt durch die Auszeichnung konnte die Maulina-Schmitt-Trilogie verwirklicht werden. 2018 erschien als weiteres gemeinsames Projekt der beiden der Reuberroman. Die Reise zum Mittelpunkt des Waldes. Heinrich beschreibt die Abstimmung mit Flygenring bezogen auf die Maulina-Bücher wie folgt: »Oft schreibe ich ihr in eckigen Klammern was rein, dass man dies oder jenes so oder so illustrieren könnte. Das sind dann aber nur Vorschläge. Sie ist völlig frei in der Gestaltung. [...] Ohne dass wir jemals viel Zeit miteinander verbracht hätten, verstehen wir uns ziemlich gut und haben einen sehr ähnlichen Geschmack. Es gibt selten Sachen, bei denen ich sage: ›Das hab ich mir ganz anders vorgestellt‹, oder: ›Kann man das nicht auch so oder so machen?‹« (Heinrich/Nefzer 2014, 79–80)
Die drei Maulina-Bücher, die aus dieser Künstler-Kooperation hervorgegangen sind, zeichnen sich neben ihrer inhaltlichen und sprachlichen Qualität insbesondere durch das intensive Zusammenspiel von Text, Bild und Typographie aus, das sich noch deutlich verzahnter und – der älteren Zielgruppe entsprechend – anspruchsvoller gestaltet als im Frerk-Roman. Karen Köhler (2015) vergleicht diese Besonderheit mit einem »Reißverschluss der Erzählkunst«, ein Ausdruck, der die Intensität der Verschränkung von Text und Bild veranschaulicht. Dementsprechend ist bereits der Paratext der drei Bände gekonnt durchkomponiert, auf Serialität und die Interaktivität mit dem Rezipienten hin angelegt und darüber hinaus voller individuell-verspielter Ideen: Neben den zurückhaltend illustrierten Einbänden, die – vor jeweils einfarbigem Hintergrund – die Protagonistin in verschiedenen Lebenslagen zeigen, werden als weiteres Paratext-Element die Vorsatzpapiere aller drei Bände illustratorisch in das Gesamtkonzept integriert: Der Leser erhält hier Zusatzinformationen, wird aktiviert und in das spielerische Moment des Buches eingeführt. Im ersten Band befindet sich dort eine Suchaufgabe: Beide Vorsätze enthalten Zeichnungen der 84 Topfpflanzen aus Maulinas Zuhause, die der Rezipient im Buch-
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V Methodische Zugänge und kulturwissenschaftliche Aspekte
inneren suchen und markieren soll. Im zweiten Band werden auf dem vorderen Vorsatz – nach Art einer dramatis personae – die handelnden Figuren und deren Beziehungen untereinander dargestellt, im hinteren Vorsatz wichtige Gegenstände. Im dritten Band wird schließlich im vorderen Vorsatz Paulinas Lebensgeschichte in Beziehung zur Evolution gesetzt. Das hintere Vorsatz zeigt eine Sternkarte, die Paulinas persönliche Sternbilder darstellt. Schon diese BuchElemente, die auch die Memorierung des Inhaltes und Orientierung des Lesers unterstützen, spiegeln die gelungene Ambivalenz zwischen Komik und Tiefgründigkeit sowie das komplexe Text-Bild-Verhältnis der Bücher wider. Intensiv ist Letzteres vor allem aber auch im Bereich des Textblockes, in allen drei Bänden bleibt kaum eine Doppelseite ohne Illustration. Die schwarzen Kritzel-Federzeichnungen werden gelegentlich mit einer einzigen Farbe pro Band koloriert und häufig von handschriftlichen Elementen begleitet. Zeichnungen und Schrift-Elemente wirken somit, als seien sie von der Protagonistin selbst in tagebuchartiger Manier produziert worden. Daneben beinhalten die Handschrift-Bild-Kombinationen zahlreiche interaktive Elemente, die den Leser sinnlich in Maulinas Welt eintauchen lassen, so etwa Rezepte und Anleitungen (für den Bau eines Geheimverstecks, das Falten des weltbesten Papierfliegers, ...). Außerdem werden ganze Passagen, oft über mehrere Seiten, in Comicform erzählt (vgl. Paulinas Träume in Bd. 1, 80–83; Bd. 2, 5; 192–196). Zu den spielerischen Elementen der Bücher, in denen Text, Bild und Typographie eine besonders enge Einheit eingehen, gehören vor allem die sogenannten »lexikalischen Einschübe«. Darin werden – typographisch wiederum durch Handlettering abgehoben und unter Einbezug von Zeichnungen – zentrale Gegenstände und Sachverhalte erklärt, in den beiden Folgebänden auch solche, die bereits im ersten Band beschrieben wurden. Die entsprechenden Texte verfasst Heinrich selbst (vgl. Heinrich/Nefzer 2014, 79). Trotzdem gibt Flygenring ihnen durch ihre Zeichnungen und die handschriftliche Umsetzung einen eigenen Reiz und bringt hier wie an anderer Stelle ihre Einfälle ein. Die Funktion dieser Einschübe ist einerseits tatsächlich die (Er-)Klärung von unbekannten Begriffen für das lesende Kind. Daneben wird andererseits das aus Sachbüchern bekannte Vorgehen persifliert. Vergleichbares findet sich in der aktuellen KJL etwa auch in Form der Lexikoneinträge in Andreas Steinhöfels Rico, Oskar-Serie, wobei die Illustration dort jedoch nicht eingebunden wird.
Interessant ist in der Maulina-Trilogie weiterhin die illustratorische Nutzung der visuellen Möglichkeiten von neuen Medien: Das erste Kapitel im ersten Band beginnt mit einer Google-Maps-Zeichnung, auf der Maulinas Reich »Mauldawien« markiert ist. Mit dieser intermedialen Referenz erhält der Leser eine gewisse Orientierung, am Ende des Kapitels findet er – nach Art eines Zooms – ergänzend eine teilperspektivische Innenansicht des verlorenen Zuhauses von Maulina. Ein weiteres Beispiel ist ein Kapitel im dritten Band, das lediglich aus einer Seite mit der Illustration eines Handy-Displays besteht, worauf eine Kurznachricht zu lesen ist. Hier wird im analogen Medium Buch – vorwiegend durch die Bildebene – fast beiläufig und dadurch sehr gelungen auf digitale Formate zurückgegriffen. Daneben sind aber auch Referenzen zu zahlreichen analogen Text-Bildgattungen (Landkarten, Behindertenausweis, Karteikarten, Fotowand) Teil des Gesamtkonzeptes aller Bände. In den verschiedenen Enden des letzten Bandes, worin es um den Tod von Maulinas Mutter geht, steigert sich noch einmal die Intensität der Verschränkung von Typographie, Layout, Bild und Text. Um das Schwer-Sagbare auszudrücken, werden alle Möglichkeiten der verschiedenen Ebenen ausgelotet. Der Bedeutung der Bilder in dieser Trilogie gemäß werden Flygenring und Heinrich im Paratext der Bücher gleichberechtigt dargestellt (Präsentation der Autorennamen, Autorennotizen am Buch-Ende, Danksagungen). Dies entspricht auch der gemeinsamen und sehr gekonnten partnerschaftlichen Selbst-Inszenierung der beiden in verschiedenen Medien (vgl. z. B. die Maulina-Website unter http://www.maulina. de) sowie der Außenwahrnehmung ihrer Personen in der KJL-Kritik und Öffentlichkeit. Insgesamt ist an innovativen Buchprojekten wie diesem ablesbar, dass Illustration bzw. das Bild auch im illustrierten Kinder- und Jugendbuch eine hohe künstlerische und narrative Eigenständigkeit besitzen und gleichzeitig eine enge Verzahnung mit dem Text eingehen kann. Hier hat sich die Illustration – von Impulsen aus Comic und Graphic Novel angestoßen – aus ihrer dienenden Rolle befreit, ähnlich wie es im Bilderbuch schon seit langer Zeit erfolgte. Ihre Funktion geht hier über die reine Kommentierung oder Veranschaulichung des Schrifttextes hinaus, sie ist ein wesentlicher Bedeutungsträger innerhalb einer vielschichtigen Narration. In ähnlicher, teilweise noch näher an der Kunstgattung des Künstlerbuchs stehender und komplexerer Weise, verzahnen sich in den letzten Jahren auch in Jugendbüchern bekannter Autor-Illustratoren
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Bild, Text und Typographie zu einem hybriden Ganzen: So bringen etwa Nadia Buddes Such dir was aus, aber beeil dich. Kindsein in 10 Kapiteln (2009) und Martin Baltscheits Die besseren Wälder (2013) die KJLForschung bei der Gattungszuordnung und den Illustrationsbegriff an die Grenzen. Ein Abgleich mit dem Künstlerbuch und der entsprechenden Forschung könnte daher sicher einige interessante Ergebnisse zu Tage bringen (vgl. z. B. Schmitz-Emans/Bachmann 2013). Jugendbücher dieser Art zeigen, dass es vor allem bei Erzählungen von Mehrfachtalenten zu äußerst komplexen bimedialen Formen kommen kann. Hier werden die Potentiale von Text und Bild in neuartiger Weise ausgelotet. Es erscheint fragwürdig, solche Erscheinungsformen einfach unter den Begriff des Bilderbuches zu rechnen, wie es vielerorts geschieht. Hier müssten sich eher neue Begriffe finden lassen bzw. bestehende Zuschreibungen erweitert werden. Primärliteratur
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Mirijam Steinhauser
VI Didaktik
A Literacy und Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur 41 Literacy 41.1 Einleitung ›Literacy‹ ist einer der zentralen Begriffe in den aktuellen internationalen Forschungs-, Entwicklungsund Kompetenzdiskursen der Geistes-, Gesellschaftsund Bildungswissenschaften sowie anderer Disziplinen und grundlegend für die »Leitidee der gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit« (Hurrelmann 2009, 23) in literalen Gesellschaften, deren Wissensbestände und Institutionen auf Texttraditionen aufbauen. Entsprechend sind Schreib-, Lese- und sprachreflexive Fähigkeiten literale Kompetenzen, die als Basisqualifikationen den uneinheitlichen, das Gegenstandsfeld bestimmenden Begriffen (Alphabetisierung, Schriftspracherwerb, Schreib- und Lesekompetenz, Literalität, Literacy, Grundbildung u. a.) zugrunde liegen (Huneke 2010, 19). Zur Definition des Begriffs ›Literacy‹ wird im Folgenden zunächst auf seine internationale Verwendung Bezug genommen, wobei die Konvergenzen und Divergenzen der kulturbedingten Literacy-Formate internationaler Literacy-Forschung (Literacy Studies) weitestgehend ausgespart bleiben. Nach einer kurz gefassten Begriffshistorie werden die im gegebenen Kontext hervorzuhebenden begrifflichen Ausdifferenzierungen des Sammelbegriffs ›Literacy‹ typologisierend erläutert.
41.2 Begriffsdefinitionen Der Begriff ›Literacy‹ entstammt dem anglo-amerikanischen Raum und wird im wissenschaftlichen Diskurs überwiegend originär verwendet. Seinem engen Verständnis »i. S. von schriftsprachlicher Handlungsfähigkeit« (vgl. Isler/Philipp/Tilemann 2010, 19) entspricht das im Deutschen gebrauchte Äquivalent Literalität, das sich primär auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten
des Rezipierens und Produzierens von Schrift bezieht. Die weiter gefasste, über Lesen und Schreiben hinausgehende, gemäß der anglo-amerikanischen Konzeption allgemein gebräuchliche Bedeutung von Literacy impliziert all jene Kompetenzen, die ein Individuum benötigt, um symbolische Systeme einer Kultur zu verstehen, zu benutzen und zu produzieren (Hurrelmann 2007, 22–23). Die UNESCO (2004, 13) definiert Literacy folgendermaßen: »Literacy is the ability to identify, understand, interpret, create, communicate und compute, using printed and written materials, associated with varying contexts. Literacy involves a continuum of learning in enabling individuals to achieve his or her goals, develop his or her knowledge and potential, and participate fully in community and wider society.«
Literacy bezeichnet demnach als vieldimensionales Konzept eine lebenslange, prozessorientierte soziale Praxis (vgl. Barton 1994) und umfasst eine sowohl gesellschaftliche als auch individuelle Komponente (vgl. Bertschi-Kaufmann/Rosebrock 2009, 2013; Hurrelmann 2009) im rezeptiven und produktiven Umgang mit Sprache und Medien in einer sich wandelnden Mediengesellschaft, die nach Norbert Groeben und Ursula Christmann (2013, 89) der Etablierung eines Konzepts der »partizipativen Konvergenzkultur« bedarf. Darin sind »kognitive, motivationale und soziale Handlungskompetenzen [implementiert; M. H.], die sich integrativ auf neue wie alte Medien (einschließlich eben der Literalität) beziehen« und von einem weiten Textbegriff ausgehen (ebd.). Termini wie ›Information Literacy‹, ›Computer Literacy‹, ›ICT Literacy‹, ›e-Literacy‹, ›Network Literacy‹, ›Media Literacy‹, ›21st Century Literacy‹, ›Digital Literacy‹, ›Visual Literacy‹ (vgl. Bawden 2008; Coiro/Knobel/Lankshear u. a. 2008) bezeichnen Literalitätskonzepte, die unter dem Begriff ›New Literacies‹ gefasst werden. Ihren
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_41
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Kern bilden »die Fertigkeiten zur Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien« (Isler/ Philipp/Tilemann 2010, 41). Auch für andere Teilbereiche gesellschaftlicher und sozialer Praxis, in denen bereichsspezifische Kenntnisse, Fertigkeiten und Strategien gefordert sind, wird der Terminus ›Literacy‹ »als Metapher für eine anwendungsorientierte Grundbildung benutzt« (Nickel 2007, 31), z. B. Financial Literacy, Health Literacy etc. Literacy entzieht sich damit offensichtlich einer allgemeingültigen Definition. Zusammenfassend lässt sich deshalb festhalten, dass das »Konzept der Literalität verschiedene Schnittstellen für interdisziplinäre Bezüge zur Verfügung [stellt]: Es ist anschlussfähig an die Kognitions- und Motivationspsychologie, sozialwissenschaftliche Interaktions- und Sozialisationstheorien, einen erweiterten Textbegriff und kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven.« (Isler/Philipp/Tilemann 2010, 20)
41.3 Historische Entwicklungen Die Wurzeln von Literacy liegen in den weltweiten Alphabetisierungsmaßnahmen, die mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen im Jahr 1948 angestoßen wurden, als Bildung und damit der Zugang zur Schriftsprache zum Menschenrecht deklariert wurde (vgl. Wilke 2016, 28). In den 1970er Jahren wurde im Zusammenhang mit der wachsenden Bedeutung von Informationsdatenbanken im amerikanischen Bibliothekswesen der Begriff ›Information Literacy‹ eingeführt, der in gegenwärtigen Diskursen weiter gefasst wird (vgl. Isler/Philipp/ Tilemann 2010, 82; Virkus 2003). War der Begriff der ›Literalität‹ bzw. ›Literacy‹ bis Anfang des 21. Jahrhunderts »in der Deutschdidaktik noch neu« (Hurrelmann 2009, 23), ist er in der Sprachwissenschaft schon länger gebräuchlich und bezeichnet »gesellschaftliche Zustände, die dadurch gekennzeichnet sind, dass nicht nur repräsentative Teile der Bevölkerung lesen und schreiben können, sondern dass auch das gesellschaftliche Leben insgesamt durch Formen schriftlicher Kommunikation bestimmt ist« (Günther/Ludwig 1994, VIII). Der in den 1980er Jahren von Eric Donald Hirsch (1987) geprägte Begriff der ›Cultural Literacy‹ bezeichnet ein Konzept kultureller Bildung, das die gesellschaftliche Bedeutung von Literacy betont: Kulturelle Kompetenz erfordert mehr als nur
sprachliche Fähigkeiten; sie bedarf der Teilhabe an der Kultur eines Landes und insbesondere eines gemeinsamen Wissensbestandes. Im angelsächsischen Raum entwickelten sich seit den frühen 1980er Jahren die New Literacy Studies (NLS) als interdisziplinär ausgerichteter Forschungsansatz, mit dem eine »›soziale‹ Herangehensweise an Lesen und Schreiben vertreten« (Street 2013, 149) wird. Insbesondere geht es dabei »um den Schritt vom literacy event (Literalitätsereignis) hin zu den literacy practices (Literalitätspraktiken)« (ebd.; vgl. Barton 1994). Nach Julie Coiro, Michele Knobel, Colin Lankshear u. a. (2008) fallen unter den Begriff ›New Literacies‹ neue soziale Praktiken und Konzeptionen des Lesens und Schreibens im Umgang mit verschiedenen medialen Formaten, insbesondere des Internets, neue Diskursformen und Multiliteralität. Hervorzuheben ist das seit den 1980er Jahren steigende Forschungsinteresse der Elementarpädagogik an der vorschulischen Anbahnung des Schriftspracherwerbs bzw. der frühen Alphabetisierung (Emergent Literacy oder Early Literacy) (vgl. Whitehurst/Lonigan 2001; Hall/ Larson/Marsh 2003; Dickinson/Neuman 2006), womit die Bedeutung der familialen Praxis prä- und paraliteraler Erfahrungen (Family Literacy) in den Fokus kam (vgl. Taylor 1983; Wiescholek 2018). Im deutschsprachigen Raum wurde Literacy vor allem in der Folge der ersten PISA-Studie 2000 zum vieldiskutierten Thema und zentralen Begriff für die Bezeichnung der Basiskompetenzen Reading Literacy, Mathematical Literacy und Science Literacy, die den großen Leistungsstudien der OECD-Staaten zugrunde liegen (vgl. Hurrelmann 2002, 7). Literacy wird heute für verschiedenste Kompetenzund Wissensbereiche verwendet, deren je spezifische Bildungsziele terminologisch in zahlreichen Ausdeutungen von Literacy zum Ausdruck kommen.
41.4 Typologien Literacy ist über die ursprüngliche Bedeutung der Lese- und Schreibfähigkeit (Functional Literacy oder Reading und Writing Literacy) hinaus heute ein Sammelbegriff für eine Reihe von Handlungs- und Wissensformen, die sich in Prozessen entwickeln, wobei der »Reading und Writing Literacy [...] eine Schlüsselrolle für alle weiteren Formen von Literacy« (Nickel 2007, 31) zukommt. Das anglo-amerikanische Kompetenzkonzept der Reading Literacy meint »die Fähigkeit, geschriebene Texte unterschiedlicher Art in ih-
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ren Aussagen, ihren Absichten und ihrer formalen Struktur zu verstehen und in einen größeren sinnstiftenden Zusammenhang einordnen zu können, sowie in der Lage zu sein, Texte für verschiedene Zwecke sachgerecht zu nutzen« (Baumert/Demmrich/Stanat 2001, 290). Dieser »kognitionspsychologisch fundierte Literalitätsbegriff« fokussiert mit seiner funktionalen Sicht auf Kompetenzen als basale Kulturwerkzeuge im Bereich des Schriftgebrauchs und gilt »als Gegenbegriff zu einem spezifisch deutschen Verständnis ›literarischer Bildung‹, die in der Auseinandersetzung mit Kunstliteratur (im weitesten Sinn) erworben wird« (Brüggemann/Frederking 2010, 4; vgl. Hurrelmann 2009). Literacy impliziert demgemäß das aus der Lesesozialisationsforschung hervorgegangene Verständnis, »dass zu einer ausgebildeten kulturellen Literalität auch lesebezogene motivational-emotionale und kommunikativ-interaktive Fähigkeiten gehören« und damit ein Selbstkonzept als Leser (Hurrelmann 2009, 30). »Symbolverständnis, der Spaß an sprachlich [und bildlich; M. H.] vermittelten Botschaften, die Geduld und Fähigkeit, diese zu interpretieren, sind wesentliche Faktoren des Komplexes ›Literacy‹ und ein zuverlässiger Prädikator für spätere Schulleistung.« (Ulich/Ulich 1994, 825) Literacy ist ein »lebenswegbegleitender Prozess« (ebd.), der in der frühen Kindheit beginnt und als Emergent Literacy (auch Early Literacy oder Prä-Literalität) bezeichnet wird (vgl. Hall 2003; Gillen/Hall 2013). Mit diesem Begriff werden drei verschiedene Bereiche der frühen Entwicklung von Literacy gebündelt: mündliche und schriftbezogene Spracherwerbsprozesse, Prozesse entstehender Sprachbewusstheit und Sprachreflexion sowie Schriftlichkeit als kulturelle Praxis (vgl. Andresen 2010, 6). In der elementarpädagogischen Arbeit gilt Literacy als Schlüsselbegriff für den Umgang mit einer Erzähl-, Lese-, Schreib- und Buchkultur (vgl. Näger 2005, 11), der sich auf weit mehr als die Grundfertigkeit des Lesens und Schreibens bezieht und »Kompetenzen wie Text- und Sinnverständnis, sprachliche Abstraktionsfähigkeit, Lesefreude, Vertrautheit mit Büchern, die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken, Vertrautheit mit Schriftsprache oder mit literarischer Sprache oder sogar Medienkompetenz« mit meint (Ulich 2003, 6–7). Interdisziplinärer Konsens herrscht bezüglich der bedeutenden Funktion von Geschichten und Bildern für das Konzept der Emergent Literacy, das die Anbahnung von Verbal Literacy (Sprachkompetenz) ebenso einschließt wie Literary Literacy (literarische Kompe tenz), Visual Literacy (visuelle Kompetenz) und Me-
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dia Literacy (Medienkompetenz) (Nikolajeva 2003; Ulich 2003; Näger 2005; Rau 2007; Andresen 2010; Jentgens 2016). Verbal Literacy ist die »Fähigkeit, Sprache und mündlich produzierte Texte zu dekodieren und zu verstehen«, Literary Literacy die »Fähigkeit, Literatur zu verstehen und auch selbst zu produzieren« (Kümmerling-Meibauer 2006, 452). Bei Visual Literacy geht es um die bewusste Wahrnehmung und das Decodieren von visuellen Zeichen und Symbolen, um eine kritische Reflexionsfähigkeit zum Aufdecken ihrer Wirkungen und Wirkungsabsichten sowie die Fähigkeit, visuelle Botschaften selbst zu produzieren (Nikolajeva 2003; Hopp/Lieber 2008; Krichel 2019). Wie die Beherrschung der Schriftsprache fordert auch die Bildsprache »das kritische Nachdenken über Repräsentationsformen, ihre unterschiedlichen Mittel, Codes, Funktionen, ihre Möglichkeiten zur Sinnstiftung« (Ziethen 2018, 133). Sowohl Kunst- als auch Deutschdidaktik (Scherer/Volz/Wiprächtiger-Geppert 2014; Lieber/Uhlig 2016; Abraham/Sowa 2016; Uhlig/Lieber/Pieper 2019) haben sich in den letzten Jahren verstärkt mit Fragen zum integralen Verhältnis von Sprache und Bild beschäftigt und Beiträge »zur weiterführenden Erforschung der Visual Literacy-Entwicklung« im Sinne einer interdisziplinären »Vernetzung der Visual-Literacy-Studies mit der transmedialen Narratologie, der Kognitions- sowie der Erzähl- und Sprachwissenschaft« (Krichel 2019) geleistet. Unter Media Literacy, verstanden als Oberbegriff für medienbezogene Rezeptions- und Handlungskompetenzen, sind zahlreiche weitere Literacy-Konzepte subsumiert, die dem Feld der New Literacies angehören. »Das dynamische Feld der ›new literacies‹ ist von einer großen Unübersichtlichkeit gekennzeichnet, die der Nähe zum sich ändernden Feld der Medien geschuldet ist, sodass sich hier noch keine eindeutigen Trends in der Begriffsarbeit festhalten lassen.« (Isler/ Philipp/Tilemann 2010, 48) Zu betonen ist, dass vor dem Hintergrund eines weiten Medienbegriffs auch Functional Literacy (Lese- und Schreibfertigkeit) bzw. Reading Literacy und Writing Literacy unter Media Literacy gefasst werden (vgl. Bertschi-Kaufmann/ Schneider 2004, 16) und als Schlüsselkompetenzen den digitalen Kompetenzen (Digital- oder E-Literacy) inhärent sind. Der Begriff ›Digital Literacy‹ (vgl. Gilster 1997; Bawden 2008) umfasst »die Fähigkeiten, kompetent und reflektiert mit digitalen Informationen und neuen Medien umzugehen, sich Zugang zum Netz zu verschaffen, sich dort eigenständig zu bewegen, eine par-
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tizipatorische Teilhabe wahrzunehmen und Informationen zu kreieren, zu verbreiten und zu evaluieren« (Stiegler 2015, 22). Damit ist eine soziokulturelle Dimension impliziert, die über die in manchen Diskursen eng gefasste, funktionale Bedeutung von Digital Literacy in Sinne der Befähigung zur technischen Bedienung digitaler Medien und der Informationsbeschaffung hinausgeht (vgl. Buckingham 2010, 59). Teilweise synonym wird im Deutschen der Begriff Computerkompetenz verwendet (vgl. Pietraß 2010, 73). Das Konzept der ›Transmedia Literacy‹ ist eng verbunden mit dem Begriff »Transmedia Storytelling« (Jenkins 2015) und trägt dem Umstand Rechnung, dass Geschichten über verschiedene Medien hinweg erzählt werden. »Der Begriff transmedial bedeutet schlicht und einfach ›über Medien hinweg‹ und deutet ein strukturiertes oder koordiniertes Verhältnis von verschiedenen Medien und deren Anwendungen an.« (Ebd., 237) Sowohl die Fähigkeit als auch das Engagement des Rezipienten, dem komplexen Spiel von »Intertextualität und Multimodalität« (ebd., 238) zu folgen, sind dabei gefordert. Transmedia Literacy bezieht sich demnach auf die Fähigkeit zur Wahrnehmung, Kommunikation und Artikulation über mehrere Medienkanäle und -modalitäten hinweg, die ein hohes Maß an Informationsverarbeitung erfordern. Nach Claudia Lux ist Information Literacy oder Informationskompetenz die Fähigkeit, »Informationsbedarf zu erkennen, Informationen zu ermitteln, zu bewerten und effektiv zu nutzen« (Lux 2007, 201). Information Literacy »beschreibt damit eine überfachliche Befähigung zu informationsgestütztem Lernen in der Mediengesellschaft [...], wobei insbesondere die Aspekte des Medienwissens, der richtigen Anwendung von Medien, der Selbststeuerung bei der Mediennutzung und der Bewertung von Medien als Kernaspekte von ›information literacy‹ verstanden« werden (Isler/Philipp/Tilemann 2010, 82). Der Gewissheit, »dass die Schule nicht die einzige Instanz der Vermittlung von Literalität ist« (Hurrelmann 2009, 27), trägt der Begriff ›Family Literacy‹ (vgl. Taylor 1983) Rechnung, mit dem zahlreiche Aspekte des schriftsprachbezogenen Lernens im familialen Kontext (vgl. z. B. Wiescholek 2018) erfasst werden. Er ist mehrfach belegt und wird zur Bezeichnung von familialen Praktiken, schulischen Aktivitäten zur Zusammenarbeit mit Familien oder generationenübergreifenden Interventionsprogrammen verwendet (vgl. Nickel 2004, 74). Family Literacy impliziert zudem eine »doppelte Perspektive« (Grotlüschen 2007, 12) in dem Sinne, dass die Adult Literacy (Erwachsenenbil-
dung) der Eltern in Korrelation zur Literalität der Kinder gesehen wird. Den entscheidenden Einfluss der familialen Lesepraxis und der elterlichen Lesevorbilder auf den Bildungsweg von Kindern hat die literarische und Lese-Sozialisationsforschung vielfach nachgewiesen (s. z. B. Isler 2016), weshalb »der Aufbau von Erziehungs- und Bildungspartnerschaften« (Nickel 2007, 39) zwischen Bildungseinrichtungen und Familien geboten erscheint. Anregungen für eine schulisch organisierte Unterstützung und Anleitung einer leseförderlichen Familienkultur finden sich beispielsweise bei Sven Nickel (2004), Dieter Isler, Maik Philipp, Friederike Tilemann (2010), Karin Vach (2012) u. a. Die folgenden Kapitel machen deutlich, dass die Kinder- und Jugendliteratur (in verschiedenen medialen Formaten) als Gegenstand des Literacy-Erwerbs bzw. der Literacy-Erziehung eine bedeutende Rolle spielt. Literatur
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Margarete Hopp
42 Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht
42 Kinder- und Jugendliteratur im Unterrichtdes Elementar- und Primarbereichs sowie des Sekundarbereichs 42.1 Einleitung Der Beitrag fokussiert Kinder- und Jugendmedien aus einer literatur- bzw. mediendidaktischen Perspektive. Er stellt dabei verschiedene methodische Zugänge und Möglichkeiten vor, Kinder- und Jugendmedien in den Unterricht des Elementar-, Primar- und Sekundarbereichs zu integrieren sowie für diesen nutzbar zu machen.
42.2 Funktionen der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) im Unterricht Anders als in vielen Teilen dieses Handbuchs fragt die Literaturdidaktik weniger nach der Beschaffenheit der kinder- und jugendliterarischen Gegenstände als nach deren Bedeutung für die Akteure im kulturellen Handlungsfeld. Die Soziologie legt nahe, individuelle (Mikroebene), soziale (Mesoebene) und kulturelle (Makroebene) Bedeutungen zu unterscheiden (vgl. Kepser/Abraham 2016, 19–27). Eine individuelle Bedeutung kann z. B. darin liegen, dass KJL ästhetischen Genuss verspricht, Modelle zur Konstruktion von Ich-Identität bereithält, mentales Probehandeln erlaubt, Fremdverstehen fördert oder Wissenserwerb ermöglicht. Soziale Bedeutung kann KJL als gemeinsam geteilter Erfahrungsraum unter Gleichaltrigen (Peers) und im intergenerationellen Austausch erlangen, vor allem bei doppelt adressierter Literatur wie vielfach Bilderbüchern (s. Kap. 24) oder All-Age-Medien (s. Kap. 2). KJL als Sozialisationsliteratur ist immer auch ein pädagogisches Selbstverständnis eingeschrieben: Sie vermittelt ästhetische, ethisch-moralische und viele andere soziale Normen und Werte und sorgt dafür, dass über sie gesprochen werden kann (also für ›Diskursfähigkeit‹). Kollektive Rezeptionssituationen (Vorlesen, zusammen Lesen, gemeinsame Theater- und Kinobesuch etc.) bieten zudem besondere Genüsse. Kulturelle Bedeutsamkeit hat KJL als Teil des komplexen Symbolsystems, mit dessen Hilfe große Gemeinschaften im Spannungsfeld zwischen Tradition, Innovation und Utopie ihre Identität herstellen. Anders als noch vor 1970 ist dabei nicht nur von einer propädeutischen Funktion der
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KJL für die literarischen (Hoch-)Kulturen der Erwachsenenwelt auszugehen. Vielmehr ist sie mittlerweile als eigenständiger Teil des kulturellen Symbolsystems anzusehen. Wie die Literaturen der Erwachsenen ermöglicht auch KJL ästhetische, ethische und politische Positionierungen im gesellschaftlichen Kontext, wobei ihre Beteiligung am jeweils zeitgenössischen Diskurs über Kindheit bzw. Jugend besonderes Gewicht hat. Am kulturellen Handlungsfeld der KJL umfänglich teilhaben zu können, ist aber an bestimmte Voraussetzungen gebunden: Individuelle Bedeutung kann KJL nur erlangen, wenn überhaupt Zugänge zu einer breiten Auswahl an Kinder- und Jugendmedien vorhanden sind. Jenseits der familiären Ausstattung bieten Stadt- und Schulbibliotheken solche an; ihre Nutzung muss aber erlernt werden. Ohne basale Sprachkenntnisse bleibt der Weg zu allen literarischen Spielarten weitestgehend versperrt. Fehlen Imaginationsfähigkeiten, können Kinder und Jugendliche selbst lediglich gehörte literarische Texte nur eingeschränkt genießen. Lesefähigkeiten sind zumindest dann unabdingbar, wenn schriftbasierte Literaturen eigenständig rezipiert werden wollen. Auf der Ebene sozialer Bedeutsamkeit bedarf es Fähigkeiten und Fertigkeiten der Anschlusskommunikation. Literarische Gespräche kann nur führen, wer eigene lektürebezogene Gedanken und Gefühle nachvollziehbar artikulieren und anderen aufmerksam zuhören kann. An Schulen und Hochschulen wird weiterhin verlangt, sich auch schriftlich zu literarischen Texten äußern zu können. Dies erfordert im Laufe der Entwicklung einen zunehmend differenzierten literaturbezogenen Fachwortschatz und entsprechende Konzepte, die auch benötigt werden, um literarische Para- bzw. Metatexte (Werbung, Rezensionen, Kritiken, Essays etc.) rezipieren zu können. Kulturell bedeutsam werden kann KJL, wenn prototypische Texte (z. B. Klassiker der KJL, s. Kap. 5), Ordnungsprinzipien (z. B. Gattungen wie Ballade oder Märchen) und Formtypologien (z. B. Reimschemata) bekannt sind. Auch ritualisierte Erschließungs- und Interpretationsverfahren gehören dazu, z. B. Aufbau- und Formanalyse als Voraussetzung für eine umfassende FormInhalts-Interpretation. Ebenso sollte eine gewisse Bereitschaft vorhanden sein, sich auf die kollektive Bedeutung von Literatur einzulassen. Schule und Unterricht haben die Verpflichtung, situative Rahmenbedingungen zu schaffen und Kompetenzen (im weitesten Sinn) zu vermitteln, um Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft auf möglichst
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allen Ebenen eine weitreichende Teilhabe am kulturellen Handlungsfeld Literatur zu ermöglichen. Allerdings kann es in den Überschneidungsfeldern von Individuation, Sozialisation und Enkulturation durchaus zu Konflikten kommen, mit denen Lehrkräfte umgehen müssen: Das versunkene stille Augenlesen – noch im 18. Jahrhundert eher die Ausnahme – ist der übliche Rezeptionsmodus schriftbasierter Literatur und ausgesprochen privater Natur. Lektüre im Klassenraum ist aber zumindest teilöffentlich. In ihrer Freizeit werden Kinder- und Jugendmedien vor allem zum Genuss rezipiert. Es gibt aber neben einem solchen intimen Lesemodus auch andere Modi (v. a. ästhetisches Lesen: vgl. Graf 2004, 107–119), deren Vertrautheit das Bildungssystem zunächst herstellt und dann zunehmend voraussetzt: Im Unterricht geht es nicht zuletzt um Lektürearbeit, die zudem mit Leistungserwartungen verknüpft ist. Auch unterliegen Freizeitlektüren nicht unbedingt allgemeiner kultureller Wertschätzung: Nahezu die gesamte KJL stand bis in die 1960er Jahre im Trivialitätsverruf, was sie als Gegenstand schulischer Auseinandersetzung weitgehend ausschloss. Selbst heute noch gilt das sowohl für bestimmte mediale Gattungen wie Comics oder narrativ grundierte Computerspiele als auch für bestimmte Genres (z. B. Fantasy, Rap-Songtexte) oder Formate (z. B. Serien in Buch- oder Filmform, s. Kap. 17). Um hier zu angemessenen didaktischen Entscheidungen zu kommen, ist es sinnvoll, sich der drei wichtigsten Funktionen von KJL im Unterricht bewusst zu sein (vgl. Rosebrock 1995, 10): a) Thematische Funktion: der mediale Unterrichtsgegenstand setzt ein bestimmtes Motiv, z. B. Freundschaft, Behinderung, Flucht ... b) Medienästhetisch-bildende Funktion: Es geht um literar- bzw. medienästhetische Rezeptionskompetenzen und die Befähigung zur Teilhabe am literarischen Leben c) Lesefördernde Funktion: Kindern und Jugendlichen soll Freude am Lesen vermittelt werden Allen drei Funktionen gleichermaßen gerecht zu werden, ist keine leichte Aufgabe. So ist aus der empirischen Forschung bekannt, dass die bei Lehrkräften besonders beliebte problemorientierte KJL unter Lernenden keine große Anhängerschaft hat (vgl. Richter 2003; Schilcher/Hallitzky 2004). Wem also daran gelegen ist, Kinder und Jugendliche für das Lesen zu begeistern, tut gut daran, solche Genres als Klassenlektüren anzubieten, die auch außerhalb der Schule beliebt sind, z. B. Abenteuerliteratur oder Thriller.
42.3 Mediale und gattungsspezifische Fragestellungen für den Primarbereich KJL im Unterricht: Primarstufenspezifische Bedingungen Unterricht auf der Primarstufe ist in vielfältiger Weise von Heterogenität geprägt. Der gemeinsame Bildungsgang vereint Schüler sehr unterschiedlicher Lernausgangslagen und Zugänge zum Gegenstand. Das betrifft einerseits die kognitiven Voraussetzungen der Lernenden, andererseits aber auch das soziale und kulturelle Herkunftsmilieu und die damit verbundene Schriftbzw. Mediensozialisation. Die Besonderheiten einer primarstufenspezifischen Didaktik der KJL stehen mit diesen Bedingungen in direkter Beziehung. KJL als Gegenstand des Unterrichts kann dabei eine ausgesprochen ambivalente Wirkung erzielen: Einerseits evozieren der thematische Rahmen und das soziale Ereignis der kollektiven Lektüre ein gemeinsames Erlebnis mit Möglichkeiten der Anschlusskommunikation. Andererseits können die spezifischen Lese- und Verstehensanforderungen, die literarische Texte stellen, potentielle individuelle Barrieren und Ausschlussmomente sein (vgl. Naugk/Ritter/Ritter u. a. 2016, 139). Gleichzeitig erzeugt die in den ersten Schuljahren sich erst entwickelnde Lesefähigkeit und die Lektüre der daran orientierten (einfachen) Texte Widersprüche zu den ästhetischen Ansprüchen und Möglichkeiten junger Leser (vgl. Plath/Richter 2007, 9): Von Hörtexten und Filmen sind sie schon weitaus komplexere Geschichten gewohnt als jene, die ihnen als Erstlektüren angeboten werden. Im Verlauf der Primarschulzeit kann es zu einem ersten, kleinen Leseknick kommen, wenn leicht zugängliche Texte von umfangreicheren, komplexeren Texten abgelöst werden und neue Leseherausforderungen in Bezug auf Erzählstruktur, Thematik oder Darstellung gegeben sind. Eine weitere Besonderheit der Primarstufe ist das noch stärker dominierende Klassenleiterprinzip. Deutschunterricht findet gemeinsam mit anderen zentralen Fächern zumeist bei ein und derselben Lehrperson statt, weshalb fächerverbindende Perspektiven bei der Erarbeitung von KJL in der Regel unkompliziert und unbürokratisch umzusetzen sind. Unter diesen Umständen zeigt der Umgang mit KJL auf der Primarstufe einige Besonderheiten, die hier nur angedeutet werden können. Im Zentrum steht die Leseförderung bzw. Leseanimation als Leitprinzip mit dem Anspruch, Kinder durch die Vermittlung grundlegender Lesefähigkeiten, positiver Leseerfahrungen und die Etablierung stabiler lesebezogener Verhaltensweisen zu habituel-
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len Lesern zu erziehen. Gleichzeitig wird im didaktischen Diskurs immer wieder der wichtige Stellenwert des literarischen Lernens betont, mitunter auch ausgeweitet auf medienästhetisches Lernen (vgl. Kruse 2008, 2011). Dabei kommt gerade dem impliziten Wissen als Fundament der einsetzenden Entwicklung bewusster Wissensbestände und Kompetenzen über Literatur eine wichtige Rolle zu. Die KJL auf der Primarstufe wird stark von Vermittlungsinstanzen strukturiert. Lehrer machen durch ihre Auswahl und Vorlesepraxen Kindern anspruchsvollere Texte zugänglich; geleitete Gespräche über Literatur dienen der kollektiven Sinnbildung, Besuche in ortsansässigen Bibliotheken, Theatern, Kinos etc. lassen literarische Stoffe im Medienverbund als Angebot und Teil des kulturellen Lebens sichtbar werden. Die methodischen Formate für den Umgang mit KJL im Unterricht sind zudem vielfältig. Es existiert ein weites Tableau an Methoden, das auch Formen der analytischen Erschließung und Interpretation einschließt (vgl. Spinner 2010b) und in seiner Gesamtheit die Verbindung von Leseförderung und literarischem Lernen leisten soll. Beispiele wären: selbstbestimmte Lesezeiten, die auch die interessengeleitete Auswahl aus einem vorsortierten Lektüreangebot in Leseecken oder Schulbibliotheken einbeziehen, feste (Vor-)Leserituale, gemeinsame Diskussionsformen wie das literarische Gespräch (vgl. Andresen 1992, Härle/Steinbrenner 2004), projektorientierte Arbeitsformate und handlungs- und produktionsorientierte Zugänge z. B. über Lesetagebücher und Portfolios. Eher sprachdidaktisch orientiert sind Methoden wie z. B. die Lautleseverfahren (Rosebrock/Nix/Riekmann u. a. 2011), die der Sicherung und Automatisierung der hierarchieniedrigen Lesefähigkeiten dienen (vgl. Holle 2010) und die Gerd Kruse unter dem Begriff »Lesetraining« von Leseförderung und literarischer Bildung abgrenzt (Kruse 2010). Thematisch zeigen die Leseangebote für die Primarstufe erste Formen der Ablösung von den primären Sozialisationsinstanzen. Gleichzeitig spielt aber – begründet und forciert durch die zunehmende Selbstverantwortlichkeit der Heranwachsenden – die Rückkopplung an familiale und gesellschaftliche Wertmaßstäbe eine zentrale Rolle. In der Tendenz tritt die Kinderliteratur für diese Altersstufe jedoch zunehmend weniger in einem eindeutig pädagogisierenden Habitus auf. Vielmehr unterbreiten viele literarische Stoffe offene und nicht selten vielfältige Sinnangebote, die zu einer diskursiven und philosophischen Aneignung und Sinnbildung einladen (vgl. Ritter 2014).
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Im Folgenden werden diese allgemeinen Überlegungen – ausschließlich exemplarisch – auf einige ausgewählte, primarstufenrelevante gattungs- und medienspezifische Erscheinungsformen im Symbolsystem KJL bezogen. Erstleseliteratur Literatur für Kinder am Anfang des Leselernprozesses spiegelt häufig inhaltlich und thematisch Aspekte aus deren Lebenswelt wider (vgl. Oeste 2012, 21) und verfolgt deutlich den Anspruch, Kinder beim Lesenlernen zu unterstützen (vgl. Nefzer 2015, 26). Dominierend sind unterschiedliche Reihenkonzepte, die von Seiten der Verlage eine stufenorientierte Leseentwicklung abbilden. Gerade wenn die (an Komplexität und Umfang zunehmenden) Lesestufen auf Alters- oder Klassenangaben heruntergebrochen werden, können sie den individuellen Entwicklungen innerhalb einer heterogenen Lerngruppe nicht mehr gerecht werden. Die in den Büchern verwendeten Textmodelle implizieren bereits didaktische Erschließungsweisen, z. B. der Vignettentext (Streubilderbücher): Durch Bildelemente im Text werden während des Vorlesens verschiedene Inhalte an passenden Stellen von den Kindern selbst erschlossen und benannt. So wird eine erste Beteiligung am Leseprozess herbeigeführt. Illustrationen evozieren Erwartungen an den Text und sorgen beim Lesevorgang für die Vorentlastung der Lesenden. Weiterhin finden sich Mischtexte, die auf unterschiedliche Kompetenzniveaus abzielen. Sie sind besonders für das gemeinsame, laute Lesen vorgesehen. Einzelne Wörter oder kleinere Abschnitte sind größer gedruckt oder farblich markiert. Andere Textabschnitte sind in einer kleineren Schriftart und umfangreicher gehalten, sodass zwei Leser mit unterschiedlichen Niveaus den Text im Wechsel lesen können. Hinzu kommt die Initiierung des gemeinsamen Lesens als sozialisationsstiftendes Element, vor allem auch im außerschulischen Rahmen wie z. B. der Familie. Neben den Textformaten sind Erstlesebücher häufig mit aktivierenden, das Leseverständnis überprüfenden Fragen innerhalb des Textes oder am Ende des Buches ausgestattet. Neue technologische Möglichkeiten, wie digitale Erweiterungen in Gestalt von Vorlesestiften wie beispielsweise tiptoi (Ravensburger Verlag) oder die Integration von narrativen Elementen und Strukturen des Comics, machen auch komplexere Informationen und Handlungen zugänglich. Andere Zusatzangebote, z. B. Enhanced E-Books oder didaktische Zusatzmaterialien, stehen häufig online
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zur Verfügung. Ihr Einsatz soll das Lesen unterstützen und die Leseerfahrung vertiefen. Allerdings lenken sie die Lektüre zumeist auf die Entnahme von Informationen; subjektive, ästhetische Lektüreerfahrungen werden in diesem Zusammenhang selten reflektiert. Zur Analyse und Bewertung von Erstlesebüchern hat Peter Conrady 1998 einen Kriterienkatalog entwickelt, der von Ina Nefzer spezifiziert und weiterentwickelt wurde. Er beinhaltet erzählerische Kriterien, sprachliche Aspekte, Aspekte der Textgliederung, Illustrationskriterien und verwendete Textmodelle (vgl. Nefzer 2015). Darin werden vor allem Fragen nach der Art der Vereinfachung diskutiert, denn obwohl Verlage zum Teil enge Vorgaben für Umfang und Sprache des Textes machen, sollte dieser keineswegs trivial sein. Zu beobachten ist bei vielen Büchern eine geschlechtsrollenstereotype Darstellung von Mädchen und Jungen, die die jeweilige Zielgruppe durch eine markante farbliche Gestaltung und Themen (Prinzessin vs. Ritter) direkt ansprechen will. Im Gegensatz dazu gibt es aber auch Reihen von Verlagen wie z. B. Moritz, Beltz oder Tulipan, die sich für anspruchsvolle Erstleseliteratur stark machen. Auch das Sachbuch wurde in den letzten Jahren als Gegenstand von Erstlesebüchern vermehrt entdeckt (z. B. KidsSUPERLESER, Dorling Kindersley; Die ganze Welt von A bis Z, Beltz), wobei allerdings auch hier die Qualität als sehr heterogen einzuschätzen ist. Gute Orientierung auf dem Buchmarkt bietet z. B. der Preuschhof-Preis für Kinderliteratur, mit dem jährlich ein Buch im Erstlesesektor ausgezeichnet wird. Märchen (s. Kap. 15) Volks- und Kunstmärchen – wenn auch heute in der Regel eher über audiovisuelle Medien vermittelt – gehören fraglos zum Standardrepertoire der literarischen Sozialisation. Die große Bekanntheit einiger – vorrangig mitteleuropäischer – Märchen muss daher auch als ein wichtiger Grund für die zentrale Stellung dieser Gattung im Deutschunterricht der Primarstufe betrachtet werden. Weitere Gründe dafür sind ihre Kürze, ihr vermeintlich einfacher und leicht zugänglicher Charakter und die ihnen seit Langem unterstellte pädagogisch-psychologische Erziehungsfunktion (z. B. Bettelheim 1977). Auch wenn alle diese Argumente sicherlich differenzierter zu betrachten sind, zeigen sich Märchen als Texte, deren Funktion im pädagogischen Feld gegenwärtig weitgehend unbestritten ist. Die Einschätzung der Bedeutung des Märchens für die Moralentwicklung, also seine Funktionalisierung
als Sozialisationsinstrument verwundert allerdings gerade deshalb, weil z. B. die Kinder- und Hausmärchen (1812–1858) der Brüder Grimm eindeutig keine zeitlose und anthropologische Wertestruktur aufweisen, sondern in den Bearbeitungen der diversen Auflagen die zunehmende Akkommodation im Sinne eines bürgerlich-biedermeierlichen Moralverständnisses offenkundig ist. Auf Ebene der Sprache sind besonders die europäischen Volksmärchen durch ihre frühere medial mündliche Tradierung auffällig. Bis heute wird diese Herkunft in der flächenhaft-abstrakten, reduzierten und formalisierten Gestalt der Texte sichtbar. Damit sind Märchentexte prädestiniert, beim Einstieg in schriftsprachliche Handlungskontexte eine wichtige Brückenfunktion einzunehmen. Sowohl in der (impliziten) Sprachförderung wird Märchen eine zentrale Rolle zugewiesen (vgl. Wardetzky 2010), als auch beim Einstieg in das kreative Erzählen und Schreiben (vgl. Kohl 2013). Gerade die europäischen Märchen charakterisiert zudem, dass sie sich im Rahmen ihrer Tradierung immer in mediale Kontexte eingeschrieben und diese nutzend weiterentwickelt haben. So sind sie in diversen Medienformaten zuhause und keineswegs auf die Form der Grimmschen Buchmärchen festzulegen (vgl. Dreier 2016). Schließlich gelten Märchen auch als wichtige Gattung im Bereich der kulturellen und interkulturellen Bildung. Die internationale Verbreitung von Märchenmotiven kann einen geeigneten Anknüpfungspunkt für kulturvergleichende Aktivtäten bieten, zumal es reichhaltige und gut dokumentierte Märchentraditionen in vielen Kulturkreisen gibt, die allerdings in der deutschdidaktischen Diskussion bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Märchen aus 1001 Nacht) bislang erst wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. Im schulischen Deutschunterricht dominieren weitgehend Märchenstoffe aus dem deutsch-, englisch- oder französischsprachigen Raum. Sammlungen wie Nikolaus Heidelbachs Märchen aus aller Welt (2010) bieten hier ansprechende Angebote für eine – gerade auch im Kontext kultureller Diversifizierungstendenzen – notwendige Erweiterung dieser Engführung. Kinderroman (s. Kap. 19) Kinderromane sind vielfältig in Bezug auf die Thematiken, die genrespezifischen Ausrichtungen, die Ausgestaltung des Erzählmodus und der Erzählerfiguren, die Sprache und den Handlungsverlauf. Durch den
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narrativen Charakter werden linear oder nicht linear, im realistischen oder phantastischen Modus grundlegende Fragen von Identität, Gesellschaft und Zusammenleben diskutiert, die zum Nachdenken über eigene Realitäten anregen und Fremdperspektiven bieten können (s. Kap. 44). Bei der Auswahl eines Werkes bieten Zusammenstellungen von Werkanalysen und didaktischen Impulsen Hilfestellung, da nicht nur Klassiker, sondern auch aktuelle Werke besprochen werden (vgl. Josting/Dreier 2014; vgl. Spinner/Standke 2016). Bezugnehmend auf die eingangs thematisierten Funktionen von KJL werden Kinderromane häufig im Rahmen von lesefördernden Ansätzen genutzt, z. B. für Vielleseverfahren wie Leseolympiaden oder Wettbewerbe (vgl. Rosebrock/Nix/Riekmann u. a. 2011). Viele Schulen nutzen auch das Buchquizportal http:// www.antolin.de, um durch das angebotene Themenspektrum Kinder mit ihren unterschiedlichen Interessen ansprechen zu können. Mittels des Wettbewerbscharakters hofft man auch Wenigleser zu erreichen, die in einem gruppendynamischen Prozess erste positive Leseerfahrungen machen können. Kritisch ist an solchen Wettbewerben allerdings, dass diese durch die häufig quantitative Orientierung nur eine oberflächliche Beschäftigung mit dem Gegenstand anregen, nicht jedoch eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Buch fördern. Neben der Lektüre zu Zwecken der Leseförderung mit Vielleseverfahren können produktive und analytische, lektürebegleitende Aufgaben auch affektive Zugänge zum Buch schaffen und ermöglichen literarästhetisches Lernen. Die Lektüre mündet häufig in Buchpräsentationen, die methodisch vielfältig z. B. durch Lesekisten, Leserollen oder auch als Bookslam angeregt und umgesetzt werden. Ein drittes Format im Umgang mit Kinderromanen ist die gemeinsame Klassenlektüre, die häufig im Medienverbund möglich ist, z. B. durch intermediale (s. Kap. 45) oder transmediale (vgl. Kurwinkel/Kumschlies 2019) Lektüre. Der Aspekt des gemeinsamen Lesens und Arbeitens zu einem Buch bietet zahlreiche Formen der Anschlusskommunikation innerhalb der Peergroup und ist gerade für den inklusiven Unterricht als Lernen an der gemeinsamen Sache zentral (vgl. Naugk/Ritter/Ritter u. a. 2016, 26). Um auch Kindern mit Beeinträchtigungen oder Benachteiligungen Zugänge zu den Büchern zu verschaffen, können Verfahren der Vereinfachung, Veranschaulichung, Elementarisierung oder szenische Verfahren (vgl. Thäle/ Riegert 2014) genutzt werden. Als Gegenstand der
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Auseinandersetzung im Gespräch oder im produktiven Tun können Handlungsorte und Wirklichkeitsmodelle, Figuren, Erzählweise und Sprache bzw. Übersetzung sowie Illustrationen in den Blick genommen werden (vgl. Weinkauff 2017). Je nach Zielsetzung der Unterrichtssequenz kann dies lektürebegleitend oder im Anschluss an die Lektüre geschehen. Im Rahmen dieser Felder werden sowohl analytische als auch produktionsästhetische Zugänge genutzt und dadurch ein breites Spektrum literarischer Kompetenzen entwickelt. Die Dokumentation der gemeinsamen Arbeit am Buch über Lesetagebücher, -portfolios oder -plakate verdeutlicht die Prozesshaftigkeit des Lesens und den Erkenntnisgewinn. Nicht allein Textverständnis ist dabei entscheidend, sondern auch individuelle Lesarten und die Verknüpfung mit eigenen Leseerfahrungen. Kinderlyrik (s. Kap. 21) Kinderlyrik schlägt die Brücke zwischen den vorschulischen ersten literarischen Erfahrungen mit Kinderreimen und Liedern hin zu den lyrischen Texten in der Schule, wobei die Genres der Sprachspiel-, Natur- und Erlebnislyrik in den Lesebüchern besonders beliebt sind. Dabei findet sich häufig eine Einbindung in Themenblöcke, z. B. Jahreszeiten oder Feste, was einer fächerverbindenden Unterrichtsgestaltung entgegenkommt. Allerdings birgt dieses Vorgehen die Gefahr, Lyrik zu instrumentalisieren und lediglich als motivierenden Einstieg in ein Thema zu nutzen (vgl. Kepser/Abraham 2016, 184–185). Häufig werden bei thematisch ausgerichteten Sequenzen mehrere passende Gedichte vorgestellt, sodass die Kinder interessenorientiert auswählen und z. B. durch Vergleiche eigene Lesevorlieben konkretisieren können. Gern werden in diesem Zusammenhang auch produktive Verfahren zur Erarbeitung der Texte angewendet, wie die bildnerische Ausgestaltung, musikalische Verklanglichung oder das Schreiben von Parallelgedichten. Die klare Strukturierung einiger Gedichte kann als Lerngerüst für eigene Texte genutzt werden, was vor allen Dingen Kindern mit besonderen Unterstützungsbedarfen zugutekommen kann. Besonders beliebte Formen für das eigene Schreiben von Gedichten sind Elfchen und Haiku, wobei es auch noch zahlreiche andere interessant strukturierte Gedichtformen gibt (Rondell, Schneeballgedicht). Visuelle Gedichte werden ebenfalls gern adaptiv für die Gestaltung eigener Texte genutzt.
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Klang, Reim und Rhythmus als bestimmende Parameter der Lyrik legen über die thematische oder formal-strukturelle Ausrichtung der didaktischen Zugänge hinaus sprachbildende Ansätze zu den Texten nahe. Das aktive, auch szenische Lesen von Gedichten in einer choreographischen Inszenierung der Vorlesenden im Raum kann sprachspielerische Experimente mit dem Gegenstand anregen und zur bewussten Wahrnehmung von Stimme und Ausdruck beitragen. So wird die textimmanente Haltung eines Gedichts durch das Vortragen von Kindern nachempfunden und reflektiert (vgl. Spinner 2012). Neben dem Rezitieren von Texten bietet das Gespräch über Gedichte die Möglichkeit der subjektiven Interpretation und kann auch zum Transfer von Aussagen oder Stimmungen auf eigene Situationen der Lesenden anregen (vgl. Andresen 1992, 98). Dabei wird der entschleunigte Zugang zu Texten über den Dialog als besonders wertvoll erachtet. Dass dieser Austausch zum Text von Lyrikern selbst durchaus mitgedacht wird, betont Arne Rautenberg: »Wichtig ist nur, dass im Gedicht etwas Ungesagtes übrig bleibt – das uns dazu verführen kann aus dem Unsagbaren etwas Sagbares zu machen.« (Rautenberg 2017, 7) Weiterhin wird durch das Gespräch auch eine Annäherung an das Symbolverständnis als eine Form von literarischer Rezeptionskompetenz möglich. Das Aufstellen von Deutungshypothesen und das In-Beziehung-Setzen mit anderen Textpartien sind durchaus in der Grundschule denkbar, wie eine Studie von Anja Pompe (2012) zeigt. Durch eine aktiv entdeckende Textbegegnung wird z. B. im Gespräch nach gemeinsamen Deutungsmöglichkeiten gesucht. Dabei kann die didaktisch vorstrukturierte Präsentation des Textes bereits Entdeckungspotentiale aufzeigen, z. B. durch das Weglassen bestimmter Textteile oder ein Textpuzzle (vgl. ebd.). Bilderbuch Das Bilderbuch hat sich vom traditionellen Selbstverständnis einer Bild-Text-Erzählung und einer Adressierung an Kinder im Vorschulalter zu einem komplexen, ästhetisch-anspruchsvollen Spielraum für Künstler emanzipiert, die gerade an einer vielseitigen Erschießung der Potentiale von Bild-Text-Erzählungen interessiert sind (vgl. Kurwinkel 2017). Auch die Rezeptionsforschung und die Didaktik reagieren auf diese Entwicklung und nehmen das Bilderbuch als zentrales Medium für die Primarstufe genauer in den Blick (vgl. Scherer/Volz 2016, Knopf/Abraham 2014a;
2014b). Bei der Bilderbuchauswahl von Lehrkräften lassen sich jedoch nach wie vor zum einen Bedenken und Ängste zur Wirkung der Bücher auf die Kinder, zum anderen ein starker Fokus auf die pädagogische Nutzbarkeit erkennen (vgl. Ritter/Ritter 2015). Diese Einstellungen und Überzeugungen gegenüber dem Medium haben auch Konsequenzen für die didaktischen Zugänge. So finden sich zahlreiche Überlegungen zur Nutzung des Bilderbuchs, um in bestimmte Themen einzuführen, z. B. Tod (vgl. Ritter 2014, 123). Dabei wird vorrangig der thematischen Gestaltung des Werkes Beachtung geschenkt. Anders ist die Herangehensweise der Erschließung des Buches als Lektüreerlebnis. In didaktischen Settings wird das Bilderbuch inszeniert (vor-)gelesen, die Bilder und der Text werden thematisiert, Inhalte diskutiert und produktive Handlungen, wie z. B. das Nachspielen der Geschichte (Puppenspiel/Rollenspiel) oder das kreative Schreiben zum Buch (besonders bei sprachlich strukturierten Bilderbüchern mit festen Wendungen, Wiederholungen, etc.) angeschlossen. So können auf unterschiedlichen Ebenen Zugänge zum literarischen Gegenstand geschaffen werden. Es ist aber auch möglich, die gemeinsame Erkundung des Buches in den Mittelpunkt zu stellen, z. B. über das literarische Gespräch. Innere Leerstellen und Brüche innerhalb der Bild-Text-Struktur können dabei in einem offenen Austausch thematisiert und Unbestimmtheiten aufgezeigt werden. Medienverbund und Medienkonvergenzen (s. Kap. 3) Kinderliteratur beschränkt sich nicht auf schriftbezogene analoge Medienformate. Vielmehr werden kinderliterarische Stoffe über Mediengrenzen hinweg verarbeitet, adaptiert und transformiert. Dabei kommt gerade den audiovisuellen Medien eine besondere Initiationsfunktion zu. Bei vielen literarischen Stoffen erfolgen der erste Zugang und die Tradierung primär über den Film oder über unterschiedliche Hörmedien. Dabei spielen seit Jahren Medienverbünde eine zentrale Rolle (vgl. Josting/Maiwald 2007). Unter diesem Begriff werden solche Mediensysteme subsumiert, die sich in verschiedenen Formaten ausdifferenziert auf einen originären Text beziehen. Ihnen wird auch eine besondere Bedeutung im Kontext der Leseförderung und des medienästhetischen Lernens zugeschrieben. Besteht einerseits die Hoffnung, dass die Erstrezeption von literarischen Stoffen über audiovisuelle oder digitale Medien auch die Buchlektüre anregen kann, wird
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andererseits die Kombination verschiedener Medienadaptionen eines Stoffes in der intermedialen Lektüre als Erfahrungsraum für einen mediensensiblen Zugang zum Werk inszeniert (s. Kap. 45). Sozusagen als Gegenbewegung zu den starken Einflüssen des medialen Wandels auf die Gestaltung der analogen Buchkultur zeigen sich in den literarischen Formaten der neuen Medien mitunter auch Rekurrenzen auf die nur scheinbar überkommene Tradition des Papierbuches. So eröffnen mediale Adaptionen von Bilderbüchern in Bilderbuch-Apps z. B. neue Möglichkeiten der Dynamisierung und Interaktion, gleichzeitig ist jedoch zu konstatieren, dass sich diese Entwicklungen erstaunlich konsequent eher an der Materialität des Papierbuches orientieren und eine digitale Papierillusion erzeugen (vgl. Ritter 2016). Hier wird das Eigentümliche der Buchkultur in der sublimierten Inszenierung nachdrücklich betont und bewusst akzentuiert. Damit kann in der medialen Auseinandersetzung mit diesen Formaten durchaus einiges Potential für die Entwicklung expliziten kulturellen Wissens über Literatur und Lesetraditionen erkannt werden.
42.4 Mediale und gattungsspezifische Fragestellungen für den Sekundarstufenbereich Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht: Sekundarstufenspezifische Bedingungen In den Sekundarstufen durchlaufen die Schüler bedeutsame körperliche, psychische und soziale Entwicklungsprozesse. Vor diesem Hintergrund kann der Unterricht mit Jugendliteratur Anregungen, Modelle und Spielflächen zur Ich-Entwicklung bieten. Über die Auseinandersetzung mit Jugendliteratur soll literarästhetische Urteils- und Geschmacksbildung und damit die Fähigkeit der Teilhabe am literarischen Leben der Gegenwart befördert werden. In bildungspolitischer Hinsicht hat der Literaturunterricht dazu beizutragen, dass Schüler zu mündigen Staatsbürgern werden, die in Kenntnis vergangener Entwicklungen an der Lösung gegenwärtiger und künftiger gesellschaftlicher Probleme teilhaben können. Literaturunterricht findet vor allem im Deutsch(vgl. etwa Kepser/Abraham 2016), aber auch im Fremdsprachenunterricht, insbesondere im Fach Englisch (vgl. etwa Nünning/Surkamp 2006a; 2006b) statt, wo besonders die Beschäftigung mit Jugendliteratur unter interkulturellen Gesichtspunkten Tradition hat.
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Jugendroman (s. Kap. 20) Es ist oft festgestellt worden, dass sich moderne Kinder- und Jugendliteratur an die für eine erwachsene Leserschaft annähert (vgl. Rauch 2012, 16). Insofern könnte man auch denken, in didaktischer Hinsicht sei der Jugendroman im Deutschunterricht kaum noch anders zu behandeln als Romanliteratur überhaupt. Das wäre aber eine falsche Antwort auf die »Entkoppelung von Kinder- und Jugendliteratur« (ebd., 19); denn diese hat zwar seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts zu einer großen Vielfalt jugendliterarischen Erzählens geführt, aber nichts daran geändert, dass Jugendliche besondere Leser sind: Was sie in erzählenden Texten suchen, ist in scheinbarer Paradoxie gleichzeitig der eigene Alltag, von einer literarischen Figur exemplarisch durchlebt, und das schlechthin andere, das das Leben auch sein oder werden könnte. Gina Weinkauff und Gabriele Glasenapp (2012, 118) sprechen von zwei gegensätzlichen Modellen jugendliterarischen Erzählens: hier der Adoleszenzroman, dort die Abenteuererzählung. Obwohl neuere Jugendromane wie etwa Wolfgang Herrndorfs Tschick (2010) eine Brücke zwischen diesen Modellen schlagen, ist eine solche Modellbildung didaktisch sinnstiftend, weil sie alterstypische Leseinteressen und Gratifikationen breit repräsentiert. Die sogenannte problemorientierte Jugendliteratur, in ihrer großen Mehrheit episch und damit hier einschlägig, verhandelt in meist realistischen Settings entwicklungspsychologische, familiäre, soziale bzw. gesellschaftliche, politische oder zeitgeschichtliche Themen mit Konfliktpotential und hat über längere Zeit in einem Deutschunterricht reüssiert, der das gelenkte Gespräch über Text und Thema bevorzugte. Ihr einstweilen erfolgreichstes, weil Innensicht und psychologische Komplexität bietendes Genre ist der Adoleszenzroman (vgl. Gansel 2010, 165–200; bes. 185–186). Das zweite Modell, das seine Wurzeln in der abenteuerlichen Jugendliteratur seit dem 19. Jahrhundert (Jules Verne, Karl May) hat, ist an und jenseits der Grenze zur literarischen Phantastik angelegt, von der ZweiWelten-Fiktion in Joanne K. Rowlings Harry PotterHeptalogie (engl. 1997–2007, dt. 1998–2008) bis zu Suzanne Collins’ dystopischer Zukunftserzählung Tribute von Panem (The Hunger Games; engl. 2008– 2010, dt. 2012–2015). Dem Bedürfnis nach abenteuerlicher Handlung und Bewährung der Helden in großer Gefahr kommen solche Romane für junge Leser nach, ohne jede ›Problemorientierung‹ aufzugeben. So vielfältig wie das Angebot ist inzwischen auch
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die Didaktik der Jugendliteratur. Zu beobachten ist eine »inoffizielle Kanonisierung« (Knobloch 2013, 389), bei der auflagenstarke Titel interessante neue Angebote marginalisieren. Es gibt durchaus eine Fülle für den Deutschunterricht empfohlener neuerer Titel (z. B. Rauch 2012; Spinner/Standke 2016) und auf sie bezogene Umgangsformen (z. B. freie Lesezeiten, szenische Verfahren, medienspezifische Produktionsorientierung). Die damit verbundenen Chancen bleiben indes in der Praxis häufig ungenutzt. Was Zielsetzungen und Kompetenzerwartungen betrifft, so ist noch einmal an Cornelia Rosebrocks drei Funktionen (s. Kap. 42.2) zu erinnern: Jugendromane können und sollen erstens thematisch in den Unterricht integriert werden, etwa durch materialgestütztes Schreiben; sie müssen zweitens im Sinn der Leseförderung für unterschiedliche Genrepräferenzen zugänglich sein, und sie haben drittens im Sinn der literarischen Bildung eine propädeutische Funktion: Auch und gerade anhand jugendliterarischer Erzählungen kann man narratologische Aspekte kennen lernen. Aber eine Didaktik der erzählenden Jugendliteratur, die z. B. Erzählstrategien und Genres thematisiert, darf dabei nicht aus dem Blick verlieren, dass emphatische Lesefreude seit Langem vorwiegend an die Epik geknüpft war. Bis heute überwinden viele Heranwachsende den Leseknick der Pubertät via Jugendroman in die Erwachsenenliteratur. Hinzu kommt das immense Angebot an medialen Adaptionen: eine Didaktik erzählender Literatur muss sich heute für das Erzählen in allen Medien interessieren (vgl. Kepser/Abraham 2016, 190; s. u. Abschn. Medienverbund und Medienkonvergenz). Jugendlyrik (s. Kap. 21) Im Gegensatz zur Kinderlyrik ist die Jugendlyrik kaum ein gefestigtes Genre, geschweige denn in der literaturdidaktischen Diskussion bedeutsam. Die oft beklagte Vernachlässigung der Gattung Lyrik in der Erwachsenenkultur deutet sich im Übergang von der Kindheit zur Adoleszenz bereits an (vgl. Kepser/Abraham 2016, 181). An ›intentionaler Erwachsenenlyrik‹ findet wohl jenseits der Schule nur eine Minderheit der Jugendlichen Gefallen. Adoleszenztypische Fragen (Wer bin ich? Wie möchte ich leben? Muss/kann ich dazu meine vertraute Umgebung verlassen? Wie erwerbe ich eine Geschlechtsidentität? usw.) werden gegenwärtig vorzugsweise in anderen als buchliterarischen Genres und Medien thematisiert: Joachim Pfeiffer stellt fest, dass »die Lyrik in unterschiedlichen gesellschaftlichen
Refugien überwintert (Rap, Slam Poetry, Pop Song, Reklame, Graffiti)« (Pfeiffer 2013, 61). Für die Songtexte der populären Musik hat sich nicht umsonst der angloamerikanische Fachbegriff Lyrics eingebürgert. Zwar sind sie größtenteils in englischer Sprache abgefasst und in ihrer Qualität mehrheitlich anspruchslos. Es gibt aber auch Ausnahmen, die einer Auseinandersetzung im Deutschunterricht wert sind (vgl. z. B. Wrobel 2007, Pichottky 2013). Dazu gehören nicht zuletzt Rap-Texte, deren häufig provokanter Gestus freilich auch viele Lehrkräfte abschreckt. Hier ist zu beachten, dass es sich meist um inszenierte Rollenspiele handelt (Rap-Battle) und nicht wirklich um ernst zu nehmende Gewaltverherrlichung (vgl. Anders 2013, 38). Natürlich bietet sich auch (fachübergreifend) produktionsorientiertes Vorgehen an. Zu Recht warnt Petra Anders allerdings davor, den Rap methodisch zu instrumentalisieren: Viele Jugendliche reagieren verständlicherweise mit Abwehr, wenn ihre eigenen künstlerisch-rebellischen Ausdrucksformen von Bildungsinstanzen für deren Interessen verzweckt werden (vgl. ebd., 39). Viele ursprünglich für den öffentlichen Vortrag konzipierte Texte (Slam Poetry) sind über Anthologien (z. B. Strack 2014) und Audio-CDs zugänglich und können zudem ähnlich wie Musikvideo-Clips inszeniert werden (vgl. Hogekamp/Böttcher 2008; vgl. auch Littschwager 2013). Didaktisch und methodisch sind Poetry Slams und Poetry Clips längst gut erschlossen (vgl. Anders/Abraham 2008, Anders 2012). Jugendtheater (s. Kap. 30) Theaterstücke für Jugendliche sind ein eigenes Genre, das mit der Teilhabe Jugendlicher an der Theaterkultur der Gegenwart steht und fällt. Das Jugendtheater, seit den 1970er Jahren schrittweise etabliert, greift ähnlich wie der Jugendroman oder -film adoleszenztypische Themen auf. Zu deren Behandlung eignet es sich nicht zuletzt deshalb, weil hier Produktionsorientierung naheliegt und theaterpädagogische Konzepte überzeugend für den Unterricht adaptiert worden sind (vgl. z. B. Scheller 2004). Allerdings ist die Situation erneut ambivalent. Einerseits gibt es eine lebendige Kultur des Jugendtheaters an deutschen Bühnen. Hier haben sich einige Stücke zu Rennern entwickelt, etwa Lutz Hübners Creeps (2000) oder Igor Bauersimas norway.today (2001). Auch fehlt es nicht an Bemühungen, solche Stücke ins Klassenzimmer und/oder die Jugendlichen ins Theater zu bringen. Didaktisch-methodische Konzepte sind in
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nicht geringer Zahl vorhanden (z. B. Paule 2009, 312– 350 zu norway.today, Barz 2009, Payrhuber 2012). Ebenso gibt es Ansätze zur empirischen Erforschung der Theater- und Dramendidaktik (vgl. Paule 2009, 125–171). Und auch von Seiten der Stadt- und Landestheater wird eine Menge getan; theaterpädagogische Mitarbeiter beschäftigen sie fast alle, und geeignete Stücke, für die wenige Schauspieler ausreichen, können nicht selten fürs Klassenzimmer bestellt werden, z. B. Kai Hensels Ein-Mann-Stück Klamms Krieg (2000). Andererseits: Obwohl man seit den 1970er und 1980er Jahren bestrebt ist, das Jugendtheater für ein breites Publikum zu erschließen, scheint es ein Projekt pädagogischer Bemühungen geblieben zu sein. Ohne Initiative Erwachsener dürften wohl nur wenige junge Leute aus eigenem Antrieb ins Jugendtheater gehen. Darin unterscheidet sich das Jugendtheater von allen anderen Jugendmedien. Umso wichtiger wäre es, den Weg dorthin im Klassenzimmer zu ebnen – z. B. durch szenisches Arbeiten mit (Ausschnitten aus) Stücken wie den oben genannten und durch Vor- und Nachbereitung eines Theaterbesuchs. Leider werden aber »[a]uch viel gespielte Stücke [...] – trotz vorhandener Unterrichtsanregungen – nur selten im Unterricht aufgegriffen« (Kepser/Abraham 2016, 195). Es bleibt abzuwarten, ob daran neue Ansätze, wie sie etwa Patrick Primavesi und Jan Deck (2014) unter dem programmatischen Titel Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen dokumentieren, etwas ändern können. Comics (s. Kap. 25) Einem Aufstieg der Comics zum akzeptierten Unterrichtsgegenstand ab 1970 nach einer langen Phase der Ablehnung und Skepsis folgte ab den 1990er Jahren ein zunehmendes didaktisches Desinteresse, sodass in gegenwärtigen Schulbuchreihen nur noch selten auf Comics eingegangen wird (vgl. Kepser/Abraham 2016, 201–202). Das mag mit zwei Entwicklungen zusammenhängen: Zum einen hatte sich die gesellschaftliche Aufregung gegenüber dem verhältnismäßig neuen Jugendmedium gelegt; die prognostizierten verderblichen Einflüsse der Comicliteratur auf die jungen Menschen hatten sich als Chimäre entpuppt. Zum anderen wandten sich viele junge Rezipienten anderen neuen Medien wie dem digitalisierten Film und dem Computerspiel zu: Gegenwärtig dürften weniger als 10 Prozent der 12- bis 19-Jährigen regelmäßig Comics lesen (JIM 2008, 12). Gleichzeitig entwickelte sich in den deutschsprachigen Ländern ei-
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ne sehr lebendige Künstlerszene, die den Comic für sich als neues Ausdrucksmedium entdeckte. Parallel war und ist in den letzten beiden Jahrzehnten eine wachsende gesellschaftliche Offenheit gegenüber dem Comic als ernstzunehmende Kunstform zu beobachten. Dazu beigetragen hatte sicherlich die Nobilitierung längerer Comic-Erzählungen als Graphic Novel (s. Kap. 25). So sieht sich heute die Didaktik vor der Aufgabe, Jugendliche für anspruchsvolles graphisches Erzählen zu begeistern (vgl. Wrobel 2015). Dass sich unter den Graphic Novels nicht wenige Adaptionen bekannter Werke der Weltliteratur befinden, die damit für Heranwachsende zugänglicher werden, was auch Klassiker der Jugendliteratur einschließt (vgl. Kick 2014), scheint den natürlichen Interessen des Deutschunterrichts entgegen zu kommen. Auch verarbeiten Jugendcomics immer wieder historische Themen (vgl. Nominierung zum Deutschen Jugendliteraturpreis oder zum Wolgast-Preis). Die Beschäftigung mit Comics und graphischen Romanen im Unterricht kann erstens klassisch interpretierend sein (Figuren, Handlung, intertextuelle Bezüge, usw.), zweitens an die Filmanalyse angelehnt (Kameraperspektiven, Bildformate, usw.) und drittens produktionsorientiert (z. B. Füllen leerer Sprechblasen, Ergänzen fehlende Blockkommentare, Entwerfen und Beschriften neuer Sequenzen). Film (s. Kap. 26) Während die Filmdidaktik noch bis zur Jahrtausendwende ein Schattendasein führte, gibt es mittlerweile ein breites Angebot an konzeptionellen Überlegungen und Unterrichtsvorschlägen, die zum Teil auch auf empirischen Untersuchungen fußen (vgl. Abraham 2016, Blell/Grünewald/Kepser u. a. 2016, Kepser 2016). Eine spezifische Didaktik des originären Jugendfilms (vgl. Kurwinkel/Schmerheim 2013, 16–17) ist bislang nicht entwickelt worden und ist auch eher nicht notwendig: Jugendliche sehen Filme für Erwachsene ebenso, und die schulische Filmdidaktik kann sich nicht nur auf den Jugendfilm beschränken. In ästhetischer Hinsicht unterscheiden sich Filme, die gezielt ein Publikum zwischen 12 und 18 Jahren ansprechen, kaum von All-Age-Angeboten oder Filmen mit erwachsenem Adressatenkreis. Insofern lassen sich Kompetenzmodelle für die schulische Filmbildung im Allgemeinen auch auf den Jugendfilm übertragen. Gabriele Blell, Andreas Grünewald, Matthis Kepser u. a. (2016) fokussieren z. B. auf die Zieldimensionen ›Film erleben‹ (emotionale
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VI Didaktik – A Literacy und Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur
Beteiligung), ›Film nutzen‹ (pragmatische Perspektive) und ›Film verstehen‹ (kognitive Auseinandersetzung). Um am kulturellen Handlungsfeld des Films in all seinen Facetten (Spielfilm, Serie, Dokumentarfilm, diverse Fernseh- und Internetformate etc.) partizipieren zu können, benötigen Schüler Kompetenzen in den Feldern ›Filmbezogen sprachlich handeln‹, ›Film analysieren‹, ›Film kontextualisieren‹ und ›Film gestalten‹, die insbesondere die sprachlichen Fächer systematisch aufbauen helfen sollen. Für den Jugendfilm sind gleichwohl einige Besonderheiten festzumachen, die dann auch im Unterricht aufzugreifen sind: Meistenteils sind dessen Protagonisten in einem ähnlichen Alter wie die Zielgruppe der Rezipienten, und Erwachsene agieren vorwiegend in Nebenrollen. Dementsprechend ist die Handlung von jugendspezifischen Problemen und Entwicklungsaufgaben geprägt wie Ablösung vom Elternhaus, Selbstfindung, Bestehen in der Peergroup, Bewährung im Sport, erste Liebe und sexuelle Erfahrungen, Schulproblemen, Leben in transkulturellen Gesellschaften, Mobbing, Umgang mit Gewalt oder Homosexualität und Transgender. Das führt zu jugendfilmspezifischen Genres wie der HighschoolKomödie oder dem Coming-of-Age-Drama. Jugendnah sind darüber hinaus die phantastischen Genres Fantasy (zu denen auch Superheldenfilme gezählt werden können) und Horrorfilm. Für die Didaktik des Jugendfilms lassen sich daraus zwei Empfehlungen ableiten: Vor jeder filmanalytischen Betrachtung (z. B. nach Kurwinkel/Schmerheim 2013) muss genügend Raum für die thematische Auseinandersetzung gegeben werden, und gerade für den Jugendfilm bietet sich ein genregeleiteter Ansatz zur systematischen Erschließung an (vgl. dazu Kammerer 2009). Viele Jugendfilme basieren zudem auf printliterarischen Vorlagen, sodass ein intermedialer Vergleich naheliegt. Der allerdings hat seine viel diskutierten didaktisch-methodischen Fallstricke: Man neigt dazu, eine möglichst große Prätextnähe zum Qualitätskriterium machen zu wollen (›Werktreue‹) und vergisst, dass hier eine eigenständige Inszenierung vorliegt: Eine Literaturverfilmung ist Film und nicht abgefilmtes Buch und muss nach filmästhetischen Gesichtspunkten beurteilt werden. Zum zweiten können die inneren Bilder der Rezipienten, die zuerst das Buch gelesen haben, konflikthaft mit den Bildern der Filmemacher interferieren, was zu einer vorschnellen Ablehnung der Verfilmung führen kann (Problem des ›Doppelten Films im Kopf‹). Um dem zu begegnen, sind verschiedene methodische Vorschläge unterbreitet worden, z. B. das ›Sandwichverfahren‹,
bei dem die schrittweise Arbeit mit dem literarischen Text von Filmsichtungen begleitet wird, oder die Behandlung des Films in deutlich zeitlichem Abstand zur Auseinandersetzung mit dem Buch (vgl. Kepser/ Surkamp 2016). Hörmedien Zu den jugendliterarischen Hörmedien zählen Hörbücher und Hörspiele, die über das Radio, auf Datenträgern wie der Audio-CD oder via Internet als Podcast vermittelt werden (s. Kap. 31). Ihr didaktischer Vorteil gegenüber den visuellen Medien wird vor allem darin gesehen, dass sie besonders geeignet sind, innere Vorstellungsbilder zu evozieren. Hörbücher auf der Basis jugendliterarischer Printtexte sind als eigenständige Inszenierungen aufzufassen (vgl. Hachenberg 2004). Harry Potter, eingesprochen von Rufus Beck, ist eben nicht mehr nur ein Text von Rowling, sondern auch einer, der von Beck mit seiner Stimme interpretiert und durch audiophone Mittel wie Raumklang, Hall, Reduplikation etc. künstlerisch überarbeitet worden ist. Die darin liegende Interpretationsleistung gilt es im Unterricht zu reflektieren. Daneben werden Hörbücher auch methodisch im Sinne eines Scaffolding eingesetzt, um leseschwache Schüler bei der Lektüre zu unterstützen (vgl. Gailberger 2011). Jugendliterarische Hörspiele sind eher ein Nischenphänomen, wenn man von sogenannten ›Kultserien‹ wie Die drei ??? (Europa seit 1979) und TKKG (Europa seit 1981) absieht, die selbst unter jungen Erwachsenen ein Fan-Publikum haben und auch als Live-Events vermarktet werden. Hier bietet es sich an, neben der Reflexion radiophoner Gestaltungsmittel (Musik, akustische Blenden, O-Töne, Geräusche etc.) das Phänomen an sich näher im Unterricht zu untersuchen. Filmhörspiele für ein jugendliches Publikum sind eher selten (z. B. R. Dennis Gansel Die Welle 2008). Ihre Untersuchung ist didaktisch insofern interessant, als hier mit Hilfe eines heterodiegetischen Erzählers versucht wird, die Bildebene einzufangen. Podcasts wie etwa die Harry Potter-Parodien von Coldmirror können Schüler dazu animieren, selber entsprechende Produktionen zu gestalten. Hörspiele im Unterricht selbst aufzunehmen, gehört zu den vielfach empfohlenen Projekten eines medienkompetenzorientierten Unterrichts, zumal der dafür nötige technische Einsatz verhältnismäßig gering ist. Digitale Schnittprogramme wie das kostenlose Audacity ermöglichen heute semiprofessionelle Aufnahmen.
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Trotz solcher didaktisch sinnvollen Möglichkeiten ist aber leider davon auszugehen, dass den Hörmedien in der schulischen Praxis geringe Aufmerksamkeit geschenkt wird (vgl. Müller 2017, 244). Interaktive Bildschirmnarration (s. Kap. 29) Interaktives Erzählen findet immer dann statt, wenn die Narration nicht mehr ausschließlich vom Autor oder einem Autoren- bzw. Produktionsteam vorgegeben ist, sondern vom Rezipienten mitgesteuert oder zumindest aktiv erkundet wird (vgl. Leubner/Saupe 2012, 268). Das ist insbesondere in computergestützten Medienformaten wie Hyperfiction, fast allen digitalen Spielen und fiktionalen Enhanced eBooks der Fall. Zur unterrichtlichen Auseinandersetzung mit Hyperfiction, also der Anwendung des hypertextuellen Vernetzungsverfahrens auf browsergestützte Erzähltexte, wurden sowohl analytische (vgl. z. B. Leubner/ Saupe 2012, 292) als auch produktionsorientierte Verfahren (z. B. Kepser 1999, 419–424; zuletzt wieder Wampfler 2017, 143–146) vorgeschlagen, auch schon für die Grundschule (z. B. Maiwald 2005). Hyperfiktion bereits zu Beginn der Sekundarstufe I aufzugreifen, liegt deshalb nahe, weil es mit den Choose Your Own Adventure-Büchern wie Edward Packards Prototyp Die Insel der Tausend Gefahren (Sugarcane Island engl. 1976, dt. 2003) ein beliebtes Jugendbuchformat mit Hypertextstrukturen gibt. Adventure-Bücher und Hypertextkrimis teilen weiterhin einige narrative Gemeinsamkeiten mit Adventure-Games, einem insbesondere in Deutschland populären Computerspielgenre. Klassischen Erzähltexten relativ nahe stehen auch Computer-Rollenspiele, die überdies performative Züge aufweisen, weil die Spieler in teilweise selbstkreierte Figuren schlüpfen und mit diesen Avataren im Spiel handeln. Narrativ grundiert sind indes fast alle Computerspielgenres, selbst Action- und Geschicklichkeitsspiele wie Jump’n Runs. Digitale Spiele sind insbesondere für viele Jungen und junge Männer das wichtigste narrativ-fiktionale Medium überhaupt, sowohl bezüglich ihres Gebrauchs als auch bezüglich der medialen Anschlusskommunikation in der Peergroup. Im medialen Verbundsystem stehen sie schon seit vielen Jahren mit den traditionellen Erzählmedien in einem produktiven Austausch. Nicht nur Figuren, Stoffe und Motive wandern hier von Roman, Film oder Hörspiel ins Computerspiel und umgekehrt (s. Kap. 12). Auch Erzählweisen (z. B. Level-Strukturen) und Darstellungsver-
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fahren (z. B. die Ego-Perspektive), die ursprünglich für Computerspiele entwickelt worden sind, findet man mittlerweile in anderen Medien wieder (s. Kap. 29 und IV. 33). Für ältere Lernende ist interessant, wie sich im aktuellen Jugendroman Computerspiel und Realität vermischen (z. B. in Ursula Poznanskis Erebos 2010) oder Handlung intradiegetisch gesteuert wird (z. B. in Collins’ Die Tribute von Panem). Digitale Spiele sind obendrein kein Medium mehr nur für Kinder oder junge Menschen, sondern haben ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft gefunden; so berichten selbst die Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel oder Die Zeit regelmäßig über neue Entwicklungen. Trotzdem werden sie nur selten zu Unterrichtsgegenständen, und wenn, dann häufig lediglich mit Verweis auf ihre Gefährdungspotentiale. Dabei gibt es durchaus nicht wenige Unterrichtsideen und sogar Kompetenzmodelle, die zeigen, wie Computerspiele ihren sinnvollen Platz im Literaturunterricht haben könnten (vgl. Boelmann/Seidler 2012, Hofer/Bauer 2014, Boelmann 2015). Auch metamediale Angebote wie die sogenannten Let’s Plays – über das Internet vertriebene Videos mit kommentierten Anleitungen zu Computerspielen – werden didaktisch diskutiert (vgl. Speth 2017). Die jüngste Gruppe im Ensemble interaktiver Erzählmedien bilden die Enhanced eBooks. Dabei handelt es sich um eBooks, die um multimediale Inhalte und interaktive Steuerungsmechanismen angereichert sind. Medientheoretisch betrachtet unterscheiden sich Enhanced eBooks kaum von multimedialer Hyperfiction (vgl. Kepser 2017) und es bleibt abzuwarten, ob ihnen beim Publikum ein größerer Erfolg beschieden sein wird als den Vorläufern. Spannende und zu diskutierende neue mediale Erfahrungsräume bieten sie auf jeden Fall, und als solche sind sie auch unterrichtlicher Erkundungen wert. Medienverbund und Medienkonvergenz (s. Kap. 3) Gattungsspezifische literaturdidaktische Ansätze sind heute zu ergänzen durch transmediale. Wie für die Kindermedien gilt auch im Jugendbereich, dass Stoffe, Motive, Figuren und Plots zwischen den verschiedensten Medien hin- und herwandern: Buch zum Film, Comic zum Film, Film zum Comic, Buch zum Computerspiel, Computerspiel zum Film, Film zum Computerspiel, Theaterstück zur Fernsehserie – jede Kombination ist möglich und funktioniert als CrossPromotion, wozu auch non-mediale Merchandising-
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VI Didaktik – A Literacy und Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur
Artikel hinzutreten können. Bisweilen geht dabei die Kenntnis der jeweiligen Abhängigkeitsverhältnisse verloren. So glauben viele Lehrkräfte bis heute, dass Morton Rhues (d. i. Todd Strasser) Die Welle (The Wave engl. 1981, dt. 1984) ein Originalroman nach wahren Begebenheiten sei. Tatsächlich handelt es sich um eine Auftragsarbeit in Anlehnung an einen Fernsehfilm bzw. an dessen Drehbuch (vgl. dazu ausführlich Kepser/Abraham 2016, 125–126). Literarisches Lernen muss folglich zum medienästhetischen Lernen erweitert werden: Volker Frederking fordert schon seit Langem einen ›symmedialen Literaturunterricht‹ (vgl. Frederking 2013). Für den Medientheoretiker Henry Jenkins ist der Medienverbund nur ein Teilphänomen, das insbesondere durch die Digitalisierung und den Computer als universelle Medienmaschine vorangetrieben worden ist. Unter Medienkonvergenz versteht er vielmehr einen umfassenden technischen, industriellen, kulturellen und sozialen Wandel, hervorgerufen durch mediale Vernetzungsprozesse (vgl. Jenkins 2006, 2–3). Bedeutsam ist dabei, dass die alten kommunikativen Machtverhältnisse mit den traditionellen Massenmedien als Gatekeeper aufgebrochen worden sind: Heute steht fast jedem die Herstellungs- und Verbreitungstechnologie zur Verfügung, um vom medialen Rezipienten zum Produzenten zu werden. Von den Schulen verlangt Jenkins daher zu Recht, die künftige Generation auf diese ›Partizipationskultur‹ vorzubereiten (vgl. Jenkins/Purushotma 2009). Selber Geschichten oder Gedichte schreiben, Hörspiele produzieren, Filme drehen, Computerspiele konstruieren und über das Internet anderen zur Verfügung zu stellen – das könnte und sollte einen künftigen Literaturunterricht stärker prägen als bisher. Aber auch der Vergleich (desselben Stoffes in verschiedenen Medien) gehört nach wie vor zum methodischen Repertoire, sollte allerdings nicht die Höherwertigkeit der Buchmedien a priori unterstellen und diejenigen Kompetenzen ernst nehmen, die Lernende in Bezug auf andere Medien mitbringen oder erwerben wollen.
42.5 Inszenierungsfragen Literaturunterricht und Inszenierung Literaturerarbeitung im Unterricht als thematische und medienästhetische Bildungserfahrung und habitualisierende Sozialisationspraxis im Sinne der Leseförderung bewegt sich immer in einem Spannungsverhältnis rational-analytischer Aneignung, sozialer
Interaktion und subjektiv-ästhetischer Erfahrung. Der Begriff der Inszenierung bezieht sich auf das spezifische Arrangement von Lehr-Lern-Prozessen, also auf den Aspekt der (direkten oder indirekten) Anleitung und Vermittlung (vgl. Kepser/Abraham 2016, 224). Gerade im literaturdidaktischen Kontext verweist er auch auf den ästhetischen Charakter des Literaturunterrichts (vgl. zur kulturwissenschaftlichen Einordnung Abraham/Brendel-Perpina 2017, 7–11). Denn inszeniert ist in diesem Feld nicht nur der Unterricht als künstlich geschaffenes Interaktionsformat der Bildungsinstitution Schule. Gerade Literatur in ihren verschiedenen ästhetischen Formsprachen wird im Unterricht häufig sowohl analytisch-interpretativ in den Blick genommen, als auch in performativ-ästhetischen Formaten erfahren und erschlossen. Schon konventionelle Methoden wie das Vorleseritual im Sitzkreis und die selbstbestimmte individuelle Lesezeit im Wochenablauf, machen deutlich, dass Literaturunterricht ganz dezidiert den ästhetischen Erfahrungsraum zum Gegenstand und zum Medium einer umfassenden literarischen Bildung macht. Leseecken, die mittlerweile nicht nur in Grundschulen zu finden sind, bieten zudem besondere pädagogisch vorstrukturierte Erlebnisräume. Noch prägnanter stellen literaturdidaktische Methoden wie z. B. der Book Slam (vgl. Jentgens 2016, 188–190) heraus, dass die Begegnung und Erschließung des literarischen Textes wiederum als ästhetische Meta-Inszenierung und gemeinschaftliche Performance mit Spiel- bzw. Wettbewerbscharakter eine im unterrichtlichen Kontext besondere Form der ästhetischen Inszenierung darstellt. Aus der Vielzahl an möglichen Zugängen zu KJL im Unterricht werden im Folgenden eher beispielhaft Konzepte des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts und des Literarischen Gesprächs thematisiert, die eben solche Formate ästhetischer Bildungspraxis darstellen. Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht (HPL) (s. Kap. 44) Wie kein anderes literaturdidaktisches Konzept hat der HPL seit den 1980er Jahren Aufmerksamkeit erfahren, wobei einer breiten und etablierten Praxis eine ebenso beständige Kontroverse gegenübersteht (vgl. Vorst 2007). Der Aspekt der Handlungsorientierung adressiert dabei in eher prozessorientierter Perspektive unterrichtliche Aktivitäten der konkreten Transformation literarischer Stoffe in ein anderes Medium (eine szenische Umsetzung einer Textpassage, eine
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bildnerische Gestaltung etc.), der Begriff der Produktionsorientierung lenkt den Blick auf das Hervorbringen neuer literarischer Artefakte. Anders als bei einer Interpretation, die eher als ein hermeneutischer MetaText zu beschreiben ist, entstehen hier zuallererst ästhetische Produkte (Parallelgedicht, Weiterführung einer Geschichte etc.), die dann wiederum zum Ausgangspunkt für eine begrifflich-analytische Durchdringung des bearbeiteten literarischen Stoffs werden können. Der Ansatz versteht sich als konstruktive Ergänzung zu einem einseitig begrifflich-analytischen Literaturunterricht und seiner zentralen Methode, des fragend-entwickelnden Unterrichtsgesprächs. Die Wurzeln des HPL reichen zurück bis zur antiken Rhetorik, konzeptionell gefasst wurde der HPL jedoch besonders seit den 1980er Jahren (vgl. z. B. Haas 1984; Waldmann 1984; Haas/Menzel/Spinner 1994). Wichtige zeitgenössische Ansatzpunkte für seine Begründung waren einerseits die pädagogische Kreativitätsdiskussion und das literaturwissenschaftliche Konzept der Rezeptionsästhetik, das eine positivistische Perspektive auf Literatur konsequent unterläuft und die Bedeutung der subjektiven Sinnkonstruktion bei der Lektüre betont. Damit ist die Grundlage für die Überwindung der seit der Genieästhetik tiefen Kluft zwischen Produktion und Rezeption von Literatur gelegt. Gleichzeitig orientiert sich der Ansatz an lernpsychologischen Erkenntnissen im Umfeld der Kognitionspsychologie und der konstruktivistischen Didaktik, die gerade die Aspekte der Handlungs- und Subjektorientierung als zentrale Kategorien in der didaktischen Diskussion forcierten. Nicht zuletzt muss auch ein in den Jahren nach 1968 starkes Bedürfnis nach antielitären und partizipativen Reformen als Einflussfaktor auf die Entwicklung des HPL begriffen werden. Insofern ist die häufig geäußerte Kritik der ›Theorielosigkeit‹ des HPL nicht pauschal nachvollziehbar, auch wenn gerade der methodische Ansatz häufig eher wie eine Ideensammlung auftritt. Als wichtige Parallelentwicklung des HPL muss zudem das kreative Schreiben als Konzept der Schreibdidaktik betrachtet werden (s. u. Abschn. Lernbereichsintegrative Zugänge). Grundidee des HPL ist die Verbindung eines animierenden Umgangs mit Literatur im Sinne der Leseförderung mit dem literarischen Lernen (s. Kap. 44). Durch die kreative Erschließung von Texten, durch deren transformative Adaption und die Aneignung in der konkreten ästhetischen Tätigkeit wird ein eher implizites und intuitives Verständnis der inneren Struktur, der ästhetischen Substanz und der spezifischen Eigenarten eines Textes angebahnt. Es liegt auf der
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Hand, dass daher Kategorien wie die Vorstellungsbildung, aber auch der Nachvollzug der inneren Handlungslogik eines Textes, wie sie im Literarischen Lernen (s. Kap. 44) eine zentrale Funktion einnehmen, besonders in den Blick rücken. Aber auch die Verbindung kulturellen und identitätsorientierten Lernens wird beim HPL im konkreten Zugang zu verschiedenen Textperspektiven als Möglichkeiten des Fremdund Selbstverstehens in den Blick gerückt (vgl. Spinner 2010a, 318). Seine Vertreter verstehen den HPL aber keinesfalls als Gegenentwurf eines auf Textanalyse und Interpretation ausgerichteten Unterrichts. Vielmehr ist eine Kombination handlungs- und produktionsorientierter und analytischer Methoden durchaus denkbar. Die systematische Textanalyse stellt nicht die notwendige Voraussetzung des kreativen Umgangs mit den Texten dar; handlungs- und produktionsorientierte Methoden können durchaus als eigenständiger Zugang zum Text Anwendung finden. Dem HPL liegt aber auch die Erwartung zugrunde, dass gerade der kreativ-gestaltende und eher intuitive Zugang zum Text zur genauen Wahrnehmung textlicher Besonderheiten und daraus folgend zu einem erfahrungsbegründeten, vertieften Textverständnis beitragen kann. Allerdings ist diese Annahme einer Brücke vom vorbewussten Adaptieren zum bewussten Verstehen literarischer Strukturen nicht empirisch gesichert. Jedenfalls besteht eben in der Anregung und Moderation dieses Prozesses eine besondere Herausforderung für Lehrkräfte. Wird dieser Selbstanspruch des HPL nicht eingelöst, droht der Methodeneinsatz zum Selbstzweck zu werden. Literarisches Gespräch Über Literatur ins Gespräch zu kommen, hat eine lange Tradition. Dem vielstimmigen Austausch der subjektiven Eindrücke im literarischen Salon stehen in der Schule jedoch häufig die gelenkten fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräche gegenüber, durch die Lernende zu einer bestimmten, vorab feststehenden Interpretation des Textes geführt werden sollen. Das literarische Gespräch, wie es in der literaturdidaktischen Diskussion verstanden wird, grenzt sich von dieser Form der asymmetrischen Gesprächsführung ab. Vielmehr versteht es sich als gestütztes Interaktionsformat, in dem alle Teilnehmenden über persönliche Lektüreeindrücke in einen Austausch und damit in einen kollektiven, aber prinzipiell ergebnisoffenen Prozess der Sinnbildung und -aushandlung treten.
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VI Didaktik – A Literacy und Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur
Die Lehrkraft agiert dabei im Unterricht als Moderator und Impulsgeber; in der Darstellung der eigenen Lesart eines literarischen Stoffes bleibt sie aber gleichberechtigtes Mitglied der Gruppe ohne den statustypischen Autoritätsüberschuss. Dabei kommt ihr durchaus eine wichtige rahmengebende und auch strukturierende Funktion zu. Diese liegt aber eher auf der Ebene der Gesprächsleitung, weniger auf der Ebene einer klaren inhaltlichen Fokussierung des angestrebten Diskurses über den literarischen Stoff. Wichtige konzeptionelle Impulse ergaben sich aus der Spracherwerbstheorie (vgl. Bruner 1983/87) sowie der Gesprächsforschung (vgl. z. B. Hurrelmann 1987, Wieler 1989) und führten seit den 1990er Jahren zu verschiedenen konzeptionellen Entwicklungen des literarischen Gesprächs (vgl. z. B. Christ/Fischer/Fuchs u. a. 1995). Das sicherlich am umfassendsten ausgearbeitete Konzept ist das sogenannte ›Heidelberger Modell‹ (vgl. Härle/Steinbrenner 2004), das in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erfahren hat und wiederum zum Ausgangspunkt für weitere empirische Studien geworden ist. Ein wichtiger Grundgedanke des literarischen Gesprächs ist, dass der Archetyp des intimen, stillen und einsamen Lesers eher als phänomenologischer Sonderfall im Spektrum möglicher Lesepraxen begriffen werden muss, insbesondere im Hinblick auf die frühen literarischen Erfahrungen von Kindern. Die Erwerbsperspektive eröffnet hier ganz andere Einblicke: Vorschulkinder begegnen der Literatur in Form sozialer Aktivität, die ein erwachsenes Gegenüber ermöglicht und interaktiv steuert. Lesen ist damit von Anfang an ein Ereignis, dessen Dichte und performative Intensität von zentraler Bedeutung für die sprachliche und soziale Sozialisation zu sein scheint (vgl. Wieler 1997). Das betonen auch Rosebrock und Daniel Nix mit ihrer Akzentuierung der Anschlusskommunikation im Rahmen einer sozialen Ebene der Lesekompetenz (vgl. Rosebrock/Nix 2008, 16). Beim literarischen Gespräch ist die »Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses« (s. Kap. 44) zentraler Ausgangspunkt des Handelns. Wichtiger als die Entwicklung einer kohärenten und von einer Gruppe geteilten Interpretation eines literarischen Stoffes ist die gleichberechtigte Partizipation aller am Aushandlungsgeschehen Beteiligten. Zu einer besonderen Herausforderung wird dabei die Entwicklung von Akzeptanz differenter Lesarten untereinander und möglicher Leerstellen im Text, für die gemeinsam keine Interpretation gefunden werden konnte. Literatur zeigt sich hier als subjektiver Erfahrungsraum, der sich in
einer dialektischen Pendelbewegung individuellen Verstehens und kollektiver Aushandlung stetig weiterentwickeln und vertiefen lässt. Dieser Prozess wird durch die Flüchtigkeit und Prozesshaftigkeit des Gesprächs ermöglicht, das idealtypisch als ständige Suchbewegung modelliert wird. Gerade im Hinblick auf den deutungsoffenen Umgang mit literarischen Stoffen stellt sich auch die Frage nach der Passung von Text und Adressat auf eine neue Art und Weise. Während in der didaktischen Diskussion gerade im Kontext von Heterogenität viel über eine möglichst individuelle Anschlussfähigkeit der zu lesenden Texte an die Lernenden gesprochen wird, scheint im literarischen Gespräch besonders die Überforderung der vermeintlichen individuellen Verstehensleistungen ein produktiver Ansatz zu sein. Auf beeindruckende Art und Weise dokumentieren das z. B. von Ute Andresen beschriebene literarische Gespräche über bekannte lyrische Texte (vgl. Andresen 1992). Lernbereichsintegrative Zugänge Ziel des Deutschunterrichts – insbesondere auf der Primar- und Sekundarstufe I – ist weniger das Vermitteln expliziten Fachwissens über sprachliche und literarische Phänomene, als die Entwicklung konkreter Kompetenzen zur Bewältigung gesellschaftlicher Anforderungen im (schrift-)sprachlichen Bereich. Dazu gehören auch Zugänge zu soziokulturellen Ressourcen der Literatur und ihren vielfältigen Spielarten. Schon diese Ausrichtung deutet darauf hin, dass die Beschäftigung mit (Kinder- und Jugend-)Literatur im Unterricht keinem Selbstzweck folgt und eine lernbereichsisolierte Perspektive auf das Themenfeld »Lesen – mit Texten und Medien umgehen« zu kurz greift. Deutschunterricht darf nicht zum Teilkompetenztraining werden, auch wenn aktuelle bildungspolitische Tendenzen und deren konkrete Konsequenzen im Bereich empirischer Assessments andere Schlüsse nahezulegen scheinen. Gegenstand und Medium des Unterrichts sind in der Regel komplexe Formen sprachlich-kultureller Kommunikation und ihre literarisch-ästhetische Gestaltung. Die Lernbereiche der Bildungsstandards und Lehrpläne haben in diesem Kontext die Aufgabe, relevante fachliche Fokussierungen vorzunehmen und Lernziele abzuleiten, sie stellen aber keine didaktisch-methodische Struktur für die Unterrichtsplanung dar. Bezogen auf die konkrete sprachpraktische Realisierung des Unterrichts sind sie eine künstliche Unterteilung. Mit Blick auf die Konzeption eines Deutschunter-
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richts, der die grundlegende sprachliche Bildung und Handlungsfähigkeit des Subjekts zum Ziel hat (vgl. Kultusministerkonferenz 2005, 6), gilt es in der Deutschdidaktik systematisch nach Verbindungen zwischen den verschiedenen Disziplinen zu suchen, die sich in fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Perspektive hinter den Lernbereichen verbergen. In der Unterrichtspraxis ist eine solche integrative Herangehensweise an vielen Stellen keinesfalls unüblich. Offenkundig ist, dass viele literarische Formen explizit medial mündlich tradiert wurden (z. B. Märchen) und ihre ästhetische Qualität maßgeblich auch eine phonische (z. B. Lyrik) bzw. szenisch-interaktive (z. B. Dramatik) Realisierung umfasst. Auch im Bereich der erzählenden Literatur wird Mündlichkeit simuliert, um in von Dialog dominierten Szenen Anschaulichkeit und Dichte zu erzeugen, z. B. die regiolektal geprägten jugendsprachlichen Elemente in Erich Kästners Emil und die Detektive (1929). Sie kann auf der Ebene einer personalen Erzählinstanz oder eines Ich-Erzählers Authentizität und Nähe suggerieren, etwa im Erzählduktus des Romans Ich ganz cool (1992) von Kirsten Boie. Aber auch jenseits des literarischen Stoffs an sich sind mündliche und schriftliche Handlungsfelder kaum zu trennen. So findet die Anschlusskommunikation über unterrichtliche Lektüren in medial und über weite Teile auch konzeptionell mündlicher Form statt. Schon hier greift die Auseinandersetzung über Literatur auf Diskursfunktionen zurück, die zum Lernbereich ›Sprechen und Zuhören‹ gehören (z. B. Benennen, Beschreiben, Erläutern, Argumentieren; vgl. Hövelbrinks 2014, 68). Gleichzeitig fordert eine sich auf literarische Stoffe beziehende Diskussion kommunikative Bedingungen und sprachliche Mittel, die typische für konzeptionell schriftsprachliche Sprachhandlungssituationen sind. Auch im Bereich des produktiven Sprachgebrauchs beim Verfassen eigener Texte ist die Lernbereichsverbindung üblich. Schon in traditionellen literaturdidaktischen Arrangements führen Lektüren zu schriftlichen Produktionen wie Interpretationen. Die Entwicklung des HPL (s. o. Abschn. Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht) ging zudem in enger Verzahnung mit der Verankerung des kreativen Schreibens im Deutschunterricht einher. Viele Methoden des HPL sind textproduktive Formen und verbinden ganz explizit literarische Textrezeption und -produktion miteinander (vgl. Abraham 2014). Dabei ist das Schreiben nicht nur ein geeignetes Medium der mimetischen Adaption und Reflexion des literari-
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schen Texts; literarische Strukturen übernehmen in diesem Kontext auch eine strukturierende Funktion im Sinne eines impliziten Textmustergebrauchs (vgl. Dehn/Merklinger/Schüler 2011) und beim Erwerb literaler Prozeduren (vgl. Ritter 2020). Auch im Hinblick auf den Lernbereich »Sprache untersuchen« sind die Anschlussstellen nicht schwer zu finden. So zeigt die Sprachbewusstheit als zentrale Kategorie der Grammatikdidaktik gegenstandsspezifisch starke Überschneidungen mit Anliegen des literarischen Lernens, wie z. B. »Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen« und »Narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen« (s. Kap. 44). Die Beziehung zwischen dem literarischen Lernen und der Entwicklung impliziten und expliziten Sprachwissens in analytischer und produktiver Auseinandersetzung ist vielfältig belegbar (ein Beispiel zum Konjunktiv II, s. Ritter/Rönicke 2014). Dabei ist allerdings darauf hinzuweisen, dass eine lernbereichsintegrative Perspektive immer in Richtung beider zu integrierenden Disziplinen zu denken ist und der literarische Text nicht nur zum Vehikel grammatischer Reflexionen werden darf (vgl. Kepser/Abraham 2016, 168). Bei aller Relevanz, die die Ausdifferenzierung der fachdidaktischen Domänen ohne Zweifel hat, scheint gerade auch in deren Überschneidungsflächen ein enormes Potential für zukünftige Entwicklungen didaktischer Konzepte zu liegen. Fächerintegrierende Zugänge Die Auseinandersetzung mit (Kinder- und Jugend-)Literatur kann über zahlreiche Unterrichtsfächer hinweg eine verbindende und integrierende Funktion übernehmen. Als sprachlich-ästhetischer Gegenstand ist Literatur immer auch gleichzeitig Medium des Lernens, z. B. im Sinne thematischer Zugänge oder der Leseförderung (s. Kap. 42.2). Damit ergeben sich automatisch über die thematische Substanz der Werke Anknüpfungspunkte an fachliche Themen anderer Unterrichtsbereiche, z. B. an den Politikunterricht bei der Lektüre von Chen Jianghongs Bilderbuch An Großvaters Hand (Mao et moi franz. 2008, dt. 2009) oder an den Sachkunde- bzw. Biologieunterricht bei der Lektüre des Bilderbuchs Gerda Gelse. Allgemeine Weisheiten über Stechmücken (2013) von Heidi Trpak und Laura Momo Aufderhaar. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die literarische Verarbeitung sachlicher Themen mitunter nicht sachgerecht ist und in der uneigentlichen und mitunter metaphorischen Verarbeitung der Themen verfremdend verläuft: Von einem fiktionali-
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sierten und fingierten literarischen Stoff (vgl. Iser 1993, 25) ist nur bedingt Auskunft über faktuale Gegenstände zu erwarten. Doch gerade diese Differenzperspektive kann auch einen bewussteren Zugang zu alltäglichen Phänomenen und deren genauer Wahrnehmung und Bestimmung unterstützen. In diesem Sinne markieren Ulf Abraham und Christoph Launer drei Prinzipien für das literarische Lernen im fächerverbindenden Unterricht: (1) Wissenserwerb erfolgt beiläufig, sozusagen als Nebenprodukt der Lektüre. (2) Von der Lektüre ausgehend können Sachinformationen zu einer Anreicherung des literarischen Stoffes im Sinne anderer Fachinhalte führen. Das Prinzip der Beiläufigkeit ist dabei aber unbedingt zu bewahren. (3) Schließlich braucht ein solcher Prozess Offenheit als pädagogisches Prinzip, um die Künstlichkeit der schulischen Lernsituation zugunsten eines von Ganzheitlichkeit geprägten Aneignungsprozesses zu überwinden und einen möglichst selbstständigen Umgang mit einem breiten Angebot an Inhalten und Methoden zu eröffnen (vgl. Abraham/Launer 2002, 48–58). Gleichzeitig setzt die dominant (schrift-)sprachlich organisierte Wissensvermittlung in fast allen Unterrichtsfächern eine stabile Lesekompetenz voraus. Das Lesen als Praxis verbindet die Unterrichtsfächer miteinander und beschränkt sich in vielen Bereichen auch keineswegs lediglich auf die Lektüre von Sachtexten. Während fächerverbindende Arbeitsformen auf der Primarstufe den Unterricht insgesamt prägen, werden sie auf den Sekundarstufen eher in Formaten angewandt, die als projektorientiertes Arbeiten bezeichnet werden können. Auch hier gilt, dass die Beziehung der Fächer wechselseitig gedacht werden muss und voneinander profitieren sollte. Eine einseitige Vereinnahmung kinder- und jugendliterarischer Stoffe z. B. im Sinne einer Reduktion auf eine Aufhängerfunktion für einen thematischen Einstieg ist auf jeden Fall kritisch zu sehen. Bei der Auseinandersetzung mit KJL sollte stets auch die literarästhetische Substanz Beachtung finden. Literatur
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Ulf Abraham / Matthis Kepser / Alexandra Ritter / Michael Ritter
400
VI Didaktik
43 Geschichte der Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur 43.1 Einleitung Kinder- und Jugendliteratur ist vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich der Lektüre im häuslichen und damit familialen Bereich vorbehalten. Folglich konzentrieren sich Überlegungen zur Didaktik und Auswahl während dieser Zeit auf Kinder- und Jugendliteratur als Privatlektüre. Erst nach 1945 setzt eine zunehmend breiter werdende Diskussion über ihren Einsatz im Schul-, respektive Deutschunterricht ein. Im Anschluss an eine Begriffsdefinition wird dieser Entwicklungsprozess im Hinblick auf theoretische und praktische Überlegungen nachgezeichnet. Unter der Überschrift Typologien geht es abschließend um didaktische Konzepte.
43.2 Begriffsdefinitionen Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur im weiteren Sinn beschäftigt sich mit der Theorie und Praxis des Lehrens mit und Lernens an kinder- und jugendliterarischen Texten in außerschulischen Zusammenhängen; im engeren Sinn geht es um die Theorie und Praxis des Unterrichts mit Kinder- und Jugendliteratur in der Schule.
43.3 Historische Entwicklungen Auf die Kinder- und Jugendliteratur bezogen hat die Didaktik im weiteren Sinn, also außerhalb des schulischen Unterrichts, die längste Geschichte: Mit der Entstehung einer deutschsprachigen originären Kinder- und Jugendliteratur im Spätmittelalter, die bis zur Reformationszeit überwiegend aus religiösen Schriften besteht und sich vornehmlich an den Nachwuchs der Adeligen und der aufstrebenden städtischen Bildungselite wendet (vgl. Brunken 2000, 17–23), finden sich auch Überlegungen im Hinblick auf ihre Vermittlung, Voraussetzungen und Ziele. Diese verändern sich im Laufe der Jahrhunderte in Abhängigkeit vom sozialen und kulturellen Wandel. Während z. B. die spätmittelalterliche Pädagogik das Erziehungsziel ausschließlich im »Heilserwerb des Kindes« (Brunken 1987, 26) sieht, zielen Martin Luthers volkserzieherische Forderungen, die die re-
formatorische Kinder- und Jugendliteratur beeinflussten, neben der Erziehung zum Christentum darauf ab, die Heranwachsenden auf den zukünftigen Stand hin zu erziehen. Neu ist zudem der Stellenwert, den Luther in Fragen der Erziehung der Familie zuweist, denn nicht wie zuvor die Eigenlektüre des Kindes steht im Vordergrund seiner Ausführungen, sondern der familiale Gebrauch der Literatur, d. h. ältere Geschwister und Eltern, vor allem aber der Vater bzw. das Familienoberhaupt, lesen allen Mitgliedern des Hauses vor (vgl. ebd., 32–33). Das Vorlesen als Hinführung zur abstrakten Sprache der Literatur, wie es noch gegenwärtig in der frühen familialen literarischen Sozialisation eine große Rolle spielt, ist auch zentral für die Lesedidaktik der bürgerlichen Kleinfamilie, wie sie sich im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts allmählich etabliert. Damit verbunden sind Gespräche über das Vorgelesene, was als Vorform des fragend-entwickelten Unterrichtsgesprächs zu betrachten ist. Unter dem Einfluss der Aufklärung entsteht eine weitgehend verweltlichte Kinder- und Jugendliteratur, die jene Werte vermitteln soll, die für den neuen bürgerlichen Stand von Nutzen sind: Selbstbeherrschung und Bedürfnisaufschub, Nächstenliebe, Fleiß und Pünktlichkeit, Gehorsam, Treue etc. Das gemeinsame Leseerlebnis ermöglicht soziale Kontrolle wie auch die Durchsetzung dieser Werte; literarische Funktionen wie Unterhaltung und ästhetischer Genuss sind von nachrangiger Bedeutung (vgl. Dahrendorf 1996, 14– 15). Einflussreiche Pädagogen wie Johann Friederich Herbart kritisieren diesen Teil des kinder- und jugendliterarischen Angebots aufgrund seiner Nichteignung für die literarische Bildung bereits 1805 (vgl. Brunken/Hurrelmann/Pech 1998, 64). Die Schulpflicht im 19. Jahrhundert markiert in diesem Zusammenhang eine erste Zäsur: Die Familien werden von der Leselehre entlastet, sodass im familiären Kontext nun vermehrt die kindorientierte, spielerische, genussvolle und von den Müttern übernommene Literaturvermittlung im Fokus steht. Parallel dazu findet zwischen »Biedermeier und Kaiserzeit eine Verschiebung vom geselligen und Wiederholungs-Lesen zur einsamen Lektüre statt« (Hurrelmann 2006, 407). Was die Bewertung der Kinder- und Jugendliteratur im 19. Jahrhundert als literarisches Bildungsmittel betrifft, so ist diese, wie oben am Beispiel Herbart deutlich wird, weitgehend negativ. Doch die sich etablierende Volkserziehungsbewegung (vor allem Pfarrer und Volksschullehrer), die u. a. kleine Bibliotheken für die unteren Schichten und vor allem Schulbibliothe-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_43
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ken einrichtet, erkennt deren Potential und setzt sich angesichts eines immer größer werdenden Buchmarktes für eine Literatur ein, die auch das steigende Lesebedürfnis der Jugend stillt, das auf Unterhaltung abzielt (vgl. Brunken/Hurrelmann/Pech 1998, 74–79). Auf den Prüfstand gestellt wird die Kinder- und Jugendliteratur ab Ende des 19. Jahrhunderts von der Jugendschriftenbewegung, insbesondere von Heinrich Wolgast. Sein 1896 und bis in die 1950er Jahre immer wieder aufgelegtes Standardwerk Das Elend unserer Jugendliteratur stellt den Auftakt einer künstlerisch und weltlich ausgerichteten Jugendschriftenbewegung dar und beinhaltet zentrale Thesen: 1. die Jugendschrift in dichterischer Form müsse ein Kunstwerk sein; 2. die Dichtkunst könne und dürfe nicht das Beförderungsmittel für Wissen und Moral sein. Sie werde erniedrigt, wenn sie in den Dienst fremder Mächte gestellt werde, und 3. der Begriff der Jugendliteratur in dem Sinne eines Schrifttums, das eigens für die Jugend geschaffen ist und im Allgemeinen auch nur für die Jugend Interesse haben kann, müsse fallen (vgl. Wolgast 1950, 25–45). Diese entschiedene und umstrittene Absage an eine originäre bzw. spezifische Kinder- und Jugendliteratur modifizierte Wolgast im Laufe seines Schaffens (vgl. Ewers 1996). Trotz seiner Verdienste als Reformer in Bezug auf die Literalisierung und Genussfähigkeit der breiten Volksmassen bleibt kritisch zu fragen, ob er nicht dazu beigetragen hat, dass sich die Kinder- und Jugendliteratur erst nach 1945 allmählich einen Platz im Schul-, respektive Deutschunterricht erobern konnte. Von Otto Karstädt abgesehen, der sich bereits in den 1920er Jahren entschieden für Kinder- und Jugendliteratur im schulischen Unterricht einsetzt (vgl. Spinner 2012, 510), kreisen die Diskussionen um Kinder- und Jugendliteratur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich um die Frage ihrer inhaltlichen Ausrichtung und sprachlichen Gestaltung als Privatlektüre, es geht also darum, was sich für die stille Eigenlektüre und bei jüngeren Kindern für das Vorlesen eignet. Wie Wolgast lehnen z. B. auch die Pädagogen Berthold Otto und Ernst Linde um die Jahrhundertwende jegliche Tendenz in der Kinder- und Jugendliteratur ab, befürworten sie als Lektüre jedoch mit Nachdruck. Während Otto den Begriff der Altersmundart in die Debatte einführt und dafür plädiert, die von Kindern einer bestimmten Altersstufe gesprochene Sprache jeweils als Vorbild für die sprachliche Gestaltung zu nehmen, muss Kinder- und Jugendliteratur nach Linde ›künstlerisch wertvoll‹ und ›kindertümlich‹ zugleich sein (vgl. Wilkending 1996). Päda-
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gogen und Kritiker aus sozialistischen und SPD-nahen Kreisen streiten um die Frage, ob Kinder- und Jugendliteratur ein Mittel politischer Agitation sein dürfe und ob es eine speziell an Arbeiterkinder gerichtete Literatur geben solle. Erziehung zum ›Deutschtum‹ fordern Ende der 1920er Jahre völkisch-national Gesinnte und leisten damit einer Richtung Vorschub, die in der NS-Zeit dominierte, in der sich die Reichjugendführung der Hitler-Jugend und der NS-Lehrerbund viele Jahre darüber stritten, ob es eine spezifische Kinder- und Jugendliteratur geben solle und inwieweit diese Kunstwerkcharakter haben müsse. Ab den 1950er Jahren mehren sich dann jene Stimmen, die eine Verschränkung von Privat- und Schullektüre fordern bzw. sich für die feste Aufnahme der Kinder- und Jugendliteratur in den Lehrplan des Deutschunterrichts einsetzen. Während dies in der DDR von Anfang an der Fall ist und die Kinder- und Jugendliteratur neben sozialistischen Erziehungszielen einen Beitrag zur ästhetischen Bildung leisten soll (vgl. Strewe 2006), entwickelt sich ihre Akzeptanz als Schullektüre in der Bundesrepublik langsamer. Anna Krüger bezieht sich noch auf die Volksschule, in Hermann Helmers Didaktik der deutschen Sprache (1966) hat Kinder- und Jugendliteratur überhaupt keinen Platz. Erst die Deutschdidaktiken, die sich seit Ende der 1960er Jahre parallel zur rezeptionsorientierten Literaturwissenschaft etablieren, beziehen Kinderund Jugendliteratur für alle Schulformen in ihre Überlegungen ein. In Österreich ist es Richard Bamberger mit seinem Buch Jugendlektüre (1955), der nachhaltig die Diskussion beeinflusst, in Deutschland gehört Anna Krüger mit ihrer Publikation Kinder- und Jugendbücher als Klassenlektüre aus dem Jahr 1963 zu den Vorreitern. Damit will sie einen Beitrag zur Reform des Leseunterrichts leisten und sie knüpft an die Debatten zur Zeit der Reformpädagogik wie auch zeitgenössische literaturwissenschaftliche Theorien zur Textanalyse an. Sie zeigt auf, dass ›Kunstwert‹ und ›Kindertümlichkeit‹ im Kontext der Kinder- und Jugendliteratur nicht unvereinbar sind. Zudem plädiert sie für ›Spannung‹ und ›Komik‹ und explizit für phantastische Kinder- und Jugendliteratur, die in Deutschland erst mit den 1980er Jahren ihren Siegeszug antritt (vgl. Krüger 1963 und 1970; Lypp 1996). Verdient gemacht hat sie sich darüber hinaus auf dem Feld der Unterrichtsforschung. So ließ sie Lehrkräfte in den Klassen 2 bis 8 Unterrichtsreihen mit Kinder- und Jugendliteratur durchführen und wertete deren Protokolle sowie die im Rahmen des Unterrichts entstandenen Texte und Zeichnungen
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der Schüler aus. Anstelle des damals noch verbreiteten lauten Lesens seitens der Lehrkraft oder der Schüler präferiert sie das stille Lesen, dem freie Unterrichtsgespräche folgen, danach das Nachspielen von Szenen, aber auch schriftliche Auseinandersetzungen mit dem Inhalt, wie z. B. Gedanken von Figuren aufschreiben oder das Weiterdichten. Damit ist Krüger ebenso eine Vorreiterin des handlungs- und produktionsorientierten Ansatzes, der erst in den 1980er Jahren flächendeckend Einzug in den Deutschunterricht hält. Zwar konzentrieren sich Fragen der Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur in den 1950er und 1960er Jahren vornehmlich auf die Deutsch- bzw. Literaturdidaktik, doch wird der Einsatz von Jugendbüchern vereinzelt in allen Unterrichtsfächern postuliert, wie z. B. das 1960 von Heiner Schmidt veröffentlichte Verzeichnis Schulpraktische Jugendlektüre zeigt, das später unter dem Titel Jugendbuch im Unterricht (1966) erscheint. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat das Buchlesen mit dem massenhaft verbreiteten Fernsehen als Geschichtenerzähler und in der Folge mit den weiteren sogenannten neuen Medien (s. Kap. IV) große Konkurrenz bekommen. Außerdem wird im Zuge des Formen- und Funktionswandels der Kinder- und Jugendliteratur seit den 1960er Jahren die ästhetisch anspruchsvolle Literatur für Heranwachsende zum Teil so komplex, dass die Lektüre der Unterstützung der Eltern oder Schule bedarf (vgl. Hurrelmann 2006, 407). Dieser veränderten medialen Landschaft und ihrem Einfluss auf das kinder- und jugendliterarische Angebot sucht die Deutschdidaktik mit neuen Ansätzen (s. Kap. 45) zu begegnen.
43.4 Typologien Zu den Deutschdidaktiken, die auch vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels und damit verbunden veränderter Bildungsvorstellungen zu betrachten sind, gehören der Lese(r)orientierte Ansatz – maßgeblich Alfred C. Baumgärtner und Malte Dahrendorf, später Gerhard Haas, Bettina Hurrelmann, Kaspar Spinner –, der (Ideologie-)Kritische – ebenfalls Dahrendorf, aber auch das Bremer Kollektiv um Bodo Lecke –, der Rezeptionsorientierte und natürlich allen voran in den 1980er Jahren der Handlungs- und produktionsorientierte Ansatz, vertreten von Gerhard Haas und Kaspar Spinner (vgl. Dahrendorf 1989, 462–464). Gemeinsame Zielsetzung aller Didaktiken ist die Leseförderung im Sinne der Lesemotivation, aber auch
im Hinblick auf die Identitätsentwicklung wird der Kinder- und Jugendliteratur als Themenlieferantin eine wichtige Aufgabe zugeschrieben, ebenso solle sie einen Beitrag zur literarästhetischen Bildung leisten (vgl. Rosebrock 1997). Diese drei Ziele genießen nach wie vor allgemeine Akzeptanz, wobei sich die Lehrkräfte in Schulen bei der Auswahl von kinder- und jugendliterarischen Texten vermutlich immer noch vorrangig am Kriterium Themenlieferantin orientieren, während die universitäre Didaktik oft stärker die ästhetische Bildung im Blick hat. Damit wirkt gewissermaßen die alte Diskussion um das Verhältnis von Kunst und Pädagogik in der Kinder- und Jugendliteratur fort. Ihren Höhepunkt hat diese Debatte 1988 in der sogenannten Haas-Hurrelmann-Kontroverse, als Haas Das Elend der didaktisch ausgebeuteten Kinder- und Jugendliteratur (1988) im Unterricht beklagt, worin Hurrelmann eine Überbetonung des ästhetischen Anspruchs und damit eine »neue Eindimensionalität« (Hurrelmann 1988, 3) sieht. Parallel zu dieser Kontroverse geht es auch um die Frage, ob es einer eigenständigen Didaktik von Kinder- und Jugendliteratur überhaupt bedarf oder ob nicht Ziele und Methoden im Literaturunterricht unabhängig von der Textauswahl für bestimmte Altersstufen immer identisch sind. Über mehrere Jahre hinweg wird diese Diskussion in Praxis Deutsch geführt, u. a. in dem Heft Kinder- und Jugendliteratur (1989), aber auch innerhalb der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung, die sich 1996 auf ihrer Erfurter Tagung damit beschäftigt (vgl. Richter/ Hurrelmann 1998); wenig später erschien sogar der Entwurf einer Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur für die Sekundarstufe I (Meyenbörg 2000). Bis heute ist die Frage der Notwendigkeit einer spezifischen Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur umstritten. Dessen ungeachtet gibt es seit vielen Jahren eine große Zahl von Publikationen, die sich mit Fragen der Didaktik von Kinder- und Jugendliteratur beschäftigen. Hinsichtlich des Lesealters sind sie längst nicht mehr auf die unteren Klassen beschränkt, sondern angesichts eines veränderten Buchangebots an universitäre und schulische Lehrkräfte für Kinder vom Vorschulalter bis hin zu den oberen Klassen der weiterführenden Schulen adressiert. Bezogen auf die Klassen 5 bis 10 ist Jutta Grützmachers Sammelband Didaktik der Jugendliteratur (1979) zu nennen, der zum Zeitpunkt seines Erscheinens noch ein relativ unbearbeitetes Feld darstellt. Kategorisieren lassen sich die Didaktik-Publikationen neben dem Lesealter nach spezifischen Autoren, Gattungen (z. B. Romane, Bilderbuch oder Lyrik), Themen (z. B. Holocaust, Schule, Interkul-
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turalität), Methoden (z. B. Handlungs- und Produktionsorientierung), Zielgruppen (Jungen – Mädchen), Unterrichtsformen (Offener Unterricht) etc. Methodisch hat sich wie im Literaturunterricht allgemein und damit auch für den Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur der Handlungs- und produktionsorientierte Ansatz durchgesetzt (vgl. Haas 1997), der mittlerweile gekoppelt ist an spezifische Aspekte literarischen Lernens (vgl. Spinner 2006 und 2007 sowie Leseräume 2015). Konzepte wie z. B. das Szenische Interpretieren oder literarische Gespräche führen (vgl. WiprächtigerGeppert 2009) sind darin enthalten (s. Kap. 44). Seit Mitte der 1990er Jahre spielen im Kontext der Didaktik von Kinder- und Jugendliteratur die Medien eine zunehmend größere Rolle, denn schon lange erscheinen literarische Stoffe nicht nur gedruckt als Roman, Bilderbuch, Comic oder Graphic Novel und auf der Bühne, sie werden auch in Form von Hörbüchern (Lesung oder Hörspiel), Real- und Animationsfilmen oder Apps angeboten, die von einem MerchandisingMarkt gerahmt sind, zu dem Onlineangebote gehören. Konzeptionelles und Unterrichtsbeispiele zum Film im Deutschunterricht (vgl. z. B. Abraham 2016) liegen inzwischen in größerer Zahl vor, wobei auch Kinder- und Jugendfilme berücksichtigt werden. Gleiches gilt für das noch immer im Unterricht randständige Hörbuch (vgl. Müller 2012). Insofern sind zunehmend Konzepte bedeutsam, die die im Zuge der Mediatisierung und aktuell Digitalisierung zu beobachtende veränderte Medienkindheit und Medienjugend im Blick haben wie auch parallel dazu das stetig wachsende Angebot an Stoffen im Medienverbund (s. Kap. 3). Wegweisend sind diesbezüglich Ansätze zum medienintegrativen Deutschunterricht (vgl. Wermke 1997) und daran anknüpfend unterrichtspraktische Beispiele zum Medienverbund im Deutschunterricht (Frederking/Josting 2004 und Josting/Maiwald 2007). Weiterentwickelt wurden diese Überlegungen von Iris Kruse (2014) in ihrer Intermedialen Lektüre (IML). Maßgebliches Ziel der medienintegrativen Konzepte ist es, an die Lebenswirklichkeiten von Lernenden anzuknüpfen, ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, vorhandenen Kompetenzen in den Unterricht einzubringen, aber auch neue zu erwerben und damit der Heterogenität in allen Schulformen Rechnung zu tagen. Literatur
Abraham, Ulf: Filme im Deutschunterricht. 3., akt. und erw. Aufl. Seelze 2016. Brunken, Otto: Einleitung. In: Theodor Brüggemann/Ders. (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Vom Beginn des Buchdrucks bis 1570. Stuttgart 1987, 1–109.
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Brunken, Otto/Hurrelmann, Bettina/Pech, Klaus-Ulrich: Einleitung. In: Ders./Dies./Ders. (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1800 bis 1850. Stuttgart/ Weimar 1998, 1–114. Brunken, Otto: Kinder- und Jugendliteratur von den Anfängen bis 1945. Ein Überblick. In: Günter Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1. Baltmannsweiler 2000, 17–96. Dahrendorf, Malte: Zur Frage der Eigenständigkeit einer Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur. In: Diskussion Deutsch 20 (1989) 109, 456–471. Dahrendorf, Malte: Vom Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur. Berlin 1996. Ewers, Hans-Heino: Eine folgenreiche, aber fragwürdige Verurteilung aller »spezifischen Jugendliteratur«. Anmerkungen zu Heinrich Wolgasts Schrift Das Elend unserer Jugendliteratur von 1886. In: Bernd Dolle-Weinkauff/ Hans-Heino Ewers (Hg.): Theorien der Jugendlektüre. Beiträge zur Kinder- und Jugendliteraturkritik seit Heinrich Wolgast. Weinheim/München 1996, 9–25. Haas, Gerhard: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. Theorie und Praxis eines »anderen« Literaturunterrichts für die Primar- und Sekundarstufe. Seelze 1997. Hurrelmann, Bettina: Wider die neue Eindimensionalität. In: Praxis Deutsch 15 (1988) 90, 2–3. Hurrelmann, Bettina: Familiale Lesesozialisation im historischen Wandel. Variablen, Konstanten, neue Aufgaben in der Mediengesellschaft. In: Dies./Susanne Becker/Irmgard Nickel-Bacon (Hg.): Lesekindheiten. Familie und Lesesozialisation im historischen Wandel. Weinheim/München 2006, 403–411. Krüger, Anna: Kinder- und Jugendbücher als Klassenlektüre. Analysen und Schulversuche; ein Beitrag zur Reform des Leseunterrichts. Berlin/Neuwied 1963. Weinheim/ Berlin/Basel 21970. Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung: Elf Aspekte literarischen Lernens auf dem Prüfstand 2 (2015). In: http://leseräume.de/?page_id=308 (1.7.2020). Lypp, Maria: Kinderbuch und Literaturwissenschaft. Die Bedeutung Anna Krügers für die Kinderliteraturforschung. In: Bernd Dolle-Weinkauff/Hans-Heino Ewers (Hg.): Theorien der Jugendlektüre. Beiträge zur Kinderund Jugendliteraturkritik seit Heinrich Wolgast. Weinheim/München 1996, 179–190. Meyenbörg, Jörg: Entwurf einer Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur für die Sekundarstufe I. Beiträge zur Debatte um ihre Eigenständigkeit. Frankfurt a. M. 2000. Müller, Karla: Hörtexte im Deutschunterricht. Poetische Texte hören und sprechen. Seelze 2012. Richter, Karin/Hurrelmann, Bettina: Kinderliteratur im Unterricht. Theorien und Modelle zur Kinder- und Jugendliteratur im pädagogisch-didaktischen Kontext. Weinheim/München 1998. Rosebrock, Cornelia: Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht – aus der Perspektive der Lehrerbildung. In: Bernhard Rank/Cornelia Rosebrock (Hg.): Kinderliteratur, literarische Sozialisation und Schule. Weinheim 1997, 7–28.
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Spinner, Kaspar: Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch 33 (2006) 200, 6–16. Spinner, Kaspar: Literarisches Lernen in der Grundschule. In: kjl&m 59 (2007) 3, 3–10. Spinner, Kaspar: Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur. In: Günter Lange (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Grundlagen, Gattungen, Medien, Lesesozialisation und Didaktik. Baltmannsweiler 22012, 508–524. Strewe, Uta: Die Stellung der Kinder- und Jugendliteratur im Literaturunterricht der DDR. In: Rüdiger Steinlein/Heidi Strobel/Thomas Kramer: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/DDR. Von 1945 bis 1990. Stuttgart 2006, 20–34. Wermke, Jutta: Integrierte Medienerziehung im Fachunterricht. Schwerpunkt: Deutsch. München 1997.
Wilkending, Gisela: Reformpädagogik, ›Altersmundart‹ und Dichtung ›vom Kinde aus‹. In: Bernd Dolle-Weinkauff/ Hans-Heino Ewers (Hg.): Theorien der Jugendlektüre. Beiträge zur Kinder- und Jugendliteraturkritik seit Heinrich Wolgast. Weinheim/München 1996, 27–49. Wiprächtiger-Geppert, Maja: Literarisches Lernen in der Förderschule. Eine qualitativ-empirische Studie zur literarischen Rezeptionskompetenz von Förderschülerinnen und -schülern im Literarischen Unterrichtsgespräch. Baltmannsweiler 2009. Wolgast, Heinrich: Das Elend unserer Jugendliteratur. Ein Beitrag zur künstlerischen Erziehung der Jugend. 71950.
Petra Josting
B Ausgewählte (literatur-)didaktische Konzepte und Methoden 44 Literarisches Lernen 44.1 Einleitung Das literarische Lernen wird im Folgenden als didaktisches Konzept bezogen auf den Umgang mit Kinderund Jugendliteratur vorgestellt und mit exemplarischen Hinweisen auf die unterrichtsmethodische Umsetzung konkretisiert.
44.2 Begriffsdefinitionen Unter literarischem Lernen versteht man den Erwerb der Fähigkeiten, die speziell für die Rezeption von literarischen Texten angeeignet werden. Der Erwerb von allgemeiner Lesekompetenz, die sich auch auf nichtliterarische Texte bezieht, ist dafür eine Voraussetzung. Literarisches Lernen reicht über Lesekompetenz hinaus und bezieht sich auch auf akustisch und audiovisuell rezipierte Literatur, also auf Hörbücher, Literaturverfilmungen, narrative Computerspiele u. Ä. Auch in illiteraten Gesellschaften mit einer rein oralen Traditionskultur findet literarisches Lernen statt, es beginnt vor dem Schriftspracherwerb im frühen Kindesalter durch das Hören von Liedern, von Versen (z. B. Auszählreimen), von vorgelesenen Geschichten, durch das Anschauen von Videoclips und Fernsehsendungen, und auch in ihren Rollenspielen erproben Kinder produktiv literarisches Verstehen. In der Schule wird literarisches Lernen dann gezielt unterstützt und weiterentwickelt.
44.3 Entwicklungslinien und -notwendigkeiten Kinder- und Jugendliteratur stand von ihren Anfängen bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich im Dienst religiös-sittlicher Erziehung
(s. Kap. 43). Was wir heute unter literarischem Lernen verstehen, spielte dabei kaum eine Rolle. Das änderte sich am Ende des 19. Jahrhunderts durch die sogenannte Jugendschriftenbewegung. Überaus einflussreich wurde Heinrich Wolgasts 1896 erschienene und mehrfach neu aufgelegte Schrift Das Elend unserer Jugendliteratur, die eine vehemente Abrechnung mit der bestehenden Kinder- und Jugendliteratur mit ihrer belehrenden Tendenz war. Ebenso kritisierte Wolgast, wenn Literatur zur bloßen Unterhaltung gelesen wird. Er setzte der Unterhaltung den Begriff des ästhetischen Genusses gegenüber; »literarische[..] Bildung« bestehe in der »Fähigkeit, poetisch zu genießen« (Wolgast 1899, 12); möglich sei das nur mit »echte[n] Dichtwerke[n]« (ebd., 21). Kinder- und Jugendliteratur gehörte für ihn nicht dazu. Die Wirkung von Wolgasts Schrift war eine doppelte: Einerseits war sie ein Rückschlag für die Kinder- und Jugendliteratur, andererseits unterstützte sie die auch von Wolgast maßgeblich geförderte Jugendschriftenbewegung, die sich für das gute Jugendbuch einsetzte. Mit diesem sollte die Jugend zur Dichtung hingeführt werden. Eine wesentliche Neuorientierung erfolgte über 50 Jahre später durch das Wirken von Anna Krüger, vor allem durch ihr 1963 erschienenes Buch Kinder- und Jugendbücher als Klassenlektüre (veränderte 2. Aufl. 1970). Sie ging davon aus, dass die Kinderund Jugendliteratur eine erhebliche Qualitätssteigerung erfahren habe und Wolgasts Kritik deshalb überholt sei. Sie schlug einen Unterricht mit Kinder- und Jugendbüchern vor, der an die Behandlung von Allgemeinliteratur angelehnt ist. Die Kinder- und Jugendliteratur sollte wie diese unter ästhetischer Zielsetzung vermittelt werden. Damit ist literarisches Lernen – und nicht mehr nur der Erwerb von Lesekompetenz und die Beschäftigung mit inhaltlichen Fragen – die ausschlaggebende Zielsetzung. Heute kann als unbestritten gelten, dass in der Schule mit Kinderund Jugendliteratur ein wichtiger Beitrag zum literari-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_44
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schen Lernen geleistet werden kann. Diese Entwicklung wird dadurch unterstützt, dass in der jüngeren Kinder- und Jugendliteratur zunehmend auch anspruchsvolle moderne Darstellungsweisen der Allgemeinliteratur verwendet werden. Das betrifft z. B. das Erzählen aus unterschiedlichen Perspektiven, die Verwendung von Metaphorik und die Ausschöpfung von Möglichkeiten nichtlinearen Erzählens. Inhaltlich sind eine differenzierte Entfaltung psychischer Innenwelten, das Spiel mit Intertextualität und bewusste Mehrdeutigkeit festzustellen. Damit bietet die Kinderund Jugendliteratur vielfältige Möglichkeiten eines literarischen Lernens, das auf anspruchsvollere Verstehensprozesse zielt.
44.4 Typologien Wenn in der Fachdiskussion von literarischem Lernen die Rede ist, wird meist Bezug genommen auf die elf Aspekte literarischen Lernens, die ich 2006 in einem Beitrag zusammengestellt habe (Spinner 2006). Die folgende Auflistung ist um den Aspekt »Mit dem literarischen Gespräch vertraut werden« gekürzt, weil er sich mit dem Aspekt 8 »Sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen« überschneidet (vgl. die Kritik von Maiwald 2015, 90): 1. Beim Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln 2. Subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel bringen 3. Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen 4. Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen 5. Narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen 6. Mit Fiktionalität bewusst umgehen 7. Metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen 8. Sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen 9. Prototypische Vorstellungen von Gattungen/Genres gewinnen 10. Literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln Die Aspekte des literarischen Lernens sind in der Fachliteratur vielfach, auch kritisch, diskutiert worden. Insbesondere ist darauf hingewiesen worden, dass das Bewerten von Literatur, die Produktion von literarischen Texten durch die Schüler, die kulturelle Leistung von Literatur und der Beitrag von Literaturunterricht zum sozialen und ethischen Lernen unzureichend berücksichtigt seien (vgl. die Auseinandersetzung im Heft 2 der Zeitschrift Leseräume 2015).
Die aufgeführten Aspekte des literarischen Lernens können auch bei der Kinder- und Jugendliteratur zum Tragen kommen und entsprechen den literarischen Zielsetzungen, die in der Regel schon in Lehrplänen für die Grundschule aufgeführt sind (vgl. Maiwald 2015), mit Ausnahme der Aspekte 6, 8 und 10. Deshalb zeige ich an diesen drei Aspekten genauer, wie sie auf die Kinder- und Jugendliteratur anzuwenden sind: »Mit Fiktionalität bewusst umgehen« (Aspekt 6) ist deshalb ein wichtiger Aspekt literarischen Lernens, weil fiktionale Texte einerseits in vielfältiger Weise auf Wirklichkeit bezogen sind, andererseits aber nicht dem Anspruch auf korrekte Wirklichkeitswiedergabe verpflichtet sind. Oft treiben Schriftsteller ein raffiniertes Spiel mit der Vortäuschung von Wirklichkeitswiedergabe, z. B. wenn Erich Kästner seinen Kinderroman Das doppelte Lottchen (1949) mit den Sätzen beginnt: »Kennt ihr eigentlich Seebühl? Das Gebirgsdorf Seebühl? Seebühl am Bühlsee? Nein? Nicht? Merkwürdig [...]« (Kästner 1982, 5). Dieser Romananfang tut so, als wenn es Seebühl am Bühlsee irgendwo gebe, was aber nicht der Fall ist. Aspekt 8, »Sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen«, bezieht sich darauf, dass gute literarische Texte eine Vielzahl von Interpretationsperspektiven eröffnen. Bewusst arbeiten Autoren manchmal mit rätselhaften Formulierungen, so etwa Andreas Steinhöfel beim Buchtitel Wenn mein Mond deine Sonne wäre (2015). Ist der Mond, der nur ein blasses Licht aussendet, auf die Demenz des Großvaters zu beziehen? Ist der Titel dem Großvater in den Mund gelegt? Und warum ist der Satz im Konjunktiv formuliert? Die Entwicklung eines literaturhistorischen Bewusstseins (Aspekt 10) zielt nicht auf historische Inhalte, sondern darauf, dass Literatur selbst eine Geschichte hat. In der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft ist das ein intensiv erforschter Aspekt, der in der Schule – anders als bei der Beschäftigung mit Erwachsenenliteratur – allerdings keine große Rolle spielt. Dabei kann z. B. ein Vergleich von Geschichten, die im 18. oder 19. Jahrhundert für Kinder geschrieben wurden, mit Beispielen aus der Gegenwartsliteratur ausgesprochen erhellend sein, etwa im Hinblick auf den Wandel der Erziehungsvorstellungen. Vielfältig im Unterricht erprobt ist der Vergleich von älteren und neueren Verfilmungen von Jugendbuchklassikern, z. B. von Kästners Emil und die Detektive (1929). Auch solche Filmvergleiche sind ein Beitrag zur Entwicklung eines literaturhistorischen Bewusstseins.
44 Literarisches Lernen
44.5 Gestaltung im Unterricht Literarisches Lernen erfolgt nicht nur durch direkte Instruktion, sondern auch als implizites Lernen durch das Lesen und Hören von literarischen Texten. So ist es z. B. ein Beitrag zum literarischen Lernen, wenn Lehrpersonen Geschichten vorlesen, wenn Bücherkisten bereitgestellt und wenn Leseprojekte durchgeführt werden. Es ist aber auch sinnvoll, gezielter durch ausgewählte Unterrichtsverfahren einzelne Aspekte des literarischen Lernens zu berücksichtigen. Dies sei an einigen methodischen Möglichkeiten, die sich auf das literarische Lernen beziehen, gezeigt: Für die Entwicklung von Vorstellungen beim Lesen und Hören von literarischen Texten (Aspekt 1) sind insbesondere handlungs- und produktionsorientierte Verfahren hilfreich. Das Verfassen eines inneren Monologes, eines Tagebucheintrags oder eines Briefes einer Figur hält dazu an, sich die innere Verfassung der Figur zu vergegenwärtigen. Durch das szenische Spielen von Situationen aus einem Buch kann eine konkrete Vorstellung von Gestik, Mimik und Sprechweise der Figuren geschaffen werden. Den Blick für stilistische Besonderheiten eines Textes (Aspekt 3) kann man dadurch schärfen, dass man eine Textpassage in Originalfassung und in einer normalsprachlich formulierten Umschreibung vergleichen lässt. In neueren Erzähltexten der Kinder- und Jugendliteratur findet man z. B. oft unvollständige, elliptische Sätze. Das nimmt man meist überhaupt nicht bewusst wahr. Wenn man aber einen Abschnitt probehalber so umformuliert, dass alle Sätze vollständig sind, also immer ein Subjekt und ein Prädikat enthalten, fällt die stilistische Besonderheit im Originaltext auf. Als Beispiel sei die Stelle mit dem dramatischen Höhepunkt in Jutta Richters Hinter dem Bahnhof liegt das Meer (2001) zitiert, in der der Protagonist Neuner merkt, dass ihn sein älterer Freund Kosmos, mit dem er ans Meer reisen wollte, mit dem erworbenen Geld verlassen hat: »Aber Kosmos ist weg. Einfach weg. Abgehauen. Mit dem ganzen Schutzengelgeld! Ans Meer! Allein ans Meer!« (Richter 2008, 56). Für eine Bewusstmachung narrativer Handlungslogik (Aspekt 5) ist in vielen erzählenden Texten eine Untersuchung der Raumstruktur erhellend (s. Kap. 39). Ein Grundmodell erzählender Kinder- und Jugendliteratur besteht darin, dass der jugendliche
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Held aufbricht, die gewohnte Welt verlässt und in anderer Umgebung Abenteuer erlebt. In dieser narrativen Struktur spiegelt sich die wichtigste Entwicklungsaufgabe beim Erwachsenwerden, die als Weg in die Selbstständigkeit bezeichnet werden kann. Man kann im Unterricht von einfachen Fragen ausgehen: Welche wichtigen Orte und Räume kommen im Text vor? Welche Figuren sind welchen Räumen zugeordnet? Was bedeutet es für den Helden, wenn er in andere Räume kommt? Bei verfilmter Kinder- und Jugendliteratur können die Schüler insbesondere auch Beobachtungen zur Lichtführung (helle/dunkle Räume, warmes/kaltes Licht usw.) und der damit verbundenen Raumatmosphäre anstellen. Für die Anbahnung symbolischen Verstehens (Aspekt 7) kann die Untersuchung von Dingsymbolen ergiebig sein. Folgende Fragestellungen führen dahin: Gibt es einen Gegenstand, der immer wieder in der Geschichte eine Rolle spielt? Was bedeutet dieser Gegenstand für die Figuren, die mit ihm in Berührung kommen? In Susan Krellers Roman Schneeriese (2014) ist z. B. die Hollywoodschaukel, in Dirk Kurbjuweits Zweier ohne (2008) das Ruderboot in diesem Sinne ein zentrales Dingsymbol. Primärliteratur
Kästner, Erich: Das doppelte Lottchen [1949]. Hamburg 1311982. Richter, Jutta: Hinter dem Bahnhof liegt das Meer [2001]. München 42008.
Sekundärliteratur
Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung 2 (2015). In: http://leseräume.de/?page_id=308 (1.7.2020). Maiwald, Klaus: Literarisches Lernen als didaktischer Integrationsbegriff. Spinners »Elf Aspekte« als Struktur- und Denkrahmen für weiterführende Modellierung(en). In: Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung 2 (2015), 85–95. In: http://leseräume.de/ wp-content/uploads/2015/10/lr-2015-1-maiwald.pdf (1.7.2020). Mikota, Jana/Oehme, Viola: Literarisches Lernen mit Kinderliteratur (2013). In: http://d-nb.info/105311947X/34 (1.7.2020). Spinner, Kaspar H.: Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch 200 (2006), 6–16. Wolgast, Heinrich: Das Elend unserer Jugendliteratur [1896]. Hamburg 21899.
Kaspar H. Spinner
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VI Didaktik – B Ausgewählte (literatur-)didaktische Konzepte und Methoden
45 Intermediale Lektüre 45.1 Einleitung Die Methode der intermedialen Lektüre (kurz: IML) macht kinderliterarische Medienverbünde zum Lerngegenstand im (Literatur-)Unterricht und setzt für die Herausforderung literarischen und medienästhetischen Lernens auf eine eng verbundene Darbietung und Rezeption der verschiedenen medialen Präsentationsformen einer kinderliterarischen Geschichte. Im Folgenden erfährt der Begriff der ›intermedialen Lektüre‹ zunächst eine Kurzdefinition, im Anschluss werden Ausführungen zum didaktischen Begründungsrahmen gemacht, welche die Entwicklungslinien der Methode verdeutlichen. Abschließend leitet eine strukturbezogene Typologie zur unterrichtspraktischen Realisierung der IML über.
45.2 Begriffsdefinitionen Unter IML versteht man eine medienintegrativ ausgerichtete Methode des Literaturunterrichts für die Grundschule und die frühe Sekundarstufe I. Kern des Lehr-Lern-Arrangements ist die Berücksichtigung von Medienverbünden (s. Kap. 3), die dadurch ausgezeichnet sind, dass kinderliterarische Narrationen mehrfachverwertet als Buch, als Hörspiel und als Film vorliegen. Prosatexte finden hierbei ebenso Berücksichtigung wie Comics und Graphic Novels, Realebenso wie Animationsfilme. Für die Textbegegnungsphasen werden die Einzelmedien so in Abschnitte unterteilt, montiert und den Kindern in mehrfachen Medienwechseln präsentiert, dass sich aus der Zusammenschau dieser Bausteine eine Art intermediales ›Textgewebe‹ in den Köpfen der Kinder ergibt. Textkohärenz entsteht bei der Medienmontage dadurch, dass die Medien sich auf der Geschehensebene überschneiden oder auch ineinander überblenden. Überdies werden Kohärenzbildungsprozesse, die durch inhaltliche und darstellerische Erzähldisparitäten gegebenenfalls erschwert sind, durch Übergangsmoderationen zwischen den Medienwechseln unterstützt. Die in der Präsentationsphase gewonnenen Eindrücke der Kinder werden in schriftlichen und mündlichen Anschlusshandlungen vertieft und reflektiert. Ziel der IML ist die Befähigung zum verstehenden Umgang mit ästhetisch-fiktionalen Narrationen in allen Medien. Empirische Analysen zeigen (vgl. Kruse 2014, 2015, 2018), dass der unter-
richtliche Handlungsrahmen IML die Kinder zu Aktivitäten herausfordert, die • der Entfaltung literarischer Rezeptionskompetenz dienen, • die Kinder aufmerksam werden lassen für medienspezifisches Erzählen, • zu Erkenntnissen aus Medienvergleichsaktivitäten führen, • die Fähigkeit zur Konstitution von Sinn aus hybrider Medienrezeption unterstützen sowie • leseanimatorisch wirken und überdies das Leseverstehen unterstützen.
45.3 Entwicklungslinien und -notwendigkeiten Neben einer Ausrichtung an allgemeiner LiteracyFörderung werden die lernförderlichen Potentiale erstens mit Bezug auf gängige die Deutschdidaktik beeinflussende Modellierungen wie die Aspekte literarischen Lernens von Kaspar H. Spinner (2006; 2015) (s. Kap. 44) und das siebendimensionale Medienkompetenzmodell von Norbert Groeben (2002) begründet. Aufgehoben im übergeordneten Konzept der Medienverbunddidaktik (vgl. Kruse 2014) erklärt sich der Vorschlag zur IML zweitens in grundlegenden kulturanthropologischen (vgl. Bruner 1997) und kultursoziologischen (vgl. Reckwitz 2012) Überlegungen zur Bedeutung des Narrativen für Selbstvergewisserung, Subjektivität und Teilhabe. Für das Ziel einer Befähigung zur elaborierten Rezeption ästhetisch-fiktionaler Narrationen resultiert aus diesen Theorieangeboten die didaktische Notwendigkeit zur Orien tierung an den Praktiken der Geschichtenrezeption, wie sie bei Kindern in mediatisierten Lebenswelten beobachtbar werden. Die anthropologische Perspektive auf erzählende Literatur in allen Medien pointiert die didaktische Maxime der Praktikenorientierung in Lehr- und Lernprozessen: Weil der Mensch fiktionsfähig und -bedürftig ist (vgl. Schlaeger 2008 und literaturdidaktisch zugespitzt Abraham 2015), werden Geschichten rezipiert. Weil Geschichten in verschiedenen medialen Darbietungsformen verfügbar sind, verschaffen sich Kinder Zugang zu ästhetisch-fiktionalen Welten über jene Medien, die ihnen zur Verfügung stehen. Zugleich stehen den Kindern kaum je alle Medien in quantitativ und qualitativ gleichem Ausmaß zur Verfügung. Rezeptive wie produktive Lernprozesse müssen deshalb auf Bildungsausgleich und -gerechtigkeit zielen. Das erklärt die Begrün-
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dung aus einer kultursoziologischen Perspektive: Das Angebot kinderliterarischer Erzählmedien ist groß und geprägt von Prinzipien der Kapitalakkumulation des Marktes, die im Zuge von Verwertungszwängen (auch) Trivialformate von geringer ästhetischer Qualität hervorbringen. Die Aufgabe, Kinder nicht den begrenzten ästhetischen Erfahrungsräumen popularisierter und trivialisierter Formate der Kulturindustrie zu überlassen, fällt auch der Schule zu. Für die didaktische Begründung einer sinnvollen Konzipierung des Umgangs mit ästhetisch-fiktionalen Narrationen im Unterricht setzt die Medienverbunddidaktik auf praxistheoretisch zu beschreibende Übergänge zwischen Vertrautem und Fremdem. Die Ebenen, auf denen subjektiv Vertrautes und Fremdes liegen können, sind inhaltlicher und formaler Art. Das betrifft neben Themen und Motiven vor allem die unterschiedlichen Grade narrativer und ästhetischer Komplexität sowie – ganz basal – die Modalität(en) der im jeweiligen Medium vertretenen Erzählsprache. Was in vorhandenen intermedialen Erfahrungen vertraut oder fremd ist, hängt unmittelbar ab von den jeweiligen kindlichen Praktiken der Geschichtenrezeption. Rezipiert das Kind ästhetisch-fiktionale Geschichten vor allem in Vorlesesituationen? Hört es Hörbücher und Hörspiele? Sieht es fern oder nutzt Filmformate im Internet? Betrachtet es Bilderbücher? Liest es selbst? Nutzt es kinderliterarische Apps? Erspielt es sich seine Geschichten in narrativen Computerspielen? Fragen dieser Art setzen bei der außerschulischen literarischen Sozialisation an, die in Abhängigkeit von ökonomischen Bedingungen sowie von Zeit- und Bildungsressourcen die Geschichtenrezeptionspraktiken von Kindern im Schuleinstiegsalter und darüber hinaus prägt. Die Frage nach den in der Mediensozialisation präferierten Medien ist dominiert von den Komplexitätsgraden der jeweils verfügbaren und manchmal auch bevorzugten Formate. Für das Lernen bedeutend ist nämlich der prägende Zusammenhang zwischen den alltäglichen Praktiken der Geschichtenrezeption und der Bildung von Schemata der ästhetisch-fiktionalen Narrative. Solche Schemata sind kognitionspsychologisch betrachtet die Voraussetzung dafür, dass die Rezipienten die sprachlich je unterschiedlich verfasste Erzählwelt verstehen, in und mit ihr handeln können. Schemabildungen, Scripts und Frames betreffen dabei imaginatives Handeln ebenso wie das tatsächliche und alltägliche Tun der Kinder. Die IML setzt darauf, beide Handlungsdimensionen durch den angeleiteten Umgang mit Literatur in der Schule zu erweitern. Eine
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nicht zu unterschätzende Rolle spielen dabei die Affekte und Emotionen, die durch subjektiv-imaginative Verstrickung mit der erzählten Welt entstehen. Als rezeptionsbegleitende Aktivitäten (im weitesten Sinne Anschlusshandlungen und -kommunikationen) gehören sie praxistheoretisch gesprochen zu den »Attraktoren« (Hillebrandt 2014, 36) der Geschichtenrezeption. Gelingt es, diese Prozesse des Empfindens und Teilens (vgl. Reckwitz 2012, 50–51) an bisher unvertraute Inhalte, Strukturen, Formate und Handlungen zu binden, können sich durch die Begegnung mit dem Neuen sowohl Schemata als auch Praktiken ausbauen und erweitern. Die unterrichtliche Arbeit mit kinderliterarischen Medienverbünden besitzt für die Erweiterung der Schemata deshalb besonderes Potential, weil sie mit ihrer Form- und Inhaltsvielfalt des Erzählens in den Einzelmedien eine erzählerische und ästhetische Diversität zur Verfügung stellen. Genau dies ermöglicht Kindern mit je unterschiedlichen Rezeptionserfahrungen und -gewohnheiten Vertrautes, Gewohntes und damit Wiedererkennbares zu entdecken. Diese alltagsästhetische Dimension narrativer Fiktionalität fundiert auch die inklusive Dimension der Medienverbunddidaktik (vgl. Kruse 2016), weil Zugänge zur Geschichte und Teilhabe an den daran angebundenen Aushandlungsprozessen auf diversen Niveaus möglich sind. Voraussetzungen dafür, dass sich an die Zugänge auch Lernchancen binden, sind Lehr-Lern-Arrangements, in denen die Einzelmedien eines kinderliterarischen Medienverbunds sehr eng zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Methode der IML ist ein Beispiel für ein in diesem Sinne engmaschiges intermediales Präsentationsformat.
45.4 Typologien Die folgende Abbildung gibt einen Überblick über typologische Einheiten der IML, aus denen Planungsschritte und unterrichtsstrukturierende Phasen abgeleitet werden können. Das IML-Schema lässt sich wie folgt erläutern: Zur Präsentationsphase gehören in variabel zu wählender Reihenfolge das Vorlesen des Buches (oder der Bücher), das Vorspielen des Hörspiels (oder der Hörspiele) und das Vorführen des Films (oder der Filme) in kalkuliert vorgenommener Montage von Ausschnitten. Weil eigenes Lesen nicht zur Zugangsbarriere werden soll, werden Selbstleseanteile nicht verbindlich gefordert, wohl aber individualisiert angeregt. Begleitgespräche nach dem bekannt gewordenen
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Abb. 45.1 Typologische Einheiten der intermedialen Lektüre (IML) © Iris Kruse
Muster der sogenannten »Vorlesegespräche« (Spinner 2004) sorgen auch in den Varianten des Hörgesprächs und des Sehgesprächs für Vertiefung der Imagination. Die mit besonderem Lern- und Erfahrungspotential ausgestatteten Medienwechsel werden von Übergangsmoderationen flankiert. Sie machen das Prinzip der Medienmontage transparent, stellen Kohärenzstiftendes heraus und wecken Neugier auf Umsetzungsformen im anderen Medium. Die Möglichkeiten der Montage und der Übergangsmoderationen sind so vielfältig wie die Mediengeschichten selbst. Sie reichen von der einfachsten Variante der handlungsprogressionslogischen Aufeinanderfolge bis hin zu filigraner Verschachtelung. Besondere Funktion für die intermedial verwobenen Rezeptionseindrücke der Kinder haben Szenenwiederholungen in verschiedenen Medien, weil gerade sie den lernwirksamen Vergleich in besonderer Weise herausfordern: • Inhaltliche Disparitäten fordern kognitive Semioseprozesse und interpretative Überlegungen heraus. • Verschiedene Modalitäten, die verglichen und in ihrer Andersartigkeit wahrgenommen werden können, nehmen Wahrnehmungsgewohnheiten auf und sind überdies dazu angetan, Medienvorlieben erkennbar werden zu lassen. Auch fordern sie Einsichten heraus, die sich auf die je besonderen Darstellungsleistungen der jeweiligen Medien und der in ihnen verwendeten Zeichensysteme beziehen. • Die ästhetische Diversität ermöglicht das Wiedererkennen von strukturell Vertrautem und fordert zugleich Übergänge zu Unvertrautem heraus, wodurch Alterität nicht abgewehrt werden muss und ausgehalten werden kann. An die Phase der Geschichtenpräsentation im montierten Medienwechsel schließen sich schriftliche und
mündliche Anschlusshandlungen an: In offener Produktionsorientierung entstehende Transformationen der Rezeptionseindrücke finden Eingang in ein HörLese-Seh-Plakat oder -Heft (vgl. Kruse 2015, 252) und intermediale Lektüregespräche, die dem Grundmuster des offenen literarischen Gesprächs nach dem Heidelberger Modell (vgl. Pädagogische Hochschule Heidelberg 2017) folgen, bieten die Möglichkeit zum Austausch im Dialog. Im Unterschied zum Heidelberger Modell des literarischen Gesprächs bezieht sich das intermediale Lektüregespräch nicht ausschließlich auf einen Schrifttext, sondern auf alle präsentierten Medien und setzt in den Impulsen darauf, dass die Intermedialität der Eindrücke für Erkenntnis, Erfahrung, Reflexion und Interpretation genutzt wird. Schließlich fügen noch die sogenannten Gedankenhöhlenprotokolle dem auf Austausch und Dialog gerichteten Anschlussgespräch eine monologisch ausgerichtete mündliche Anschlusshandlung hinzu. Dieses Verfahren sieht vor, dass die Kinder sich an einen ruhigen Ort zurückziehen und dort rund fünf Minuten lang für sich allein ein Diktiergerät mit sämtlichen Assoziationen besprechen, die ihnen gebunden an die jüngst gemachten Rezeptionserfahrungen durch den Kopf gehen. Losgelöst vom sozialen Anpassungsdruck der Gruppe können die Kinder hier ihrer Affiziertheit von der Geschichte und von den Darstellungsformaten Raum geben. Ähnlich wie bei einem Tagebucheintrag vergewissern sich die Kinder hierbei ihrer eigenen Haltung und ihrer Wahrnehmung. Didaktisch entscheidend hieran ist, dass Gedankenhöhlenäußerungen geschützt sind und nicht in der Öffentlichkeit verhandelt werden müssen. Was hier gedacht und strukturiert wurde, fließt allenfalls indirekt ein in das produktionsorientierte Arbeiten oder in die intermedialen Lektüregespräche. Ebenfalls zu den mündlichen Anschlusshandlungen zu zählen sind die sogenannten Begleitgespräche,
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die zeitlich zwar bereits in der Präsentationsphase angesiedelt sind, die Kinder aber ebenfalls zu rezeptionsvertiefenden und -verarbeitenden Gedankenaktivitäten herausfordern.
45.5 Gestaltung im Unterricht IML werden in größeren Lerngruppen (im Klassenverband) durchgeführt. Zu planen sind für die Lehrperson Sequenzierung und Montage der Medien, Impulssetzungen während der Präsentationen sowie der jeweilige Einstieg in die intermedialen Lektüregespräche. Präsentiert werden die Medien in einem zur Präsentationsfläche hin geöffneten Sitzkreis. Zur Anregung des Austauschs während der Produktionsorientierung empfehlen sich Tischgruppen. Für die Herausforderung eigener Leseaktivitäten ist es nötig, dass die zum Medienverbund gehörenden Bücher für die Kinder zugänglich sind. Die Dauer einer IML hängt ab vom Geschichtenumfang und von der Größe des Medienverbundes. Im Sinne des Involvements ist eine dichte Aufeinanderfolge der zur IML gehörigen Unterrichtseinheiten sinnvoll. Literatur
Abraham, Ulf: Literarisches Lernen in kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung 2/2 (2015), 6–15. Bruner, Jerome: Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns. Heidelberg 1997. Groeben, Norbert: Dimensionen der Medienkompetenz: Deskriptive und normative Aspekte. In: Ders./Bettina Hurrelmann (Hg.): Medienkompetenz. Voraussetzungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim/München 2002, 160–197. Hillebrandt, Frank: Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung. Wiesbaden 2014. Kruse, Iris: Brauchen wir eine Medienverbunddidaktik? Zur
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Funktion kinderliterarischer Medienverbünde im Literaturunterricht der Primar- und frühen Sekundarstufe. In: Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung 1/1 (2014), 1–30. Kruse, Iris: Im Gestöber der Medien entdecken, erfahren und lernen. Kinderliterarische Medienverbünde herausfordernd arrangieren. In: Mechthild Dehn/Daniela Merklinger (Hg.): Erzählen – vorlesen – zum Schmökern anregen. Frankfurt a. M. 2015, 244–257. Kruse, Iris: Kinderliterarische Medienverbünde im inklusiven Literaturunterricht der Grundschule – Mediale Darstellungsvielfalt als Chance für gemeinsame literarästhetische Erfahrungen. In: Daniela A. Frickel/André Kagelmann (Hg.): Der inklusive Blick. Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma. Frankfurt a. M. 2016, 171–191. Kruse, Iris: Literarästhetische Praktiken von Kindern aufnehmen und erweitern. Seriell verfilmte Kinderliteratur in Medienverbund-Arrangements. In: Petra Anders/Petra Wieler (Hg.): Literalität und Partizipation. Reden, Schreiben, Gestalten in und zu Medien. Tübingen 2018, 191– 204. Pädagogische Hochschule Heidelberg: Das Forschungsprojekt »Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs« (2017). In: https://www.ph-heidelberg. de/haerle/forschungsprojekte/literarisches-unterrichts gespraech (22.6.2020). Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 2012. Schlaeger, Jürgen: Literarische Anthropologie. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart 42008, 427–429. Spinner, Kaspar H.: Gesprächseinlagen beim Vorlesen. In: Gerhard Härle/Marcus Steinbrenner (Hg.): Kein endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Gesprächs im Literaturunterricht. Baltmannsweiler 2004, 291–307. Spinner, Kaspar H.: Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch 200 (2006), 6–16. Spinner, Kaspar H.: Elf Aspekte auf dem Prüfstand. Verbirgt sich in den elf Aspekte literarischen Lernens eine Systematik? In: Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung 2/2 (2015), 188–194.
Iris Kruse
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46 Autorenbegegnungen 46.1 Einleitung Begegnungen mit Autoren der Kinder- und Jugendliteratur werden im Folgenden als Teil des kinder- und jugendliterarischen Handlungssystems vorgestellt, in ihren didaktischen Implikationen reflektiert und unterrichtsmethodisch im Hinblick auf ihre Planung und Durchführung konkretisiert.
46.2 Begriffsdefinitionen Autorenbegegnungen sind Phänomene des Literaturbetriebs und Maßnahmen der Lese- und Literaturförderung. In unterschiedlichen Veranstaltungsformaten präsentieren sich Autoren in der Öffentlichkeit, um sich und ihre Werke vorzustellen. Literatur und Autorschaft werden auf diese Weise ›erlebbar‹ – als Events inszeniert, machen diese zumeist auch Werbung für das Lesen. Im Fall von Autoren der Kinder- und Jugendliteratur adressieren Autorenbegegnungen die Zielgruppe der jungen Leser. Sie stellen damit exemplarische Interaktions- und Kommunikationsangebote im Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur dar, die im schulischen Kontext anschlussfähig sind und Kindern und Jugendlichen die Teilhabe an Lesekultur ermöglichen.
46.3 Entwicklungslinien und -notwendigkeiten Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts findet sich bei Heinrich Wolgast die Empfehlung an die Literaten, »die wahre Schönheit der Literatur anregend in die Schulen zu tragen« (Conrady/Wiemer 2008, 30). 1954 erfolgt durch das Engagement von Autoren, Pädagogen, Bibliothekaren, Buchhändlern und Verlegern die Gründung des Friedrich-Bödecker-Kreises e. V. in Hannover, der seither zur Förderung von Autorenbegegnungen in Landesverbänden agiert. Der niedersächsische Pädagoge Friedrich Bödecker, dem der Kreis seinen Namen verdankt, hatte bereits in den 1920er Jahren Kinder- und Jugendbuchautoren in die Schule eingeladen (vgl. Friedrich-BödeckerKreis e. V.). Was zunächst als Erprobung neuer Formen von Literaturvermittlung begann, gehört heute zum gängigen Repertoire schulischer Leseförderung. Autorenbegegnungen zählen zu den leseanimierenden Verfahren, mit denen Lesemotivation auf-
gebaut, Anschlusskommunikationen ermöglicht und nachhaltige literarische Leseerfahrungen gefördert werden sollen (vgl. Nix 2012). Die Untersuchung der Frage »Kann das authentisch erlebbare Ereignis der Autorenbegegnung eine nachhaltig gesteigerte Lesemotivation bewirken?« (Conrady/Wiemer 2008, 32) anhand einer Stichprobe von Schülern der Jahrgangsstufen drei bis acht bestätigt, dass über Autorenbegegnungen das allgemeine Interesse an Kinder- und Jugendliteratur ansteigt, der Spaß am Lesen gefördert und die Lesehäufigkeit angeregt werden. Dass Autorenbegegnungen gelingen, hängt jedoch stark vom Interesse der Lehrenden und entsprechender unterrichtlicher Vor- und Nachbereitung ab (vgl. ebd., 38). Ebenso sind nachhaltige Effekte nur durch kontinuierlich stattfindende Autorenbegegnungen im Rahmen einer vielfältigen schulischen Lesekultur zu erreichen und bedürfen einer Rahmung durch weitere, die Dimension des Leseprozesses betreffende Lesefördermaßnahmen, da bildungsferne Kinder und Heranwachsende nicht voraussetzungslos und nicht in gleicher Weise an solche Angebote der Leseanimation anschließen können.
46.4 Typologien Die Autorenlesung gilt als klassische und häufigste Form der Autorenbegegnung. Zu ihren typischen Bestandteilen gehören der Textvortrag durch den Autor, ein moderiertes Gespräch sowie das Signieren der Bücher. In Anlehnung an Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen (2004) und Gérard Genettes Theorie der Paratexte (1989) erfasst Susan Esmann (2007) die Ästhetik der Autorenlesung, die eine »Rückübersetzung des Schriftlichen in die mündliche Form« (Esmann 2007, 1) darstellt; die Materialität von Autorenlesungen liegt dabei in der Körperlichkeit des Autors, der Lautlichkeit (stimmliche Vortragsweise) und der Räumlichkeit mit ihrer Atmosphäre. Aus dem Zusammenwirken dieser Aspekte entsteht ein unmittelbares und einmaliges performatives Ereignis. Die Bandbreite der dramaturgischen Ausgestaltung von Lesungen ist groß und reicht von Live-Illustrierungen der Figuren, wie sie beispielsweise Paul Maar einbindet, bis zu Mischformen aus arabischer Erzählkunst, Gespräch und Lesung bei Andrea Karimé. Die Auswahl der Textstellen und der Akt des Vorlesens stellen im Sinne von Paratexten eine Erweiterung zum Text in Form öffentlicher Kommunikation dar. Diese performativen Fortschreibungen bieten dem Lesungs-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_46
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publikum zusätzliche Möglichkeiten zum Textverstehen und zur Interpretation. Zahlreiche Autoren der Kinder- und Jugendliteratur halten neben Lesungen auch Schreibwerkstätten ab, mit denen sie Kindern und Jugendlichen Wege in die eigene literarische Produktion eröffnen. Schreibworkshops sind ebenso wie Lesungen Teil des breiten Veranstaltungsspektrums von Literaturfestivals, zu dem des Weiteren Podiumsdiskussionen, Filmvorführungen, Preisverleihungen o. Ä. gehören. Literaturfestivals haben ihr je eigenes thematisches, örtliches und zielgruppenspezifisches Profil. Die Sparte Kinder- und Jugendliteratur spielt beim Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb) eine prominente Rolle, das White Ravens Festival der Internationalen Jugendbibliothek widmet sich ausschließlich Veranstaltungen mit internationalen Autoren der Kinder- und Jugendliteratur, aber auch kleinere regionale Literaturfestivals binden immer wieder kinder- und jugendliterarische Autoren ein. Viele der Veranstaltungen sind dabei für Schulklassen konzipiert, sodass Festivals als außerschulische kulturelle Lernorte Relevanz erhalten, da hier erlebnisorientierte Formen der Rezeption von Literatur und Partizipation am literarischen Leben authentisch erfahrbar werden (zum »Rummelplatzcharakter« von Literaturfestivals vgl. Wegmann 2002, zum Literaturfestival als außerschulischem Lernort vgl. Waczek/Kleinherne 2019). Aktuelle Formen von Autorenbegegnungen, die nicht mehr an die unmittelbare Präsenz eines Autors an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit angebunden sind, finden sich im Literaturbetrieb 2.0. Die Autoren nutzen hierbei die digitalen Möglichkeiten unterschiedlicher Plattformen (Homepage, Blog, Soziale Medien), um sich zu präsentieren und mit der Leserschaft in Kontakt zu treten. Das Web 2.0 gestattet den Lesern ihrerseits, sich in multimediale, interaktive Anschlusskommunikationen einzubinden (vgl. Brendel-Perpina 2019). Die digitale Inszenierung eines Autors auf mehreren Kanälen fungiert als Teil zielgruppenorientierter Vermarktungsstrategien jugendliterarischer Texte, was Iris Schäfer (2014) exemplarisch am Beispiel von Jay Asher und seinem Roman Tote Mädchen lügen nicht (2009) aufzeigt. Buchmarktorientiertes Geschäftsmodell und lesebezogene Kommunikation – an dieser Schnittstelle situieren sich auch die sogenannten Leserunden auf Social Reading-Plattformen, wo sich Lesegemeinschaften bilden, um Text- und Autorenbegegnungen gemeinsam zu gestalten (vgl. Brendel-Perpina 2017, 46). Nicht wenige Autoren der Kinder- und Jugendliteratur wie
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Holly Jane Rahlens, Ursula Poznanski, Kai Meyer, Nils Mohl oder Morton Rhue haben auf der Literaturplattform LovelyBooks bereits aktiv an Leserunden teilgenommen. Das didaktische Potential virtueller Autorenbegegnung besteht darin, dass diese an die digitalen Gewohnheiten Heranwachsender anknüpfen und raum-/zeitunabhängige Kommunikation mit Autoren gestatten. Das darin aufscheinende markt- und medienbezogene Umfeld von Kinder- und Jugendliteratur und die Mitwirkung der Autoren in diesem Feld in den Blick zu nehmen, kann Heranwachsende außerdem zur Beteiligung und kritischen Reflexion dieser neuen kulturellen Praxen anleiten.
46.5 Didaktisch-methodische Überlegungen Social-Reading-Aktivitäten im Umgang mit Texten und Autoren der Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Pretzel/Schütte 2013) haben bislang wenig Eingang in Unterrichtsmodelle gefunden. Gängig ist dagegen, u. a. durch die Vermittlungsbemühungen des BödeckerKreises, die Thematisierung organisatorischer Aspekte, die Lehrkräfte bei der Vorbereitung und Durchführung von Autorenbegegnungen zu beachten haben. Der eigentliche Vermittlungsprozess zwischen Autor und Schülerschaft sollte, wenngleich die Lesung selbst eine ›Frontalanimation‹ darstellt, den Schülern Beteiligungsmöglichkeiten eröffnen, die aus dem Unterricht hervorgehen bzw. in diesen zurückfließen. Dazu gehören die Vorstellung des Autors, die Moderation des Gesprächs sowie die Produktion von Texten der Öffentlichkeitsarbeit zur Lesung (vgl. Nix 2012, 44). Zur Bewerbung der Lesung bietet sich eine thematische Begleitausstellung an, für die Leseplakate, Leserollen und Lesekisten zu von den Schülern gewählten Büchern gestaltet werden und die während der Veranstaltung zur Kommunikation zwischen dem Publikum und dem Autor anregt (vgl. ebd., 44–45). Auf welche Weise Autorenbegegnungen noch stärker literarisch-ästhetische Lernprozesse unterstützen können, dokumentiert Iris Kruse (2016) am Beispiel der Begegnung von Grundschülern mit Paul Maar im Rahmen der Paderborner Kinderliteraturtage. Die dreiteilige Anlage des Konzepts stützt sich auf eine Bücherschau mit Anregungscharakter, bei welcher die Kinder Einblick in verschiedene Werke des Autors erhalten. In einer zweiten Phase nähern sich die Schüler der kulturellen Praxis von Literaturschaffenden an
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und setzen sich selbst dazu imaginativ in Beziehung: »wie es sich [...] anfühlen würde, ein so berühmter Schriftsteller/eine so berühmte Schriftstellerin zu sein« (Kruse 2016, 313). Im Anschluss daran wird die Entwicklung eigener literarischer Figuren durch malende und schreibende Produktion der Schüler angeleitet. Auf dieser Grundlage und im Hinblick auf die anstehende Autorenbegegnung lassen sich schließlich Fragen an den Autor ableiten, welche die Schüler formulieren und während der Lesung stellen. Außerdem können Schüler der Sekundarstufen I und II im Zusammenhang von Autorenbegegnungen Einblick in poetologische Überlegungen von Schriftstellern der Gegenwart erlangen und so unterschiedliche kinder- und jugendliterarische Autorkonzepte kennen lernen (vgl. Franz/Lange/Payrhuber u. a. 2001). Dazu zählen nicht zuletzt auch die medialen Diskurse um die (Selbst-)Positionierung der Autoren auf dem Markt der Kinder- und Jugendliteratur. Textsammlungen wie zu Andreas Steinhöfel (2009) oder das Werkstattbuch Mirjam Pressler (2001) bieten beispielhaft eine anregende Auswahl weiterer Paratexte zur Auseinandersetzung mit dem Autor und seinem Werk: Briefwechsel, Laudationes, Interviews, Leserbriefe, Rezensionen, Coverabbildungen usw. Das Recherchieren, Sammeln und Auswerten solcher Materialien, die vielfach im Internet leicht zugänglich sind und im Rahmen der Schulöffentlichkeit präsentiert werden können, ermöglicht den Schülern eine Teilhabeoption, die der kulturellen Praxis Autorenbe gegnung außerhalb der Schule entlehnt ist und in diesem Anschluss die schulische Lesekultur bereichert. Literatur
Brendel-Perpina, Ina: Literaturbetrieb live! Event-Formate der kulturellen Praxis Literatur. In: kjl&m 17.3 (2017), 42–48. Brendel-Perpina, Ina: Literarische Wertung als kulturelle Praxis. Kritik, Urteilsbildung und die digitalen Medien im Deutschunterricht. Bamberg 2019. DOI: dx.doi.org/10. 20378/irbo-54782.
Conrady, Peter/Wiemer, Yvonne: Wie wirken sich Autorenbegegnungen auf Lesemotivation und Leseverhalten aus? Eine empirische Untersuchung. In: Bundesverband der Friedrich-Bödecker-Kreise/Peter Conrady (Hg.): Lebendige Literatur. Handreichungen für Autorenbegegnungen mit Kindern und Jugendlichen. Braunschweig 2008, 30–57. Esmann, Susan: Die Autorenlesung – eine Form der Literaturvermittlung. In: Kritische Ausgabe, Sommer 2007, http://www.kritische-ausgabe.de/hefte/werkstatt/esmann. pdf (13.10.2019). Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004. Franz, Kurt/Lange, Günter/Payrhuber, Franz-Josef/Pleticha, Heinrich (Hg.): Mein erstes Manuskript: 60 Kinder- und Jugendbuchautoren erzählen von ihren ersten Schreiberfahrungen. Baltmannsweiler 2001. Friedrich-Bödecker-Kreis e. V.: Aufgaben & Ziele. In: http:// boedecker-kreis.de/bundesverband/aufgaben-und-ziele (13.6.2020). Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M./New York 1992. Kruse, Iris: Gut vorbereitet in eine Autorenbegegnung. Kinder aus Paderborner Grundschulklassen befragen Paul Maar. In: Petra Josting/Iris Kruse (Hg.): Paul Maar. Bielefelder Poet in Residence 2015. Paderborner Kinderliteraturtrage 2016. München 2016, 311–319. Nix, Daniel: Autoren lesen – Schüler vermitteln. In: Praxis Deutsch 231 (2012), 42–48. Pretzel, Eva/Schütte, Ulrike: Social Reading – »Es war einmal Indianerland« im Internet. In: Deutschunterricht 3 (2013), 50–53. Schäfer, Iris: Kinder- und Jugendkulturen im Netz. In: Gina Weinkauff/Ute Dettmar/Thomas Möbius/Ingrid Tomkowiak (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur in Medienkontexten. Adaption – Hybridisierung – Intermedialität – Konvergenz. Frankfurt a. M. 2014, 253–265. Waczek, Anna/Kleinherne, Michael: Literaturfestivals. In: Dieter Wrobel/Christine Ott (Hg.): Außerschulische Lernorte für den Deutschunterricht. Anschlüsse – Zugänge – Kompetenzerwerb. Seelze 2019, 98–100. Wegmann, Thomas: Zwischen Gottesdienst und Rummelplatz. Das Literaturfestival als Teil der Eventkultur. In: Ehrhard Schütz/Thomas Wegmann (Hg.): literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing. Berlin 2002, 121–136.
Ina Brendel-Perpina
47 Kinder- und jugendmediale Perspektiven ›Digitalen Geschichtenerzählens‹
47 Kinder- und jugendmediale Perspektiven ›Digitalen Geschichtenerzählens‹ 47.1 Einleitung Unter den Begriff des ›Digitalen Geschichtenerzählens‹ im weiteren Sinn können sämtliche Formen genuin computer- und webbasierter Narration (Hypertextliteratur) bis hin zu digitalen Adaptionen analoger Texte subsumiert werden. Unter ›Digitalem Geschichtenerzählen‹ im engeren Sinn wird hier eine spezifische, in den weiteren Zusammenhang einer bereits 2012 von der Kultusministerkonferenz (in ihrem Positionspapier ›Medienbildung in der Schule‹) stark gemachten Mediendidaktik Deutsch einzuordnende, handlungs- und produktionsorientierte Methode verstanden, durch die filmisches und digitales Lernen gefördert und kinder- und jugendmediale Werke didaktisch profiliert werden können. Die computerbasierte Narrations- und Dokumentationsmethode des ›Digitalen Geschichtenerzählens‹ (im amerikanischen Original Digital Storytelling), die sich in etwa für Schüler ab dem Ende der Grundschulzeit eignet, basiert auf filmsprachlichem bzw. literarischem Grundwissen bzw. sie eignet sich, um solches Wissen zu erwerben und zu vertiefen. Somit bietet sie sich für einen fächerübergreifenden Unterricht insbesondere im Verbund mit Kunst und Musik an. Sie eignet sich zudem für Binnendifferenzierungen, was unter den Vorzeichen der Inklusion von besonderer Bedeutung ist (vgl. Frickel/Kagelmann 2016; Frickel et al. 2020). Darüber hinaus ist die Methode anschlussfähig an die (digitale) Lebenswelt Heranwachsender (vgl. KIM 2018 und JIM 2019) und unterstützt eine mediale Öffnung des Deutschunterrichts für neue Praxen des Lehrens und Lernens (vgl. Frederking/ Krommer/Maiwald 2012 und Wampfler 2017) von/ durch/mit Literatur in einer sich zusehends digitalisierenden (Schüler-)Kultur, ohne dabei das Ziel literarischen Lernens aus den Augen zu verlieren. Dabei bedarf das ›Digitale Geschichtenerzählen‹, wie alle handlungs- und produktionsorientierten Methoden, einer analytischen Flankierung; für Leistungsmessungen eignet es sich nicht oder nur sehr bedingt.
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47.2 Begriffsdefinitionen In Anlehnung an Walter Benjamin kann zunächst gesagt werden, dass in der Fotografie nicht nur der Tonfilm verborgen ist (vgl. Benjamin 1935/2002, 353), sondern auch die ›Digitale Geschichte‹ im engeren Sinn. Insofern wird das ›Digitale Geschichtenerzählen‹ als symmediale Adaption und Erweiterung des Fotoromans verstanden: Symmedialität bezeichnet im Unterschied zur Multimedialität »das komplementäre Aufeinanderbezogensein unterschiedlicher medialer Präsentations- und Rezeptionsformen« (Frederking 2006, 208) und geht also über die ›bloße‹ Kombination konventionell als distinkt wahrgenommener Medien hinaus (vgl. zur Intermedialität Rajewski 2002, 11–14). Konkret handelt es sich bei einer ›Digitalen Geschichte‹ um ein Narrationsformat, in dem mittels eines Computers oder Smartphones digitale Fotografien (Einstellungen) durch den Einsatz eines Schnittprogramms chronologisch und kausal zu einer Geschichte verknüpft werden. Diese visuelle Erzählebene wird durch mündliche und schriftliche Sprache (Figurenrede/Dialoge und Kommentare), Musik sowie Atmo (atmosphärischer Ton) komplementiert. Vom Film unterscheidet sich die ›Digitale Geschichte‹ also vor allem dadurch, dass sie auf der Bildebene mit Einzeldarstellungen operiert, d. h. kein visuelles Kontinuum erzeugt. Dieser Unterschied markiert zugleich ihren zentralen didaktischen Vorteil: Die Methode zeitigt bei vergleichsweise geringem Aufwand sehr schnell vorzeigbare Ergebnisse. Insofern macht sie auch den unterrichtlichen Weg frei für audiovisuelle Adaptionen von kinder- und jugendliterarischen Werken (Literaturverfilmungen). Darüber hinaus trägt sie in einem übergreifenden Sinn zum Erwerb von Medienkompetenz bei.
47.3 Entwicklungslinien und -notwendigkeiten Von der ›Digitalen Geschichte‹ ist die beispielsweise in online-journalistischen Kontexten anzutreffende Audio-Slideshow zu unterscheiden, die sich – abgesehen von Kontextmarkierungen und neben der Unterscheidung von Erzählen und Berichten – durch den ontologischen Status des Materials definiert: AudioSlideshows sind eine Form der digitalen faktualen Dokumentation; wird hingegen Fiktives symmedial erzählt, handelt es sich um eine ›Digitale Geschichte‹. In Anlehnung an Ulf Abrahams Terminologie des
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_47
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VI Didaktik – B Ausgewählte (literatur-)didaktische Konzepte und Methoden
Schreibens im Literaturunterricht kann man von der ›Digitalen Geschichte‹ als poetischem und von der Audio-Slideshow als rhetorischem (und für Sachdarstellungen anschlussfähigem) Format sprechen (vgl. Abraham 2006, 114–116). Entscheidend für die heute praktizierte Form des ›Digitalen Geschichtenerzählens‹ ist ein Langzeitprojekt aus den USA: Die spezifische Form wurde von Joe Lambert und seinen Mitstreitern vom Center for Digital Storytelling in Berkeley Anfang der 1990er Jahre geprägt (vgl. http://www.storycenter.org). Ihre Methode explizieren sie in einem leicht verständlichen Cookbook; dabei gehen sie von sieben gestalterischdramaturgischen ›Zutaten für das Kochen einer digitalen Erzählmahlzeit‹ aus, die den Kern für die folgenden deutschdidaktischen Transformationen bieten: 1. Owning Your Insights (A Point of View & A Dramatic Question) / 2. Owning Your Emotions (Emotional Content) / 3. Finding the Moment / 4. Seeing Your Story / 5. Hearing Your Story (The Gift of Your Voice & The Power of the Soundtrack) / 6. Assembling Your Story (Pacing & Economy) / 7. Sharing Your Story (Lambert 2010).
47.4 Typologien und Gestaltung im Unterricht Für die schulische Handhabbarkeit ist von besonderem praktischen Interesse, dass das Grundkonzept symmedialen digitalen Erzählens den Schülern aus der ›digitalen Alltagswelt‹ bekannt ist; das gilt insbesondere für den Einbezug des Smartphones und den Bezug zur Musik. Momentan finden sich auf YouTube ungefähr 14 Millionen Treffer zum Stichwort Digital Story (wobei das Ergebnis nicht trennscharf ist). Unterrichtsstrukturell ist von Bedeutung, dass beim ›Digitalen Geschichtenerzählen‹, ähnlich (wenn auch weniger komplex) wie beim Kollektivkunstwerk Film, arbeitsteilige und zur Differenzierung einladende Konzeptionierungen naheliegen: Regie, Storyboarding, Kamera, Musik/ Ton, Licht, Schnitt/Montage, Kulisse, Kostümbild, Maske – Schauspielern. Der im Folgenden skizzierte Produktionsprozess gliedert sich in zehn Schritte, wobei in der praktischen Arbeit Elemente zusammenfallen können. Im Unterschied zu dem sozialpädagogischen Konzept von Lambert und Co., deren Digital Stories auf einschneidenden persönlichen Erlebnissen beruhen oder zu weiter gefassten deutschdidaktischen Adaptionen, auf denen diese Überlegungen basieren (vgl. Kagelmann
2014), wird hier der (fragmentarisch/transformative) produktions- und handlungsorientierte Umgang mit Werken der Kinder- und Jugendliteratur fokussiert (vgl. dazu grundlegend Haas/Menzel/Spinner 2000). 1) Konstitution und Rahmung Die Schüler sollten (zunächst) nicht allein, sondern in Kleingruppen arbeiten. In höheren Klassenstufen und mit einiger Erfahrung können dann auch kürzere Einzelprojekte erarbeitet werden. Die ersten konzipierten Geschichten sollten vom Umfang zudem klar begrenzt sein, um eine bloße Aneinanderreihung von Bildmaterial (Pseudotexte) zu verhindern und daher in etwa einen Umfang von 60 bis 90 Sekunden haben (10 bis 20 Bilder). Das zur Verfügung stehende Zeitfenster sollte in etwa zehn Schulstunden umfassen und grundlegende filmsprachliche und filmanalytische Fragestellungen müssen im Erarbeitungsprozess berücksichtigt werden. 2) Ideenfindung und Exposé oder Inhaltsangabe Nach der Ideenfindung auf der Grundlage einer kinder- und jugendliterarischen Vorgabe verfassen die Schüler Exposés (oder ggfs. einfacher zu realisierende Inhaltsangaben) zu ihren Projekten, wobei es darum geht, dass Einfälle konkretisiert und (möglichst) intersubjektiv nachvollziehbar werden. Die Lernenden können dabei gehalten sein, auch Sekundärliteratur in den Erarbeitungsprozess einfließen zu lassen. Umgekehrt können z. B. auch Inhaltsangaben von Primärwerken im Rahmen einer Audio-Slideshow abgefasst oder Analysen zusammengefasst werden. 3) Erstellen einer Log Line Ein wichtiges Hilfsmittel beim Ausarbeiten der Idee kann das Erstellen einer sogenannten Log Line sein. Dabei handelt es sich um die möglichst in einen Satz zusammengefasste Essenz einer Geschichte: »Romeo and Julia on a boat« – das war die Log Line von Titanic (Cameron engl. 1997; dt. 1998), die vereinfachend auch durch eine stark gekürzte Inhaltsangabe ersetzt werden kann. 4) Storyboarding Das Storyboard beinhaltet einen skizzenhaften Aufriss der Einzeleinstellungen sowie Anmerkungen zur Kameraarbeit, zur Sprache und zum Ton/zur Musik; in
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ihm werden also einerseits das ›Was‹ (Story) und ›Wie‹ (Plot) der Geschichte bereits zusammengeführt; deshalb können mit diesem Produktionsschritt besonders gut Prozesse analytischen literarischen Lernens initiiert werden. Andererseits handelt es sich nur um eine vorläufige Skizze, die als Basis für den weiteren Produktionsprozess benutzt wird und von der abgewichen werden darf. 5) Pitchen, Kritik und Überarbeitung Exposé und Log Line bzw. Inhaltsangabe(n) sowie Storyboard bilden die Grundlage für eine Präsentation der eigenen ›Digitalen Geschichte‹ im Klassenverband. Das Pitchen, also das ›Verkaufen‹ der Idee zielt darauf, die Mitschüler für die eigene Geschichte zu begeistern, aber auch darauf, eine Rückmeldung in Bezug auf Ungereimtheiten oder Schwachstellen zu erhalten (Originalität/Plausibilität, Umsetzung etc.). 6) Bildrealisation Die Erarbeitung des Bildmaterials sollte durch grundlegende theoretische und praktische Hinweise flankiert werden, damit die Schüler Bilder bewusst zu gestalten lernen (z. B. in Bezug auf Bildaufteilungen, Einstellungsgrößen, Perspektiven, Beleuchtung). Dabei ist zu beachten, dass die Fotos mit möglichst hoher Auflösung und im Querformat aufgenommen werden, um beim Abspielen Kaschierungen zu vermeiden. Benötigt man hingegen Bilder, die man selbst nicht herstellen kann (z. B. von tropischen Stränden), so bietet die Website creativecommons.org eine gute kostenfreie Anlaufstelle. 7) Tonfindung: Sprache, Musik und Atmo Komplementär zur visuellen Narration ist die auditive vorzubereiten. In Bezug auf die Verwendung von gesprochener und Schriftsprache ist generell zu beachten, dass die Text-Bild-Schere (in der Regel) nicht ganz offen oder ganz geschlossen sein sollte, dass also Informationen auf der Bild- und Tonebene weder redundant noch arbiträr sind. Da die Figuren- und Erzählerreden am besten mit schriftlicher Aus- und Überarbeitung zu realisieren sind, ergeben sich aus deutschdidaktischer Sicht zahlreiche Anknüpfungspunkte an literarisches Lernen sowie kreatives Schreiben. Wenn Schüler sich hingegen für das Format einer Audio-Slideshow entscheiden, dann ist eine (allerdings zeitaufwändige) ›Erarbeitung‹ von O-Tönen die
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beste Lösung. Für die Bearbeitung der Tonspur(en) stehen zahlreiche Programme zur Verfügung, kostenfrei z. B. Audacity. 8) Symmediale Montage Die Montage der einzelnen Elemente erfolgt über Schnittprogramme, die kostenfrei in recht guter Qualität erhältlich sind, z. B. der Windows Movie Maker, iMovie oder über Apps für Smartphones wie z. B. Pics2Mov oder Adobe Slate/Post. Was die Komplexität der Montageformen anbelangt, so kann in der Schule zunächst ganz einfach mit der binären Unterscheidung von episch und konstruktivistisch gearbeitet werden (vgl. Staiger 2008, 14–15). Genauso genügt bei den Einstellungsgrößen die Dreiteilung in long und medium shots sowie close ups. 9) Erstellen eines Vor- und Abspanns, Finalisierung Gerahmt wird die ›Digitale Geschichte‹ durch einen wiederum mit dem Schnittprogramm zu erstellenden Vor- und Abspann; dieser Produktionsschritt ist ebenfalls anschlussfähig an rhetorische und poetische Schreibverfahren. Schließlich wird die Datei (abhängig von der verwendeten Software) in ein exportfähiges Format konvertiert und extern gesichert. 10) Erste Vorführung, Kritik und Überarbeitung sowie Veröffentlichung Einen wichtigen Aspekt in diesem Prozess stellt das gemeinsame Anschauen der ›Digitalen Geschichten‹ dar; dies sollte im Rahmen einer ›Kinosimulation‹ erfolgen: Der Spaß an den eigenen Geschichten und die Würdigung der kreativen Leistung stehen im Vordergrund. Die auf der Kenntnis eines verantwortungsvollen Umgangs mit Social Media (vgl. Wampfler 2017, 152–154) basierende Veröffentlichung der ›Digitalen Geschichte‹ im Internet bzw. im Intranet der Schule schließt die Arbeiten ab. Literatur
Abraham, Ulf: Lesen – Schreiben – Vorlesen/Vortragen. In: Klaus-Michael Bogdal/Hermann Korte (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München 42006, 105–119. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Detlev Schöttker (Hg.): Walter Benjamin: Medienästhetische Schriften (stw. 1601). Frankfurt a. M. 2002, 351–383. Frederking, Volker: Symmedialität und Synästhetik. Begriff-
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liche Schneisen im medialen Paradigmenwechsel und ihre filmischen Implikationen am Beispiel von Erich Kästners Emil und die Detektive. In: Ders. (Hg.): Filmdidaktik und Filmästhetik. Jahrbuch Medien im Deutschunterricht 2005. München 2006, 204–229. Frederking, Volker/Krommer, Axel/Maiwald, Klaus: Mediendidaktik Deutsch. Eine Einführung (Grundlagen der Germanistik; 44). Neu bearb. und erw. Aufl. Berlin 22012. Frickel, Daniela A./Kagelmann, Andre (Hg.): Der inklusive Blick. Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma (Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik; 33). Frankfurt a. M. u. a. 2016. Frickel, Daniela A./Glasenapp, Gabriele von/Kagelmann, Andre/Seidler, Andreas: Kinder- und Jugendmedien im inklusiven Blick. Analytische und didaktische Perspektiven (Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik; 119). Frankfurt a. M. u. a. 2020. Haas, Gerhard/Menzel, Wolfgang/Spinner, Kaspar H.: Handlungs- und produktionsorientierter Unterricht. In: Praxis Deutsch Sonderheft 2000, 7–15. Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Aktualisierte und erw. Aufl. (Sammlung Metzler; 277). Stuttgart/Weimar 52012. Kagelmann, Andre: Digitales Geschichtenerzählen im Deutschunterricht. Didaktische Perspektiven einer innovativen Methode audio-visueller Narration. In: Der Deutschunterricht 3 (2014), 88–93.
Lambert, Joe (Hg.): Digital Storytelling Cookbook. San Francisco 2010. Lambert, Joe: Digital Storytelling. Capturing Lives, Creating Community. New York 42013. Medienbildung in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 8.3.2012. In: http://www.kmk.org/ bildung-schule/allgemeine-bildung/faecher-undunterrichtsinhalte/weitere-unterrichtsinhalte/ medienbildung-in-der-schule.html (1.7.2020). Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.): Kim-Studie 2018. Kindheit, Internet, Medien. Basisuntersuchungen zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland. Stuttgart 2018. Medienpädagogischer Forschungsverband Südwest (Hg.): Jim-Studie 2019. Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisuntersuchungen zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Stuttgart 2019. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität (UTB 2261). Tübingen/ Basel 2002. Staiger, Michael: Filmanalyse – ein Kompendium. In: Der Deutschunterricht 3 (2008), 8–18. Wampfler, Philippe. Digitaler Deutschunterricht. Neue Medien produktiv einsetzen. Göttingen 2017. http://www.creativecommons.org (1.7.2020). http://www.storycenter.org (1.7.2020).
Andre Kagelmann
48 Sprachsensibles Unterrichten mit Kinder- und Jugendliteratur in inklusiven Lerngruppen
48 Sprachsensibles Unterrichten mit Kinder- und Jugendliteratur in inklusiven Lerngruppen 48.1 Einleitung Durch die aktuellen Migrationsbewegungen stehen Konzepte sprachsensiblen Unterrichtens in allen Fächern immer stärker im Zentrum der didaktischen Diskussion – dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass es auch im Fachunterricht die sprachlichen Voraussetzungen der Schüler (mit und ohne Migrationshintergrund, einsprachig und mehrsprachig) sind, die fachliche Lernprozesse jeglicher Art maßgeblich bestimmen (s. Kap. 45). Von Heterogenität geprägt sind Schulklassen aber nicht nur im Hinblick auf die sprachlichen Voraussetzungen der Schüler, sondern auch in Bezug auf sozial-ökonomische Ungleichheit, Geschlecht, Migrationserfahrungen, Behinderung bzw. sonderpädagogischen Förderbedarf (vgl. Sturm 2016, 65). Seit der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 und dem damit einhergehenden Ausbaus des Schulsystems in Richtung Inklusion (vgl. Ellger-Rüttgardt 2016) geraten auch in der Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) zunehmend solche Konzepte in den Blick, die explizit auf inklusive Lerngruppen zugeschnitten sind. Dieser Beitrag zeichnet die Grundbegriffe der Debatte um sprachsensiblen Unterricht mit KJL in inklusiven Lerngruppen in Grundzügen nach, referiert entsprechende fachdidaktische Vorschläge und skizziert Möglichkeiten zur Umsetzung.
48.2 Begriffsdefinitionen Geprägt wurde der Begriff des sprachsensiblen Fachunterrichts durch den Physikdidaktiker Josef Leisen, demzufolge das fachliche Lernen nicht vom sprachlichen Lernen zu trennen ist und der für einen bewussten Umgang mit Sprache in allen Fächern eintritt (vgl. Leisen 2011, 17–18). Vor diesem Hintergrund bezeichnet sprachsensibler Umgang mit KJL eine unterrichtliche Auseinandersetzung mit kinder- und jugendliterarischen Texten und Medien im Literaturunterricht, die sowohl die Dispositionen der Lerner im Hinblick auf deren sprachliche Kompetenzen als auch die sprachlichen Beschaffenheiten und Strukturen der Texte explizit fokussiert und in Bezug auf die Möglichkei-
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ten, sprachliche Lernprozesse zu initiieren, hin reflektiert.
48.3 Typologien Die Debatte um sprachsensibles Unterrichten lässt sich anhand folgender den Abschnitt strukturierender Aspekte nachzeichnen: Sprachaufmerksamkeit, Bildungssprache, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Mehrsprachigkeit und vereinfachte Texte für den Literaturunterricht. Sprachaufmerksamkeit wird hier mit Jakob Ossner (1989, 30) als »Wechsel der Blickrichtung von der Inhaltsebene« der Sprache »auf die Ebene der sprachlichen Mittel« verstanden (vgl. zur Differenzierung verwandter Begriffe wie ›Sprachbewusstheit‹ und ›Sprachbewusstsein‹ Topalovic 2015). »Bildungssprache ist die Sprache, die vorrangig im Bildungsbereich vorkommt und deren Beherrschung zur Teilhabe an der Bildung erforderlich ist. Sie beschreibt zudem die schulbezogenen kognitiven Sprachkenntnisse, die im kognitiv akademischen Bereich gebraucht werden« (Leisen 2011, 7). Sie zeichnet sich auf der Ebene der Lexik aus durch: • fachsprachliche Ausdrücke, • Komposita (Nominalisierungen, konditionale und modale (satzverbindende) Adjektive und Adverbien), • im Bereich der Grammatik auf Satz- und Textebene durch Passivkonstruktionen, komplexe Adverbiale und Attribute, • Partizipialattribute, explizite Konnexionen mit spezifischen semantischen Effekten, • Funktionsverbgefüge und Nominalisierungsverbgefüge sowie • Modalverben und Modalisierungen (vgl. Wildemann/Fornol 2016, 115; Feilke 2012). Schüler, die in bildungsfernen Umgebungen aufwachsen, kommen häufig erst in der Schule mit der Bildungssprache in Berührung und müssen diese erst (verstehen) lernen. Konsens besteht darin, dass die Rezeption literarischer Texte hilfreich für den Erwerb der Bildungssprache ist; das gilt sowohl für das Vorlesen und gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern in der Vor- und Grundschule als auch für das Vorlesen umfänglicher kinderliterarischer Texte in weiterführenden Schulen. Die Begegnung mit der ›Literatursprache‹, die sich zumeist bildungssprachlicher Wendungen und Formulierungen bedient, wirkt sich positiv auf Textmusterwissen und die Kenntnis narrati-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2_48
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ver Strukturen aus, die wiederum nötig sind für die Ausbildung von Erzählfähigkeiten (vgl. z. B. Birkle 2011). Eng mit der Bildungssprache verbunden ist der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, der den Schulanfang kennzeichnet. Die Bildungssprache ist eine schriftlich geformte Sprache, die strukturell an konzeptionelle Schriftlichkeit gebunden ist, während die gesprochene Sprache auf der Flüchtigkeit mündlicher Kommunikation basiert (vgl. im Einzelnen Koch/Österreicher 1985). Aber Kinder bringen nicht nur unterschiedliche bildungssprachliche Kenntnisse mit, sondern auch unterschiedliche Muttersprachen. Deutschdidaktischer Konsens besteht darin, dass auch die mitgebrachten Lernersprachen im Sinne einer ›durchgängigen Sprachbildung‹ von Anfang an berücksichtigt werden müssen. Die Frage aber, wie sich der von Ingrid Gogolin schon 2008 monierte monolinguale Habitus des Deutschunterrichts auflösen lässt, ist noch längst nicht abschließend beantwortet. Eine Möglichkeit des sprachsensiblen Unterrichtens besteht im Einsatz von mehrsprachiger Kinderliteratur. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen additiver und integrativer mehrsprachiger Kinderliteratur (vgl. Mikota 2016, 8 in Anlehnung an Eder 2009). Als additiv mehrsprachig einordnen lässt sich ein Text dann, wenn er in einem Buch in mehreren Sprachen auftaucht, meistens zwei, etwa Deutsch/Türkisch, Deutsch/Arabisch oder Deutsch/Spanisch, während bei integrativer mehrsprachiger Literatur Sprachen miteinander kombiniert werden, etwa wenn Figuren unterschiedliche Sprachen sprechen und die Figurenrede entsprechend sprachlich gestaltet ist. Laut Jana Mikota dominieren auf dem deutschen Buchmarkt solche mehrsprachigen Bücher, die zunächst in einsprachiger Fassung vorlagen und in eine andere Sprache übersetzt wurden, sodass der Text sich nun in zwei Sprachen in einem Buch findet. Das gilt vor allem für Bilder- und Erstlesebücher (vgl. ebd., z. B. Die freche Ampel / El semáforo travieso (2008) von Aytül Akal). Wenngleich es sich hier vielfach um einfach erzählte Alltagsgeschichten handelt, eignen sich solche Bücher für einen Literaturunterricht, der offen ist für die Integration mitgebrachter Lernersprachen, z. B. in Form von Eltern-Kind-Leseprojekten, wie es Sarah Fornol und Handan Budumlu (2017) vorschlagen. Speziell zur Differenzierung im Literaturunterricht konzipiert sind die sogenannten vereinfachten Texte, in denen sich literarische Texte in vereinfachter Sprache finden, häufig auch kombiniert mit konkreten Aufgaben für die Bearbeitung im Unterricht (z. B. die
Reihe einfach lesen aus dem Cornelsen Verlag). Zu den vereinfachten Schullektüren gehören meist sprachlich reduzierte Klassiker, wie etwa Eine Woche voller Samstage (2002) von Paul Maar oder Die Wilden Hühner (2007) von Cornelia Funke. Das Problem dieser Texte in vereinfachter Sprache besteht darin, dass die Komplexitätsreduktion häufig mit einer Auflösung des literarästhetischen Gehalts der Texte einhergeht. Oft sind diese derart gekürzt, dass sie einer Vergegenwärtigung des literarischen Handlungsraumes und seinem Figurenarsenal entgegenstehen. Literarisches Lernen im Sinne Kaspar Spinners (s. Kap. 44) erscheint mit diesen Fassungen kaum möglich (vgl. dazu ausführlicher Kruse 2016: Becker 2016, 10–12). Sprach- und Literaturdidaktik bemühen sich derzeit darum, sowohl die in den vereinfachten Lektüren genutzte Sprache analytisch zu beschreiben als auch deren Potentiale für den (inklusiven) Literaturunterricht auszuloten (vgl. Brüggemann/Mesch 2020). Inklusion Zwischen der in den Bildungsstandards implementierten Standardisierung des Unterrichts und den aktuellen Bemühungen um die Konzeption eines inklusiven Unterrichts besteht ein deutliches Spannungsverhältnis. Dabei ist festzuhalten, dass die deutschdidaktische Diskussion um Inklusion sich noch in den Anfängen befindet und erst einige wenige theoretische Beiträge und unterrichtspraktische Vorschläge vorliegen (vgl. z. B. Hennies/Ritter 2014; Frickel/Kagelmann 2016). »Ein Grund für die relative Sprach- und Konzeptlosigkeit mag darin liegen«, so schreiben Tilman von Brand und Anja Pompe, »dass die 2008/2009 vom Deutschen Bundestag und Bundesrat ratifizierte Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung erheblich mit der 2003 durch die Kultusministerkonferenz beschlossenen Erarbeitung nationaler Bildungsstandards kollidiert« (von Brand/Pompe 2015, 29). Als grundsätzliches Problem benennen sie, »dass die Bildungsstandards in der jetzigen Form als neuer Maßstab für schulisches Wirken mit Bestrebungen, die auf eine ›Schule für alle‹ hinauslaufen, in der Zielperspektive unvereinbar sind« (ebd., 30). Die Deutschdidaktik sei demnach aufgefordert, das Verhältnis von Individualisierung und Generalisierung auszuloten. Einen ersten Versuch der theoretischen Modellierung nehmen Nadine Naugk, Alexandra Ritter, Michael Ritter u. a. mit einer Konzeption für Deutschunterricht in der inklusiven Grundschule (2016) vor.
48 Sprachsensibles Unterrichten mit Kinder- und Jugendliteratur in inklusiven Lerngruppen
Sie fordern, »die starke normative Orientierung der Deutschdidaktik insofern aufzubrechen, dass sich individuelle Entwicklungen in einer Gruppe nicht nur als ›mehr oder weniger erfolgreich‹ beschreibbar zeigen« (ebd., 42). Vielmehr gehe es darum, »dass auch gemeinsame Lernprozesse in einen fachlichen Beschreibungskontext eingebettet werden können, der für alle Lernenden fachwissenschaftlich relevante Anschlusspunkte bereithält und gemeinsames Lernen in größtmöglicher Vielfalt zulässt« (ebd., 42–43). Speziell für die Literaturdidaktik entfalten die Autoren auf dieser Grundlage Vorschläge zum literarischen Lernen am gemeinsamen ästhetischen Gegenstand. Sie votieren für »anspruchsvolle literarische Texte [...], welche die Kinder mit einer besonderen Ästhetik auch motivational und emotional ansprechen« (ebd., 76) und sprechen der Aufgabenstellung eine zentrale Rolle für einen inklusiven Literaturunterricht zu.
48.4 Gestaltung im Unterricht Konzeptionen sprachsensiblen Lernens mit Kinderliteratur in inklusiven Lerngruppen kommen bislang vielfach aus der Bilderbuchdidaktik für die Primarstufe (vgl. Becker 2016, 8). Gemeinhin geht es darum (als gemeinsamer Gegenstand im Sinne Georg Feusers deklarierte) literarästhetisch komplexe Texte in den Unterricht zu implementieren, mit denen alle Schüler literarische Lernerfahrungen machen können. Damit sind sie als Kontrast zum Einsatz von vereinfachter KJL zu sehen. Neben in literarästhetischer und künstlerischer Hinsicht anspruchsvollen Bilderbüchern (z. B. Hoffmann/Naujok 2014 zu Anthony Brownes Stimmen im Park [1998]) und textlosen Bilderbüchern (Kumschlies 2017) sind es häufig Gedichte, die als Lerngegenstände vorgeschlagen werden. Andre Kagelmann und Daniela Frickel plädieren für den Einsatz von sogenannter avancierter Jugendliteratur, vor allem solcher Werke, »die sowohl in ihrer thematischen Anlage als auch in der Art und Weise ihrer ästhetischen Gestaltung bestimmte Merkmale besitzen, die sie für einen Inklusion thematisierenden und praktizierenden, d. h. differenzierenden und individualisierenden Unterricht auszeichnen« (Frickel/Kagelmann 2017, 132). Beispiele hierfür sind etwa Sarah Crossans in rhythmischer Versstruktur verfasster Roman Eins (One; engl. 2015, dt. 2016), der die Geschichte von siamesischen Zwillingen erzählt, oder Raquel J. Palacios multiperspektivischer Jugendroman Wunder (Wonder; engl. 2012, dt. 2013), in dessen Zentrum der durch ei-
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nen Gen-Defekt entstellte August steht. Im Bereich der Kinderliteratur erschiene (im Sinne der Übertragung des Konzepts der avancierten Jugend- auf die Kinderliteratur) ein Text wie Die wahre Geschichte von Regen und Sturm (Rain Reign; engl. 2014, dt. 2015) von Ann M. Martin geeignet, der in interner Fokalisierung von der autistischen Ruth und den Exklusions- und Inklusionspraktiken erzählt, denen die Protagonistin ausgesetzt ist. Gemeinsam ist diesen Konzepten, dass sie verstärkt auf literarische Bildung im Sinne des von Dorothee Wieser ausgemachten Dachkonzepts der Literaturdidaktik setzen, dessen Gegenpol die Leseförderung ist (vgl. Wieser 2008), das hier auf ein gemeinsames literarästhetisches Lernen aller Schüler setzt. Insbesondere die Konzeptionen einer Medienverbunddidaktik von Iris Kruse, die als intermediale Lektüre umgesetzt wird (s. Kap. 45) verweisen aber darauf, dass auch kinderliterarische Medienverbünde, denen man wegen ihrer Trivialisierungsmechanismen per se kein Potential zur Initiation literarischer Bildungsprozesse zuschreiben würde (beispielsweise populäre Formate wie Bibi und Tina oder Zeichentrickfassungen von kinderliterarischen Klassikern wie Heidi oder Momo) produktive Anschlussmöglichkeiten für das literarische und medienästhetische Lernen aller Kinder im inklusiven Unterricht bieten, zumal die Medienverbundrezeption nicht unmittelbar an Leseund Sprachkompetenzen der Schüler gebunden ist. Ebenso verhält es sich mit Vorschlägen für einen medienreflexiven Unterricht, in dem ein Film mit inklusionsadaptiver Thematik wie Rico, Oskar und die Tieferschatten (Vollmar 2014) zum gemeinsamen Lerngegenstand wird (vgl. Schüller 2016). Die Entwicklung von Konzepten, die eine dezidierte Verbindung von medienästhetischem mit sprachsensiblem Lernen mit Kinder- und Jugendmedien anstreben und eine entsprechende Theoriebildung leisten, steht für die Literatur- und Mediendidaktik noch aus. Erste Ansätze liefert Christian Müller, der die Graphic Novel Herr Keuner und die Flut (2014), eine Brecht-Adaption des Comiczeichners Ulf K., von geflüchteten Schülern ohne deutsche Sprachkenntnisse weiterzeichnen lässt und damit an die Bildlesekompetenz der Schüler anknüpft und auf diese Weise literarische Lernprozesse initiiert (vgl. Müller 2017). Literatur
Becker, Maria: Inklusion. In: Günter Lange/Kurt Franz (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Teil 6: Themen/Motive/Stoffe. 59. Erg.-Lfg. Meitingen 2016, 1–15. Birkle, Sonja: Erwerb von Textmusterwissen durch Vor-
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VI Didaktik – B Ausgewählte (literatur-)didaktische Konzepte und Methoden
lesen. Eine empirische Studie in der Grundschule. Freiburg 2011. Brüggemann, Jörn/Mesch, Birgit (Hg.): Sprache als Herausforderung – Literatur als Ziel. Sprachsensible Zugänge zu Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler 2020. Eder, Ulrike: Mehrsprachige Kinder- und Jugendliteratur für mehrsprachige Lernkontexte. Wien 2009. Ellger-Rüttgardt, Sieglinde: Inklusion. Vision und Wirklichkeit. Stuttgart 2016. Feilke, Helmuth: Bildungssprachliche Kompetenzen – fördern und entwickeln. In: Praxis Deutsch 233 (2012), 4–13. Fornol, Sarah/Budumlu, Handan: Mehrsprachige Bilderbücher im Klassenzimmer. Ein Eltern-Kind-Leseprojekt. In: Grundschule Deutsch 55 (2017), 28–29. Frickel, Daniela A./Kagelmann, Andre (Hg.): Der inklusive Blick. Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma. Frankfurt a. M. 2016. Frickel, Daniela/Kagelmann, Andre: Inklusives und ästhetisches Potential aktueller Werke der Kinder- und Jugendliteratur. In: Standke, Jan (Hg.): Gegenwartsliteratur im inklusiven Deutschunterricht. Beiträge zur Didaktik der deutschen Gegenwartsliteratur. Bd. 2. Trier 2017, 129– 148. Gogolin, Ingrid: Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster 2008. Hennies, Johannes/Ritter, Michael (Hg.): Deutschunterricht in der Inklusion. Auf dem Weg zu einer inklusiven Deutschdidaktik. Stuttgart 2014. Hoffmann, Jeanette/Naujok, Natascha: Bilder(bücher) – Vieldeutige Medien und ihre Aneignung in heterogenen Lerngruppen. In: Johannes Hennies/Michael Ritter (Hg.): Deutschunterricht in der Inklusion. Auf dem Weg zu einer inklusiven Deutschdidaktik. Stuttgart 2014, 221– 236. Koch, Peter/Österreicher, Wulf: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), 15–43. Köster, Juliane/Rosebrock, Cornelia: Lesen – mit Texten und Medien umgehen. In: Ulrike Behrens, Alber BremerichVos, Dietlinde Granzer, Olaf Köller (Hg.): Bildungsstandards für die Grundschule: Deutsch konkret. Berlin 32011, 104–138. Kruse, Iris: Kinderliterarische Medienverbünde im inklusiven Literaturunterricht der Grundschule – Mediale Darstellungsvielfalt als Chance für gemeinsame literarästhetische Erfahrungen. In: Daniela A. Frickel/Andre Kagel-
mann (Hg.): Der inklusive Blick. Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma. Frankfurt a. M. 2016, 171–192. Kumschlies, Kirsten: Mit Kinderliteratur Sprache entdecken. In: Grundschule 8 (2017), 20–23. Leisen, Josef: Praktische Ansätze schulischer Sprachförderung – Der sprachsensible Fachunterricht, verfügbar unter: https://www.hss.de/fileadmin/media/downloads/ Berichte/111027_RM_Leisen.pdf (20.6.2020). Mikota, Jana: Mehrsprachige Kinderliteratur: Eine Bestandsaufnahme. In: interjuli 1 (2016), 6–28. Müller, Christian: Umgang mit literarischen Texten ohne Sprachkenntnisse? Überlegungen für einen inklusiv-integrativen Literaturunterricht. In: Jan Standke (Hg.): Gegenwartsliteratur im inklusiven Deutschunterricht. Beiträge zur Didaktik der deutschen Gegenwartsliteratur. Bd. 2. Trier 2017, 101–125. Naugk, Nadine/Ritter, Alexandra/Ritter, Michael/Zielinski, Sascha: Deutschunterricht in der inklusiven Grundschule. Perspektiven und Beispiele. Weinheim/Basel 2016. Ossner, Jakob: Sprachthematisierung – Sprachaufmerksamkeit – Sprachwissen. In: Eduard Haueis (Hg.): Sprachbewußtheit und Schulgrammatik. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 40 (1989), 25–38. Rosebrock, Cornelia: Der Mut zur Einfalt – Vereinfachte Klassikerausgaben für den Schulgebrauch. In: Didaktik Deutsch 38 (2015), 33–39. Schüller, Liane: Film und inklusive Bildung. Medienreflexiver Unterricht mit Rico, Oskar und die Tieferschatten. In: Praxis Deutsch 258 (2016), 22–29. Sturm, Tanja: Lehrbuch Heterogenität in der Schule. München/Basel 22016. Topalovic, Elvira: Sprachbewusstheit. In: Björn Rothstein/ Claudia Müller (Hg.): Kernbegriffe der Sprachdidaktik Deutsch. Ein Handbuch. Unter Mitarbeit von Sandra Hiller und Melanie Banken. Baltmannsweiler 2015, 385–388. von Brand, Tilman/Pompe, Anja: Inklusion im Deutschunterricht. In: Anja Pompe (Hg.): Deutsch inklusiv. Gemeinsam lernen in der Grundschule. Baltmannsweiler 2015, 29–44. Wieser, Dorothee: Literaturunterricht aus Sicht der Lehrenden. Eine qualitative Interviewstudie. Wiesbaden 2008. Wildemann, Anja/Fornol, Sarah: Sprachsensibel unterrichten in der Grundschule. Anregungen für den DeutschMathematik- und Sachunterricht. Seelze 2016. Wildemann, Anja/Rathmann, Claudia: Unterricht gestalten. Schülerorientiert und sprachsensibel. In: Grundschule Deutsch 49 (2016), 4–7.
Kirsten Kumschlies
Anhang
Autorinnen und Autoren Ulf Abraham, Prof. Dr., Institut für Germanistik, Uni-
versität Bamberg (42 Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht des Elementar- und Primarbereichs sowie des Sekundarbereichs (zus. mit A. Ritter, M. Ritter und M. Kepser)). Maria Becker, Dr., Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien, Zürich (8 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in der DDR). Alina Behrend (geb. Gierke), Institut für Germanistik – Literaturwissenschaft/-didaktik, Universität Duisburg-Essen (15 Märchen; 16 Sagen). Julia Benner, Prof. Dr., Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin (7 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in der BRD). Agnes Blümer, Dr., Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedienforschung (ALEKI), Universität zu Köln (2 Crossover-Literatur). Susanne Blumesberger, Mag. Dr., Institut für Germanistik, Universität Wien (32 Zeitschriften). Ina Brendel-Perpina, Dr., Institut für Germanistik, Universität Bamberg (46 Autorenbegegnungen). Ute Dettmar, Prof. Dr., Institut für Jugendbuchforschung, Universität Frankfurt a. M. (17 Serielles Erzählen). Katharina Düerkop, FB Erziehungs- und Bildungswissenschaften, Universität Bremen (29 Computerspiel). Kurt Franz, Prof. Dr. Dr., Institut für Germanistik, Universität Regensburg (21 Lyrische Texte). Ines Galling, Dr., Internationale Jugendbibliothek (11 Internationale Kinder- und Jugendliteratur). Carsten Gansel, Prof. Dr., Institut für Germanistik, Universität Gießen (13 Realistisches Erzählen). Felix Giesa, Dr., Institut für Jugendbuchforschung, Universität Frankfurt a. M. (25 Comic, Manga und Graphic Novel). Maya Götz, Dr., Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) München (28 Kinderfernsehen). Nazli Hodaie, Prof. Dr., Institut für Sprache und Lite-
ratur, Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd (36 Interkulturalität). Margarete Hopp, Dr., Institut für Germanistik – Literaturwissenschaft/-didaktik, Universität Duisburg-Essen (41 Literacy). Roland Ißler, Dr., Institut für Klassische und Romanische Philologie, Universität Bonn (34 Thematologie: Motive, Stoffe und Themen (zus. mit L. Scherer)). Stefanie Jakobi, Dr., FB Sprach- und Literaturwissenschaften, Universität Bremen (35 Intertextualität, Intermedialität, Transmedialität). Petra Josting, Prof. Dr., Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld (43 Geschichte der Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur). André Kagelmann, Dr., Institut für deutsche Sprache und Literatur, Universität zu Köln (47 Kinder- und jugendmediale Perspektiven ›Digitalen Geschichtenerzählens‹). Matthis Kepser, Prof. Dr. phil., FB Sprach- und Literaturwissenschaften, Universität Bremen (42 Kinderund Jugendliteratur im Unterricht des Elementarund Primarbereichs sowie des Sekundarbereichs (zus. mit A. Ritter, M. Ritter und U. Abraham)). Axel Krommer, Department Fachdidaktiken, Universität Erlangen-Nürnberg (33 Digitales Erzählen). Thomas Kronschläger, Institut für Germanistik, TU Braunschweig (38 Gender Studies (zus. mit J. Standke)). Iris Kruse, Prof. Dr., Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Paderborn (45 Intermediale Lektüre). Bettina Kümmerling-Meibauer, Prof. Dr., Deutsches Seminar, Universität Tübingen (1 Begriffsdefini tionen; 5 Klassiker der Kinder- und Jugendlieratur). Kirsten Kumschlies, Dr., Institut für Germanistik, Literaturwissenschaft – Literaturdidaktik, Universität Duisburg-Essen (48 Sprachsensibles Unter-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 T. Kurwinkel / P. Schmerheim (Hg.), Handbuch Kinder- und Jugendliteratur, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04721-2
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richten mit Kinder- und Jugendliteratur in inklusiven Lerngruppen). Tobias Kurwinkel, Prof. Dr., Institut für Germanistik – Literaturwissenschaft/-didaktik, Universität Duisburg-Essen, Campus Essen (4 Medien- und Produktverbund; 24 Bilderbuch; 26 Film (zus. mit P. Schmerheim)). Heidi Lexe, Dr., Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur (STUBE) Wien (10 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in Österreich (zus. mit E. Seibert)). Nikola von Merveldt, Départment de littératures et de langues modernes, Université de Montréal (23 Sachbuch). Jana Mikota, Dr. phil., Institut für Germanistik, Universität Siegen (19 Epische Texte 1: Kinderroman). Corinna Norrick-Rühl, Prof. Dr., Englisches Seminar / Book Studies, Universität Münster (4 Buch- und Medienmarkt. Produktion, Distribution und Rezeption (zus. mit A. Vogel)). Emer O’Sullivan, Prof. Dr., Institute of English Studies/Institut für Geschichtswissenschaften und literarische Kulturen, Universität Lüneburg (37 Komparatistik). Daniel Pietschmann, Dr., Institut für Medienforschung, TU Chemnitz (12 Transmediales Erzählen (zus. mit S. Völkel)). Alexandra Ritter, Dr., Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik, Martin-Luther-Universität Halle/Saale (42 Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht des Elementar- und Primarbereichs sowie des Sekundarbereichs (zus. mit M. Ritter, U. Abraham und M. Kepser)). Michael Ritter, Prof. Dr., Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik Universität Halle/Saale (42 Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht des Elementar- und Primarbereichs sowie des Sekundarbereichs (zus. mit A. Ritter, U. Abraham und M. Kepser)). Caroline Roeder, Prof. Dr., Institut für Sprachen, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg (39 Spatial Studies). Ludger Scherer, Dr., Institut für Klassische und Romanische Philologie, Universität Bonn (34 Thematologie: Motive, Stoffe und Themen (zus. mit R. Ißler)).
Philipp Schmerheim, Dr., Institut für Germanistik,
Universität Hamburg (26 Film (zus. mit T. Kurwinkel); 30 Theater). Sebastian Schmideler, Dr., Erziehungswissenschaftliche Fakultät, Professur für Grundschuldidaktik Deutsch, Universität Leipzig (6 Kinder- und Jugendliteraturforschung nach 1945). Ernst Seibert, Dr., Institut für Germanistik, Universität Wien (10 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in Österreich (zus. mit H. Lexe)). Kaspar Spinner, Prof. em. Dr. Dr. h. c., Institut für Germanistik, Universität Augsburg (44 Literarisches Lernen). Jan Standke, Prof. Dr., Institut für Germanistik, TU Braunschweig (38 Gender Studies (zus. mit T. Kronschläger)). Mirijam Steinhauser, Dr., KinderundJugendmedien. de (40 Illustration Studies). Anna Stemmann, Dr., FB Sprach- und Literaturwissenschaften, Universität Bremen (20 Epische Texte 2: Jugendroman). Hadassah Stichnothe, Dr., FB Sprach- und Literaturwissenschaften Universität Bremen (14 Phantas tisches Erzählen). Sabrina Tietjen, FB Erziehungs- und Bildungswissenschaften, Universität Bremen (27 Exkurs: Immersive Filme). Ingrid Tomkowiak, Prof. Dr., Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (ISEK), Universität Zürich (9 Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur in der (Deutsch-) Schweiz). Johanna Tydecks, Deutsches Seminar, Universität Tübingen (22 Dramatische Texte). Anke Vogel, Dr., Mainzer Buchwissenschaft, Uni versität Mainz (4 Buch- und Medienmarkt. Produktion, Distribution und Rezeption (zus. mit C. Norrick-Rühl)). Sabine Völkel, Dr., Institut für Medienforschung, TU Chemnitz (12 Transmediales Erzählen (zus. mit D. Pietschmann)). Nana Wallraff, Theodor-Angerhausen-Schule Dormagen (18 Unzuverlässiges Erzählen). Andreas Wicke, Dr., Institut für Germanistik, Universität Kassel (31 Hörbuch und Hörspiel).